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German Pages 538 [567] Year 2018
Studien zum ausländischen und internationalen Privatrecht 401 Herausgegeben vom
Max-Planck-Institut für ausländisches und internationales Privatrecht Direktoren:
Holger Fleischer und Reinhard Zimmermann
René Repasi
Wirkungsweise des unionsrechtlichen Anwendungsvorrangs im autonomen IPR
Mohr Siebeck
René Repasi, geboren 1979; Studium der Rechtswissenschaften an den Universitäten Heidelberg und Montpellier; 2006 Erstes Staatsexamen; 2008 Zweites Staatsexamen; 2008–2015 wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für deutsches und europäisches Gesellschafts- und Wirtschaftsrecht der Ruprecht-Karls-Universität Heidelberg; seit 2015 wissenschaftlicher Koordinator des European Research Centre for Economic and Financial Governance (EUROCEFG) der Universitäten Leiden, Delft und Rotterdam.
ISBN 978-3-16-155306-6 / eISBN 978-3-16-155307-3 DOI 10.1628/978-3-16-155307-3 ISSN 0720-1141 / eISSN 2568-7441 (Studien zum ausländischen und internationalen Privatrecht) Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen National bibliographie; detaillierte bibliographische Daten sind im Internet über http://dnb.dnb.de abrufbar. © 2018 Mohr Siebeck Tübingen. www.mohrsiebeck.com Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlags unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für die Verbreitung, Vervielfältigung, Übersetzung und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Das Buch wurde von Gulde Druck in Tübingen auf alterungsbeständiges Werkdruckpapier gedruckt und von der Buchbinderei Nädele in Nehren gebunden. Printed in Germany.
Vorwort Die vorliegende Arbeit wurde im Jahr 2016 von der Juristischen Fakultät der Ruprecht-Karls-Universität Heidelberg als Dissertation angenommen. Sie entstand während meiner Zeit als wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für deutsches und europäisches Gesellschafts- und Wirtschaftsrecht in Heidelberg und wurde im Rahmen des Europäischen DFG-Graduiertenkollegs „Systemtransformation und Wirtschaftsintegration im zusammenwachsenden Europa“ der Universitäten Heidelberg, Mainz und Krakau gefördert. Für die Förderung gebührt der Deutschen Forschungsgemeinschaft (DFG) mein Dank. Rechtsprechung und Literatur wurden bis zum November 2017 berücksichtigt. Meinem Doktorvater, Herrn Professor Dr. Dr. h.c. mult. Peter-Christian Müller-Graff, bin ich nicht nur für die stets aufgeschlossene und freundliche Betreuung meiner Arbeit zu tiefem Dank verpflichtet, sondern auch dafür, dass er mir als Mitarbeiter an seinem Lehrstuhl und in persönlichen Gesprächen seine Gedankenwelt eröffnete und damit die Grundlagen für mein Verständnis von Europarecht und für mein wissenschaftliches Denken legte. Herrn Professor Dr. Marc-Philippe Weller danke ich für die zügige Erstellung des Zweitgutachtens. Bedanken möchte ich mich zudem bei Herrn Professor Dr. Dr. h.c. mult. Jürgen Basedow, LL.M. (Harvard) für die Aufnahme in die Schriftenreihe des Max-Planck-Instituts für ausländisches und internationales Privatrecht. Die Erstellung dieser Arbeit ist eng mit wertvollen Begegnungen und Gesprächen verbunden. Mein Dank gilt hier meinen Kolleginnen und Kollegen vom Institut für deutsches und europäisches Gesellschafts- und Wirtschaftsrecht in Heidelberg. Namentlich hervorheben möchte ich Herrn Dr. Dominik Braun, LL.M. (Chicago), der zudem als erster das Gesamtwerk las und mit seinen Anmerkungen und Hinweisen entscheidend zur Qualität der Endfassung beigetragen hat, Herrn Dr. Roman Guski, LL.M. (Notre Dame) und Herrn Professor Dr. Friedemann Kainer. Den Gedankenaustausch zum Kollisionsrecht durfte ich mit früheren Kollegen aus der Zeit als studentische Hilfskraft am Institut für ausländisches und internationales Privat- und Wirtschaftsrecht führen. Zu besonderem Dank bin ich Herrn Professor Dr. Dr. h.c. mult. Erik Jayme, LL.M. (Berkley), Herrn Professor Dr. Martin Gebauer, Herrn Professor Dr. Stefan Huber, LL.M. (Köln/Paris), Herrn Professor Dr. Boris Schinkels,
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Vorwort
LL.M. (Cantab.) und Herrn Professor Dr. Matthias Weller, Mag.rer.publ. verpflichtet. Frau Ruth Römpert und Herrn Zoltan Pinter gebührt mein besonderer Dank, da sie die Mühen des Korrekturlesens auf sich genommen haben. Schließlich bin ich dem Redaktionsteam am Max-Planck-Institut für ausländisches und internationales Privatrecht für die ausgezeichnete redaktionelle Betreuung der Druckfassung und die vielen hilfreichen Hinweise dankbar. Von unschätzbarem Wert waren die Studienaufenthalte in der Bibliothek des Friedenspalastes (Vredespaleis) in Den Haag, die mir in großzügiger Weise von dem Bibliotheksdirektor Herrn Jeroen Vervliet ermöglicht wurden. Die außerordentliche Unterstützung des dortigen Bibliothekars Herrn Niels van Tol hat einen wesentlichen Beitrag zur Erstellung der vorliegenden Arbeit geleistet. Meine Eltern, Monika und Endre Repasi, haben mich auf meinem Weg zur Promotion immer gestützt und ermutigt. Sie formten mit ihrer Erziehung und ihrem Vorbild die Gedanken, die die Grundlage für das vorliegende Werk bilden, und sie unterstützten mich uneingeschränkt auf meinem Lebensweg, der mich zu der vorliegenden Dissertation führte. Mein größter Dank gilt meiner Frau Monika Repasi für ihr Verständnis, ihre stets liebevolle Unterstützung und ihre Geduld. Während der Korrekturen der Druckfassung dieser Arbeit kam unser Sohn Youri Repasi auf die Welt. Er ist der Sohn eines Vaters, der selber einen Vater ungarischer und eine Mutter deutscher Herkunft hat, und einer Mutter, die in Polen zur Welt kam. Sein Geburtsland sind die Niederlande. Meine Familie ist damit das Spiegelbild für ein zusammenwachsendes Europa, das Menschen unterschiedlicher Nationen in Familien zusammenbringt. Ihnen ist diese Arbeit gewidmet. Rijswijk/Heidelberg, im November 2017
René Repasi
Inhaltsübersicht
Vorwort ...................................................................................................... V Inhaltsverzeichnis .................................................................................. IX Abkürzungsverzeichnis .................................................................... XXV Einleitung .................................................................................................. 1 A. Gegenstand der Arbeit .............................................................................. 5 B. Gang der Untersuchung ............................................................................ 7
Kapitel 1: Theorie des unionsrechtlichen Anwendungsvorrangs ........................................................10 A. Vorfragen der Geltung, des Geltungsgrunds und der Autonomie der Unionsrechtsordnung ................................................11 B. Nationale Rechtsordnungen und die Unionsrechtsordnung als Verbund der Rechtsordnungen...........................................................14 C. Wirkungen des Unionsrechts im mitgliedstaatlichen Hoheitsgebiet .........18 D. Das Verhältnis zwischen Unionsrecht und mitgliedstaatlichem Recht .....23 E. Zwischenergebnis ....................................................................................50
Kapitel 2: Einwirkungen des Unionsrechts in die nationale Privatrechtsordnung .........................................52 A. Arten der Einwirkung des Unionsrechts in nationale Rechtsordnungen ..52
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Inhaltsübersicht
B. Einwirkungen des Unionsrechts in das Privatrechtsverhältnis mit Auslandsbezug ...............................................71 C. Zwischenergebnis ....................................................................................77
Kapitel 3: Primärrechtliche Vorgaben für die nationalen Rechtsordnungen ............................................79 A. Gleichheitsrechtliche Vorgaben ..............................................................80 B. Die Vorgaben der Marktgrundfreiheiten ............................................... 158 C. Vorgaben der Grundfreiheit ohne Markt: Die Unionsbürgerfreizügigkeit .............................................................. 248 D. Schutzbereichsverstärkung durch Unionsgrundrechte ........................... 287 E. Zwischenergebnis .................................................................................. 289
Kapitel 4: Einwirkungen des Primärrechts in das autonome IPR ....................................................................294 A. Kollisionsrecht als Gegenstand der Kontrolle durch die unionsrechtlichen Gleichheitssätze und die Grundfreiheiten ..........295 B. Internationales Gesellschaftsrecht ........................................................ 329 C. Internationales Namensrecht ................................................................ 387 D. Zusammenfassung ................................................................................. 465
Schlussbetrachtungen...........................................................................489 Zusammenfassung in Thesenform ....................................................491 Literaturverzeichnis..............................................................................507 Entscheidungsverzeichnis ...................................................................530 Sachregister ............................................................................................534
Inhaltsverzeichnis Vorwort ...................................................................................................... V Inhaltsübersicht ..................................................................................... VII Abkürzungsverzeichnis .................................................................... XXV Einleitung .................................................................................................. 1 A. Gegenstand der Arbeit ............................................................................. 5 B. Gang der Untersuchung ........................................................................... 7
Kapitel 1: Theorie des unionsrechtlichen Anwendungsvorrangs ........................................................10 A. Vorfragen der Geltung, des Geltungsgrunds und der Autonomie der Unionsrechtsordnung ................................................11 B. Nationale Rechtsordnungen und die Unionsrechtsordnung als Verbund der Rechtsordnungen...........................................................14 I. II.
Positivrechtliche Verschränkungen von nationalen Rechtsordnungen und Unionsrechtsordnung ..................15 Grundlage des Verbundes: Bürger als Staatsbürger und Unionsbürger......................................16
C. Wirkungen des Unionsrechts im mitgliedstaatlichen Hoheitsgebiet .........18 I. II.
Die unmittelbare Anwendbarkeit von Normen des Unionsrechts ....19 Voraussetzungen für die unmittelbare Anwendbarkeit einer Norm des Unionsrechts ..........................................................20 1. Individuelle Berechtigung ist keine zusätzliche Voraussetzung ..21 2. Reichweite der unmittelbaren Anwendbarkeit ..........................22
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D. Das Verhältnis zwischen Unionsrecht und mitgliedstaatlichem Recht .....23 I. II.
Konkurrenz im Normalfall..............................................................23 Vorrang des Unionsrechts als Kollisionsregel.................................23 1. Notwendigkeit einer rechtsförmigen Regel zur Lösung des Normenkonflikts .............................................24 2. Lösung des EuGH: Anwendungsvorrang des Unionsrechts ......24 3. Rechtstheoretische Einordnung des Vorrangs des Unionsrechts ................................................26 a) Kein hierarchisches Verständnis vom Vorrang des Unionsrechts ..................................................28 b) Vorrang des Unionsrechts als Kollisionsnorm gleichgeordneter Rechtsordnungen ...........30 aa) Keine völkerrechtliche Kollisionsnorm zur Auflösung von Rechtsordnungskonflikten.................30 bb) Kollisionsnormen gleichgeordneter Rechtsordnungen ...........................31 cc) Vorrang des Unionsrechts als Geltungsanspruch der unionalen Rechtsnorm, der durch eine Kollisionsnorm der nationalen Rechtsordnung anerkannt wird ..........................................................34 (1) Einwand der Rangregel in monistisch geprägten Verfassungen ...................35 (2) Einwand des IPR als Konfliktvermeidungsund nicht als Konfliktlösungsrecht ....................36 (3) Einwand des einfachgesetzlichen Rangs der nationalen Kollisionsnorm ................37 dd) Zusammenfassung.....................................................39 III. Unmittelbare Anwendbarkeit als Voraussetzung des Anwendungsvorrangs .......................................39 IV. Wirkungsweise des Anwendungsvorrangs des Unionsrechts ..........41 V. Vermeidung von Normenkonflikten durch unionsrechtskonforme Auslegung ...................................................43 1. Reichweite der unionsrechtskonformen Auslegung ..................44 2. Vorrang der unionsrechtskonformen Auslegung ......................44 3. Vorrang der unionsrechtskonformen Rechtsfortbildung ...........46 4. Besonderheiten der richtlinienkonformen Auslegung ...............49 E. Zwischenergebnis ....................................................................................50
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Kapitel 2: Einwirkungen des Unionsrechts in die nationale Privatrechtsordnung .........................................52 A. Arten der Einwirkung des Unionsrechts in nationale Rechtsordnungen ...52 I. II.
Anwendung unmittelbar anwendbarer Unionsrechtsnormen ...........53 Unionsrechtskonforme Rechtsfortbildung aufgrund von Unionsrecht ..............................................................54 1. Lückenfeststellung im Anwendungsbereich der Unionsrechtsordnung.........................55 a) Aufgabe des Erfordernisses eines „Gesamtplans“ zur Lückenfeststellung ..............................56 b) Verbund der Rechtsordnungen als Bezugspunkt für die Lückenfeststellung ............................58 2. Lückenfüllung durch unionsrechtskonforme Rechtsfortbildung .................................59 a) Unionsrechtskonforme Rechtsfortbildung als eigene Kategorie ..........................................................60 b) Anpassung der Rechtsfortbildungsinstrumente ..................61 c) Exkurs: Die richtlinienkonforme Rechtsfortbildung...........62 3. Die „contra legem“-Grenze bei der unionsrechtskonformen Rechtsfortbildung ...............................64 a) Grenzziehung erfolgt unabhängig von der Lückendefinition ...................................................64 b) Grenzziehung im multipolaren Spannungsfeld zweier Normgeber und nationaler Judikativen ...................66 III. Rechtsfortbildung der nationalen Rechtsordnung infolge unmittelbar anwendbaren Unionsrechts ..........................................69 B. Einwirkungen des Unionsrechts in das Privatrechtsverhältnis mit Auslandsbezug ....................................71 I.
Kategorisierung der privatrechtsrelevanten unionalen Rechtsnormen nach der Reichweite ihrer Einwirkung ....71 1. Negative Integration: Privatrechtsbeschränkungen ...................72 a) Schlichte Begrenzung subjektiver Rechte ..........................72 b) Unionsrechtliche Beanstandung mit daraus resultierendem Handlungsauftrag ...........................72 2. Positive Integration: Einwirkung des Unionsrechts in Form von Privatrechtsschöpfung ..........................................73
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II.
a) Unmittelbar geltendes einheitliches Privatrecht auf Unionsebene ................................................................73 b) Schaffung gemeinsamen nationalen Privatrechts ...............75 Zusammenspiel von Internationalem Privatrecht und Sachprivatrecht ........................................................................75
C. Zwischenergebnis ....................................................................................77
Kapitel 3: Primärrechtliche Vorgaben für die nationalen Rechtsordnungen ............................................79 A. Gleichheitsrechtliche Vorgaben ..............................................................80 I. II.
Vielzahl unionsrechtlicher Diskriminierungsverbote ......................80 Einheitliche Dogmatik der unionsrechtlichen Gleichheitssätze .......82 1. Übertragbarkeit dogmatischer Strukturen von Gleichheitsrechten mit transnationaler Integrationsfunktion auf Gleichheitsrechte mit supranationaler Legitimationsfunktion ..............................................................82 2. Ausgangspunkt: Diskriminierungsverbote als besondere Ausformungen des allgemeinen unionsrechtlichen Gleichheitssatzes .........................................85 3. Dogmatische Grundstruktur des allgemeinen Gleichheitssatzes ..................................................88 a) Gleichheit der Sachverhalte ...............................................89 aa) Unterscheidbarkeit der Sachverhalte .........................89 bb) Vergleichssachverhalt darf nicht lediglich hypothetisch sein ........................................90 cc) Vergleichbarkeit verschiedener Sachverhalte ............91 dd) Exkurs: Vergleichbarkeit von Ehe und gleichgeschlechtlicher Lebenspartnerschaft ..............93 b) Behandlung durch dasselbe Rechtssubjekt .........................96 c) Ungleichbehandlung vergleichbarer Sachverhalte .............98 aa) Erfordernis der Benachteiligung................................98 bb) Kein de-minimis-Vorbehalt .......................................98 d) Gleichbehandlung nicht vergleichbarer Sachverhalte.........99 e) Objektive Rechtfertigung................................................. 100 4. Besonderheiten der Diskriminierungsverbote ......................... 102
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a) Ziel der Diskriminierungsverbote: Integration „als Gleiche“ ................................................. 102 b) Reichweite der Diskriminierungsverbote: Anknüpfungsverbote oder Begründungsverbote .............. 103 c) Vergleichbarkeit auf Grundlage des verbotenen Differenzierungsmerkmals ............................106 d) Ungleichbehandlung aus Gründen des verbotenen Differenzierungsmerkmals ............................109 aa) Unmittelbare Diskriminierungen aus Gründen des verbotenen Differenzierungsmerkmals .............. 109 bb) Mittelbare Diskriminierungen aus Gründen des verbotenen Differenzierungsmerkmals .............. 110 (1) Neutrale Differenzierungsmerkmale ergänzen die verbotenen Merkmale ................. 111 (2) Zusammenhang mit dem verbotenen Differenzierungsmerkmal ................................ 112 (3) Kein Entfallen der Vergleichbarkeitsprüfung trotz feststellbarer Benachteiligung ................ 114 e) Gleichbehandlung aus Gründen des verbotenen Differenzierungsmerkmals ............................117 aa) Diskriminierungsverbote enthalten keine Ungleichbehandlungsgebote .......................... 117 bb) Abweichende EuGH-Rechtsprechung ..................... 118 (1) Arbeitnehmerfreizügigkeit ............................... 119 (2) Unionsbürgerfreizügigkeit: Rechtssache „Garcia Avello“ ........................... 120 f) Objektive Rechtfertigung................................................. 123 aa) Diskriminierungsverbote als absolute oder relative Verbote .................................124 bb) Sachliche Rechtfertigungsgründe ............................ 128 cc) Abgestufte Verhältnismäßigkeitsprüfung ................ 128 5. Zusammenfassung .................................................................. 129 III. Reichweite der Wirkung unionsrechtlicher Gleichheitssätze in den mitgliedstaatlichen Rechtsordnungen ................................. 130 1. Eigenständige Anwendungsbereichseröffnung .......................132 a) Antidiskriminierungsrichtlinien ....................................... 132
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b) Exkurs: Einwirkung der Antidiskriminierungsrichtlinien in das Familienrecht ......133 2. Akzessorische Anwendungsbereichseröffnung .......................136 a) Diskriminierungsverbot aus Gründen der Staatsangehörigkeit, Art. 18 Abs. 1 AEUV ...................... 137 aa) Anwendungsbereichseröffnung aufgrund anderer unionsrechtlicher Regelungen..................... 137 bb) Anwendungsbereichseröffnung aufgrund eines „Berührungspunktes“ mit einer „unionsrechtlich geregelten Situation“ .................... 139 cc) Keine anderweitige Anwendungsbereichseröffnung bei umgekehrten Diskriminierungen ....................... 140 b) Allgemeiner Gleichheitssatz und weitere besondere Diskriminierungsverbote ....................141 aa) Allgemeine Grundsätze des Unionsrechts, Art. 6 Abs. 3 EUV .................................................. 142 (1) Agency situation .............................................. 143 (a) Nicht und fehlerhaft umgesetzte Richtlinien als Durchführung von Unionsrecht ....................................... 143 (b) Richtlinienvorwirkung führt nicht zu einer Durchführung von Unionsrecht .......146 (2) „ERT“-Situation .............................................. 147 (3) Anwendungsbereichsberührung („Karner“-Situation) ........................................ 149 (4) Existenz und Umfang einer sachlichen Unionszuständigkeit ....................... 150 bb) EU-Grundrechtecharta, Art. 51 GRCh..................... 152 3. Zusammenfassung .................................................................. 154 IV. Zwischenergebnis zu den gleichheitsrechtlichen Vorgaben des Unionsrechts................................................................................. 156
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B. Die Vorgaben der Marktgrundfreiheiten ............................................... 158 I.
Funktionale Ausrichtung der Marktgrundfreiheiten auf den Binnenmarkt .................................................................... 159 1. Ökonomischer Zweck des Binnenmarktes ..............................161 2. Schlussfolgerungen für den rechtlichen Binnenmarktbegriff ..163 a) Marktfreiheit ................................................................... 164 b) Marktgleichheit ............................................................... 165 c) Bedeutung für die Bestimmung des Gewährleistungsgehalts der Marktgrundfreiheiten ........... 167 II. Marktgrundfreiheiten als besondere Gleichheitssätze ................... 167 III. Marktgrundfreiheiten als freiheitsrechtliche Beschränkungsverbote ..................................... 168 1. Marktgrundfreiheiten sind nicht ausschließlich Gleichheitssätze .............................................. 169 a) Begründungsansätze für ein gleichheitsrechtliches Verständnis der Marktgrundfreiheiten .............................169 aa) Marktgrundfreiheiten als transnationale Integrationsnormen .......................... 169 bb) Das Argument der Kompetenzverteilung ................ 170 (1) Gleichheitsrechtliches Verständnis als Ausdruck des institutionellen Gleichgewichts von EuGH und Unionsgesetzgeber .................. 170 (2) Gleichheitsrechtliches Verständnis als Ausdruck der vertikalen Kompetenzverteilung zwischen der EU und den Mitgliedstaaten .......171 cc) Gleichheitsrechtliches Verständnis verlangt den „Grenzübertritt“ als verbotenes Differenzierungsmerkmal........................................172 b) Kritik ............................................................................... 173 2. Marktgrundfreiheiten sind nicht ausschließlich Freiheitsrechte................................................. 176 3. Marktgrundfreiheiten enthalten auch Beschränkungsverbote .177 IV. Die paradigmatische Grundfreiheit: Das Beschränkungsverbot der Warenverkehrsfreiheit ................... 178 1. Beschränkungsverbot der Wareneinfuhrfreiheit (Art. 34 AEUV) ..................................................................... 179
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a) Behinderung des innerunionalen Handels: Marktzugangsbehinderungen ........................................... 179 b) Eignung zur unmittelbaren oder mittelbaren, tatsächlichen oder potenziellen Behinderung ................... 180 aa) Eignung von produktbezogenen Kriterien des Bestimmungslandes zur Einfuhrbehinderung .......... 180 bb) Eignung von Absatzbehinderungen im Bestimmungsland...............................................181 cc) Mangelnde Eignung aufgrund fehlender Kausalität der Beschränkung ................................... 182 c) Kein Spürbarkeitskriterium.............................................. 186 d) Beschränkungsverbot als Gewährleistung der Herkunftsrechtsordnung (Herkunftslandprinzip)? ............ 187 e) Herausnahme von absatzregulierenden Handelsbehinderungen, die nicht den Marktzugang versperren oder behindern ............................................... 192 aa) Absatzregulierende Handelsbehinderungen mit Produktbezug .................................................... 194 bb) Absatzregulierende Handelsbehinderungen ohne Produktbezug: Bestimmte Verkaufsmodalitäten ......195 cc) Zwischenfazit.......................................................... 197 dd) Absatzregulierende Handelsbehinderungen ohne Produktbezug: Verwendungsbeschränkungen .........198 ee) Relevantes Kriterium: Marktzugang ........................ 200 ff) Keine Verkürzung der Warenverkehrsfreiheit auf ein Diskriminierungsverbot bei marktzugangsbehindernden Maßnahmen................. 201 gg) Zusammenfassung...................................................202 2. Beschränkungsverbot der Warenausfuhrfreiheit (Art. 35 AEUV) ..................................................................... 203 a) Gleichheitsrechtliches Verständnis der Warenausfuhrfreiheit des EuGH ...................................... 204 b) Kritik ............................................................................... 205 c) Besonderes Beschränkungsverbot unter Berücksichtigung der Sonderlage bei Ausfuhrbehinderungen .................................................... 206 3. Zusammenfassung .................................................................. 207
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V.
Das Beschränkungsverbot der Verkehrsfreiheiten der natürlichen Personen .................................................................... 208 1. Beschränkungen des Zuzugs von natürlichen Personen .......... 211 a) Ausgangspunkt: Nichtanerkennung ausländischer Qualifikationen ................................................................ 211 b) Niederlassungserfordernisse als über eine Mehrfachbelastung hinausgehende Marktzugangssperre ..215 c) Verallgemeinerung: „Kraus“ und „Gebhard“ ................... 217 d) Konkrete Anwendung des Beschränkungsverbots: „Bosman“ und „Lehtonen“ .............................................. 218 e) Zusammenfassung ........................................................... 219 2. Beschränkungen des Wegzugs von natürlichen Personen .......220 3. Mangelnde Eignung aufgrund fehlender Kausalität ................222 4. Übertragbarkeit der „Keck“-Rechtsprechung .........................224 5. Zusammenfassung .................................................................. 227 VI. Die Zwittergrundfreiheit: Das Beschränkungsverbot des freien Dienstleistungsverkehrs (Art. 56 AEUV) ........................... 229 1. Verbot der Beschränkung von Dienstleistungen durch den Bestimmungsstaat .................................................. 230 2. Verbot der Beschränkung von Dienstleistungen durch den Herkunftsstaat des Leistungserbringers ..................232 3. Mangelnde Eignung aufgrund fehlender Kausalität ................237 4. Übertragbarkeit der „Keck“-Rechtsprechung .........................239 a) Rechtsprechung des EuGH .............................................. 239 b) Ansätze in der Literatur ................................................... 243 5. Zusammenfassung .................................................................. 244 VII. Zwischenergebnis: Dogmatik der Marktgrundfreiheiten ...............246 C. Vorgaben der Grundfreiheit ohne Markt: Die Unionsbürgerfreizügigkeit .............................................................. 248 I. Vom Marktbürger zum Unionsbürger ........................................... 249 II. Unmittelbare Anwendbarkeit ........................................................ 252 III. Diskriminierungsverbot ................................................................ 253 1. Reichweite des Diskriminierungsverbots ............................... 253 a) Keine Schutzbereichsverkürzung durch den Vorbehalt in Art. 21 Abs. 1 AEUV .................................................. 254
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b) Keine zusätzlichen Anforderungen an den Zusammenhang von Freizügigkeit und Diskriminierung ..258 2. Art. 21 Abs. 1 AEUV als besonderes Diskriminierungsverbot ....................................... 260 IV. Beschränkungsverbot ................................................................... 261 1. Gewährleistungsgehalt des Beschränkungsverbots .................263 a) Der gleichheitsrechtliche Deutungsversuch der Unionsbürgerfreizügigkeit ......................................... 264 b) Das freiheitsrechtliche Beschränkungsverständnis der Unionsbürgerfreizügigkeit ......................................... 265 2. Das grenzüberschreitende Element......................................... 267 3. Kernbestand der Rechte, die der Unionsbürgerstatus verleiht ........................................ 272 4. Mangelnde Eignung aufgrund fehlender Kausalität ................276 5. Herausnahme von Beschränkungen, die den Zugang zum Hoheitsgebiet nicht versperren ..............278 V. Zusammenfassung: Dogmatik der Unionsbürgerfreizügigkeit ......284 D. Schutzbereichsverstärkung durch Unionsgrundrechte ........................... 287 E. Zwischenergebnis .................................................................................. 289
Kapitel 4: Einwirkungen des Primärrechts in das autonome IPR ........................................................ 294 A. Kollisionsrecht als Gegenstand der Kontrolle durch die unionsrechtlichen Gleichheitssätze und die Grundfreiheiten ................ 295 I.
Spezifisch kollisionsrechtliche Diskriminierungen und Beschränkungen .................................................................... 296 1. Relevanz der Unterscheidung von Gesamtverweisung und Sachnormverweisung ...................................................... 298 2. Transaktionskosten durch Berufung einer fremden Rechtsordnung................................................. 301 3. Berufung von Sachnormen einer anderen Rechtsordnung als derjenigen des Herkunftsstaates ........................................ 303 4. Berufung von Sachnormen der Rechtsordnung des Herkunftsstaates............................................................... 306
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a) Berufung der Sachnormen der Herkunftsrechtsordnung durch das IPR des Herkunftsstaates ................................. 307 b) Berufung der Sachnormen der Herkunftsrechtsordnung durch das IPR des Bestimmungsbzw. Aufenthaltsstaates ................................................... 309 II. Bedeutung sachrechtlicher Diskriminierungen und Beschränkungen für das Kollisionsrecht ...................................... 312 1. Modifikation benachteiligenden inländischen Sachrechts.......313 2. Modifikation benachteiligenden ausländischen Sachrechts ....313 a) Auslegungs- und Fortbildungsbefugnis des inländischen Richters für ausländisches Sachrecht........... 314 b) Reichweite der Befugnis zur Modifikation ausländischen Sachrechts ...........................316 aa) Auslegung und Fortbildung ausländischer Sachnormen nach den Methoden der Auslandsrechtsordnung ...........................................317 bb) Auslegung und Fortbildung ausländischen Sachrechts im Lichte forumeigener Tatsachen und Wertungen .......................................319 (1) Substitution, Transposition und Anpassung .....320 (2) Datumtheorie ...................................................321 cc) Unionsrechtskonforme Auslegung und Fortbildung ausländischer Sachnormen ................... 323 III. Zusammenfassung ........................................................................ 327 B. Internationales Gesellschaftsrecht ........................................................ 329 I.
Das autonome Kollisionsrecht der rechtlich konfigurierten Marktakteure .......................................... 330 1. Aufgabe des Kollisionsrechts: Bestimmung des Gesellschaftsstatuts ..................................... 330 2. Der Gesellschaftsbegriffs des autonomen Gesellschaftskollisionsrechts ............................... 331 3. Die Reichweite des Gesellschaftsstatuts: Einheit des Gesellschaftsstatuts.............................................. 332 4. Bestimmung des Gesellschaftsstatuts ..................................... 333 a) Sitztheorie ....................................................................... 333 b) Gründungstheorie ............................................................ 335 5. Statutenwechsel durch Gesellschaftsmobilität ........................ 337
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II.
Die Rechtsprechung des EuGH zu rechtlich konfigurierten Marktakteuren ........................................ 339 1. Der Begriff des rechtlich konfigurierten Marktakteurs ...........340 2. Wegzugskonstellation ............................................................ 341 a) Der Ausgangsfall: „Daily Mail“ ...................................... 342 aa) Entscheidungsgründe des EuGH: Keine Anwendbarkeit der Niederlassungsfreiheit auf den Wegzug rechtlich konfigurierter Marktakteure .342 bb) Bewertung: Keine Anwendbarkeit der Niederlassungsfreiheit auf den Wegzug unter Beibehaltung der rechtlichen Konfiguration des Gründungsrechts ...............................................345 b) Cartesio ........................................................................... 347 aa) Entscheidungsgründe des EuGH: Anwendbarkeit der Niederlassungsfreiheit auf den Wegzug bei einem Wechsel des auf die rechtliche Konfiguration anwendbaren Rechts ........................ 348 bb) Bewertung: Teilabkehr von „Daily Mail“................ 349 c) Die Bestätigung: „National Grid Indus“ ..........................352 d) Zusammenfassung ........................................................... 353 3. Zuzugskonstellation ............................................................... 354 a) Trennung von Gründung und Tätigkeit eines rechtlich konfigurierten Marktakteurs: „Centros“ ............ 355 b) Regelungen des Zuzugsstaats, die die rechtliche Konfiguration betreffen, begründen eine Beschränkung der sekundären Niederlassungsfreiheit: „Inspire Art“ ......358 c) Regelungen des Zuzugsstaats, die die rechtliche Konfiguration betreffen, begründen eine Beschränkung der primären Niederlassungsfreiheit: „Überseering“ ........360 4. Die Freiheit, eine rechtliche Konfiguration zu gründen ..........363 a) Diskriminierungsfreier Zugang zu bestehenden rechtlichen Konfigurationen des Zuzugsstaats: „Sevic“ ...364 b) Beschränkungsfreier Zugang zu einer vom Zuzugsstaat zur Verfügung gestellten rechtlichen Konfiguration: „VALE“ .......................................................................... 366 c) Begrenzung des Marktzugangs durch das Erfordernis einer tatsächlichen wirtschaftlichen Tätigkeit ..................369
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5. Zusammenfassung: Die Freizügigkeit des rechtlich konfigurierten Marktakteurs .................................... 370 III. Einwirkungen der Freizügigkeit des rechtlich konfigurierten Marktakteurs in das Internationale Gesellschaftsrecht .................. 371 1. Kollisionsrechtliche Bedeutung von Art. 54 Abs. 1 AEUV ....372 a) Versteckte Kollisionsnorm in Art. 54 Abs. 1 AEUV bezüglich der Gründung einer Gesellschaft......................373 b) Erstreckung der versteckten Kollisionsnorm in Art. 54 Abs. 1 AEUV auf den Fortbestand der Gesellschaft ..................................................................... 374 c) Sachnormverweisung ....................................................... 375 2. Einwirkungen der Niederlassungsfreiheit in das Internationalen Gesellschaftsrecht .......................................... 377 a) Keine versteckte Kollisionsnorm in Art. 49 AEUV .........378 b) Niederlassungsfreiheit als Marktzugangsfreiheit für rechtlich konfigurierte Marktakteure ............................... 378 c) Anwendungsvorrang mit der Rechtsfolge der Unanwendbarkeit entgegenstehenden nationalen Rechts bei verweigerter Rechtsfähigkeit ..................................... 379 d) Keine aus der Niederlassungsfreiheit folgende Erstreckung auf andere Rechtsfragen ...............................382 IV. Das Grundprinzip hinter der Freizügigkeit der rechtlich konfigurierten Marktakteure: Grenzüberschreitende Rechtswahlfreiheit ..................................... 385 C. Internationales Namensrecht ................................................................ 387 I. II.
Das autonome Namenskollisionsrecht .......................................... 388 Bestimmung des Namensstatuts ................................................... 390 1. Staatsangehörigkeit ................................................................ 391 a) Bestimmung der Staatsangehörigkeit ...............................392 b) Mehrstaatigkeit, Art. 5 Abs. 1 EGBGB............................392 c) Staatenlosigkeit, Art. 5 Abs. 2 EGBGB ...........................393 d) Flüchtlinge ...................................................................... 394 2. Domizilprinzip (Wohnsitz und gewöhnlicher Aufenthalt) ......395 3. Parteiwille .............................................................................. 398 4. Divergierende Namensführung durch Unionsbürgermobilität ........................................................... 400
XXII
Inhaltsverzeichnis
a) Statutenwechsel ............................................................... 400 b) Hinkende Namensführung ohne Statutenwechsel............. 401 c) Vorfragenanknüpfung ...................................................... 402 5. Vergleich mit den Kollisionsnormen des Internationalen Gesellschaftsrechts ........................................ 404 III. Die Rechtsprechung des EuGH zur Freizügigkeit von Namen ......405 1. Garcia Avello ......................................................................... 406 a) Entscheidungsgründe des EuGH ......................................407 b) Bewertung ....................................................................... 409 c) Geringe Auswirkungen auf das deutsche Namenskollisionsrecht ...................................... 411 2. Grunkin-Paul ......................................................................... 413 a) Entscheidungsgründe des EuGH ......................................414 b) Bewertung: Gleichrangigkeit der Anknüpfungsmomente ..................................................... 416 c) Bedeutung der Achtungspflicht nach „Grunkin-Paul“ im deutschen Recht.......................................................... 417 aa) Vorab: Irrelevanz einer Namensregistrierung im deutschen Recht ................................................. 419 bb) Unmöglichkeit der Rechtsfortbildung von § 1617 BGB ..................................................... 419 cc) Anderer Name als „wichtiger Grund“ im Namensänderungsverfahren ............................... 421 dd) Unionsrechtskonforme Rechtsfortbildung von Art. 10 EGBGB ................................................422 ee) Anerkennungsprinzip ..............................................426 ff) Zusammenfassung...................................................429 3. Sayn-Wittgenstein .................................................................. 429 a) Entscheidungsgründe des EuGH ......................................432 b) Bewertung: Schutz des Vertrauens auf den tatsächlich geführten Namen ..................................... 433 aa) Vertrauensschutz auf den unrichtigen Namen in inländischen Personenstandsregistern ................. 433 (1) Vertrauensschutz in der namensrechtlichen Rechtsprechung des BVerfG............................434 (2) Voraussetzungen für den Vertrauensschutz im Namensrecht............................................... 436
Inhaltsverzeichnis
XXIII
(3) Übertragung der Voraussetzungen des Vertrauensschutzes auf die Rechtssache „Sayn-Wittgenstein“ ........................................ 437 bb) Vertrauensschutz auf den unrichtigen Namen in ausländischen Personenstandsregistern ............... 438 cc) Exkurs: Schutz des tatsächlich geführten Namens nach Art. 8 EMRK ..................................................440 c) Bedeutung des unionsrechtlichen Schutzes des Vertrauens auf den tatsächlich geführten Namen im deutschen Recht.......................................................... 443 4. Zusammenfassung: Die Freizügigkeit von Namen .................443 IV. Einwirkungen der unionalen Freizügigkeitsrechte in das Internationale Namensrecht ................................................ 445 1. Keine versteckte Kollisionsnorm in Art. 21 AEUV ................445 2. Unionsbürgerfreizügigkeit als Zugangsfreiheit für Namen und zur inländischen Namensbildung ...................447 a) Aufhebung der Zugangssperre für nach ausländischem Sachrecht gebildete Namen ............. 447 b) Aufhebung von Diskriminierungen und Beschränkungen beim Zugang zu nach inländischem Sachrecht gebildeten Namen ............................................................ 448 3. Der beschränkende Charakter des öffentlich-rechtlichen Namensänderungsverfahrens ...............449 4. Die Namenswahl nach Art. 48 EGBGB.................................. 451 a) Vorweg: Die neu definierte „contra legem“-Grenze bei der unionsrechtskonformen Rechtsfortbildung des Art. 10 EGBGB ......................................................... 452 b) Fortbestehende Beschränkung bei ausländischem Namensstatut ........................................... 453 c) Fortbestehende Beschränkung bei Namensänderung ohne gleichzeitigen gewöhnlichen Aufenthalt in dem EU-Mitgliedstaat.................................................. 454 d) Unionsrechtskonforme Rechtsfortbildung von Art. 48 EGBGB ........................................................ 455 aa) Teleologische Reduktion des Tatbestandsmerkmals „während eines gewöhnlichen Aufenthalts“ ............ 456 bb) Teleologische Extension des Tatbestandsmerkmals „Unterliegt … deutschem Recht“ ............................ 457
XXIV
V.
Inhaltsverzeichnis
(1) Art. 48 EGBGB als versteckte Kollisionsnorm ............................... 458 (2) Art. 48 EGBGB als Rechtswahl ....................... 460 (3) Keine Überschreitung der „contra legem“Grenze durch die unionsrechtskonforme Rechtsfortbildung des Art. 48 EGBGB ............ 461 (4) Zusammenfassung ........................................... 463 Grundprinzip hinter der Freizügigkeit von Namen: Grenzüberschreitende Namenswahlfreiheit ................................... 464
D. Zusammenfassung ................................................................................. 465 I.
Die Wirkungsweise des unionsrechtlichen Anwendungsvorrangs im autonomen IPR ..................................... 465 II. Verallgemeinerungsfähigkeit der Feststellungen zum Internationalen Gesellschaftsrecht und zum Internationalen Namensrecht................................................. 471 III. Wirkungsweise des Anwendungsvorrangs in anderen Teilrechtsgebieten des IPR .......................................... 474 1. Zugang zu einem Rechtsverhältnis: Das Internationale Adoptionsrecht ......................................... 474 2. Zugang eines bestehenden Rechtsverhältnis zum Hoheitsgebiet eines anderen Mitgliedstaats: Freizügigkeit rechtlich konfigurierter Lebensgemeinschaften ...................... 477 a) Zugangssperre für eine gleichgeschlechtliche Ehe als Verletzung der Unionsbürgerfreizügigkeit..................479 b) Unverhältnismäßigkeit einer Zugangssperre wegen der Verletzung von Art. 8 EMRK/Art. 7 GRCh ....480 c) Herstellung eines unionsrechtskonformen Rechtszustands ................................................................ 484
Schlussbetrachtungen...........................................................................489 Zusammenfassung in Thesenform ....................................................491 Literaturverzeichnis..............................................................................507 Entscheidungsverzeichnis ...................................................................530 Sachregister ............................................................................................534
Abkürzungsverzeichnis a.A. a.F. ABGB ABl. AcP AEUV AG AG AG AGG AöR AVR BayObLG BayObLGZ BB BDGVR BeckOK-BGB BegrRegE BGB BGBl. BGH BGHZ BR-Drs. BT-Drs. Buff.L.Rev. BV BVerfG BVerfGE BVerwG CambrLJ CIEC Clunet CMLR ColumJEuRL ComEStudi DB
anderer Ansicht alte Fassung Allgemeines Bürgerliches Gesetzbuch Amtsblatt der Europäischen Union Archiv für die civilistische Praxis Vertrag über die Arbeitsweise der Europäischen Union Die Aktiengesellschaft (Zeitschrift) Aktiengesellschaft (Rechtsform) Amtsgericht Allgemeines Gleichbehandlungsgesetz Archiv des öffentlichen Rechts Archiv des Völkerrechts Bayerisches Oberstes Landesgericht Sammlung der Entscheidungen des BayObLG in Zivilsachen Betriebs-Berater Berichte der deutschen Gesellschaft für Völkerrecht Bamberger, Heinz-Georg/Roth, Herbert (Hrsg.): Beck’scher OnlineKommentar BGB Begründeter Regierungsentwurf Bürgerliches Gesetzbuch Bundesgesetzblatt Bundesgerichtshof Amtliche Sammlung der Entscheidungen des Bundesgerichtshof in Zivilsachen Bundesratsdrucksache Bundestagsdrucksache Buffalo Law Review Besloten vennotschap (niederländische Rechtsform) Bundesverfassungsgericht Amtliche Sammlung der Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts Bundesverwaltungsgericht The Cambridge Law Journal Commission Internationale de l’Etat Civil Journal du droit international (Clunet) Common Market Law Review Columbia Journal of European Law Communicazioni e studi Der Betrieb
XXVI Der Staat DJT DNotZ DÖV DRiZ DStR DVBl. DZWiR EBOR ECFR Ecolex EG EGBGB EGKSV EGMR ELJ ELRev EMRK EnzEuR EStG EU EuGH EuGRZ EuR Euratom EuR-Beih. EUV EuZA EuZW EWG EWGV EWiR EWS FamRZ Foro it. FS GA GbR GG GmbH GmbHG GmbHR GPR GRCh GRUR GRUR Int GS
Abkürzungsverzeichnis Zeitschrift für Staatslehre und Verfassungsgeschichte, deutsches und europäisches öffentliches Recht Deutscher Juristentag Deutsche Notar-Zeitschrift Die Öffentliche Verwaltung Deutsche Richterzeitung Deutsches Steuerrecht Deutsches Verwaltungsblatt Deutsche Zeitschrift für Wirtschafts- und Insolvenzrecht European Business Organization Review European Company and Financial Review Fachzeitschrift für Wirtschaftsrecht Europäische Gemeinschaft Einführungsgesetz zum Bürgerlichen Gesetzbuch Vertrag über die Gründung der Europäischen Gemeinschaft für Kohle und Stahl Europäischer Gerichtshof für Menschenrechte European Law Journal European Law Review Konvention zum Schutz der Menschenrechte und Grundfreiheiten Enzyklopädie des Europarechts Einkommensteuergesetz Europäische Union Gerichtshof der Europäischen Union Zeitschrift für Europäische Grundrechte Zeitschrift Europarecht Europäische Atomgemeinschaft Beihefte zur Zeitschrift Europarecht Vertrag über die Europäische Union Europäische Zeitschrift für Arbeitsrecht Europäische Zeitschrift für Wirtschaftsrecht Europäische Wirtschaftsgemeinschaft Vertrag über die Gründung der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft Entscheidungen im Wirtschaftsrecht Europäisches Wirtschafts- und Steuerrecht (Zeitschrift) Zeitschrift für das gesamte Familienrecht Il Foro Italiano Festschrift Generalanwältin/Generalanwalt Gesellschaft bürgerlichen Rechts Grundgesetz Gesellschaft mit beschränkter Haftung Gesetz betreffend die Gesellschaften mit beschränkter Haftung GmbH-Rundschau Gemeinschaftsprivatrecht Charta der Grundrechte der Europäische Union Gewerblicher Rechtsschutz und Urheberrecht (Zeitschrift) Gewerblicher Rechtsschutz und Urheberrecht, internationale Ausgabe Gedächtnisschrift
Abkürzungsverzeichnis Harv.L.Rev. HdBStR HGR ICLQ ILJ Int.Enc.Comp.L. IPbpR IPR IPRax IPRspr. IZPR J.Priv.Int.L. jbl JR juridikum JuS JW JZ kft KG Berlin KG KindRG LPartG MJ NamÄndG NJW NJW-RR NK-BGB NV NVwZ NZA NZG OHG OLG ÖstVerfGH PCIJ PLC PolnVerfGH PStRG RabelsZ RCDIP RdA RdC Rechtstheorie
RG RGZ
XXVII
The Harvard Law Review Handbuch des Deutschen Staatsrechts Handbuch der Grundrechte in Deutschland und Europa International & Comparative Law Quarterly Industrial Law Journal International Encyclopedia of Comparative Law Internationaler Pakt über bürgerliche und politische Rechte Internationales Privatrecht Praxis des Internationalen Privat- und Verfahrensrechts Die deutsche Rechtsprechung auf dem Gebiet des internationalen Privatrechts Internationales Zivilprozessrecht Journal of Private International Law Juristische Blätter Juristische Rundschau Zeitschrift für Kritik, Recht und Gesellschaft Juristische Schulung Juristische Wochenschrift JuristenZeitung Korlátolt felelősségű társaság (ungarische Rechtsform) Kammergericht Berlin Kommanditgesellschaft Kindschaftsrechtsreformgesetz Lebenspartnerschaftsgesetz Maastricht Journal of European and Comparative Law Gesetz über die Änderung von Familiennamen und Vornamen Neue Juristische Wochenschrift Neue Juristische Wochenschrift Rechtsprechungs-Report Nomos Kommentar zum BGB Naamloze vennotschap (niederländische Rechtsform) Neue Zeitschrift für Verwaltungsrecht Neue Zeitschrift für Arbeitsrecht Neue Zeitschrift für Gesellschaftsrecht Offene Handelsgesellschaft Oberlandesgericht Österreichischer Verfassungsgerichtshof Permanent Court of International Justice public limited company Polnischer Verfassungsgerichtshof Personenstandsrechtsreformgesetz Rabels Zeitschrift für ausländisches und internationales Privatrecht Revue critique de droit international privé Recht der Arbeit Recueil des Cours de l‘Académie de La Haye Zeitschrift für Logik und Juristische Methodenlehre, Rechtsinformatik, Kommunikationsforschung, Normen- und Handlungstheorie, Soziologie und Philosophie des Rechts Reichsgericht Sammlung der Entscheidungen des Reichsgerichts in Zivilsachen
XXVIII RHDI Riv. dir. Int. RIW Rs. SA SARL SchlA SEW SGB Slg. srl StAZ
StIGH StudZR TzBfG VersAusglG VO VVDStRL VwGH WFBV WRP WVK YEL ZaöRV ZAR ZEuP ZEuS ZfRV ZGR ZGS ZHR ZIP ZVglRWiss ZZP ZESAR
Abkürzungsverzeichnis Revue d’histoire du droit international Rivista di diritto internazionale Recht der internationalen Wirtschaft Rechtssache Société Anonyme (französische Rechtsform) Société à responsabilité limitée (französische Rechtsform) Schlussanträge Sociaal Economische Wetgeving Sozialgesetzbuch Sammlung der Rechtsprechung des Gerichtshofes und des Gerichts Erster Instanz Società a responsabilità limitata (Rechtsform) Das Standesamt, Zeitschrift für Standesamtswesen, Familienrecht, Staatsangehörigkeitsrecht, Personenstands-recht, internationales Privatrecht des In- und Auslands Ständiger Internationaler Gerichtshof Studentische Zeitschrift für Rechtswissenschaft Gesetz über Teilzeitarbeit und befristete Arbeitsverträge Versorgungsausgleichsgesetz Verordnung Veröffentlichungen der Vereinigung deutscher Staatsrechtslehrer Verwaltungsgerichtshof Wet op de formeel buitenlandse vennootschappen Wettbewerb in Recht und Praxis Wiener Übereinkommen über das Recht der Verträge Yearbook of European Law Zeitschrift für ausländisches öffentliches Recht und Völkerrecht Zeitschrift für Ausländerrecht und Ausländerpolitik Zeitschrift für Europäisches Privatrecht Zeitschrift für Europarechtliche Studien Zeitschrift für Europarecht, Internationales Privatrecht und Rechtsvergleichung Zeitschrift für Unternehmens- und Gesellschaftsrecht Zeitschrift für Vertragsgestaltung, Schuld- und Haftungsrecht Zeitschrift für das gesamte Handelsrecht und Wirtschaftsrecht Zeitschrift für Wirtschaftsrecht Zeitschrift für Vergleichende Rechtswissenschaft Zeitschrift für Zivilprozess Zeitschrift für europäisches Sozial- und Arbeitsrecht
Einleitung Einleitung
„Nous ne coalisons pas des Etats, nous unissons des hommes“, schrieb Jean Monnet als Untertitel seiner Autobiographie „Mémoires“ und brachte damit den Grundgedanken der europäischen Integration zum Ausdruck.1 Die mit der Errichtung des Gemeinsamen Marktes zu erzielende Wirtschaftsintegration sollte hiernach nur eine Zwischenetappe zur politischen Einigung Europas sein. Die Wirtschaftsintegration sollte ein Instrument zur Erreichung der politischen Integration Europas sein. Der Gedanke der Integration von Bürgern anstelle von Staaten setzt auf die Begegnung und den Austausch der verschiedenen Staatsbürger der Mitgliedstaaten der ursprünglichen Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft. Ihr Erfolg lässt sich damit an der tatsächlichen Inanspruchnahme der grenzüberschreitenden Personenfreizügigkeit messen. Im Jahr 2011 lebten nach den Angaben von Eurostat 18,8 Millionen Unionsbürger in einem anderen EU-Mitgliedstaat als demjenigen ihrer Staatsangehörigkeit. Dies entsprach einem Anteil von 3,7 % der Gesamtbevölkerung der 28 EU-Mitgliedstaaten.2 Im Jahr 2005 waren es (vor dem Beitritt Rumäniens und Bulgariens) noch 8,2 Millionen Unionsbürger.3 Diese steigende Anzahl von grenzüberschreitend mobilen Unionsbürgern schlägt sich auch in Familienbeziehungen nieder. In Deutschland wurden im Jahr 2012 beispielsweise 18.898 transnationale Ehen geschlossen.4 Hinzu traten in diesem Jahr 30.939 Lebendgeburten von verheirateten Eltern, die gemischtnational mit mindestens einem Unionsbürger waren.5 Diese gemischtnationalen Familienverhältnisse 1
Monnet, Mémoires. Eurostat, People in the EU: who are we and how do we live?, Eurostat Statistical Books, Luxemburg 2015, S. 92. 3 Europäische Kommission, Fünfter Bericht über die Unionsbürgerschaft (KOM(2008) 85 endg.), S. 2. 4 Quelle: Eigene Berechnungen auf Grundlage von Zahlen des Statistischen Bundesamtes, Bevölkerung und Erwerbstätigkeit, Natürliche Bevölkerungsbewegung, 2012, Fachserie 1 Reihe 1.1, Tabellen 14.10.1 und 14.10.2 über Eheschließungen nach Staatsangehörigkeit. Unter einer transnationalen Ehe wird hier die Ehe zwischen einem deutschen Staatsangehörigen und einem Unionsbürger sowie unter Unionsbürgern verstanden. 5 Quelle: Eigene Berechnungen auf Grundlage von Zahlen des Statistischen Bundesamtes, Bevölkerung und Erwerbstätigkeit, Natürliche Bevölkerungsbewegung, 2012, Fachserie 1 Reihe 1.1, Tabellen 2.16 und 2.17 über Lebendgeborene nach der Staatsangehörigkeit des Vaters und der Mutter. 2
2
Einleitung
stellen auch das Recht vor Herausforderungen. Sie begründen Sachverhalte mit Auslandsbezug, bei denen das Internationale Privatrecht der lex fori bestimmt, welche der möglichen beteiligten mitgliedstaatlichen Rechtsordnungen zur Regelung einer Rechtsfrage, die sich in diesem Sachverhalt stellt, berufen ist. Aufgrund der Unterschiedlichkeit der mitgliedstaatlichen Sachrechtsordnungen kann die von der kollisionsrechtlich berufenen Rechtsordnung gefundene Antwort auf die aufgeworfene Rechtsfrage von der Antwort abweichen, die eine andere mit dem Sachverhalt verbundene, aber nicht zur Anwendung berufene Rechtsordnung geben würde. Im autonomen IPR wäre das grundsätzlich hinzunehmen. In der Europäischen Union können solche Unterschiede die Ausübung von Freizügigkeitsrechten beeinträchtigen mit der Folge, dass die gefundene Antwort im Falle eines Verstoßes gegen die Grundfreiheiten oder die Unionsbürgerfreizügigkeit unangewandt bleiben muss. Es stellt sich die Folgefrage, welche Sachnorm an die Stelle der im Ausgangspunkt vom IPR des Forumsstaats zur Anwendung berufenen Sachnorm tritt. Die Bestimmung dieser Sachnorm ist eine kollisionsrechtliche Aufgabe. Daher hat sich insbesondere die Kollisionsrechtswissenschaft mit dieser Folgefrage beschäftigt. Die Behandlung durch die Kollisionsrechtswissenschaft lässt sich dabei in zwei Diskussionsstränge unterteilen. Die frühen Arbeiten, von denen beispielhaft diejenigen von Roth6 und Basedow7 sowie monographisch von Brödermann8, Bruinier9 oder Weller10 hervorgehoben werden können, drehten sich hauptsächlich um die Frage, ob den Grundfreiheiten versteckte Kollisionsnormen zu entnehmen seien, die das anwendbare Recht anders als das autonome IPR bestimmen. Der zweite Diskussionsstrang wurde durch die von Jayme und Kohler im Jahr 2001 aufgeworfene Frage „Anerkennungsprinzip statt IPR?“11 eingeläutet. Eine Tagung der IPRax im Jahr 200612, ein Beitrag von Mansel13 und die Monographien von Funken,14 Leifeld15 und Rieks16 sowie die Haager Vorlesung von Baratta17 widmeten sich der methodischen 6
Roth, RabelsZ 55 (1991), 623. Basedow, RabelsZ 59 (1995), 1. 8 Brödermann, in: Brödermann/Iversen, Europäisches Gemeinschaftsrecht und IPR, Teil I. 9 Bruinier, Der Einfluss der Grundfreiheiten aus das Internationale Privatrecht, 2003. 10 Weller, Europäische Rechtsformwahlfreiheit und Gesellschafterhaftung, 2004. 11 Jayme/Kohler, IPRax 2001, 501. 12 Siehe hierzu die Beiträge von Roth, IPRax 2006, 338; Coester-Waltjen, IPRax 2006, 392. 13 Mansel, RabelsZ 70 (2006), 651. 14 Funken, Das Anerkennungsprinzip im internationalen Privatrecht, 2009. 15 Leifeld, Das Anerkennungsprinzip im Kollisionsrechtssystem des internationalen Privatrechts, 2010. 16 Rieks, Anerkennung im Internationalen Privatrecht, 2012. 17 Baratta, La reconnaissance internationale des situations juridiques personnelles et familiales, RdC 348 (2010), 253. 7
Einleitung
3
Frage, ob das Unionsrecht eine Ersetzung des klassischen Verweisungssystems Savigny’scher Prägung durch ein Anerkennungsprinzip verlangt. Als kollisionsrechtliche Arbeiten liegt ihr Schwerpunkt naturgemäß auf der kollisionsrechtlichen Diskussion. Die gesellschaftskollisionsrechtlichen Arbeiten diskutieren die Urteile des EuGH in den Rechtssachen „Daily Mail“,18 „Centros“,19 „Überseering“20 und „Cartesio“21 und problematisieren die Vorgaben der Niederlassungsfreiheit für das Internationale Gesellschaftsrecht. Die gesellschaftskollisionsrechtliche Diskussion ist dabei insbesondere von der Frage geprägt, ob die Niederlassungsfreiheit mit der Gründungstheorie eine bestimmte Kollisionsnorm für die Anknüpfung der gesellschaftsrechtlichen Rechtsverhältnisse verlangt. Die Arbeiten zum Anerkennungsprinzip streifen die Urteile des EuGH in den Rechtssachen „Garcia Avello“22 und „GrunkinPaul“23 und konzentrieren sich auf die konkrete Ausgestaltung eines kollisionsrechtlichen Anerkennungsprinzips in Abkehr von der Verweisungstechnik. Eine Einbettung dieser kollisionsrechtlichen Debatten in die europarechtliche Diskussion über die Dogmatik der Grundfreiheiten erfolgt, dem kollisionsrechtlichen Blickwinkel geschuldet, allenfalls in sachlichem Bezug auf die jeweils behandelte kollisionsrechtliche Fragestellung. Dies kann aus unionsrechtlicher Sicht zu Schieflagen führen. Prominent hervorgehoben werden kann an dieser Stelle ein Urteil des OLG München, in dem es um eine Eintragung und Beurkundung eines im englischen Geburtenregister geführten Doppelnamens eines deutschen Staatsangehörigen geht.24 Das OLG nimmt entgegen dem zuständigen Standesamt eine Pflicht zur Eintragung dieses Doppelnamens an. Es begründet sein Ergebnis mit dem Anwendungsvorrang: „Nach diesen Grundsätzen [Anm. d. Verf.: den Grundsätzen des Anwendungsvorrangs] hat das Standesamt den Doppelnamen des Kindes trotz des entgegenstehenden deutschen Rechts, das insoweit unangewendet bleibt (für eine gemeinschaftsrechtskonforme Auslegung sieht der Senat keinen Raum), in das deutsche Geburtenregister einzutragen.“25 Aus unionsrechtlicher Sicht überrascht diese Argumentation, da der Anwendungsvorrang dazu führt, dass erstens das entgegenstehende mitgliedstaatliche Recht unangewendet bleibt und zweitens das Unionsrecht an dessen Stelle angewandt wird. Die vom OLG München anstelle des deutschen Rechts herangezogene Unionsbürgerfreizügigkeit beinhaltet jedoch ein Verbot, Beschränkungen für die Freizügigkeit und
18
EuGH, Rs. 81/87, Daily Mail, Slg. 1988, 5483. EuGH, Rs. C-212/97, Centros, Slg. 1999, I-1459. 20 EuGH, Rs. C-208/00, Überseering, Slg. 2002, I-9919. 21 EuGH, Rs. C-210/06, Cartesio, Slg. 2008, I-9641. 22 EuGH, Rs. C-148/02, Garcia Avello, Slg. 2003, I-11613. 23 EuGH, Rs. C-353/06, Grunkin-Paul, Slg. 2008, I-7639. 24 OLG München, NJW-RR 2010, 660. 25 OLG München, NJW-RR 2010, 660, 662 (3.). 19
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Einleitung
den Aufenthalt des Unionsbürgers aufrechtzuerhalten, nicht aber ein Handlungsgebot, das vom OLG eine Registereintragung verlangen würde. An diesem Beispiel zeigt sich die Notwendigkeit einer unionsrechtlichen Betrachtung des Verhältnisses von Unionsrecht und mitgliedstaatlichem IPR. Hier setzt die vorliegende Arbeit an. Sie widmet sich den unionsrechtlichen Vorgaben für das mitgliedstaatliche IPR aus europarechtswissenschaftlicher Perspektive. Der Blickwinkel geht dabei nicht wie bei den kollisionsrechtlichen Arbeiten vom Kollisionsrecht zum Europarecht, sondern vom Europarecht zum Kollisionsrecht. Diese Perspektive ist in der kollisionsrechtlichen Diskussion unterentwickelt. Sie ist aber notwendig, um die unionsrechtlichen Vorgaben für das IPR in seiner gesamten Breite zu erkennen. Durch diese Perspektive soll der Versuchung widerstanden werden, den Grundfreiheiten eine Dogmatik nach kollisionsrechtlichen Maßstäben zu unterlegen, die dann zu unionsrechtlichen Vorgaben an das mitgliedstaatliche autonome IPR führt, die für dieses passgenau erscheinen. In der kollisionsrechtlichen Literatur drängt sich dieser Eindruck auf. So findet beispielsweise Rieks im Unionsrecht eine „primärrechtliche Pflicht zur kollisionsrechtlichen Anerkennung“.26 Auch Baratta will in dem Primärrecht eine solche Pflicht erkennen können.27 Leifeld entnimmt den Grundfreiheiten Vorgaben, denen „eine international-privatrechtliche Verweisung beispielsweise, die unabhängig von der Eintragung an den gewöhnlichen Aufenthalt oder die Staatsangehörigkeit anknüpft, […] nicht Rechnung tragen kann. […] Methodisch scheint […] eine methodische Umorientierung gefordert zu sein.“28 Das Unionsrecht gibt nach dieser Ansicht eine bestimmte kollisionsrechtliche Methode vor. Die unionsrechtliche Perspektive dieser Arbeit wird zur Beantwortung der Frage führen, ob Primärrechtsnormen der negativen Integration, deren Wirkung sich grundsätzlich darin erschöpft, die Unanwendbarkeit entgegenstehenden nationalen Rechts zu verlangen, derart weitreichende Konsequenzen für das autonome IPR haben können. Neben den aufgeworfenen unionsrechtlichen Fragen blenden die bisherigen Arbeiten einen zentralen methodischen Aspekt aus. Unmittelbar anwendbare Primärrechtsnormen wirken in der mitgliedstaatlichen Rechtsordnung ex lege, ohne dass sie vom mitgliedstaatlichen Gesetzgeber in seinen gesetzgeberischen Plan aufgenommen gewesen wären. Die Anwendung von unmittelbar anwendbaren Primärrechtsnormen der negativen Integration führt zunächst zu einer Unanwendbarkeit entgegenstehender mitgliedstaatlicher Normen, was in der Folge Lücken in der mitgliedstaatlichen Rechtsordnung öffnet. Deren Füllung
26
Rieks, Anerkennung im Internationalen Privatrecht, S. 232 ff. Baratta, RdC 348 (2010), 253, 443; ders., IPRax 2007, 4, 9. 28 Leifeld, Anerkennungsprinzip, S. 129. 27
A. Gegenstand der Arbeit
5
erfolgt nach den Vorgaben der jeweiligen Methodenlehre. Gelingt eine Lückenfüllung auf der Grundlage der mitgliedstaatlichen Methodenlehre, so erübrigt sich die unionsrechtlich zweifelhafte Frage nach dem positiven Regelungsgehalt von Primärrechtsnormen der negativen Integration. Eine tiefgehende Behandlung der Einwirkung von Primärrechtsnormen in das IPR, unter dem Aspekt der Methodenlehre, fehlt allerdings. Nur wenige kollisionsrechtliche Arbeiten behandeln überhaupt das Anerkennungsprinzip unter dem Gesichtspunkt des Anwendungsvorrangs.29 Die vorliegende Arbeit will daher einen Beitrag zur kollisionsrechtlichen Diskussion um die Einwirkungen des Primärrechts in das autonome IPR aus unionsrechtlicher Perspektive leisten. Sie verbindet die Theorie des unionsrechtlichen Anwendungsvorrangs und einer einheitlichen Dogmatik der Primärrechtsnormen der negativen Integration (Diskriminierungsverbote, Grundfreiheiten und Unionsbürgerfreizügigkeit) mit der Frage, wie die juristische Methodenlehre mit der Einwirkung des Unionsrechts in die nationale Rechtsordnung umgeht, um auf dieser Grundlage die Rechtsprechung des EuGH zum Internationalen Gesellschaftsrecht und zum Internationalen Namensrecht zu bewerten und Schlussfolgerungen für die Einwirkungen des Primärrechts in das autonome IPR der Mitgliedstaaten zu ziehen.
A. Gegenstand der Arbeit A. Gegenstand der Arbeit
Gegenstand der Arbeit ist die Wirkungsweise des unionsrechtlichen Anwendungsvorrangs im mitgliedstaatlichen autonomen IPR. Der Anwendungsvorrang ist eine Regel zur Auflösung einer Kollision einer mitgliedstaatlichen Maßnahme mit der Unionsrechtsordnung. Daher sind für eine Untersuchung der Wirkungsweise des Anwendungsvorrangs im IPR sowohl das Unionsrecht als auch das Kollisionsrecht in Betracht zu nehmen. Auf der einen Seite sind die unmittelbar anwendbaren Primärrechtsnormen der negativen Integration Gegenstand dieser Arbeit. Hierunter werden diejenigen Normen verstanden, deren Wirkung sich darin erschöpft, die Unanwendbarkeit entgegenstehenden nationalen Rechts zu verlangen. Sie sind auf den Abbau von Diskriminierungen und Beschränkungen ausgerichtet. Es handelt sich dabei um die unionsrechtlichen Diskriminierungsverbote, die Grundfreiheiten und die Unionsbürgerfreizügigkeit. Nicht näher betrachtet wird das IPR29 Auf den Anwendungsvorrang abstellend: NK-BGB/Mankowski, Art. 10 EGBGB Rn. 166; Wall, IPRax 2010, 433, 435. Beide gehen jedoch von der Existenz einer „versteckten“ Kollisionsnorm im Primärrecht aus, die sich kraft Anwendungsvorrangs gegen die Kollisionsnorm des autonomen IPR durchsetzt. Die Debatte um das Anerkennungsprinzip als Problem des Anwendungsvorrangs erkennt MünchKommBGB/Lipp, Art. 10 EGBGB Rn. 183.
6
Einleitung
relevante Sekundärrecht wie die Rom I-Verordnung zum Internationalen vertraglichen Schuldrecht30, die Rom II-Verordnung zum Internationalen außervertraglichen Schuldrecht31, die Rom III-Verordnung zum Internationalen Scheidungsrecht,32 die Rom IV-Verordnungen zum Internationalen Güterrecht der Ehe33 und der eingetragenen Partnerschaften34 oder die Verordnungen zum Internationalen Unterhaltsrecht35 und dem Internationalen Erbrecht.36 Auf der anderen Seite betrachtet die Arbeit die Kollisionsnormen des autonomen IPR. Das autonome deutsche IPR umfasst nach Art. 3 EGBGB diejenigen Kollisionsnormen, an deren Stelle nicht bereits vorrangiges Unionsrecht oder vorrangige Staatsverträge getreten sind. Dies sind die Kollisionsnormen des Internationalen Gesellschaftsrechts, des Internationalen Namensrechts und des Internationalen Familienrechts mit Ausnahme des Scheidungskollisionsrechts. Vorliegend konzentriert sich die Arbeit auf das Internationale Gesellschaftsrecht und das Internationale Namensrecht, da hierzu eine umfangreiche Rechtsprechung des EuGH als Analysematerial zur Verfügung steht. Abschließend wird jedoch auch die Frage behandelt, ob die in diesen beiden Teilrechtsgebieten gefundenen Ergebnisse verallgemeinerungsfähig sind. Das Zusammenspiel zwischen diesen beiden Normenkomplexen, dem Unionsrecht auf der einen Seite und dem autonomen IPR auf der anderen Seite, ist durch den unionsrechtlichen Anwendungsvorrang gekennzeichnet. Erforder-
30 Verordnung (EG) Nr. 593/2008 über das auf vertragliche Schuldverhältnisse anzuwendende Recht (Rom I), ABl. 2008 L 177/6. 31 Verordnung (EG) Nr. 864/2007 über das auf außervertragliche Schuldverhältnisse anzuwendende Recht (Rom II), ABl. 2007 L 199/40. 32 Wenn auch derzeit nur in verstärkter Zusammenarbeit von zunächst 14 Mitgliedstaaten (inzwischen sind es nach dem Beitritt Litauens 15 Mitgliedstaaten), Verordnung (EU) Nr. 1259/2010 zur Durchführung einer Verstärkten Zusammenarbeit im Bereich des auf die Ehescheidung und Trennung ohne Auflösung des Ehebandes anzuwendenden Rechts (Rom III), ABl. 2010 L 343/10. 33 Verordnung (EU) 2016/1103 zur Durchführung einer Verstärkten Zusammenarbeit im Bereich der Zuständigkeit, des anzuwendenden Rechts und der Anerkennung und Vollstreckung von Entscheidungen in Fragen des ehelichen Güterstands (Rom IVa), ABl. 2016 L 183/1. 34 Verordnung (EU) 2016/1104 zur Durchführung der Verstärkten Zusammenarbeit im Bereich der Zuständigkeit, des anzuwendenden Rechts und der Anerkennung und Vollstreckung von Entscheidungen in Fragen güterrechtlicher Wirkungen eingetragener Partnerschaften (Rom IVb), ABl. 2016 L 183/30. 35 Verordnung (EG) Nr. 4/2009 über die Zuständigkeit, das anwendbare Recht, die Anerkennung und Vollstreckung von Entscheidungen und die Zusammenarbeit in Unterhaltssachen, ABl. 2009 L 7/1. 36 Verordnung (EU) Nr. 650/2012 über die Zuständigkeit, das anzuwendende Recht, die Anerkennung und Vollstreckung von Entscheidungen und die Annahme und Vollstreckung öffentlicher Urkunden in Erbsachen sowie zur Einführung eines Europäischen Nachlasszeugnisses, ABl. 2012 L 201/107.
B. Gang der Untersuchung
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lich und ausreichend für eine tiefgreifende Untersuchung des Anwendungsvorrangs des Unionsrechts und seiner Wirkungsweise im autonomen IPR ist die Eröffnung des Anwendungsbereichs des Unionsrechts durch eine mitgliedstaatliche Maßnahme. Von geringem Mehrwert ist die nähere Untersuchung, unter welchen einzelfallbedingten Umständen eine Kollision von Unionsnorm und mitgliedstaatlicher Norm aufgrund einer Rechtfertigung zu Gunsten der weiteren Anwendbarkeit der mitgliedstaatlichen Norm aufgelöst wird. Dieser geringe Mehrwert ergibt sich daraus, dass die Rechtfertigung von Unionsrechtsverletzungen von den Besonderheiten des Einzelfalls abhängig ist. Die Möglichkeit der Rechtfertigung hat aber keine Auswirkungen auf den grundsätzlichen Mechanismus des Anwendungsvorrangs und seiner Wirkungsweise. Gelingt die Rechtfertigung, greift der Mechanismus nicht. Scheitert die Rechtfertigung, kommt der Anwendungsvorrang zum Tragen. Vor diesem Hintergrund wird für die Zwecke dieser Arbeit auf eine vertiefte Auseinandersetzung mit der Rechtfertigung von Unionsrechtsverletzungen verzichtet.
B. Gang der Untersuchung B. Gang der Untersuchung
Ausgangspunkt der Untersuchung ist die Theorie des unionsrechtlichen Anwendungsvorrangs. Sie basiert auf dem darzulegenden Grundverständnis des Verhältnisses von Unionsrechtsordnung und den mitgliedstaatlichen Rechtsordnungen (Kapitel 1). Aufbauend auf dem theoretischen Verständnis des unionsrechtlichen Anwendungsvorrangs wird die Einwirkung des Unionsrechts in die mitgliedstaatlichen Rechtsordnungen näher untersucht (Kapitel 2). Hierbei wird die deutsche juristische Methodenlehre daraufhin überprüft, inwieweit sich die autonome Auslegung und Rechtsfortbildung dem unionsrechtlichen Anwendungsvorrang anpassen. Dabei wird zwischen unmittelbar anwendbaren Unionsrechtsnormen einerseits und nicht unmittelbar anwendbaren Unionsrechtsnormen andererseits unterschieden. Im Zentrum dieser Ausführungen steht die unionsrechtskonforme Rechtsfortbildung. Unmittelbar anwendbare Primärrechtsnormen gelten ex lege in den mitgliedstaatlichen Rechtsordnungen, ohne dass sie vom gesetzgeberischen Plan des mitgliedstaatlichen Gesetzgebers aufgenommen worden wären. Dies hat Auswirkungen auf die Lückenfeststellung und auf die anschließende Lückenfüllung. Von zentraler Bedeutung ist dabei die Ziehung der „contra legem“-Grenze. Sie legt fest, welche Möglichkeiten der nationale Richter hat, einen primärrechtskonformen Rechtszustand in der mitgliedstaatlichen Rechtsordnung herzustellen. Auf der Grundlage dieses theoretischen Fundaments sollen die Vorgaben näher betrachtet werden, die die unmittelbar anwendbaren Primärrechtsnormen der negativen Integration für die mitgliedstaatlichen Rechtsordnungen aufstellen (Kapitel 3). Hierbei wird zwischen gleichheitsrechtlichen Vorgaben und den Vorgaben der Marktgrundfreiheiten und der Unionsbürgerfreizügigkeit
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Einleitung
unterschieden. Grund für die Unterscheidung ist die Annahme einer einheitlichen Dogmatik der gleichheitsrechtlichen Unionsrechtssätze. Diese einheitliche Dogmatik baut auf dem allgemeinen unionsrechtlichen Gleichheitssatz auf und findet in den Diskriminierungsverboten lediglich eine besondere Ausformung im Hinblick auf das jeweils verbotene Differenzierungsmerkmal und im Hinblick auf den jeweiligen sachlichen Anwendungsbereich. Auf Grundlage dieses einheitlichen dogmatischen Verständnisses der gleichheitsrechtlichen Unionsrechtssätze lässt sich die scheinbar inkohärente Rechtsprechung des EuGH zum Diskriminierungsverbot aus Gründen der Staatsangehörigkeit in Art. 18 Abs. 1 AEUV einerseits und zu den Diskriminierungen aus Gründen, die von den Antidiskriminierungsrichtlinien verboten sind,37 andererseits erklären. Da nach Ansicht der vorliegenden Arbeit auch die letzteren Diskriminierungsverbote primärrechtlich sind, stellen sie Vorgaben für die mitgliedstaatlichen Rechtsordnungen auf. Sie folgen dabei einer einheitlichen Dogmatik. Diese einheitliche Dogmatik wird auch durch die Marktgrundfreiheiten reflektiert, soweit sie besondere Diskriminierungsverbote mit einem engeren sachlichen Anwendungsbereich sind. Vor diesem Hintergrund konzentriert sich die Untersuchung der Marktgrundfreiheiten auf das in ihnen enthaltene Beschränkungsverbot. Aufbauend auf der paradigmatischen Grundfreiheit der Warenverkehrsfreiheit, bei der der EuGH die Grundlinien seiner Dogmatik der Grundfreiheiten entwickelt hat, stellt die vorliegende Arbeit ein Konzept einer einheitlichen Dogmatik der grundfreiheitlichen Beschränkungsverbote auf. Abschließend wird die Unionsbürgerfreizügigkeit daraufhin untersucht, ob sie der einheitlichen Dogmatik der Marktgrundfreiheiten folgt und damit auch dogmatisch als „Grundfreiheit ohne Markt“38 bezeichnet werden kann. Dieses Kapitel der Untersuchung wird mit der Aufstellung einer einheitlichen Dogmatik des unmittelbar anwendbaren Primärrechts der negativen Integration abgeschlossen. Hierauf aufbauend untersucht das folgende Kapitel die Einwirkungen des unmittelbar anwendbaren Primärrechts in das mitgliedstaatliche IPR (Kapitel 4). Dabei wird zunächst die Frage geklärt, ob Kollisionsrecht ein spezifischer Gegenstand der Kontrolle durch das Diskriminierungsverbot und die Grundfreiheiten sein kann. Hieran anschließend werden das Internationale Gesellschaftsrecht und das Internationale Namensrecht vor dem Hintergrund der zu diesen Teilrechtsgebieten vorhandenen Rechtsprechung des EuGH auf die
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Richtlinie 2000/43/EG zur Anwendung des Gleichbehandlungsgrundsatzes ohne Unterschied der Rasse oder der ethnischen Herkunft (ABl. 2000 L 180/22), Richtlinie 2000/78/EG zur Festlegung eines allgemeinen Rahmens für die Verwirklichung der Gleichbehandlung in Beschäftigung und Beruf (ABl. 2000 L 3030/16), Richtlinie 2004/113/EG zur Verwirklichung des Grundsatzes der Gleichbehandlung von Männern und Frauen beim Zugang zu und bei der Versorgung mit Gütern und Dienstleistungen (ABl. 2004 L 373/37). 38 So der Titel von Wollenschläger, Grundfreiheit ohne Markt.
B. Gang der Untersuchung
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konkreten Einwirkungen des Primärrechts hin untersucht. In jeweiligen Unterkapiteln zu den Teilrechtsgebieten werden die spezifischen Vorgaben, die das Unionsrecht an diese Teilrechtsgebiete stellt, herausgearbeitet und dargelegt, ob die kollisionsrechtlichen Theorien erstens diesen Vorgaben entsprechen und ob sie zweitens diese Vorgaben übererfüllen. Letztere Erkenntnis erlaubt schließlich die Schlussfolgerung, ob sich ein kollisionsrechtlicher Methodenwechsel auf das Unionsrecht als zwingender Grund für seine Einführung berufen kann. Abschließend werden die gefundenen Ergebnisse zusammengeführt und auf das Vorliegen von Parallelen im Hinblick auf die unionsrechtlichen Einwirkungen in die beiden Teilrechtsgebiete hin untersucht. Diese Parallelen erlauben einen Rückschluss auf die Verallgemeinerung von Vorgaben des Primärrechts für das autonome IPR. Auf der Grundlage dieser Ergebnisse kann eine abschließende Beurteilung der Wirkungsweise des unionsrechtlichen Anwendungsvorrangs im autonomen IPR der Mitgliedstaaten vorgenommen werden.
Kapitel 1
Theorie des unionsrechtlichen Anwendungsvorrangs Der Anwendungsvorrang ist eine Regel zur Klärung von Konflikten zwischen der Unionsrechtsordnung und den mitgliedstaatlichen Rechtsordnungen.1 Zur näheren Untersuchung der Wirkungsweise des unionsrechtlichen Anwendungsvorrangs ist es deshalb erforderlich, das Verhältnis zwischen der Unionsrechtsordnung und den mitgliedstaatlichen Rechtsordnungen zu bestimmen. Dies wirft die Fragen auf, ob die Unionsrechtsordnung und die nationale Rechtsordnung voneinander getrennte Rechtsordnungen sind, und danach, ob die Unionsrechtsordnung im Verhältnis zur nationalen Rechtsordnung eine fremde Rechtsordnung ist oder sie vielmehr in die nationale Rechtsordnung inkorporiert ist. Als autonome Rechtsordnung müsste die Unionsrechtsordnung über Normen verfügen, die durch den „Souveränitätspanzer“2 durchgreifen und den Normadressaten unmittelbar berechtigen. Entsteht in diesem Fall eine Inkompatibilität von Rechtsfolgen einer Norm der nationalen Rechtsordnung mit einer Norm der Unionsrechtsordnung, ist ihr Verhältnis zueinander zu klären. Dieses Verhältnis wird durch den Anwendungsvorrang ausgedrückt. Das macht bereits deutlich, dass das theoretische Verständnis vom unionsrechtlichen Anwendungsvorrang in Abhängigkeit zum Verständnis der Unionsrechtsordnung als autonomer Rechtsordnung steht.3 Nur als autonome Rechtsordnung kann die Unionsrechtsordnung selbst ihr Verhältnis zu anderen Rechtsordnungen bestimmen. Andernfalls wird das Verhältnis von denjenigen Rechtsordnungen geregelt, von denen sich die Geltung des Unionsrechts ableitet. Dies führt dazu, dass die Fragen der Geltung der Unionsnormen und des Geltungsgrundes der Unionsrechtsordnung gleichsam als Vorfragen behandelt werden müssen, bevor auf gesichertem Grund das theoretische Verständnis vom unionsrechtlichen Anwendungsvorrang entwickelt werden kann. Um die Theorie des Anwendungsvorrangs nicht mit Fragen der Geltung, des Geltungsgrundes und der Autonomie der Unionsrechtsordnung zu belasten, sollen sie
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Siehe dazu nur Ipsen, Gemeinschaftsrecht, § 10 Rn. 1, S. 257 f. Bleckmann, Europarecht, § 8 Rn. 744. 3 Das hebt bereits Ipsen, Gemeinschaftsrecht, § 10 Rn. 5, S. 260 f. deutlich hervor. 2
A. Geltung, Geltungsgrund und Autonomie der Unionsrechtsordnung
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vorab geklärt werden, bevor das Verhältnis von Unionsrechtsordnung und nationaler Rechtsordnung, welches der Anwendungsvorrang regelt, unbelastet4 von diesen Vorfragen behandelt werden kann.
A. Vorfragen der Geltung, des Geltungsgrunds und der Autonomie der Unionsrechtsordnung A. Geltung, Geltungsgrund und Autonomie der Unionsrechtsordnung
Die Unionsrechtsordnung existiert, weil sie entsprechend ihrer völkervertraglichen Begründung durch Ratifikation der Mitgliedstaaten in Kraft gesetzt worden ist. Die Bundesrepublik Deutschland stimmte mit einem Gesetz nach Art. 59 Abs. 2 S. 1 GG den ursprünglichen Gemeinschaftsverträgen zu.5 Das Zustimmungsgesetz ist zunächst nur die vom Grundgesetz verlangte gesetzgeberische Handlung, aufgrund derer das Völkerrechtssubjekt Bundesrepublik Deutschland völkerrechtliche Verträge wirksam abschließen darf. Die Ratifikationen der Mitgliedstaaten sind damit die notwendige Voraussetzung für die rechtliche Existenz der Unionsrechtsordnung. Hieraus folgt aber nicht zwangsläufig, dass sich die Geltung der Unionsrechtsordnung von den mitgliedstaatlichen Rechtsordnungen ableitet. Die Existenz einer Rechtsordnung, der Vorgang ihrer Errichtung, ist nämlich von ihrem Geltungsgrund getrennt zu sehen: „Ein Kontinuitätsband zwischen Gründungsvertrag hier, Gemeinschaftsverfassung und Gemeinschaftsrechtsordnung dort besteht nicht“.6 Akzeptiert man die Trennung von Existenzgrund und Geltungsgrund, so erscheinen neben dem Verfassungsrecht der Mitgliedstaat, das Völkerrecht oder die Unionsrechtsordnung selbst als mögliche Geltungsgründe des Unionsrechts. Die Annahme, das Verfassungsrecht der Mitgliedstaaten sei der Geltungsgrund, folgt der traditionellen Sicht auf den Geltungsgrund von Völkerrecht als „äußerem Staatsrecht“.7 Danach ist Völkerrecht ein Bestandteil der nationalen Rechtsordnung. Die Wirkungen einer unionsrechtlichen Norm als Völkerrecht und ihr Verhältnis zu anderen Normen der nationalen Rechtsordnung werden nach diesem Verständnis durch die nationale Rechtsordnung bestimmt. Begründet wird diese Sichtweise mit Kelsens „reiner Rechtslehre“ und seiner Annahme von der Einheit des Rechts und der Rückführbarkeit jeder
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Ipsen, Gemeinschaftsrecht, § 10 Rn. 5, S. 260 spricht davon, dass „Erörterungen zur Verhältnisfrage […] ‚vorbelastet‘ [sind]“. 5 Zum EGKSV: BGBl. II, 1952, Nr. 7, S. 445; zum EWGV und EAGV: BGBl. II, 1957, Nr. 23, S. 753. 6 Ipsen, Gemeinschaftsrecht, § 8 Rn. 22, S. 195. 7 Aufbauend auf Hegel, Grundlinien der Philosophie des Rechts, §§ 330 ff., dazu Dahm/Delbrück/Wolfrum, Völkerrecht, Band I/1, § 3, S. 35.
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1. Kapitel: Theorie des unionsrechtlichen Anwendungsvorrangs
Rechtsnorm zu einer Grundnorm. Die Grundnorm ist nach Kelsen „die Grundregel, nach der die Normen der Rechtsordnung erzeugt werden“.8 Sie ist die Grundlage für jede positive Rechtsnorm, deren Geltung ausschließlich unter der Voraussetzung steht, dass die Grundnorm gilt. Die Ersetzung der Grundnorm kann nur durch Revolution erfolgen.9 Nach der Sichtweise, die den Geltungsgrund des Unionsrechts in der nationalen Rechtsordnung erkennt, befindet sich die Grundnorm in der nationalen Rechtsordnung. Da weder die Gründung der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft noch die einer ihrer Nachfolgegemeinschaften einer Revolution vergleichbar die Grundnorm in den jeweiligen nationalen Rechtsordnungen ersetzt hat, muss sich weiterhin die Geltung eines jeden Rechtssatzes, einschließlich der unionalen Rechtssätze, von der Grundnorm ableiten.10 Alternativ kann der Geltungsgrund der Unionsrechtsordnung auch im Unionsrecht selbst als Völkerrecht liegen. Diese Sichtweise siedelt den Geltungsgrund jeder Rechtsnorm auf völkerrechtlicher Ebene an. Versteht man die Unionsrechtsordnung als Völkerrecht, so liegt der Geltungsgrund im Unionsrecht selbst. Die Unionsrechtsordnung legt dann eigenständig ihre Wirkungen und ihr Verhältnis zu den nationalen Rechtsordnungen fest.11 Interessanterweise kann sich auch diese Sichtweise auf Kelsens Grundnorm berufen. Die Grundnorm befindet sich dann nur nicht in der nationalen Rechtsordnung, sondern in der internationalen Rechtsordnung, dem Völkerrecht. Denkt man Kelsen an diesem Punkt allerdings konsequent weiter, so leitet sich selbst die Geltung der nationalen Rechtsordnungen vom Völkerrecht und damit nach dieser Sichtweise von der Unionsrechtsordnung ab. Kelsen versteht Recht als Einheit, innerhalb derer sich jeder Rechtssatz von der Grundnorm ableiten muss.12 Schließlich kann man in Abkehr von Kelsen jeder Rechtsordnung ihre eigene, von anderen unabhängige Grundnorm zuweisen.13 Hiernach verfügt die Unionsrechtsordnung über einen eigenen originären Geltungsgrund, der von den nationalen Rechtsordnungen losgelöst ist, ohne selbst ein höherrangiger Geltungsgrund für die nationalen Rechtsordnungen zu sein. Die Unionsrechtsordnung legt hiernach ihre Wirkungen selbst fest und muss ihr Verhältnis zu den nationalen Rechtsordnungen durch eine Kollisionsnorm definieren. Der Geltungsgrund der nationalen Rechtsordnung liegt bei dieser Sichtweise wie bei der traditionellen Sichtweise weiterhin im nationalen Verfassungsrecht. 8
Kelsen, Reine Rechtslehre, 1. Aufl. 1934, S. 64. Kelsen, Reine Rechtslehre, 1. Aufl. 1934, S. 66 f. 10 In diesem Sinne argumentieren Schilling, Staatswissenschaften und Staatspraxis 7 (1996), 387, 392; Kaufmann, Der Staat 36 (1997), 521, 543. 11 Aufbauend auf Kelsen, Reine Rechtslehre, 2. Aufl. 1960, S. 221 ff., 330 ff., 336 ff. 12 Vgl. Kelsen, Reine Rechtslehre, 1. Aufl. 1934, S. 137 f. 13 So etwa Grussmann, Grundnorm und Supranationalität, S. 59, 63; Kadelbach, Allgemeines Verwaltungsrecht unter europäischem Einfluss, S. 214; von Bogdandy/Nettesheim, NJW 1995, 2324, 2326. 9
A. Geltung, Geltungsgrund und Autonomie der Unionsrechtsordnung
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Die Ableitung der Geltung der Unionsrechtsordnung aus den jeweiligen Verfassungsrechten der Mitgliedstaaten nach der traditionellen Sichtweise hätte zur Folge, dass die Union selbst über keine eigenen Hoheitsrechte zur eigenen Ausübung verfügen könnte, dass ihre Fortexistenz weiterhin vom Willen der Mitgliedstaaten abhinge und dass die Bestimmungen der Unionsverträge durch Gesetz in die nationalen Rechtsordnungen der Mitgliedstaaten inkorporiert werden müssten.14 Eine eigenständige Rechtsordnung des Unionsrechts läge mithin gar nicht vor.15 Die Sichtweise, der zufolge die Grundnorm auf völkerrechtlicher Ebene und damit im Unionsrecht selbst liegt sowie die nationalen Rechtsordnungen ihre Geltung von der Unionsrechtsordnung ableiten, mag abstrakt-theoretisch reizvoll sein. Sie erscheint jedoch ein wenig „grotesk“.16 Ein solcher Erzeugungszusammenhang von nationalem Recht und Unionsrecht ließe sich nach völkerrechtlichem Verständnis nur begründen, wenn er in einem völkerverfassungsrechtlichen Vertrag niedergelegt oder durch Völkergewohnheitsrecht festgelegt wäre. Mangels ersterem müsste eine Staatenpraxis feststellbar sein, wonach die Kompetenzen der Staaten durch Völkergewohnheitsrecht definiert werden. Dieser Nachweis gelingt jedoch nicht.17 Der Geltungsgrund der Unionsrechtsordnung lässt sich mithin nicht durch Ableitungszusammenhänge „nach oben“ oder „nach unten“ finden. Vielmehr verfügt sie über einen eigenen Geltungsgrund, der als solcher von den nationalen Rechtsordnungen losgelöst ist. Im mitgliedstaatlichen Rechtsraum ist damit von einer Pluralität der Rechtsordnungen, nämlich der Unionsrechtsordnung und der nationalen Rechtsordnung, auszugehen.18 Die Unionsrechtsordnung ist mithin autonom. Sie ist im Verhältnis zu den nationalen Rechtsordnungen keine von diesen inkorporierte Rechtsordnung, sondern eine fremde Rechtsordnung. Sie verfügt über eigene Hoheitsrechte, die diejenigen der Mitgliedstaaten überlagern. Sie wurde errichtet als „Gesamtakt staatlicher Integrationsgewalt“.19 Gemeint ist hiermit die Rücknahme des nationalstaatlichen Ausschließlichkeitsanspruchs, die Rechtsverhältnisse der dem Nationalstaat Normunterworfenen zu regeln. Das deutsche Grundgesetz sieht eine solche Rücknahme in Art. 23 Abs. 1 S. 2 GG und Art. 24 Abs. 1 GG vor. Die Rücknahme eigener Staatlichkeit sehen die Verfassungen der anderen Mitgliedstaaten 14
So Schilling, Rang und Geltung von Normen in gestuften Rechtsordnungen, S. 181 ff. Vgl. Kruis, Anwendungsvorrang, S. 10; Grussmann, Grundnorm und Supranationalität, S. 47, 58; Schroeder, Gemeinschaftsrechtssystem, S. 229 ff. 16 Bleckmann, Europarecht, § 11 Rn. 1150: „Geradezu als grotesk kommt es mir dagegen vor, wenn man die Kompetenzen der Mitgliedstaaten dem Kelsenschen Ansatz entsprechend aus den Gründungsverträgen der EG ableiten wollte.“ Ablehnend auch Dorwick, YEL 1983, 169, 236. 17 Deutlich Bleckmann, Europarecht, § 11 Rn. 1150. 18 Vgl. Kruis, Anwendungsvorrang, S. 10 ff.; Schroeder, Gemeinschaftsrechtssystem, S. 248 ff. 19 Vgl. Ipsen, Gemeinschaftsrecht, § 2 Rn. 24 ff., S. 60 ff. 15
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1. Kapitel: Theorie des unionsrechtlichen Anwendungsvorrangs
ebenfalls vor, die damit gemeinsam mit der Ratifikation der Unionsverträge zum Ausdruck gebracht haben, Gemeinschaftsaufgaben und die zu ihrer Verwirklichung notwendige Gemeinschaftshoheit neben der eigenen nationalen staatlichen Hoheit schaffen zu wollen. Der Geltungsgrund der Unionsrechtsordnung hat somit „seine Herkunft aus der öffentlichen Gemeinschaftsgewalt“,20 die durch die Rücknahme nationaler Staatlichkeit geschaffen wurde, und leitet sich nicht unmittelbar von der Hoheitsgewalt der Mitgliedstaaten ab.21 Hieraus folgt die Autonomie der Unionsrechtsordnung, die innerhalb ihres Anwendungsbereichs im mitgliedstaatlichen Rechtsraum neben den nationalen Rechtsordnungen gilt.
B. Nationale Rechtsordnungen und die Unionsrechtsordnung als Verbund der Rechtsordnungen B. Nationale Rechtsordnungen und die Unionsrechtsordnung als Verbund
Die nationalen Rechtsordnungen und die Unionsrechtsordnung stehen, obwohl sie autonom sind, nicht getrennt voneinander. Vielmehr sind die Unionsrechtsordnung und die nationalen Rechtsordnungen wechselseitig aufeinander angewiesen,22 miteinander verflochten und verzahnt.23 Sie bilden einen Verbund der Rechtsordnungen.24 Der Begriff des „Verbundes“ ist dabei zugegebenermaßen schillernd. Er reicht von einem „Staatenverbund“, bei dem die mitgliedstaatlichen Verfassungen den Geltungsgrund für die Europäische Union liefern,25 bis hin zu einem „Verfassungsverbund“, der die Legitimationsgrundlage im Bürger erkennt und tendenziell bundesstaatlich konturiert ist.26 Der Verbund be-
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Ipsen, Gemeinschaftsrecht, § 2 Rn. 55, S. 70 f. Siehe aus der staatsrechtlichen Literatur etwa Randelzhofer, in: Maunz/Dürig, Art. 24 GG Rn. 12 f. 22 Vgl. Müller-Graff, Gemeinschaftsprivatrecht, S. 24 ff. 23 Vgl. Peters, Elemente einer Theorie der Verfassung Europas, S. 210 ff.; siehe auch BVerfGE 52, 187, 200: „Mitgliedstaatliche Rechtsordnung und Gemeinschaftsrechtsordnung stehen nicht unvermittelt und isoliert nebeneinander; sie sind in vielfältiger Weise aufeinander bezogen, miteinander verschränkt und wechselseitigen Einwirkungen […] geöffnet.“ 24 Vgl. BVerfGE 89, 155, 183 spricht von der Offenheit des Grundgesetzes „in dem engeren Rechtsverbund einer zwischenstaatlichen Gemeinschaft“; von Bogdandy, Grundprinzipien, in: von Bogdandy/Bast, Europäisches Verfassungsrecht, S. 50 ff.; Pernice, VVDStRL 60 (2001), S. 148, 163 ff. zu dem von ihm entwickelten „Verfassungsverbund“. 25 Vgl. dazu Kirchhof, Der europäischen Staatenverbund, in: von Bogdandy/Bast, Europäisches Verfassungsrecht, S. 1009, 1019 ff.; ders., HdBStR VII, 1992, § 183 Rn. 38. 26 Vgl. Pernice, Bestandssicherung der Verfassungen: Verfassungsrechtliche Mechanismen zur Wahrung der Verfassungsordnung, in: Bieber/Wiedmer, L’espace constitutionel européen, S. 225, 261 ff.; ders., VVDStRL 60 (2001), 148, 163 ff. 21
B. Nationale Rechtsordnungen und die Unionsrechtsordnung als Verbund
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sitzt jedoch in all seinen Spielarten einen gemeinsamen Kern, der das Zusammenspiel von nationalen Rechtsordnungen und Unionsrechtsordnung vom Zusammenwirken anderer autonomer Rechtsordnungen unterscheidet. Der Verbund drückt dabei eine andere Qualität der gegenseitigen Verschränkung aus. Das rangmäßige Nebeneinander von nationaler Rechtsordnung und Unionsrechtsordnung wird hiervon nicht in Richtung einer hierarchischen Über- und Unterordnung geführt. Die strikte Trennung beider autonomer Rechtsordnungen löst sie jedoch auf. I. Positivrechtliche Verschränkungen von nationalen Rechtsordnungen und Unionsrechtsordnung Dieser Verbund zeichnet sich auf Seiten der nationalen Rechtsordnungen dadurch aus, dass unionale Hoheitsgewalt im mitgliedstaatlichen Rechtsraum durch die national-verfassungsrechtliche Rücknahme des Ausschließlichkeitsanspruchs der mitgliedstaatlichen Hoheitsgewalt im eigenen Hoheitsgebiet unmittelbar ausgeübt werden kann. Dies kommt in der deutschen Verfassung durch Art. 23 Abs. 1 GG zum Ausdruck. Der Verweis auf die föderativen Grundsätze, denen die Europäische Union verpflichtet ist, in Art. 23 Abs. 1 S. 1 GG fordert nicht nur einen Respekt der bundesstaatlichen Ordnung von Seiten der EU ein. Er verlangt als Kehrseite der Medaille auch die Mitwirkung der Bundesrepublik Deutschland an der effektiven, sozusagen „föderativen“ Aufgabenwahrnehmung der Europäischen Union.27 Die nationalen Rechtsordnungen wirken ihrerseits auf die Konturierung der Unionsrechtsordnung ein, wie die in Art. 6 Abs. 3 EUV genannten allgemeinen Grundsätze des Unionsrechts zeigen. Diese bilden sich aus den Verfassungsüberlieferungen der Mitgliedstaaten und werden als solche Teil der Unionsrechtsordnung. Die Union und die Mitgliedstaaten teilen ihre jeweiligen Regelungsbereiche entsprechend dem Prinzip der begrenzten Einzelermächtigung der Union (Art. 4 Abs. 1, Art. 5 Abs. 2 EUV) auf. Im Falle ausschließlicher Unionszuständigkeiten dürfen die Mitgliedstaaten nur noch tätig werden, „wenn sie von der Union hierzu ermächtigt werden, oder um Rechtsakte der Union durchzuführen“ (Art. 2 Abs. 1, Art. 3 AEUV). Bei geteilten Unionszuständigkeiten nehmen die Mitgliedstaaten „ihre Zuständigkeiten wahr, sofern und soweit die Union ihre Zuständigkeit nicht ausgeübt hat.“ (Art. 2 Abs. 2, Art. 4 AEUV). Dabei ist die Kompetenzausübung der Union in Richtung der Mitgliedstaaten auf zweierlei Weise begrenzt. Sie darf „inhaltlich wie formal nicht über das zur Erreichung der Ziele der Verträge erforderliche Maß“ hinausgehen (Verhältnismäßigkeitsprinzip, Art. 5 Abs. 4 EUV) und im Bereich der nichtausschließlichen Unionszuständigkeiten darf sie nur tätig werden, „so-
27
Vgl. Zuleeg, NJW 2000, 2846 ff.
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1. Kapitel: Theorie des unionsrechtlichen Anwendungsvorrangs
fern und soweit die Ziele der in Betracht gezogenen Maßnahmen von den Mitgliedstaaten weder auf zentraler noch auf regionaler oder lokaler Ebene ausreichend verwirklicht werden können, sondern vielmehr wegen ihres Umfangs oder ihrer Wirkungen auf Unionsebene besser zu verwirklichen sind“ (Subsidiaritätsprinzip, Art. 5 Abs. 3 EUV). Die Legitimation für ihr Handeln bezieht die Union dabei sowohl direkt vom Unionsbürger über die Einbindung des Europäischen Parlaments (Art. 10 Abs. 2 UAbs. 1 EUV) als auch von den Mitgliedstaaten durch deren Staatsund Regierungschefs im Europäischen Rat und durch deren Regierungen im Rat (Art. 10 Abs. 2 UAbs. 2 EUV). Die nationalen Parlamente als demokratisch gewählte Repräsentanten der Staatsbürger sollen zudem „aktiv zur guten Arbeitsweise der Union“ beitragen (Art. 12 EUV). So verschränken sich auf Verfahrensebene die nationalen Rechtsordnungen und die Unionsrechtsordnung durch die im mitgliedstaatlichen Rechtsraum ausgeübte Hoheitsgewalt gegenseitig. Die Union ist kraft ihrer eigenen Rechtsordnung darauf verpflichtet, „die Gleichheit der Mitgliedstaaten vor den Verträgen und ihre jeweilige nationale Identität, die in ihren grundlegenden politischen und verfassungsmäßigen Strukturen einschließlich der regionalen und lokalen Selbstverwaltung zum Ausdruck kommt“, zu achten (Art. 4 Abs. 2 EUV). Im Gegenzug ergreifen die Mitgliedstaaten alle geeigneten Maßnahmen „zur Erfüllung der Verpflichtungen, die sich aus den Verträgen oder den Handlungen der Organe der Union ergeben“, „unterstützen die Union bei der Erfüllung ihrer Aufgabe und unterlassen alle Maßnahmen, die die Verwirklichung der Ziele der Union gefährden könnten“ (Art. 4 Abs. 3 UAbs. 2 und 3 EUV). Dieser positivrechtliche Befund macht deutlich, dass die Unionsrechtsordnung und die nationalen Rechtsordnungen in einem hohen Maße miteinander verschränkt und verzahnt sind, das es rechtfertigt, sie zusammen als einen „Verbund der Rechtsordnungen“ zu bezeichnen. II. Grundlage des Verbundes: Bürger als Staatsbürger und Unionsbürger Die Grundlage des Verbundes der Rechtsordnungen sind nicht die Mitgliedstaaten, sondern ist der Einzelne als Staatsbürger und als Unionsbürger.28 In dieser dualen Position ist der Einzelne als Staatsbürger durch die nationale Rechtsordnung berechtigt und verpflichtet und als Unionsbürger durch die Unionsrechtsordnung berechtigt und verpflichtet. Somit ist der Verbund nicht schlicht die Summe der nationalen Rechtsordnungen und der Unionsrechtsordnung. Er umfasst vielmehr die subjektiven Rechte der beiden Rechtsordnungen. 28
Vgl. Pernice, in: Calliess, Verfassungswandel im europäischen Staaten- und Verfassungsverbund, S. 61, 64 ff.
B. Nationale Rechtsordnungen und die Unionsrechtsordnung als Verbund
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Aus der Perspektive des Einzelnen wird das verschränkte Nebeneinander autonomer Rechtsordnungen im Verbund erklärbar. Der Einzelne ist im mitgliedstaatlichen Rechtsraum Berechtigter und Verpflichteter zweier Rechtsordnungen. Er ist Angehöriger eines der Mitgliedstaaten. Zugleich tritt er auf dem Hoheitsgebiet der Mitgliedstaaten dadurch in eine Rechtsbeziehung mit der Union ein, dass die Mitgliedstaaten ihren Ausschließlichkeitsanspruch auf die Ausübung von Hoheitsgewalt in ihrem Hoheitsgebiet zurückgenommen haben. Dieses Rechtsverhältnis wurde ursprünglich als „Marktbürgerschaft“ bezeichnet.29 „Es umschreibt eine Rechtsstellung, in der der einzelne nicht als integrale Persönlichkeit, sondern nur funktional insoweit erfaßt wird, als ihm Freiheit und Gleichheit zur Erfüllung der ökonomischen Ziele der Gemeinschaften gewährleistet wird. In diesem Sinne kann, auf die Marktbürger bezogen, von einer funktionellen Integration gesprochen werden.“30 So wurde mit der Gründung der EWG aus dem Staatsbürger, der dem Nationalstaat umfassend zugeordnet und unterworfen war, ein aus dem Nationalstaat herausgelöster und dem Gemeinsamen Markt zugeordneter Marktbürger, soweit der Gemeinsame Markt reichte. Außerhalb des Gemeinsamen Marktes verblieb der Marktbürger Staatsbürger und damit der mitgliedstaatlichen Hoheitsgewalt unterworfen. Dieses Rechtsverhältnis wurde mit der Einführung der Unionsbürgerschaft durch den Vertrag von Maastricht aus seiner Beziehung zum Gemeinsamen Markt herausgelöst und verallgemeinert. Nach Art. 17 EGV a.F. ergänzt die Unionsbürgerschaft die nationale Staatsbürgerschaft, „ersetzt sie aber nicht.“ Damit macht Art. 17 EGV a.F. die doppelte Rolle des Einzelnen als ein dem Mitgliedstaat verbundener Staatsbürger und ein der Union verbundener Unionsbürger sprachlich deutlich. Hierauf baut die Idee des „Verfassungsverbunds“ auf. Sie soll vom Verfassungsbegriff31 losgelöst für den hier verwendeten „Verbund der Rechtsordnungen“ entsprechend nutzbar gemacht werden. Der Idee des „Verfassungsverbunds“ zufolge haben die Staatsbürger der jeweiligen Mitgliedstaaten in den Zustimmungsgesetzen zu den Europäischen Verträgen zum Ausdruck gebracht, mit den Staatsbürgern der anderen Mitgliedstaaten eine gemeinsame Union gründen zu wollen. Mit den Europäischen Verträgen begründen sie „eine Gegenseitigkeitsordnung zwischen den Menschen, dokumentieren den Willen der Bürger der Mitgliedstaaten, sich zu vertragen,
29 Vgl. Ipsen, Gemeinschaftsrecht, § 9 Rn. 132 ff., S. 250 ff.; Grabitz, Europäisches Bürgerrecht, S. 65 ff. 30 Grabitz, Europäisches Bürgerrecht, S. 68, Hervorhebung im Original. 31 Kritisch zur Verwendung des Verfassungsbegriffs im Hinblick auf Verfassungsfunktionen Möllers, Verfassungsgebende Gewalt – Verfassung – Konstitutionalisierung, in: von Bogdandy/Bast, Europäisches Verfassungsrecht, S. 227, 245.
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1. Kapitel: Theorie des unionsrechtlichen Anwendungsvorrangs
immer neu zu vertragen, für das gemeinsame Wohl, und organisieren den Prozess einer immer engeren Union, also europäischer Integration.“32 Für den Verbund der Rechtsordnungen ist mithin der Einzelne zentral. Er stellt in seiner Rolle als Staatsbürger seine Rechtsbeziehungen zum Mitgliedstaat und in seiner Rolle als Unionsbürger seine Rechtsbeziehungen zur Union her. Versteht man den Einzelnen als die Grundlage des Verbunds der Rechtsordnungen, wird deutlich, dass er nicht sämtliche Normen der beteiligten Rechtsordnungen umfasst, sondern nur diejenigen, die den Einzelnen berechtigen oder verpflichten. Somit fallen das nationale und das europäische Staatsorganisationsrecht aus diesem Verbund heraus.33 Das Abstellen auf Rechtsnormen, die den Einzelnen zum einen als Staatsbürger und zum anderen als Unionsbürger berechtigen und verpflichten, macht zudem deutlich, dass die im Verbund beteiligten Rechtsordnungen nicht in einem Hierarchieverhältnis zueinander stehen. Es gibt nämlich keine Hierarchie zwischen der Staatsbürgerschaft und der Unionsbürgerschaft. Letztere baut auf ersterer auf (ohne Staatsbürgerschaft keine Unionsbürgerschaft) und ergänzt sie.
C. Wirkungen des Unionsrechts im mitgliedstaatlichen Hoheitsgebiet C. Wirkungen des Unionsrechts im mitgliedstaatlichen Hoheitsgebiet
Es ist inzwischen allgemein anerkannt,34 dass Normen des Unionsrechts im mitgliedstaatlichen Hoheitsgebiet unmittelbar anwendbar sein können. Unmittelbar anwendbare Unionsnormen greifen durch den Panzer nationalstaatlicher Souveränität hindurch und berechtigen die im Nationalstaat vereinten Staatsbürger als Unionsbürger unmittelbar.35 Mitgliedstaatliche Gerichte und Verwaltungsbehörden sind unmittelbar an sie gebunden. Unmittelbar anwendbare Normen des Unionsrechts bedürfen mithin keines weiteren Transformationsakts, um Rechtswirkungen in den Mitgliedstaaten zu entfalten. Sie sind im Hinblick auf ihre Wirkungen in den mitgliedstaatlichen Rechtsräumen den nationalen Normen gleichgestellt. Die Bedeutung der unmittelbaren Anwendbarkeit von Normen des Unionsrechts erschließt sich mit einem Blick auf dessen völkerrechtliche Herkunft. Grundsätzlich kennt auch das Völkerrecht die unmittelbare Anwendbarkeit völkerrechtlicher Normen unter dem Begriff der „selfexecuting“ Normen.36 Der StIGH erkannte die unmittelbare Anwendbarkeit ei-
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Pernice, VVDStRL 60 (2001), 148, 166 f. Herresthal, Rechtsfortbildung, S. 224. 34 Vgl. nur Oppermann/Classen/Nettesheim, Europarecht, § 10 Rn. 16. 35 Vgl. zur Charakterisierung der unmittelbaren Anwendbarkeit als „Durchgriff“: Ipsen, Gemeinschaftsrecht, § 5 Rn. 51, S. 121. 36 Vgl. Verdross/Simma, Universelles Völkerrecht, §§ 864 ff. 33
C. Wirkungen des Unionsrechts im mitgliedstaatlichen Hoheitsgebiet
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ner völkerrechtlichen Norm in seinem Gutachten in der Rechtssache „Jurisdiction of the Courts of Danzig“ aus dem Jahre 1928.37 Hierbei ging es um einen völkerrechtlichen Vertrag zwischen der Republik Polen und der Freien Stadt Danzig über die Übernahme von Danziger Bahn-Angestellten durch die polnische Eisenbahnverwaltung. Der StIGH stellte dabei fest: „It cannot be disputed that the very object of an international agreement, according to the intention of the contracting Parties, may be the adoption by the Parties of some definite rules creating individual rights and obligations enforceable by the National Courts. […] The wording and general tenor of the Beamtenabkommen show that its provisions are directly applicable as between the officials and the Administration.“38
Hiernach müssen die nationalen Gerichte prüfen, ob der völkerrechtliche Vertrag nach dem Willen der diesen schließenden Völkerrechtssubjekte hinreichend klare und uneingeschränkte subjektive Rechte und Verpflichtungen enthält, auf die sich ein Einzelner vor nationalen Gerichten berufen kann. Selbst wenn ein diesbezüglicher eindeutiger Parteiwille nicht zweifelsfrei ermittelbar ist, kann der „self-executing“-Charakter einer völkervertraglichen Norm auf der Grundlage von Wortlaut und telos durch das nationale Gericht festgestellt werden.39 Der „self-executing“-Charakter einer völkervertraglichen Norm wird dabei von der konkreten Norm selbst festgelegt und nicht von der nationalen Rechtsordnung, innerhalb derer sie unmittelbar angewendet werden soll. I. Die unmittelbare Anwendbarkeit von Normen des Unionsrechts Der EuGH entwickelte die unmittelbare Anwendbarkeit von Normen des Unionsrechts in seinem Urteil in der Rechtssache „Van Gend & Loos“,40 in der es um einen von den Niederlanden im Jahr 1960 eingeführten Importzoll auf chemische Produkte ging, dessen Einführung in direktem Widerspruch zu Art. 12 EWGV stand, der die Einführung von Einfuhrzöllen zwischen den EWG-Mitgliedstaaten untersagte. Streitentscheidend war mithin, ob sich das niederländische Speditionsunternehmen Van Gend & Loos NV vor dem niederländischen Gericht gegenüber der niederländischen Finanzverwaltung unmittelbar auf das Verbot aus Art. 12 EWGV berufen durfte. Dies bejahte der EuGH und begründete die unmittelbare Anwendbarkeit einer Norm des Gemeinschaftsrechts damit, dass „die Gemeinschaft eine neue Rechtsordnung des Völkerrechts darstellt, zu deren Gunsten die Staaten, wenn auch in begrenztem Rahmen, ihre Souveränitätsrechte eingeschränkt haben, eine Rechtsordnung, deren Rechtssubjekte nicht nur die Mitgliedstaaten, sondern auch die Einzelnen sind. Gemeinschaftsrecht soll daher den Einzelnen, ebenso wie es ihnen Pflichten 37
PCIJ, 1928, Series B, Nr. 15. PCIJ, 1928, Series B, Nr. 15, S. 17 f. 39 Vgl. etwa BGHZ 17, 309, 313. 40 EuGH, Rs. 26/62, Van Gend & Loos, Slg. 1963, 1. 38
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1. Kapitel: Theorie des unionsrechtlichen Anwendungsvorrangs
auferlegt, auch Rechte verleihen.“41 Zentral ist mithin die Stellung des Einzelnen, die im Unionsrecht anders als im klassischen Völkerrecht nicht durch den Staat, dem der Einzelne als Staatsbürger angehört, als geborenem Völkerrechtssubjekt und unmittelbarer Vertragspartei des völkerrechtlichen Vertrags vermittelt wird, sondern die sich unmittelbar aus den Verträgen selbst ergibt. Der durch den Nationalstaat mediatisierte Staatsbürger wird so zu einem aus dem Nationalstaat herausgelösten Unionsbürger, den das Unionsrecht mit subjektiven Rechten ausstattet.42 Er wird somit zum Durchsetzungsgehilfen des Unionsrechts, da die „Wachsamkeit der an der Wahrung ihrer Rechte interessierten Einzelnen […] eine wirksame Kontrolle dar[stellt], welche die durch die Kommission und die Mitgliedstaaten gemäß [dem Vertragsverletzungsverfahren] ausgeübte Kontrolle ergänzt.“43 II. Voraussetzungen für die unmittelbare Anwendbarkeit einer Norm des Unionsrechts Ob eine Norm des Unionsrechts unmittelbar anwendbar ist, ergibt sich dabei durch Auslegung dieser Norm. Bereits in der Rechtssache „Van Gend & Loos“ erläutert der EuGH, dass unmittelbar anwendbare Rechte „nicht nur [entstehen], wenn der Vertrag dies ausdrücklich bestimmt, sondern auch auf Grund von eindeutigen Verpflichtungen, die der Vertrag den Einzelnen wie auch den Mitgliedstaaten und den Organen der Gemeinschaft auferlegt.“44 Hierzu muss die Norm nach der Rechtsprechung des EuGH ein hinreichend klares, eindeutiges und uneingeschränktes Verbot oder eine hinreichend klare, eindeutige und uneingeschränkte Handlungspflicht beinhalten. Die von der Norm ausgesprochene Verpflichtung darf von keinem weiteren mitgliedstaatlichen Rechtsetzungsakt abhängig sein und darf den Mitgliedstaaten keinen Ermessensspielraum belassen.45 Dabei ist eine Norm noch hinreichend klar und eindeutig, wenn ihre Verpflichtung im Wege „rein rechtlicher Untersuchungen“ ermittelbar ist.46 Unzweifelhaft ist eine Norm des Unionsrechts unmittelbar anwendbar, die diese Wirkung ausdrücklich anordnet, wie dies bei Verordnungen der EU aufgrund von Art. 288 Abs. 2 AEUV der Fall ist.
41
EuGH, Rs. 26/62, Van Gend & Loos, Slg. 1963, 1, 25. Vgl. Nettesheim, in: Grabitz/Hilf/Nettesheim, Art. 288 AEUV Rn. 43 f.; Haltern, Europarecht, S. 324 ff.; Dauses, in: Verhandlungen des 60. DJT, Bd. 1, 1994, D 30 spricht von einer „kopernikanische[n] Wende von der traditionellen Völkerrechtsordnung zur supranationalen Funktionsordnung der Gemeinschaft“. 43 EuGH, Rs. 26/62, Van Gend & Loos, Slg. 1963, 1. 26. 44 EuGH, Rs. 26/62, Van Gend & Loos, Slg. 1963, 1. 25. 45 EuGH, Rs. 26/62, Van Gend & Loos, Slg. 1963, 1. 25 f.; Rs. 57/65, Lütticke, Slg. 1966, 258, 266. 46 EuGH, Rs. 43/75, Defrenne II, Slg. 1976, 455 Rn. 21/24. 42
C. Wirkungen des Unionsrechts im mitgliedstaatlichen Hoheitsgebiet
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Mithin entsprechen die Wirkungen des Unionsrechts in den mitgliedstaatlichen Rechtsräumen den Wirkungen nationaler Normen, soweit es sich um unmittelbar anwendbare Normen des Unionsrechts handelt. Deutlich formuliert dies der EuGH in seinem Urteil in der Rechtssache „Simmenthal II“: „Unmittelbare Geltung bedeutet unter diesem Blickwinkel, daß die Bestimmungen des Gemeinschaftsrechts ihre volle Wirkung einheitlich in sämtlichen Mitgliedstaaten vom Zeitpunkt ihres Inkrafttretens an und während der gesamten Dauer ihrer Gültigkeit entfalten müssen. Diese Bestimmungen sind somit unmittelbare Quelle von Rechten und Pflichten für alle diejenigen, die sie betreffen, einerlei, ob es sich um die Mitgliedstaaten oder um solche Einzelpersonen handelt, die an Rechtsverhältnissen beteiligt sind, welche dem Gemeinschaftsrecht unterliegen.“47 1. Individuelle Berechtigung ist keine zusätzliche Voraussetzung Die Hinwendung des EuGH in seiner Begründung der unmittelbaren Anwendbarkeit zum Einzelnen lässt die Frage aufkommen, ob zusätzlich zu den Kriterien der inhaltlichen Unbedingtheit und der hinreichenden Genauigkeit sowie des fehlenden mitgliedstaatlichen Regelungsvorbehalts in Anlehnung an das deutsche subjektive öffentliche Recht und die Schutznormlehre für die Annahme der unmittelbaren Anwendbarkeit einer Norm des Unionsrechts verlangt werden müsse, dass diese auch dem Schutz individueller Interessen diene und nicht nur dem Schutz von Rechtspositionen im Interesse der Allgemeinheit.48 Derartige zusätzliche Anforderungen erkennt der EuGH nicht. Für ihn reicht das Bestehen einer hinreichend klaren, eindeutigen und uneingeschränkten Verpflichtung des Normadressaten einer unionalen Norm aus, um hieraus einen Anspruch des Einzelnen auf Einhaltung dieser Verpflichtung abzuleiten.49 Besonders deutlich wird dies in der Rechtsprechung des EuGH zur unmittelbaren Anwendbarkeit von nicht oder falsch umgesetzten Richtlinien. Die Verpflichtung zur Umsetzung von Richtlinien und die in den Richtlinien enthaltenen Verpflichtungen richten sich gemäß Art. 288 Abs. 3 AEUV an die Mitgliedstaaten. Dennoch „können sich die einzelnen in Ermangelung von fristgemäß erlassenen Durchführungsmaßnahmen auf Bestimmungen einer Richtlinie, die inhaltlich als unbedingt und hinreichend genau erscheinen, gegenüber allen innerstaatlichen, nicht richtlinienkonformen Vorschriften berufen; einzelne können sich auf diese Bestimmungen auch berufen, soweit diese
47
EuGH, Rs. 106/77, Simmenthal II, Slg. 1978, 629 Rn. 14/16. Siehe zu dieser Diskussion Schoch, NVwZ 1999, 457, 458 ff.; Winter, NVwZ 1999, 467, 468 ff.; allgemein zur deutschen Schutznormtheorie etwa Pietzcker, Die Schutznormlehre, in: FS Isensee, S. 577 ff. 49 Siehe bereits EuGH, Rs. 26/62, Van Gend & Loos, Slg. 1963, 1, 25. Vgl. Ruffert, DVBl. 1998, 69, 71; Schroeder, Gemeinschaftsrechtssystem, S. 460 f. 48
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1. Kapitel: Theorie des unionsrechtlichen Anwendungsvorrangs
Rechte festlegen, die dem Staat gegenüber geltend gemacht werden können.“50 Für den EuGH ist das Vorhandensein einer klaren, eindeutigen und uneingeschränkten Verpflichtung der Mitgliedstaaten ausreichend, damit sich ein Einzelner auf die Einhaltung dieser Verpflichtung berufen kann. Mithin folgt aus der unmittelbaren Anwendbarkeit die Berechtigung des Einzelnen, sich auf die unionale Norm vor mitgliedstaatlichen Gerichten und Verwaltungen zu berufen. Die individuelle Berechtigung ist keine zusätzliche Voraussetzung für die Annahme der unmittelbaren Anwendbarkeit.51 2. Reichweite der unmittelbaren Anwendbarkeit Die unmittelbare Anwendbarkeit ist charakterisiert durch ihre Durchgriffswirkung.52 Sie ermöglicht der unmittelbar anwendbaren unionalen Rechtsnorm den Durchgriff durch den Panzer der Souveränität der Mitgliedstaaten auf den Unionsbürger. Darin erschöpft sich aber auch die Reichweite der unmittelbaren Anwendbarkeit. Die Reichweite der durchgreifenden Norm wird durch die Norm selbst bestimmt. Als Rechtsnorm drückt die unionale Norm ein Sollen aus.53 Eine Rechtsnorm kann nach den Regeln deontischer Logik ein Verbot, ein Gebot, eine Erlaubnis oder Entscheidungsfreiheit beinhalten.54 Dieser Normbefehl ist unabhängig von der unmittelbaren Anwendbarkeit der Norm. Somit verleiht die unmittelbare Anwendbarkeit dem Rechtsbefehl der unionalen Norm seine Durchgriffswirkung in den mitgliedstaatlichen Rechtsraum, bestimmt jedoch nicht seine Reichweite. Die Reichweite der unmittelbaren Anwendbarkeit ist damit so weit, wie der Normbefehl der unionalen Norm reicht. Entnimmt man einer unionalen Rechtsnorm ein Gebot, so liegt demnach eine positive unmittelbare Anwendbarkeit vor. Entnimmt man ihr ein Verbot, so liegt eine negative unmittelbare Anwendbarkeit vor.55 Welchen Normbefehl eine unionale Rechtsnorm in sich trägt, ist durch Auslegung der jeweiligen Norm festzustellen.
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EuGH, Rs. 8/81, Becker, Slg. 1982, 53 Rn. 25. Schroeder, in: Streinz, Art. 288 AEUV Rn. 51; ders., Gemeinschaftsrechtssystem, S. 460; Ruffert, DVBl. 1998, 69, 71. 52 Ipsen, Gemeinschaftsrecht, § 5 Rn. 49 ff., S. 120 ff. 53 Vgl. allgemein zur Rechtsnorm etwa Radbruch, Rechtsphilosophie, S. 170. 54 Vgl. Kelsen, Allgemeine Theorie der Normen, S. 76 ff. 55 Vgl. Herrmann, Richtlinienumsetzung, S. 34. 51
D. Verhältnis zwischen Unionsrecht und mitgliedstaatlichem Recht
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D. Das Verhältnis zwischen Unionsrecht und mitgliedstaatlichem Recht D. Verhältnis zwischen Unionsrecht und mitgliedstaatlichem Recht
Die Unionsrechtsordnung ist im Verhältnis zur mitgliedstaatlichen Rechtsordnung eine fremde Rechtsordnung, die unmittelbare Anwendbarkeit im mitgliedstaatlichen Rechtsraum neben der nationalen Rechtsordnung beansprucht. Dies macht bereits deutlich, dass die Unionsrechtsordnung und die mitgliedstaatliche Rechtsordnung nicht isoliert nebeneinander stehen, sondern innerhalb des mitgliedstaatlichen Rechtsraums miteinander verzahnt sind und sich gegenseitig beeinflussen.56 I. Konkurrenz im Normalfall Aus der Koexistenz unionaler und nationaler Normen im mitgliedstaatlichen Rechtsraum folgt die Möglichkeit einer Normenkonkurrenz. Diese Konkurrenz tritt ein, wenn unionale und nationale Norm ganz oder teilweise auf denselben Sachverhalt Anwendung finden. Die jeweiligen Rechtsfolgen können ohne Einschränkungen nebeneinander stehen. Sie können jeweils alternativ zur Wahl des Normberechtigten stehen. Oder sie können sich gegenseitig ausschließen.57 Die ersten beiden Fälle, die hier als Normalfall verstanden werden sollen, verlangen keine nähere Bestimmung des Verhältnisses von unionaler und nationaler Norm zueinander. II. Vorrang des Unionsrechts als Kollisionsregel Relevant wird das Verhältnis von Unionsrechtsordnung und nationaler Rechtsordnung im mitgliedstaatlichen Rechtsraum, wenn sich die Normenkonkurrenz zu einer Normenkollision verdichtet. Der Kollisionsfall tritt ein, wenn sich die Rechtsfolgen verschiedener Normen bei Anwendung auf den gleichen Sachverhalt widersprechen.58 Dies ist dann der Fall, wenn dem Normadressaten die Befolgung der anderen Norm nach Befolgung der einen Norm unmöglich ist oder wenn die Befolgung der einen Norm die Verletzung der anderen Norm nach sich zieht.59 Dieser direkte Normenkonflikt tritt bei Deckungsgleichheit der Tatbestände der jeweiligen Normen ein. Ein Kollisionsfall liegt aber auch
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Siehe oben S. 14 ff. Vgl. Enneccerus/Nipperdey, Allgemeiner Teil, § 60, S. 350 f., der im Hinblick auf privatrechtliche Normen von kumulativer, alternativer und verdrängender Gesetzeskonkurrenz spricht. 58 Vgl. Komendera, Normenkonflikte, S. 145; Larenz, Methodenlehre, S. 266 ff.; Ohler, Kollisionsordnung, S. 16 f. 59 Vgl. Wiederin, Rechtstheorie 21 (1990), S. 311, 314 ff., 318 ff. 57
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1. Kapitel: Theorie des unionsrechtlichen Anwendungsvorrangs
dann vor, wenn die Tatbestände der jeweiligen Normen nur teilweise deckungsgleich sind, ihre konkrete Anwendung auf den Sachverhalt jedoch zu auseinanderfallenden Rechtsfolgen führt.60 1. Notwendigkeit einer rechtsförmigen Regel zur Lösung des Normenkonflikts Zur Lösung solcher Kollisionsfälle bedarf es einer Kollisionsnorm, die regelt, welche der konfligierenden Normen anzuwenden ist. Aus dem bloßen Vorliegen eines Normenkonflikts können ohne eine ausdrückliche Regelung bezüglich seiner Auflösung keine weiteren Vorgaben für das Handeln des den konfligierenden Normen Unterworfenen gezogen werden. Er kann allenfalls nach außerrechtlichen Maßstäben wie der Moral oder der Politik entscheiden, welchem Normbefehl er folgen möchte.61 Eine solche Situation ist für den Einzelnen schlechterdings untragbar. Dabei ist nur darauf zu verweisen, dass die Beurteilungsmaßstäbe des Normunterworfenen und eines späteren Rechtsanwenders wie des Richters, der das Verhalten des Normunterworfenen gerichtlich zu überprüfen hat, auseinanderfallen können. Mangels rechtlicher Maßstäbe, die den Kollisionsfall entscheiden, lässt sich dem Normunterworfenen aber nur schwerlich ein rechtlich und damit gerichtlich haltbarer Vorwurf machen, nach anderen außerrechtlichen Maßstäben gehandelt zu haben als ein Richter. Die Grundsätze der Rechtssicherheit und des Vertrauensschutzes verlangen daher eine rechtliche Lösung eines Normenkonflikts. 2. Lösung des EuGH: Anwendungsvorrang des Unionsrechts Der EuGH hat für die Lösung dieses Normkonflikts aus unionsrechtlicher Sicht in seinem Urteil in der Rechtssache „Costa/ENEL“62 den Anwendungsvorrang des Unionsrechts entwickelt. In dieser Rechtssache ging es um das im Jahr 1962 erlassene italienische Gesetz zur Verstaatlichung der Stromerzeugungsunternehmen. Der Kläger im Ausgangsverfahren, Herr Flaminio Costa, ein 60
Vgl. Larenz, Methodenlehre, S. 268 f.; Komendera, Normenkonflikte, S. 148 ff. Wiederin, Rechtstheorie, 21 (1990), 311, 328 f. Im Völkerrecht gilt etwa im Falle eines multilateralen Vertrags, der einen anderen multilateralen Vertrag inhaltlich ablösen soll, bei dem jedoch die Vertragsparteien nicht identisch sind, dass der frühere Vertrag in Bezug auf die Rechtsbeziehungen zu den Vertragsparteien, die nicht dem späteren Vertrag angehören, fort gilt, sofern sich die frühere Vertragspflicht derart aufspalten lässt, dass die Vertragsparteien des späteren Vertrags ihre neuen völkervertraglichen Pflichten bei der Erfüllung der früheren Vertragspflichten nicht verletzen. Lässt sich die betroffene Regelung des früheren Vertrags nicht aufspalten, gilt der „Grundsatz der politischen Entscheidung“, wonach der Staat, für und gegen den beide Verträge gelten, zwischen der Erfüllung des einen Vertrags und der Staatenverantwortlichkeit für den Bruch des anderen Vertrags wählen kann, vgl. Repasi, EuR 2013, 45, 63. 62 EuGH, Rs. 6/64, Costa/ENEL, Slg. 1964, 1253. 61
D. Verhältnis zwischen Unionsrecht und mitgliedstaatlichem Recht
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ehemaliger Aktionär des verstaatlichten Elektrizitätsunternehmens EdisonVolta, wandte sich gegen das Verstaatlichungsgesetz mit der Argumentation, es verstoße gegen EWG-Recht. Um den behaupteten EWG-Rechtsverstoß prüfen zu können, legte das italienische Gericht dem EuGH Fragen zur Auslegung des EWG-Vertrags vor. Die italienische Regierung hielt die Vorlagefragen für „absolut unzulässig“, weil das vorlegende Gericht „bei der Entscheidung eines Rechtsstreits nicht den Vertrag, sondern lediglich ein innerstaatliches Gesetz anzuwenden“ habe.63 Grund dafür war ein Urteil des italienischen Verfassungsgerichtshofs (Corte Costituzionale), der im Hinblick auf das Verstaatlichungsgesetz entschied, dass sich dieses als zeitlich späteres Recht nach dem Grundsatz lex posterior derogat legi priori gegen den EWG-Vertrag durchsetzt und damit nicht an dessen Maßstäben zu messen ist.64 Im Zentrum stand damit „die Frage des Nebeneinanderbestehens zweier (wie zu unterstellen ist) einander widersprechender Rechtsnormen, die beide in der innerstaatlichen Rechtsordnung Geltung beanspruchen und von denen die eine im Vertrag enthalten oder von Gemeinschaftsorganen erlassen, die andere von staatlichen Instanzen gesetzt ist.“65 Der EuGH erkannte in seinem Urteil den Vorrang des EWG-Vertrags vor entgegenstehendem nationalen Recht: „[D]em vom Vertrag geschaffenen, somit aus einer autonomen Rechtsquelle fließenden Recht [können] wegen dieser seiner Eigenständigkeit keine wie immer gearteten innerstaatlichen Rechtsvorschriften vorgehen […], wenn ihm nicht sein Charakter als Gemeinschaftsrecht aberkannt und wenn nicht die Rechtsgrundlage der Gemeinschaft selbst in Frage gestellt werden soll.“66 Er stellte hierbei wie schon bei der Begründung der unmittelbaren Anwendbarkeit von Normen des Gemeinschaftsrechts darauf ab, dass im „Unterschied [zu] gewöhnlichen internationalen Verträgen […] der EWG-Vertrag eine eigene Rechtsordnung geschaffen [hat], die bei seinem Inkrafttreten in die Rechtsordnungen der Mitgliedstaaten aufgenommen worden und von ihren Gerichten anzuwenden ist.“ Der Grund für diese im Verhältnis zu klassischen völkerrechtlichen Verträgen andere rechtliche Qualität des EWG-Vertrags liegt in der „Beschränkung der Zuständigkeit der Mitgliedstaaten oder der Übertragung von Hoheitsrechten der Mitgliedstaaten“ auf die Gemeinschaft, die diese mit echten eigenen Hoheitsrechten ausstattet. Hierdurch soll es den „Staaten unmöglich [sein], gegen eine von ihnen auf der Grundlage der Gegenseitigkeit angenommene Rechtsordnung, nachträgliche einseitige Maßnahmen ins Feld zu führen.“67 Andernfalls „würde [es] eine Gefahr für die Verwirklichung der 63
EuGH, Rs. 6/64, Costa/ENEL, Slg. 1964, 1253, 1261 f. Corte Costituzionale, Sentenza n. 14/64, Foro it., 1964, I, 465. 65 GA Lagrange, SchlA Rs. 6/64, Costa/ENEL, Slg. 1964, 1253, 1285. 66 EuGH, Rs. 6/64, Costa/ENEL, Slg. 1964, 1253, 1270. 67 EuGH, Rs. 6/64, Costa/ENEL, Slg. 1964, 1253, 1269. 64
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1. Kapitel: Theorie des unionsrechtlichen Anwendungsvorrangs
in Artikel 5 Absatz 2 [Art. 4 Abs. 3 UAbs. 2 EUV] aufgeführten Ziele des Vertrages bedeuten und dem Verbot des Artikel 7 [Art. 18 AEUV] widersprechende Diskriminierungen zur Folge haben, wenn das Gemeinschaftsrecht je nach der nachträglichen innerstaatlichen Gesetzgebung von einem Staat zum andern verschiedene Geltung haben könnte.“68 Diese Gefahr verdeutlicht der Gerichtshof damit, dass die „Verpflichtungen, die die Mitgliedstaaten im Vertrag zur Gründung der Gemeinschaft eingegangen sind, […] keine unbedingten mehr [wären], sondern nur noch eventuelle, wenn sie durch spätere Gesetzgebungsakte der Signatarstaaten in Frage gestellt werden könnten.“ Bestätigt sieht der EuGH diese Auslegung des EWG-Vertrags in Art. 288 Abs. 2 AEUV, wonach die Verordnung verbindlich ist und unmittelbar in jedem Mitgliedstaat gilt.69 Das Hauptargument des EuGH für die Begründung des Vorrangs des Unionsrechts gegenüber dem mitgliedstaatlichen Recht ist der von Ipsen als „Prinzip der Sicherung der Funktionsfähigkeit“ bezeichnete Grundsatz des „effet utile“.70 Dieses Prinzip baut auf der Erkenntnis auf, dass Rechtsregeln in einer Gemeinschaft, die sich als „Rechtsgemeinschaft“71 versteht, das entscheidende Instrumente zur Gewährleistung ihrer Funktionsfähigkeit ist. Das europäische Recht muss dazu „in allen Mitgliedstaaten einheitlich und unantastbar [gelten]“ und darf „nicht von unterschiedlichen Entscheidungen oder Maßnahmen der mitgliedstaatlichen Rechtsordnungen [abhängen].“72 Der Vorrang des Unionsrechts, wie er vom EuGH in der Rechtssache „Costa/ENEL“ entwickelt wurde, bestimmt mithin als Kollisionsregel, dass der Normkonflikt zwischen einer Norm der Unionsrechtsordnung und der Norm einer nationalen Rechtsordnung im mitgliedstaatlichen Rechtsraum zu Gunsten der Norm der Unionsrechtsordnung zu entscheiden ist. 3. Rechtstheoretische Einordnung des Vorrangs des Unionsrechts Ausgangspunkt für die rechtstheoretische Einordnung des Vorrangs des Unionsrechts ist die Anerkennung des berechtigten Anspruchs jeder autonomen Rechtsordnung, ihren eigenen Geltungsanspruch selbst festzulegen.73 Auf dieser Grundlage hat der EuGH für die Unionsrechtsordnung festgelegt, dass sich ihre Normen im Kollisionsfall gegen die Normen der nationalen Rechtsordnungen der Mitgliedstaaten durchsetzen. 68
EuGH, Rs. 6/64, Costa/ENEL, Slg. 1964, 1253, 1270. EuGH, Rs. 6/64, Costa/ENEL, Slg. 1964, 1253, 1270. 70 Ipsen, Gemeinschaftsrecht, § 10 Rn. 40 ff., S. 280 ff. 71 Hallstein, Die EWG – eine Rechtsgemeinschaft, Rede zur Ehrenpromotion vor der Universität Padua am 12. März 1962, in: Oppermann, Walter Hallstein: Europäische Reden, 1979, S. 341, 343. 72 Ipsen, Gemeinschaftsrecht, § 10 Rn. 42, S. 281. 73 Baldus, Der Staat 36 (1997), 381, 393 f. 69
D. Verhältnis zwischen Unionsrecht und mitgliedstaatlichem Recht
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Mit derselben Berechtigung, mit der eine autonome Rechtsordnung ihren eigenen Geltungsanspruch formulieren kann, kann eine autonome Rechtsordnung den Geltungsanspruch einer fremden Rechtsordnung zurückweisen. Inwieweit eine Zurückweisung des unionsrechtlichen Geltungsanspruchs durch die nationalen Rechtsordnungen rechtlich zu berücksichtigen ist, hängt von der rechtstheoretischen Einordnung des Vorrangs des Unionsrechts ab. Denkbar ist dabei zunächst eine Einordnung in die beiden Grundkonzeptionen des Verhältnisses von autonomen Rechtsordnungen zueinander in Form eines hierarchischen Über- und Unterordnungsverhältnisses oder in Form einer Gleichordnung.74 Läge eine Hierarchie mit einem Primat der Unionsrechtsordnung vor, so wäre eine Zurückweisung des unionsrechtlichen Geltungsanspruchs rechtlich bedeutungslos. Läge eine Hierarchie mit einem Primat der nationalen Rechtsordnungen vor, so läge der unionsrechtliche Geltungsanspruch im Gutdünken der jeweiligen nationalen Rechtsordnung. Läge eine Gleichordnung von Unionsrechtsordnung und nationalen Rechtsordnungen vor, so bedürfte der Geltungsanspruch der Unionsrechtsordnung eine Anerkennung auf Seiten der nationalen Rechtsordnungen. Eine Entscheidung zwischen Hierarchie und Gleichordnung könnte nun entlang dem Verständnis von Völkerrecht und Staatsrecht als Einheit (im Sinne des Monismus) oder als Mehrheit (im Sinne des Dualismus) getroffen werden. Versteht man die Unionsrechtsordnung und die nationale Rechtsordnung als Einheit, so besteht ein Hierarchieverhältnis zwischen ihnen. Versteht man sie als Mehrheit, so ist eine Gleichordnung denkbar. Dennoch kann die Entscheidung zwischen Hierarchie und Gleichordnung nicht mit jener zwischen Monismus und Dualismus gleichgesetzt werden.75 Im monistischen Denken ist eine Kollisionsregel zu Gunsten einer Teilrechtsordnung denkbar, wenn eine solche Kollisionsregel durch eine übergeordnete Gesamtrechtsordnung wie möglicherweise das allgemeine Völkerrecht angeordnet wird.76 Der Dualismus verlangt für die Geltung von Völkerrecht im innerstaatlichen Rechtsraum einen Transformationsakt.77 Dieser Transformationsakt legt den Rang des transformierten Völkerrechts im innerstaatlichen Rechtsraum fest. Um eine derartige 74 Vgl. Kadelbach, Allgemeines Verwaltungsrecht unter europäischem Einfluss, S. 184 ff. 75 Vgl. Kadelbach, Allgemeines Verwaltungsrecht unter europäischem Einfluss, S. 186 f. 76 Vgl. Kelsen, Reine Rechtslehre, 1. Aufl. 1934, S. 147; ders., Allgemeine Staatslehre, S. 199; ders. VVDStRL 6 (1929), 30, 57. Hiernach sind in einem „Bundesstaat“ die Teilrechtsordnungen des „Bundes“ und der „Gliedstaaten“ gleichrangig. Das Verhältnis beider untereinander wird durch die Gesamtverfassung des „Bundesstaates“ geregelt. 77 Früh und grundlegend: Triepel, Völkerrecht und Landesrecht, S. 117 ff. zur Ablehnung einer eigenständigen Geltung von Völkerverträgen in der innerstaatlichen Rechtsordnung, S. 169 ff. zur „Reception von Völkerrecht durch den Staat“ als notwendige Voraussetzung für die innerstaatliche Umsetzung von völkervertraglichen Pflichten zwischen Staaten und S. 289 ff. zum „völkerrechtlich gebotenen Landesrecht“.
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1. Kapitel: Theorie des unionsrechtlichen Anwendungsvorrangs
Rangfestlegung von Völkerrecht im innerstaatlichen Rechtsraum aussprechen zu können, muss das Verfassungsrecht, das dem Gesetzgeber das Recht zur Rangfestlegung verleiht, notwendigerweise im Rang über dem Völkerrecht stehen.78 Somit ist nach beiden Denkschulen eine Auflösung von Konflikten nach der Hierarchie der Rechtsordnung oder auf Grundlage einer Kollisionsregel denkbar, die den Anwendungsvorrang der Unionsrechtsordnung zu Lasten der nationalen Rechtsordnung, oder andersherum, anordnet. Daher kann weder dem Monismus noch dem Dualismus zwingend eine Vorgabe für die theoretische Einordnung des Anwendungsvorrangs des Unionsrechts entnommen werden. a) Kein hierarchisches Verständnis vom Vorrang des Unionsrechts Das Verhältnis zwischen der Unionsrechtsordnung und den nationalen Rechtsordnungen kann trotz der leicht missverständlichen Begrifflichkeit des „Vorrangs des Unionsrechts“ nicht als hierarchisch bezeichnet werden. Das gilt sowohl bei einem Primat des Unionsrechts als auch bei einem Primat der nationalen Rechtsordnungen.79 Das hierarchische Verständnis bei einem Primat des Unionsrechts beruht auf einer föderalen Sichtweise auf die EU. Hiernach folgt der „Vorrang“ des Unionsrechts der Zuweisung der Kompetenz zur Regelung eines bestimmten Sachbereichs an die Union. Anders gewendet stellt sich die Frage nach dem Vorrang des Unionsrechts in den Sachbereichen, in denen die Regelungskompetenz der Union zugewiesen ist, nicht, da in diesen Bereichen die Mitgliedstaaten ihre Regelungskompetenz derart verloren haben, dass jedes nationale Recht bereits unwirksam ist.80 Mithin ist das Unionsrecht als einzig wirksames Recht in diesen Sachgebieten anwendbar. Die gefundene Konfliktlösung ist demnach in Anlehnung an die angelsächsische Terminologie auch nicht Vorrang des Unionsrechts („supremacy“), sondern Verdrängung nationalen Rechts durch Unionsrecht („pre-emption“).81 Eine derartige Verdrängungswirkung des Unionsrechts kennt man tatsächlich in denjenigen Sachgebieten, in denen die Union über eine ausschließliche Regelungskompetenz (Art. 3 AEUV) verfügt. Art. 2 Abs. 1 AEUV sagt hierzu klar, dass die Mitgliedstaaten in solchen Bereichen „nur tätig werden [dürfen], wenn sie von der Union hierzu ermächtigt werden, 78
Vgl. Huber, AöR 116 (1991), 210, 224; Schilling, Rang und Geltung, S. 187. Ebenso Kadelbach, Allgemeines Verwaltungsrecht unter europäischem Einfluss, S. 187 ff. (bezüglich einer Hierarchie mit Primat des Unionsrechts), S. 206 ff. (bezüglich einer Hierarchie mit Primat der nationalen Rechtsordnungen). 80 Vgl. Ophüls, in: FS Riese, S. 1, 17 ff. 81 Zum Verhältnis von „supremacy“ und „pre-emption“ in der Dogmatik des Europarechts: Schütze, CMLR 43 (2006), 1023; Waelbroeck, The emergent doctrine of Community pre-emption – consent and re-regulation, in: Sandalow/Stein, Courts and free markets: Perspectives from the United States and Europe II, 1982, S. 548. 79
D. Verhältnis zwischen Unionsrecht und mitgliedstaatlichem Recht
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oder um Rechtsakte der Union durchzuführen“. Außerhalb der ausschließlichen Zuständigkeiten in Fällen, in denen der Union eine „geteilte Zuständigkeit“ übertragen wurde, „können die Union und die Mitgliedstaaten […] gesetzgeberisch tätig werden und verbindliche Rechtsakte erlassen. Die Mitgliedstaaten nehmen ihre Zuständigkeit wahr, sofern und soweit die Union ihre Zuständigkeit nicht ausgeübt hat. Die Mitgliedstaaten nehmen ihre Zuständigkeit erneut wahr, sofern und soweit die Union entschieden hat, ihre Zuständigkeit nicht mehr auszuüben“ (Art. 2 Abs. 2 AEUV). Hieraus wird deutlich, dass die Kompetenzverteilung zwischen der Union und den Mitgliedstaaten nicht sich gegenseitig ausschließender Natur ist. Vielmehr überlagert die Hoheitsgewalt der Union die weiterhin bestehende umfassende Hoheitsgewalt der Mitgliedstaaten.82 Nur vor dem Hintergrund eines solchen Verständnisses ist eine Regelung wie die des Art. 2 Abs. 2 AEUV verständlich. Daneben kann auf der Grundlage der Kompetenzverteilung nicht der Vorrang der Grundfreiheiten erklärt werden. In konsequenter Anwendung dieser Ansicht müsste nämlich der Vorrang der Grundfreiheiten auf die Regelungsbereiche reduziert sein, in denen die Union über Regelungskompetenzen verfügt. Das hierarchische Verständnis bei einem Primat der nationalen Rechtsordnungen baut auf dem klassischen völkerrechtlichen Verständnis auf, wonach ein völkerrechtlicher Vertrag der Transformation in nationales Recht bedarf. Der Vorrang des Unionsrechts als völkerrechtlicher Vertrag beruht damit auf dem jeweiligen nationalen Verfassungsrecht mit der Wirkung, dass monistische Verfassungen den Geltungsanspruch des Unionsrechts umfassend anerkennen und dass dualistische Verfassungen die Reichweite des Geltungsanspruchs selbstständig und unabhängig voneinander festlegen.83 Der erste Einwand, dem diese Ansicht ausgesetzt ist, zielt auf ihre Prämisse, wonach die völkerrechtliche Transformationslehre auf das Unionsrecht anzuwenden ist, weil das Gründungsdokument der Union ein völkerrechtlicher Vertrag ist. Denn auch ein Bundesstaat kann durch einen völkerrechtlichen Vertrag gegründet werden, der dann zur Staatsverfassung wird.84 Der Haupteinwand betrifft jedoch die aus dieser Ansicht folgende uneinheitliche Geltung des Unionsrechts.85 Nicht nur wäre der von der Unionsrechtsordnung formulierte Geltungsanspruch von sehr unterschiedlicher Tragweite in den Mitgliedstaaten. In 82
Vgl. dazu Ipsen, Gemeinschaftsrecht, § 2 Rn. 14 ff., S. 56 f. Vgl. Münch, BDGVR 2 (1958), 73, 82 f.; zur Sichtweise des dualistischen deutschen Grundgesetzes auf das EU-Recht Kokott, AöR 119 (1994), 207, 212 ff.; vgl. zu dem Ganzen Kadelbach, Allgemeines Verwaltungsrecht unter europäischem Einfluss, S. 206 f. m.w.N. 84 Vgl. zur Gründung des Deutschen Reichs, das aus einem völkerrechtlichen Vertrag entstand, Haenel, Die vertragsmäßigen Elemente der Deutschen Reichsverfassung, in: Studien zum Deutschen Staatsrecht I (1873), 38, zitiert bei Ipsen, Gemeinschaftsrecht, § 2 Rn. 22, S. 59 Fn. 26. 85 Vgl. Schlochauer, AVR 11 (1963/64), 8 ff.; Kadelbach, Allgemeines Verwaltungsrecht unter europäischem Einfluss, S. 207 f. 83
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1. Kapitel: Theorie des unionsrechtlichen Anwendungsvorrangs
dualistischen Mitgliedstaaten droht zudem im Laufe der Zeit die Verdrängung des Unionsrechts, da sich zeitlich später erlassene Gesetze dem durch das Transformationsgesetz im Range eines einfachen Gesetzes befindlichen Unionsrecht aufgrund des Grundsatz lex posterior derogat legi priori durchsetzt. Im Ergebnis überzeugt damit keiner der Versuche, ein Hierarchieverhältnis zwischen der Unionsrechtsordnung und den nationalen Rechtsordnungen zu begründen. b) Vorrang des Unionsrechts als Kollisionsnorm gleichgeordneter Rechtsordnungen Ist mithin deutlich geworden, dass eine umfassende hierarchische Stellung der Unionsrechtsordnung im Verhältnis zu den nationalen Rechtsordnungen nicht feststellbar ist, so richtet sich der Blick auf die Frage, wie gleichgeordnete Rechtsordnungen im Falle einer Kollision von Normen der jeweiligen Rechtsordnungen koordiniert werden können. Hierzu bedarf es einer Kollisionsnorm. Eine Kollisionsnorm ist in ihrer allgemeinsten Form eine Norm, die eine Kollision von Normen durch Verweisung auf die zur konkreten Anwendung berufene Norm auflöst.86 aa) Keine völkerrechtliche Kollisionsnorm zur Auflösung von Rechtsordnungskonflikten Gleichgeordnete Rechtsordnungen können durch eine Kollisionsnorm in einer übergeordneten Rechtsordnung koordiniert werden. Denkbar wäre, eine solche Kollisionsregel im Völkerrecht zu suchen. So legte der StIGH in seinem Gutachten in der Rechtssache „Greco-Bulgarian ‚Communities‘“87 dar: „In the first place, it is a generally accepted principle of international law that in the relations between Powers who are contracting Parties to a treaty, the provisions of municipal law cannot prevail over those of the treaty.“88
Diese Regel, die sich auch in Art. 27 WVK wiederfindet, wonach sich eine Vertragspartei nicht auf ihr innerstaatliches Recht berufen darf, um die Nichterfüllung eines Vertrags zu rechtfertigen, scheint eine Kollisionsregel zu Gunsten des Vorrangs von völkerrechtlichen Vertragspflichten gegenüber nationalem Recht anzudeuten.89 Die Rechtsfolgen, die an einen Bruch der völkervertraglichen Verpflichtung aufgrund entgegenstehenden innerstaatlichen Rechts geknüpft sind, führen jedoch nicht zu einer Anwendbarkeit der Norm des Völkervertrags, wie es von einer Kollisionsnorm gefordert wird. Der Bruch des
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Vgl. Kegel, in: FS von Overbeck, S. 47, 49 f.; Kegel/Schurig, IPR, § 1 VII, S. 46. PCIJ, 1930, Series B, Nr. 17. 88 PCIJ, 1930, Series B, Nr. 17, S. 32. 89 Vgl. Peters, Elemente einer Theorie der Verfassung Europas, S. 326 f. 87
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völkerrechtlichen Vertrags führt vielmehr zu einer Anpassungspflicht des innerstaatlichen Rechts90 und als völkerrechtliches Delikt zu den Grundsätzen der Staatenverantwortlichkeit.91 Somit ist dem Völkerrecht, wenn man es überhaupt als eine der Unionsrechtsordnung und der nationalen Rechtsordnungen übergeordnete Rechtsordnung betrachten möchte, keine Kollisionsnorm zu entnehmen, die eine zwingende Anwendbarkeit einer bestimmten Norm im Kollisionsfall anordnet. bb) Kollisionsnormen gleichgeordneter Rechtsordnungen Fehlt es an einer Kollisionsnorm in einer übergeordneten Rechtsordnung, müssen Normenkonflikte auf der Ebene der jeweiligen gleichgeordneten Rechtsordnungen vermieden oder aufgelöst werden. Dieser Aufgabe stellt sich in den Privatrechtsordnungen klassischerweise das Internationale Privatrecht (IPR). Das IPR baut dabei auf der Prämisse der Gleichwertigkeit der Privatrechtsordnungen auf.92 Diese Prämisse wurde von Savigny entwickelt. Er geht dabei in einem ersten Schritt davon aus, dass die Koordination gleichgeordneter Rechtsordnungen dergestalt erfolgen kann, dass ein Staat in allen Kollisionsfällen die Anwendung des eigenen Rechts anordnet, was ihm jedoch in dieser Deutlichkeit nicht bekannt war.93 In einem zweiten Schritt stellt er die Konsequenzen einer solchen Entscheidung und ihre Alternative vor: „Je mannichfaltiger und lebhafter der Verkehr unter den verschiedenen Völkern wird, desto mehr wird man sich überzeugen müssen, daß es räthlich ist, jenen strengen Grundsatz nicht festzuhalten, sondern vielmehr mit einem entgegengesetzten Grundsatz zu vertauschen. Dahin führt die wünschenswerthe Gegenseitigkeit in der Behandlung der Rechtsverhältnisse, und die daraus hervorgehende Gleichheit in der Beurtheilung der Einheimischen und Fremden, die im Ganzen und Großen durch den gemeinsamen Vortheil der Völker und der Einzelnen geboten wird. Denn diese Gleichheit muß in vollständiger Ausbildung dahin führen, daß nicht bloß in jedem einzelnen Staate der Fremde gegen den Einheimischen nicht zurückgesetzt werde (worin die gleiche Behandlung der Personen besteht), sondern daß auch die Rechtsverhältnisse, in Fällen einer Collision der Gesetze, dieselbe Beurtheilung zu erwarten haben, ohne Unterschied, ob in diesem oder jenem Staate das Urtheil gesprochen werde.“94
Zur Begründung dieser Überlegung stellt Savigny auf die völkerrechtliche Gemeinschaft, in der die Rechtsgemeinschaften der Völker vereint sind, ab: „Der Standpunkt, auf den wir durch diese Erwägung geführt werden, ist der einer völkerrechtlichen Gemeinschaft der mit einander verkehrenden Nationen, und dieser Standpunkt
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PCIJ, 1925, Series B, Nr. 10, S. 20, Exchange of Greek and Turkish Populations. Vgl. etwa Doehring, Völkerrecht, Rn. 372 ff., S. 164 f. 92 Vgl. etwa die Resolution des Institut de Droit International vom 13. September 1989 über „L’égalité de traitement entre la loi du for et la loi étrangère“, RabelsZ 54 (1990), S. 166. 93 Savigny, System des heutigen Römischen Rechts, Bd. VIII, S. 25 f. 94 Savigny, System des heutigen Römischen Rechts, Bd. VIII, S. 26 f. 91
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hat im Fortschritt der Zeit immer allgemeinere Anerkennung gefunden, unter dem Einfluß theils der gemeinsamen christlichen Gesittung, theils des wahren Vortheils, der daraus für alle Theile hervorgeht.“95
Die Art und Weise der Anwendung fremden Rechts leitet er aus dem Gedanken der „comitas“ ab: „Man kann diese Gleichstellung, im Gegensatz des oben erwähnten strengen Rechts, als freundliche Zulassung unter souveränen Staaten bezeichnen, nämlich als Zulassung ursprünglich fremder Gesetze unter die Quellen, aus welchen die einheimischen Gerichte die Beurtheilung mancher Rechtsverhältnisse zu schöpfen haben. Nur darf diese Zulassung nicht gedacht werden als Ausfluß bloßer Großmuth oder Willkür, die zugleich als zufällig wechselnd und vorübergehend zu denken wäre. Vielmehr ist darin eine eigenthümliche und fortschreitende Rechtsentwickelung zu erkennen, gleichen Schritt haltend mit der Behandlung der Collisionen unter den Particularrechten desselben Staates.“96
Damit ist sein Gedankenmodell konstruiert. Der grenzüberschreitende Verkehr von Menschen schafft Lebenssachverhalte mit Auslandsberührung. Solche Sachverhalte könnte eine Rechtsordnung immer mit einem Anwendungsbefehl zu Gunsten der eigenen Rechtsordnung lösen. Würde jede Rechtsordnung so vorgehen, hätte dies zur Folge, dass Sachverhalte im Ausland, an denen die eigenen Staatsangehörigen beteiligt sind, immer von einer fremden ausländischen Rechtsordnung nach deren Maßstäben beurteilt werden. Soll dies vermieden werden, müssten bei Sachverhalten auf dem eigenen Hoheitsgebiet, an denen fremde Staatsangehörige beteiligt sind, auch fremde ausländische Rechtsordnungen zur Anwendung gebracht werden können. Eine derartige Anwendung darf jedoch nicht willkürlich sein, sondern muss ihrerseits rechtlichen Maßstäben folgen. Die Suche nach der geeigneten, auf einen konkreten Sachverhalt mit Auslandsbezug anzuwendenden Rechtsordnung dient dabei dem Ziel, „daß bei jedem Rechtsverhältniß dasjenige Rechtsgebiet aufgesucht werde, welchem dieses Rechtsverhältniß seiner eigenthümlichen Natur nach angehört oder unterworfen ist.“97 Die Zuordnung eines Rechtsverhältnisses zu einer Rechtsordnung „seiner eigenthümlichen Natur nach“ verlangt dabei im Ausgangspunkt die Annahme der Gleichwertigkeit von inländischer und ausländischer Rechtsordnung.98 Andernfalls wird das Rechtsverhältnis immer der eigenen Rechtsordnung zugeordnet. Begibt man sich auf die Suche nach der richtigen Rechtsordnung für die Lösung eines Rechtsproblems vom konkreten Sachverhalt her, fällt die Gleichbehandlung von inländischer und ausländischer Rechtsordnung und die dahinterstehende Grundannahme von der Gleichordnung der Rechtsordnungen leicht. Es wird nach der Rechtsordnung gesucht, die die sinnvollste, weil dem Sachverhalt „seiner eigenthümlichen Natur nach“ 95
Savigny, System des heutigen Römischen Rechts, Bd. VIII, S. 28. Savigny, System des heutigen Römischen Rechts, Bd. VIII, S. 28. 97 Savigny, System des heutigen Römischen Rechts, Bd. VIII, S. 28. 98 Kropholler, IPR, § 3 I, S. 16. 96
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am nächsten stehende Lösung bereithält. Diese Suche kann demnach bei einem Sachverhalt im eigenen Hoheitsgebiet dazu führen, dass eine fremde ausländische Rechtsordnung zur Regelung dieses Sachverhalts zu berufen ist, weil sie sachnäher ist. Die Möglichkeit, fremdes Recht im eigenen Territorium ohne Transformationsakt zu berufen, verlangt als Grundannahme, dass im eigenen Hoheitsgebiet neben der inländischen auch fremde Rechtsordnungen wirken können.99 Die zur Bestimmung des anwendbaren Privatrechts entwickelten Kollisionsnormen haben als Rechtsfolge die Verweisung auf Normen einer bestimmten Privatrechtsordnung. Auf der Grundlage der Gleichwertigkeit und der Gleichbehandlung sämtlicher Privatrechtsordnungen sind Kollisionsnormen grundsätzlich allseitig ausgestaltet, so dass sie auf sämtliche staatlichen Privatrechtsordnungen verweisen können.100 Die Verweisung erfolgt dabei anhand von Anknüpfungsmomenten, die unter Berücksichtigung besonderer Interessen der Verwirklichung der internationalprivatrechtlichen Gerechtigkeit dienen sollen.101 Die internationalprivatrechtliche Gerechtigkeit folgt dabei dem von Savigny gesetzten Maßstab, diejenige Rechtsordnung zu identifizieren, die die engste Verbindung zu dem Sachverhalt aufweist.102 Die so gestalteten Kollisionsnormen sollen unter anderem das Ziel vom internationalen (äußeren) Entscheidungseinklang verwirklichen, wonach „die Rechtsverhältnisse, in Fällen einer Collision der Gesetze, dieselbe Beurtheilung zu erwarten haben, ohne Unterschied, ob in diesem oder jenem Staate das Urtheil gesprochen werde.“103 Der internationale (äußere) Entscheidungseinklang soll dabei dadurch erreicht werden, dass möglichst viele Staaten dieselben Anknüpfungsmomente für die Bestimmung der engsten Verbindung eines Rechtsverhältnisses teilen und in ihre nationalen Kollisionsnormen aufnehmen. Somit soll ohne Aufgabe des Nationalen das Internationale erreicht werden.104 Die Struktur und die Funktionsweise des IPR, mit der gleichgeordnete Rechtsordnungen koordiniert werden, erlauben die folgenden verallgemeinerungsfähigen Aussagen über den Umgang mit fremdem Recht im eigenen Hoheitsgebiet. Einer fremden Rechtsordnung wird, ohne dass diese es selbst ausdrücklich erklären muss, ein Geltungsanspruch105 im inländischen Rechtsraum 99
von Bar/Mankowski, IPR, Bd. I, § 1 Rn. 16, S. 12. Kegel/Schurig, IPR, § 6 I, S. 301 f.; von Bar/Mankowski, IPR, Bd. I, § 1 Rn. 17, S. 13. 101 Kegel/Schurig, IPR, § 2, S. 131 ff. 102 Kropholler, IPR, § 4 II, S. 25 ff. 103 Savigny, System des heutigen Römischen Rechts, Bd. VIII, S. 27. 104 von Bar/Mankowski, IPR, Bd. I, § 6 Rn. 56: „Savigny gelingt m. a. W. als erstem eine Synthese zwischen der Nationalität des Kollisionsrechts und der Internationalität seines Gegenstandes.“ 105 Im Vorliegenden soll aus sprachlichen Gründen auch im Hinblick auf das IPR für die ausländische Norm die Begrifflichkeit des „Geltungsanspruchs“ verwendet werden, auch 100
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unterstellt. Die inländische Kollisionsnorm erkennt bei Erfüllung ihres eigenen Tatbestands den Geltungsanspruch der fremden Rechtsordnung an und bringt die fremde Norm im eigenen Hoheitsgebiet zur Anwendung. cc) Vorrang des Unionsrechts als Geltungsanspruch der unionalen Rechtsnorm, der durch eine Kollisionsnorm der nationalen Rechtsordnung anerkannt wird Auf der Grundlage der Gleichordnung autonomer Rechtsordnungen lässt sich nunmehr der Anwendungsvorrang des Unionsrechts kollisionsrechtlich im Sinne des IPR konstruieren. Es handelt sich mithin um einen Vorrang kraft Verweisung.106 Hierzu sei die Funktionsweise des IPR nochmals in Erinnerung gerufen. Das IPR geht vom universalen Geltungsanspruch sämtlicher Privatrechtsordnungen aus. Die Kollisionsnorm der inländisch geltenden nationalen Privatrechtsordnung verweist als Rechtsfolge auf diejenige Rechtsnorm, die nach der Auswahlentscheidung des nationalen Gesetzgebers im Hinblick auf den Anknüpfungsgegenstand und das Anknüpfungsmoment die engste Verbindung zum Sachverhalt mit Auslandsbezug aufweist. Konsequenz dieser Verweisung ist die Anwendbarkeit der verwiesenen Rechtsnorm und die Nichtanwendbarkeit sämtlicher anderer Rechtsnormen mit universalem Geltungsanspruch. Dabei lässt die Verweisung die Geltung der mit Geltungsanspruch ausgestatteten Normen unberührt.107 Überträgt man diesen Gedanken auf das Verhältnis von Unionsrechtsordnung und nationaler Rechtsordnung, bedarf es einer Rechtsordnung, die ihren universalen Geltungsanspruch formuliert, und einer Kollisionsnorm, die den Geltungsanspruch anerkennt. Die Unionsrechtsordnung stellt zunächst ihren Geltungsanspruch in sämtlichen mitgliedstaatlichen Rechtsräumen auf. Sie beansprucht damit, innerhalb ihres Anwendungsbereichs anstelle eines mögli-
wenn eine Norm lediglich im Hoheitsgebiet des sie erlassenden Staates gelten kann. Der Begriff des „Anwendungsanspruchs“ ist sprachlich unpassend. Vgl. auch Kropholler, IPR, § 22 I 2, S. 153. 106 Dafür mit Unterschieden in der konkreten Ausgestaltung Kadelbach, Allgemeines Verwaltungsrecht unter europäischem Einfluss, S. 217 ff.; Lorenz. Übertragung, S. 376 ff.; Seuffert, in: FS Schmid, S. 169, 178 f., 182; Hoffmann, Internationales Verwaltungsrecht, in: von Münch, Besonderes Verwaltungsrecht, S. 851, 863 f.; Durante, Riv. dir. int. 49 (1966), 56 ff.; Barile, ComEStudi 12 (1966), 91, 99; Steindorff, Rechtsschutz, S. 53 ff.; im Ergebnis ebenso Bleckmann, Europarecht, Rn. 1090; Zuleeg, Recht der EG im innerstaatlichen Bereich, S. 138 f., der allerdings seine „einfache Kollisionsregel“ von der Verweisung im IPR abgrenzt. 107 Jedenfalls im Hinblick auf die Geltung im Hoheitsgebiet der jeweiligen Privatrechtsordnung. Ob eine ausländische Rechtsnorm durch Verweisung zu einer inländisch geltenden und nicht nur anwendbaren Rechtsnorm „als ausländische“ wird, ist eine von dieser Aussage unberührte Frage. Dazu Schinkels, Normsatzstruktur, passim.
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cherweise entgegenstehenden nationalen Rechts108 zur Anwendung zu gelangen. Die nationalen Rechtsordnungen der Mitgliedstaaten beinhalten nunmehr ihrerseits eine Kollisionsnorm, die im Fall eines Rechtsfolgenkonflikts von eigenen Rechtsnormen mit unionsrechtlichen Rechtsnormen auf die unionsrechtliche Norm verweist. (1) Einwand der Rangregel in monistisch geprägten Verfassungen Der Verweis auf die Funktionsweise des IPR zur Erklärung des Anwendungsvorrangs109 sieht sich nun dem Einwand ausgesetzt, dass er zwar das Verhältnis von Unionsrechtsordnung und nationalen Rechtsordnungen in dualistischen Staaten zu erklären vermag, jedoch nicht auf das Verhältnis zu nationalen Rechtsordnungen von Staaten mit monistisch geprägten Verfassungen passt.110 Dieser Einwand führt zu einer Erweiterung des kollisionsrechtlichen Erklärungsmodells. Das Unionsrechts stellt nämlich nicht nur seinen eigenen Geltungsanspruch innerhalb seines Anwendungsbereichs auf. Hinzu tritt eine von den Mitgliedstaaten übernommene vertragliche Verpflichtung nach Art. 4 Abs. 3 UAbs. 2 EUV, einen rechtlichen Mechanismus in den nationalen Rechtsordnungen zu verankern, der diesen Geltungsanspruch im Konfliktfall anerkennt. Diese Verpflichtung gibt den Mitgliedstaaten in Form einer „obligation de résultat“111 mit der Anerkennung des Geltungsanspruchs des Unionsrechts im Konfliktfall im mitgliedstaatlichen Rechtsraum das von ihnen zu erreichende Ziel vor, ohne die hierfür erforderlichen Wege und Mittel zu benennen. Die Mitgliedstaaten sind daher frei darin, den vom Unionsrecht aufgestellten Geltungsanspruch auch durch eine Rangregel anzuerkennen. Die den Geltungsanspruch formulierende Rechtsordnung kann jedoch von einer gleichgeordneten Rechtsordnung nicht verlangen, sie als höherrangig anzuerkennen. Vor diesem Hintergrund steht das Vorhandensein einer Rangregel zu Gunsten des Unionsrechts in monistisch geprägten mitgliedstaatlichen Verfassungen der Annahme einer Verweisungslösung in dualistisch geprägten mitgliedstaatlichen Rechtsordnungen nicht entgegen. Die Verweisung ist vielmehr die Minimallösung, mit der ein Mitgliedstaat der Pflicht aus Art. 4 Abs. 3 UAbs. 2 EUV zur Anerkennung des Geltungsanspruchs der Unionsrechtsordnung im Konfliktfall nachkommen kann. Die Freiheit in der Umsetzung des rechtlichen Mechanismus zur Anerkennung des unionsrechtlichen Geltungsanspruchs macht auch deutlich, dass es aus kollisionsrechtlicher Perspektive dahinstehen kann, ob diese im Wege der Sachnormverweisung oder Gesamtverweisung112 (vgl. Art. 4 Abs. 1 EGBGB) 108
EuGH, Rs. 106/77, Simmenthal II, Slg. 1978, 629 Rn. 17/18, 21/23. Lorenz, Übertragung, S. 379 nennt dies „Verweisungstechnik“. 110 Vgl. Lorenz, Übertragung, S. 375. 111 Vgl. von Bogdandy/Schill, in: Grabitz/Hilf/Nettesheim, Art. 4 EUV Rn. 63. 112 Alternativ auch „IPR-Delegation“ genannt, vgl. Schinkels, Normsatzstruktur, S. 200 f. 109
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ausgestaltet ist. Als Sachnormverweisung verweist die nationale Kollisionsnorm auf die entsprechende Sachnorm des Unionsrechts (wie beispielsweise das Diskriminierungsverbot aus Art. 18 AEUV oder die Grundfreiheiten). Als Gesamtverweisung verweist die nationale Kollisionsnorm auf den Vorrang des Unionsrechts, der als einseitige Kollisionsnorm des Unionsrechts auf die eigene Sachnorm verweist. Damit kann als Zwischenergebnis festgehalten werden, dass der Vorrang des Unionsrechts auf unionsrechtlicher Seite aus drei Komponenten besteht: dem Geltungsanspruch der Unionsrechtsordnung in den mitgliedstaatlichen Rechtsräumen im Konfliktfall mit nationalen Rechtsordnungen, der Verpflichtung zur Schaffung eines rechtlichen Mechanismus zur Anerkennung dieses Geltungsanspruchs in den nationalen Rechtsordnungen nach Art. 4 Abs. 3 UAbs. 2 EUV und einer einseitigen Kollisionsnorm auf das unionale Sachrecht. (2) Einwand des IPR als Konfliktvermeidungs- und nicht als Konfliktlösungsrecht Ein weiterer Einwand gegen eine direkte Übertragung der Verweisungsmethode des IPR auf den Anwendungsvorrang des Unionsrechts rechtfertigt eine weitere Modifikation. Zum einen ist das IPR ein Konfliktvermeidungsrecht, das zwar eine Konfliktlösung zwischen Rechtsordnungen zur Folge haben kann, aber nicht notwendigerweise voraussetzt.113 Der Anwendungsvorrang des Unionsrechts verlangt jedoch erst dann eine Verweisung auf die unionale Norm, wenn dieser nationales Recht entgegensteht.114 Im Gegensatz zum Richter, der eine IPR-Kollisionsnorm prüft, den Anknüpfungsgegenstand feststellt und das anwendbare Recht anhand des Anknüpfungsmoments bestimmt, ohne dass widersprechende Rechtsfolgen alternativ Geltung beanspruchender Normen vorliegen müssen, muss der Richter, der den Anwendungsvorrang des Unionsrechts prüft, zunächst einen konkreten oder möglichen Normenkonflikt feststellen. Der Kritik ist insoweit beizupflichten, als die nationale Verweisungsnorm auf das Unionsrecht nicht dem IPR zuzuordnen ist.115 Allerdings spricht die Notwendigkeit einer positiven Feststellung eines Normenkonflikts auch nicht grundsätzlich gegen die Annahme einer Verweisung. Auch wenn das IPR als Konfliktvermeidungsrecht ausgestaltet ist, lässt es sich vom Normenkonflikt nicht trennen. Es verlöre nämlich seine Existenzberechtigung erst,
113 Daher auch das Unbehagen von Kropholler, IPR, § 1 V 2, S. 8 f. und § 13 I, S. 103 f. bei der Bezeichnung des IPR als „Kollisionsrecht“ und der IPR-Norm als „Kollisionsnorm“. 114 So die Kritik an einer zu nah am IPR angelehnten Deutung des Vorrangs als Verweisung bei Zuleeg, Recht der EG im innerstaatlichen Bereich, S. 138; dieser Kritik folgend Komendera, Normenkonflikte, S. 116; Ipsen, Gemeinschaftsrecht, § 10 Rn. 57, S. 208 f. 115 Vgl. Ipsen, Gemeinschaftsrecht, § 10 Rn. 57, S. 208 f.
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wenn es ein Weltprivatrecht gäbe, 116 das gewährleistet, dass weltweit auf einen Sachverhalt dieselben Rechtsfolgen anzuwenden wären, und das damit divergierende Rechtsfolgen und damit Normenkonflikte ausschließt. Die Verweisungstechnik des IPR baut darauf auf, Normenkonflikte zu lösen, indem sie zu Gunsten eines internationalen (äußeren) Entscheidungseinklangs vermieden werden. Es entlastet den das IPR anwendenden Richter von der konkreten Feststellung eines Normenkonfliktes, ohne dass damit die Aufgabe des IPR, Normenkonflikte zu lösen, aufgegeben wäre. Dies anerkennend wird der Anwendungsvorrang zwar „nicht als Verweisung im Sinne des Internationalen Privatrechts gedeutet, wohl aber als einfache Kollisionsregel.“117 Dementsprechend ist der international-privatrechtlichen Verweisung für die Zwecke der Anerkennung des Geltungsanspruchs des Unionsrechts die positive Feststellung eines Normenkonfliktes in Form sich widersprechender Rechtsfolgen zwischen einer Norm einer nationalen Rechtsordnung und einer Norm der Unionsrechtsordnung als Tatbestandsvoraussetzung hinzuzufügen. (3) Einwand des einfachgesetzlichen Rangs der nationalen Kollisionsnorm Schließlich wird eingewandt, dass die Verweisung auf die unionale Norm, sofern sie wie das IPR im Rang des einfachen Rechts steht,118 jederzeit durch ein später erlassenes nationales Gesetz zu Lasten des Unionsrechts geändert werden kann und der Anwendungsvorrang damit im Ermessen der Mitgliedstaaten steht. Das dem Vorrang unterliegende Prinzip der Sicherung der Funktionsfähigkeit der Union wäre dann nicht in ausreichendem Maße gewährleistet.119 Zwar würde eine solche einfachgesetzliche Änderung der nationalen Kollisionsnorm einen Verstoß gegen die dem Anwendungsvorrang innewohnende Verpflichtung aus Art. 4 Abs. 3 UAbs. 2 EUV bedeuten. Dieser könnte jedoch nur mit dem Mittel des Vertragsverletzungsverfahrens nach Art. 258, 259 AEUV verfolgt werden.120 Gerade dies macht jedoch deutlich, wieso mit einer einfachgesetzlichen Kollisionsnorm dem Zweck des Anwendungsvorrangs des Unionsrechts nicht entsprochen wäre. Zweck des Anwendungsvorrangs ist schließlich gerade die Durchsetzung des Unionsrechts, die von politischen
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Kegel/Schurig, IPR, § 1 III, S. 5. Zuleeg, Recht der EG im innerstaatlichen Bereich, S. 139. 118 So Steindorff, Rechtsschutz, S. 53, der die Kollisionsnorm im Zustimmungsgesetz verankert sehen möchte. 119 Zuleeg, Recht der EG im innerstaatlichen Bereich, S. 98; Grabitz, Gemeinschaftsrecht bricht nationales Recht, S. 58 f. 120 So Steindorff, Rechtsschutz, S. 54. 117
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Durchsetzungsverfahren unabhängig sein soll und nicht lediglich eine Anpassungspflicht mit einer Restitutionspflicht der Mitgliedstaaten nach den Grundsätzen der Staatenverantwortlichkeit nach sich zieht.121 Diese Kritik fordert eine Klarstellung im Hinblick auf die Kollisionsnorm der nationalen Rechtsordnung heraus. Die Verweisung auf die Unionsrechtsordnung findet sich in Art. 23 Abs. 1 GG. Die verfassungsrechtlichen Wirkungen der Verweisung richten sich nach dem Umfang, den eine verfassungsrechtliche Norm dem Verfassungsgeber zur Rücknahme der Ausschließlichkeit eigener Hoheitsgewalt einräumt.122 Auf Grundlage von Art. 23 Abs. 1 GG nahm der deutsche Verfassungsgeber seine Hoheitsgewalt im eigenen Rechtsraum in dem Maße zurück, in dem diejenige der Union in den Verträgen begründet wurde. Kraft dieser Hoheitsgewalt stattete die Unionsrechtsordnung ihre eigenen Normen mit einem Anwendungsvorrang aus. Dieser Anwendungsvorrang kann aus mitgliedstaatlicher Sicht nicht durch eine schlichte einfachgesetzliche Änderung der nationalen Kollisionsnorm zu Gunsten der eigenen Rechtsordnung zurückgedrängt werden. Vielmehr bedürfte es einer entsprechenden Wiedereinsetzung der Ausschließlichkeit eigener Hoheitsgewalt und damit einer Änderung des Art. 23 Abs. 1 GG.123 Eine solche Änderung entspricht einem Austritt aus der Union gemäß Art. 50 EUV. Diese im Vergleich zum IPR unterschiedliche verfassungsrechtliche Qualität der Verweisung auf das Unionsrecht lässt sich damit erklären, dass Art. 23 Abs. 1 GG oder Art. 24 Abs. 1 GG die Rücknahme der Ausschließlichkeit der nationalen Hoheitsgewalt nur in Bezug auf die Europäische Union (Art. 23 Abs. 1 GG) oder in Bezug auf andere „zwischenstaatliche Einrichtungen“ (Art. 24 Abs. 1 GG) zulässt, nicht jedoch in Bezug auf andere staatliche Rechtsordnungen. Dies macht den Unterschied zwischen der Verweisung auf das Unionsrecht und das IPR deutlich. Beim IPR besitzt der deutsche Gesetzgeber weiterhin die Möglichkeit, die Verweisungen im nationalen IPR jederzeit durch einfaches Gesetz zu ändern. Durch den Erlass des IPR nimmt der Staat im Gegensatz zum Beitritt zur Europäischen Union die Ausschließlichkeit seiner eigenen Hoheitsgewalt im Hinblick auf die dem IPR unterlegenen Rechtsverhältnisse nicht zurück. Aus diesem Grund geht der Einwand, die Verweisung auf die unionale Norm könne jederzeit
121
Zuleeg, Recht der EG im innerstaatlichen Bereich, S. 98; Grabitz, Gemeinschaftsrecht bricht nationales Recht, S. 58 f.; Kadelbach, Allgemeines Verwaltungsrecht unter europäischem Einfluss, S. 217. 122 Ipsen, Gemeinschaftsrecht, § 2 Rn. 15, S. 56 f., § 10 Rn. 59, S. 289; Randelzhofer, in: Maunz/Dürig, Art. 24 GG Rn. 12. 123 Daher stellt etwa Zuleeg, Recht der EG im innerstaatlichen Bereich, S. 154 ff. auf eine „einfache Kollisionsregel“ auf unionaler Ebene ab, die den Vorrang des Unionsrechts gegenüber dem nationalen Recht festlegt. Dem sich anschließend Ipsen, Gemeinschaftsrecht, § 10 Rn. 59, S. 289; Hoffmann, Internationales Verwaltungsrecht, in: von Münch, Besonderes Verwaltungsrecht, S. 851, 864.
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durch ein später erlassenes nationales Gesetz zu Lasten des Unionsrechts geändert werden, fehl. dd) Zusammenfassung Der Anwendungsvorrang des Unionsrechts ist der von der Unionsrechtsordnung formulierte Geltungsanspruch in sämtlichen mitgliedstaatlichen Rechtsräumen. Er beinhaltet eine Verpflichtung der Mitgliedstaaten zur Schaffung eines rechtlichen Mechanismus, der diesen Geltungsanspruch im mitgliedstaatlichen Rechtsraum anerkennt (Art. 4 Abs. 3 UAbs. 2 EUV). Dieser Verpflichtung entsprechen monistisch geprägte Verfassungen durch Einräumung eines hierarchischen Vorrangs. Dualistisch geprägte Verfassungen enthalten in ihren Verfassungen eine Verweisung auf das Unionsrecht, die im Konfliktfall einer nationalen Sachnorm mit einer unionalen Sachnorm entweder als Sachnormverweisung direkt die unionale Sachnorm zur Anwendung beruft oder als Gesamtverweisung auf den Vorrang des Unionsrechts als einfache unionale Kollisionsnorm verweist, der seinerseits als einseitige Kollisionsnorm die unionale Sachnorm zur Anwendung beruft. Dabei nimmt der Mitgliedstaat die Ausschließlichkeit seiner Hoheitsgewalt in dem Maße zurück, in dem die Union eigene Hoheitsgewalt begründet. III. Unmittelbare Anwendbarkeit als Voraussetzung des Anwendungsvorrangs Der Anwendungsvorrang des Unionsrechts greift bei einer Kollisionslage, die besteht, wenn sich die Rechtsfolgen einer unionalen und einer nationalen Norm im konkreten Fall widersprechen. Hierfür muss einerseits die nationale Norm gültig und andererseits die unionale Norm gültig und unmittelbar anwendbar sein.124 Eine unionale Norm, auf die sich ein Einzelner nicht berufen kann, weil sie nicht unmittelbar anwendbar ist, schafft mangels konkreten Normenkonflikts keine Kollisionslage, die einen Vorrang einer nicht anwendbaren unionalen Norm begründen könnte. Nach einer anderen Ansicht125 soll die unmittelbare Anwendbarkeit einer Unionsrechtsnorm keine Voraussetzung für den Anwendungsvorrang sein. Diese Ansicht unterscheidet deswegen bei der Wirkung des Anwendungsvorrangs zwischen einer Ausschlusswirkung und einer Ersetzungswirkung, die
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Vgl. Kruis, Anwendungsvorrang, S. 106. Dafür Timmermans, CMLR 16 (1979), 533, 538; Lenaerts/Corthaut, ELRev 2006, 287; Langenfeld, DÖV 1992, 955, 962 ff.; Herrmann, Richtlinienumsetzung, S. 61 ff., 78 ff.; ders., EuZW 2006, 69, 70; GA Alber, SchlA Rs. C-343/98, Collino, Slg. 2000, I-6659 Nr. 28 ff.; GA Saggio, SchlA verb. Rs. C-240/98 bis C-244/98, Océano, Slg. 2000, I-4941 Nr. 29 ff.; GA Léger, SchlA Rs. C-287/98, Linster, Slg. 2000, I-6917 Nr. 49 ff. 125
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auch als negative Wirkung (Ausschlusswirkung) und positive Wirkung (Ersetzungswirkung) bezeichnet werden.126 Danach soll der Anwendungsvorrang bei nicht unmittelbar anwendbaren Unionsrechtsnormen dazu führen, dass entgegenstehende nationale Rechtsnormen nicht mehr anwendbar sein sollen, ohne dass sich der Normbefehl der nicht unmittelbar anwendbaren Unionsrechtsnorm an die Stelle der nationalen Rechtsnorm setzt. Diese Konstellation wird insbesondere bei Richtlinienbestimmungen diskutiert, die im Horizontalverhältnis unter Privaten nicht unmittelbar anwendbar sind.127 Dem Vorrang des Unionsrechts wird nach dieser Ansicht eine andere Funktion als die einer Kollisionsregel zugeschrieben, die das anwendbare Recht bestimmen soll. Er soll einen Normbefehl dergestalt beinhalten, dass er dem Unionsrecht entgegenstehendes Recht suspendieren kann, ohne die anstelle des suspendierten Rechts anzuwendende Norm zu berufen.128 Das wäre kein Problem, soweit es in diesem Fall eine unmittelbar anwendbare Unionsrechtsnorm gibt, die dann aus sich heraus angewandt werden kann. Liegt allerdings gerade keine unmittelbar anwendbare Unionsrechtsnorm vor wie etwa bei einer Richtlinienbestimmung im Privatrechtsverhältnis, werden die Schwierigkeiten dieser Ansicht deutlich. In diesem Fall muss nämlich die nationale Rechtsordnung die Suspension der eigenen Norm mangels anderweitigen Anwendungsbefehls durch den Vorrang selbst auffangen. Dies kann zu willkürlichen Ergebnissen in den nationalen Rechtsordnungen führen. Beinhaltete die suspendierte nationale Norm eine Rechtspflicht für den Einzelnen, so fiele durch die Suspension die Rechtspflicht weg. Beinhaltete die suspendierte Norm jedoch eine Einschränkung von anderweitig aufgestellten Rechtspflichten, führte die Suspension dieser Einschränkung zu einer Ausweitung der Rechtspflichten für den Einzelnen.129 Die Willkürlichkeit dieses Ergebnisses, die dem Verzicht des Vorliegens einer unmittelbar anwendbaren Unionsrechtsnorm als Voraussetzung für den Anwendungsvorrang inhärent ist, spricht deutlich gegen diese Ansicht. Hinzu tritt, dass bei Annahme einer schlicht negativen Wirkung des Vorrangs bei Richtlinienbestimmungen die Funktion der Richtlinie als Handlungsform, die die Autonomie der Mitgliedstaaten schonen soll,130 praktisch leerläuft. Die Union würde dann mit der Richtlinie über eine
126
Die Unterscheidung nach negativer und positiver Wirkung findet sich bei Herrmann, Richtlinienumsetzung, S. 33 ff. 127 Zur Nichtanwendbarkeit von Richtlinien im Horizontalverhältnis: EuGH, Rs. C-106/89, Marleasing, Slg. 1990, I-4135 Rn. 6; Rs. C-91/92, Faccini Dori, Slg. 1994, I-3325 Rn. 20, 24 ff. 128 Vgl. etwa Lenaerts/Corthaut, ELRev 2006, 287, 309 f.; GA Saggio, SchlA verb. Rs. C-240/98 bis C-244/98, Océano, Slg. 2000, I-4941 Nr. 30. 129 Vgl. Herresthal, Rechtsfortbildung, S. 81; ders., EuZW 2007, 396, 398. 130 Vgl. Ziffer 6 des Protokolls über die Anwendung der Grundsätze der Subsidiarität und der Verhältnismäßigkeit in der Fassung von 1997, ABl. 2006 C 231/308.
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Handlungsform verfügen, die die Suspendierung nationalen Rechts bei unzureichender Rechtsbefolgung bewirken könnte. Dies entspräche in seiner Wirkung den unmittelbar anwendbaren primärrechtlichen Verboten wie dem Diskriminierungsverbot in Art. 18 AEUV und den Grundfreiheiten. Zugleich könnten mitgliedstaatliche Verstöße gegen Art. 288 Abs. 3 AEUV durch sämtliche mitgliedstaatlichen Gerichte sanktioniert werden. Lehnt man die Existenz einer schlicht negativen Wirkung des Vorrangs ab, ist die Union auf das Vertragsverletzungsverfahren nach Art. 258 AEUV verwiesen.131 Somit lässt sich die Grundannahme der Ansicht, die die unmittelbare Anwendbarkeit als Voraussetzung für den Vorrang des Unionsrechts verneint, nicht überzeugend begründen. Die Trennung von Ausschlusswirkung und Ersetzungswirkung, die den Vorrang mit einem Normbefehl zur Unanwendbarkeit von nationalem Recht, das jedweder Unionsrechtsnorm entgegensteht, ausstattet, widerspricht der Unionsrechtsordnung und der in ihr angelegten Unterscheidung von Normen mit unmittelbarer Anwendbarkeit und solchen ohne unmittelbarer Anwendbarkeit. Sie führt zu willkürlichen Ergebnissen bei Unionsrechtsnormen ohne unmittelbare Anwendbarkeit und ist deshalb abzulehnen.132 Dadurch dass sich die Grundannahme dieser Ansicht nicht aufrechterhalten lässt, ist die auf ihr gründende Ablehnung der unmittelbaren Anwendbarkeit von Unionsrechtsnormen als Vorrausetzung für den Anwendungsvorrang ebenfalls hinfällig. Der Anwendungsvorrang ist daher als Kollisionsregel zu verstehen, die eingreift, wenn und soweit eine Unionsrechtsnorm unmittelbar anwendbar ist. Nur dann kann der für den Anwendungsvorrang notwendige Normenkonflikt mit einer nationalen Rechtsnorm entstehen. IV. Wirkungsweise des Anwendungsvorrangs des Unionsrechts Die Einordnung des Anwendungsvorrangs des Unionsrechts als Kollisionsnorm gibt seine Wirkungsweise vor. Er verweist auf die von ihm berufene Rechtsnorm mit der Wirkung ihrer Anwendbarkeit und der gleichzeitigen Unanwendbarkeit aller anderen Geltung beanspruchenden Rechtsnormen.133 So wenig wie eine Kollisionsnorm sich damit begnügt, die Nichtanwendbarkeit bestimmter Geltung beanspruchender Rechtsnormen anzuordnen, so wenig kann dem Anwendungsvorrang des Unionsrechts eine schlicht entgegenstehendes Recht ausschließende Wirkung entnommen werden.134 Die Kollisionsnorm
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Herresthal, EuZW 2007, 396, 398. Ebenso Herresthal, Rechtsfortbildung, S. 81 ff. 133 Vgl. Kegel, Allgemeines Kollisionsrecht, in: FS von Overbeck, S. 47, 49 ff. 134 S. zur Trennung von Ersetzungs- und Ausschlusswirkung, die insbesondere bei nicht oder falsch umgesetzten Richtlinien relevant wird, Lenaerts/Corthaut, ELRev 2006, 287 ff.; Hermann, Richtlinienumsetzung, S. 58 ff.; Langenfeld, DÖV 1992, 955, 962 ff.; GA Saggio, SchlA verb. Rs. C-240/98 bis C-244/98, Océano, Slg. 2000, I-4941 Nr. 30; GA Léger, SchlA 132
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1. Kapitel: Theorie des unionsrechtlichen Anwendungsvorrangs
will durch Verweisung ein anwendbares Recht berufen. Die Wirkungsweise des Vorrangs des Unionsrechts liegt damit in der Verweisung auf die unionale Rechtsnorm bei gleichzeitiger Unanwendbarkeit der entgegenstehenden nationalen Rechtsnorm.135 Konsequenterweise stellte der EuGH in seinem Urteil in der Rechtssache „Simmenthal II“ hinsichtlich der Wirkungsweise des Vorrangs des Unionsrechts fest, dass „die Vertragsbestimmungen und die unmittelbar geltenden Rechtsakte der Gemeinschaftsorgane in ihrem Verhältnis zum internen Recht der Mitgliedstaaten nicht nur zur Folge [haben], daß allein durch ihr Inkrafttreten jede entgegenstehende Bestimmung des geltenden staatlichen Rechts ohne weiteres unanwendbar wird, sondern auch – da diese Bestimmungen und Rechtsakte vorrangiger Bestandteil der im Gebiet eines jeden Mitgliedstaats bestehenden Rechtsordnung sind –, daß ein wirksames Zustandekommen neuer staatlicher Gesetzgebungsakte insoweit verhindert wird, als diese mit Gemeinschaftsnormen unvereinbar wären.“136 Während damit Klarheit bestand, dass eine bestehende nationale Rechtsnorm gültig bleibt, jedoch im Anwendungsbereich der unionalen Rechtsnorm unanwendbar wird, war zunächst unklar, ob der Erlass widersprechenden nationalen Rechts durch den Vorrang versperrt ist. Wenig später im selben Urteil stellt der EuGH jedoch klar, dass „jeder im Rahmen seiner Zuständigkeit angerufene staatliche Richter verpflichtet ist, das Gemeinschaftsrecht uneingeschränkt anzuwenden und die Rechte, die es den einzelnen verleiht, zu schützen, indem er jede möglicherweise entgegenstehende Bestimmung des nationalen Rechts, gleichgültig, ob sie früher oder später als die Gemeinschaftsnorm ergangen ist, unangewendet läßt.“137 Hiernach ist der Erlass dem Unionsrecht widersprechenden nationalen Rechts auch weiterhin möglich, es bleibt dennoch unangewendet im Anwendungsbereich der unionalen Rechtsnorm.138 Da die Wirkungsweise des Vorrangs des Unionsrechts lediglich darin besteht, die unionale Rechtsnorm zur Anwendung zu berufen und gleichzeitig die Unanwendbarkeit der konfligierenden nationalen Rechtsnorm anzuordnen, richten sich alle weiteren Wirkungen der unionalen Rechtsnorm im mitgliedstaatlichen Rechtsraum nach dem mit unmittelbarer Anwendbarkeit ausgestatteten Rechtsbefehl der unionalen Rechtsnorm.139
Rs. C-287/98, Linster, Slg. 2000, I-6917 Nr. 49 ff.; GA Bot, SchlA Rs. C-555/07, Kücükdeveci, Slg. 2010, I-365 Nr. 63 f. Diese Trennung wird vorliegend abgelehnt, s. gerade oben S. 39 f. 135 Vgl. auch Ipsen, Gemeinschaftsrecht, § 10 Rn. 55, S. 288. 136 EuGH, Rs. 106/77, Simmenthal II, Slg. 1978, 629 Rn. 17/18. 137 EuGH, Rs. 106/77, Simmenthal II, Slg. 1978, 629 Rn. 21/23. 138 Bestätigt durch EuGH, Rs. C-10/97, IN.CO.GE.’90, Slg. 1998, I-6307 Rn. 21. 139 Siehe oben S. 41 f.
D. Verhältnis zwischen Unionsrecht und mitgliedstaatlichem Recht
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V. Vermeidung von Normenkonflikten durch unionsrechtskonforme Auslegung Der Normenkonflikt zwischen der nationalen Rechtsnorm und der unionalen Rechtsnorm lässt sich durch eine unionsrechtskonforme Auslegung der nationalen Rechtsnorm vermeiden.140 Diese Möglichkeit, die Wirkungsweise des Anwendungsvorrangs in der nationalen Rechtsordnung in Form der Unanwendbarkeit der nationalen Rechtsnorm und ihrer Ersetzung durch die unmittelbar anwendbare Unionsrechtsnorm zu vermeiden, macht deutlich, dass die unionsrechtskonforme Auslegung nationalen Rechts eng mit dem Vorrang des Unionsrechts verwandt ist. Denn wenn der nationale Richter dazu verpflichtet ist, im Kollisionsfall das nationale Recht unangewendet zu lassen, dann muss er erst recht dazu berechtigt sein, die nationale Rechtsnorm durch eine unionsrechtskonforme Auslegung „zu retten“.141 Somit ist der Geltungsgrund für die unionsrechtskonforme Auslegung, soweit ihr Bezugspunkt unmittelbar anwendbares Unionsrecht ist, im Vorrang des Unionsrechts zu finden ist.142 Soweit der Bezugspunkt der unionsrechtskonformen Auslegung Unionsrecht bildet, das nicht unmittelbar anwendbar ist, ist ihr Geltungsgrund in Art. 4 Abs. 3 UAbs. 2 EUV zu finden.143 Dann handelt es sich bei der unionsrechtskonformen Auslegung jedoch nicht um einen Fall der Vermeidung eines Normenkonfliktes, da ein solcher nach hier vertretener Ansicht mangels unmittelbarer Anwendbarkeit der in ihren Rechtsfolgen divergierenden Unionsrechtsnorm gar nicht erst entsteht. Die richtlinienkonforme Auslegung als Sonderfall der unionsrechtskonformen Auslegung mit nicht unmittelbar anwendbarem Unionsrecht als Bezugspunkt findet ihren Geltungsgrund in der Umsetzungspflicht in Art. 288 Abs. 3 AEUV, der Art. 4 Abs. 3 UAbs. 2 EUV als speziellere Norm insoweit verdrängt.144
140
Zuleeg, in: Schulze, Auslegung europäischen Privatrechts und angeglichenen Rechts, S. 163, 168; ders., VVDStRL 53 (1994), 154, 165. 141 Vgl. auch Höpfner, Die systemkonforme Auslegung, S. 240. 142 Vgl. Müller-Graff, in: Dauses, Handbuch des EU-Wirtschaftsrechts, A.I., Rn. 83; ders., NJW 1993, 13, 21 f.; ders., DRiZ 1996, 259, 312 ff.; Ehricke, RabelsZ 59 (1995), 598, 630; Leible/Domröse, Die primärrechtskonforme Auslegung, in: Riesenhuber, Europäische Methodenlehre, § 9 Rn. 46 ff.; Franzen, Privatrechtsangleichung, S. 300. 143 So Kahl, in: Calliess/Ruffert, Art. 4 EUV Rn. 92; Herrmann, Richtlinienumsetzung, S. 103; Langenbucher, in: Langenbucher, Europäisches Privat- und Wirtschaftsrecht, § 1 Rn. 53. 144 Vgl. Brechmann, Die richtlinienkonforme Auslegung, S. 256 ff.; Herrmann, Richtlinienumsetzung, S. 108 ff.; Franzen, Privatrechtsangleichung, S. 299 f.; Canaris, in: FS Bydlinski, S. 47, 62.
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1. Kapitel: Theorie des unionsrechtlichen Anwendungsvorrangs
1. Reichweite der unionsrechtskonformen Auslegung Der EuGH verlangt vom nationalen Richter, die nationale Rechtsnorm „soweit wie möglich“145 und „unter voller Ausschöpfung des Beurteilungsspielraums“146, den das nationale Recht dem Richter einräumt, auszulegen. Dies macht deutlich, dass die „Auslegung“ für den EuGH nicht an der Wortlautgrenze einer Norm endet.147 Vielmehr erfasst die unionsrechtskonforme „Auslegung“ in der Terminologie des EuGH sowohl die Auslegung als auch die Rechtsfortbildung im Verständnis der deutschen juristischen Methodenlehre. Die unionsrechtskonforme „Auslegung“ ist mithin nach dem EuGH ein Oberbegriff für die Gesamtheit der Methodenregeln der nationalen Rechtsordnungen, mit denen eine Rechtsnorm übergeordneten Normzwecken angepasst werden kann. Dabei dockt der EuGH mit seinem Verweis auf den Beurteilungsspielraum, den das „nationale Recht“ dem nationalen Richter einräumt, bewusst an die nationalen Methodenregeln und vor allem an deren Grenzen an, die je nach Mitgliedstaat unterschiedlich sein können.148 Für die deutsche Rechtsordnung gilt damit die Wortlautgrenze, bis zu der eine nationale Rechtsnorm unionsrechtskonform ausgelegt werden kann,149 und die „contra legem“Grenze, bis zu der eine nationale Rechtsnorm unionsrechtskonform fortgebildet werden kann.150 2. Vorrang der unionsrechtskonformen Auslegung Das Verhältnis des Anwendungsvorrangs des Unionsrechts und der unionsrechtskonformen Auslegung hat der EuGH in der Rechtssache „Murphy“151 betreffend den unmittelbar anwendbaren Art. 157 Abs. 1 AEUV angesprochen: „Es ist Sache des nationalen Gerichts, das innerstaatliche Gesetz unter voller Ausschöpfung des Beurteilungsspielraums, den ihm das nationale Recht einräumt, in Übereinstimmung mit
145
EuGH, Rs. C-165/91, van Munster, Slg. 1994, I-4661 Rn. 34; verb. Rs. C-270/97 und C-271/97, Deutsche Post, Slg. 2000, I-932 Rn. 62; Rs. C-262/97, Engelbrecht, Slg. 2000, I-7321 Rn. 39 f. 146 EuGH, Rs. 157/86, Murphy, Slg. 1988, 673 Rn. 11; Rs. C-200/91, Colorell Pensions Trustees, Slg. 1994, I-4389 Rn. 29; Rs. C-357/06, Frigerio Luigi, Slg. 2007, I-12311 Rn. 28; verb. Rs. C-395/08 und C-396/08, Bruno, Slg. 2010, I-5119 Rn. 74. 147 Herresthal, Rechtsfortbildung, S. 317 f.; Hergenröder, JZ 1997, 1174, 1176. 148 Vgl. Leible/Domröse, in: Riesenhuber, Europäische Methodenlehre, § 9 Rn. 55. 149 Vgl. nur Looschelders/Roth, Juristische Methodik, S. 67 m.w.N. 150 Vgl. nur Larenz/Canaris, Methodenlehre, S. 245 ff.; EuGH, Rs. C-212/04, Adeneler, Slg. 2006, I-6057 Rn. 110; Rs. C-26/13, Kásler, EU:C:2014:282, Rn. 65; vertieft hierzu später unter S. 62 ff. 151 EuGH, Rs. 157/86, Murphy, Slg. 1988, 673.
D. Verhältnis zwischen Unionsrecht und mitgliedstaatlichem Recht
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den Anforderungen des Gemeinschaftsrechts auszulegen und anzuwenden; soweit eine solche gemeinschaftsrechtskonforme Auslegung nicht möglich ist, darf es entgegenstehende innerstaatliche Vorschriften nicht anwenden.“152
Aufgrund der Verwendung der restriktiven Konjunktion „soweit“ durch den EuGH wird die Ansicht vertreten, es gebe einen Vorrang der unionsrechtskonformen Auslegung vor dem Anwendungsvorrang und damit eine Pflicht für den nationalen Richter zur unionsrechtskonformen Auslegung.153 Eine solche Pflicht zur unionsrechtskonformen Auslegung ist dem Unionsrecht allerdings nicht zu entnehmen.154 Die Methodenregeln, nach deren Vorgaben ein nationaler Richter Recht auszulegen und anzuwenden hat, sind Teil der nationalen Rechtsordnung. Das Unionsrecht kann den Methodenregeln keine Vorgaben machen, soweit nicht durch deren Anwendung die effektive Wirksamkeit und die einheitliche Anwendung des Unionsrechts geschmälert wird. Aus der Perspektive des Unionsrechts kann, soweit eine unmittelbar anwendbare Norm betroffen ist, ein unionsrechtskonformer Rechtszustand im mitgliedstaatlichen Rechtsraum immer durch Suspendierung der nationalen Rechtsnorm erreicht werden. Daher ist dem Unionsrecht selbst kein Gebot zu entnehmen, bei einem Normenkonflikt und der Möglichkeit einer unionsrechtskonformen Auslegung zu Gunsten der Schonung der nationalen Rechtsnorm auf die Auslegung zurückzugreifen. Wohl aber ist dem Unionsrecht ein Gebot zu entnehmen, dass der nationale Richter, wenn er sich gegen die Suspendierung und damit für eine weitere Anwendbarkeit der nationalen Rechtsnorm entscheidet, im Rahmen der Auslegung dieser Rechtsnorm diejenige Auslegungsmethode zu wählen hat, die einen unionsrechtskonformen Zustand herstellt. Hierbei handelt es sich um eine interpretatorische Vorrangregel, die eine unionale Vorgabe für die zur Auswahl stehendenden nationalen Auslegungsmethoden formuliert.155 Ob der nationale Richter allerdings zur Auslegung der nationalen Rechtsnorm oder zu ihrer Suspendierung greift, bleibt aus Sicht des Unionsrechts dem nationalen Richter überlassen.156 Eine Pflicht zur unionsrechtskonformen Auslegung einer nationalen Rechtsnorm gegenüber ihrer Unanwendbarkeit kann sich aber aus dem nationalen Verfassungsrecht ergeben, das den nationalen Richter und seine Methodologie
152
EuGH, Rs. 157/86, Murphy, Slg. 1988, 673 Rn. 11. Leible/Domröse, in: Riesenhuber, Europäische Methodenlehre, § 9 Rn. 46 f., 49; Höpfner, Die systemkonforme Auslegung, S. 245. 154 Kruis, Anwendungsvorrang, S. 160 ff.; Nettesheim, AöR 119 (1994), 261, 269. 155 Canaris, in: FS Bydlinski, S. 47, 64 ff. 156 Kruis, Anwendungsvorrang, S. 161; Nettesheim, AöR 119 (1994), 261, 269. 153
46
1. Kapitel: Theorie des unionsrechtlichen Anwendungsvorrangs
umfassend bindet. Hier streitet der „favor legis“, den das BVerfG bei der verfassungskonformen Auslegung als Grundlage heranzieht,157 für eine verfassungsrechtliche Pflicht zur unionsrechtskonformen Auslegung.158 Der Gedanke des „favor legis“, wonach das nationale Gesetz als Willensäußerung des demokratisch legitimierten Gesetzgebers soweit aufrecht zu erhalten ist, wie es die rechtlichen Grenzen der Methodenregeln zulassen, greift auch bei der unionsrechtskonformen Auslegung.159 Der schonende Schutz des nationalen Gesetzgebers gegenüber der nationalen Judikative ist keine Aufgabe der Unionsrechtsordnung, sondern zutreffenderweise des nationalen Verfassungsrechts. 3. Vorrang der unionsrechtskonformen Rechtsfortbildung Das unter 1. dargestellte terminologisch weite Verständnis des EuGH von „Auslegung“ wirft die Frage auf, ob neben einem verfassungsrechtlich gebotenen Vorrang der unionsrechtskonformen Auslegung nationalen Rechts nach dem Verständnis der deutschen Methodenlehre auch ein Vorrang einer unionsrechtskonformen Rechtsfortbildung angenommen werden kann, um den Normenkonflikt zwischen nationaler Rechtsnorm und unmittelbar anwendbarer Unionsrechtsnorm zu vermeiden, der den Anwendungsvorrang auslöst. Nähme man eine derartige Pflicht zur unionsrechtskonformen Rechtsfortbildung an, würde der Anwendungsvorrang des Unionsrechts letztlich der Überwindung der „contra legem“-Grenze dienen. Voraussetzung, um überhaupt eine unionsrechtskonformen Rechtsfortbildung im Anwendungsbereich einer unmittelbar anwendbaren Unionsrechtsnorm zu diskutieren, ist das mögliche Vorhandensein einer ausfüllungsbedürftigen Regelungslücke.160 Deren Fehlen ist der Grund für die Position derjenigen, die eine unionsrechtskonforme Rechtsfortbildung ablehnen, bevor der Anwendungsvorrang greift.161 Hiernach dient die Rechtsfortbildung ausschließlich der „Reparatur“ von Lücken, die der Anwendungsvorrang in der nationalen Rechtsordnung eröffnet hat, und nicht der Vermeidung des vorgelagerten Normenkonflikts. Dadurch dass eine unmittelbar anwendbare Unionsrechtsnorm ex lege gilt, könne sie nicht zugleich anstelle einer nationalen Rechtsnorm angewandt werden und eine planwidrige Lücke bei angenommener fortwährender Anwendbarkeit der betroffenen nationalen 157
BVerfGE 32, 373, 383 f.; 51, 304, 323; 64, 229, 242. Kruis, Anwendungsvorrang, S. 161 f.; Nettesheim, AöR 119 (1994), 261, 269 f. 159 Höpfner/Rüthers, AcP 209 (2009), 1, 23 f.; Nettesheim, AöR 119 (1994), 261, 269. 160 Vorliegend wird zunächst vom traditionellen herrschenden Verständnis der Rechtsfortbildung ausgegangen, vgl. nur Larenz/Canaris, Methodenlehre, S. 191 ff. Inwieweit der Lückenbegriff im Anwendungsbereich des Unionsrechts zu modifizieren ist, wird an anderer Stelle diskutiert (unten S. 55 ff.). Diese Frage ist für die vorliegend zu behandelnde Frage nach dem Vorrang einer unionsrechtskonformen Rechtsfortbildung vor der Anwendung des Anwendungsvorrangs von nachrangiger Bedeutung. 161 Kruis, Anwendungsvorrang, S. 166; Höpfner, Die systemkonforme Auslegung, S. 235. 158
D. Verhältnis zwischen Unionsrecht und mitgliedstaatlichem Recht
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Rechtsnorm begründen. Die für eine Lücke notwendige „Planabweichung“ nach herrschender Methodenlehre läge nämlich in der Divergenz von den Vorgaben der unmittelbar anwendbaren Unionsrechtsnorm und dem Inhalt der nationalen Rechtsnorm begründet, die aber gerade durch den Anwendungsvorrang als Kollisionsregel aufzulösen ist.162 Hieraus folge, dass mangels planwidriger Regelungslücke eine unionsrechtskonforme Rechtsfortbildung im Anwendungsbereich unmittelbar anwendbaren Rechts nicht möglich ist, so dass auch die Frage nach einem Vorrang der unionsrechtskonformen Rechtsfortbildung nicht behandelt werden muss. Dieser Ansicht ist jedoch entgegenzuhalten, dass es durchaus einen Bereich gibt, in dem eine Rechtsfortbildung auch im Anwendungsbereich unmittelbar anwendbaren Unionsrechts neben dem Anwendungsvorrang denkbar ist. Die soeben dargestellte Gedankenkette eröffnet den Blick hierauf. Ähnlich der Argumentation zur verfassungskonformen Rechtsfortbildung163 kann man im Hinblick auf die unionsrechtskonforme Rechtsfortbildung im Anwendungsbereich unmittelbar anwendbaren Unionsrechts darauf verweisen, dass es sich bei dem Unionsrecht „zwar um unmittelbar geltendes Recht [handelt], das aber noch nicht oder nur erst teilweise zu Rechtssätzen ausgeformt ist“.164 Insbesondere in den Fällen, in denen die unmittelbar anwendbare Unionsrechtsnorm lediglich einen negativen Normbefehl beinhaltet, sind verschiedene Regelungen denkbar, mit denen den Vorgaben der Unionsrechtsnorm in der nationalen Rechtsordnung entsprochen werden kann. Vor diesem Hintergrund wird deutlich, wieso sich der Anwendungsvorrang und eine mögliche unionsrechtskonforme Rechtsfortbildung unterscheiden. Der Anwendungsvorrang führt zu einer Unanwendbarkeit der konfligierenden nationalen Rechtsnorm mit der Folge einer möglichen Lückenhaftigkeit der nationalen Rechtsordnung. Bei der alternativen unionsrechtskonformen Rechtsfortbildung besteht die planwidrige Regelungslücke in der Abweichung vom Gebot der Unionsrechtskonformität mit den Vorgaben der unmittelbar anwendbaren Unionsrechtsnorm im Verbund mit dem bereits bei der unionsrechtskonformen Auslegung angeführten verfassungsrechtlichen Gebot der Aufrechterhaltung der nationalen Rechtsnorm, dem „favor legis“.165 Soweit in der nationalen Rechtsordnung den Vorgaben einer unmittelbar anwendbaren Unionsrechtsnorm in mehrfacher Weise entsprochen werden kann, ergibt sich ein Unterschied zwischen Anwendungsvorrang und unionsrechtskonformer Rechtsfortbildung. Erst beim Erreichen
162
Kruis, Anwendungsvorrang, S. 166. Vgl. Larenz/Canaris, Methodenlehre, S. 161. Gegen eine verfassungskonforme Rechtsfortbildung sprechen sich Vosskuhle, AöR 125 (2000), 177, 197 f.; Geis, NJW 1992, 2938, 2939; Stern, NJW 1958, 1435 aus. 164 Larenz/Canaris, Methodenlehre, S. 161. 165 So für die verfassungskonforme Rechtsfortbildung Larenz/Canaris, Methodenlehre, S. 161 mit Verweis auf das Gebot der Verfassungskonformität. 163
48
1. Kapitel: Theorie des unionsrechtlichen Anwendungsvorrangs
der „contra legem“-Grenze wird der Anwendungsvorrang alternativlos. Allein er ermöglicht die Überwindung dieser Grenze. Akzeptiert man, dass es einen Unterschied zwischen unionsrechtskonformer Rechtsfortbildung und Anwendungsvorrang gibt, stellt sich die Frage nach der Pflicht zur unionsrechtskonformen Rechtsfortbildung, die aus Gründen des nationalen Verfassungsrechts wegen des „favor legis“ zu Gunsten eines Vorrangs der Rechtsfortbildung beantwortet werden muss. Die dem nationalen Recht entnommene Pflicht kennt das Unionsrecht nicht. Aus dessen Sicht gilt auch bei der unionsrechtskonformen Rechtsfortbildung zur Normenkonfliktvermeidung dasselbe wie bei der unionsrechtskonformen Auslegung: Sobald ein Normenkonflikt vom nationalen Richter festgestellt wird, kann dieser zum Anwendungsvorrang greifen, ohne dass zuvor eine „Rettung“ der nationalen Rechtsnorm durch Auslegung oder Rechtsfortbildung erfolgt sein muss. Der hier vertretene Vorrang der unionsrechtskonformen Rechtsfortbildung vor dem Anwendungsvorrang dient zudem der Transparenz. Er macht deutlich, dass der Anwendungsvorrang greift, wenn die „contra legem“-Grenze erreicht ist, und weist damit die Verantwortlichkeit für das Überschreiten der „contra legem“-Grenze dem unmittelbar anwendbaren Unionsrecht zu. Diese klare Zuweisung wird zu einem späteren Zeitpunkt der Untersuchung relevant.166 Bei Auslandssachverhalten, bei deren rechtlicher Behandlung mehrere nationale Rechtsordnungen involviert sind, die durch das Kollisionsrecht der lex fori koordiniert werden, erlaubt der Vorrang der unionsrechtskonformen Rechtsfortbildung vor dem Anwendungsvorrang die genaue Identifizierung derjenigen Teilnorm der aus einer Kollisions- und Sachnormen zusammengesetzten Gesamtnorm, deren „contra legem“-Grenze mit dem Anwendungsvorrang zu überwinden ist. Nimmt man, wie vorliegend, eine Rechtsfortbildungsbefugnis des Richters der lex fori für ausländisches Sachrecht im Anwendungsbereich des Unionsrechts an, muss der Richter den Vorgaben des Unionsrechts spätestens beim Erreichen der „contra legem“-Grenze des ausländischen Sachrechts mit kollisionsrechtlichen Instrumenten der lex fori entsprechen. Würde man einen Vorrang der unionsrechtskonformen Rechtsfortbildung ablehnen, könnte der Richter der lex fori im Anwendungsbereich unmittelbar anwendbaren Unionsrechts durch schlichte Suspension des Auslandssachrechts bereits den Vorgaben des Unionsrechts genügen, ohne zuvor kollisionsrechtliche Lösungen gesucht zu haben, obwohl diese möglicherweise schonender mit den nationalen Rechtsordnungen umgehen würden als der Anwendungsvorrang. Der hier vertretenen Lösung einer Zulässigkeit und des gleichzeitigen Vorrangs unionsrechtskonformer Rechtsfortbildung lässt sich das Argument derer,
166
Siehe unten S. 312 ff.
D. Verhältnis zwischen Unionsrecht und mitgliedstaatlichem Recht
49
die eine verfassungskonforme Rechtsfortbildung ablehnen,167 nicht entgegenhalten, die Judikative schwinge sich hierdurch zum Ersatzgesetzgeber auf. Die Judikative vermeidet vielmehr mit der unionsrechtskonformen Rechtsfortbildung die Nichtanwendbarkeit des vom nationalen Gesetzgeber geschaffenen Rechts. Hierdurch wird zugleich erneut die Grenze der unionsrechtskonformen Rechtsfortbildung zur Normenkonfliktvermeidung verdeutlicht. Dort, wo der Normenkonflikt durch die Instrumente der Rechtsfortbildung nicht mehr vermieden werden kann, muss er transparent gemacht und mittels Anwendungsvorrang aufgelöst werden. Die damit in der nationalen Rechtsordnung eröffnete Lücke ist selbst wieder mit den Instrumenten der Rechtsfortbildung zu schließen.168 Es handelt sich dann aber nicht mehr um eine unionsrechtskonforme Rechtsfortbildung, sondern um eine Rechtsfortbildung der nationalen Rechtsordnung infolge unmittelbar anwendbaren Unionsrechts.169 4. Besonderheiten der richtlinienkonformen Auslegung Die richtlinienkonforme Auslegung hat einige Besonderheiten im Vergleich zu der gerade skizzierten unionsrechtskonformen Auslegung als Vermeidung von Normenkonflikten. Richtlinienbestimmungen sind zumindest im Horizontalverhältnis nicht unmittelbar anwendbar.170 Somit nehmen solche Richtlinienbestimmungen nicht am Anwendungsvorrang des Unionsrechts teil. Daher verfügt der nationale Richter nicht über die Alternative der Suspendierung der nationalen Rechtsnorm, wenn deren Rechtsfolgen von denjenigen der Richtlinienbestimmung abweichen. Dadurch, dass diese Alternative fehlt, greift das zentrale Argument für die Ablehnung einer unionsrechtlichen Pflicht zur unionsrechtskonformen Auslegung bei der richtlinienkonformen Auslegung nicht mehr. Somit wird aus der Perspektive des Unionsrechts aus dem Gebot der unionsrechtskonformen Auslegung für den Fall, dass sich der nationale Richter bei einem Normenkonflikt mit einer unmittelbar anwendbaren Unionsrechtsnorm nach den Maßstäben seiner nationalen Rechtsordnung gegen eine Suspendierung der nationalen Rechtsnorm entschieden hat, eine Pflicht zur richtlinienkonformen Auslegung, wenn sich eine nationale Rechtsnorm im Anwendungsbereich einer Richtlinienbestimmung befindet.171 Die Reichweite der richtlinienkonformen Auslegung wird dabei vom EuGH in der Rechtssache „Pfeiffer“ wie folgt gezogen:
167
Vosskuhle, AöR 125 (2000), 177, 197 f.; Geis, NJW 1992, 2938, 2939; Stern, NJW 1958, 1435. 168 Vgl. Herresthal, Rechtsfortbildung, S. 272 f. 169 Dazu siehe unten S. 69 f. 170 EuGH, Rs. C-106/89, Marleasing, Slg. 1990, I-4135 Rn. 6; Rs. C-91/92, Faccini Dori, Slg. 1994, I-3325 Rn. 20, 24 ff. 171 Franzen, Privatrechtsangleichung, S. 300.
50
1. Kapitel: Theorie des unionsrechtlichen Anwendungsvorrangs
„Bei der Anwendung des innerstaatlichen Rechts, insbesondere der Bestimmungen einer speziell zur Umsetzung der Vorgaben einer Richtlinie erlassenen Regelung, muss das nationale Gericht das innerstaatliche Recht außerdem so weit wie möglich anhand des Wortlauts und des Zweckes dieser Richtlinie auslegen, um das in ihr festgelegte Ergebnis zu erreichen und so [Art. 288 Abs. 3 AEUV] nachzukommen.“172
Somit umfasst die richtlinienkonformen „Auslegung“ in unionsrechtlicher Terminologie auch die richtlinienkonforme Rechtsfortbildung.173 Es handelt sich bei ihr um eine interpretatorische Vorrangregel.174
E. Zwischenergebnis E. Zwischenergebnis
Der unionsrechtliche Anwendungsvorrang setzt sich aus dem von der Unionsrechtsordnung formulierten Geltungsanspruch in sämtlichen mitgliedstaatlichen Rechtsräumen, einer Verpflichtung der Mitgliedstaaten nach Art. 4 Abs. 3 UAbs. 2 EUV zur Schaffung eines rechtlichen Mechanismus, der diesen Geltungsanspruch im mitgliedstaatlichen Rechtsraum anerkennt, und einer einseitigen Kollisionsnorm auf unionale Sachnormen zusammen. Dualistisch geprägte Verfassungen wie das deutschen Grundgesetz beinhalten zur Umsetzung der Pflicht aus Art. 4 Abs. 3 UAbs. 2 EUV eine Kollisionsnorm verfassungsrechtlichen Rangs, die im Konfliktfall einer nationalen Sachnorm mit einer unionalen Sachnorm entweder als Sachnormverweisung direkt die unionale Sachnorm zur Anwendung beruft oder als Gesamtverweisung auf die unionale Kollisionsnorm verweist, die ihrerseits die unionale Sachnorm zur Anwendung beruft. Monistisch geprägte Verfassungen entsprechen dieser Pflicht bereits durch den von ihnen dem Völkerrecht eingeräumten hierarchischen Vorrang. Der Anwendungsvorrang ist dabei auf Unionsrechtsnormen beschränkt, die unmittelbar anwendbar sind. Er beruft im Fall eines Konfliktes der Rechtsfolgen einer unionalen Rechtsnorm und einer nationalen Rechtsnorm die Unionsrechtsnorm zur Anwendung und ordnet die Unanwendbarkeit der konfligierenden nationalen Rechtsnorm an. Die weiteren Rechtsfolgen bestimmen sich nach dem Normbefehl der unmittelbar anwendbaren Unionsnorm. Zur Vermeidung des den Anwendungsvorrang auslösenden Normenkonflikt streitet der verfassungsrechtliche „favor legis“ für einen Vorrang der unionsrechtskonformen Auslegung und der unionsrechtskonformen Rechtsfortbildung. Diese dem nationalen Recht zu entnehmende Pflicht findet sich im Unionsrecht nicht wieder. Hiernach ist der nationale Richter ab der Feststellung 172
EuGH, verb. Rs. C-397/01 bis C-403/01, Pfeiffer, Slg. 2004, I-8835 Rn. 113. Soweit eine Richtlinienvorschrift nicht unmittelbar anwendbar ist, gelten die Besonderheiten bezüglich der Lückenfeststellung und Lückenfüllung, wie sie sogleich ab S. 54 dargestellt werden. 174 Roth, in: Riesenhuber, Europäische Methodenlehre, § 14 Rn. 26. 173
E. Zwischenergebnis
51
eines Normenkonfliktes dazu befugt, die nationalen Rechtsnorm zu suspendieren und an ihrer Stelle den Normbefehl der unmittelbar anwendbaren Unionsrechtsnorm anzuwenden.
Kapitel 2
Einwirkungen des Unionsrechts in die nationale Privatrechtsordnung Die Einwirkungen des Unionsrechts in die nationalen Privatrechtsordnungen erfolgen auf zweierlei Weise. Zum einen ersetzen unmittelbar anwendbare Unionsrechtsnormen nationale Rechtsnormen, deren Rechtsfolgen mit denjenigen der Unionsrechtsnorm konfligieren. Zum anderen wirkt das Unionsrecht mittelbar über das Gebot der unionsrechtskonformen Auslegung und Rechtsfortbildung mit Instrumenten der Methodenlehre in die nationale Rechtsordnung ein, ohne dass eine Unionsrechtsnorm unmittelbar zur Anwendung gelangt (A.). Die Art der Einwirkung lässt die Frage nach der Reichweite der Einwirkung unberührt. Sie ist folglich in einem zweiten Schritt zu untersuchen. Die Reichweite der Einwirkung wird vom Normbefehl der Unionsrechtsnorm determiniert. Daher ist sie auch nur in Abhängigkeit von einer konkreten Unionsrechtsnorm bestimmbar. Vor diesem Hintergrund soll die Reichweite derjenigen Unionsrechtsnormen näher betrachtet und kategorisiert werden, die auf das für die vorliegende Untersuchung relevante Privatrechtsverhältnis mit Auslandsbezug einwirken (B.).
A. Arten der Einwirkung des Unionsrechts in nationale Rechtsordnungen A. Arten der Einwirkung des Unionsrechts in nationale Rechtsordnungen
Die Einwirkungen des Unionsrechts in die nationalen Rechtsordnungen sind unterschiedlich je nachdem, ob eine Unionsrechtsnorm unmittelbar anwendbar ist. Unmittelbar anwendbare Unionsrechtsnormen wirken kraft Anwendungsvorrangs, indem sie anstelle einer entgegenstehenden nationalen Norm in der nationalen Rechtsordnung anzuwenden sind (I.). Ihr Normbefehl kann aber bereits unterhalb der Schwelle des Anwendungsvorrangs, wie gesehen,1 auf die nationale Norm im Wege der unionsrechtskonformen Auslegung und Rechtsfortbildung einwirken, ohne dass es hierzu eine unionsrechtliche Pflicht gäbe (II.). Zudem kann es infolge der unmittelbaren Anwendung solcher Unions-
1
Siehe gerade S. 43 ff. (zur unionsrechtskonformen Auslegung) und S. 54 ff. (zur unionsrechtskonformen Rechtsfortbildung).
A. Arten der Einwirkung des Unionsrechts in nationale Rechtsordnungen
53
rechtsnormen zu Lücken in der nationalen Rechtsordnung kommen. Zwar wirken unmittelbar anwendbare Rechtsnormen ex lege, sie sind jedoch als supranationale Normen nicht Teil des nationalen gesetzgeberischen Gesamtplans. Die anschließende Lückenfüllung infolge unmittelbar anwendbarer Unionsrechtsnormen folgt grundsätzlich den Regeln der nationalen Methodenlehre, eröffnet aber zugleich die Möglichkeit der Einwirkung der gesamten Unionsrechtsordnung, indem ihre Vorgaben bei der Lückenfüllung zu berücksichtigen sind (III.). Unionsrechtsnormen, die nicht unmittelbar anwendbar sind, können nicht anstelle entgegenstehenden nationalen Rechts angewandt werden. Mangels unmittelbarer Anwendbarkeit nehmen sie nicht am Anwendungsvorrang teil. Diese Unionsrechtsnormen können alleine im Wege der unionsrechtskonformen Auslegung und Rechtsfortbildung Berücksichtigung finden. Konfligieren die Rechtsfolgen nationaler Rechtsnormen mit ihnen, wird die unionsrechtskonforme Auslegung und Rechtsfortbildung der nationalen Rechtsnorm zur Pflicht, da andere Wege der richterlichen Berücksichtigung für Normen, denen die unmittelbare Anwendbarkeit im mitgliedstaatlichen Rechtsraum fehlt, ausgeschlossen sind. Stellt das nationale Gericht im Abgleich mit Unionsrechtsnormen, die nicht unmittelbar anwendbar sind, die Lückenhaftigkeit der nationalen Rechtsordnung fest, muss es, wie im Folgenden zu zeigen sein wird, auch solche Unionsrechtsnormen bei der Lückenfüllung berücksichtigen. Die im Folgenden unter II. zu betrachtende unionsrechtskonforme Rechtsfortbildung umfasst damit als eine Form der Einwirkung des Unionsrechts in die nationalen Rechtsordnungen auch Unionsrechtsnormen, die nicht unmittelbar anwendbar sind. I. Anwendung unmittelbar anwendbarer Unionsrechtsnormen Grundlage jeder Überlegung über die Einwirkungen des Unionsrechts in die nationale Rechtsordnung bildet der Anwendungsvorrang des Unionsrechts, der eine unmittelbar anwendbare Unionsnorm, deren Rechtsfolgen von denjenigen des nationalen Rechts abweichen, zur Anwendung beruft und zugleich die Unanwendbarkeit der entgegenstehenden nationalen Rechtnorm anordnet. Der Vorrang besteht aus zwei Schritten, die zusammenfallen: der Unanwendbarkeit der nationalen Rechtsnorm, soweit ihre Rechtsfolgen denjenigen der unionalen Rechtsnorm widersprechen (Suspensivwirkung), und der Anwendung der unionalen Rechtsnorm (Ersetzungswirkung). Diese Suspensivwirkung tritt ex lege ein. Durch die Rücknahme des Ausschließlichkeitsanspruchs der eigenen nationalen Hoheitsgewalt gegenüber der supranationalen Unionsrechtsordnung in Art. 23 Abs. 1 GG ist das Unionsrecht aus der Perspektive des nationalen Gerichts ein Gesetz im Sinne des Art. 20 Abs. 3 GG, an das er gemäß Art. 97
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2. Kapitel: Einwirkungen des EU-Rechts in die nationale Privatrechtsordnung
Abs. 1 GG gebunden ist.2 Das nationale Gericht hat hierfür in einer dreistufigen Prüfung zunächst das nationale Recht unter Außerachtlassung jeglicher unionsrechtlicher Einwirkung auszulegen, bevor es auf zweiter Stufe das unmittelbar anwendbare Unionsrecht unter eventueller Einholung einer Vorabentscheidung des EuGH nach Art. 267 AEUV auslegt, um dann auf dritter Stufe die Reichweite der Suspensivwirkung festzustellen.3 Dabei steht es dem nationalen Gericht frei, die Unanwendbarkeit der nationalen Norm dadurch zu vermeiden, dass es innerhalb der Grenzen der nationalen Methodenlehre die nationale Norm erneut, aber nunmehr unionsrechtskonform auslegt oder fortbildet.4 Mit der unmittelbar anwendbaren Unionsrechtsnorm wird nun eine Norm zur Anwendung berufen, die ungeachtet dessen, ob der Normbefehl ein Verbot oder ein Gebot ausspricht, ein Fremdkörper in der nationalen Rechtsordnung ist, so dass die nationale Rechtsordnung dadurch lückenhaft werden kann.5 Dies macht deutlich, dass neben dem ex lege vom nationalen Richter zu berücksichtigenden Anwendungsvorrang des Unionsrechts eine Regelungslücke in der nationalen Rechtsordnung entstehen kann, die mit den Methoden der richterlichen Rechtsfortbildung zu schließen ist (Rechtsfortbildung infolge unmittelbar anwendbaren Unionsrechts).6 II. Unionsrechtskonforme Rechtsfortbildung aufgrund von Unionsrecht Bevor die Suspensiv- und Ersetzungswirkung des Anwendungsvorrangs greifen, kann aufgrund nationalen Rechts eine unionsrechtskonforme Auslegung und Rechtsfortbildung zur Vermeidung des den Anwendungsvorrang auslösenden Normenkonflikts erfolgen.7 Beide Instrumente wirken gegenüber der nationalen Rechtsnorm schonender als die Suspensiv- und Ersetzungswirkung des Anwendungsvorrangs, so dass die Einwirkung des Unionsrechts über die Methodenlehre der jeweiligen nationalen Rechtsordnung als grundsätzlich schwächer einzuordnen ist. Besonderer Betrachtung bedarf dabei die Einwirkung des Unionsrechts über die unionsrechtskonforme Rechtsfortbildung. Mit ihr wird nämlich der Normbefehl der nationalen Rechtsnorm an die unionsrechtlichen
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Vgl. Herzog/Grzeszick, in: Maunz/Dürig, Art. 20 GG Rn. 163. Vgl. Herresthal, Rechtsfortbildung, S. 270 f. 4 Vgl. Herresthal, Rechtsfortbildung, S. 270; dazu oben S. 43 ff. 5 Gebauer, IPRax 1995, 152, 154. 6 Siehe etwa Larenz/Canaris, S. 187 ff.; zur Rechtsfortbildung infolge unmittelbar anwendbaren Unionsrechts: S. 69 ff. 7 Siehe zum Vorrang der unionsrechtskonformen Auslegung: S. 44 f. und zum Vorrang der unionsrechtskonformen Rechtsfortbildung: S. 46 ff. aus Gründen des deutschen Verfassungsrechts. 3
A. Arten der Einwirkung des Unionsrechts in nationale Rechtsordnungen
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Vorgaben angepasst. Die unionsrechtskonforme Rechtsfortbildung kommt damit der Ersetzungswirkung des Anwendungsvorrangs nahe, ohne zugleich dessen Suspensivwirkung zu haben. Die Voraussetzungen für die Suspensiv- und Ersetzungswirkung des Anwendungsvorrangs und für die unionsrechtskonforme Rechtsfortbildung unterscheiden sich jedoch. Während erstere eine Divergenz der Rechtsfolgen von nationaler und unionaler Rechtsnorm verlangt, ist für letztere eine Regelungslücke in der nationalen Rechtsordnung notwendig. Eine solche Regelungslücke entsteht jedoch bei der unionsrechtskonformen Rechtsfortbildung nicht aufgrund von Inkonsistenzen innerhalb der nationalen Rechtsordnung, sondern erst durch das Einwirken einer anderen autonomen Rechtsordnung als der nationalen Rechtsordnung. Mithin muss die Lückenfeststellung als Voraussetzung für eine richterliche Rechtsfortbildung vor dem Hintergrund dieser Besonderheit, die im Verbund der Rechtsordnungen zum Ausdruck kommt, im Hinblick auf mögliche Anpassungen untersucht werden (1.). Der Einbezug einer anderen als der autonomen nationalen Rechtsordnung als Bezugspunkt für die Lückenfeststellung spiegelt sich konsequenterweise auch in den Instrumenten zur Lückenfüllung wider (2.). Dies wirft abschließend die Frage nach einer Neubestimmung der „contra legem“-Grenze auf, mit der die zulässige richterliche Rechtsfortbildung von der unzulässigen richterlichen Rechtspolitik, bei der die Lückenfüllung ausschließlich dem demokratisch legitimierten Gesetzgeber überlassen ist, abgegrenzt wird (3.). 1. Lückenfeststellung im Anwendungsbereich der Unionsrechtsordnung Eine Lücke ist nach der klassischen Definition der herrschenden deutschen juristischen Methodenlehre „eine planwidrige Unvollständigkeit des positiven Rechts (d.h. des Gesetzes im Rahmen seines möglichen Wortsinns und des Gewohnheitsrechts) gemessen am Maßstab der gesamten geltenden Rechtsordnung“.8 Es muss also ein Abgleich der vorgefundenen Rechtslage mit einer ideal geplanten Rechtslage vorgenommen werden.9 Der Regelungsplan ist damit zentral für die Lückenfeststellung. Der Verweis auf den Regelungsplan der gesamten geltenden Rechtsordnung in der klassischen Lückendefinition macht bereits deutlich, dass die Definition im Hinblick auf das Einwirken der autonomen Rechtsordnung des Unionsrechts in die nationale Rechtsordnung zumindest anpassungsbedürftig ist.10 Es stellt sich damit auf der Grundlage dieser Lückendefinition die Frage, auf wessen Plan zur Lückenfeststellung bei dem Zusammenspiel zweier autonomer Rechtsordnungen abzustellen ist.11 8
Canaris, Die Feststellung von Lücken im Gesetz, S. 39. Vgl. Larenz, Methodenlehre, S. 373, der lediglich auf die „planwidrige Unvollständigkeit des Gesetzes“ abstellt. 9 Rüthers/Fischer/Birk, Rechtstheorie, Rn. 833. 10 Herresthal, Rechtsfortbildung, S. 218; Höpfner/Rüthers, AcP 209 (2009), 1, 32. 11 Hierzu und zum Folgenden Herresthal, Rechtsfortbildung, S. 221 ff.
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2. Kapitel: Einwirkungen des EU-Rechts in die nationale Privatrechtsordnung
a) Aufgabe des Erfordernisses eines „Gesamtplans“ zur Lückenfeststellung Der Regelungsplan des mitgliedstaatlichen Gesetzgebers erfasst das Unionsrecht in seiner Gänze nicht. Er kann sich allenfalls auf die ursprüngliche Position des Mitgliedstaats und seinen hierbei ausgeübten Einfluss bei der Aushandlung des Primärrechts und bei der Beschlussfassung des Sekundärrechts beziehen. Selbst wenn man dem mitgliedstaatlichen Gesetzgeber unterstellt, sein Regelungsplan umfasse die unionalen Normen, so wie sie sind (auch wenn die beschlossene Norm von der ursprünglichen Position des Mitgliedstaats bei der Aushandlung des Primärrechts oder bei der Beschlussfassung des Sekundärrechts im Rat abweicht), scheitert diese Konstruktion an der fehlenden Regelungsmacht des einzelnen mitgliedstaatlichen Gesetzgebers, das in seinem Rechtsraum geltende positive Recht autonom nach seinem eigenen Regelungsplan zu gestalten.12 Die mitgliedstaatliche Regelungsmacht ist vielmehr durch die Unionsrechtsordnung begrenzt, auf deren konkrete Gestaltung der einzelne Mitgliedstaat nur einen sehr beschränkten Einfluss hat. Die alternativ dazu vorgeschlagene Zugrundelegung eines kumulativen Regelungsplans von mitgliedstaatlichem und unionalem Gesetzgeber13 erscheint noch konstruierter als der hypothetische nationale Regelungsplan, der die unionalen Normen in sich aufgenommen hat.14 Dies wird schon beim Ausgangspunkt dieser Überlegung deutlich. Sie akzeptiert nämlich, dass zwei unterschiedliche Normgeber mit divergierenden Regelungsplänen am Werk sind. Die klassische Lückendefinition verlangt aber den Abgleich mit einem Gesamtplan einer geltenden Rechtsordnung. Diesem Gesamtplan meint man einen kohärenten Gesamtentwurf für das in einem Hoheitsgebiet geltende Recht entnehmen zu können. Die Annahme eines solchen Gesamtplans erscheint schon bei einem einzigen nationalen Normgeber angesichts steter gesetzgeberischer Aktivität und weit ausdifferenzierter Einzelregelungen konstruiert.15 Einem nationalen Normgeber könnte man aber noch die Absicht zur konsistenten Gesetzgebung unterstellen. Bei zwei autonomen Normgebern, die unterschiedliche Regelungsziele verfolgen und diesen verpflichtet sind, ist die Grenze des Begriffs des „Gesamtplans“ überschritten. Dies erkennen auch diejenigen, die sich für die Zugrundelegung eines kumulativen Regelungsplans aussprechen, weshalb sie für eine Lückenfeststellung in zwei Schritten plädieren.16 Zunächst soll versucht werden, die planwidrige Unvollständigkeit der nationalen Rechtsordnung auf Grundlage des nationalen Regelplans festzustellen. Scheitert die Lückenfeststellung auf Grundlage des nationalen Regelungs-
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Herresthal, Rechtsfortbildung, S. 221. Franzen, Privatrechtsangleichung, S. 416 f.; Kruis, Anwendungsvorrang, S. 222. 14 Herresthal, Rechtsfortbildung, S. 222. 15 Siehe Larenz, Methodenlehre, S. 376 f. 16 Franzen, Privatrechtsangleichung, S. 416 f.; Kruis, Anwendungsvorrang, S. 222. 13
A. Arten der Einwirkung des Unionsrechts in nationale Rechtsordnungen
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plans, wird der unionale Regelungsplan herangezogen, um die Unvollständigkeit der nationalen Rechtsordnung zu prüfen. Wendet man nun dieses Prüfschema konkret auf die Feststellung der Lückenhaftigkeit der nationalen Rechtsordnung im Anwendungsbereich des Unionsrechts an, wird allerdings die Konstruiertheit des kumulativen Regelungsplans deutlich. Weicht nämlich die nationale Rechtsordnung von den Vorgaben des Unionsrechts ab, so ist die nationale Rechtsordnung zunächst aus dem Blickwinkel des nationalen Regelungsplans grundsätzlich vollständig, wenn und soweit dem nationalen Normgeber – wie es die herrschende Meinung tut17 – unterstellt wird, bei seinen Rechtsetzungsaktivitäten unionsrechtskonform handeln zu wollen. Der anschließend herangezogene unionale Regelungsplan erkennt stattdessen eine Unvollständigkeit der nationalen Rechtsordnung, da letztere von den Vorgaben ersterer effektiv abweicht. Aufgrund des nationalen gesetzgeberischen Willens, unionsrechtskonform Normen zu setzen, wird in dieser Situation der nationale Regelungsplan nunmehr im Nachhinein an den unionalen angepasst, so dass das Abweichen der nationalen Rechtsnormen von Unionsrechtsvorgaben eine „planwidrige“ Lücke begründen kann. Damit wird jedoch der Begriff des nationalen Regelungsplans effektiv entleert, weil er immer dem unionalen Regelungsplan entspricht (selbst wenn dies erst nach dem gesetzgeberischen Handeln durch die Unionsinstitutionen festgestellt wird), so dass man auch auf ihn verzichten könnte.18 Im Falle einer willentlichen Abweichung des nationalen Normgebers von den Unionsrechtsvorgaben lässt sich der nationale Regelungsplan nicht mehr an den unionalen anpassen, so dass in dieser Konstellation die nationale Rechtsordnung nach dem nationalen Regelungsplan vollständig und nach dem unionalen Regelungsplan unvollständig ist. Es muss nunmehr eine Kollisionsregel entwickelt werden, welchem der beiden Regelungspläne bei der Lückenfeststellung der Vorrang gegeben werden soll.19 Es erscheint äußerst zweifelhaft, wie man noch von einem „Gesamtplan“ im Sinne der klassischen Lückendefinition ausgehen kann, wenn zu seiner Feststellung eine Kollisionsregel notwendig ist. Es ist hiernach deutlich geworden, dass das Konzept des „Gesamtplans“ zur Feststellung einer Lücke in der nationalen Rechtsordnung im Anwendungsbereich des Unionsrechts nicht geeignet ist. Konsequenterweise sollte das Erfordernis eines „Gesamtplanes“ in diesem Zusammenhang aufgegeben werden.20
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Vgl. Franzen, Privatrechtsangleichung, S. 416. Vgl.. Herresthal, Rechtsfortbildung, S. 222. 19 Franzen, Privatrechtsangleichung, S. 417, der auf eine entsprechende Anwendung von Art. 36 EGBGB a.F. abstellt. 20 Herresthal, Rechtsfortbildung, S. 224; ders., EuZW 2007, 396, 399. Den Gesamtplan schon für die deutsche Gesamtrechtsordnung ablehnend Larenz, Methodenlehre, S. 377. 18
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2. Kapitel: Einwirkungen des EU-Rechts in die nationale Privatrechtsordnung
b) Verbund der Rechtsordnungen als Bezugspunkt für die Lückenfeststellung Die Aufgabe des Erfordernisses des „Gesamtplans“ für die Lückenfeststellung im Anwendungsbereich des Unionsrechts entbindet nicht von der Definition eines anderweitigen Maßstabs für das Aufdecken von Regelungsdefiziten. Andernfalls wird die Rechtsfortbildung beliebig, was angesichts des Übergriffs der Judikativen in den Bereich der Legislativen, der bei der Rechtsfortbildung stattfindet, nicht hinnehmbar wäre. Die Aufgabe des Maßstabs ist es demnach, ein Kriterium festzulegen, anhand dessen endogene Vorgaben an die Stimmigkeit einer Rechtsordnung, denen die Judikative entsprechen kann, von exogenen Vorgaben, deren Befolgung nur von der Legislativen entschieden werden darf, unterschieden werden können.21 Dies verlangt die Festlegung eines Bezugspunkts. All jene Vorgaben, die mit diesem Bezugspunkt in einer Beziehung stehen, können für die Lückenfeststellung herangezogen werden, während alle anderen Vorgaben ausscheiden. Bei Sachverhalten, die Bezüge sowohl zur nationalen Rechtsordnung als auch zur Unionsrechtsordnung aufweisen, ist für die Lückenfeststellung auf den Verbund der Rechtsordnungen22 als relevanten Bezugspunkt abzustellen. Der Verbund umfasst neben der nationalen Rechtsordnung auch die Unionsrechtsordnung und erfasst damit auch die normativen Einwirkungen des Unionsrechts.23 Der Verbund der Rechtsordnungen erfasst das Handeln zweier Normgeber im mitgliedstaatlichen Rechtsraum. Das Gebot der Widerspruchsfreiheit der Normen des Verbunds der Rechtsordnungen folgt dabei unmittelbar aus dem Verbundsgedanken. Die Mitgliedstaaten haben den Ausschließlichkeitsanspruch ihrer nationalen Rechtsordnung durch Verfassungsnormen wie Art. 23 Abs. 1 GG in ihrem Hoheitsgebiet zurückgenommen und damit den Geltungsanspruch der Unionsrechtsordnung im mitgliedstaatlichen Rechtsraum anerkannt. Damit treten an die Stelle des Gedankens der Einheit der Rechtsordnung, der für die nationale Rechtsordnung relevant ist,24 aber wegen seiner ausschließlich auf den nationalen Normgeber bezogenen Maßgeblichkeit nicht für den Verbund der Rechtsordnungen nutzbar gemacht werden kann,25 die Prinzipien der Kompatibilität der Rechtsordnungen und der loyalen
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Vgl. Herresthal, Rechtsfortbildung, S. 223, der zwischen dem „internen Maßstab des geltenden Rechts anstelle eines externen Maßstabs […], der erst vom Rechtsanwender an das Gesetz herangetragen wird“, unterscheidet. 22 Siehe dazu S. 14 ff. 23 Siehe auch Herresthal, Rechtsfortbildung, S. 224, der auf die „(nationale) Gesamtrechtsordnung“ abstellt, die für ihn inhaltlich das erfasst, was hier unter dem Verbund der Rechtsordnungen verstanden wird. 24 Engisch, Einheit der Rechtsordnung, passim; Felix, Einheit der Rechtsordnung, S. 177 ff. 25 Vgl. Herresthal, Rechtsfortbildung, S. 227.
A. Arten der Einwirkung des Unionsrechts in nationale Rechtsordnungen
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Zusammenarbeit, die für den Verbund gelten und in Art. 4 EUV niedergeschrieben sind.26 Art. 4 EUV bindet sowohl die Union als auch die Mitgliedstaaten. Für den nationalen Richter wird Art. 4 EUV aufgrund der Rücknahme des Ausschließlichkeitsanspruchs der deutschen Rechtsordnung im deutschen Rechtsraum in Art. 23 Abs. 1 GG zum geltenden Recht, weshalb Art. 4 EUV den nationalen Richter nach Art. 20 Abs. 3, Art. 97 GG als Gesetz bindet.27 Das Prinzip der Kompatibilität der Rechtsordnungen im Verbund der Rechtsordnungen hat somit seine normative Grundlage in Art. 4 EUV und Art. 23 Abs. 1 GG. Dem Prinzip der Kompatibilität der Rechtsordnungen ist dabei zu entnehmen, dass im Verbund der Rechtsordnungen die nationalen Rechtsordnungen im Einklang mit der Unionsrechtsordnung und dabei insbesondere mit deren Rechtspflichten und Rechtssetzungspflichten stehen. Dabei achtet die Unionsrechtsordnung die nationale Identität, wie sie in den nationalen Rechtsordnungen zum Ausdruck kommt. In diesem Sinne lässt sich beispielsweise die Rechtsprechung des EuGH verstehen, wonach die Mitgliedstaaten bei der Rechtfertigung von Beschränkungen der Grundfreiheiten im Hinblick auf ihre besonderen sittlichen, religiösen und kulturellen Unterschiede über einen Wertungsspielraum bezüglich des jeweiligen mitgliedstaatlichen Schutzniveaus bei der Gestaltung der eigenen Sozialordnung verfügen.28 Weicht eine nationale Rechtsnorm im Verbund der Rechtsordnungen von einer unionalen Rechtspflicht ab – und zwar ungeachtet ihrer unmittelbaren Anwendbarkeit –, ist dem Prinzip der Kompatibilität der Rechtsordnungen im Verbund der Rechtsordnungen nicht mehr Genüge geleistet, so dass hierdurch eine Regelungslücke entsteht.29 2. Lückenfüllung durch unionsrechtskonforme Rechtsfortbildung Die Lückenfüllung erfolgt zunächst einmal wie bei jeder in der nationalen Rechtsordnung vorgefundenen Regelungslücke anhand der tradierten Methoden der richterlicher Rechtsfortbildung in Form der gesetzesimmanenten und der gesetzesübersteigenden Rechtsfortbildung.30 Dabei wird die Grenze der ge-
26 Vgl. zu diesen Prinzipien von Bogdandy, Grundprinzipien, in: von Bogdandy/Bast, Europäisches Verfassungsrecht, S. 13, 52 ff., 54 f. 27 Zu den Pflichten der Rechtsprechung unter Art. 4 Abs. 3 UAbs. 2 EUV: von Bogdandy/Schill, in: Grabitz/Hilf/Nettesheim, Art. 4 EUV Rn. 94 ff. 28 EuGH, Rs. C-275/92, Schindler, Slg. 1994, I-1039 Rn. 15; Rs. C-243/01, Gambelli, Slg. 2003, I-13031 Rn. 63; verb. Rs. C-338/04, C-359/04 und C-360/04, Placanica, Slg. 2007, I-1891 Rn. 47; Rs. C-42/07, Liga Portuguesa, Slg. 2009, I-7633 Rn. 57. 29 Vgl. Herresthal, Rechtsfortbildung, S. 234 zu der von ihm so benannten „systemwidrigen Regelungslücke“. 30 Zur Unterteilung in die gesetzesimmanente und gesetzesübersteigende Rechtsfortbildung Larenz/Canaris, Methodenlehre, S. 191 ff., 232 ff., 245 ff.; kritisch zu dieser Unterscheidung Rüthers/Fischer/Birk, Rechtstheorie, Rn. 858, die insbesondere den Begriff der
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2. Kapitel: Einwirkungen des EU-Rechts in die nationale Privatrechtsordnung
setzesimmanenten Rechtsfortbildung durch die Teleologie des Gesetzes gezogen, während die gesetzesübersteigende Rechtsfortbildung über diese Grenze hinausgehend eine Regelungslücke innerhalb des Rahmens und der leitenden Prinzipien der Gesamtrechtsordnung ausfüllt.31 a) Unionsrechtskonforme Rechtsfortbildung als eigene Kategorie Versucht man nun, das Unionsrecht zur Lückenfüllung heranzuziehen, erreicht man schnell die Grenzen der gesetzesimmanenten und der gesetzesübersteigenden Rechtsfortbildung. Beide Formen der Rechtsfortbildung stellen auf den Plan des nationalen Gesetzgebers zur Ziehung der Grenze zwischen der grundsätzlich zulässigen und der grundsätzlich unzulässigen Rechtsfortbildung ab. Häufig und insbesondere in dem vorliegend interessierenden Fall der Rechtsfolgendivergenz zwischen nationaler und unionaler Rechtsnorm werden das vom Unionsrecht vorgegebene Rechtsgewinnungsergebnis und der Plan des nationalen Gesetzgebers auseinanderfallen,32 so dass im Rahmen der autonomen gesetzesimmanenten und gesetzesübersteigenden Rechtsfortbildung eine Lückenfüllung durch Unionsrecht teilweise nur erschwert und teilweise gar nicht möglich erscheint. Es kann daher überlegenswert sein, die unionsrechtskonforme Rechtsfortbildung als eine eigenständige Kategorie neben der gesetzesimmanenten und der gesetzesübersteigenden Rechtsfortbildung anzuerkennen.33 Hierfür sprechen zunächst die Argumente, die bereits zur Aufgabe des Erfordernisses eines Gesamtplans für die Lückenfeststellung im Anwendungsbereich des Unionsrechts geführt haben.34 Der Lebenssachverhalt im Anwendungsbereich des Unionsrechts ist von mehreren Rechtsordnungen geregelt. Damit unterliegen Teilelemente eines Lebenssachverhalts unterschiedlichen, aber gleichwertigen Rechtsordnungen, denen kein einheitlicher gemeinsamer Regelungsplan unterstellt werden kann. Das Kriterium des Gesamtplans eignet sich demnach nicht für die Lückenfeststellung. In demselben Maße eignet sich das Kriterium des Gesamtplans nicht für die Grenzziehung der grundsätzlich zulässigen Lückenfüllung. Vielmehr ist wie bereits bei der Lückenfeststellung auf den Verbund der Rechtsordnungen als Rahmen abzustellen, der die Grenzen der zulässigen
„gesetzesübersteigenden Rechtsfortbildung“ für wenig trennscharf halten und ihm vorwerfen, „das richterliche Ausfüllen von Rechtslücken wie auch das Judizieren contra legem [zu] umfassen.“ 31 Vgl. Larenz/Canaris, Methodenlehre, S. 187 ff. 32 Sofern man nicht auf einen grundsätzlichen Willen des nationalen Normgebers abstellt, dass er unionsrechtskonform handelt, so dass der nationale Regelungsplan auch im Fall einer Rechtsfolgendivergenz dem unionalen Regelungsplan entspricht. 33 Dafür Herresthal, Rechtsfortbildung, S. 235 ff. 34 Siehe oben S. 56 ff.
A. Arten der Einwirkung des Unionsrechts in nationale Rechtsordnungen
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Rechtsfortbildung zieht. Die jeweiligen Rechtsfortbildungsinstrumente der nationalen Methodenlehre sind den Besonderheiten des Verbunds der Rechtsordnungen anzupassen.35 b) Anpassung der Rechtsfortbildungsinstrumente Die Anpassung der Rechtsfortbildungsinstrumente der unionsrechtskonformen Analogie, Reduktion und Extension ist dabei einem unmittelbaren Rückgriff auf das Unionsrechts vorzuziehen.36 Denkbar wäre schließlich, die Regelungslücke in der nationalen Rechtsordnung durch eine Berufung des Unionsrechts zu schließen. Allerdings würde hierdurch bei Unionsrechtsnormen, die nicht unmittelbar anwendbar sind, die gerade nicht gewollte unmittelbare Anwendbarkeit mit Mitteln der richterlichen Rechtsfortbildung herbeigeführt. Die Regelungslücke soll nicht zum Einfallstor für eigentlich nicht unmittelbar anwendbares Unionsrecht werden. Vielmehr sollen die nationalen Rechtsnormen mit den unionalen Rechtsnormen abgestimmt werden, wobei den Besonderheiten der im Verbund vereinten autonomen Rechtsordnungen und autonom legitimierten Normgeber Rechnung zu tragen ist. Diese Abstimmung erfolgt besser dadurch, dass die nationale Rechtsnorm weiterhin den Ausgangspunkt für die Rechtsfortbildung bildet. Sie bestimmt die „contra legem“-Grenze, bis zu der Unionsrecht in der nationalen Rechtsordnung zu berücksichtigen ist, ohne dass bei unmittelbar anwendbarem Unionsrecht die Suspensiv- und Ersetzungswirkung des Anwendungsvorrangs greift. In gleichem Maße bildet damit die „contra legem“-Grenze auch das Maximum an richterlicher Berücksichtigung von Unionsrechts, das nicht unmittelbar anwendbar ist, da dieses nicht am Anwendungsvorrang, der das „Überspringen“ dieser Grenze ermöglicht, teilnimmt. Bei der unionsrechtskonformen Analogie führt die Anpassung dazu, dass die Gleichbehandlungspflicht, die die Anwendung einer nationalen Norm auf einen von dieser eigentlich nicht erfassten Sachverhalt gebietet, nicht aus einer Wertungsähnlichkeit des nicht erfassten mit dem gesetzlich erfassten Sachverhalt nach autonom-nationalen Wertungsmaßstäben folgt, sondern aus der vom Unionsrecht geforderten Gleichbehandlung der Sachverhalte.37 Die unionsrechtskonforme Reduktion nationaler Rechtsnormen verlangt aufgrund der Vorgaben des Unionsrechts die Andersbehandlung eines eigentlich vom Wortlaut der Norm erfassten Sachverhalts durch Ausgliederung aus deren Anwendungsbereich mittels Hinzufügung eines ungeschriebenen Ausnahmetatbestandes oder einer Einschränkung des Tatbestandes der Norm.38 Sie 35
Herresthal, Rechtsfortbildung, S. 236; ders., JuS 2014, 289, 292. So Canaris, in: FS Bydlinski, S. 47, 90; die tradierten Instrumente der richterlichen Rechtsfortbildung anpassend Herresthal, S. 246 f. 37 Herresthal, S. 239 ff.; ders. EuZW 2007, 396, 399. 38 Herresthal, S. 241 ff.; ders. EuZW 2007, 396, 399. 36
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unterscheidet sich daher von der teleologischen Reduktion insoweit, als diese auf den Zweck der zu reduzierenden Rechtsnorm abstellt und den vom Wortlaut, aber nicht mehr vom Zweck der Norm erfassten Sachverhalt ausgliedert. Bei der unionsrechtskonformen Extension einer nationalen Rechtsnorm erfolgt die Erstreckung dieser Norm auf einen ihrem Wortlaut nach nicht erfassten Sachverhalt aufgrund eines vom Unionsrecht verlangten konkreten Rechtsgewinnungsergebnisses.39 Der Grund für die Erstreckung liegt dabei im Wortlaut der Norm, der gegenüber dem Zweck der Norm zu eng gefasst ist.40 Damit liegt entweder ein schwerwiegender Wertungswiderspruch oder eine offene Ungerechtigkeit im Verhältnis zum Zweck der Norm vor, wenn der nicht erfasste Sachverhalt ungeregelt bleibt.41 Im Verbund der Rechtsordnungen wird nunmehr der schwere Wertungswiderspruch im Abgleich mit der Unionsrechtsordnung festgestellt.42 c) Exkurs: Die richtlinienkonforme Rechtsfortbildung Die neue Kategorie der unionsrechtskonformen Rechtsfortbildung, die auf die Grenzziehung anhand des Wertungsplans des nationalen Gesetzgebers verzichtet, tritt in Konflikt mit dem Demokratieprinzip aus Art. 20 Abs. 2 GG und dem Rechtsstaatsprinzip in Art. 20 Abs. 3 GG. Ihre Bildung muss sich daher der Frage stellen, ob sie nicht die demokratisch legitimierte und „verfassungsrechtlich vorgeschriebene Gesetzesbindung der deutschen Gerichte in unzulässiger Weise einschränkt“43 und die Grenzen zwischen der Judikativen und der Legislativen verwischt. Von Bedeutung ist die Beantwortung dieser Frage für den besonderen Fall der unionsrechtskonformen Rechtsfortbildung im Anwendungsbereich von Unionsrecht, das nicht unmittelbar anwendbar ist, und damit insbesondere von Richtlinienrecht, welches zumindest im Horizontalverhältnis keine unmittelbare Anwendbarkeit hat44 und von den Mitgliedstaaten nach Art. 288 Abs. 3 AEUV in nationales Recht umgesetzt werden muss. In diesem Fall würde nämlich eine Lückenfeststellung und die anschließende Lückenfüllung am Maßstab des Richtlinienrechts dazu führen, dass die gesetzgeberischen Entscheidungen des nationalen Normgebers trotz fehlender unmittelbarer Anwendbarkeit der unionsrechtlichen Vorgaben durch die Judikative verändert bzw. sogar in ihr Gegenteil verkehrt werden können.45 39
Herresthal, S. 243 f.; ders. EuZW 2007, 396, 399. Rüthers/Fischer/Birk, Rechtstheorie, Rn. 904. 41 Canaris, Die Feststellung von Lücken im Gesetz, S. 89 f.; Larenz/Canaris, Methodenlehre, S. 219 f. 42 Herresthal, Rechtsfortbildung, S. 244. 43 Deutlich Rüthers/Fischer/Birk, Rechtstheorie, Rn. 912e. 44 EuGH, Rs. 152/84, Marshall, Slg. 1986, 723 Rn. 48; Rs. C-91/92, Faccini Dori, Slg. 1994, I-3325 Rn. 24; Rs. C-192/94, El Corte Inglés, Slg. 1996, I-1281 Rn. 17. 45 Höpfner/Rüthers, AcP 209 (2009), 1, 35; Rüthers/Fischer/Birk, Rechtstheorie, Rn. 912e, die aus diesem Grund eine richtlinienkonforme Rechtsfortbildung ablehnen. 40
A. Arten der Einwirkung des Unionsrechts in nationale Rechtsordnungen
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Dieser Sichtweise stehen zwei Argumente entgegen. Zum einen ist der mitgliedstaatliche Richter – anders als der Einzelne – an das Gebot, eine Richtlinie in nationales Recht umzusetzen, in Art. 288 Abs. 3 AEUV gebunden. Hieraus folgt auch im Anwendungsbereich von Unionsrecht, das nicht unmittelbar anwendbar ist, die Pflicht zur unionsrechtskonformen Auslegung.46 Nach dem Verständnis des EuGH unterfällt der unionsrechtskonformen Auslegung grundsätzlich auch das Instrumentarium der Rechtsfortbildung entsprechend der nationalen Methodenlehre. Neben dieses leicht formalistisch anmutendes Argument tritt jedoch insbesondere im Fall der richtlinienkonformen Rechtsfortbildung noch das materielle Argument, dass es sich hierbei eigentlich nicht um eine Verwischung der Grenzen von Judikative und Legislative handelt, sondern vielmehr um einen Fall, in dem der nationale Richter die Entscheidungen eines anderen, jedoch gleichermaßen hierzu demokratisch legitimierten Normgebers durchsetzt. Das unionale Richtlinienrecht besitzt eine eigenständige demokratische Legitimation, die sich direkt vom nationalen Gesetzgeber und von den Unionsbürgern ableitet. Die Richtlinie ist gesetztes Recht, das auf der Grundlage einer ausdrücklichen Unionskompetenz und eines von dieser Kompetenz vorgesehenen Gesetzgebungsverfahrens erlassen wurde. Verweist die Unionskompetenz auf das ordentliche Gesetzgebungsverfahren, hat das von den Unionsbürgern direkt gewählte Europäische Parlament als mit dem Rat gleichberechtigter Mitgesetzgeber die Richtlinie erlassen. Dieses Recht verfügt also über eine eigene, von der nationalen Rechtsordnung unabhängige demokratische Legitimation. Hinzu tritt, dass der nationale Gesetzgeber über die Regierung im Rat an dem Erlass der Richtlinie mitgewirkt hat. Mithin wirken im mitgliedstaatlichen Hoheitsgebiet zwei demokratisch legitimierte Gesetzgeber rechtssetzend. Indem die Rechtsprechung der Gesetzgebung des einen Gesetzgebers zu seiner Wirksamkeit verhilft, verwischt sie gerade nicht die Grenze zwischen Judikative und Legislative, sondern sichert die Abgrenzung zwischen der unionalen und der nationalen Legislativen. Eine Entscheidung darüber, welche der beiden Sichtweisen bezüglich der unionsrechtskonformen Rechtsfortbildung im Anwendungsbereich von Unionsrecht, das nicht unmittelbar anwendbar ist, die überzeugendere ist, muss vorliegend nicht getroffen werden. In dem hier interessierenden Fall der unionsrechtskonformen Rechtsfortbildung im Anwendungsbereich unmittelbar anwendbaren Unionsrechts sind sich nämlich beide Sichtweisen einig, dass eine derartige Rechtsfortbildung möglich ist.47
46
Siehe oben S. 49 f. Vgl. Rüthers/Fischer/Birk, Rechtstheorie, Rn. 912c, die letztlich sogar eine richtlinienkonforme Rechtsfortbildung anerkennen, wenn die Lücke anderweitig und zwar nach den Maßstäben des nationalen Rechts entstanden ist, Rn. 912e a.E. 47
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3. Die „contra legem“-Grenze bei der unionsrechtskonformen Rechtsfortbildung Der Haupteinwand gegen die unionsrechtskonforme Rechtsfortbildung als eigenständige Kategorie der Rechtsfortbildung, wonach hierdurch Unionsrechtsnormen, die nicht unmittelbar anwendbar sind, eine unmittelbare Anwendbarkeit im Wege der Rechtsfortbildung vermittelt würde, führt zur Frage nach der Ziehung der „contra legem“-Grenze. Sie scheidet die Einwirkung des Unionsrechts über die nationale Rechtsnorm von der Einwirkung des Unionsrechts über die Suspensiv- und Ersetzungswirkung des unionsrechtlichen Anwendungsvorrangs. Während erstere beim Erreichen der „contra legem“-Grenze endet, kann letztere die „contra legem“-Grenze überwinden. Damit endet die Einwirkung von Unionsrecht, das nicht unmittelbar anwendbar ist, spätestens an der „contra legem“-Grenze. Im Hinblick auf die autonome nationale richterliche Rechtsfortbildung hat das BVerfG deutlich gemacht: Wenn „der Gesetzgeber eine eindeutige Entscheidung getroffen [hat], darf der Richter diese nicht aufgrund eigener rechtspolitischer Vorstellungen verändern und durch eine judikative Lösung ersetzen, die so im Parlament nicht erreichbar war.“48 Dies macht deutlich, dass die „contra legem“-Grenze insbesondere der Abgrenzung der Kompetenzen der Judikativen im Verhältnis zur Legislativen dient. Erforderlich dazu ist, dass der Richter die „gesetzgeberische Grundentscheidung“49 respektiert, die im „Wortlaut und Sinn“ zum Ausdruck kommt und der „nicht ein entgegengesetzter Sinn verliehen werden“ darf.50 a) Grenzziehung erfolgt unabhängig von der Lückendefinition In der Literatur wird zur Ziehung der „contra legem“-Grenze auf zwei unterschiedliche Konzeptionen abgestellt. Nach der einen Ansicht ist für die Ermittlung der Grenze die Regelungsabsicht des historischen Gesetzgebers der lückenhaften Norm relevant.51 Die „contra legem“-Grenze ist damit erreicht, wenn eine Lückenfüllung im Widerspruch zu dem „wirklichen Willen der Gesetzgebung“ steht, wie er im Normzweck und innerhalb des Wortsinns der Norm zum Ausdruck kommt.52 Nach der anderen Ansicht steht der „objektivgegenwartsbezogene“ Plan des Gesetzgebers im Vordergrund.53 Die „contra legem“-Grenze wird bei der gesetzesimmanenten Rechtsfortbildung entlang des im möglichen Wortsinn verkörperten gesetzgeberischen Willens gezogen, wie er unter Berücksichtigung der aktuell-gegenwartsbezogenen Wertungen 48
BVerfGE 82, 6, 12. BVerfGE 96, 375, 395. 50 BVerfGE 59, 330, 334. 51 Rüthers/Fischer/Birk, Rechtstheorie, Rn. 938, 950 f. 52 Rüthers/Fischer/Birk, Rechtstheorie, Rn. 950. 53 Larenz/Canaris, Methodenlehre, S. 246. 49
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zum Ausdruck kommt.54 Bei der gesetzesübersteigenden Rechtsfortbildung ist die „contra legem“-Grenze erreicht, wenn der Gesamtrechtsordnung keine Unvollständigkeit des Gesetzes entnommen werden kann oder wenn im Falle einer Unvollständigkeit keine spezifisch rechtlichen Kriterien eine Rechtsfortbildung mehr legitimieren.55 Betrachtet man beide Ansicht nebeneinander, erkennt man, dass sich die „contra legem“-Grenze bei beiden Ansichten aus der jeweiligen Lückendefinition ergibt. Dieser Zusammenhang mit der Lückendefinition macht deutlich, wieso die tradierte „contra legem“-Grenze im Hinblick auf die vorliegend vertretene Lückenfeststellung im Anwendungsbereich des Unionsrechts nicht übertragen werden kann. Hiernach liegt nämlich eine Lücke bereits bei einer Abweichung der nationalen Rechtsnorm von den rechtlichen Vorgaben der Unionsrechtsordnung vor. Zöge man in diesem Fall die Grenze der Lückenfüllung in Abhängigkeit von der Lückenfeststellung, wäre die Lückenfüllung grenzenlos und die vor dem Hintergrund der Gewaltenteilung notwendige Abgrenzung von Judikative und Legislative würde verschwimmen. Die „contra legem“-Grenze muss daher im Hinblick auf die unionsrechtskonforme Rechtsfortbildung eigenständig gezogen werden.56 Die Grenzziehung muss dabei der Abgrenzung von zulässiger richterlicher Rechtsfortbildung und unzulässiger, ausschließlich dem hierfür demokratisch legitimierten Gesetzgeber überantworteter Rechtspolitik dienen. Während im Hinblick auf die autonome nationale richterliche Rechtsfortbildung lediglich ein Gegensatzpaar von nationaler Judikative und nationaler Legislative besteht, bei dem ein Übergreifen der Judikative in die Legislative unterbunden werden muss, sieht die Konfliktlage im Verbund der Rechtsordnungen anders aus. Rechtspflichten der Unionsrechtsordnung wurden, wenn sie dem Primärrecht entstammen, durch die Ratifikation von dem hierzu legitimierten nationalen Gesetzgeber begründet. Im Verbund der Rechtsordnungen kann aber die Tatsache, dass die Rechtspflichten einer anderen als der nationalen Rechtsordnung entspringen, keine Rolle dafür spielen, die Durchsetzung dieser Rechtspflichten dem Bereich der Judikative zuzuschlagen. Dies gilt in vergleichbarem Maße bei sekundärrechtlich begründeten Rechtspflichten in nicht unmittelbar anwendbaren Richtlinien. Richtlinien werden auf Grundlage einer der Union übertragenen Kompetenz und entsprechend einem von der jeweiligen Unionskompetenz vorgesehenen Gesetzgebungsverfahren zumeist unter Mitentscheidung des demokratisch von den Unionsbürgern gewählten Europäischen Parlaments erlassen.57 Es erscheint daher auch bei Richtlinien nicht sachgerecht, deren Einwirken in die Unionsrechtsordnung ausschließlich dem Bereich der 54
Larenz/Canaris, Methodenlehre, S. 246, 250 f. Larenz/Canaris, Methodenlehre, S. 246, 251. 56 Herresthal, Rechtsfortbildung, S. 300 ff.; ders. EuZW 2007, 396, 399 f. 57 Herresthal, Rechtsfortbildung, S. 312 f. 55
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2. Kapitel: Einwirkungen des EU-Rechts in die nationale Privatrechtsordnung
Judikative zuzuschlagen. Die Judikative setzt damit, wenn sie Vorgaben der Unionsrechtsordnung zur Lückenfeststellung und -schließung heranzieht, nicht eine eigene politische Wertentscheidung an die Stelle einer eigentlich von der Legislative zu treffenden Entscheidung, sondern verschafft vielmehr der Wertentscheidung eines demokratisch legitimierten Normgebers Geltung, dessen Hoheitsgewalt aufgrund der verfassungsrechtlich bestimmten Rücknahme nationaler Hoheitsgewalt im mitgliedstaatlichen Rechtsraum Geltung beanspruchen darf.58 b) Grenzziehung im multipolaren Spannungsfeld zweier Normgeber und nationaler Judikativen Die „contra legem“-Grenze ist auch in diesem multipolaren Spannungsfeld von zwei Normgebern und nationaler Judikative erreicht, wenn der nationale Gesetzgeber in Kenntnis der Rechtspflichten des Unionsrechts eine klare und eindeutige gesetzgeberische Entscheidung trifft, die im Widerspruch zu diesen Rechtspflichten steht.59 Die Unterschiede zur tradierten „contra legem“-Grenze werden insbesondere bei einer Auslegung des Sekundärrechts durch den EuGH deutlich, die der nationale Gesetzgeber zum Zeitpunkt der Umsetzung der Richtlinie entweder nicht erkannte oder nicht teilte. Dies gilt in gleichem Maße für die sich fortentwickelnde und für den nationalen Gesetzgeber nicht immer vorhersehbare Auslegung von Primärrecht. Dieser Fall trat in der „Quelle“-Entscheidung des BGH betreffend § 439 Abs. 4 BGB ein.60 Vor der Einfügung des § 474 Abs. 5 BGB im Jahr 200861 hatte der Verkäufer einer Sache nach § 439 Abs. 4 BGB in Verbindung mit § 346 Abs. 1, Abs. 2 Satz 1 Nr. 1 BGB im Falle der Ersatzlieferung einen Anspruch auf Wertersatz für die Vorteile, die der Käufer aus dem Gebrauch der mangelhaften Sache bis zu deren Austausch gezogen hat, der die Herausgabe der gezogenen Nutzungen mitumfasste. Es war streitig, ob dies von Art. 3 der Verbrauchsgüterkaufrichtlinie 1999/44/EG62 gedeckt war. Nach der Auffassung, wonach die Verbrauchsgüterkaufrichtlinie einem Wertersatz von gezo-
58
Herresthal, Rechtsfortbildung, S. 313. Herresthal, Rechtsfortbildung, S. 326 ff.; ders., EuZW 2007, 396, 400, der dies die „(weiterhin) aktuelle Wertentscheidung des Gesetzgebers“ nennt. 60 BGHZ 179, 27. 61 Art. 5 des Gesetzes vom 10.12.2008 zur Durchführung des Übereinkommens vom 30. Oktober 2007 über die gerichtliche Zuständigkeit und die Anerkennung und Vollstreckung von Entscheidungen in Zivil- und Handelssachen und zur Änderung des Bürgerlichen Gesetzbuchs, BGBl. I, 2008, Nr. 57, S. 2399. Art. 5 fügte § 474 Abs. 5 BGB als § 474 Abs. 2 BGB ein. 62 ABl. 1999 L 171/12. 59
A. Arten der Einwirkung des Unionsrechts in nationale Rechtsordnungen
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genen Nutzungen entgegensteht, sollte § 439 Abs. 4 BGB teleologisch um Verbrauchsgüterkäufe zu reduzieren sein.63 Der BGH kam in seinem Vorlagebeschluss an den EuGH zur Auslegung von Art. 3 der Verbrauchsgüterkaufrichtlinie noch zu dem Ergebnis, dass er „keine Möglichkeit [sieht], die unangemessene gesetzliche Regelung im Wege der Auslegung zu korrigieren. Dem steht neben dem eindeutigen Wortlaut insbesondere der in den Gesetzesmaterialien zum Ausdruck gebrachte eindeutige Wille des Gesetzgebers entgegen.“64 Auf dieser Grundlage wäre dem BGH die teleologische Reduktion von § 439 Abs. 4 BGB auf Grundlage der Methodologie der richterlichen Rechtsfortbildung versperrt gewesen. Der EuGH entschied dann, dass Art. 3 der Verbrauchsgüterkaufrichtlinie dem Wertersatzanspruch für gezogene Nutzungen entgegensteht.65 In seinem abschließenden Urteil wandte der BGH dann doch eine teleologische Reduktion auf der Grundlage einer von „der Richtlinienkonformität getragenen Umsetzungsabsicht des Gesetzgebers“66 an. Hätte der Gesetzgeber die Auslegung des EuGH gekannt, dann hätte er die Verbrauchsgüterkaufrichtlinie auch im Sinne dieser Auslegung im BGB umgesetzt. Auf der Grundlage der tradierten Rechtsfortbildung unterstellt der BGH dem Gesetzgeber einen generellen Umsetzungswillen, der sich auch gegen einen zu diesem im Widerspruch stehenden und im Wortsinn der gesetzten Norm zum Ausdruck gebrachten, konkreten Rechtsetzungswillen durchsetzt. Diese Annahme ermöglichte die Lückenfeststellung und die Lückenfüllung durch teleologische Reduktion, die der BGH in seinem Vorlagebeschluss noch ausgeschlossen hatte.67 Es wirkt in der Tat ein wenig konstruiert, wenn im Falle der Richtlinienumsetzung auf Grundlage eines dem nationalen Gesetzgeber grundsätzlich zu unterstellenden Umsetzungswillens richterliche Rechtsfortbildung betrieben werden kann. Die begrenzende Funktion des gesetzgeberischen Willens wird damit jeder Wirkung beraubt. Konsequenter wäre es daher, den Umständen des multipolaren Spannungsfeldes, innerhalb dessen sich die Rechtspflichten des Unionsrechts im Verbund der Rechtsordnungen bewegen, auch bei der Ziehung der „contra legem“Grenze abzubilden. Primärrechtliche Rechtspflichten wurden durch Ratifikation der hierzu legitimierten nationalen Gesetzgeber und durch die Rücknahme des Ausschließlichkeitsanspruchs eigener Hoheitsgewalt zu Gunsten der EUHoheitsgewalt in Art. 23 Abs. 1 GG begründet. Richtlinienbestimmungen sind auf der Grundlage einer Unionskompetenz von einem demokratisch hierfür legitimierten Gesetzgeber auf unionaler Ebene erlassen worden. Der nationale 63
Wagner/Michal, ZGS 2005, 368; Schwab, JuS 2002, 630, 636. BGH, NJW 2006, 3200, 3201 bei Rn. 12 mit Verweis auf die Gesetzesbegründung BTDrs. 14/6040, S. 232 f. 65 EuGH, Rs. C-404/06, Quelle, Slg. 2008, I-2685. 66 BGHZ 179, 27, 36 bei Rn. 25. 67 Kritisch daher auch Höpfner, JZ 2008, 403, 404 f. 64
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2. Kapitel: Einwirkungen des EU-Rechts in die nationale Privatrechtsordnung
Gesetzgeber ist nach Art. 288 Abs. 3 AEUV zur Umsetzung verpflichtet, weshalb der nationale Richter, der das Rechtsanwendungsergebnis einer Richtlinienbestimmung zur Lückenfeststellung und -schließung heranzieht, grundsätzlich kein judikatives Werturteil an die Stelle der mitgliedstaatlichen gesetzgeberischen Entscheidung setzt, sondern sich auf die Wertentscheidung eines hierzu auch vom mitgliedstaatlichen Gesetzgeber befugten anderen Gesetzgebers beruft. Wenn der nationale Gesetzgeber nun aber in Kenntnis einer Auslegung von primärrechtlichen Rechtspflichten oder von Richtlinienbestimmungen durch den EuGH ein dieser Auslegung widersprechendes Gesetz erlässt, so ist der nationale Richter an dieses nationale Gesetz gebunden. Eine unionsrechtskonforme Rechtsfortbildung scheitert an der „contra legem“-Grenze durch den aktualisierten gesetzgeberischen Willen. Ohne eine solche ausdrückliche gesetzgeberische Bestätigung ist der durch die Auslegung des EuGH überholte gesetzgeberische Regelungswille beim Erlass des – wenn auch erst im Nachhinein erkennbar – den unionsrechtlichen Vorgaben widersprechenden nationalen Rechts hinfällig und steht einer unionsrechtskonformen Rechtfortbildung nicht entgegen.68 Eine entsprechende Überholung ohne gesetzgeberische Bestätigung liegt nur dann nicht vor, wenn die Auslegung des EuGH keinerlei Einfluss auf die ursprüngliche Wertungsentscheidung des Gesetzgebers haben kann. Hierzu muss der nationale Gesetzgeber entweder die Vorgaben des Unionsrechts zutreffend, d.h. im Sinne der Auslegung des EuGH, verstanden und sich mit seiner gesetzgeberischen Entscheidung in Widerspruch zu diesen Vorgaben gesetzt haben oder der nationale Gesetzgeber hat die Vorgaben abweichend von der Auslegung des EuGH verstanden, aber er widersetzt sich mit seiner Rechtsetzung sowohl den fälschlich als auch den zutreffend verstandenen Vorgaben des Unionsrechts.69 Dabei ist anhand des gesetzgeberischen Willens, wie er in den Gesetzesmaterialien zum Ausdruck gebracht worden ist, nachzuweisen, dass dieser Wille auch in Kenntnis der Auslegung des EuGH in gleichem Maße gesetzgeberisch zum Ausdruck gekommen wäre. Hieraus wird deutlich, dass der bewusst abweichende nationale gesetzgeberische Wille, wie er im Wortsinn der nationalen Rechtsnorm zum Ausdruck kommt, die „contra legem“-Grenze für die unionsrechtskonforme Rechtsfortbildung bildet.70 68
Herresthal, Rechtsfortbildung, S. 330 f. Herresthal, EuZW 2007, 396, 400. 70 Daneben sind noch funktionale Grenzen zu berücksichtigen, die sich aus den Instrumenten der Rechtsfortbildung selbst ergeben, wie das Verbot der wesentlichen Umgestaltung der Norm bei der Analogie und das Verbot, eine Norm durch die teleologische Reduktion in ihr Gegenteil zu verkehren. Dazu treten noch die strukturellen Grenzen zur Reichweite der Regelungsdivergenz. Siehe hierzu im Detail Herresthal, Rechtsfortbildung, S. 334 ff. (zu den funktionalen Grenzen), S. 340 ff. (zu den strukturellen Grenzen). 69
A. Arten der Einwirkung des Unionsrechts in nationale Rechtsordnungen
69
III. Rechtsfortbildung der nationalen Rechtsordnung infolge unmittelbar anwendbaren Unionsrechts Schließlich kommt es im Anwendungsbereich des Unionsrechts zu einer Einwirkung von unionsrechtlichen Vorgaben bei der Füllung von Lücken, die anderweitig eröffnet wurden. Bei jedweder Lückenfüllung ist nämlich – ungeachtet seiner unmittelbaren Anwendbarkeit – das gesamte Unionsrecht zu berücksichtigen, soweit es Rechtspflichten für die dem Mitgliedstaat zuzurechnende Judikative aufstellt.71 Mit Blick auf die Wirkungsweise von mit Anwendungsvorrang ausgestatteten Unionsrechtsnormen wird vorliegend jene Rechtsfortbildung interessant, die notwendig wird, weil die Suspensiv- und Ersetzungswirkung des Anwendungsvorrangs, wie sie unter I. beschrieben wurde, zur Lückenhaftigkeit der nationalen Rechtsordnung führt. Es handelt sich dann um eine Rechtsfortbildung infolge unmittelbar anwendbaren Unionsrechts. Hiermit schafft der Anwendungsvorrang das „Einfallstor“ für das gesamte Unionsrecht. Die Rechtsfortbildung der nationalen Rechtsordnung infolge unmittelbar anwendbaren Unionsrechts unterscheidet sich von der unter II. dargelegten unionsrechtskonformen Rechtsfortbildung aufgrund von Unionsrecht. Während bei letzterer die Divergenz zwischen den Rechtsfolgen einer nationalen Rechtsnorm und den Vorgaben einer Unionsrechtsnorm lediglich die Lückenhaftigkeit der nationalen Rechtsordnung begründet, die mit den Mitteln der Rechtsfortbildung bis zur „contra legem“-Grenze zu schließen ist, verdichtet sich bei ersterer die Divergenz zu einer Normenkollision, die – ungeachtet der „contra legem“-Grenze – im Wege des Anwendungsvorrangs durch die Unanwendbarkeit der nationalen Rechtsnorm und die Anwendung der Unionsrechtsnorm aufgelöst wird. Dadurch dass die Unionsrechtsnorm von außerhalb in die nationale Rechtsordnung einwirkt, kann deren Anwendbarkeit zu Lücken innerhalb der nationalen Rechtsordnung führen, da diese aufgrund der nicht mehr anwendbaren nationalen Rechtsnorm nicht mehr stimmig ist oder ein unionsrechtskonformer Rechtszustand mit den weiterhin bestehenden nationalen Normen nicht erreichbar ist und somit ein Normenmangel entsteht.72 Aus dem Gesagten wird bereits deutlich, dass es sich bei der Rechtsfortbildung infolge unmittelbar anwendbaren Unionsrechts nicht um eine Sonderform der unionsrechtskonformen Rechtsfortbildung handelt, sondern vielmehr um die Rechtsfortbildung, wie sie der klassische Methodenkanon einer nationalen Rechtsordnung kennt. Sie ist der Durchführung des Anwendungsvorrangs nachgelagert und behandelt damit Lücken, die möglicherweise – aber nicht
71 Vgl. Höpfner/Rüthers, AcP 109 (2009), 1, 35, die in diesem Fall auch eine richtlinienkonforme Rechtsfortbildung anerkennen. 72 Vgl. die Fallgruppen bei Herresthal, Rechtsfortbildung, S. 272 f.; Höpfner/Rüthers, AcP 109 (2009), 1, 33.
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2. Kapitel: Einwirkungen des EU-Rechts in die nationale Privatrechtsordnung
zwangsläufig – der Anwendbarkeit der Unionsrechtsnorm ex lege im mitgliedstaatlichen Rechtsraum nachfolgen. Lückenfeststellung und Lückenfüllung folgen damit den jeweiligen Vorgaben der nationalen Methodenlehre. Insbesondere wenn sich der Normbefehl der unmittelbar anwendbaren Unionsnorm in einem negativen Verbot erschöpft,73 kann eine Situation eintreten, in der eine Rechtsfrage vorliegt, deren rechtliche Antwort auf der Grundlage der noch anwendbaren Normen offen ist. Die von der nationalen Rechtsordnung für diese Rechtsfrage bislang gegebene Antwort ist aufgrund der Unanwendbarkeit der nationalen Rechtsnorm hinfällig, so dass sich die Frage nach der Alternativantwort stellt. Die unionale Rechtsnorm, die lediglich einen negativen Normbefehl in Form eines Verbots hat, gibt keine Antwort, so dass die rechtliche Antwort infolge des unionsrechtlichen Anwendungsvorrangs offensteht. Der nationale Richter kann jedoch die rechtliche Antwort nicht offenlassen. Das Rechtsverweigerungsverbot aus Art. 19 Abs. 4 GG74 verlangt vom nationalen Richter, eine Rechtsantwort zu geben. Es liegt eine Regelungsverweigerungslücke vor.75 In einem solchen Fall ergibt sich aus dem nationalen verfassungsrechtlichen Rechtsverweigerungsverbot die Notwendigkeit der Lückenschließung.76 Die infolge einer unmittelbar anwendbaren Unionsrechtsnorm entstehenden Rechtsverweigerungslücken sind somit Lücken der nationalen Rechtsordnung, die nach der tradierten Methodologie der nationalen richterlichen Rechtsfortbildung zu schließen sind. Es handelt sich bei der Rechtsfortbildung infolge unmittelbar anwendbarer Unionsrechtsnormen um eine die unmittelbare Anwendbarkeit ergänzende (konstitutive) Rechtsfortbildung.77 Die Besonderheit der Regelungslücke besteht dabei darin, dass bei ihr „zunächst nur das Vorhandensein der Lücke und die Notwendigkeit ihrer Ausfüllung – bei Vermeidung der Rechtsverweigerung – fest[steht], dagegen ist die Frage, wie die Lücke auszufüllen ist, […] noch offen.“78 Bei der Füllung von Rechtsverweigerungslücken, die aufgrund des negativen Normbefehls unmittelbar anwendbarer Unionsrechtsnormen (insbesondere der Diskriminierungsverbote und der Grundfreiheiten) entstanden sind, sind nunmehr auch die nicht unmittelbar anwendbaren Rechtspflichten der Mitgliedstaaten aus Art. 4 Abs. 3 UAbs. 2 EUV, wonach diese alle geeigneten Maßnahmen zu treffen haben, um die volle Wirksamkeit des Unionsrechts zu
73 Zur Unterscheidung nach den Kategorien der positiven und der negativen Integration sogleich auf S. 71. 74 Schmidt-Aßmann, in: Maunz/Dürig, Grundgesetz-Kommentar, Art. 19 Abs. 4 Rn. 16 f. 75 Siehe zur „Rechtsverweigerungslücke“: Canaris, Die Feststellung von Lücken im Gesetz, S. 141. 76 Schumann, ZZP 81 (1968), 79 ff. 77 Herresthal, Rechtsfortbildung, S. 272. 78 Larenz/Canaris, Methodenlehre, S. 220 f.
B. Einwirkungen in das Privatrechtsverhältnis mit Auslandsbezug
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gewährleisten,79 und aus Art. 288 Abs. 3 AEUV, die Vorgaben von Richtlinien in nationales Recht umzusetzen, zu berücksichtigen.
B. Einwirkungen des Unionsrechts in das Privatrechtsverhältnis mit Auslandsbezug B. Einwirkungen in das Privatrechtsverhältnis mit Auslandsbezug
Privatrecht und Unionsrecht bilden keine Antipoden, sondern wirken vielmehr zusammen und sind wechselseitig aufeinander angewiesen.80 Unionsrechtliche Vorgaben bedürfen der privat- und zivilprozessrechtlichen Ergänzung und Durchsetzung. Die nationalen Privatrechtsordnungen haben im Verbund der Rechtsordnungen Vorgaben des Unionsrechts Folge zu leisten. Das Unionsrecht wirkt so auf vielfältige Art und Weise in das Privatrechtsverhältnis mit Auslandsbezug oder, anders gewendet, mit einem grenzüberschreitenden Bezug ein. I. Kategorisierung der privatrechtsrelevanten unionalen Rechtsnormen nach der Reichweite ihrer Einwirkung Die Einwirkungen des Unionsrechts auf das Privatrechtsverhältnis folgen dem mit unmittelbarer Anwendbarkeit ausgestatteten Normbefehl der jeweils einwirkenden unionalen Rechtsnorm. Die Einwirkungen lassen sich dabei in Anlehnung an die Unterscheidung in negative und positive Integration entsprechend ihrer Einwirkungsweise grob in zwei Kategorien einteilen. Die Unterscheidung, die von Tinbergen ursprünglich für die Integration von Märkten entwickelt wurde,81 beschreibt mit dem Begriff der „negativen Integration“ die ersatzlose Beseitigung grenzüberschreitender Handelshemmnisse, während der Begriff der „positiven Integration“ die rechtsetzende Unterstützung der negativen Integration darstellt. Die durch die negative Integration intendierte ersatzlose Beseitigung von insbesondere ordnungs- und steuerpolitischen Regeln kann zu einer Abwärtsspirale mit Wohlfahrtsverlusten führen, so dass eine einheitliche Rechtsetzung in Form der positiven Integration notwendig ist, um gleiche und faire Wettbewerbsbedingungen auf einem gemeinsamen Markt zu erreichen.82 Kategorisiert man die Einwirkungen des Unionsrechts auf das Privatrecht entlang der negativen und positiven Integration, so erkennt man mit Müller-Graff zwei Einwirkungsarten des Unionsrechts in das Privatrechtsverhältnis: Privatrechtsbeschränkung und Privatrechtsschöpfung, wobei die Kategorisierung nicht trennscharf ist.83 79
Vgl. von Bogdandy/Schill, in: Grabitz/Hilf/Nettesheim, Art. 4 EUV Rn. 79. Müller-Graff, Privatrecht und Europäisches Gemeinschaftsrecht, S. 24 ff. 81 Vgl. Tinbergen, International Economic Integration, S. 8, 117 ff. 82 Entwickelt bei Tinbergen, International Economic Integration, S. 18, 122. 83 Müller-Graff, Privatrecht und Europäisches Gemeinschaftsrecht, S. 20. 80
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2. Kapitel: Einwirkungen des EU-Rechts in die nationale Privatrechtsordnung
1. Negative Integration: Privatrechtsbeschränkungen Innerhalb der Kategorie der Privatrechtsbeschränkung lassen sich zwei Unterkategorien ausmachen, die sich danach unterscheiden, ob der unionsrechtskonforme Rechtszustand außer durch die Nichtanwendung der nationalen Privatrechtsnorm noch durch die Erfüllung zusätzlicher positiver Handlungspflichten der Mitgliedstaaten hergestellt wird. Es handelt sich dabei um die Unterkategorien der „schlichten Begrenzung subjektiver Rechte“ (ohne weiteren Handlungsauftrag) und der „Beanstandung mangelnder [unions]rechtlicher Konformität mit daraus resultierendem Handlungsauftrag“.84 a) Schlichte Begrenzung subjektiver Rechte Die Fallgruppe der schlichten Begrenzung subjektiver Rechte erfasst all jene unionalen Normen, deren Normbefehl sich darin erschöpft, entgegenstehende Verträge oder Beschlüsse für nichtig (Art. 101 Abs. 2 AEUV), eine entgegenstehende nationale Privatrechtsnorm für unanwendbar zu erklären oder eine die Norm verletzende privatautonome Handlung zu untersagen.85 b) Unionsrechtliche Beanstandung mit daraus resultierendem Handlungsauftrag Neben die schlicht begrenzend wirkenden Normbefehle unionaler Normen treten all jene Normen, deren Rechtsfolge zwar zunächst auch rein negativ auf die Unanwendbarkeit entgegenstehenden nationalen Privatrechts gerichtet ist. Jedoch wird durch die Unanwendbarkeit noch kein unionsrechtskonformer Zustand herbeigeführt. Die Unanwendbarkeit wird von einem daraus resultierenden unionalen Handlungsauftrag begleitet. Dies ist zum einen bei unionalen Normen der Fall, deren eigener Gewährleistungsgehalt über ein reines Verbot hinausgeht, ohne bereits selbst privatrechtsschöpfend zu sein. Zum anderen wird eine subjektive Rechte schlicht begrenzend wirkende unionale Norm durch zusätzliche Pflichten des Mitgliedstaates nach Art. 4 Abs. 3 UAbs. 2 EUV ergänzt. Dies ist beispielsweise beim unionalen Diskriminierungsverbot aus Gründen des Geschlechts beim Zugang zu Beschäftigung der Fall, wonach nicht nur eine Ungleichbehandlung zu unterlassen ist, sondern zugleich eine Sanktion dieser Ungleichbehandlung geeignet sein muss, „einen tatsächlichen und wirksamen Rechtsschutz zu gewährleisten [… und] ferner eine wirklich abschreckende Wirkung gegenüber dem Arbeitgeber [zu] haben“.86 Demnach verlangt Art. 4 Abs. 3 (ggf. in Verbindung mit Art. 288 Abs. 3 AEUV) die praktische Wirksamkeit einer Unionsnorm im mitgliedstaatlichen Rechtsraum
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Müller-Graff, Privatrecht und Europäisches Gemeinschaftsrecht, S. 20 ff. Müller-Graff, Privatrecht und Europäisches Gemeinschaftsrecht, S. 20. 86 Vgl. EuGH, Rs. 14/83, von Colson und Kamann, Slg. 1984, 1891 Rn. 23, 28. 85
B. Einwirkungen in das Privatrechtsverhältnis mit Auslandsbezug
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zu gewährleisten, was eine über die schlichte Unanwendbarkeit einer nationalen Privatrechtsnorm hinausgehende Verpflichtungen umfasst.87 2. Positive Integration: Einwirkung des Unionsrechts in Form von Privatrechtsschöpfung Die Privatrechtsschöpfung lässt sich entsprechend der Rechtsordnung, die Privatrechtsnormen schöpft, in zwei Unterkategorien unterteilen, nämlich in „unmittelbar geltendes einheitliches Privatrecht auf [Unions]ebene“ und die „Schaffung gemeinsamen nationalen Privatrechts“.88 a) Unmittelbar geltendes einheitliches Privatrecht auf Unionsebene Bei unmittelbar geltendem einheitlichem Privatrecht auf Unionsebene handelt es sich entweder um Primärrechtsnormen oder um Verordnungen im Sinne des Art. 288 Abs. 2 AEUV. Primärrechtlich ist dabei an das Kartellrecht in Art. 101 AEUV und Art. 102 AEUV zu denken.89 Auf sekundärrechtlicher Ebene hat die Union Einheitsrecht insbesondere im IPR und im IZPR geschaffen. So ist im Verordnungswege das Internationale vertragliche Schuldrecht (Rom I-Verordnung)90, das Internationale außervertragliche Schuldrecht (Rom II-Verordnung)91, das Internationale Scheidungsrecht (Rom III-Verordnung)92, das Internationale Unterhaltsrecht93 und das Internationale Erbrecht94 als europäisches Einheitsrecht erlassen worden. Im IZPR handelt es sich um
87
Vgl. zu den Handlungspflichten der Mitgliedstaaten zur Sicherung der Warenverkehrsfreiheit: EuGH, Rs. C-265/95, Kommission/Frankreich, Slg. 1997, I-6959 Rn. 32. Streinz, in: Streinz, Art. 4 EUV Rn. 28; Zuleeg, in: von der Groeben/Schwarze, Art. 10 EGV Rn. 4. 88 Müller-Graff, Privatrecht und Europäisches Gemeinschaftsrecht, S. 22 ff. 89 Müller-Graff, Privatrecht und Europäisches Gemeinschaftsrecht, S. 12 ff., 24. 90 Verordnung (EG) Nr. 593/2008 über das auf vertragliche Schuldverhältnisse anzuwendende Recht (Rom I), ABl. 2008 L 177/6. 91 Verordnung (EG) Nr. 864/2007 über das auf außervertragliche Schuldverhältnisse anzuwendende Recht (Rom II), ABl. 2007 L 199/40. 92 Wenn auch erst nur in verstärkter Zusammenarbeit von zunächst 14 Mitgliedstaaten (inzwischen sind es nach dem Beitritt Litauens 15 Mitgliedstaaten), Verordnung (EU) Nr. 1259/2010 des Rates zur Durchführung einer Verstärkten Zusammenarbeit im Bereich des auf die Ehescheidung und Trennung ohne Auflösung des Ehebandes anzuwendenden Rechts (Rom III), ABl. 2010 L 343/10. 93 Verordnung (EG) Nr. 4/2009 über die Zuständigkeit, das anwendbare Recht, die Anerkennung und Vollstreckung von Entscheidungen und die Zusammenarbeit in Unterhaltssachen, ABl. 2009 L 7/1. 94 Verordnung (EU) Nr. 650/2012 über die Zuständigkeit, das anzuwendende Recht, die Anerkennung und Vollstreckung von Entscheidungen und die Annahme und Vollstreckung öffentlicher Urkunden in Erbsachen sowie zur Einführung eines Europäischen Nachlasszeugnisses, ABl. 2012 L 201/107.
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2. Kapitel: Einwirkungen des EU-Rechts in die nationale Privatrechtsordnung
die Regelung der gerichtlichen Zuständigkeit, Anerkennung und Vollstreckung95 sowie der Zustellung von Schriftstücken96 und des Internationalen Beweisverfahrens in Zivil- und Handelssachen97, die Regelung des Internationalen Eheverfahrensrechts98 und des Internationalen Insolvenzverfahrensrechts99 sowie die Schaffung eines Europäischen Verfahrens für geringfügige Forderungen100, eines Europäischen Mahnverfahrens101 und eines Europäischen Vollstreckungstitels für unbestrittene Forderungen102. Neben diesen Verordnungen des IPR und des IZPR hat der Unionsgesetzgeber unmittelbar anwendbares Einheitsprivatrecht im Gesellschaftsrecht,103 im Markenrecht,104 im Transportrecht105, im Kartellrecht106 und im Fusionskontrollrecht107 geschaffen. Dieses unmittelbar anwendbare unionale Einheitsprivatrecht überlagert geltendes mitgliedstaatliches Privatrecht und verdrängt dieses. Es berechtigt und verpflichtet gemäß Art. 288 Abs. 2 AEUV die Normunterworfenen unmittelbar. 95 Verordnung (EG) Nr. 44/2001 über die gerichtliche Zuständigkeit und die Anerkennung und Vollstreckung von Entscheidungen in Zivil- und Handelssachen, ABl. 2001 L 12/1, die mit Wirkung zum 10.1.2015 ersetzt wird durch die gleichnamige Verordnung (EU) Nr. 1215/2012, ABl. 2012 L 351/1. 96 Verordnung (EG) Nr. 1393/2007 über die Zustellung gerichtlicher und außergerichtlicher Schriftstücke in Zivil- oder Handelssachen in den Mitgliedstaaten, ABl. 2007 L 324/79. 97 Verordnung (EG) Nr. 1206/2001 über die Zusammenarbeit zwischen den Gerichten der Mitgliedstaaten auf dem Gebiet der Beweisaufnahme in Zivil- und Handelssachen, ABl. 2001 L 174/1. 98 Verordnung (EG) Nr. 2201/2003 über die Zuständigkeit und die Anerkennung und Vollstreckung von Entscheidungen in Ehesachen und in Verfahren betreffend die elterliche Verantwortung, ABl. 2003 L 338/1. 99 Verordnung (EG) Nr. 1346/2000 über Insolvenzverfahren, ABl. 2000 L 160/1. 100 Verordnung (EG) Nr. 861/2007 zur Einführung eines Europäischen Verfahrens für geringfügige Forderungen, ABl. 2007 L 199/1. 101 Verordnung (EG) Nr. 1896/2006 zur Einführung eines Europäischen Mahnverfahrens, ABl. 2006 L 399/1. 102 Verordnung (EG) Nr. 805/2004 zur Einführung eines Europäischen Vollstreckungstitels für unbestrittene Forderungen, ABl. 2004 L 143/15. 103 Verordnung (EG) Nr. 2157/2001 über das Statut der Europäischen Gesellschaft (SE), ABl. 2001 L 294/1. 104 Verordnung (EG) Nr. 207/2009 über die Gemeinschaftsmarke, ABl. 2009 L 78/1, ersetzt durch Verordnung (EU) Nr. 2017/100 über die Unionsmarke, ABl. 2017 L 154/1. 105 Verordnung (EG) Nr. 261/2004 über eine gemeinsame Regelung für Ausgleichs- und Unterstützungsleistungen für Fluggäste im Fall der Nichtbeförderung und bei Annullierung oder großer Verspätung von Flügen, ABl. 2004 L 46/1. 106 Verordnung (EG) Nr. 1/2003 zur Durchführung der in den Artikeln 81 und 82 des Vertrags niedergelegten Wettbewerbsregeln, ABl. 2003 L 1/1. 107 Verordnung (EG) Nr. 139/2004 über die Kontrolle von Unternehmenszusammenschlüssen, ABl. 2004 L 24/1.
B. Einwirkungen in das Privatrechtsverhältnis mit Auslandsbezug
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b) Schaffung gemeinsamen nationalen Privatrechts Mit Richtlinien setzt der Unionsgesetzgeber privatrechtliche Ziele, die die Mitgliedstaaten nach Art. 288 Abs. 3 AEUV in nationales Recht umsetzen müssen. Das richtlinienbasierte Privatrecht ist die prominenteste Form der Schöpfung gemeinsamen Privatrechts. Beispielhaft seien hier einige verbraucherschützende Richtlinien genannt: die Verbraucherrechterichtlinie108, die Richtlinie über den Fernabsatz von Finanzdienstleistungen109 oder die Richtlinie über den Verbrauchsgüterkauf110. Diese Richtlinien durchwirken das Privatrecht tiefgreifend.111 II. Zusammenspiel von Internationalem Privatrecht und Sachprivatrecht Das Privatrechtsverhältnis mit Auslandsbezug unterliegt einer Sachnorm und der diese zur Anwendung berufenden Kollisionsnorm.112 Sie bilden zusammen eine „Gesamtnorm“.113 Einwirkungsobjekt des Unionsrechts beim Privatrechtsverhältnis mit Auslandsbezug ist demnach die aus Kollisionsnorm und Sachnorm zusammengesetzte „Gesamtnorm“. Dabei beeinflusst das IPR die „Gesamtnorm“ auf zwei Stufen (sog. „Zwei-Stufen-Theorie“114). Das Internationale Privatrecht bestimmt zunächst durch Verweisung die auf einen Lebenssachverhalt mit Auslandsbezug anwendbare staatliche Privatrechtsordnung aus dem Kreis derjenigen Privatrechtsordnungen, die eine Verbindung zu diesem Lebenssachverhalt aufweisen. Innerhalb seines eigenen Anwendungsbereichs regelt das IPR damit den räumlichen Anwendungsbereich der inländischen wie der ausländischen Privatrechtsordnungen.115 Die Instru-
108
Richtlinie 2011/83/EU über die Rechte der Verbraucher, ABl. 2011 L 304/64. Richtlinie 2002/65/EG über den Fernabsatz von Finanzdienstleistungen an Verbraucher, ABl. 2002 L 271/16. 110 Richtlinie 1999/44/EG zu bestimmten Aspekten des Verbrauchsgüterkaufs und der Garantien für Verbrauchsgüter, ABl. 1999 L 171/12. 111 Siehe im Detail dazu die einzelnen Kapitel in Gebauer/Wiedmann, Zivilrecht unter europäischem Einfluss, 2. Aufl. 2010. 112 Unter Berücksichtigung weiterer Kollisionsnormen, sofern die Ausgangskollisionsnorm eine Gesamtverweisung ausspricht. 113 Freitag, Produkthaftungsrecht, S. 309 f., Neuhaus, Grundbegriffe des IPR, § 35 I, S. 268 f.; Körber, Grundfreiheiten und Privatrecht, S. 406 f. 114 Jayme, Rechtsvergleichung – Ideengeschichte und Grundlagen von Emerico Amari zur Postmoderne, 2000, S. 137, 143 f.; ders., FS Müller-Freienfels, 1986, S. 367 ff.; E. Lorenz, FamRZ 1987, 645 ff.; ders., in: FS W. Lorenz, S. 441, 464 ff.; Heßler, Sachrechtliche Generalklausel und internationales Privatrecht – Zu einer zweistufigen Theorie des internationalen Privatrechts, passim; Mansel, in: FS W. Lorenz, S. 689, 703 ff.; Weller, ZGR 2010, 679, 694 f. 115 Kropholler, IPR, § 1 Rn. 2 f., S. 1; MünchKommBGB (2010)/Sonnenberger, Einl. IPR Rn. 3. 109
76
2. Kapitel: Einwirkungen des EU-Rechts in die nationale Privatrechtsordnung
mente hierfür sind die Qualifikation, die Anknüpfung und der renvoi. Die hierauf folgende zweite Stufe des IPR reagiert darauf, dass die Sachnormen im Regelfall auf Inlandssachverhalte und nicht auf internationale Sachverhalte zugeschnitten sind. Das zur Anwendung berufene Sachrecht muss daher, wenn es der Internationalität des Sachverhalts nicht gerecht wird, adaptiert werden. Die Instrumente hierfür sind die Substitution und die Anpassung. Die Substitution greift dabei, wenn eine Sachnorm über ein Tatbestandsmerkmal verfügt, das im Ausland oder nach ausländischem Recht verwirklicht wurde, und daher das inländische Tatbestandsmerkmal durch eine ausländische Verwirklichung substituiert werden muss.116 Die Anpassung einer Sachnorm kann notwendig werden, wenn ein einheitliches Lebensverhältnis durch nebeneinander oder nacheinander relevante unterschiedliche Rechtsordnungen geprägt ist. Sie soll die daraus entstehenden Normwidersprüche auflösen.117 Das Unionsrecht kann dabei sowohl auf die Kollisionsnorm als auch auf die Sachnorm einwirken. Dabei ist zunächst danach zu fragen, ob die Einwirkung aufgrund positiver privatrechtsschöpfender Vorgaben des Unionsrechts, aufgrund negativer, Privatrechtsbeschränkungen untersagender Vorgaben des Unionsrechts oder aufgrund negativer Vorgaben mit einem daran anknüpfenden unionsrechtlichen Handlungsauftrag erfolgt. In einem zweiten Schritt ist dann festzustellen, ob der Vorgabe durch die Kollisionsnorm oder durch die Sachnorm nicht entsprochen wurde. Auf der Rechtsfolgenseite wird die Gesamtnorm relevant. Der Verstoß gegen das Unionsrecht kann nämlich ausschließlich auf der Ebene des Kollisionsrechts oder ausschließlich auf der Ebene des Sachrechts behoben werden. Denkbar sind jedoch auch Fälle, in denen der Verstoß sowohl auf der Ebene der Kollisionsnorm als auch auf der Ebene der Sachnorm aufgelöst werden kann. In diesem Fall ist die Gesamtnorm das Einwirkungsobjekt des Unionsrechts. Wie später zu zeigen sein wird, unterscheiden sich die Einwirkungsobjekte nach der Art des Verstoßes: Spezifisch kollisionsrechtliche Verstöße können nur auf der Ebene des Kollisionsrechts, spezifisch sachrechtliche Verstöße können nur auf der Ebene des Sachrechts und Verstöße, die sich nicht spezifisch der Kollisions- oder der Sachnorm zuweisen lassen, können auf beiden Ebenen der Gesamtnorm behoben werden.118
116
Vgl. Lewald, RdC 69 (1939), 130; Kropholler, IPR, § 33, S. 231 ff. Vgl. Looschelders, Anpassung im IPR; Dannemann, Ungewollte Diskriminierung; Kropholler, IPR, § 34, S. 234 ff. 118 Zu den Konsequenzen dieser Kategorisierung siehe unten S. 295 ff. 117
C. Zwischenergebnis
77
C. Zwischenergebnis C. Zwischenergebnis
Unmittelbar anwendbare Unionsrechtsnormen wirken ex lege in den nationalen Privatrechtsordnungen. Kraft des Anwendungsvorrangs sind sie im Fall eines Konfliktes ihrer Rechtsfolgen mit denen einer auf denselben Lebenssachverhalt anwendbaren nationalen Rechtsnorm zur Anwendung im mitgliedstaatlichen Rechtsraum berufen bei gleichzeitiger Unanwendbarkeit der entgegenstehenden nationalen Rechtsnorm. Obwohl die unmittelbar anwendbare Unionsrechtsnorm ex lege vom nationalen Richter anzuwenden ist, war sie kein Bestandteil des Gesamtplans des nationalen Gesetzgebers. Somit kann die Anwendung des Normbefehls der Unionsrechtsnorm zu Lücken in der nationalen Rechtsordnung führen. Das ist innerhalb der mitgliedstaatlichen Privatrechtsordnungen insbesondere bei negativen, Privatrechtsbeschränkungen untersagenden Vorgaben des Unionsrechts der Fall. Sie führen dazu, dass die nationale Rechtsnorm, die bislang die Antwort der nationalen Rechtsordnung für eine Rechtsfrage gegeben hat, unanwendbar ist, ohne dass die Unionsnorm selbst eine rechtliche Antwort gibt. Positive privatrechtsschöpfende Vorgaben des Unionsrechts geben dagegen selbst eine rechtliche Antwort, die an die Stelle der Antwort der nationalen Rechtsnorm tritt. Um den Normenkonflikt, der den Anwendungsvorrang auslöst, zu vermeiden, kann (aus unionsrechtlicher Sicht) bzw. muss (aus der Sicht des verfassungsrechtlichen „favor legis“-Grundsatzes) der Richter die nationale Rechtsnorm unionsrechtskonform auslegen und fortbilden. Die unionsrechtskonforme Rechtsfortbildung aufgrund von Unionsrecht bildet dabei eine eigenständige Kategorie der Rechtsfortbildung neben der gesetzesimmanenten und der gesetzesübersteigenden Rechtsfortbildung. Sie weicht in entscheidenden Punkten von den Kategorien der Rechtsfortbildung der rein nationalen Methodenlehre ab. Sie stellt sowohl zur Lückenfeststellung als auch zur Lückenfüllung nicht mehr auf den Gesamtplan des nationalen Normgebers ab, sondern auf das Prinzip der Kompatibilität der Rechtsordnungen im Verbund der Rechtsordnungen. Dieses hat seine normative Grundlage in Art. 4 EUV und Art. 23 Abs. 1 GG. Nach dem Prinzip der Kompatibilität der Rechtsordnungen müssen im Verbund der Rechtsordnungen die nationalen Rechtsordnungen im Einklang mit der Unionsrechtsordnung und dabei insbesondere mit deren Rechtspflichten und Rechtssetzungspflichten stehen. Die Analogie, die Reduktion und die Extension sind entsprechend anzupassen. Die „contra legem“Grenze der Rechtsfortbildung ist dabei innerhalb des Anwendungsbereichs des Unionsrechts im multipolaren Spannungsfeld zweier gleichermaßen legitimierter Normgeber und der nationalen Judikative dort zu ziehen, wo der nationale Gesetzgeber willentlich Normen erlassen hat, deren Rechtsfolgen im Widerspruch zu den unionsrechtlichen Handlungsaufträgen stehen, die nicht unmittelbar anwendbar sind. Entstehen unionale Rechtspflichten erst durch ein nach Erlass der nationalen Rechtsnorm ergangenes Urteil des EuGH, bedarf es einer
78
2. Kapitel: Einwirkungen des EU-Rechts in die nationale Privatrechtsordnung
ausdrücklichen gesetzgeberischen Bestätigung, damit der nationale Richter die unionalen Rechtspflichten bei der Rechtsfortbildung unberücksichtigt lassen muss. Infolge der Anwendung einer unmittelbar anwendbaren Unionsrechtsnorm kann der nationale Richter schließlich dazu aufgerufen sein, eine Rechtsverweigerungslücke mit den Mitteln der nationalen Methodenlehre zu schließen. Diese Lücke wird dann zum „Einfallstor“ für das gesamte Unionsrecht und zwar ungeachtet dessen unmittelbarer Anwendbarkeit. Das Rechtsverweigerungsverbot aus Art. 19 Abs. 4 GG erstreckt damit die Wirkungsweise des unionsrechtlichen Anwendungsvorrangs bei unmittelbar anwendbaren Unionsrechtsnormen mit einem rein negativ wirkenden Normbefehl in die Rechtsfortbildung unter Einschluss von unionalen Rechtspflichten, die nicht unmittelbar anwendbar sind.
Kapitel 3
Primärrechtliche Vorgaben für die nationalen Rechtsordnungen Der unionsrechtliche Anwendungsvorrang beruft im Falle eines Konflikts der Rechtsfolgen einer Unionsrechtsnorm und einer nationalen Rechtsnorm die erstere zur Anwendung und ordnet die Unanwendbarkeit der letzteren an. Die Einwirkungen des Unionsrechts in die mitgliedstaatliche Rechtsordnung folgen dem Normbefehl der unmittelbar anwendbaren Unionsrechtsnorm. In den vorgehenden Kapiteln konnten die Mechanik des unionsrechtlichen Anwendungsvorrangs und seine theoretische Grundierung dargelegt werden. Um die Wirkungsweise des unionsrechtlichen Anwendungsvorrangs in ihrem vollen Umfang zu erfassen, bedarf es nunmehr einer näheren Betrachtung des Normbefehls, den der Anwendungsvorrang zur Anwendung in den mitgliedstaatlichen Rechtsräumen beruft. Hierzu beschränken sich die folgenden Ausführungen auf unmittelbar anwendbare Unionsrechtsnormen. Dies folgt bereits daraus, dass nur solche Unionsrechtsnormen vom Anwendungsvorrang erfasst sind. Darüber hinaus beschränkt sich die folgende Darstellung auf die privatrechtsrelevanten Primärrechtsnormen der negativen Integration, deren Normbefehl ein Verbot gegenüber den Normunterworfenen ausspricht. Dies liegt darin begründet, dass diese Unionsrechtsnormen die überwiegende Anzahl von Fällen betreffen, in denen das Unionsrecht in das IPR einwirkt.1 Das privatrechtsrelevante Primärrecht wird nachgehend in solche Primärrechtsnormen unterteilt, die gleichheitsrechtliche Vorgaben für die mitgliedstaatlichen Rechtsordnungen aufstellen (A.), in die Marktgrundfreiheiten (B.) und in die Unionsbürgerfreizügigkeit (C.). Abschließend wird die Frage nach der Schutzbereichsverstärkung dieser Primärrechtsnormen durch die Unionsgrundrechte (D.) aufgeworfen. Dadurch wird der Versuch unternommen, eine einheitliche Dogmatik für die privatrechtsrelevanten Primärrechtsnormen zu entwickeln, die anschließend für die Untersuchung der Einwirkungen des Primärrechts in das mitgliedstaatliche IPR fruchtbar gemacht werden soll.
1
Vgl. etwa Wiedmann, in: Gebauer/Wiedmann, Kapitel 3.
80
4. Kapitel: Einwirkungen des Primärrechts in das autonome IPR
A. Gleichheitsrechtliche Vorgaben A. Gleichheitsrechtliche Vorgaben
Die gesonderte Hervorhebung der Primärrechtsnormen, denen gleichheitsrechtliche Vorgaben für die mitgliedstaatlichen Rechtsordnungen entnommen werden können, dient der näheren Betrachtung der Struktur der unionsrechtlichen Gleichheitssätze. Sie wird zeigen, dass diejenigen Gleichheitssätze, die das verbotene Differenzierungsmerkmal bereits in ihrem Tatbestand tragen, dieselbe Struktur aufweisen und die hierin erhaltenen Diskriminierungsverbote sich lediglich im Hinblick auf den jeweiligen sachlichen Anwendungsbereich unterscheiden. Diese Erkenntnis ist von Bedeutung bei der Einwirkung von Diskriminierungsverboten aus anderen Gründen als denjenigen der Staatsangehörigkeit in die Privatrechtsordnungen. Hierzu sollen zunächst die Diskriminierungsverbote des geltenden Unionsrechts dargestellt werden (I.), bevor eine einheitliche Dogmatik der unionsrechtlichen Gleichheitssätze entwickelt wird (II.). Die einer einheitlichen Dogmatik folgenden unionsrechtlichen Gleichheitssätze unterscheiden sich lediglich durch das jeweils von ihnen erfasste verbotene Differenzierungsmerkmal und ihren sachlichen Anwendungsbereich. Die Reichweite ihrer Wirkung in den mitgliedstaatlichen Rechtsordnungen unterscheidet sich dabei nach der selbstständigen Eröffnung des jeweiligen Anwendungsbereichs und, wo der jeweilige unionsrechtliche Gleichheitssatz seinen eigenen Anwendungsbereich nicht aus sich selbst heraus eröffnet, nach der anderweitigen Anwendungsbereichseröffnung des Unionsrechts (III.). Nur wenige Diskriminierungsverbote sind eigenständig anwendbar. Die deutliche Mehrzahl verlangt für ihre Anwendbarkeit eine anderweitige Anwendungsbereichseröffnung des Unionsrechts. I. Vielzahl unionsrechtlicher Diskriminierungsverbote Gleichheitsrechtliche Vorgaben finden sich im Unionsrecht im mittlerweile geschriebenen allgemeinen Gleichheitssatz (Art. 20 GRCh) und in den Diskriminierungsverboten.2 Dabei unterscheiden sich Diskriminierungsverbote vom allgemeinen Gleichheitssatz dadurch, dass sie eine auf bestimmte Sach- und Lebensbereiche begrenzte Gleichbehandlung verlangen sowie eine Ungleichbehandlung aufgrund bestimmter Merkmale untersagen. Sie bilden als spezielle Gleichheitssätze einen Ausschnitt des allgemeinen Gleichheitssatzes ab.3 Besondere Diskriminierungsverbote sind dadurch gekennzeichnet, dass sie auf Gleichheit bezüglich eines bestimmten Merkmals ausgerichtet sind und deshalb das verbotene Differenzierungsmerkmal in ihrem Tatbestand tragen.4 Die 2
Vgl. Kingreen, in: Ehlers, § 17 Rn. 5, S. 620. Vgl. Plötscher, S. 36. 4 Vgl. Plötscher, S. 45 ff. 3
A. Gleichheitsrechtliche Vorgaben
81
Diskriminierungsverbote gehen dabei als „leges speciales“ dem allgemeinen Gleichheitssatz als „lex generalis“ vor. Als verbotene Differenzierungsmerkmale erfassen die geschriebenen unionsrechtlichen besonderen Diskriminierungsverbote die Staatsangehörigkeit5, die Produktherkunft6, das Geschlecht7, die Rasse und ethnische Herkunft8, die Religion, die Weltanschauung, die Behinderung, das Alter und die sexuelle Ausrichtung9 sowie die Behinderung, die Hautfarbe, die soziale Herkunft, genetische Merkmale, die Sprache, die Zugehörigkeit zu einer nationalen Minderheit, das Vermögen, die Geburt10. Die Sach- und Lebensbereiche, auf die sich die geschriebenen unionsrechtlichen Diskriminierungsverbote beschränken, sind der grenzüberschreitende Verkehr von Waren, Dienstleistungen und Kapital11, die grenzüberschreitende Freizügigkeit von Arbeitnehmern, Selbstständigen und Unternehmen12, die Besteuerung von Waren13, die gemeinsame Agrarmarktordnung14, Entgeltfragen15, Beschäftigung und Beruf16, der Zugang zu Beschäftigung, Berufsbildung und zum beruflichen Aufstieg sowie Arbeitsbedingungen17 und der Zugang zu und die Versorgung mit Gütern und Dienstleistungen18. Der allgemeine Gleichheitssatz (Art. 20 GRCh) findet sich ebenso wie die nicht auf bestimmte Lebensbereiche beschränkten besonderen Diskriminierungsverbote (Art. 21 GRCh) in der EU-Grundrechtecharta, die ihren Rang gemäß Art. 6 Abs. 1 EUV mit den Verträgen teilt, deren Anwendungsbereich jedoch durch Art. 51 GRCh begrenzt ist.19 Einzig das Diskriminierungsverbot aus Gründen der Staatsangehörigkeit gilt nach Art. 18 Abs. 1 AEUV im Anwendungsbereich der Verträge ohne Beschränkung auf einen bestimmten Sach- oder Lebensbereich.
5 Art. 18 AEUV, Art. 45 Abs. 2 AEUV, Art. 49 AEUV, Art. 56 AEUV, Art. 21 Abs. 2 GRCh. 6 Art. 34 AEUV, Art. 56 AEUV, Art. 63 AEUV, Art. 107 Abs. 2 lit. a) AEUV, Art. 110 AEUV. 7 Art. 157 AEUV, Art. 23 GRCh, Richtlinie 2004/113/EG, Richtlinie 76/207/EWG. 8 Art. 21 GRCh, Richtlinie 2000/43/EG. 9 Art. 21 GRCh, Richtlinie 2000/78/EG. 10 Art. 21 GRCh. 11 Art. 34 AEUV, Art. 56 AEUV, Art. 63 AEUV. 12 Art. 45 AEUV, Art. 49 AEUV. 13 Art. 110 Abs. 1 AEUV. 14 Art. 40 Abs. 2 UAbs. 2 AEUV. 15 Art. 157 Abs. 1 AEUV. 16 Richtlinie 2000/78/EG. 17 Richtlinie 76/207/EWG (in der Fassung der Richtlinie 2002/73/EG). 18 Richtlinie 2004/113/EG. 19 Näher dazu unten S. 152 ff.
82
4. Kapitel: Einwirkungen des Primärrechts in das autonome IPR
II. Einheitliche Dogmatik der unionsrechtlichen Gleichheitssätze Das Bild der unionsrechtlichen Gleichheitssätze stellt sich auf den ersten Blick als ein Mosaik unterschiedlicher, punktuell wirkender Diskriminierungsverbote dar. Bei genauerer Betrachtung lässt sich jedoch eine einheitliche Dogmatik unionsrechtlicher Gleichheitssätze erkennen.20 Die Notwendigkeit einer derartigen einheitlichen Dogmatik unionsrechtlicher Gleichheitssätze ergibt sich aus dem Bedürfnis nach vergleichbaren Maßstäben bei ihrer Anwendung. Nur so kann ein lückenloser und zugleich ausdifferenzierter Rechtsschutz durch Gleichheitsrechte gewährleistet werden.21 Dies dient der Gewährleistung von Rechtsklarheit und Rechtssicherheit. Die Annahme einer einheitlichen Dogmatik unionsrechtlicher Gleichheitssätze erlaubt zudem die Übertragung von in der Rechtsprechung des EuGH zu einem bestimmten Diskriminierungsverbot entwickelten Grundsätzen im Wege der Verallgemeinerung über den allgemeinen Gleichheitssatz auf andere unionsrechtliche Diskriminierungsverbote, soweit die Besonderheiten des jeweiligen Diskriminierungsverbotes einer Übertragbarkeit nicht entgegenstehen.22 1. Übertragbarkeit dogmatischer Strukturen von Gleichheitsrechten mit transnationaler Integrationsfunktion auf Gleichheitsrechte mit supranationaler Legitimationsfunktion Der „gleichheitsrechtliche Partikularismus“23 im Unionsrecht in Form von auf bestimmte Sach- und Lebensbereiche beschränkten und Differenzierungen nach bestimmten Merkmalen untersagenden Diskriminierungsverboten ist die konsequente Folge der Schaffung eines Verbunds der Rechtsordnungen, bei dem die europäische Ebene lediglich über begrenzte Zuständigkeiten verfügt.24 Gleichheitsrechte haben in Mehrebenensystemen eine unitarisierende Wirkung und stärken diejenige Ebene, auf der die Gleichheit hergestellt werden soll.25 Insoweit folgt die komplexe Systematik der unionsrechtlichen Gleichheitssätze dem politischen Willen der Primärrechtsgeber, nationale Souveränität nur im notwendigen und damit begrenzten Maße zurückzunehmen.
20
Vgl. Kischel, EuGRZ 1997, 1; Damm, Menschenwürde, Freiheit, komplexe Gleichheit: Dimensionen grundrechtlichen Gleichheitsschutzes, S. 307, 312 ff.; Mohn, Der Gleichheitssatz im Gemeinschaftsrecht, S. 30 ff., S. 47 ff. 21 Damm, Menschenwürde, Freiheit, komplexe Gleichheit: Dimensionen grundrechtlichen Gleichheitsschutzes, S. 313; Pauly, EuR 1998, 242, 252 f. 22 Vgl. Kischel, EuGRZ 1997, 1, 4. 23 Formulierung nach Damm, Menschenwürde, Freiheit, komplexe Gleichheit: Dimensionen grundrechtlichen Gleichheitsschutzes, S. 307. 24 Vgl. Tomuschat, ZaöRV 68 (2008), 327, 329; Huster, EuR 2010, 325, 331. 25 Huster, EuR 2010, 325, 329, 331.
A. Gleichheitsrechtliche Vorgaben
83
Ist hiermit der Grund für den gleichheitsrechtlichen Partikularismus benannt, soll doch zugleich der naheliegenden These widersprochen werden, wonach die Kompetenzverteilung zwischen den Mitgliedstaaten und der Union die Reichweite von Unionsrechtssätzen festlegt und der Grundsatz der begrenzten Einzelermächtigung (Art. 5 Abs. 2 EUV) einer einheitlichen Dogmatik gleichheitsrechtlicher Unionsrechtssätze entgegensteht.26 Unmittelbar anwendbare subjektive Individualrechte wie die unionsrechtlichen Gleichheitssätze bedürfen eines einheitlichen Schutzgehalts, der nicht danach variieren darf, ob der in seinem Anwendungsbereich eröffnete Unionsrechtssatz in einen Sachbereich fällt, der von einer Unionskompetenz oder von einer mitgliedstaatlichen Kompetenz abgedeckt ist.27 Ein weiteres Argument, das gegen eine einheitliche Dogmatik der unionsrechtlichen Gleichheitssätze vorgetragen wird, ist die fehlende Vergleichbarkeit des allgemeinen Gleichheitssatzes mit dem Diskriminierungsverbot aus Gründen der Staatsangehörigkeit in Art. 18 Abs. 1 AEUV.28 Diese fehlende Vergleichbarkeit liegt darin begründet, dass diese beiden Gleichheitssätze unterschiedlichen Kategorien von Unionsrechtsnormen zugewiesen werden. Während der allgemeine Gleichheitssatz eine Unionsrechtsnorm mit supranationaler Legitimationsfunktion sein soll, handelt es sich beim Diskriminierungsverbot aus Art. 18 Abs. 1 AEUV um eine Unionsrechtsnorm mit transnationaler Integrationsfunktion. Die Unterscheidung von Unionsrechtsnormen mit transnationaler Integrationsfunktion und solchen mit supranationaler Legitimationsfunktion baut auf der Unterscheidung von Grundfreiheiten und Unionsgrundrechten auf.29 Den Grundfreiheiten wird hiernach eine transnationale Integrationsfunktion zugeschrieben, die der einem Staatenverbund inhärenten Gefahr entgegenwirken soll, dass die Mitgliedstaaten trotz eines gemeinsamen Binnenmarktes ihre eigenen Angehörigen im Widerspruch zum Grundgedanken des Binnenmarktes bevorzugen. Normen mit transnationaler Integrationsfunktion verlangen von den Mitgliedstaaten die Gleichbehandlung aller im Staatenverbund vereinten Bürger. Mittels des ihnen innewohnenden Vorrangs, der die Unanwendbarkeit solcher Bevorzugungen bewirkt, schlagen sie daher Brücken zwischen den Einzelrechtsordnungen des Staatenverbundes.30 Die transnationale Integrationsfunktion unterscheidet sich deutlich von der supranationalen Legitimationsfunktion. Unionsrechtsnormen, die dieser Funktion dienen, legitimieren die Unionsrechtsordnung selbst. Ein Legitimationsbedürfnis der Unionsrechtsordnung entsteht in dem Maße, in dem sie selbst positives
26
Vgl. bspw. Kanitz/Steinberg, EuR 2003, 1013, 1032; Kingreen, Struktur, S. 107 ff. Vgl. Huster, EuR 2010, 325, 329 f. 28 Vgl. Huster, EuR 2010, 325, 332 f. und Fn. 44. 29 Vgl. Kingreen, EuGRZ 2004, 570, 574 f.; Pache, in: Heselhaus/Nowak, § 4 Rn. 56 ff. 30 Kingreen, EuGRZ 2004, 570, 574. 27
84
4. Kapitel: Einwirkungen des Primärrechts in das autonome IPR
Recht an die Stelle der mitgliedstaatlichen Einzelrechtsordnungen setzt. Diesem Bedürfnis entsprechen Normen mit supranationaler Legitimationsfunktion. Während also letztere Kategorie auf die Unionsrechtsordnung ausgerichtet ist, nehmen Normen der ersten Kategorie die mitgliedstaatlichen Einzelrechtsordnungen in den Blick. Diese unterschiedliche Ausrichtung rechtfertigt die Bildung unterschiedlicher Normkategorien. Die Funktion der supranationalen Legitimation übernehmen Unionsgrundrechte. Die Funktion der transnationalen Integration übernehmen die Grundfreiheiten.31 Eine Konkurrenz von Normen mit transnationaler Integrationsfunktion und von solchen mit supranationaler Legitimationsfunktion entsteht nicht. Die unterschiedlichen Funktionen führen aufgrund ihrer unterschiedlichen Ausrichtung auf einerseits die mitgliedstaatlichen Rechtsordnungen und auf andererseits die Unionsrechtsordnung zu jeweils eigenen, voneinander getrennt zu haltenden dogmatischen Strukturen und Prüfungsmaßstäben.32 Nach dieser theoretischen Überlegung sind das Verbot von Diskriminierungen aus Gründen der Staatsangehörigkeit und die Diskriminierungsverbote der Grundfreiheiten der transnationalen Integrationsfunktion zuzuordnen, während der allgemeine Gleichheitssatz und die von ihm ableitbaren besonderen Diskriminierungsverbote der supranationalen Legitimationsfunktion zuzuordnen sind. Die Zuordnung des Diskriminierungsverbots aus Art. 18 Abs. 1 AEUV und der Grundfreiheiten zu der Funktion der transnationalen Integration wird zudem der Tatsache entnommen, dass diese im Gegensatz zu grundrechtlichen Diskriminierungsverboten „primär“ an die Mitgliedstaaten gerichtet sind und einer Inländerdiskriminierung nicht entgegenstehen.33 Die Folge dieser Zuordnung wäre, dass die dogmatische Struktur des Diskriminierungsverbots aus Art. 18 Abs. 1 AEUV und der Grundfreiheiten nicht mit Wirkung für den allgemeinen Gleichheitssatz verallgemeinerbar ist. Eine einheitliche Dogmatik unionsrechtlicher Gleichheitssätze sei bei dieser Zweiteilung nicht denkbar.34 Zweifelsohne haben das Verbot von Diskriminierungen aus Gründen der Staatsangehörigkeit und die Grundfreiheiten eine transnationale Integrationsfunktion. Sie sind darauf ausgerichtet, den Binnenmarkt zu errichten und zu gewährleisten (Art. 26 Abs. 2 AEUV),35 um hierdurch die aufgrund der Theorie der komparativen Kostenvorteile36 vorhandenen Potenziale zur Wohlfahrtssteigerung durch transnationale Kooperation auszuschöpfen, die Friedenseffekte des „Handelsgeistes“ im Sinne von Immanuel Kant37 zu erzielen und die gesellschaftsstiftenden Effekte grenzüberschreitenden Austausches auf einem 31
Kingreen, EuGRZ 2004, 570, 575. Kingreen, EuGRZ 2004, 570, 575. 33 Vgl. Huster, EuR 2010, 325, 332. 34 Vgl. Huster, EuR 2010, 325, 333 und Fn. 44. 35 Vgl. Müller-Graff, in: von der Groeben/Schwarze/Hatje, Art. 34 AEUV Rn. 3. 36 Zu den theoretischen Grundlagen der Binnenmarktintegration siehe S. 159 ff. 37 Kant, Zum Ewigen Frieden, S. 65. 32
A. Gleichheitsrechtliche Vorgaben
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gemeinsamen Markt zu erreichen38. Diese Integrationsfunktion steht jedoch der Annahme einer einheitlichen Dogmatik unionsrechtlicher Gleichheitssätze, insoweit auch spezielle marktintegrative Gleichheitsrechte davon erfasst sein sollen, nicht entgegen. Bereits der Wortlaut von Art. 18 Abs. 1 AEUV macht deutlich, dass dieses Diskriminierungsverbot auf „jede“ Diskriminierung aus Gründen der Staatsangehörigkeit Anwendung findet. Es erfasst tatbestandlich nach seinem Wortlaut auch eine Inländerdiskriminierung.39 Allerdings muss zusätzlich zum Vorliegen einer Ungleichbehandlung aus Gründen der Staatsangehörigkeit der Sachverhalt in den Anwendungsbereich der Verträge fallen. Hierzu müsste eine Inländerdiskriminierung als unionsrechtlich relevant qualifiziert werden, weshalb die Mehrzahl der Fälle von Inländerdiskriminierungen nicht von Art. 18 Abs. 1 AEUV erfasst sind.40 Dies macht deutlich, dass die Besonderheiten des Diskriminierungsverbots aus Art. 18 Abs. 1 AEUV und der Grundfreiheiten nicht darauf fußen, dass der von ihnen erfasste spezielle Gleichheitssatz dogmatisch vom allgemeinen Gleichheitssatz verschieden ist oder an die Annahme einer Ungleichbehandlung andere Prüfungsmaßstäbe anzulegen wären als beim allgemeinen Gleichheitssatz. Die Unterschiede zum allgemeinen Gleichheitssatz liegen in den zusätzlichen, zum Vorliegen einer Ungleichbehandlung hinzutretenden Tatbestandsmerkmalen der jeweiligen Unionsrechtsnorm. Daher stehen die unterschiedlichen Funktionen, denen Grundfreiheiten und Unionsgrundrechte zugeordnet werden können, der Annahme einer einheitlichen Dogmatik der unionsrechtlichen Gleichheitssätze nicht entgegen. Dabei können sich aus der jeweiligen Unionsrechtsnorm zusätzliche, zu der nach einer einheitlichen Dogmatik festgestellten Ungleichbehandlung hinzutretende Anforderungen für die Annahme eines Verstoßes gegen diese Unionsrechtsnorm ergeben. 2. Ausgangspunkt: Diskriminierungsverbote als besondere Ausformungen des allgemeinen unionsrechtlichen Gleichheitssatzes Ausgangspunkt für die Annahme einer einheitlichen Dogmatik der unionsrechtlichen Gleichheitssätze ist die Rechtsprechung des EuGH, die in den besonderen Diskriminierungsverboten „eine besondere Ausformung“ des allgemeinen Gleichheitssatzes erkennt.41 Die Rechtsprechung entwickelte den all-
38
Dazu Müller-Graff, ZHR 159 (1995), 34, 40 f. Vgl. von Bogdandy, in: Grabitz/Hilf/Nettesheim, Art. 18 AEUV Rn. 50; Epiney, S. 115 ff., 118. 40 Vgl. von Bogdandy, in: Grabitz/Hilf/Nettesheim, Art. 18 AEUV Rn. 51. 41 Im Hinblick auf Art. 18 AEUV: EuGH, Rs. 810/79, Überschär, Slg. 1980, 2747 Rn. 16; Rs. 147/79, Hochstrass, Slg. 1980, 3005 Rn. 7; Rs. C-29/95, Pastoors, Slg. 1997, I-285 Rn. 14; Rs. C-224/00, Kommission/Italien, Slg. 2002, I-2965 Rn. 14; C-115/08, ČEZ, 39
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4. Kapitel: Einwirkungen des Primärrechts in das autonome IPR
gemeinen Gleichheitssatz als Grundsatz des Unionsrechts im Kontext des agrarrechtlichen Diskriminierungsverbots aus Art. 40 Abs. 2 UAbs. 2 AEUV, der jede Diskriminierung zwischen Erzeugern eines Produktes oder Verbrauchern bei der Durchführung der Gemeinsamen Agrarmarktordnung untersagt.42 Unklar blieb in den Ausführungen des Gerichtshofs die Bedeutung des allgemeinen Gleichheitssatzes bei einer gleichzeitigen Einschlägigkeit eines besonderen Diskriminierungsverbots wie Art. 40 Abs. 2 UAbs. 2 AEUV.43 Die Diskriminierungsprüfung erfolgte ohne Klarstellung darüber, ob der EuGH ausschließlich auf Art. 40 Abs. 2 UAbs. 2 AEUV ausgelegt im Lichte des allgemeinen Gleichheitssatzes, ausschließlich auf den allgemeinen Gleichheitssatz oder auf beide gemeinsam als Prüfungsmaßstab abstellte. Vor seiner Verschriftlichung in Art. 20 GRCh handelte es sich bei dem allgemeinen unionsrechtlichen Gleichheitssatz um einen ungeschriebenen Grundsatz der Unionsrechtsordnung im Sinne des heutigen Art. 6 Abs. 3 EUV. Ein solcher leitet sich im Wege einer „wertenden Rechtsvergleichung“44 aus der EMRK und den gemeinsamen Verfassungsüberlieferungen der Mitgliedstaaten ab.45 Die EMRK kennt keinen allgemeinen Gleichheitssatz.46 Art. 14 EMRK verlangt Diskriminierungsfreiheit auf Grundlage bestimmter Merkmale bei Ausübung eines anderen in der EMRK verbürgten Menschenrechts (Akzessorietät). Art. 1 des 12. Zusatzprotokolls zur EMRK schafft zwar im Gegensatz zu Art. 14 EMRK ein nichtakzessorisches und damit selbstständiges Diskriminierungsverbot, verbietet aber wie Art. 14 EMRK Ungleichbehandlungen auf Grund bestimmter Merkmale und entspricht daher nicht einem allgemeinen Gleichheitssatz. Allerdings enthalten die mitgliedstaatlichen Verfassungen sowie Art. 26 des Internationalen Paktes über bürgerliche und politische Rechte (IPbpR) und Art. 7 der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte einen allgemeinen Gleichheitssatz.47 Slg. 2009, I-10265 Rn. 89; Streinz, in: Streinz, Art, 18 AEUV Rn. 1; Epiney, in: Calliess/Ruffert, Art. 18 AEUV Rn. 8; von Bogdandy, in: Grabitz/Hilf/Nettesheim, Art. 18 AEUV Rn. 5; im Hinblick auf Art. 40 Abs. 2 UAbs. 2 AEUV: EuGH, verb. Rs. 117/76 und 16/77, Ruckdeschel, Slg. 1977, 1753 Rn. 7; Thiele, in: Calliess/Ruffert, Art. 40 AEUV Rn. 66; Priebe, in: Grabitz/Hilf/Nettesheim, Art. 40 AEUV Rn. 88; im Hinblick auf Art. 157 Abs. 1 AEUV: EuGH, Rs. C-218/98, Abdoulaye, Slg. 1999, I-5723 Rn. 16; Rs. C-366/99, Griesmar, Slg. 2001, I-9383 Rn. 39; Rs. C-220/02, ÖGB, Slg. 2004, I-5907 Rn. 59; Langenfeld, in: Grabitz/Hilf/Nettesheim, Art. 157 AEUV Rn. 5. 42 S. etwa EuGH, verb. Rs. 117/76 und 16/77, Ruckdeschel, Slg. 1977, 1753 Rn. 7. 43 Vgl. Kischel, EuGRZ 1997, 1, 3 f.; Odendahl, in: Heselhaus/Nowak, § 43 Rn. 9. 44 Vgl. Zweigert, RabelsZ 28 (1964), 601, 611 m.w.N. 45 Vor der Einfügung von Art. 6 Abs. 3 EUV: St. Rspr. seit EuGH, Rs. 11/70, Internationale Handelsgesellschaft, Slg. 1970, 1125 Rn. 4. 46 Vgl. etwa Odendahl, in: Heselhaus/Nowak, § 43 Rn. 8. 47 Vgl. Sachs, in: Tettinger/Stern, Art. 20 GRCh Rn. 13 f. m.w.N.; Odendahl, in: Heselhaus/Nowak, § 43 Rn. 8, die darauf verweist, dass lediglich die dänische und die maltesische Verfassung keinen allgemeinen Gleichheitssatz enthalten; Huster, EuR 2010, 325, 333.
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Anstelle einer Herleitung aus völkerrechtlichen Verträgen und den Verfassungstraditionen der Mitgliedstaaten leitete der EuGH den allgemeinen Gleichheitssatz im Wege der Verallgemeinerung der unionsrechtlichen Diskriminierungsverbote, insbesondere des Art. 40 Abs. 2 UAbs. 2 AEUV, her. Dieser Induktionsschluss ruft zwangsläufig die Kritik hervor, die der Induktion als Erkenntnisprozess zugrunde liegt:48 Erlaubt das Vorhandensein eines Diskriminierungsverbots im Rahmen der Agrarmarktordnung den Schluss auf das Vorhandensein eines allgemeinen unionsrechtlichen Gleichheitssatzes? Gerade die Begrenztheit der unionsrechtlichen Diskriminierungsverbote im Hinblick auf den von ihnen erfassten Sach- und Lebensbereich oder im Hinblick darauf, lediglich Ungleichbehandlungen aufgrund einzelner bestimmter Merkmale wie der Staatsangehörigkeit zu untersagen, wirft Zweifel auf, einen unbegrenzten allgemeinen Gleichheitssatz anzunehmen. Lassen sich auch gute Gründe für die Induktion des allgemeinen Gleichheitssatzes aus dem agrarrechtlichen Diskriminierungsverbot durch den EuGH finden, wie etwa die Tatsachen, dass Art. 40 Abs. 2 UAbs. 2 AEUV das einzige Diskriminierungsverbot ist, das sich an die Union richtet, und dass die Mehrzahl der EuGH-Entscheidungen mit gleichheitsrechtlichen Fragestellungen im Kontext des Agrarrechts ergingen,49 so wäre die Überzeugungskraft der EuGH-Rechtsprechung zur Herleitung des allgemeinen Gleichheitssatz höher, wenn er, wie bei der Herleitung anderer Unionsgrundrechte, auf die völkerrechtlichen Verträge und Verfassungstraditionen der Mitgliedstaaten abgestellt hätte.50 Das Argumentationsmuster des EuGH, das sich in den ersten Urteilen zum allgemeinen Gleichheitssatz finden ließ und dem zufolge das geschriebene besondere Diskriminierungsverbot zunächst als besondere Ausformung des allgemeinen Gleichheitssatzes benannt und anschließend unter dessen Voraussetzungen subsumiert wird, findet sich ebenfalls in Urteilen zu den besonderen Diskriminierungsverboten in den heutigen Art. 157 Abs. 1 AEUV51 und Art. 18 Abs. 1 AEUV52. Entspricht damit die dogmatische Grundstruktur des einen geschriebenen besonderen Diskriminierungsverbots (etwa Art. 18 Abs. 1 AEUV) derjenigen des allgemeinen Gleichheitssatzes und formt die dogmatische Grundstruktur des allgemeinen Gleichheitssatzes in gleicher Weise diejenige eines anderen geschriebenen besonderen Diskriminierungsverbots (etwa Art. 40 Abs. 2 UAbs. 2 AEUV), so wird hieraus deutlich, dass die unionsrecht-
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Vgl. etwa die Kritik am Induktionsschluss bei Popper, Objektive Erkenntnis, S. 3 ff. Vgl. Odendahl, in: Heselhaus/Nowak, § 43 Rn. 9; Kingreen, in: Ehlers, § 17 Rn. 11. 50 Odendahl, in: Heselhaus/Nowak, § 43 Rn. 9. 51 Vgl. EuGH, Rs. C-256/01, Allonby, Slg. 2004, I-873 Rn. 65 mit Verweis auf EuGH, verb. Rs. C-270/97 und C-271/97, Deutsche Post, Slg. 2000, I-929 Rn. 56 f. und Rs. 149/77, Defrenne II, Slg. 1978, 1365 Rn. 26/29. 52 EuGH, Rs. 147/79, Hochstrass, Slg. 1980, 3005 Rn. 7. 49
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4. Kapitel: Einwirkungen des Primärrechts in das autonome IPR
lichen Gleichheitssätze nach der Rechtsprechung des EuGH ungeachtet des jeweiligen Anwendungsbereichs dogmatisch einheitlich betrachtet werden müssen.53 Im Folgenden soll zunächst die dogmatische Grundstruktur des allgemeinen Gleichheitssatzes als Grundsatz des Unionsrechts dargestellt werden (3), bevor darauf eingegangen wird, inwieweit besondere Diskriminierungsverbote, die Ungleichbehandlungen aufgrund bestimmter Differenzierungsmerkmale untersagen, hiervon abweichen (4). 3. Dogmatische Grundstruktur des allgemeinen Gleichheitssatzes Der allgemeine Gleichheitssatz ist als Grundsatz des Unionsrechts (Art. 6 Abs. 3 EUV) Teil der Unionsrechtsordnung.54 Er besagt, „dass vergleichbare Sachverhalte nicht unterschiedlich und unterschiedliche Sachverhalte nicht gleichbehandelt werden dürfen, es sei denn, dass eine solche Behandlung objektiv ge55 rechtfertigt ist.“
Die Ursprünge des allgemeinen Gleichheitssatzes lassen sich bis zu Platon56 und Aristoteles57 zurückverfolgen. Schon in deren Worten „kommen Zank und Streit eben daher, daß entweder Gleiche nicht Gleiches oder nicht Gleiche Gleiches bekommen und genießen.“58 Der Gleichheitssatz verlangt allerdings keine „Gleichheit schlechthin“59. Gleichheit schlechthin ist unmöglich. Es gäbe sie nur, wenn Identität zwischen den gleich zu Behandelnden bestünde. Sind die gleich zu Behandelnden jedoch identisch, stellt sich die Frage nach ihrer Gleichheit nicht mehr.60 Gleichheit bedeutet daher, dass das nichtidentische, gleich zu Behandelnde „als Gleiches“
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Ebenso Kischel, EuGRZ 1997, 1, 4. EuGH, verb. Rs. 117/76 und 16/77, Ruckdeschel, Slg. 1977, 1753 Rn. 7; verb. Rs. 124/76 und 20/77, Moulins Pont-à-Mousson, Slg. 1977, 1795 Rn. 16; Rs. 125/77, Koninklijke Scholten-Honig, Slg. 1978, 1991 Rn. 26; verb. Rs. 103/77 und 145/77, Royal Scholten-Honig, Slg. 1978, 2037 Rn. 26; aus jüngerer Zeit: Rs. C-17/05, Cadman, Slg. 2006, I-9583 Rn. 28; Rs. C-381/99, Brunnhofer, Slg. 2001, I-4961 Rn. 28; Rs. C-320/00, Lawrence, Slg. 2002, I-7325 Rn. 12. 55 EuGH, Rs. C-33/08, Agrana Zucker, Slg. 2009, I-5035 Rn. 46; Rs. C-127/07, Arcelor Atlantique, Slg. 2008, I-9895 Rn. 23; Rs. 106/83, Sermide, Slg. 1984, 4209 Rn. 28; Rs. C-313/04, Egenberger, Slg. 2006, I-6331 Rn. 33; Rs. C-15/95, EARL de Kerlast, Slg. 1997, I-1961 Rn. 35; Rs. C-292/97, Karlsson, Slg. 2000, I-2737 Rn. 39; Rs. C-210/03, Swedish Match, Slg. 2004, I-11893 Rn. 70; Rs. C-306/93, SMW Winzersekt, Slg. 1994, I-5555 Rn. 30. 56 Platon, Nomoi, 6. Buch, 757. 57 Aristoteles, Nikomachische Ethik, V. 3., 1131a10-b15; ders., Politik, III.9.1280 a8–15, III. 12. 1282b18–23. 58 Aristoteles, Nikomachische Ethik, V. 3., 1131a. 59 Begriff nach Nef, Gleichheit und Gerechtigkeit, S. 10. 60 Vgl. Nef, Gleichheit und Gerechtigkeit, S. 10 f. 54
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zu behandeln ist.61 Dies macht deutlich, dass Gleichheit immer nur „in Bezug auf“ etwas festzustellen und herzustellen ist. Im Gegensatz zu Freiheitsrechten betrachtet der Gleichheitssatz nicht das Vorhandensein einer Begünstigung oder einer Belastung, sondern die Gleichmäßigkeit und mithin Gerechtigkeit ihrer Verteilung oder Auferlegung.62 Gleichheit ist insoweit „relativ“.63 Die höchste Abstraktionsstufe, in Bezug derer Gleichheit herzustellen ist, ist das Menschsein. Hiernach sind alle Menschen gleich zu behandeln aufgrund ihrer personalen Existenz. In der Regel ist die Abstraktionshöhe jedoch geringer: Betrachtet wird der Mensch in Bezug auf bestimmte Lebensumstände oder Rollen: Der Mensch als Staatsbürger, als Ehepartner, als Autofahrer, als Student oder als Hersteller eines bestimmten Produktes. Die Anforderungen der Behandlung von bestimmten Lebenssachverhalten „als Gleiche“ variieren „in Bezug auf“ den Regelungsgegenstand. So folgen die Anforderungen an eine gleichmäßige und gerechte Lastenverteilung im Steuerrecht erkennbar einer anderen gesetzgeberischen Logik als die Anforderungen an eine gerechte Strafbemessung oder die Anforderungen an die Vergabe von Baugenehmigungen. So bestimmt sich beispielsweise der Maßstab im Steuerrecht nach der steuerlichen Leistungsfähigkeit und im Strafrecht nach der Schuld des Straftäters.64 Der Gleichheitssatz beinhaltet damit als Schutzgut die Behandlung „als Gleiches“, in welches der Verpflichtete (b)) durch Ungleichbehandlung (c)) bei Vorliegen gleicher Sachverhalte (a)) oder durch Gleichbehandlung (d)) ungleicher Sachverhalte eingreift. Dieser Eingriff kann unter bestimmten Umständen gerechtfertigt werden (e)). a) Gleichheit der Sachverhalte Die Prüfung der Gleichheit der Sachverhalte verlangt das tatsächliche Vorliegen mindestens zweier Sachverhalte, die voneinander unterscheidbar sind und in einem Verhältnis zueinander stehen, das eine Feststellung ihrer Vergleichbarkeit im Sinne einer Gleichwertigkeit erlaubt. aa) Unterscheidbarkeit der Sachverhalte Der Gleichheitssatz trifft eine Aussage über die Beziehung von mindestens zwei Objekten zueinander, die aus der Sicht eines Dritten voneinander unterscheidbar sind. Gleichheit ist mithin „ein Verhältnis, worin Verschiedenes zueinander steht“65. Verlangt werden somit zunächst zwei Sachverhalte, die sich einerseits unterscheiden müssen. Andernfalls bestünde Vollidentität: „Nur das 61
So Dworkin, Taking Rights Seriously, S. 227 f.: „treatment as an equal“. Vgl. Kingreen, in: Ehlers, § 17 Rn. 7. 63 Huster, JZ 1994, 541, 547; Hesse, AöR 77 (1951/52), 165, 173. 64 Vertieft dazu P. Kirchhof, in: HdBStR VIII (2010), § 181 Rn. 173 ff. 65 Windelband, Über Gleichheit und Identität, S. 8. 62
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Unterschiedene und mithin Verschiedene kann gleich sein.“66 Andererseits müssen sie gleichartig sein, was bedeutet, dass sie mindestens in einem Merkmal übereinstimmen müssen. Mit dieser Eingrenzung ist freilich noch nicht viel gewonnen, da Sachverhalte regelmäßig sowohl gleiche als auch ungleiche Merkmale aufweisen.67 bb) Vergleichssachverhalt darf nicht lediglich hypothetisch sein Diese Vergleichssachverhalte müssen zudem tatsächlich existieren und dürfen nicht lediglich hypothetisch sein. Andernfalls würde an die Stelle eines realen Vergleichsmaßstabs ein normativer treten, der zunächst mit normativen Wertungen begründet werden müsste. Ein solchermaßen verstandener Gleichheitssatz liefe auf eine abstrakt-heteronome Inhaltskontrolle hinaus, die an die Stelle der Gleichbehandlung eine normative Richtigkeitsbewertung setzen würde.68 So entschied der EuGH zum steuerlichen Diskriminierungsverbot im heutigen Art. 110 Abs. 1 AEUV, dass bei einer progressiven Steuer, in der ausländische Produkte von der höchsten Steuerkategorie erfasst sind, dann keine steuerliche Diskriminierung im Sinne von Art. 110 Abs. 1 AEUV vorliegt, wenn es keine vergleichbare inländische Produktion gibt.69 Aus diesem Grund prüfte der EuGH auch in einer Rechtssache über das griechische Verbot des Vertriebs von Säuglingsmilch außerhalb von Apotheken eine Beschränkung der Warenverkehrsfreiheit und keine Diskriminierung, da es sich hierbei ausschließlich um Importwaren handelte und es keine griechische Produktion von Säuglingsmilch gab.70 In solchen Fällen könnte ein Vergleich mit einer hypothetischen Vergleichsgruppe doch noch zu einem Diskriminierungsvorwurf führen: Griechenland könnte schließlich, gäbe es eine inländische Säuglingsmilchproduktion, deren Produkte für freiverkäuflich erklären. Diese Überlegung zeigt, wie willkürlich die Gleichheitsprüfung würde, wenn man ohne jeglichen Anlass die Bildung einer hypothetischen Vergleichsgruppe zuließe.
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Nef, Gleichheit und Gerechtigkeit, S. 6. Vgl. Zuleeg, in: FS Börner, S. 473, 477. 68 Ebenso ablehnend Krebber, in: Calliess/Ruffert, Art. 157 AEUV Rn. 51; Riesenhuber, Europäisches Arbeitsrecht, § 9 Rn. 12, S. 204. 69 Vgl. EuGH, Rs. 31/67, Stier, Slg. 1968, 352, 360 (Steuer auf importierte Zitronen in Deutschland); Rs. C-47/88, Kommission/Dänemark, Slg. 1990, I-4509 Rn. 10 f. (Steuer auf importierte Kfz, ohne dass es eine dänische Kfz-Produktion gäbe); Rs. C-132/88, Kommission/Griechenland, Slg. 1990, I-1567, Rn. 17 ff. (höhere Steuer auf importierte Kfz mit einem Hubraum von über 1800 cm3, ohne dass es eine griechische Kfz-Produktion von über 1600 cm3 gäbe). 70 EuGH, Rs. C-391/92, Kommission/Griechenland, Slg. 1995, I-1621. Vgl. zu diesem Urteil Plötscher, S. 272 f.; Kingreen, in: Calliess/Ruffert, Art. 36 AEUV Rn. 172 Fn. 477. 67
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Entsprechend urteilte auch der EuGH, dass für die Vergleichsgruppenbildung bei der Entgeltdiskriminierung aus Gründen des Geschlechts der Vergleich mit einer hypothetischen männlichen Vergleichsperson unzulässig ist.71 Gleichwohl kann aber zur Vergleichsgruppenbildung auf einen männlichen Arbeitnehmer abgestellt werden, der zu verschiedenen Zeiten den gleichen Arbeitsplatz innehatte.72 Dies stellte der EuGH sowohl in einem Fall fest, in dem eine weibliche Arbeitnehmerin auf dem gleichen Arbeitsplatz einen geringeren Lohn erhielt als der unmittelbar vor ihr angestellte männliche Arbeitnehmer, was ein Fall einer unmittelbaren Diskriminierung ist,73 als auch in einem Fall, in dem versicherungsmathematische Faktoren zu einer Ungleichbehandlung nach dem Geschlecht führten, was eine mittelbare Diskriminierung begründet.74 cc) Vergleichbarkeit verschiedener Sachverhalte Von zentraler Bedeutung für die Feststellung der Gleichheit der Sachverhalte ist die Erkenntnis, dass die Gleichheit ein bestimmtes Verhältnis verschiedener Sachverhalte zueinander beschreibt. Das Verhältnis unterschiedlicher Sachverhalte zueinander wird durch einen Vergleich dieser Sachverhalte miteinander bestimmt. Der Vergleich verschiedener Sachverhalte miteinander verlangt festzulegen, in welcher Hinsicht diese verschiedenen Sachverhalte miteinander verglichen werden.75 Ein Vergleich verschiedener Sachverhalte als Ganze führt zwangsläufig zur Feststellung ihrer Ungleichheit. Jedoch können verschiedene Sachverhalte im Hinblick auf bestimmte Merkmale oder Eigenschaften vergleichbar und damit gleich sein und im Hinblick auf andere bestimmte Merkmale oder Eigenschaften nicht vergleichbar und damit ungleich sein. So vielfältig die möglichen Merkmale und Eigenschaften verschiedener Sachverhalte sein können, so vielfältig sind die Verhältnisse, in denen verschiedene Sachverhalte zueinander stehen. In einem ersten Schritt sind daher für die Feststellung der Vergleichbarkeit verschiedener Sachverhalte diejenigen Merkmale herauszuarbeiten, in denen sich die Sachverhalte unterscheiden, und diejenigen, in denen sie sich nicht unterscheiden.76 In einem zweiten Schritt muss eine Auswahl von Merkmalen
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EuGH, Rs. 129/79, Macarthys, Slg. 1980, 1275 Rn. 14 f.; Rs. C-200/91, Coloroll, Slg. 1994, I-4389 Rn. 101 ff. 72 EuGH, Rs. 129/79, Macarthys, Slg. 1980, 1275 Rn. 12. 73 EuGH, Rs. 129/79, Macarthys, Slg. 1980, 1275. 74 EuGH, Rs. C-200/91, Coloroll, Slg. 1994, I-4389. 75 Vgl. Nef, Gleichheit und Gerechtigkeit, S. 10 ff. 76 Vgl. Börner, Diskriminierungen, S. 220; Kischel, AöR 124 (1999), 174, 183.
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vorgenommen werden, die das Verhältnis der verschiedenen Sachverhalte zueinander, das je nach Perspektive gleich oder ungleich sein soll, prägen.77 Die (Vor-78) Auswahl erfolgt in Hinsicht auf die Norm, deren Anwendung ein gleichheitsrechtliches Problem auslöst.79 Ihre Ziele und die Ziele der Rechtsordnung, in die sie eingebettet ist, bestimmen den Vergleichsmaßstab. Der Gleichheitssatz selbst gibt den Vergleichsmaßstab nicht vor und ist insoweit offen für dessen Herausbildung.80 Determinanten des Vergleichsmaßstabes sind neben den Normen, in deren Hinsicht (Un-)Gleichheit vorliegen soll, auch „allgemeine Gerechtigkeitswertungen“, die für den allgemeinen Gleichheitssatz des Unionsrechts den Zielen und Inhalten der Unionsrechtsordnung zu entnehmen sind.81 Ist nach dem Vergleichsmaßstab ein Verhältnis zwischen zwei verschiedenen Sachverhalten aufgestellt, stellt sich abschließend die Frage, ob für den allgemeinen Gleichheitssatz des Unionsrechts vergleichbar der Rechtsprechung des BVerfG zu Art. 3 Abs. 1 GG (der Gleichheitssatz verbietet, „dass wesentlich Gleiches ungleich […] behandelt wird“82) nur solche Verhältnisse relevant sein sollen, die die Sachverhalte „entscheidend prägen“ oder „wesentlich“ sind.83 Ist die Frage nach der Notwendigkeit des wertenden Elements der „Wesentlichkeit“ schon im deutschen Verfassungsrecht umstritten84, so wird es im Unionsrecht vom EuGH in seiner Rechtsprechung trotz seines vereinzelten textlichen Vorkommens85 nicht aufgegriffen. Dies wird mit einem Blick auf die Funktion des Wesentlichkeitskriteriums deutlich: „Ein Unterschied ist wesentlich, wenn er die unterschiedliche Behandlung zu rechtfertigen vermag.“86 Vor diesem Hintergrund ist es wenig überzeugend, bereits auf der Ebene der Vergleichbarkeit bestimmte Verhältnisse verschiedener Sachverhalte mangels Wesentlichkeit auszuscheiden87 und damit gar nicht erst einer Rechtfertigungs-
77 Ebenso Börner, Diskriminierungen, S. 220. Zuleeg sieht die beiden Schritte als miteinander verschmelzend an, ders., in: FS Börner, S. 473, 478. 78 So Kischel, AöR 124 (1999), 174, 184. 79 Vgl. Zuleeg, in: FS Börner, S. 473, 478; Lenaerts, Cahiers de droit européen 1991, 3, 9; vgl. EuGH, Rs. 6/71, Rheinmühlen, Slg. 1971, 823 Rn. 14. 80 Zur Offenheit des Gleichheitssatzes: Kirchhof, in: HdBStR V (1992), § 124 Rn. 20. 81 Vgl. Zuleeg, in: FS Börner, S. 473, 478. 82 BVerfGE 1, 14, 52. 83 Vgl. Mohn, Der Gleichheitssatz im Gemeinschaftsrecht, S. 52. 84 S. zu den kritischen Stimmen Kischel, AöR 124 (1999), 174, 184; ders., in: Epping/Grillhuber, Art. 3 GG Rn. 17 f.; Huster, in: Friauf/Höfling, Art. 3 GG Rn. 56. 85 Vgl. EuGH, verb. Rs. 17/61 und 20/61, Klöckner, Slg. 1962, 653, 693; Rs. 19/61, Mannesmann, Slg. 1962, 719, in denen der EuGH von Unterschieden spricht, die „rechtlich bedeutsam“ sind und eine unterschiedliche Behandlung „rechtfertigen“ können. 86 Kischel, in: Epping/Grillhuber, Art. 3 GG Rn. 17. 87 So für Art. 3 GG etwa Pieroth/Schlink, Grundrechte, Rn. 463; Gallwas, Grundrechte, S. 41; für den unionsrechtlichen allgemeinen Gleichheitssatz Mohn, S. 52.
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prüfung zu unterwerfen, wenn sowohl die Rechtfertigung als auch die Feststellung der Wesentlichkeit einer Wertung unterliegen, die in beiden Fällen dazu führt, eine Andersbehandlung verschiedener Sachverhalte für rechtmäßig zu erklären. Die Wertung der Gründe für eine Ungleichbehandlung gleicher Sachverhalte ist einheitlich eine Frage der Rechtfertigung und sollte daher auch dort vorgenommen werden.88 Auf der Ebene der Vergleichbarkeit sind demnach lediglich jene Verhältnisse verschiedener Sachverhalte auszuscheiden, „die solche Unterschiede aufweisen, daß eine Ungleichbehandlung […] jederzeit Bestand hätte“89.90 dd) Exkurs: Vergleichbarkeit von Ehe und gleichgeschlechtlicher Lebenspartnerschaft Um die Vergleichbarkeitsprüfung, die der EuGH bei der Anwendung der unionsrechtlichen Gleichheitssätze vornimmt, zu veranschaulichen, soll im Folgenden seine Rechtsprechung zum Vergleichspaar Ehe und eingetragene Lebenspartnerschaft nachgezeichnet werden. Die für das Familienrecht bedeutsame Fragestellung, ob eine heterosexuelle Ehe und eine gleichgeschlechtliche Lebenspartnerschaft vergleichbar sind, beschäftigte den EuGH in zwei Rechtssachen91. Sie ergingen auf der Grundlage von Art. 1 und Art. 2 Abs. 2 lit. a) der Richtlinie 2000/78/EG zur Festlegung eines allgemeinen Rahmens für die Verwirklichung der Gleichbehandlung in Beschäftigung und Beruf92, die ein Diskriminierungsverbot u.a. aus Gründen der sexuellen Ausrichtung beinhalten. Nach Art. 2 Abs. 2 lit. a) der Richtlinie 2000/78/EG liegt dabei eine unmittelbare Diskriminierung vor, „wenn eine Person wegen eines der in Artikel 1 genannten Gründe in einer vergleichbaren Situation eine weniger günstige Behandlung erfährt, als eine andere Person erfährt, erfahren hat oder erfahren würde.“ Als besondere Ausformung des allgemeinen Gleichheitssatzes verlangt auch dieses besondere Diskriminierungsverbot die Feststellung einer Vergleichbarkeit der andersbehandelten Sachverhalte. Beide Fälle behandelten sozialrechtliche Ansprüche, die tatbestandlich an die „Ehe“ (§ 34 der Satzung der Versorgungsanstalt der deutschen Bühnen (VddB) im Fall „Maruko“) oder an das Verheiratetsein (§ 10 Abs. 6 des Ersten 88
Vgl. Kischel, EuGRZ 1997, 1, 4 f. Riggert, Die Selbstbindung der Rechtsprechung durch den allgemeinen Gleichheitssatz, S. 57. 90 Vgl. zum unionsrechtlichen allgemeinen Gleichheitssatz Sachs, in: Tettinger/Stern, Art. 20 GRCh Rn. 22. 91 EuGH, Rs. C-267/06, Maruko, Slg. 2008, I-1757; Rs. C-147/08, Römer, Slg. 2011, I-3591. 92 Richtlinie 2000/78/EG zur Festlegung eines allgemeinen Rahmens für die Verwirklichung der Gleichbehandlung in Beschäftigung und Beruf, ABl. 2000 L 303/16. 89
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Ruhegeldgesetzes der Freien und Hansestadt Hamburg (1. RGG) im Fall „Römer“) anknüpften. Die Hinterbliebenenrente, die Tadao Maruko nach dem Tod seines Lebenspartners bei der VddB beantragte, sowie die Neuberechnung und die daraus folgende Erhöhung des eigenen Ruhegeldes, die Jürgen Römer nach der Begründung seiner Lebenspartnerschaft bei seinem Arbeitgeber, der Freien und Hansestadt Hamburg, beantragte, wurden von den jeweiligen Antragsempfängern mit Verweis auf die nicht geschlossene Ehe abgelehnt. Mit der Schaffung der eingetragenen Lebenspartnerschaft durch das LPartG im Jahr 2001 sollte jedoch für gleichgeschlechtliche Lebensgemeinschaften eine weitgehende rechtliche Gleichstellung mit der verschiedengeschlechtlichen Ehe erreicht werden,93 deren sozial-, steuer- und dienstrechtliche Komponente jedoch aus politischen Gründen wegen des vom Bundesrat angekündigten Vetos abgespaltet wurde und später an genau jenem Veto scheiterte.94 In den beiden Rechtssachen stellte sich nun die Frage, die die jeweiligen Gerichte dem EuGH vorlegten, ob die Regelungen, die an das Bestehen einer Ehe anknüpften und die eingetragene Lebenspartnerschaft nicht berücksichtigten, eine Diskriminierung aus Gründen der sexuellen Ausrichtung und damit eine Verletzung der Art. 1 und Art. 2 Abs. 2 lit. a) der Richtlinie 2000/78/EG begründen. Erforderlich hierfür war die Feststellung, dass die Ehe und die eingetragene Lebenspartnerschaft miteinander vergleichbar sind. Hierzu ließe sich nun darauf abstellen, ob die familienrechtlichen Institute der Ehe und der eingetragenen Lebenspartnerschaft im Allgemeinen vergleichbar sind.95 Hier kann etwa mit einem Verweis auf das fehlende gemeinschaftliche Adoptionsrecht (§ 1741 Abs. 2 BGB) für eingetragene Lebenspartnerschaften (§ 9 LPartG) oder auf die fehlende Möglichkeit einer einkommensteuerlichen Zusammenveranlagung (§§ 26, 26 b EStG) festgestellt werden, dass eingetragene Lebenspartnerschaften und Ehen derart unterschiedlich sind, dass sie nicht miteinander vergleichbar sind.96 Die Kontextabhängigkeit des Gleichheitssatzes verlangt allerdings, die Vergleichbarkeit im Hinblick auf die konkrete Regelung zu prüfen, die eine Andersbehandlung verschiedener Sachverhalte begründet. Dementsprechend stellt auch der EuGH in der Rechtssache „Maruko“ darauf ab, ob Eheleute und eingetragene Lebenspartner „in Bezug auf die im Ausgangsverfahren in Rede stehende Hinterbliebenenversorgung“ vergleichbar sind.97 Hierbei schloss er sich den Angaben des Vorlagebeschlusses an und verwies auf die durch den deutschen Gesetzgeber vorgenommene Einfügung 93
Vgl. Palandt/Brudermüller, LPartG, Einl. Rn. 1. Vgl. etwa Ring/Olsen-Ring, LPartG, Vorbemerkungen zu §§ 1 ff LPartG Rn. 6. 95 So etwa BVerwG, NJW 2008, 868, 869 Ziff. 24 ff.; BVerfG, NJW 2008, 2325, 2326 Ziff. 13. 96 So das BVerwG, NJW 2008, 868, 870 Ziff. 27, 30. 97 EuGH, Rs. C-267/06, Maruko, Slg. 2008, I-1757 Rn. 69. 94
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von § 46 Abs. 4 SGB VI, wonach die Lebenspartnerschaft hinsichtlich der Witwen- oder Witwerrente im Sinne dieser Vorschrift der Ehe gleichgestellt wird. Der EuGH stellt somit auf die Unterhaltsersatzfunktion98 der Hinterbliebenenversorgung ab und verlangt vom mitgliedstaatlichen Gericht zu prüfen,99 ob im Hinblick auf den wegfallenden Unterhalt beim Versterben eines eingetragenen Lebenspartners eine Vergleichbarkeit mit dem wegfallenden Unterhalt bei einem verstorbenen Ehegatten besteht. Mit Blick auf den Verweis auf das eheliche Unterhaltsrecht in § 5 LPartG und auf den § 1587 BGB nachgebildeten Verweis in § 20 LPartG auf das VersAusglG betreffend den Versorgungsausgleich im Falle der Aufhebung der Lebenspartnerschaft wird deutlich, dass die eingetragene Lebenspartnerschaft im Hinblick auf den Unterhalt der Partner untereinander mit der Ehe vergleichbar ist. Gab der EuGH in der Rechtssache „Maruko“ größtenteils die Feststellungen des vorlegenden Gerichts aus dem Vorlagebeschluss wieder und überließ die konkrete Feststellung der Vergleichbarkeit dem nationalen Gericht, wurde er in der Rechtssache „Römer“ hinsichtlich seiner Vorgaben für eine Vergleichbarkeitsprüfung deutlicher.100 Um eine Vergleichbarkeit zweier Sachverhalte zu begründen, müssen „die Situationen nicht identisch, sondern nur vergleichbar sein.“ Die Prüfung der Vergleichbarkeit darf dabei „nicht allgemein und abstrakt sein […], sondern [muss] spezifisch und konkret für die betreffende Leistung erfolgen.“ In dem Urteil in der Rechtssache „Maruko“ „hat der Gerichtshof nämlich die Ehe und die eingetragene Lebenspartnerschaft im deutschen Recht nicht allgemein verglichen, sondern er hat auf der Grundlage der ihm von dem vorlegenden Gericht unterbreiteten Analyse des deutschen Rechts, wonach im deutschen Recht eine schrittweise Annäherung der für die Lebenspartnerschaft geschaffenen Regelungen an die für die Ehe geltenden stattfinde, herausgestellt, dass die eingetragene Partnerschaft hinsichtlich der Witwen- oder Witwerrente der Ehe gleichgestellt wird.“ Im Folgenden stellt der EuGH sein Prüfungsprogramm für die Feststellung einer Vergleichbarkeit von Ehe und Lebenspartnerschaft auf: „Daher ist der Vergleich der Situationen auf eine Analyse zu stützen, die sich auf die Rechte und Pflichten verheirateter Personen und eingetragener Lebenspartner, wie sie sich aus den anwendbaren innerstaatlichen Bestimmungen ergeben, konzentriert, die unter Berücksichtigung des Zwecks und der Voraussetzungen für die Gewährung der im Ausgangsverfahren fraglichen Leistung relevant sind, und darf nicht in der Prüfung bestehen, ob die eingetragene Lebenspartnerschaft der Ehe im nationalen Recht allgemein und umfassend rechtlich gleichgestellt ist.“101
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Vgl. Kreikebohm, in: Kreikebohm, § 46 SGB VI Rn. 1. EuGH, Rs. C-267/06, Maruko, Slg. 2008, I-1757 Rn. 73. 100 Hierzu und zum Folgenden: Rs. C-147/08, Römer, Slg. 2011, I-3591 Rn. 41 bis 43. 101 EuGH, Rs. C-147/08, Römer, Slg. 2011, I-3591 Rn. 43. 99
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4. Kapitel: Einwirkungen des Primärrechts in das autonome IPR
Er stellt den Vergleichsmaßstab in Bezug auf die mitgliedstaatliche Regelung auf, die die Anwendung des gleichheitsrechtlichen Unionsrechtssatzes ausgelöst hat. Im konkreten Fall also im Hinblick auf die Zusatzversorgung für Angestellte der Freien und Hansestadt Hamburg, die daran anknüpft, dass der Versorgungsempfänger zum einen verheiratet und zum anderen von seinem Ehegatten nicht dauernd getrennt lebt. Der EuGH schließt sich dabei den Schlussanträgen des Generalanwalts an, dass die erhöhte Zusatzversorgung Verheirateter aus den gegenseitigen Fürsorge- und Einstandspflichten der Eheleute folgt und nicht an andere Faktoren wie die Existenz von Kindern oder den wirtschaftlichen Bedarf des Ehegatten geknüpft ist.102 Die gegenseitigen Fürsorgeund Einstandspflichten sind jedoch bei der eingetragenen Lebenspartnerschaft dieselben wie bei der Ehe, so dass der EuGH in diesem Fall eine Vergleichbarkeit annahm. Betrachtet man die Rechtsprechung des EuGH, so wird deutlich, dass sich dieser nicht zu einer Vergleichbarkeit von Ehe und eingetragener Lebenspartnerschaft im Allgemeinen geäußert hat. Er bleibt konsequent bei seiner Vergleichbarkeitsprüfung, wonach verschiedene Sachverhalt im Hinblick auf die Regelung, die den Gleichheitssatz auslöste, vergleichbar sein müssen. Die Feststellung der Vergleichbarkeit im Hinblick auf sozialrechtliche Ansprüche von eingetragenen Lebenspartnern erlaubt daher keine Rückschlüsse auf eine Vergleichbarkeit beider Rechtsinstitute im Allgemeinen. b) Behandlung durch dasselbe Rechtssubjekt Der allgemeine Gleichheitssatz verbietet die Ungleichbehandlung vergleichbarer Sachverhalte. Hierin steckt zugleich das Gebot zur Gleichbehandlung.103 Diesem Gebot Folge leisten kann nur, wer zum einen an dieses Gebot gebunden ist und zum anderen die Möglichkeit hat, die vergleichbaren Sachverhalte gleichzubehandeln.104 Hierzu muss das dem Gleichheitssatz unterworfene Rechtssubjekt eine Handlungskompetenz hinsichtlich aller vergleichbaren Sachverhalte haben. Ungleichbehandlungen, die daraus folgen, dass ein 102
EuGH, Rs. C-147/08, Römer, Slg. 2011, I-3591 Rn. 50 mit Verweis auf GA Jäaskinen, SchlA Rs. C-147/08, Römer, Slg. 2011, I-3591 Nr. 99. 103 Vgl. EuGH, Rs. C-422/02 P, Europe Chemi-Con/Rat, Slg. 2005, I-791 Rn. 33: „In Bezug auf den ersten Rechtsmittelgrund ist […] festzustellen, dass es nicht darauf ankommt, ob der […] Grundsatz als ‚Grundsatz der Gleichbehandlung‘ oder als ‚Diskriminierungsverbot‘ bezeichnet wird. Es handelt sich nämlich um zwei Bezeichnungen ein und desselben allgemeinen gemeinschaftsrechtlichen Grundsatzes, der es zum einen untersagt, gleiche Sachverhalte ungleich oder unterschiedliche Sachverhalte gleich zu behandeln, sofern nicht objektive Gründe eine solche Behandlung rechtfertigen.“ 104 Vgl. Troge, Staatsangehörigkeitsprinzip, S. 85; Plötscher, Begriff der Diskriminierung, S. 47 ff.; Bleckmann, NJW 1985, 2856, 2858 f.; von Bogdandy, in: Grabitz/Hilf/Nettesheim, Art. 18 AEUV Rn. 9; Epiney, in: Calliess/Ruffert, Art. 18 AEUV Rn. 9; Zuleeg, in: von der Groeben/Schwarze, Art. 12 EGV Rn. 6.
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Rechtssubjekt den einen Sachverhalt regelt und ein anderes Rechtssubjekt den vergleichbaren Sachverhalt anders regelt, sind vom allgemeinen Gleichheitssatz nicht erfasst. Für den allgemeinen Gleichheitssatz als Grundsatz der Unionsrechtsordnung folgt hieraus, dass Unterschiede, die daraus resultieren, dass innerhalb der Europäischen Union verschiedene mitgliedstaatliche Rechtsordnungen nebeneinander existieren, grundsätzlich keine für den allgemeinen Gleichheitssatz relevante Ungleichbehandlung hervorrufen können.105 Entscheidend ist, ob die ungleiche Behandlung vergleichbarer Sachverhalte auf das Verhalten ein und desselben Rechtssubjekts zurückgeführt werden kann und ihm zurechenbar ist. Hierzu bedarf es eines objektiv nachweisbaren Zusammenhangs zwischen der Behandlung durch das Rechtssubjekt und der Ungleichheit zwischen vergleichbaren Sachverhalten.106 Ausgangspunkt für die Feststellung eines objektiv nachweisbaren Zusammenhangs ist dabei die Handlungsmacht des Rechtssubjektes über die Gestaltbarkeit der vergleichbaren Sachverhalte. In diesem Zusammenhang wird die Frage aufgeworfen, ob ein objektiv nachweisbarer Zusammenhang bereits bei Kausalität, also bei einem rein ursächlichen Zusammenhang, besteht oder ob es auf den Zweck der Maßnahme, also ihre finale Verknüpfung, ankommt. Anders gewendet: Sollen auch vom Rechtssubjekt nicht intendierte und nicht vermeidbare Ungleichbehandlungen diesem zugerechnet werden (kausales Verständnis) oder sollen nur vom Rechtssubjekte intendierte Ungleichbehandlungen diesem zugerechnet werden (finales Verständnis)? Entscheidend ist das Ergebnis der einzelnen Maßnahme.107 Der Gleichheitssatz schützt eine materielle Gleichheit und keine bloße formelle Gleichheit. Es kommt auf die subjektiven Vorstellungen des Rechtssubjektes nicht an, die in der Praxis ohnehin nur schwer nachweisbar wären.108 Würde man ein finales Verständnis für den Zurechnungszusammenhang von Behandlung durch das Rechtssubjekt und Ungleichbehandlung annehmen, wären zahlreiche Ungleichbehandlungen nicht mehr vom unionsrechtlichen allgemeinen Gleichheitssatz erfasst. Kommt es somit auf die Intention des Rechtssubjektes nicht an, werden diesem Rechtssubjekt all jene Ungleichbehandlungen zugerechnet, die es hätte vermeiden können.
105 Vgl. Odendahl, in: Heselhaus/Nowak, § 43 Rn. 24; zu Art. 18 AEUV: EuGH, Rs. 14/68, Wilhelm, Slg. 1969, 1, 3; verb. Rs. C-92/92 und C-326/92, Phil Collins, Slg. 1993, I-5145 Rn. 30; verb. Rs. C-251/90 und C-252/90, Wood, Slg. 1992, I-2873 Rn. 19; Rs. 185/78 bis 204/78, Van Dam en Zonen, Slg. 1979, 2345 Rn. 10; Rs. C-177/94, Perfili, Slg. 1996, I-161 Rn. 17. 106 Vgl. Plötscher, Begriff der Diskriminierung, S. 48. 107 Vgl. Mohn, Der Gleichheitssatz im Gemeinschaftsrecht, S. 103; Troge, Staatsangehörigkeitsprinzip, S. 97; Ipsen, Gemeinschaftsrecht, § 30 Rn. 16, S. 604. 108 Vgl. Mosler, ZaöRV 17, 407, 422.
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c) Ungleichbehandlung vergleichbarer Sachverhalte Zur Ungleichbehandlung wird die Andersbehandlung vergleichbarer Sachverhalte, wenn der eine Sachverhalt gegenüber dem anderen Sachverhalt benachteiligt wird (aa)).109 Hierbei gibt es weder quantitative noch qualitative Mindestgrenzen, von denen das Eingreifen des unionsrechtlichen allgemeinen Gleichheitssatzes abhängig wäre (bb)). aa) Erfordernis der Benachteiligung Eine solche Benachteiligung besteht in jeder objektiven Schlechterstellung des Betroffenen, die sofort oder in einem nach allgemeinen Lebenserfahrung erwartbaren künftigen Zeitpunkt eintritt.110 Hierbei ist auf das Ergebnis der konkreten Einzelmaßnahme abzustellen. Eine im Wortlaut der Maßnahme nicht angelegte Andersbehandlung kann durch ihre jeweiligen Begleitumstände zu einer Benachteiligung des Betroffenen führen.111 Inwieweit eine in Anwendung einer konkreten Maßnahme hervorgerufene Andersbehandlung durch eine weitere Maßnahme desselben Rechtssubjekts wieder ausgeglichen wurde, ist hingegen keine Frage der konkreten Benachteiligung im Tatbestand des Gleichheitssatzes, sondern ist bei der Rechtfertigung zu würdigen.112 bb) Kein de-minimis-Vorbehalt Nicht erforderlich, aber ausreichend, ist die Feststellung eines quantifizierbaren Schadens.113 Die Gefahr des Eintritts eines solchen Schadens genügt,114 ohne dass hiermit eine Grenze für die Feststellung der Schlechterstellung gezogen wäre. Der Benachteiligung wohnt ein de-minimis-Vorbehalt nicht
109 Vgl. von Bogdandy, in: Grabitz/Hilf/Nettesheim, Art. 18 AEUV Rn. 7; Mohn, S. 103 ff.; Troge, S. 93 ff.; EuGH, Rs. C-127/07, Arcleor Atlantique, Slg. 2008, I-9895 Rn. 39; Rs. C-462/99, Connect Austria, Slg. 2003, I-5197 Rn. 115; Rs. 250/83, Finsider/ Kommission, Slg. 1985, 131 Rn. 8; Rs. 22/80, Boussac, Slg. 1980, 3427 Rn. 10; verb. Rs. 17/61 und 20/61, Klöckner, Slg. 1962, 653, 692. A.A. Frenz, Handbuch Europarecht, Bd. IV, Rn. 3202; Rossi, in: Calliess/Ruffert, Art. 20 GRCh Rn. 22. 110 Vgl. Mohn, Der Gleichheitssatz im Gemeinschaftsrecht, S. 103 f. 111 Vgl. Mohn, Der Gleichheitssatz im Gemeinschaftsrecht, S. 103; Odendahl, in: Heselhaus/Nowak, § 43 Rn. 23. 112 Vgl. Plötscher, Begriff der Diskriminierung, S. 271 f.; a.A. Mohn, Der Gleichheitssatz im Gemeinschaftsrecht, S. 103. 113 EuGH, verb. Rs. 3/58 bis 18/58, 25/58 und 26/58, Barbara Erzbergbau, Slg. 1960, 373, 411 f. 114 EuGH, Rs. 167/73, Kommission/Frankreich, Slg. 1974, 359 Rn. 45/47.
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inne.115 Dies folgt bereits daraus, dass die Grenzziehung im Einzelfall willkürlich ausfällt. Es ist nämlich schleierhaft, anhand welcher Kriterien die Grenze bei einem de-minimis-Vorbehalt zu ziehen ist.116 d) Gleichbehandlung nicht vergleichbarer Sachverhalte Neben der Ungleichbehandlung vergleichbarer Sachverhalte ist nach der Rechtsprechung des EuGH vom allgemeinen Gleichheitssatz auch die Gleichbehandlung nicht vergleichbarer Sachverhalte erfasst.117 Das wird teilweise kritisch gesehen, da ein solcher „Ungleichheitssatz“ dem Gleichheitssatz, der in erster Linie auf die Gleichbehandlung vergleichbarer Sachverhalte zielt, nicht zu entnehmen sei.118 Das überzeugt allerdings nicht. Schließlich ist Gleichbehandlung nicht vergleichbarer Sachverhalte nichts anderes als die Kehrseite der Ungleichbehandlung vergleichbarer Sachverhalte. Frei nach der Aussage Radbruchs, dem zufolge „Gleichheit […] immer nur die Abstraktion von gegebener Ungleichheit“119 ist, können aus zwei ungleichen Sachverhalten schnell vergleichbare Sachverhalte werden, wenn man den Abstraktionsgrad des Vergleichsmaßstabs erhöht.120 Hinzu treten diejenigen Gleichbehandlungen, bei denen die Bildung eines vergleichbaren Sachverhalts, für den die der Gleichbehandlung zugrunde liegende Maßnahme eine Ungleichbehandlung darstellt, daran scheitert, dass diese Sachverhalte vom Tatbestand der Maßnahme nicht erfasst wären.121 Hier hat das Verbot einer gleichheitswidrigen Gleichbehandlung weiterhin eine eigenständige Bedeutung. Die Anzahl der Rechtssachen vor dem EuGH, in denen eine Gleichbehandlung vergleichbarer Sachverhalte tragend war, ist überschaubar.122 Während die Rechtssachen „Merida“, „Erny“ und „Garcia Avello“ im Kontext besonderer Diskriminierungsverbote ergingen, behandelte die Rechtssache „SPCM“ den allgemeinen
115 Ebenso Plötscher, Begriff der Diskriminierung, S. 273; anders Streinz, in: Streinz, Art. 18 AEUV Rn. 48. 116 Vgl. Troge, Staatsangehörigkeitsprinzip, S. 96. 117 EuGH, Rs. C-217/91, Kommission/Spanien, Slg. 1993, I-3923 Rn. 37; Rs. C-306/93, SMW Winzersekt, Slg. 1994, I-5555 Rn. 30. 118 In diese Richtung insb. Sachs, in: Tettinger/Stern, Art. 20 GRCh Rn. 21; dem sich anschließend Hölscheidt, in: Meyer, Art. 20 GRCh Rn. 14. Dagegen Jarass, in: Jarass, Art. 20 GRCh Rn. 10; Rossi, in: Calliess/Ruffert, Art. 20 GRCh Rn. 23; Rengeling/Szczekalla, § 22 Rn. 877; Streinz, in: Streinz, Art. 20 GRCh Rn. 8. 119 Radbruch, Rechtsphilosophie, S. 122. 120 Vgl. Rossi, in: Calliess/Ruffert, Art. 20 GRCh Rn. 23; Jarass, in: Jarass, Art. 20 GRCh Rn. 10 Fn. 42; Troge, S. 99 f. 121 Vgl. Huster, Rechte und Ziele, S. 231. 122 EuGH, Rs. C-400/02, Merida, Slg. 2004, I-8471; Rs. C-172/11, Erny, EU:C:2012:399 (beide zu Art. 45 AEUV); Rs. C-148/02, Garcia Avello, Slg. 2003, I-11613 (zu Art. 20 i.V.m. Art. 18 AEUV); Rs. C-558/07, SPCM, Slg. 2009, I-5783.
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Gleichheitssatz. In dieser Rechtssache ging es um die von der REACH-Verordnung123 vorgeschriebene Registrierungspflicht von unter die Verordnung fallenden Stoffen, die in der Gemeinschaft hergestellt oder in die Gemeinschaft importiert wurden. Importeure beklagten eine Gleichbehandlung nicht vergleichbarer Sachverhalte, weil es für die Importeure im Vergleich zu den Herstellern ungleich schwieriger sei, Stoffe zu registrieren, weil den Herstellern im Gegensatz zu den Importeuren die Zusammensetzung der Stoffe in der Regel bekannt sei und die Importeure auf entsprechende Informationen ihrer Hersteller angewiesen seien. Der EuGH erkannte in der gleichen Registrierungspflicht für Importeure und Hersteller eine Gleichbehandlung ungleicher Sachverhalte, die er allerdings für objektiv gerechtfertigt ansah.124 e) Objektive Rechtfertigung Für den allgemeinen Gleichheitssatz des Unionsrechts entschied der EuGH, dass eine Andersbehandlung eine zu unterlassende Ungleichbehandlung ist, „es sei denn, dass eine solche Behandlung objektiv gerechtfertigt ist.“125 Eine solche objektive Rechtfertigung verlangt, dass „sie auf einem objektiven und angemessenen Kriterium beruht, d.h., [dass] sie im Zusammenhang mit einem rechtlich zulässigen Ziel steht, das mit der in Rede stehenden Regelung verfolgt wird, und [dass] diese unterschiedliche Behandlung in angemessenem Verhältnis zu dem mit der betreffenden Behandlung verfolgten Ziel steht.“126 Es bedarf somit neben dem Vorliegen eines sachlichen Grundes127 auch einer Prüfung der Verhältnismäßigkeit der Ungleichbehandlung. Dies ist in der Literatur insbesondere aufgrund der mangelnden Klarheit des Vorgehens des EuGH in dieser
123 Verordnung (EG) Nr. 1907/2006 zur Registrierung, Bewertung, Zulassung und Beschränkung chemischer Stoffe (REACH), ABl. 2006 Nr. L 396/1. 124 EuGH, Rs. C-558/07, SPCM, Slg. 2009, I-5783 Rn. 73 ff. 125 EuGH, Rs. C-33/08, Agrana Zucker, Slg. 2009, I-5035 Rn. 46; Rs. C-127/07, Arcelor Atlantique, Slg. 2008, I-9895 Rn. 23; Rs. 106/83, Sermide, Slg. 1984, 4209 Rn. 28; Rs. C-313/04, Egenberger, Slg. 2006, I-6331 Rn. 33; Rs. C-15/95, EARL de Kerlast, Slg. 1997, I-1961 Rn. 35; Rs. C-292/97, Karlsson, Slg. 2000, I-2737 Rn. 39; Rs. C-210/03, Swedish Match, Slg. 2004, I-11893 Rn. 70; Rs. C-306/93, SMW Winzersekt, Slg. 1994, I-5555 Rn. 30. 126 EuGH, Rs. C-127/07, Arcelor Atlantique, Slg. 2008, I-9895 Rn. 47 mit Verweis auf EuGH, Rs. 114/79, Bela-Mühle Bergmann, Slg. 1977, 1211, Rn. 7; Rs. 245/81, Edeka Zentrale, Slg. 1982, 2745, Rn. 11 und 13; Rs. C-122/95, Deutschland/Rat, Slg. 1998, I-973 Rn. 68 und 71; Rs. C-535/03, Unitymark und North Sea Fishermen’s Organisation, Slg. 2006, I-2689 Rn. 53, 63, 68 und 71. 127 Vgl. Frenz, Handbuch Europarecht, Bd. IV Rn. 3207; Kischel, EuGRZ 1997, 1, 4 f.; Lenaerts, Cahiers de droit européen 1991, 3, 10 f.; Streinz, in: Streinz, Art. 20 GRCh Rn. 10; Rossi, in: Calliess/Ruffert, Art. 20 GRCh Rn. 25.
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Frage umstritten.128 In Anlehnung an die Maßstäbe des BVerfG zu Art. 3 GG wird hier vertreten, dass die Kontrolldichte des EuGH vom Willkürverbot, dem zufolge bereits das Vorliegen eines sachlichen Grundes zur Rechtfertigung der Ungleichbehandlung ausreicht, bis zur Verhältnismäßigkeitsprüfung ansteigt, je nach Schwere der Ungleichbehandlung. Unterschieden wird hier zwischen Andersbehandlungen aus rein verhaltensbezogenen Gründen, nicht persönlich beeinflussbaren Gründen sowie mittelbar und unmittelbar personenbezogenen Gründen (wie sie sich in Art. 3 Abs. 3 GG wiederfinden).129 Mittlerweile hat der EuGH in einer Entscheidung der Großen Kammer vom 18. Dezember 2008130 Position bezogen und die Prüfung der Verhältnismäßigkeit in die Rechtfertigungsprüfung eingebunden. Dafür spricht auch Art. 52 Abs. 1 S. 2 GRCh, dem zufolge Einschränkungen der EU-Grundrechtecharta nur unter Wahrung des Grundsatzes der Verhältnismäßigkeit vorgenommen werden dürfen. Der allgemeine Gleichheitssatz des Unionsrechts findet seine Entsprechung in der EU-Grundrechtecharta in Art. 20. Hinzu tritt, dass der allgemeinen Gleichheitssatz des Unionsrechts auf die effektive Verwirklichung der Gemeinwohlziele der Union ausgerichtet ist. Diese Ausrichtung verlangt eine eigenständige, dreistufige Prüfung des Gleichheitssatzes und eine erhöhte Kontrolldichte durch die Anwendung des Grundsatzes der Verhältnismäßigkeit.131 Der EuGH prüft den Verhältnismäßigkeitsgrundsatz in drei Prüfungsschritten.132 Hiernach muss eine Andersbehandlung geeignet sein, das in Anspruch genommene legitime Ziel (sachlicher Grund) zu erreichen.133 Es darf zudem kein milderes, gleich wirksames Mittel möglich sein.134 Abschließend muss die Andersbehandlung in einem angemessenen Verhältnis zu dem verfolgten Zweck stehen.135 Besonderheiten ergeben sich bei der Rechtfertigungsprüfung von Gleichbehandlungen nicht vergleichbarer Sachverhalte. Ziel des allgemeinen Gleichheitssatzes ist die Gleichbehandlung, weshalb bei der Gleichbehandlung nicht
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Dafür Mayer, in: Grabitz/Hilf/Nettesheim, nach Art. 6 EUV Rn. 224; Hölscheidt, in: Meyer, Art. 20 GRCh Rn. 16a; Jarass, EU-Grundrechte, § 24 Rn. 15; Kugelmann, in: Merten/Papier, § 160 Rn. 36; kritisch Rossi, in: Calliess/Ruffert, Art. 20 GRCh Rn. 27; Kingreen, in: Ehlers, § 17 Rn. 17. 129 Vgl. dazu Kischel, EuGRZ 1997, 1, 5 f.; ebenfalls auf die „neue Formel“ des BVerfG verweisend Rossi, in: Calliess/Ruffert, Art. 20 GRCh Rn. 27. 130 EuGH, Rs. C-127/07, Arcelor Atlantique, Slg. 2008, I-9895 Rn. 47; zur Bedeutung der Entscheidungen der Großen Kammer, s. Art. 44 § 3 der EuGH-VerfO. 131 Vgl. Kugelmann, in: Merten/Papier, § 160 Rn. 36. 132 Vgl. Pache, NVwZ 1999, 1037. 133 Vgl. etwa EuGH, Rs. C-148/02, Garcia Avello, Slg. 2003, I-11613 Rn. 31. 134 Vgl. etwa EuGH, Rs. 265/87, Schräder, Slg. 1989, 2237 Rn. 21. 135 Vgl. etwa EuGH, Rs. C-323/95, Hayes, Slg. 1997, I-1711 Rn. 24.
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vergleichbarer Sachverhalte eine geringere Kontrolldichte im Rahmen der Verhältnismäßigkeitsprüfung angezeigt ist.136 4. Besonderheiten der Diskriminierungsverbote Diskriminierungsverbote zeichnen sich als besondere Gleichheitssätze dadurch aus, dass sie Ungleichbehandlungen aufgrund eines bestimmten Merkmals untersagen. Sie tragen das verbotene Differenzierungsmerkmal bereits in ihrem Tatbestand. Neben ihrer tatbestandlichen Reduktion auf bestimmte Ungleichbehandlungen sind von ihnen zudem lediglich Ungleichbehandlung vergleichbarer Sachverhalte erfasst, nicht jedoch Gleichbehandlungen nicht vergleichbarer Sachverhalte. Dieser reduzierte Schutzbereich der Diskriminierungsverbote wird mit erhöhten Anforderungen an die Rechtfertigung staatlicher Ungleichbehandlungen ausgeglichen, wodurch die Funktion der besonderen Gleichheitssätze in einer punktuellen Anhebung des Mindeststandards liegt, der bereits durch den allgemeinen Gleichheitssatz begründet ist.137 a) Ziel der Diskriminierungsverbote: Integration „als Gleiche“ Diskriminierungsverbote dienen der Gewährleistung von Statusgleichheit.138 Statusgleichheit bedeutet dabei, dass Sachverhalte, die eigentlich faktisch verschieden sind, im Hinblick auf einen Status als gleich gelten. Der Status ist durch ein bestimmtes Merkmal definiert, dessen faktisches Vorkommen keine Unterschiedlichkeit der Sachverhalte begründen kann. Im Hinblick auf solche Merkmale, die die Unterschiedlichkeit von Menschen begründen können, ist die Notwendigkeit einer Statusgleichheit aus der Menschenwürde ableitbar. Die Statusgleichheit soll sicherstellen, dass alle Menschen aufgrund ihrer Existenz als Menschen trotz der damit verbundenen Verschiedenheiten „als Gleiche“139 in ihrem Status als Mensch, als Person und als Persönlichkeit behandelt werden. Hierzu fingiert das Diskriminierungsverbot eine Vergleichbarkeit unterscheidbarer Sachverhalte, die sich durch das verbotene Differenzierungsmerkmal unterscheiden.140 Damit deklariert das Diskriminierungsverbot die Unterschiedlichkeit aufgrund des verbotenen Differenzierungsmerkmals für irrelevant. Sie dienen der Gleichstellung von Menschen, die sich durch das verbotene Differenzierungsmerkmal unterscheiden. Die durch die Diskriminierungsverbote zu erreichende Statusgleichheit führt
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So Rossi, Calliess/Ruffert, Art. 20 GRCh Rn. 28; Jarass, in: Jarass, Art. 20 GRCh Rn. 17; Frenz, Handbuch Europarecht, Bd. IV Rn. 3210. 137 Vgl. Sachs, in: HdBStR V (1992), § 126 Rn. 16. 138 Zur Statusgleichheit: Kirchhof, in: HdBStR V (1992), § 124 Rn. 194 ff. 139 Vgl. dazu Dworkin, Taking Rights Seriously (2013), S. 218 ff.: „the right to equal concern and respect“. 140 Vgl. Plötscher, Begriff der Diskriminierung, S. 44.
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damit zu einer Teilhabe aller an besonderen Gewährleistungen, die ein Gesetzgeber einer Teilgruppe zubilligt. Im Integrationskonzept der Europäischen Union141 haben Diskriminierungsverbote die Funktion, Sachverhalte, die nicht im Inland eines Mitgliedstaates begründet wurden, mit Inlandssachverhalten gleichzustellen. Im Hinblick auf nichtansässige Unionsbürger müssen die Mitgliedstaaten die Behandlung „als Gleiche“, mithin wie eigene Staatsangehörige, in ihrem jeweiligen Hoheitsgebiet gewährleisten. Aus dieser Ausrichtung der Diskriminierungsverbote auf Statusgleichheit und Integration folgt, dass sie als Unterscheidungsverbote und nicht als Unterscheidungsgebote zu verstehen sind.142 Es wäre mit diesem Sinn und Zweck nicht vereinbar, Gleichheitsrechten, die auf Integration zielen, zugleich einen Gehalt zuzuweisen, der den ihnen Unterworfenen gebieten würde, einen Sachverhalt anders zu behandeln. b) Reichweite der Diskriminierungsverbote: Anknüpfungsverbote oder Begründungsverbote Als besondere Gleichheitssätze erhöhen Diskriminierungsverbote den durch den allgemeinen Gleichheitssatz gesetzten Mindeststandard in ihrem Anwendungsbereich. Daraus ergibt sich die Notwendigkeit, die von den Diskriminierungsverboten erfassten Sachverhalte von denjenigen abzugrenzen, die lediglich dem allgemeinen Gleichheitssatz unterliegen. Hierzu ist die Qualität des von einem Diskriminierungsverbot verlangten Verhältnisses einer festgestellten Andersbehandlung mit dem verbotenen Differenzierungsmerkmal von Bedeutung. Dabei können zwei grundlegende Arten der Beziehung einer Andersbehandlung mit dem Differenzierungsmerkmal unterschieden werden. Zum einen kann es für die Annahme einer Diskriminierung ausreichend sein, dass die Andersbehandlung mit dem Differenzierungsmerkmal begründet wurde (Diskriminierungsverbote als Begründungsverbote143). Zum anderen kann verlangt werden, dass die Andersbehandlung final an das Differenzierungsmerkmal anknüpft (Diskriminierungsverbote als Anknüpfungsverbote144). Bei dem ersten Verständnis betrachtet man die Auswirkungen eines Verhaltens, um seine Diskriminierungsqualität festzustellen. Bei dem letzten Verständnis nimmt man die Einwirkung des Verhaltens auf einen Sachverhalt in Betracht. Beide Arten 141
Vgl. zum Integrationskonzept der Europäischen (Wirtschafts-)Gemeinschaft MüllerGraff, Unternehmensinvestitionen, S. 280 ff.; ders., in: von der Groeben/Schwarze/Hatje, Art. 34 AEUV Rn. 2; Kainer, Unternehmensübernahmen, S. 127 ff., 137 ff. 142 Vgl. zum deutschen Verfassungsrecht Sachs, in: HdBStR V (1992), § 126 Rn. 23; zu Art. 18 AEUV: Mühl, Diskriminierung und Beschränkung, S. 67; Troge, Staatsangehörigkeitsprinzip, S. 98 f.; Plötscher, Begriff der Diskriminierung, S. 270 f. 143 So für das deutsche Verfassungsrecht Podlech, S. 94 f.; Heun, in: Dreier, Art. 3 GG Rn. 125; Huster, Rechte und Ziele, S. 322 f.; für die unionsrechtlichen Diskriminierungsverbote: Mühl, Diskriminierung und Beschränkung, S. 93 f.; Kingreen, Struktur, S. 143 f. 144 So für das deutsche Verfassungsrecht Sachs, in: HdBStR V (1992), § 126 Rn. 70 ff.
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unterscheiden sich im Hinblick auf die Einbeziehung von konkreten Sachumständen, die ein eigentlich nicht diskriminierendes Verhalten, weil es nicht an ein Differenzierungsmerkmal anknüpft, zu einer Diskriminierung im Einzelfall werden lassen können.145 Je weniger ausgeprägt das Verhältnis von Andersbehandlung und Differenzierungsmerkmal sein muss, umso weiter ist der Anwendungsbereich des Diskriminierungsverbots. Eindeutig sind jene Andersbehandlungen von Diskriminierungsverboten erfasst, die ausdrücklich an das verbotene Differenzierungsmerkmal anknüpfen. Das Vorhandensein des Merkmals bei einer bestimmten Person oder bei einem bestimmten Sachverhalt wird bei solchen Andersbehandlungen zur Voraussetzung für den Eintritt einer bestimmten Rechtsfolge erhoben.146 Fraglich ist, ob Diskriminierungsverbote als besondere Gleichheitssätze auch solche Andersbehandlungen erfassen, die nicht am verbotenen Differenzierungsmerkmal anknüpfen. In solchen Fällen könnte für die Annahme einer Diskriminierung ausreichend sein, dass die verbotenen Differenzierungsmerkmale den (eigentlichen) Grund für die Andersbehandlung bilden. Für ein engeres Verständnis der Diskriminierungsverbote als Anknüpfungsverbote würde ihre Stellung als besondere Gleichheitssätze sprechen, deren Funktion in der Erhöhung des bereits durch den allgemeinen Gleichheitssatz gewährleisteten Mindeststandards besteht. Die Rechtsfolge eines Anknüpfungsverbotes ist die Untersagung der Ungleichbehandlung, die an das verbotene Differenzierungsmerkmal anknüpft, ohne dass – im Gegensatz zum allgemeinen Gleichheitssatz – eine Möglichkeit der sachlichen Rechtfertigung besteht, da es auf die Motive für die Differenzierung gerade nicht ankommt.147 Das Anknüpfungsverbot entzieht die Ungleichbehandlung den „Rationalisierungskünsten der Träger öffentlicher Gewalt“.148 Im Gegenzug fallen aber solche Ungleichbehandlungen aus dem Schutzbereich der Diskriminierungsverbote, die an Merkmale anknüpfen, die lediglich typischerweise Personen oder Sachverhalte betreffen, die durch das verbotene Differenzierungsmerkmal abgrenzbar sind, obwohl solche Ungleichbehandlungen in der Realität häufiger vorkommen als diejenigen, die unmittelbar am verbotenen Merkmal anknüpfen. Um solche Ungleichbehandlungen auch zu erfassen, haben die Vertreter des Verständnisses von Diskriminierungsverboten als Anknüpfungsverbote die Kategorie der „verdeckten“ Diskriminierung entwickelt. Solche Diskriminierungen knüpfen zwar im Tatbestand der Ungleichbehandlung nicht „sichtbar“ an das verbotene Differenzierungsmerkmal an, sie beruhen jedoch auf einer Entscheidungsmaxime, die nach dem verbotenen Differenzierungsmerkmal 145 Vgl. Plötscher, Begriff der Diskriminierung, S. 52 f.; Bernard, ICLQ 45 (1996), 82, 97 ff.; Hilson, ELRev 24 (1999), 445, 447 f. 146 Vgl. Sachs, in: HdBStR V (1992), § 126 Rn. 29. 147 Vgl. zu Art. 3 Abs. 2 und Abs. 3 GG: Sacksofsky, Das Grundrecht auf Gleichberechtigung, S. 306 ff. 148 Sachs, in: HdBStR V (1992), § 126 Rn. 74.
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unterscheidet.149 Um am anderen Ende des Spektrums möglicher Diskriminierungen, die an bestimmte Differenzierungsmerkmale anknüpfen, zudem solche Ungleichbehandlungen zuzulassen, die wie im Fall des Schutzes von Schwangeren an geschlechtsspezifischen Merkmalen anknüpfen, jedoch aus sachlichen Erwägungen überzeugend sind, schränken die Vertreter des Verständnisses von Diskriminierungsverboten als Anknüpfungsverbote die Vergleichbarkeitsprüfung ein, wonach es in Fällen natürlicher (Schwangerschaften kommen nur bei Frauen vor) und logischer Unvergleichbarkeit mangels Vergleichbarkeit gar nicht erst zu einer Ungleichbehandlung kommen kann.150 Die dargelegten Versuche, die Reichweite von Diskriminierungsverboten, wenn man sie als Anknüpfungsverbote versteht, auf ein sinnvolles Maß zu begrenzen, machen deutlich, dass auch dieses Verständnis zu einem gewissen Maß auf den Grund für eine Ungleichbehandlung abstellt. Die von diesem Verständnis abgelehnte Möglichkeit einer sachlichen Rechtfertigung von Diskriminierungen führt zudem zu einer Überführung von Elementen der Rechtfertigungsprüfung in den Tatbestand des Diskriminierungsverbots wie bei der Fallgruppe der „verdeckten“ Diskriminierung oder dem Entfallen der Vergleichbarkeit aus natürlichen Gründen. Schließlich bedeutet die Unvergleichbarkeit aus natürlichen Gründen nichts anderes, als dass die Gründe für eine Ungleichbehandlung derart gewichtig sind, dass sie gerechtfertigt ist. Sinnvollerweise sollten solche Erwägungen jedoch auf der Ebene der Rechtfertigung geprüft und entsprechend abgewogen werden.151 Überzeugend ist daher ein Verständnis der Diskriminierungsverbote als Begründungsverbote,152 welches auch vorliegend zugrunde gelegt wird. Dieses Verständnis führt nun einerseits dazu, dass solche Ungleichbehandlungen von einem Diskriminierungsverbot erfasst sind, die zwar nicht an das verbotene Differenzierungsmerkmal anknüpfen, die jedoch solchermaßen abgrenzbare Personen oder Sachverhalte typischerweise benachteiligen. Andererseits bedeutet dieses Verständnis auch, dass unmittelbar an das verbotene Differenzierungsmerkmal anknüpfende Ungleichbehandlungen einer Abwägung mit sachlichen Gründen zugeführt werden. Beruht nämlich eine „scheinbar“ in ihrem Tatbestand nach dem verbotenen Merkmal differenzierende Maßnahme tat-
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Vgl. Sachs, in: HdBStR V (1992), § 126 Rn. 90. Vgl. Sachs, in: HdBStR V (1992), § 126 Rn. 35 f. 151 Vgl. Huster, Rechte und Ziele, S. 313 ff.; 322 ff. 152 So für das deutsche Verfassungsrecht Podlech, Gehalt und Funktionen des allgemeinen verfassungsrechtlichen Gleichheitssatzes, S. 94 f.; Heun, in: Dreier, Art. 3 GG Rn. 125; Huster, Rechte und Ziele, S. 322 f.; für die unionsrechtlichen Diskriminierungsverbote: Mühl, Diskriminierung und Beschränkung, S. 93 f.; Kingreen, Struktur, S. 143 f. 150
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sächlich auf anderen Gründen, so ist die Ungleichbehandlung vom Diskriminierungsverbot nicht erfasst.153 Das Verständnis der Diskriminierungsverbote lässt somit die Grenzen von Diskriminierungsverboten und allgemeinem Gleichheitssatz verschwimmen. Es berücksichtigt daher die unionsgesetzgeberische Wertung, bestimmte Ungleichbehandlungen im Verhältnis zum allgemeinen Gleichheitssatz, von dem sie in jedem Fall erfasst wären, besonders hervorzuheben und zu untersagen, nicht in einem ausreichenden Maße. Die Unterschiede von Ungleichbehandlungen, die unmittelbar an das verbotene Differenzierungsmerkmal anknüpfen, und solchen, die neutral ausgestaltet, aber typischerweise Personen und Sachverhalte betreffen, die durch das verbotene Differenzierungsmerkmal abgrenzbar sind, müssen entsprechend auf der Rechtfertigungsebene gewürdigt werden.154 Ungleichbehandlungen, die unmittelbar an das verbotene Differenzierungsmerkmal anknüpfen, begründen dabei eine widerlegbare Vermutung dafür, dass es sich bei ihnen um vom Diskriminierungsverbot untersagte Ungleichbehandlungen handelt, für die kein sachlicher Rechtfertigungsgrund einschlägig ist. Sollte der Nachweis eines anderen entscheidungsleitenden Differenzierungsmerkmals als dem verbotenen gelingen, so sind erhöhte Anforderungen an die Verhältnismäßigkeit zu stellen. Nur so kann der unionsgesetzgeberischen Wertung entsprochen werden, bestimmte Ungleichbehandlungen im besonderen Maße hervorzuheben und zu untersagen. c) Vergleichbarkeit auf Grundlage des verbotenen Differenzierungsmerkmals Die konkrete Benennung des verbotenen Differenzierungsmerkmals im Tatbestand des Diskriminierungsverbots hat ihre Auswirkungen auf die dem Gleichheitssatz entlehnte Vergleichbarkeitsprüfung. Zunächst zieht das verbotene Differenzierungsmerkmal den Kreis der vom Diskriminierungsverbot erfassten Sachverhalte enger als beim allgemeinen Gleichheitssatz: Um dem Diskriminierungsverbot zu unterliegen, müssen die zu vergleichenden Sachverhalte das verbotene Differenzierungsmerkmal enthalten. Beispielhaft bezogen auf das in Art. 18 Abs. 1 AEUV verbotene Differenzierungsmerkmal der Staatsangehörigkeit bedeutet dies, dass lediglich personenbezogene Sachverhalte in Betracht kommen. Nur natürliche Personen haben eine Staatsangehörigkeit. Juristische Personen sind gemäß Art. 54 AEUV den natürlichen Personen punktuell gleichgestellt. Anstelle der Staatsangehörigkeit ist bei ihnen das Kriterium 153 So für das deutsche Verfassungsrecht etwa Pieroth/Schlink, Grundrechte, Rn. 488; zu den unionsrechtlichen Diskriminierungsverboten: Plötscher, Begriff der Diskriminierung, S. 286. 154 So auch Plötscher, Begriff der Diskriminierung, S. 291 ff., der dann keine Rechtfertigungsmöglichkeit bei unmittelbaren Diskriminierungen mehr annimmt und nur noch mittelbare Diskriminierungen als rechtfertigbar erkennt.
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der Staatszugehörigkeit ausschlaggebend.155 Gegenstände wie Waren, Dienstleistungen, Kapital oder Zahlungsströme sind für die Vergleichsgruppenbildung nach Art. 18 Abs. 1 AEUV unbeachtlich.156 In einem zweiten Schritt wird das verbotene Differenzierungsmerkmal bei der Auswahl der für die Vergleichsgruppenbildung relevanten Merkmale für irrelevant erklärt. Die zu vergleichenden Sachverhalte können demnach nicht aufgrund des verbotenen Differenzierungsmerkmals ungleich und damit nicht vergleichbar werden.157 Gewendet auf das in Art. 18 Abs. 1 AEUV als Differenzierungsmerkmal verbotene Merkmal der Staatsangehörigkeit bedeutet dies, dass die unterschiedliche Staatsangehörigkeit die ansonsten gegebene Vergleichbarkeit der Sachverhalte nicht ausschließt. Eine Ausnahme von der Notwendigkeit einer Vergleichbarkeit der Sachverhalte, welche einer Verallgemeinerung dieser Voraussetzung für die Dogmatik der unionsrechtlichen Gleichheitssätze entgegenstehen könnte, scheint der EuGH in den sog. Schwangerschaftsfällen vorzunehmen.158 In diesen Fällen wurden Frauen aufgrund ihrer Schwangerschaft nicht eingestellt („Dekker“) oder entlassen („Webb“). Die Arbeitgeber beriefen sich dabei u.a. darauf, dass eine Diskriminierung nicht vorliege, da es keine männlichen Bewerber gegeben habe („Dekker“), bzw. dass ein männlicher Arbeitnehmer, der zum selben Zweck wie die schwangere Frau eingestellt worden wäre, ebenfalls entlassen worden wäre, wenn dieser im maßgebenden Zeitpunkt „Urlaub aus medizinischen oder anderen Gründen“ beantragt hätte („Webb“). Beide Fälle wurden vom EuGH als unmittelbare Diskriminierungen eingeordnet. Dadurch dass nur Frauen schwanger werden könnten, stehe das Differenzierungsmerkmal „Schwangerschaft“ in einem derart engen Zusammenhang mit dem von Art. 157 Abs. 1 AEUV verbotenen Differenzierungsmerkmal „Geschlecht“, dass ein Fall der unmittelbaren Diskriminierung vorliege.159 In beiden Fällen verzichtete er bei der Prüfung eines Verstoßes gegen das Verbot der Diskriminierung aus Gründen des Geschlechts in Entgeltfragen nach Art. 157 Abs. 1
155 Vgl. Streinz, in: Streinz, Art. 18 AEUV Rn. 36; von Bogdandy, in: Grabitz/Hilf/Nettesheim, Art. 18 AEUV Rn. 29; Zuleeg, in: von der Groeben/Schwarze, Art. 12 EGV Rn. 10. 156 Plötscher, Begriff der Diskriminierung, S. 107. 157 Vgl. Plötscher, Begriff der Diskriminierung, S. 44. 158 EuGH, Rs. C-177/88, Dekker, Slg. 1990, I-3941; Rs. C-32/93, Webb, Slg. 1994, I-3567. 159 EuGH, Rs. C-177/88, Dekker, Slg. 1990, I-3941 Rn. 12; Rs. C-179/88, Hertz, Slg. 1990, I-3979 Rn. 13. Kritisch Honeywell, ILJ 29 (2000), 43, 50 f., der die Diskriminierung aus Gründen der Schwangerschaft nicht für eine Diskriminierung aus Gründen des Geschlechts hält; ebenfalls kritisch Wintermute, ILJ 27 (1998), 23, 28 ff., der die Diskriminierung aus Gründen der Schwangerschaft nicht für eine unmittelbare, aber für eine mittelbare Diskriminierung hält.
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AEUV auf einen Vergleich mit männlichen Arbeitnehmern und lehnte einen solchen gar ab.160 Diese Rechtsprechung deutet in den Schwangerschaftsfällen ein Verständnis des EuGH an, im Diskriminierungsverbot aus Gründen des Geschlechts ein Anknüpfungsverbot zu erkennen.161 Dann reicht nämlich die Anknüpfung an ein verbotenes Differenzierungsmerkmal aus, um eine bestimmte Maßnahme für diskriminierend zu erklären, ohne dass es eine Rechtfertigungsmöglichkeit gibt. Mangels Rechtfertigungsmöglichkeit wären deshalb Bevorzugungen von schwangeren Frauen, wenn sie mit temporär arbeitsunfähigen Männern vergleichbar wären, diskriminierend und Gleichbehandlungen (Nichteinstellungen oder Entlassungen aus Gründen der temporären Arbeitsunfähigkeit) fielen aus dem Anwendungsbereich des Diskriminierungsverbotes.162 Vor diesem Hintergrund musste der EuGH die Vergleichbarkeit von schwangeren Frauen mit temporär arbeitsfähigen Männern ablehnen. Zu diesem Ergebnis gelangt er, indem er darauf abstellt, dass zwar die Vergleichsgruppen grundsätzlich entlang des verbotenen Differenzierungsmerkmals gebildet werden. Bei dem Diskriminierungsverbot aus Gründen des Geschlechts in Entgeltfragen führt dies dazu, dass die relevante Vergleichsgruppe für die (werdenden) Mütter durch Männer gebildet werden muss. Allerdings entfällt die Vergleichbarkeit, wenn das konkrete Differenzierungsmerkmal, nach dem die streitgegenständliche Ungleichbehandlung unterscheidet, nur von einer Vergleichsgruppe verwirklicht werden kann. Da Männer aus biologischen Gründen nicht schwanger werden können, sind sie per se nicht vergleichbar mit (werdenden) Müttern. Mangels Vergleichsgruppe reicht daher für die Annahme einer Diskriminierung, dass nachteilige Folgen (Nichteinstellung bzw. Entlassung) an das Vorhandensein des Differenzierungsmerkmals „Schwangerschaft“ anknüpfen. Dieser fallgruppenbezogene Verzicht auf eine Vergleichbarkeitsprüfung aufgrund fehlender Vergleichsgruppe wäre nicht notwendig, wenn man die Diskriminierungsverbote, wie vorliegend, nicht als Anknüpfungsverbote, sondern als Begründungsverbote versteht, die einer Rechtfertigung zugänglich sind. Ungleichbehandlungen, die an die Schwangerschaft anknüpfen, bzw. Gleichbehandlungen von schwangeren Frauen mit temporär arbeitsunfähigen Männern können bzw. müssen gerechtfertigt werden. Die Vergleichsgruppen können dann entlang dem verbotenen Differenzierungsmerkmal Geschlecht gebildet werden. Die Schwangerschaft ist dabei ein Rechtfertigungsgrund von einigem Gewicht, der in der Regel eine Bevorzugung von schwangeren Frauen rechtfertigt 160 Vgl. EuGH, Rs. C-177/88, Dekker, Slg. 1990, I-3941 Rn. 17; Rs. C-32/93, Webb, Slg. 1994, I-3567 Rn. 24 f. 161 Siehe dazu unten unter S. 114 ff. 162 Daher eine Vergleichbarkeit bei „natürlicher Unvergleichbarkeit“ konsequent ablehnend Sachs, in: HdbStR V (1992), § 126 Rn. 36, der zugleich ein Vertreter des Verständnisses von Diskriminierungsverboten als Anknüpfungsverbote ist.
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bzw. einer Gleichbehandlung von schwangeren Frauen mit temporär arbeitsunfähigen Männern entgegensteht. Die Vergleichbarkeit und die Rechtfertigung sind voneinander zu trennen. In den Schwangerschaftsfällen stellt sich somit zunächst die Frage, ob bei einer bestimmten Maßnahme Frauen und Männer im Hinblick auf diese Maßnahme vergleichbar sind. Das Diskriminierungsverbot in Art. 157 Abs. 1 AEUV knüpft an das Geschlecht als verbotenes Differenzierungsmerkmal an, weshalb die Vergleichsgruppen entlang des Geschlechtes zu bilden sind. Stellt man hiernach eine Ungleichbehandlung von Mann und Frau fest, wofür nicht zwangsläufig nur ausschließlich an das Geschlecht angeknüpft werden muss, sofern das gewählte Differenzierungsmerkmal (wie bei der Schwangerschaft) in einem untrennbaren Zusammenhang mit dem Geschlecht steht, so muss sich diese gegenüber dem Schutz der Schwangerschaft und der Mutterschaft sowie des ungeborenen Lebens rechtfertigen. Es bleibt somit dabei, dass die Vergleichbarkeit der Sachverhalte eine gleichheitsrechtliche Voraussetzung bildet, die im Hinblick auf die Dogmatik sämtlicher unionsrechtlichen Gleichheitssätze verallgemeinerungsfähig ist. d) Ungleichbehandlung aus Gründen des verbotenen Differenzierungsmerkmals Das Diskriminierungsverbot will „Gleichheit durch Ausschaltung unzulässiger Unterscheidungsmerkmale“163 erreichen. Die von einem Diskriminierungsverbot erfasste Andersbehandlung vergleichbarer Sachverhalte durch dasselbe Rechtssubjekt muss demnach in einem Zusammenhang mit dem verbotenen Differenzierungsmerkmal stehen. Versteht man die Diskriminierungsverbote als Begründungsverbote, ist es notwendig und ausreichend, dass der Grund für die Andersbehandlungen in dem verbotenen Differenzierungsmerkmal zu finden ist oder, mit anderen Worten, dass die Andersbehandlung auch unter Wegfall des verbotenen Differenzierungsmerkmals als Grund erklärbar bleibt.164 Andersbehandlungen nach anderen Merkmalen ohne jeden Zusammenhang mit dem verbotenen Merkmal sind tatbestandlich nicht erfasst. aa) Unmittelbare Diskriminierungen aus Gründen des verbotenen Differenzierungsmerkmals Grundsätzlich sind zunächst diejenigen Ungleichbehandlungen als solche aus Gründen des verbotenen Differenzierungsmerkmals anzusehen, die das verbotene Differenzierungsmerkmal in ihrem Tatbestand enthalten und an dessen Vorliegen oder Nichtvorliegen unterschiedliche Rechtsfolgen anknüpfen. Eine solche Ungleichbehandlung indiziert ihre Rechtswidrigkeit. Gewendet auf das 163
Kugelmann, in: Merten/Papier, § 160 Rn 39. Vgl. für das deutsche Verfassungsrecht etwa Podlech, Gehalt und Funktionen des allgemeinen verfassungsrechtlichen Gleichheitssatzes, S. 94 f. 164
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in Art. 18 Abs. 1 AEUV verbotene Differenzierungsmerkmal der Staatsangehörigkeit wäre das besondere Diskriminierungsverbot etwa einschlägig, wenn ein Mitgliedstaat seinen eigenen Staatsangehörigen kostenlosen Eintritt in Museen gewährt und dies ausländischen Touristen verweigert.165 Hierbei handelt es sich um unmittelbare, formale, offene oder direkte Diskriminierungen.166 Unter eine unmittelbare Diskriminierung fallen nach der Rechtsprechung auch solche Ungleichbehandlungen, die zwar das verbotene Differenzierungsmerkmal nicht als Tatbestandsmerkmal in sich tragen, bei denen jedoch das stattdessen verwendete Kriterium vom verbotenen Differenzierungsmerkmal „nicht zu trennen“ ist.167 Eine solche Untrennbarkeit ist nach dem EuGH etwa beim verbotenen Differenzierungsmerkmal der „sexuellen Ausrichtung“ in Art. 2 Abs. 1, Art. 1 der Richtlinie 2000/78/EG anzunehmen, wenn die Höhe einer Zusatzversorgung sich danach unterscheidet, ob der Versorgungsempfänger verheiratet ist, und die Ehe als Tatbestandsvoraussetzung für die erhöhte Zusatzversorgung lediglich heterosexuellen Personen rechtlich offensteht.168 Zwar wird in diesem Fall nicht nach der sexuellen Ausrichtung unterschieden, jedoch verlangt die Ehe als Tatbestandsvoraussetzung für die erhöhte Zusatzversorgung die Verschiedengeschlechtlichkeit der Eheleute, so dass das Unterscheidungsmerkmal der „Ehe“ durch ihren Ausschluss gleichgeschlechtlicher Personen vom verbotenen Differenzierungsmerkmal der „sexuellen Ausrichtung“ nicht zu trennen ist.169 bb) Mittelbare Diskriminierungen aus Gründen des verbotenen Differenzierungsmerkmals Diskriminierungsverbote verstanden als Begründungsverbote erfassen auch Ungleichbehandlungen durch dasselbe Rechtssubjekt, die in ihrem Tatbestand nicht nach dem verbotenen Merkmal unterscheiden, wohl aber zu einer Schlechterstellung des vergleichbaren Sachverhalts führen. In der Rechtssache „Sotgiu“ erkannte der EuGH „alle versteckten Formen der Diskriminierung, die durch die Anwendung anderer Unterscheidungsmerkmale tatsächlich zu dem gleichen Ergebnis führen“ als vom Diskriminierungsverbot des Art. 18 Abs. 1 AEUV erfasst an.170 Dies bedeutet, dass auch solche Andersbehandlungen, die zwar in ihrem Tatbestand nicht nach dem verbotenen Merkmal der 165
So in EuGH, Rs. C-45/93, Kommission/Spanien, Slg. 1994, I-911. Vgl. nur von Bogdandy, in: Grabitz/Hilf/Nettesheim, Art. 18 AEUV Rn. 10. 167 EuGH, Rs. C-356/09, Kleist, Slg. 2010, I-11939 Rn. 31. 168 Siehe zu den entsprechenden EuGH-Urteilen oben S. 93 ff. 169 EuGH, Rs. C-147/08, Römer, Slg. 2011, I-3591 Rn. 52, zust. Brors, EuZA 2012, 67, 71; die Untrennbarkeit ablehnend Rupp, RdA 2009, 309, 311; ebenso eine mittelbare Diskriminierung annehmend GA Colomer, SchlA Rs. C-267/06, Maruko, Slg. 2008, I-1757 Nr. 102. 170 EuGH, Rs. 152/73, Sotgiu, Slg. 1974, 153 Rn. 11. 166
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Staatsangehörigkeit unterscheiden, wohl aber typischerweise und regelmäßig zu einer Schlechterstellung aufgrund der Staatsangehörigkeit führen, eine Ungleichbehandlung aus Gründen der Staatsangehörigkeit sind.171 Diese Ausweitung des Diskriminierungsbegriffs folgt für Art. 18 Abs. 1 AEUV bereits aus dem Wortlaut der Norm, die „jede Diskriminierung“ verbietet. Zudem sprechen auch der Sinn und Zweck (effet utile) des Art. 18 Abs. 1 AEUV für eine weite Lesart des Diskriminierungsbegriffs. Würde man sich nämlich auf einen formellen Diskriminierungsbegriff zurückziehen, der lediglich unmittelbare Diskriminierungen umfasst, würden zahlreiche tatsächliche Benachteiligungen von ausländischen Unionsbürgern aus dem Anwendungsbereich des Diskriminierungsverbots, das doch als „Magna Charta“172 und „Leitmotiv“173 der Europäischen Verträge gilt, herausfallen. Dies verdeutlicht ein weiteres Mal, dass die unionsrechtlichen Diskriminierungsverbote als Begründungsverbote zu verstehen sind. (1) Neutrale Differenzierungsmerkmale ergänzen die verbotenen Merkmale Schwierig erscheint bei den mittelbaren Diskriminierungen die Grenzziehung gegenüber jenen Andersbehandlungen aus anderen Gründen als dem verbotenen Differenzierungsmerkmal, deren Zusammenhang zu dem verbotenen Merkmal nur gering ist. Ohne eine solche Grenzziehung würde das Diskriminierungsverbot in den allgemeinen Gleichheitssatz aufgehen. Und gerade dieses ist aufgrund der Festlegung der Diskriminierungsverbote auf Ungleichbehandlungen aus Gründen eines bestimmten, von ihnen verbotenen Differenzierungsmerkmals nicht gewollt. Ausgangspunkt jeder Überlegung ist die Feststellung, dass die in Betracht genommene Andersbehandlung auf Grund eines anderen Merkmals (eines neutralen Merkmals) als dem verbotenen Differenzierungsmerkmal vorgenommen wird. Hieraus folgt in einem ersten Schritt, dass das neutrale Merkmal als relevantes Merkmal für die Vergleichbarkeit der anders behandelten Sachverhalte miteinzubeziehen ist. Allerdings ersetzt es nicht das verbotene Differenzierungsmerkmal, sondern ergänzt es nur, weshalb weiterhin für die Vergleichbarkeit das verbotene Differenzierungsmerkmal als unwesentlich fingiert wird.174 Die Andersbehandlung des handelnden Rechtssubjektes muss auf eine Unterscheidung nach dem verbotenen Differenzierungsmerkmal zurückführbar sein. Die mittelbare Diskriminierung ist im Kern immer noch eine Ungleichbehandlung aufgrund des verbotenen Merkmals. 171
Vgl. nur von Bogdandy, in: Grabitz/Hilf/Nettesheim, Art. 18 AEUV Rn. 10 ff. Begrifflichkeit nach Ipsen, Gemeinschaftsrecht, § 30 Rn. 3, S. 592. 173 Begrifflichkeit nach Wohlfahrt, in: Wohlfahrt/Everling/Glaesner/Sprung, Art. 7 EWGV Anm. 1. 174 Vgl. Troge, Staatsangehörigkeitsprinzip, S. 91; Plötscher, Begriff der Diskriminierung, S. 109 f. 172
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(2) Zusammenhang mit dem verbotenen Differenzierungsmerkmal Für die Feststellung der mittelbaren Ungleichbehandlung aus Gründen des verbotenen Differenzierungsmerkmals ist nunmehr ein bestimmter Zusammenhang zwischen dem neutralen Differenzierungsmerkmal und dem verbotenen Differenzierungsmerkmal herzustellen. Der EuGH scheint auf einen faktischen Zusammenhang abzustellen, wenn er davon spricht, dass die mittelbare Diskriminierung „tatsächlich zu dem gleichen Ergebnis“175 führen muss, als ob es sich um eine unmittelbare Diskriminierung handelte. Dies soll dann der Fall sein, wenn die „große Mehrzahl“ der von der Maßnahme betroffenen Fälle solche sind, die sich auf das verbotene Differenzierungsmerkmal zurückführen lassen. Auf das besondere Diskriminierungsverbot in Art. 18 Abs. 1 AEUV angewandt, muss die Mehrzahl der von einer Ungleichbehandlung betroffenen Personen eine andere Staatsangehörigkeit als diejenigen des handelnden Mitgliedstaates haben, um eine Diskriminierung zu sein.176 Eine solche quantifizierbare tatsächliche Sichtweise, die dann auf eine Beweislastregel für den Nachweis eines Zusammenhangs zwischen dem neutralen und dem verbotenen Differenzierungsmerkmal hindeuten würde, hat der EuGH in seinen Urteilsbegründungen allerdings nur selten eingenommen.177 Vielmehr tendiert er zu einer abstrakt typisierenden Betrachtungsweise, der zufolge es genügt, dass (nun bezogen auf die Staatsangehörigkeit als verbotenem Differenzierungsmerkmal) unterschiedslos geltende Voraussetzungen von Inländern „leichter zu erfüllen“ sind als von Ausländern bzw. dass „die Gefahr besteht“, dass sich diese Voraussetzungen besonders zum Nachteil von Ausländern auswirken.178 Die Eignung einer Maßnahme, solche Wirkungen zu erzeugen, wird vom EuGH als ausreichend betrachtet.179 Kommt es hiernach nicht auf einen ausschließlich faktischen Zusammenhang zwischen dem neutralen und dem verbotenen Differenzierungsmerkmal an, muss von einem normativen Zusammenhang ausgegangen werden.180 Hierbei stellt der Gerichtshof auf sozialtypische Verhaltensmuster von grenzüberschreitend tätigen Personen ab. Dies kommt insbesondere im Steuer- und Sozialversicherungsrecht zum Tragen, wo der EuGH auf persönliche und familiäre Bindungen von grenzüberschreitend Tätigen abstellt mit der Folge, dass ein Sachverhalt nicht mehr als
175
EuGH, Rs. 152/73, Sotgiu, Slg. 1974, 153 Rn. 11. Darauf abstellend Streinz, in: Streinz, Art. 18 AEUV Rn. 53; Holoubek, in: Schwarze, Art. 12 EGV Rn. 43 f. 177 Darauf verweisen Epiney, in: Calliess/Ruffert, Art. 18 AEUV Rn. 13; Plötscher, Begriff der Diskriminierung, S. 118 f. 178 Vgl. EuGH, Rs. C-237/94, O’Flynn, Slg. 1996, I-2617 Rn. 18; Rs. C-124/99, Borawitz, Slg. 2000, I-7293 Rn. 25; Rs. C-332/05, Celozzi, Slg. 2007, I-563 Rn. 24. 179 EuGH, Rs. C-237/94, O’Flynn, Slg. 1996, I-2617 Rn. 21. 180 Ebenso Plötscher, Begriff der Diskriminierung, S. 119 ff. 176
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inländischer, sondern als ausländischer im Mitgliedstaat der Staatsangehörigkeit des grenzüberschreitend Tätigen anzusehen ist.181 Die Betrachtungsweise des Gerichtshofs überzeugt. Dem Abstellen auf die „große Mehrzahl“ der betroffenen ausländischen Sachverhalte ist zuzugeben, dass es für die Anwendung eines Diskriminierungsverbots nicht ausreichen kann, dass lediglich eine geringe Anzahl von Sachverhalten, die durch das verbotene Differenzierungsmerkmal gekennzeichnet sind, im Ergebnis von der Andersbehandlung betroffen ist. Allerdings ist die Grenzziehung bei einer quantitativen Betrachtungsweise schwierig und führt zur Gefahr von zufälligen Entscheidungen.182 Vor dem Hintergrund des Sinns und Zwecks eines Diskriminierungsverbots ist entscheidend, dass für die durch ein verbotenes Differenzierungsmerkmal gekennzeichnete Personengruppe nicht der Eindruck der tatsächlichen Diskriminierung entsteht, der diese davon abhält, überhaupt den Versuch zu starten, in den Genuss einer Gleichbehandlung zu kommen. Ziel eines Diskriminierungsverbots ist es schließlich, die vollständige Integration der von einer möglichen Ungleichbehandlung betroffenen Personen oder Sachverhalte zu erreichen. Daher überzeugt es, für die Annahme der mittelbaren Diskriminierung bereits auf die Eignung zur tatsächlichen Ungleichbehandlung aus Gründen des verbotenen Differenzierungsmerkmals abzustellen. Dieses Ergebnis wird auch nicht dadurch in Frage gestellt, dass der EuGH in seiner Rechtsprechung zur Entgeltdiskriminierung aus Gründen des Geschlechts in Abweichung von seiner Rechtsprechung zum Diskriminierungsverbot aus Gründen der Staatsangehörigkeit auf einen faktisch quantifizierbaren statt auf einen normativen Zusammenhang zwischen der geschlechtsneutral ausgestalteten Ungleichbehandlung und seiner geschlechterdiskriminierenden Wirkung abstellt.183 So entschied der EuGH beispielsweise in den Fällen der geringeren stundenweisen Entlohnung von Teilzeitarbeit im Vergleich zu Vollzeitarbeit, dass es sich hierbei um eine verbotene Geschlechterdiskriminierung handelt, wenn „ein erheblich geringerer Prozentsatz der weiblichen Arbeitnehmer als der männlichen Arbeitnehmer die Mindestzahl an Wochenstunden leistet, die die Voraussetzung für den Anspruch auf den Stundenlohn zum vollen Satz ist.“184 In der Rechtssache „Bilka“, in der es um den Ausschluss von Teilzeitarbeitskräften von der betrieblichen Altersvorsorge ging, stellte der EuGH für die Annahme einer Diskriminierung darauf ab, dass „ein erheblich geringerer Prozentsatz Frauen als Männer vollzeitbeschäftigt ist“.185 181
Vgl. Plötscher, Begriff der Diskriminierung, S. 121 f. m.w.N. Ebenso Epiney, in: Calliess/Ruffert, Art. 18 AEUV Rn. 13. 183 Vgl. etwa EuGH, Rs. 96/80, Jenkins, Slg. 1981, 911 Rn. 13; Rs. 170/84, Bilka, Slg. 1986, 1607 Rn. 29; Rs. C-333/97, Lewen, Slg. 1999, I-7243 Rn. 34; verb. Rs. C-399/92, C409/92, C-425/92, C-34/93, C-50/93 und C-78/93, Helmig, Slg. 1994, I-5727 Rn. 23; Rs. C-25/02, Rinke, Slg. 2003, I-8349 Rn. 33 ff. 184 EuGH, Rs. 96/80, Jenkins, Slg. 1981, 911 Rn. 13. 185 EuGH, Rs. 170/84, Bilka, Slg. 1986, 1607 Rn. 29. 182
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Liegt hiernach also eine faktisch quantifizierbare Benachteiligung bei Personen oder Sachverhalten vor, die durch das verbotene Differenzierungsmerkmal abgrenzbar sind, ist ein hinreichender Zusammenhang zwischen der neutral ausgestalteten Ungleichbehandlung und dem vom Diskriminierungsverbot untersagten Differenzierungsmerkmal gegeben. Zugleich dient ein solcher faktisch quantifizierbarer Zusammenhang als Beweis für das Vorhandensein eines normativen Zusammenhangs.186 Je abstrakter die Ungleichbehandlung ausgestaltet ist, umso schwieriger und mithin willkürlicher wird der Nachweis eines faktisch quantifizierbaren Zusammenhangs. In solchen Fällen ist es überzeugend, schon bei der Feststellung eines normativen Zusammenhangs eine neutral ausgestaltete Ungleichbehandlung einem Diskriminierungsverbot zu unterwerfen.187 Hierfür spricht, dass die Urteile des EuGH betreffend die Geschlechterdiskriminierung in Entgeltfragen Maßnahmen mit einem kleinen Adressatenkreis (Ungleichbehandlungen in einem bestimmten Unternehmen oder in einer bestimmten Branche) betrachtete, bei denen ein faktisch quantifizierbarer Zusammenhang nachweisbar ist.188 (3) Kein Entfallen der Vergleichbarkeitsprüfung trotz feststellbarer Benachteiligung Ist somit ein Zusammenhang zwischen dem eigentlich neutralen Kriterium für eine Ungleichbehandlung und dem von einem Diskriminierungsverbot untersagten Differenzierungsmerkmal gefunden, stellt sich die Frage, ob bei einer mittelbaren Diskriminierung die Vergleichbarkeitsprüfung entfallen kann, wenn eine Benachteiligung der durch das Diskriminierungsverbot geschützten Personengruppe oder Sachverhalte feststellbar ist. Dies wäre insbesondere dann anzunehmen, wenn die mittelbare Diskriminierung und die unmittelbare Diskriminierung unterschiedliche Kategorien von Diskriminierungen sind, die sich bei den notwendigen Prüfungsschritten zur Feststellung einer verbotenen Ungleichbehandlung unterscheiden. Die mittelbare Diskriminierung zeichnet sich dadurch aus, dass es sich bei ihr um eine Ungleichbehandlung aus einem anderen Grund als dem verbotenen Differenzierungsmerkmal handelt. In ihren Wirkungen kommt die mittelbare Diskriminierung jedoch einer unmittelbaren Diskriminierung aus Gründen des verbotenen Differenzierungsmerkmals gleich. Das neutrale Kriterium ergänzt deshalb das von dem Diskriminierungsverbot untersagte Differenzierungsmerkmal, ersetzt es jedoch nicht. Somit finden sich die kennzeichnenden Strukturmerkmale des Diskriminierungsverbotes sowohl bei der unmittelbaren als auch bei der mittelbaren Diskriminierung wieder. Beide Diskriminierungen unterscheiden sich konzeptionell nicht. Die Vergleichbarkeitsprüfung entfällt 186
So Tobler, Indirect Discrimination, S. 234. Vgl. zur Zusammenführung: Plötscher, Begriff der Diskriminierung, S. 278 f. 188 Plötscher, Begriff der Diskriminierung, S. 278. 187
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demnach auch bei einer feststellbaren Benachteiligung der vom Diskriminierungsverbot geschützten Personen oder Sachverhalte nicht.189 Hiergegen wird eingewandt, dass sich die mittelbare Diskriminierung dadurch von der unmittelbaren Diskriminierung unterscheide, dass sie aus der Perspektive des Diskriminierungsverbots gerade keine Ungleichbehandlung aus Gründen des verbotenen Differenzierungsmerkmals erfasst, sondern eine Gleichbehandlung, die sich durch ihre überwiegend nachteiligen Wirkungen auf die vom Diskriminierungsverbot geschützten Personen oder Sachverhalte auszeichnet.190 Die mittelbare Diskriminierung richtet hiernach ihren Blick nicht auf eine unterschiedliche Behandlung, sondern vielmehr auf eine unterschiedliche Wirkung. Eine über die Feststellung einer Benachteiligung der vom Diskriminierungsverbot geschützten Personen oder Sachverhalte hinausgehende Vergleichbarkeitsprüfung sei hiernach nicht notwendig. Diese Ansicht kritisierte insbesondere die Entscheidung des EuGH in der Rechtssache „Helmig“191. In dieser Rechtssache ging es um eine tarifvertragliche Regelung, wonach sowohl bei Teilzeit- als auch bei Vollzeitbeschäftigten Überstunden erst bei Überschreiten der Gesamtarbeitszeit einer regulären Vollzeitwoche höher als eine reguläre Arbeitsstunde vergütet werden sollten. Arbeitet also beispielsweise eine teilzeitbeschäftigte Person 18 Stunden in der Woche, dann würde die 19. Arbeitsstunde trotz der Tatsache, dass es sich dabei um eine Überstunde handelt, mit dem regulären Stundensatz entlohnt, während die erste Überstunde der vollzeitbeschäftigten Person mit dem Überstundenzuschlag entgolten würde. Der EuGH hielt diese Regelung nicht für eine verbotene mittelbare Diskriminierung nach Art. 157 Abs. 1 AEUV, obwohl der Anteil an Frauen in der Gruppe der Teilzeitbeschäftigten deutlich höher war als in der Gruppe der Vollzeitbeschäftigten und damit teilzeitbeschäftigte Frauen gegenüber den vollzeitbeschäftigten Männern benachteiligt wurden. Der EuGH verneinte jedoch bereits die Ungleichbehandlung von Teilzeit- und Vollzeitbeschäftigten, da aus der Sicht einer vollzeitbeschäftigten Person die „Überstunde“ der teilzeitbeschäftigten Person mit dem gleichen Satz vergütet wird. Entsprechend dem oben genannten Beispiel wird die 19. Arbeitsstunden der teilzeitbeschäftigten Person, die 18 Stunden pro Woche arbeitet, in der gleichen Höhe vergütet wie dieselbe 19. Arbeitsstunde der vollzeitbeschäftigten Person, nämlich ohne Überstundenzuschlag.192
189 Ebenfalls gegen das Entfallen einer Vergleichbarkeitsprüfung, Tobler, Indirect Discrimination, S. 218 f.; Plötscher, Begriff der Diskriminierung, S. 279. 190 Vgl. Barnard/Hepple, CambrLJ 2000, 563, 570; Schiek, Non-Discrimination Law, S. 471. 191 EuGH, verb. Rs. C-399/92, C-409/92, C-425/92, C-34/93, C-50/93 und C-78/93, Helmig, Slg. 1994, I-5727. 192 EuGH, verb. Rs. C-399/92, C-409/92, C-425/92, C-34/93, C-50/93 und C-78/93, Helmig, Slg. 1994, I-5727 Rn. 28.
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Die Kritik machte sich nun daran fest, dass der EuGH die unmittelbare Diskriminierung und die mittelbare Diskriminierung nicht sauber voneinander unterscheide. Trotz einer feststellbaren Benachteiligung der durch das Diskriminierungsverbot geschützten Personengruppe der Frauen, nehme er in seiner Urteilsbegründung eine Vergleichbarkeitsprüfung vor. Eine solche sei allerdings nach der Kritik nur bei Ungleichbehandlungen vergleichbarer Sachverhalte erforderlich, nicht jedoch bei Benachteiligungen durch Gleichbehandlung im Hinblick auf das verbotene Differenzierungsmerkmal, die eine mittelbare Diskriminierung begründen können.193 Die im Ergebnis berechtigte Kritik an dem Urteil des EuGH erlaubt jedoch nicht den Rückschluss, dass die mittelbare und die unmittelbare Diskriminierung zwei unterschiedliche Kategorien wären, bei denen letztere dadurch gekennzeichnet ist, dass sie eine Diskriminierung durch Gleichbehandlung erfasst. Die mittelbare Diskriminierung setzt jedoch, wie bereits dargelegt, am Tatbestand der Ungleichbehandlung an und ergänzt das vom Diskriminierungsverbot untersagte Differenzierungsmerkmal um ein neutrales Differenzierungsmerkmal. Die Feststellung einer Benachteiligung der Personen oder Sachverhalte, die durch das Diskriminierungsverbot geschützt werden, ist keine Besonderheit der mittelbaren Diskriminierung. Versteht man Diskriminierungsverbote als Begründungsverbote, muss sowohl bei unmittelbaren wie bei mittelbaren Diskriminierungen im Anschluss an die konkrete Benennung des Merkmals, auf welchem eine Ungleichbehandlung beruht, das Vorhandensein einer Benachteiligung festgestellt werden. Die unmittelbare wie die mittelbare Diskriminierung folgen den dogmatischen Strukturen, die der allgemeine Gleichheitssatz vorgibt, weshalb auch bei der mittelbaren Diskriminierung eine Vergleichbarkeitsprüfung nicht hinfällig ist. Die Entscheidung „Helmig“ ist statt wegen einer eigentlich nicht vorzunehmenden Vergleichbarkeitsprüfung für ihre fehlerhafte Vergleichsmaßstabsbildung zu kritisieren.194 Anstelle der „19. Arbeitsstunde“ hätte man hier vielmehr auf die „Überstunde im Verhältnis zur arbeitsvertraglich geschuldeten Arbeitszeit“ abstellen sollen. In diesem Sinne hat der EuGH seine unglückliche Entscheidung in der Rechtssache „Helmig“ auch in seinem Urteil in der Rechtssache „Elsner-Lakeberg“195 korrigiert. In dieser Rechtssache ging es ebenfalls um Mehrarbeit: Nach einer beamtenrechtlichen Regelung des Landes Nordrhein-Westfalen waren Beamte zur Mehrarbeit verpflichtet, wenn der Dienst dies erfordert. Ab Überschreiten einer monatlichen Mehrarbeit von fünf Stunden sollte für die geleistete Mehrarbeit eine Dienstbefreiung oder eine Vergütung erfolgen. Nach dem Vergleichsmaßstab in „Helmig“ wären Teilzeitbe-
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Vgl. Barnard/Hepple, CambrLJ 2000, 563, 570. Vgl. Tobler, Indirect Discrimination, S. 268 f. 195 EuGH, Rs. C-285/02, Elsner-Lakeberg, Slg. 2004, I-5861. 194
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amte und Vollzeitbeamte in Hinblick auf fünf Stunden Mehrarbeit gleichbehandelt. Im Hinblick auf die fünfstündige Mehrarbeit im Verhältnis zur geschuldeten Arbeitszeit müssen Teilzeitarbeitskräfte mehr zusätzliche Arbeitszeit aufbringen als Vollzeitarbeitskräfte.196 Kann darüber hinaus vom nationalen Gericht festgestellt werden, dass der Anteil an Frauen bei den Teilzeitarbeitskräften deutlich größer ist als bei den Vollzeitarbeitskräften, liegt nunmehr auch nach dem EuGH eine mittelbare Geschlechtsdiskriminierung vor. Es ist somit deutlich geworden, dass die unmittelbare und die mittelbare Diskriminierung keine unterschiedlichen Kategorien dergestalt bilden, dass bei letzterer auf eine Vergleichbarkeitsprüfung verzichtet werden könnte, wenn eine Benachteiligung der durch das Diskriminierungsverbot geschützten Personen oder Sachverhalte feststellbar ist. Beide folgen der dogmatischen Struktur, die durch den allgemeinen Gleichheitssatz vorgegeben ist, weshalb auch bei mittelbaren Diskriminierungen eine Vergleichbarkeitsprüfung notwendig bleibt. e) Gleichbehandlung aus Gründen des verbotenen Differenzierungsmerkmals Der allgemeine Gleichheitssatz erfasst nicht nur Ungleichbehandlungen vergleichbarer Sachverhalte, sondern auch Gleichbehandlungen von Sachverhalten, die nicht vergleichbar sind. Bei einem Diskriminierungsverbot ist in Konkretisierung des allgemeinen Gleichheitssatzes das verbotene Differenzierungsmerkmal festgelegt, so dass Ungleichbehandlungen, die sich auf dieses Merkmal zurückführen lassen, untersagt sind. Vor dem Hintergrund der Dogmatik des allgemeinen Gleichheitssatzes und aufgrund der Tatsache, dass Diskriminierungsverbote spezifische Ausformungen des allgemeinen Gleichheitssatzes sind, stellt sich nun die Frage, ob von einem Diskriminierungsverbot auch Gleichbehandlungen von Personen oder Sachverhalten erfasst sind, die nach dem untersagten Differenzierungsmerkmal aufgrund ihrer Verschiedenheit zu unterscheiden sind. aa) Diskriminierungsverbote enthalten keine Ungleichbehandlungsgebote Bereits die einleitend aufgeworfene Frage nach einem aus einem Diskriminierungsverbot eventuell ableitbaren Gebot zur Ungleichbehandlung von Personen oder Sachverhalten nach dem verbotenen Differenzierungsmerkmal löst ein berechtigtes Unbehagen aus. Eine Gleichbehandlung ungleicher Sachverhalte unterliegt nicht einem Diskriminierungsverbot. Auch wenn der allgemeine Gleichheitssatz die Gleichbehandlung nicht vergleichbarer Sachverhalte erfasst, gilt dies nicht in gleichem Maße für die Diskriminierungsverbote. Dies folgt daraus, dass die besonderen Diskriminierungsverbote der Herstellung von
196
EuGH, Rs. C-285/02, Elsner-Lakeberg, Slg. 2004, I-5861 Rn. 17.
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Statusgleichheit dienen.197 Die Statusgleichheit ist darauf ausgerichtet, tatsächlich unterschiedliche Sachverhalte als gleich gelten zu lassen. Sie ist im Hinblick auf personenbezogene Differenzierungsmerkmale Ausfluss der Menschenwürde und sichert die gleiche Anerkennung eines Menschen trotz seiner individuellen Unterschiede.198 Statusgleichheit ist daher nur durch ein Gebot zur Gleichbehandlung und nicht umgekehrt durch ein Gebot zur Ungleichbehandlung zu verwirklichen. Deutlich wird dies, wenn man sich erneut die besondere Rolle des verbotenen Differenzierungsmerkmals bei den Diskriminierungsverboten im Verhältnis zum allgemeinen Gleichheitssatz vergegenwärtigt. Das verbotene Differenzierungsmerkmal muss einerseits in den zu vergleichenden Sachverhalten vorhanden sein und wird andererseits für die Feststellung der Vergleichbarkeit der Sachverhalte als irrelevant fingiert. Sind die Sachverhalte nunmehr auch bei Außerachtlassung des verbotenen Differenzierungsmerkmals nicht vergleichbar und würde das Diskriminierungsverbot bei einer Gleichbehandlung dieser Sachverhalte eine Ungleichbehandlung anordnen, so führte dies zu dem widersprüchlichen Ergebnis, dass das Diskriminierungsverbot das eigentlich Verbotene, nämlich die Ungleichbehandlung aus Gründen des verbotenen Differenzierungsmerkmals, zur Rechtsfolge hätte. Somit liegt es in der Logik der Diskriminierungsverbote, dass sie Gleichbehandlungen aus Gründen des verbotenen Differenzierungsmerkmals nicht untersagen und sich aus ihnen kein „Unterscheidungsgebot“199 ableiten lässt.200 Gleichbehandlungen ungleicher Sachverhalte unterliegen damit zwar nicht einem Diskriminierungsverbot, jedoch bleiben sie vom allgemeinen Gleichheitssatz erfasst. bb) Abweichende EuGH-Rechtsprechung Der EuGH scheint anderer Auffassung zu sein. Zwar wiederholt er in zahlreichen Rechtssachen zu den Diskriminierungsverboten die Formel, der zufolge gleiche Sachverhalte gleich und ungleiche Sachverhalte ungleichbehandelt werden müssten. Tragend wurde der zweite Teil jedoch selten. In drei Rechtssachen entschied er im Rahmen der Arbeitnehmerfreizügigkeit (Art. 45
197 Vgl. Kischel, EuGRZ 1997, 1, 4; Plötscher, Begriff der Diskriminierung, S. 270 f.; Mühl, Diskriminierung und Beschränkung, S. 67. 198 Vgl. Kirchhof, Die Gleichheit als staatsrechtlicher Auftrag, in: Mellinghoff/Palm, Gleichheit im Verfassungsstaat, S. 1, 13 f.; ders., Der allgemeine Gleichheitssatz, in: HdBStR VIII, 2010, § 181 Rn. 52 f. 199 Formulierung nach Sachs, in: HdBStR VIII, 2010, § 182 Rn. 23; ders, Grenzen des Diskriminierungsverbots, S. 39, 41 ff. zu Art. 3 Abs. 2 GG. 200 Vgl. Plötscher, Begriff der Diskriminierung, S. 271; Kischel, EuGRZ 1997, 1, 4.
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AEUV)201 und des Diskriminierungsverbots aus Gründen der Staatsangehörigkeit und der Unionsbürgerschaft (Art. 18 AEUV, Art. 20 AEUV)202, dass eine tatbestandliche Gleichbehandlung nicht vergleichbarer Sachverhalte nicht im Einklang mit dem Unionsrecht stünde. (1) Arbeitnehmerfreizügigkeit In der Rechtssache „Merida“ ging es um die Berechnung einer Überbrückungsbeihilfe für einen Arbeitnehmer mit französischer Staatsangehörigkeit, der in Frankreich wohnhaft war und sein vorheriges Arbeitsgehalt von deutschen Behörden203 bezog. Die Berechnung der Überbrückungsbeihilfe richtete sich nach einer tarifvertraglichen Regelung.204 Hiernach wurde die Überbrückungsbeihilfe auf der Grundlage der „Grundvergütung […], die dem Arbeitnehmer aufgrund seiner arbeitsvertraglichen regelmäßigen Arbeitszeit im Zeitpunkt der Entlassung für einen vollen Kalendermonat zustand,“ berechnet. Von dieser Grundvergütung wurden im Wege einer fiktiven Berechnung die deutsche Lohnsteuer und die deutschen Sozialversicherungsbeiträge abgezogen. Diese Berechnung erfolgte ungeachtet der Staatsangehörigkeit eines Arbeitnehmers und ungeachtet des Wohnorts eines Arbeitnehmers. Alle Arbeitnehmer wurden durch die deutschen Behörden gleichbehandelt. Allerdings unterlag Herr Merida nach dem deutsch-französischen Doppelbesteuerungsabkommen vom 21. Juli 1959 aufgrund seines französischen Wohnorts und seiner französischen Staatsangehörigkeit der französischen Lohnsteuer. Nach dem DBA werden Einkommen, die die öffentliche Hand eines Vertragsstaats an eine natürliche Person zahlt, durch den Vertragsstaat besteuert, dessen öffentliche Hand die Einkommen bezahlt, es sei denn die natürliche Person ist in dem anderen Vertragsstaat ansässig und besitzt ausschließlich die Staatsangehörigkeit des anderen Vertragsstaats. Die auf das Einkommen von Herrn Merida anwendbare französische Lohnsteuer war jedoch geringer als die deutsche Lohnsteuer. Somit wurde Herr Merida bei der Berechnung der ihm zustehenden Überbrückungshilfe dadurch benachteiligt, dass die deutschen Behörden die höhere fiktive deutsche Lohnsteuer anstelle der tatsächlich entrichteten französischen Lohnsteuer zu ihrer Berechnung ansetzten. Herr Merida machte deshalb einen Anspruch auf Ungleichbehandlung durch die deutschen Behörden geltend, weil 201 EuGH, Rs. C-400/02, Merida, Slg. 2004, I-8471; Rs. C-172/11, Erny, EU:C:2012:399. Vgl. dazu auch Tobler, Indirect Discrimination, S. 219 ff. 202 EuGH, Rs. C-148/02, Garcia Avello, Slg. 2003, I-11613. 203 Herr Merida war ziviler Arbeitnehmer bei den französischen Streitkräften in BadenBaden. Die deutschen Behörden zahlten namens und auf Rechnung seines Arbeitgebers die Vergütung. 204 Der anwendbare Tarifvertrag war der Tarifvertrag vom 31. August 1971 zur sozialen Sicherung der Arbeitnehmer bei den Stationierungsstreitkräften im Gebiet der Bundesrepublik Deutschland (TV SozSich).
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die unterschiedliche Lohnsteuer einen mit einem deutschen Sachverhalt nicht vergleichbaren Sachverhalt begründet. Einleitend macht der Gerichtshof in seinem Urteil in der Rechtssache „Merida“ deutlich, dass Art. 45 AEUV ein Diskriminierungsverbot aus Gründen der Staatsangehörigkeit enthält, das „auch alle verdeckten Formen der Diskriminierung“ erfasst.205 Im Folgenden stellt er klar, dass ein Diskriminierungsverbot sowohl die Pflicht zur Gleichbehandlung gleicher Sachverhalte als auch die Pflicht zur Ungleichbehandlung ungleicher Sachverhalte beinhaltet.206 Der EuGH erkennt zwei ungleiche Sachverhalte darin, dass ein der deutschen Steuerhoheit unterliegender Arbeitnehmer im ersten Bezugsjahr eine Überbrückungsbeihilfe in Höhe seines vorherigen Nettoeinkommens erhält, während die Überbrückungsbeihilfe eines der Steuerhoheit eines anderen Mitgliedstaates unterliegenden Arbeitnehmers niedriger als sein vorherige Nettoeinkommen ausfällt, wenn die vorher geschuldete Lohnsteuer niedriger war. Die Diskriminierung kann nach dem EuGH nur kompensiert werden, wenn die Überbrückungsbeihilfe ohne fiktiven Abzug der deutschen Lohnsteuer berechnet würde und die deutschen Behörden mithin ungleiche Sachverhalte ungleichbehandeln würden.207 Die Rechtssache „Merida“ wurde im Urteil „Erny/Daimler“ vom 28. Juni 2012 bestätigt, dem zufolge es einem privaten Arbeitgeber verwehrt ist, bei der Berechnung des Aufstockungsbeitrags für Arbeitnehmer, die in Altersteilzeit gehen, einen Pauschalbetrag für alle Arbeitnehmer anzuwenden, der die fiktive deutsche Lohnsteuer in Abzug bringt.208 Auch hier müssen nicht vergleichbare Sachverhalte (ein Arbeitnehmer, der der deutschen Lohnsteuer unterliegt, und ein Arbeitnehmer, der der französischen Lohnsteuer unterliegt) ungleichbehandelt werden. (2) Unionsbürgerfreizügigkeit: Rechtssache „Garcia Avello“ Ein Ungleichbehandlungsgebot erkannte der EuGH in der Rechtssache „Garcia Avello“ in Art. 18 AEUV und Art. 20 AEUV für den Fall einer Gleichbehandlung von Doppelstaatsangehörigen bei der Bestimmung des Familiennamens. Im konkreten Fall ging es um den Familiennamen der beiden Kinder des spanischen Vaters, Carlos Garcia Avello, und der belgischen Mutter, Isabelle Weber. Die Familie war in Belgien wohnhaft und die Kinder kamen in Belgien zur Welt. Der belgische Standesbeamte trug in den Geburtsurkunden den Familiennamen des Vaters, Garcia Avello, als Familiennamen der Kinder ein. Dies folgte daraus, dass das belgische IPR für die Bestimmung des anwendbaren Namensrechts grundsätzlich auf das Recht der Staatsangehörigkeit desjenigen,
205
EuGH, Rs. C-400/02, Merida, Slg. 2004, I-8471 Rn. 21. EuGH, Rs. C-400/02, Merida, Slg. 2004, I-8471 Rn. 22. 207 EuGH, Rs. C-400/02, Merida, Slg. 2004, I-8471 Rn. 36. 208 EuGH, Rs. C-172/11, Erny, EU:C:2012:399. 206
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dessen Familienname betroffen ist, verweist.209 Dadurch dass die Kinder jedoch die doppelte, die spanische und die belgische, Staatsangehörigkeit hatten, führte die Verweisung des belgischen IPR erst einmal nicht zu einem eindeutig anwendbaren Sachrecht. In Anwendung der Grundsätze aus Art. 3 des Haager Übereinkommens beim Konflikt von Staatsangehörigkeitsgesetzen210, dem zufolge die eigene Staatsangehörigkeit bevorzugt zur Anknüpfung herangezogen werden kann, sofern eine der Staatsangehörigkeiten die eigene ist, wurde aufgrund der belgischen Staatsangehörigkeit der Kinder das belgische Sachrecht zur Anwendung berufen. Nach dem belgischen Sachrecht bestimmt sich der Familienname grundsätzlich nach dem Familiennamen des Vaters: Garcia Avello. Der Vater wollte jedoch als gesetzlicher Vertreter der Kinder den Familiennamen „Garcia Weber“ als Familiennamen der Kinder in Anwendung des spanischen Sachrechts bestimmen. Nach dem spanischen Namensrecht setzt sich der Familienname aus dem ersten Nachnamen des Vaters und der Mutter zusammen.211 Die vom belgischen Staat vorgenommene Gleichbehandlung von Kindern mit nur-belgischer Staatsangehörigkeit mit Kindern mit auch-belgischer Doppel- oder Mehrstaatsangehörigkeit verstoße gegen das Unionsrecht. Belgien müsse diese nicht vergleichbaren Sachverhalte ungleichbehandeln. Der Gerichtshof schließt sich in seinem Urteil in der Rechtssache „Garcia Avello“ dieser Vergleichsgruppenbildung an und vergleicht Kinder mit ausschließlich belgischer Staatsangehörigkeit mit Kindern, die zusätzlich die belgische Staatsangehörigkeit besitzen. Beide Gruppen werden vom belgischen Staat sowohl hinsichtlich der Bestimmung des Familiennamens als auch hinsichtlich der gewöhnlich verweigerten nachträglichen Änderung des Familiennamens gleichbehandelt.212 Der EuGH wendet sich daher der Frage zu, ob sich die beiden Sachverhalte derart voneinander unterscheiden, dass eine Personengruppe „aufgrund des Diskriminierungsverbots […] verlangen [kann], anders als die Personen, die nur die belgische Staatsangehörigkeit besitzen, behandelt zu werden“.213 Die mangelnde Vergleichbarkeit erkennt der EuGH dann darin, dass der Doppelstaatsangehörige neben dem Familiennamen, wie er im Aufenthaltsland verliehen wurde, noch über einen abweichenden Familiennamen verfügen würde, wie er im Land der anderen Staatsangehörigkeit verliehen
209
Siehe im Detail zu den kollisionsrechtlichen Hintergründen und Konsequenzen des Urteils S. 406 ff. 210 Haager Übereinkommens vom 12. April 1930 über einzelne Fragen beim Konflikt von Staatsangehörigkeitsgesetzen, League of Nations Treaty Series, Bd. 179, S. 89. 211 Siehe dazu unten S. 407. 212 Vgl. EuGH, Rs. C-148/02, Garcia Avello, Slg. 2003, I-11613 Rn. 32. 213 EuGH, Rs. C-148/02, Garcia Avello, Slg. 2003, I-11613 Rn. 34.
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wurde.214 Diese Unterschiede führten dazu, dass der belgische Staat nicht vergleichbare Sachverhalte gleichbehandelte, was mit dem Unionsrecht nicht vereinbar ist. Sowohl in der Rechtssache „Merida“ als auch in der Rechtssache „Garcia Avello“ begründete der EuGH sein Verständnis von einem Diskriminierungsverbot aus Gründen der Staatsangehörigkeit, das sowohl Gleichbehandlungen nicht vergleichbarer Sachverhalte als auch Ungleichbehandlungen vergleichbarer Sachverhalte erfassen soll, mit einem Verweis auf sein Urteil in der Rechtssache „National Farmers‘ Union“215.216 Dieser Verweis trägt allerdings nicht. In der Rechtssache „National Farmers‘ Union“ ging es um das agrarrechtliche Diskriminierungsverbot in Art. 40 Abs. 3 UAbs. 2 EGV a.F. (Maastricht) (der dem Art. 40 Abs. 2 UAbs. 2 AEUV entspricht).217 Dieses Diskriminierungsverbot untersagt jede Diskriminierung zwischen Erzeugern oder Verbrauchern innerhalb der Union. Es legt gerade kein verbotenes Differenzierungsmerkmal fest. Es handelt sich bei Art. 40 Abs. 3 UAbs. 2 EGV a.F. (Maastricht) (Art. 40 Abs. 2 UAbs. 2 AEUV) nicht um ein auf Erreichen von Statusgleichheit begrenzten besonderen Gleichheitssatz. Die Vergleichsgruppen müssen bei diesem Diskriminierungsverbot innerhalb der weit zu verstehenden Gruppe der Erzeuger und der Gruppe der Verbraucher gebildet werden.218 Die Maßstäbe für die konkrete Anwendung des agrarrechtlichen Diskriminierungsverbots entnimmt der EuGH dem allgemeinen Gleichheitssatz, dessen Ausprägung Art. 40 Abs. 3 UAbs. 2 EGV a.F. (Maastricht) (Art. 40 Abs. 2 UAbs. 2 AEUV) ist.219 Mit anderen Worten beinhaltet Art. 40 Abs. 2 UAbs. 2 AEUV den allgemeinen Gleichheitssatz, den er selbst beschränkt: Sachlich ist der allgemeine Gleichheitssatz auf den Anwendungsbereich der Gemeinsamen Agrarpolitik reduziert, gebunden ist lediglich die Union und die Vergleichsgruppen müssen entweder Verbraucher oder Erzeuger im Sinne des Art. 40 Abs. 2 UAbs. 2 AEUV sein. Aus dem Genannten folgt, dass diejenigen Diskriminierungsverbote, die den allgemeinen Gleichheitssatz dahingehend konkretisieren, dass sie den sachlichen Anwendungsbereich enger ziehen, sowohl Ungleichbehandlungen vergleichbarer Sachverhalte als auch Gleichbehandlungen von Sachverhalten, die 214 Vgl. EuGH, Rs. C-148/02, Garcia Avello, Slg. 2003, I-11613 Rn. 35. Dies ergibt sich allerdings aus den Besonderheiten des konkreten Falles: Beim Konsulatsdienst der spanischen Botschaft in Brüssel wurden die Kinder nämlich mit dem Familiennamen „Garcia Weber“ eingetragen, vgl. Rn. 16 des Urteils. 215 EuGH, Rs. C-354/95, National Farmers’ Union, Slg. 1997, I-4559 Rn. 61. 216 EuGH, Rs. C-400/02, Merida, Slg. 2004, I-8471 Rn. 22; Rs. C-148/02, Garcia Avello, Slg. 2003, I-11613 Rn. 31. 217 Vgl. GA Léger, SchlA Rs. C-354/95, National Farmers‘ Union, Slg. 1997, I-4559 Nr. 109. 218 Vgl. Priebe, in: Grabitz/Hilf/Nettesheim, Art. 40 AEUV Rn. 91. 219 Vgl. Kischel, EuGRZ 1997, 1, 3 f.
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nicht vergleichbar sind, erfassen. Diskriminierungsverbote, die den allgemeinen Gleichheitssatz jedoch dahingehend konkretisieren, dass sie ein bestimmtes Differenzierungsmerkmal untersagen, erfassen, weil sie auf Statusgleichheit ausgerichtet sind, nur denjenigen Ausschnitt des allgemeinen Gleichheitssatzes, der die Gleichbehandlung von vergleichbaren Sachverhalten verlangt.220 Die Gleichbehandlung von Sachverhalten, die nicht vergleichbar sind, kann demnach nicht das Diskriminierungsverbot aus Gründen des verbotenen Differenzierungsmerkmals auslösen, wohl aber, sofern die Gleichbehandlung die Ausübung einer Grundfreiheit weniger attraktiv macht, eine Beschränkung der Grundfreiheiten begründen. In der Rechtssache „Garcia Avello“ hätte der EuGH anstelle einer gleichheitswidrigen Gleichbehandlung der Personengruppe der belgisch-spanischen Doppelstaatsangehörigen mit Wohnsitz in Belgien und der Personengruppe der belgischen Staatsangehörigen mit Wohnsitz in Belgien (deren Namen jeweils nach dem belgischen Sachrecht gebildet werden) eine gleichheitswidrige Ungleichbehandlung der Personengruppe der belgisch-spanischen Doppelstaatsangehörigen mit Wohnsitz in Belgien (deren Namen nach dem belgischen Sachrecht gebildet werden) und der Personengruppe der spanischen Staatsangehörigen mit Wohnsitz in Belgien (deren Namen nach dem spanischen Sachrecht gebildet werden) annehmen können.221 Dies wäre unproblematisch von dem Diskriminierungsverbot aus Gründen der Staatsangehörigkeit erfasst gewesen. Alternativ zur Diskriminierungslösung hätte der EuGH zudem in der Ablehnung der Möglichkeit, den nach belgischem Sachrecht gebildeten Nachnamen durch ein späteres Namensänderungsverfahren in einen nach spanischem Sachrecht gebildeten Nachnamen zu ändern, als Beschränkung der Unionsbürgerfreizügigkeit ansehen können.222 Eine Betrachtungsweise, die aus der Gleichbehandlung nicht vergleichbarer Sachverhalte eine Ungleichbehandlung vergleichbarer Sachverhalte macht, ist bei den Rechtssachen „Merida“ und „Erny/Daimler“ nicht möglich. Hier hätte der EuGH daher einen Verstoß gegen das Beschränkungsverbot der Arbeitnehmerfreizügigkeit anstelle des Diskriminierungsverbots prüfen müssen. f) Objektive Rechtfertigung Die Besonderheiten der Diskriminierungsverbote im Vergleich zum allgemeinen Gleichheitssatz werfen die Frage auf, ob die Feststellung einer Diskriminierung noch einer objektiven Rechtfertigung zugänglich ist. Im Gegensatz zum allgemeinen Gleichheitssatz sind die Diskriminierungsverbote nämlich darauf ausgerichtet, bestimmte Ungleichbehandlungen aus verbotenen Gründen zu untersagen. Eine Rechtfertigungsmöglichkeit würde eine Teilmenge 220
Ähnlich Kischel, EuGRZ 1997, 1, 4. Vgl. Troge, Staatsangehörigkeitsprinzip, S. 99 f. 222 Dazu im Detail unter S. 411 und S. 449 ff. 221
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von tatbestandlich erfassten Diskriminierungen weiterhin erlaubt lassen. Im Gegensatz dazu kann man die Funktion des verbotenen Differenzierungsmerkmals allerdings auch lediglich darin erkennen, die vom Gleichheitssatz verlangte Ungleichbehandlung vergleichbarer Sachverhalte zu konkretisieren, ohne dass dies Auswirkungen auf den von dieser Feststellung getrennten Prüfungspunkt einer möglichen sachlichen Rechtfertigung für diese Ungleichbehandlung hat. Dann folgt die Rechtfertigung einer Diskriminierung den Grundsätzen des allgemeinen Gleichheitssatzes. Zutreffend ist bereits erkannt worden, dass die Frage nach der Rechtfertigungsmöglichkeit von Diskriminierungen mit dem Verständnis des Verhältnisses von Diskriminierungsbegriff und Diskriminierungsverbot zusammenhängt.223 Fällt beides zusammen, ist eine Rechtfertigungsmöglichkeit abzulehnen. Lassen sie sich voneinander trennen, ist die Figur einer erlaubten Diskriminierung denkbar und eine Rechtfertigungsmöglichkeit anzunehmen. Diese Frage steht hinter der Auseinandersetzung über das Verständnis der Diskriminierungsverbote als absolute oder relative Verbote (aa)). Folgt man dem letzteren Verständnis stellen sich die Folgefragen nach dem Kreis sachlicher Rechtfertigungsgründe (bb)) und der Intensität der Verhältnismäßigkeitsprüfung (cc)). aa) Diskriminierungsverbote als absolute oder relative Verbote Nach der Rechtsprechung des EuGH führt das Verbot eines bestimmten Differenzierungsmerkmals nicht dazu, dass es sich bei dem hieraus folgenden Ungleichbehandlungsverbot um ein absolutes, d.h. nicht rechtfertigbares, Verbot handelt. Dies hat er für unmittelbare224 und mittelbare225 Diskriminierungen aus Gründen der Staatsangehörigkeit sowie für unmittelbare226 und mittelbare227 Diskriminierung in Entgeltfragen aus Gründen des Geschlechts in seiner Rechtsprechung deutlich gemacht. Nach dieser Rechtsprechung scheint es zwischen dem geschriebenen Verbot eines Differenzierungsmerkmals und dem allgemeinen Gleichheitssatz keine gewichtigen Unterschiede auf der Ebene der Rechtfertigung zu geben: Sowohl das Diskriminierungsverbot als auch der Gleichheitssatz sind einer objektiven Rechtfertigung zugänglich. 223
Plötscher, Begriff der Diskriminierung, S. 66. EuGH, Rs. C-122/96, Saldanha, Slg. 1997, I-5325 Rn. 26 ff.; Rs. C-85/96, Martínez Sala, Slg. 1998, I-2691 Rn. 64; Rs. C-360/00, Ricordi, Slg. 2002, I-5089 Rn. 33; Rs. C-164/07, Wood, Slg. 2008, I-4313 Rn 14; Rs. C-542/06, Huber, Slg. 2008, I-9705 Rn. 75; Rs. C-123/08, Wolzenburg, Slg. 2009, I-9621 Rn. 64. 225 EuGH, Rs. C-398/92, Mund & Fester, Slg. 1994, I-467 Rn. 16 ff.; Rs. C-29/95, Pastoors, Slg. 1997, I-1 Rn. 19 ff.; Rs. C-180/96, Vereinigtes Königreich/Kommission, Slg. 1998, I-2265 Rn. 114; Rs. C-147/03, Kommission/Österreich, Slg. 2005, I-5969 Rn. 49 ff. 226 EuGH, Rs. C-381/99, Brunnhofer, Slg. 2001, I-4961 Rn. 63 ff. 227 Vgl. EuGH, Rs. 170/84, Bilka, Slg. 1986, 1607 Rn. 36. 224
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Die hieraus entstehende Nivellierung von Diskriminierungsverboten und allgemeinem Gleichheitssatz ließ Zweifel daran aufkommen, ob jedenfalls für unmittelbare Diskriminierungen, die schließlich das verbotene Differenzierungsmerkmal in ihrem Tatbestand führten, eine Rechtfertigung möglich sein soll. Wenn, in Abgrenzung zum allgemeinen Gleichheitssatz, die tatbestandliche Anknüpfung an ein bestimmtes Merkmal ausdrücklich untersagt ist, dann muss dies zur Folge haben, dass bereits die Verwendung des Differenzierungsmerkmals ohne die Möglichkeit einer Rechtfertigung verboten ist.228 Hierfür spricht nach der Ansicht, die in den Diskriminierungsverboten ein absolutes Verbot erkennt, im Fall von Art. 18 Abs. 1 AEUV, dass der Wortlaut „jede“ Diskriminierung untersagt. Dieser Ansicht zufolge tritt hinzu, dass die besonderen Diskriminierungsverbote der Grundfreiheiten ausdrückliche Rechtfertigungsgründe in Art. 36 S. 2, Art. 45 Abs. 3 und 4, Art. 52 Abs. 1, Art. 106 Abs. 2 AEUV vorsehen, während Art. 18 AEUV keinen geschriebenen Rechtfertigungsgrund kennt. Im Umkehrschluss soll dies bedeuten, dass unmittelbare Diskriminierungen, die unter Art. 18 Abs. 1 AEUV fallen, nicht rechtfertigbar sind. Selbiges wurde zum Verbot von Entgeltdiskriminierungen aus Gründen des Geschlechts nach Art. 157 Abs. 1 AEUV vertreten.229 Darüber hinaus würde die Grenze der Diskriminierungsverbote zum allgemeinen Gleichheitssatz verschwimmen, wenn auch eine Differenzierung, die unmittelbar an das Differenzierungsmerkmal anknüpft, objektiv rechtfertigbar ist.230 Viele dieser Meinungen gründeten auf der ehemals uneinheitlichen Rechtsprechung des EuGH.231 In der früheren Rechtsprechung des Gerichtshofs ließen sich Urteile finden, in denen mit der Feststellung der unmittelbaren Diskriminierung auch der Verstoß gegen die jeweiligen Vorgängervorschriften des Art. 18 Abs. 1 AEUV bejaht232, während in anderen Urteilen eine objektive Rechtfertigung von unmittelbaren Diskriminierungen geprüft wurde233. Eine Erklärung setzte daran an, dass die „objektive Rechtfertigung“ bei mittelbaren Diskriminierungen eine andere Funktion habe als bei unmittelbaren Diskriminierungen.234 Dadurch dass mittelbare Diskriminierungen gerade nicht das verbotene Differenzierungsmerkmal ausdrücklich in ihrem Tatbestand tragen, 228
Vgl. Holoubek, in: Schwarze, Art. 18 AEUV Rn. 22. Vgl. Classen, JZ 1996, 921, 924; Körner, NZA 2004, 760, 764. 230 So etwa Reitmaier, Inländerdiskriminierungen nach dem EWG-Vertrag, S. 34 ff.; Feige, Der Gleichheitssatz im Recht der EWG, S. 44 ff.; Holoubek, in: Schwarze, Art. 18 AEUV Rn. 24. 231 Vgl. Kischel, EuGRZ 1997, 1, 5; von Bogdandy, in: Grabitz/Hilf/Nettesheim, Art. 18 AEUV Rn. 22; Odendahl, in: Heselhaus/Nowak, § 44 Rn. 58. 232 Vgl. etwa EuGH, Rs. 283/83, Gravier, Slg. 1985, 593 Rn. 26; verb. Rs. C-92/92 und C-326/92, Phil Collins, Slg. 1993, I-5145 Rn. 32. 233 Vgl. etwa EuGH, Rs. 147/79, Hochstrass, Slg. 1980, 3005 Rn. 7. 234 Vgl. Plötscher, Begriff der Diskriminierung, S. 133 f.; Holoubek, in: Schwarze, Art. 18 AEUV Rn. 22 ff. 229
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4. Kapitel: Einwirkungen des Primärrechts in das autonome IPR
müsse bei mittelbaren Diskriminierungen zunächst auf tatbestandlicher Ebene geprüft werden, ob überhaupt eine Differenzierung vorliegt, die qualitativ einer unmittelbaren Diskriminierung gleichkommt. Dies sei erst dann der Fall, wenn die Verwendung eines anderen Differenzierungsmerkmals durch objektive Umstände gerechtfertigt werden könne.235 Liegt danach eine vom untersagten Differenzierungsmerkmal unabhängige Andersbehandlung vor, die qualitativ einer unmittelbaren Diskriminierung gleichkommt, kann auch diese – wie die unmittelbare Diskriminierung – nicht im eigentlichen Sinne gerechtfertigt werden.236 Hiergegen spricht allerdings, dass eine Diskriminierung festgestellt wird, wenn eine Andersbehandlung in ihren Wirkungen diskriminierend ist. Es reicht somit auch für eine tatbestandliche Andersbehandlung nicht aus, dass lediglich an das verbotene Differenzierungsmerkmal angeknüpft wird. Im Hinblick auf das verbotene Differenzierungsmerkmal der Staatsangehörigkeit sei darauf verwiesen, dass weder Art. 18 Abs. 1 AEUV noch andere Vorschriften in den Europäischen Verträgen die unterschiedlichen Staatsangehörigkeiten in der EU abschaffen. Solange es verschiedene Staatsangehörigkeiten im Anwendungsbereich der Verträge gibt, kann die Anknüpfung einer Andersbehandlung an die Staatsangehörigkeit nicht per se unionsrechtswidrig sein. Erst dann, wenn die Andersbehandlung ausschließlich aus Gründen des untersagten Differenzierungsmerkmals erfolgt und nicht auch noch in einem angemessenen Maße andere Gründe verfolgt, die von der Unionsrechtsordnung anerkannt sind, wird hieraus eine von Art. 18 Abs. 1 AEUV erfasste Diskriminierung.237 Das Diskriminierungsverbot in Art. 18 Abs. 1 AEUV möchte schließlich erreichen, dass in einem Mitgliedstaat die Staatsangehörigen sämtlicher EU-Mitgliedstaaten mit den eigenen Staatsangehörigen faktisch gleichgestellt sind. Hierfür kommt es einerseits nicht darauf an, ob die Andersbehandlung ausdrücklich an die Staatsangehörigkeit oder an andere Differenzierungsmerkmale anknüpft. Andererseits sind durchaus Maßnahmen denkbar, bei denen eine tatbestandliche Andersbehandlung von Staatsangehörigen sogar zu einer faktische Gleichstellung führt oder diese zumindest nicht berührt.238 Zugegebenermaßen dürfte es hierzu nur wenig denkbare Fälle geben. Dazu kommt, dass die Verwendung des untersagten Differenzierungsmerkmals im Tatbestand der Andersbehandlung eine Diskriminierung indiziert. Dies ist aber nicht dadurch angemessen berücksichtigt, dass man eine Berufung auf einen sachlichen Grund für die Andersbehandlung kategorisch ausschließt, sondern 235 So ausdrücklich Holoubek, in: Schwarze, Art. 18 AEUV Rn. 22 mit Verweis auf EuGH, Rs. 13/63, Kommission/Italien, Slg. 1963, 359, 384. 236 Holoubek, in: Schwarze, Art. 18 AEUV Rn. 24. 237 Vgl. Troge, Staatsangehörigkeitsprinzip, S. 182; Epiney, Umgekehrte Diskriminierung, S. 95 ff. 238 Während im Bereich der Diskriminierung aus Gründen der Staatsangehörigkeit dies wenig wahrscheinlich ist, ist das Phänomen bei anderen Differenzierungsmerkmalen unter dem Namen der „positiven Diskriminierung“ bekannt.
A. Gleichheitsrechtliche Vorgaben
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dadurch dass man an die Verhältnismäßigkeitsprüfung für die Rechtfertigung von unmittelbaren Diskriminierungen strengere Maßstäbe anlegt als an diejenige für mittelbare Diskriminierungen.239 Die systematische Betrachtungsweise spricht zudem eher für ein relatives als für ein absolutes Verständnis. Art. 18 Abs. 1 AEUV kommt erst dann zur Anwendung, wenn nicht andere besondere Diskriminierungsverbote, und hierbei insbesondere die Grundfreiheiten, Anwendung finden. Dies führt dazu, dass der eigentliche sachliche Anwendungsbereich von Art. 18 Abs. 1 AEUV eng ist. Dadurch dass bei den Grundfreiheiten allerdings unmittelbare Diskriminierungen durch geschriebene Rechtfertigungsgründe gerechtfertigt werden können, erschiene es widersinnig, die Mehrzahl der unmittelbaren Diskriminierungen für rechtfertigbar zu halten, während eine unmittelbare Diskriminierung etwa im Bereich der beruflichen Bildung nicht gerechtfertigt werden könnte.240 Im Hinblick auf das verbotene Differenzierungsmerkmal des Geschlechts in Art. 157 AEUV lässt sich Ähnliches sagen. Auch hier ist dogmatisch eine Rechtfertigung von unmittelbaren Diskriminierungen denkbar. Als Begründungsverbote verstandene Diskriminierungsverbote stellen auf die diskriminierende Wirkung einer Maßnahme und nicht darauf ab, ob das diskriminierende Rechtssubjekt seine Diskriminierungsabsicht offengelegt oder versteckt hat. Die Schwangerschaftsfälle haben zudem deutlich gemacht, dass eine unmittelbare Diskriminierung der Männer aus Gründen des Mutterschutzes und des ungeborenen Lebens gerechtfertigt werden können.241 Allerdings dürfte die Rechtfertigung einer unmittelbar an das Geschlecht anknüpfenden Diskriminierung nur in Ausnahmefällen gelingen.242 In einer Gesamtschau der vorgetragenen Argumente ist festzustellen, dass die besseren Gründe für die Annahme eines relativen Verbots sprechen. Dies darf allerdings nicht so weit gehen, der Entscheidung der Primärrechtsgeber, ein bestimmtes Differenzierungsmerkmal ausdrücklich zu untersagen, im Verhältnis zum allgemeinen Gleichheitssatz keinerlei eigenständige Bedeutung zukommen zu lassen. Dieser eigenständige Bedeutungsgehalt ist jedoch besser auf der Ebene der Verhältnismäßigkeit zu berücksichtigen, indem bei unmittelbaren Diskriminierungen ein strengerer Maßstab angewandt wird, als die Berufung auf sachliche Gründe für eine Andersbehandlung kategorisch abzulehnen.243
239
So Kischel, EuGRZ 1997, 1, 4 f. Vgl. Rossi, EuR 2000, 197, 212 f.; Streinz/Leible, IPRax 1998, 162, 168. 241 Vgl. Kischel, EuGRZ 1997, 1, 4 f.; zu den Schwangerschaftsfällen siehe oben S. 114 ff. 242 Vgl. Krebber, in: Calliess/Ruffert, Art. 157 AEUV Rn. 58. 243 In diesem Sinne auch Kischel, EuGRZ 1997, 1, 5. 240
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4. Kapitel: Einwirkungen des Primärrechts in das autonome IPR
bb) Sachliche Rechtfertigungsgründe Bei den Gründen, die eine Andersbehandlung wegen eines verbotenen Differenzierungsmerkmals rechtfertigen können, muss es sich um „sachliche Gründe“, vergleichbar den „zwingenden Gründe des Allgemeinwohls“ nach der „Cassis“-Rechtsprechung,244 handeln.245 Nach der Rechtsprechung des EuGH darf eine Andersbehandlung „objektiv unterschiedliche Bedingungen“ berücksichtigen.246 Um eine Andersbehandlung wegen eines verbotenen Differenzierungsmerkmals rechtfertigen zu können, muss der Rechtfertigungsgrund allerdings unabhängig von dem konkret untersagten Merkmal sein.247 Ebenso wenig dürfen mit der Andersbehandlung vor dem Hintergrund der binnenmarktintegrativen Funktion der Diskriminierungsverbote rein wirtschaftliche Ziele verfolgt werden.248 cc) Abgestufte Verhältnismäßigkeitsprüfung Die Verhältnismäßigkeitsprüfung ist bei Andersbehandlungen, die aus Gründen eines bestimmten Differenzierungsmerkmals verboten sind, dahingehend modifiziert, dass sie die Nähe der Andersbehandlung zum untersagten Merkmal berücksichtigen muss: Je weniger die Andersbehandlung auf dem untersagten Merkmal gründet, desto eher reicht es aus, dass „diese Unterschiede nicht willkürlich, sondern auf objektive Kriterien gestützt sind.“249 Je näher die Andersbehandlung an das untersagte Merkmal rückt, umso mehr muss es sich um „Unterschiede von einigem Gewicht“250 handeln.251 Die Erforderlichkeitsprüfung verlangt, dass keine milderen, gleich wirksamen Alternativen zur Diskriminierung vorliegen. Regelmäßig ist die Erforderlichkeit zu verneinen, wenn anstelle der Diskriminierung auch eine unterschiedslose Behandlung der vergleichbaren Sachverhalte möglich ist.252 Vor diesem Hintergrund ist eine mittelbare Diskriminierung, bei der das verbotene Differenzierungsmerkmal 244
EuGH, Rs. 120/78, Rewe Zentral (Cassis de Dijon), Slg. 1979, 649 Rn. 8. Vgl. Rossi, EuR 2000, 197, 214; Troge, Staatsangehörigkeitsprinzip, S. 189 f. 246 EuGH, Rs. 147/79, Hochstrass, Slg. 1980, 3005 Rn. 7. 247 Vgl. für das untersagte Differenzierungsmerkmal der Staatsangehörigkeit: EuGH, Rs. C-148/02, Garcia Avello, Slg. 2003, I-11613 Rn. 31; Rs. C-29/95, Pastoors, Slg. 1997, I-285 Rn. 19; Rs. C-224/00, Kommission/Italien, Slg. 2002, I-2965 Rn. 20. 248 Vgl. etwa EuGH, Rs. C-388/01, Kommission/Italien, Slg. 2003, I-721 Rn. 22. 249 Formulierung aus EuGH, Rs. 133/77, Denkavit, Slg. 1978, 1317 Rn. 15. 250 EuGH, verb. Rs. 17/61 und 20/61, Klöckner, Slg. 1962, 653, 692 f.; Rs. 250/83, Finsider, Slg. 1985, 131 Rn. 8; Rs. C-351/98, Kommission/Spanien, Slg. 2002, I-8031 Rn. 57; Rs. C-462/99, Connect Austria, Slg. 2003, I-5197 Rn. 115; ähnlich GA Reischl, SchlA Rs. 153/73, Holtz & Willemsen, Slg. 1974, 675, 707: „aus objektiven, sachlich einleuchtenden und gewichtigen Gründen“. 251 Vgl. dazu Mohn, Der Gleichheitssatz im Gemeinschaftsrecht, S. 108 f.; Bühler, Die Einschränkung von Grundrechten, S. 157 f. 252 Vgl. Mühl, Diskriminierung und Beschränkung, S. 374. 245
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nicht im Tatbestand verwendet wurde, ein milderer Eingriff in das Diskriminierungsverbot als die unmittelbare Diskriminierung. Während bei der unmittelbaren Diskriminierung die Benachteiligung der diskriminierten Personengruppe indiziert ist, kann die mittelbare Diskriminierung auch eine unbedachte Folge der gesetzgeberischen Tätigkeit sein. Dies muss sich in der Verhältnismäßigkeitsprüfung niederschlagen.253 5. Zusammenfassung Die unionsrechtlichen Gleichheitssätze – der allgemeine Gleichheitssatz und die Diskriminierungsverbote – folgen einer einheitlichen Struktur und Dogmatik. Die Grundstruktur legt der allgemeine Gleichheitssatz, der die Gleichbehandlung vergleichbarer Sachverhalte und die Ungleichbehandlung nicht vergleichbarer Sachverhalte verlangt und damit vorbehaltlich einer objektiven Rechtfertigung die Ungleichbehandlung vergleichbarer Sachverhalte und die Gleichbehandlung nicht vergleichbarer Sachverhalte untersagt. Die zentrale Feststellung der Vergleichbarkeit mindestens zweier nicht nur hypothetisch bestehender Sachverhalte erfolgt dabei immer im Hinblick auf die Norm, deren Anwendung das gleichheitsrechtliche Problem auslöst. Der Norm sind die Merkmale zu entnehmen, die das Verhältnis der zu vergleichenden Sachverhalte bestimmen. Unterscheiden sich die Sachverhalte in diesen Merkmalen, obwohl die Norm die Sachverhalte gleichbehandelt, oder unterscheiden sich die Sachverhalte in diesen Merkmalen nicht, obwohl die Norm die Sachverhalte ungleichbehandelt, so ist die Norm tatbestandlich vom allgemeinen Gleichheitssatz erfasst. Gesetzgeberische Wertungen für die Ungleichbehandlungen vergleichbarer Sachverhalte und Gleichbehandlungen nicht vergleichbarer Sachverhalte sind nicht auf der Ebene der Vergleichbarkeitsprüfung in Form einer Wesentlichkeitsprüfung von Merkmalen, sondern auf der Ebene der Rechtfertigungsprüfung zu berücksichtigen. Dabei ist eine Verhältnismäßigkeitsprüfung vorzunehmen, die den Besonderheiten des Einzelfalls Rechnung trägt. Die unionsrechtlichen Diskriminierungsverbote konkretisieren den allgemeinen Gleichheitssatz, indem sie das Differenzierungsmerkmal, aufgrund dessen die zu vergleichenden Sachverhalte ungleichbehandelt werden, ausdrücklich benennt und untersagt. Dies hat zum einen Auswirkungen auf die Vergleichbarkeitsprüfung, da das verbotene Differenzierungsmerkmal eine Nichtvergleichbarkeit der Sachverhalte aufgrund dieses Merkmals ausschließt. Zum anderen ist das verbotene Differenzierungsmerkmal als Grund für die Ungleichbehandlung unzulässig. Dabei kommt es auf die Wirkungen der Ungleichbehandlungen an. Die unionsrechtlichen Diskriminierungsverbote sind
253
Ähnlich Troge, Staatsangehörigkeitsprinzip, S. 193.
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Begründungsverbote und keine Anknüpfungsverbote. Bewirkt eine tatbestandlich neutrale Maßnahme eine Ungleichbehandlung aus Gründen des verbotenen Differenzierungsmerkmals, so liegt eine mittelbare Diskriminierung vor. Bewirkt eine tatbestandlich unterscheidende Maßnahme keine Ungleichbehandlung aus Gründen des verbotenen Differenzierungsmerkmals, so ist eine unmittelbare Diskriminierung objektiv rechtfertigbar. Das macht deutlich, wieso die ausdrückliche Festlegung des verbotenen Differenzierungsmerkmals keine Auswirkungen auf die Möglichkeit einer objektiven Rechtfertigung hat, die die dogmatische Grundstruktur des allgemeinen Gleichheitssatzes beinhaltet. Aufgrund der Zielrichtung von Diskriminierungsverboten, Ungleichbehandlung aus bestimmten Gründen zu untersagen, unterliegen Gleichbehandlungen von Sachverhalten, die sich aufgrund des verbotenen Differenzierungsmerkmals unterscheiden, nicht dem jeweiligen Diskriminierungsverbot. Die unionsrechtlichen Diskriminierungsverbote sind darauf ausgerichtet, Statusgleichheit zu erreichen, und verlangen damit im Ergebnis Gleichbehandlungen aus Gründen des verbotenen Differenzierungsmerkmals, nicht jedoch Ungleichbehandlungen. Gleichbehandlungen von Sachverhalten, die sich aufgrund des verbotenen Differenzierungsmerkmals unterscheiden, unterliegen allenfalls den sachlich begrenzten Beschränkungsverboten der Marktgrundfreiheiten und der Unionsbürgerfreizügigkeit. Die Vielzahl der unionsrechtlichen Gleichheitssätze unterscheidet sich demzufolge nicht in ihrer dogmatischen Grundstruktur. Sie unterscheiden sich zum einen durch eine Begrenzung auf bestimmte Ungleichbehandlungen aus Gründen, die der jeweilige unionsrechtliche Gleichheitssatz in seinem Tatbestand benennt. Zum anderen unterscheiden sie sich in ihrem sachlichen Anwendungsbereich. Das Verhältnis der unionsrechtlichen Gleichheitssätze wird dabei durch den Spezialitätsgrundsatz bestimmt, wonach das allgemeinere Gesetz hinter das speziellere Gesetz zurücktritt. III. Reichweite der Wirkung unionsrechtlicher Gleichheitssätze in den mitgliedstaatlichen Rechtsordnungen Mit Ausnahme des allgemeinen Gleichheitssatzes unterscheiden sich die unionsrechtlichen Gleichheitssätze, wie im vorangegangenen Kapitel dargelegt, zwar nach dem jeweiligen verbotenen Differenzierungsmerkmal und nach dem jeweiligen sachlichen Anwendungsbereich. Sie haben dabei jedoch eine einheitliche Struktur und folgen einer einheitlichen Dogmatik. Dadurch drängt sich der Eindruck auf, dass sich die Bestimmung des einschlägigen unionsrechtlichen Gleichheitssatzes bezüglich der Einwirkung in die mitgliedstaatlichen Privatrechtsordnungen darauf reduziert, die terminologisch zutreffende Bezeichnung des anwendbaren besonderen unionsrechtlichen Gleichheitssatzes zu identifizieren. Die konkrete Anwendung des Gleichheitssatzes auf das Privatrechtsverhältnis folgt schließlich einer einheitlichen Dogmatik, so dass
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eine Differenzierung nach den unterschiedlichen unionsrechtlichen Gleichheitssätzen von geringem Nutzen erscheint. Dieser Eindruck ist jedoch unzutreffend. Die Besonderheit der unionsrechtlichen Gleichheitssätze besteht nämlich weniger in ihren tatbestandlichen Unterschieden als in ihrer Anwendungsbereichseröffnung. Das Vorliegen einer Ungleichbehandlung in einem Privatrechtsverhältnis ist nicht ausreichend, um eine Anwendung eines unionsrechtlichen Gleichheitssatzes zu begründen. Hinzu tritt nämlich, dass die identifizierte Ungleichbehandlung überhaupt in den Anwendungsbereich des unionsrechtlichen Gleichheitssatzes fällt, von dessen Tatbestand sie erfasst wäre. Dabei sind zwei Arten der Anwendungsbereichseröffnung denkbar. Zum einen erfolgt die Anwendungsbereichseröffnung aus dem unionsrechtlichen Gleichheitssatz selbst heraus. Zum anderen verlangt die Anwendungsbereichseröffnung des unionsrechtlichen Gleichheitssatzes, dass der Anwendungsbereich des Unionsrechts zuvor bereits anderweitig eröffnet wurde. Der Unterschied in der Art der Anwendungsbereichseröffnung schlägt sich in der Reichweite der Wirkung der unionsrechtlichen Gleichheitssätze in den mitgliedstaatlichen Rechtsordnungen nieder. Diejenigen Gleichheitssätze, deren Anwendungsbereich aus der Unionsrechtsnorm selbst heraus eröffnet wird, untersagen die von ihren jeweiligen Tatbeständen erfassten Ungleichbehandlungen vorbehaltlich einer möglichen Rechtfertigung unmittelbar. Die Reichweite der anderen Gruppe von unionsrechtlichen Gleichheitssätzen verlangt, dass die tatbestandlich erfassten Ungleichbehandlungen außerdem von einer anderen Unionsrechtsnorm erfasst sind. Sie wirken damit nur so weit, wie eine andere Unionsrechtsnorm einen Sachverhalt, der eine Ungleichbehandlung beinhaltet, regelt. Ein solcher unionsrechtlicher Gleichheitssatz wirkt damit nur in ein Privatrechtsverhältnis ein, das zugleich in den Anwendungsbereich einer anderen Unionsrechtsnorm fällt. Mithin ist es für die weitere Untersuchung der Wirkungsweise des unionsrechtlichen Anwendungsvorrangs, sofern er den unmittelbar anwendbaren Normbefehl unionsrechtlicher Gleichheitssätze in die mitgliedstaatlichen Rechtsordnungen transportiert, relevant, die Anwendungsbereichseröffnung der unionsrechtlichen Gleichheitssätze näher zu betrachten und dabei ein besonderes Augenmerk auf diejenigen Gleichheitssätze zu richten, die erst bei einer anderweitigen Anwendungsbereichseröffnung des Unionsrechts zur Anwendung kommen können. Denn der Normbefehl einer Unionsrechtsnorm, sofern er mit unmittelbarer Anwendbarkeit ausgestattet ist, wirkt im mitgliedstaatlichen Rechtsraum nur so weit, wie der Anwendungsbereich dieser Unionsrechtsnorm gezogen ist. Nur bei wenigen unionsrechtlichen Gleichheitssätzen ist der Anwendungsbereich wie bei den Marktgrundfreiheiten und bei der Unionsbürgerfreizügigkeit eigenständig eröffnet (1.). Die Mehrzahl der unionsrechtlichen Gleichheitssätze verlangen für ihre Anwendungsbereichseröffnung das Vorliegen der Eröffnung des Anwendungsbereichs einer anderen
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4. Kapitel: Einwirkungen des Primärrechts in das autonome IPR
Unionsrechtsnorm (2.). Ihnen kommt dann „eine akzessorische Funktion bei der Realisierung einer unionsrechtlichen Position“254 zu. 1. Eigenständige Anwendungsbereichseröffnung Ohne die Notwendigkeit einer vorherigen Eröffnung des Anwendungsbereichs einer anderen Unionsrechtsnorm, kann sich ein Einzelner auf die Diskriminierungsverbote der Marktgrundfreiheiten und der Unionsbürgerfreizügigkeit berufen. Daneben ist der Anwendungsbereich des agrarrechtlichen Diskriminierungsverbots in Art. 40 Abs. 2 UAbs. 2 AEUV, des steuerrechtlichen Diskriminierungsverbots für die Warenbesteuerung in Art. 110 Abs. 1 AEUV und des Verbots von Entgeltdiskriminierungen aus Gründen des Geschlechts in Art. 157 Abs. 1 AEUV eigenständig eröffnet. Die betroffenen Ungleichbehandlungen unterliegen diesen Diskriminierungsverboten damit unmittelbar. a) Antidiskriminierungsrichtlinien Dasselbe gilt für die Diskriminierungsverbote der Antidiskriminierungsrichtlinien, sofern die Voraussetzungen für ihre unmittelbare Anwendbarkeit gegeben sind. Dabei ist zwischen der von der Rechtsprechung anerkannten vertikalen unmittelbaren Anwendbarkeit255 und der von der Rechtsprechung abgelehnten umgekehrt vertikalen256 und horizontalen unmittelbaren Anwendbarkeit257 zu unterscheiden. Erster Fall liegt vor, wenn eine Ungleichbehandlung, die von einem Diskriminierungsverbot der Antidiskriminierungsrichtlinien erfasst ist, dem Staat zugerechnet werden kann und der mitgliedstaatlichen Rechtsordnung nach Ablauf der Umsetzungsfrist keine Norm zu entnehmen ist, die diese Ungleichbehandlung untersagt.258 Zweiter Fall liegt vor, wenn die Ungleichbehandlung zwar ebenso von einem Diskriminierungsverbot der Antidiskriminierungsrichtlinien erfasst ist und der mitgliedstaatlichen Rechtsordnung nach Ablauf der Umsetzungsfrist keine Norm zu entnehmen ist, die diese Ungleichbehandlung untersagt. Die Ungleichbehandlung ist in diesem Fall jedoch einer anderen Privatperson zuzurechnen.259 Privatpersonen sind nicht an Richtlinienbestimmungen gebunden, da diese nach Art. 288 Abs. 3 AEUV ausschließlich an die Mitgliedstaaten gerichtet sind. Der Staat unterliegt jedoch 254
von Bogdandy, in: Grabitz/Hilf/Nettesheim, Art. 18 AEUV Rn. 33. EuGH, Rs. 41/74, van Duyn, Slg. 1973, 1337 Rn. 12; Rs. 148/78, Ratti, Slg. 1979, 1629 Rn. 18 ff.; Rs. 8/81, Becker, Slg. 1982, 53 Rn. 17 ff. 256 EuGH, Rs. 14/86, Pretore di Salò, Slg. 1987, 2545 Rn. 19; Rs. 80/86, Kolpinghuis, Slg. 1987, 3969 Rn. 9 f.; verb. Rs. C-387/02, C-391/02 und C-403/02, Berlusconi, Slg. 2005, I-3565 Rn. 74. 257 EuGH, Rs. 152/84, Marshall, Slg. 1986, 723 Rn. 48; Rs. C-91/92, Faccini Dori, Slg. 1994, I-3325 Rn. 24; Rs. C-192/94, El Corte Inglés, Slg. 1996, I-1281 Rn. 17. 258 Schroeder, in: Streinz, Art. 288 AEUV Rn. 114. 259 Schroeder, in: Streinz, Art. 288 AEUV Rn. 116. 255
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einer Richtlinienbestimmung, auch wenn er nach dem Wortlaut von Art. 288 Abs. 3 AEUV nur an das zu erreichende Ziel der Richtlinie gebunden ist. Er darf nämlich nach dem Rechtsgedanken des „venire contra factum proprium“ keine Vorteile daraus ziehen, dass er eine Richtlinienbestimmung nicht rechtzeitig oder falsch in seine nationale Rechtsordnung umgesetzt hat. Deshalb darf sich ein von einer Ungleichbehandlung betroffener Einzelner gegenüber dem Staat vor den nationalen Gerichten auf die Diskriminierungsverbote der Antidiskriminierungsrichtlinien nach Ablauf der Umsetzungsfrist berufen.260 Im Horizontalverhältnis können die Diskriminierungsverbote der Antidiskriminierungsrichtlinien zwar nicht unmittelbar vom nationalen Richter angewandt werden, sie sind jedoch von ihm im Rahmen der richtlinienkonformen Auslegung und Rechtsfortbildung zu beachten.261 b) Exkurs: Einwirkung der Antidiskriminierungsrichtlinien in das Familienrecht Die Diskriminierungsverbote der Antidiskriminierungsrichtlinien sind für das mitgliedstaatliche Privatrecht und IPR von großer Bedeutung.262 Die Diskussion um die Einwirkung der Antidiskriminierungsrichtlinien in das Privatrecht kann hier wegen ihres Umfangs jedoch nicht nachvollzogen werden. Aufgrund des Fokus dieser Arbeit auf das autonome mitgliedstaatliche IPR, das insbesondere aus Kollisionsnormen des Internationalen Familienrechts besteht, soll an dieser Stelle in Form eines Exkurses in aller Kürze auf die Einwirkung der Antidiskriminierungsrichtlinien in das Familienrecht eingegangen werden.263 Ausgangspunkt ist dabei für das autonome deutsche Recht das Allgemeine Gleichbehandlungsgesetz (AGG)264. Die nach dessen § 1 erfassten Benachteiligungen „aus Gründen der Rasse oder wegen der ethnischen Herkunft, des Geschlechts, der Religion oder Weltanschauung, einer Behinderung, des Alters oder der sexuellen Identität“ sind nach § 19 Abs. 1 AGG „bei der Begründung, Durchführung und Beendigung zivilrechtlicher Schuldverhältnisse“ unzulässig. Nach § 19 Abs. 4 AGG findet das AGG jedoch „keine Anwendung auf
260 EuGH, Rs. 8/81, Becker, Slg. 1982, 53 Rn. 23 f.; Rs. 152/84, Marshall, Slg. 1986, 723 Rn. 49; Rs. 80/86, Kolpinguis, Slg. 1987, 3969 Rn. 10. 261 Siehe dazu ausführlich oben S. 43 ff. (zur unionsrechtskonformen Auslegung) und S. 54 ff. (zur unionsrechtskonformen Rechtsfortbildung). 262 Siehe beispielhaft nur Lüttringhaus, Grenzüberschreitender Diskriminierungsschutz (2010); die Beiträge in E. Lorenz, Karlsruher Forum 2004: Haftung wegen Diskriminierung (2005); Leible/Schlachter, Diskriminierungsschutz durch Privatrecht (2006); Isensee, Vertragsfreiheit und Diskriminierung (2007); Mansel, in: FS Canaris, S. 809 ff.; Pfeiffer, in: FS Schwerdtner, S. 775 ff.; Neuner, JZ 2003, 57 ff.; Repasi, in: Annuaire de droit européen, Band 3 (2008), S. 831 ff. 263 Der Exkurs entspricht in weiten Teilen Repasi, GPR 2007, 183 ff. 264 BGBl. I, 2006, Nr. 39, S. 1897.
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4. Kapitel: Einwirkungen des Primärrechts in das autonome IPR
familien- und erbrechtliche Schuldverhältnisse“. Hiernach würde das Antidiskriminierungsrecht überhaupt nicht auf das Familienrecht einwirken. Allerdings findet man einen vergleichbaren Anwendungsausschluss in den Antidiskriminierungsrichtlinien, die das AGG umsetzt, nicht. Der Geltungsbereich der Antidiskriminierungsrichtlinien ist in ihrem jeweiligen Art. 3 festgelegt. Für das Familienrecht sind dabei die Richtlinien 2000/43/EG und 2004/113/EG relevant, da die Richtlinie 2000/78/EG lediglich das Arbeitsrecht betrifft. Die Richtlinien begrenzen ihren Geltungsbereich auf „den Zugang zu und die Versorgung mit Gütern und Dienstleistungen“. Die Reichweite dieser Formulierung erschließt sich dadurch, dass die Richtlinien auf Grundlage des Art. 13 EGV a.F. (welcher dem heutigen Art. 19 AEUV entspricht) erlassen wurden. Dieser verlangte, dass ein Rechtsetzungsakt auf Grundlage dieser Rechtsgrundlage nur „im Rahmen der durch den Vertrag auf die Gemeinschaft übertragenen Zuständigkeiten“265 erfolgen kann. Gemeint ist damit, dass nicht alleine Art. 13 EGV a.F. eine Regelungszuständigkeit der damaligen Gemeinschaft für den Erlass von Antidiskriminierungsrecht schafft, sondern sie neben Art. 13 EGV a.F. über eine Regelungszuständigkeit für den Sachbereich verfügen muss, für die das zu schaffenden Antidiskriminierungsrecht gelten soll.266 Solche anderweitigen sachlichen Regelungszuständigkeiten hatte die Gemeinschaft im Rahmen der Verwirklichung des Binnenmarktes.267 Ein Verbot von Diskriminierungen auf Grund der in Art. 13 Abs. 1 EGV a.F. und auch der im heutigen Art. 19 Abs. 1 AEUV genannten Differenzierungsmerkmale verlangt somit einen Binnenmarktbezug. Konsequenterweise verweist auch Erwägungsgrund 11 der Richtlinie 2004/113/EG für den Begriff der Güter auf die Warenverkehrsfreiheit und für den der Dienstleistungen auf die Definitionsvorschrift des Art. 50 EGV a.F. (Art. 57 AEUV) im Rahmen der Dienstleitungsfreiheit. Der Raum, in dem der freie Zugang und die Versorgung mit Gütern und Dienstleistungen gewährleistet werden soll, ist nach Art. 14 Abs. 2 EGV a.F. (Art. 26 Abs. 2 AEUV) der Binnenmarkt. Es geht daher bei dem Geltungsbereich der Antidiskriminierungsrichtlinien um den Zugang zu einem Markt der Güter und Dienstleistungen. Träger dieses Zugangs ist in der Privatrechtsgesellschaft der Vertrag als Schuldverhältnis. Familienrechtliche Rechtsverhältnisse wie die Ehe oder die eingetragene Lebenspartnerschaft sind jedoch keine Instrumente des Marktzugangs. Die Richtlinien wollen daher auch keine 265 Art. 19 Abs. 1 AEUV verweist auf den „Rahmen der durch die Verträge auf die Union übertragenen Zuständigkeiten“. 266 Vgl. Flynn, CMLR 36 (1999), 1127, 1135; Grabenwarter, in: Grabitz/Hilf/Nettesheim, Art. 19 AEUV Rn. 12; Holoubek, in: Schwarze, Art. 19 AEUV Rn. 9; Streinz, in: Streinz, Art. 19 AEUV Rn. 14. 267 Die Kompetenzgrundlagen innerhalb der Kapitel zu den Marktgrundfreiheiten und der Generalklausel des Art. 95 EGV a.F. und auch derjenigen zur Verwirklichung des Raumes der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts in Art. 65 EGV a.F. dienten mit unterschiedlicher Intensität der Verwirklichung des Binnenmarkts, vgl. u.a. Repasi, StudZR 2004, 251, 266 ff.
A. Gleichheitsrechtliche Vorgaben
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Regelungen für die Ehe oder ihr gleichgestellter Rechtsverhältnisse wie das Verlöbnis oder die Lebenspartnerschaft als familienrechtliche Rechtsverhältnisse schaffen. Diese Feststellung reicht aber noch nicht aus, einen pauschalen Anwendungsausschluss der Antidiskriminierungsrichtlinien auf familienrechtliche Rechtsverhältnisse anzunehmen. Die Richtlinien kennen in ihrem Wortlaut eine pauschale Herausnahme „familien- und erbrechtlicher Schuldverhältnisse“ aus ihrem Geltungsbereich nicht. Entsprechend der Zielrichtung der Richtlinien, einen benachteiligungsfreien Zugang zu und eine entsprechende Versorgung mit Gütern und Dienstleistungen zu regeln, ist der Begriff des „familien- und erbrechtlichen Schuldverhältnisses“ in § 19 Abs. 4 AGG binnenmarktfinal zu verstehen. Dieser Binnenmarktbezug rechtfertigt für sich aber noch keinen pauschalen Anwendungsausschluss von gemeinschaftsrechtlichem Antidiskriminierungsrecht auf familien- und erbrechtliche Regelungsgegenstände. So haben beispielsweise Regelungen auf dem Gebiet des Güterstandsrechts Auswirkungen auf das Funktionieren des Binnenmarktes.268 Entscheidend ist vielmehr, dass es sich bei den von den Diskriminierungsverboten der Antidiskriminierungsrichtlinien erfassten Gütern und Dienstleistungen um solche handelt, „die der Öffentlichkeit ohne Ansehen der Person zur Verfügung stehen.“ Mit dieser Formulierung wird in den Antidiskriminierungsrichtlinien dem Spannungsverhältnis von Gleichbehandlung und Privatautonomie Rechnung getragen. Der Gemeinschaftsgesetzgeber ist bei der Wahrnehmung der Rechtsetzungskompetenz des Art. 13 EGV a.F. selber an die Gemeinschaftsgrundrechte gebunden.269 Die Privatautonomie ist durch Art. 16 GRCh, Art. 1 des 1. Zusatzprotokolls zur EMRK und die Verfassungen sämtlicher EU-Mitgliedstaaten geschützt. Die Privatautonomie hat zur Konsequenz, dass der Einzelne Entscheidungen aus irrationalen Gründen heraus trifft wie beispielsweise bei einer Diskriminierung wegen der Rasse. Im privaten Umfeld ist dies auch nicht zu beanstanden. Diskriminierungen sind hier vielmehr Bestandteil der Persönlichkeitsentfaltung wie z.B. bei der Wahl des Eheoder Lebenspartners. Sobald jedoch eine Diskriminierung die Privatsphäre verlässt, sind grundsätzlich keine Sachgründe ersichtlich, die eine Benachteiligung wegen der Rasse, der ethnischen Herkunft oder des Geschlechts als unveränderbaren Persönlichkeitsmerkmalen rechtfertigen könnten. Die Differenzierung zwischen Privat- und öffentlicher Sphäre ist Ausdruck der Verhältnismäßigkeit zwischen Gleichbehandlung und Privatautonomie.270
268
Hierzu und zu weiteren Beispielen, in denen das Familien- und Erbrecht Auswirkungen auf den Binnenmarkt haben kann, Repasi, StudZR 2004, 251, 270 ff. 269 St. Rechtsprechung seit EuGH, Rs. 26/69, Stauder, Slg. 1969, 419 und EuGH, Rs. 11/70, Internationale Handelsgesellschaft, Slg. 1970, 1125. 270 Vgl. die weitergehenden Ausführungen bei Neuner, JZ 2003, 57, 63.
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4. Kapitel: Einwirkungen des Primärrechts in das autonome IPR
Das Familienrecht regelt alle Rechtsverhältnisse der durch Ehe und Verwandtschaft miteinander verbundenen Personen sowie die das Erfordernis der Verwandtschaft ersetzenden Bereiche des Vormundschafts-, Betreuungs- und Pflegschaftsrecht. Diese Regelungsbereiche sind solche, die der Privatsphäre angehören, da sie rechtliche Sonderverbindungen regeln, die auf bestimmte Personen zugeschnitten sind. Vor diesem Hintergrund besitzt die Union keine Rechtsetzungskompetenz auf Grundlage des Art. 19 AEUV, um Benachteiligungsverbote im Familienrecht zu erlassen. Familienrechtliche Rechtsverhältnisse fallen demnach nicht unter die nach Art. 3 der Antidiskriminierungsrichtlinien für ihre Anwendbarkeit erforderliche „Öffentlichkeit“. Auch aus diesem Grund sind die familienrechtlichen Verträge wie Verlöbnis und Eheschließung nicht im Geltungsbereich der Antidiskriminierungsrichtlinien. Die Antidiskriminierungsrichtlinien wirken somit nicht in das autonome Familienrecht ein und haben daher auch keinerlei Folgen für das autonome Internationale Familienrecht. Die in den Richtlinien verwandte Formulierung der Güter und Dienstleistungen, die „der Öffentlichkeit zur Verfügung stehen“, dient der uniongrundrechtlich gebotenen Abgrenzung von der dem europäischen Antidiskriminierungsrecht verschlossenen Privatsphäre und der regelbaren öffentlichen Sphäre. Die dem Familienrecht unterliegenden Rechtsverhältnisse sind Teil der Privatsphäre. Somit werden auch künftige Rechtsetzungsmaßnahmen auf Grundlage des Art. 19 AEUV nicht in das Familienrecht einwirken. Dies gilt auch für diejenigen Bereiche des Familienrechts, die über die binnenmarktfinale Rechtsangleichung oder – noch viel einschneidender – über die unionsbürgerrelevante Rechtsangleichung nach Art. 21 Abs. 2 AEUV Teil der „auf die Union übertragenen Zuständigkeiten“ im Sinne des Art. 19 Abs. 1 AEUV sind. 2. Akzessorische Anwendungsbereichseröffnung Die Mehrzahl der unionsrechtlichen Gleichheitssätze verlangt zur Eröffnung ihres eigenen Anwendungsbereichs die bereits anderweitig erfolgte Anwendungsbereichseröffnung des Unionsrechts. Ihnen kommt „eine akzessorische Funktion bei der Realisierung einer unionsrechtlichen Position“271 zu. In der Folge ist nunmehr näher zu untersuchen, um welche unionsrechtlichen Positionen es sich dabei handelt. Während eine unionsrechtliche Position bei unmittelbar anwendbaren Unionsrechtsnormen unproblematisch annehmbar ist, stellen sich bei den Unionskompetenzen die Fragen, ob bereits eine unionsrechtliche Position annehmbar ist, wenn ein Sachverhalt in den Sachbereich einer Unionskompetenz fällt, ob dies bei sämtlichen Unionskompetenzen der Fall ist und ob die Kompetenz von der Union bereits ausgeübt worden sein muss, um
271
von Bogdandy, in: Grabitz/Hilf/Nettesheim, Art. 18 AEUV Rn. 33.
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eine unionsrechtliche Position anzunehmen, deren Vorliegen den akzessorischen Anwendungsbereich der entsprechenden unionsrechtlichen Gleichheitssätze eröffnet. Wie im Folgenden zu zeigen sein wird, unterscheiden die Verträge und die Rechtsprechung des EuGH im Hinblick auf die Voraussetzungen für die Annahme einer unionsrechtlichen Position zwischen dem allgemeinen Diskriminierungsverbot aus Gründen der Staatsangehörigkeit in Art. 18 Abs. 1 AEUV (a)), den unionsrechtlichen Gleichheitssätzen als allgemeine Grundsätze des Unionsrechts im Sinne des Art. 6 Abs. 3 EUV und den unionsrechtlichen Gleichheitssätzen der GRCh (b)). Je geringer die Anforderungen für die Annahme einer unionsrechtlichen Position sind, umso weiter geht die Reichweite der diese Position akzessorisch absichernden unionsrechtlichen Gleichheitssätze. a) Diskriminierungsverbot aus Gründen der Staatsangehörigkeit, Art. 18 Abs. 1 AEUV Das Diskriminierungsverbot aus Gründen der Staatsangehörigkeit in Art. 18 Abs. 1 AEUV gilt nach seinem Wortlaut „im Anwendungsbereich der Verträge“. Hieraus folgt zunächst, dass Art. 18 Abs. 1 AEUV seinen sachlichen Anwendungsbereich nicht selbst eröffnet und deshalb das Vorliegen einer Diskriminierung aus Gründen der Staatsangehörigkeit an sich nicht für die Anwendungsbereichseröffnung ausreicht. Die mitgliedstaatliche Maßnahme muss vielmehr aufgrund einer anderen unionsrechtlichen Bestimmung als Art. 18 Abs. 1 AEUV in den Anwendungsbereich der Verträge fallen. Die anderweitige Anwendungsbereichseröffnung ist in zwei Konstellationen anzunehmen: Sie liegt zum einen vor, wenn eine mitgliedstaatliche Maßnahme von einer anderen unionsrechtlichen Regelung als Art. 18 Abs. 1 AEUV unmittelbar erfasst ist (aa)). Unterliegt die Maßnahme nicht unmittelbar einer anderen unionsrechtlichen Regelung, reicht es zum anderen aus, wenn die von der mitgliedstaatlichen Maßnahme geregelten Sachverhalte „Berührungspunkte mit irgendeinem der Sachverhalte aufweisen, auf die das Gemeinschaftsrecht abstellt“272 (bb)). Das Erfordernis eines grenzüberschreitenden Sachverhalts führt schließlich dazu, dass bei umgekehrten Diskriminierungen keine anderweitige Anwendungsbereichseröffnung gegeben ist (cc)). aa) Anwendungsbereichseröffnung aufgrund anderer unionsrechtlicher Regelungen Die für die Eröffnung des Anwendungsbereichs in der ersten Konstellation relevanten unionsrechtlichen Regelungen können sämtliche Vorschriften des primären und sekundären Unionsrechts sein. Somit fallen etwa mitgliedstaatliche 272
EuGH, verb. Rs. 35/82 und 36/82, Morson, Slg. 1982, 3723 Rn. 16.
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4. Kapitel: Einwirkungen des Primärrechts in das autonome IPR
Maßnahmen bei der Durchführung von Unionsrecht unter diese Konstellation.273 Ausreichend ist ferner bereits, dass Sachverhalte in den Anwendungsbereich einer Unionskompetenz wie Art. 114 AEUV oder Art. 352 AEUV fallen, wobei es nicht darauf ankommt, ob die Kompetenz auch schon tatsächlich ausgeübt wurde.274 Nicht ausreichend ist jedoch, wenn eine Ungleichbehandlung in ein Sachgebiet fällt, für das die Union zwar keine Regelungskompetenz, jedoch eine Förderkompetenz besitzt. Der Sachverhalt, der der Rechtssache „Gravier“275 zugrunde lag, gehört entgegen dem Wortlaut der Entscheidung des EuGH nicht der Konstellation an, in der der Anwendungsbereich des Diskriminierungsverbots dadurch eröffnet ist, dass der Sachverhalt zugleich in den Anwendungsbereich einer anderen Unionsnorm fällt. Der EuGH erklärte in dieser Rechtssache Studiengebühren, die von EU-Ausländern, nicht jedoch von eigenen Staatsangehörigen erhoben wurden, für mit dem Diskriminierungsverbot aus Gründen der Staatsangehörigkeit unvereinbar. Den Anwendungsbereich der Verträge sah er durch die Förderkompetenz für die Bildungspolitik (vgl. die heutigen Art. 165 und 166 AEUV) als eröffnet an. In der später entschiedenen Rechtssache „Lair“276, deren Sachverhalt ebenfalls im Bereich der Bildungspolitik angesiedelt war, ließ der EuGH das Vorliegen der Förderkompetenz nicht mehr ausreichen, um den Anwendungsbereich des Diskriminierungsverbots zu eröffnen. In dieser Rechtssache ging es um eine Studienförderung, die an Ausländer nur vergeben wurde, wenn sie sich vor Beginn des Studiums fünf Jahre in dem betreffenden Mitgliedstaat rechtmäßig aufgehalten haben und erwerbstätig gewesen sind. Diese Bedingungen mussten eigene Staatsangehörige nicht erfüllen. Der EuGH lehnte eine Diskriminierung aus Gründen der Staatsangehörigkeit nach dem damaligen Art. 7 Abs. 1 EWGV (dem heutigen Art. 18 Abs. 1 AEUV) ab, da die Studienförderung „in den Bereich der Bildungspolitik [fällt], die als solche nicht der Zuständigkeit der Gemeinschaftsorgane unterstellt worden ist.“277 Eine Förderkompetenz für die Bildungspolitik war jedoch mit Art. 128 EWGV (der Vorgängervorschrift der heutigen Art. 165 und 166 AEUV) vorhanden. Nach der Rechtssache „Gravier“ hätte jedoch das Vorhandensein einer Förderkompetenz ausreichend sein müssen, um die anderweitige Anwendungsbereichseröffnung des Unionsrechts zu bejahen. Dieser scheinbare Widerspruch zwischen den beiden Rechtssachen lässt sich auflösen, wenn man beide Sachverhalte der sogleich näher zu erläuternden
273
EuGH, Rs. C-29/95, Pastoors, Slg. 1997, I-1 Rn. 13 ff.; Rs. C-123/08, Wolzenburg, Slg. 2009, I-9621 Rn. 113. 274 Vgl. von Bogdandy, in: Grabitz/Hilf/Nettesheim, Art. 18 AEUV Rn. 34; a.A. Störmer, AöR 123 (1998), 541, 554 f. 275 EuGH, Rs. 293/83, Gravier, Slg. 1985, 593. 276 EuGH, Rs. 39/86, Lair, Slg. 1988, 3161. 277 EuGH, Rs. 39/86, Lair, Slg. 1988, 3161 Rn. 15.
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zweiten Konstellation zuordnet. Diese verlangt nämlich nicht, dass ein Sachverhalt von dem Anwendungsbereich einer anderen Unionsrechtsnorm erfasst ist, sondern dass der Sachverhalt „Berührungspunkte“ mit einer unionsrechtlich geregelten Situation aufweist. Die unionsrechtlich geregelte Situation war in beiden Fällen die Arbeitnehmerfreizügigkeit. Ausbildungsmaßnahmen sind zwingende Voraussetzungen für die spätere Ausübung der Arbeitnehmerfreizügigkeit, ohne selbst davon erfasst zu sein.278 Die Studiengebühren, die der Rechtssache „Gravier“ zugrunde lagen, versperrten jedoch den Zugang zu dieser Ausbildung, während die Studienförderung, die der Rechtssache „Lair“ zugrunde lag, den Zugang zu Bildung nicht verhinderte. Diese nach dem Intensitätsgrad der Verbindung einer Ungleichbehandlung mit einer unionsrechtlich geschützten Rechtsposition unterscheidende Sichtweise kennzeichnet die zweite Konstellation. Das Vorhandensein einer Förderkompetenz der Union für ein Sachgebiet, in dem die Ungleichbehandlung stattgefunden hat, reicht jedenfalls nicht aus, um den Anwendungsbereich des Diskriminierungsverbots aus Gründen der Staatsangehörigkeit zu eröffnen.279 bb) Anwendungsbereichseröffnung aufgrund eines „Berührungspunktes“ mit einer „unionsrechtlich geregelten Situation“ Ist der Anwendungsbereich des Unionsrechts nicht bereits dadurch eröffnet, dass eine Ungleichbehandlung in den Anwendungsbereich einer anderen primär- oder sekundärrechtlichen Unionsrechtsnorm oder in den Sachbereich einer Regelungskompetenz der Union fällt, so reicht für die Eröffnung des Anwendungsbereichs des Diskriminierungsverbots in Art. 18 Abs. 1 AEUV aus, dass die Ungleichbehandlung Berührungspunkte mit einer „gemeinschaftsrechtlich geregelten Situation“280 aufweist. Dies ist insbesondere bei mitgliedstaatlichen Regelungen gegeben, die eine „conditio sine qua non“ für die Ausübung unionsrechtlicher Positionen sind.281 Daher unterliegen, wie gerade gezeigt, Maßnahmen, die den Zugang zu Bildung betreffen, dem Diskriminierungsverbot,282 während die Förderung von Personen, die den Zugang zu Bildungsangeboten bereits erhalten haben, von dem Diskriminierungsverbot zunächst nicht erfasst sind.283 Der Zugang zu Bildungsangeboten, insbesondere zur beruflichen Bildung, stellt nämlich eine „conditio sine qua non“ für die 278
Vgl. Franzen, in: Streinz, Art. 45 AEUV Rn. 23 mit Verweis auf EuGH, Rs. 238/83, Meade, Slg. 1984, 2631 Rn. 9. 279 Erwähnt werden sollte, dass die Urteile in den Rechtssachen „Gravier“ und „Lair“ vor der Einführung der Unionsbürgerschaft in das Primärrecht gefällt wurden. Seit dem Urteil des EuGH, Rs. C-184/99, Grzelczyk, Slg. 2001, I-6193 unterliegen Ungleichbehandlungen beim Zugang zu Bildung der Unionsbürgerfreizügigkeit aus Art. 21 Abs. 1 AEUV. 280 EuGH, Rs. 186/87, Cowan, Slg. 1989, 195 Rn. 10. 281 Vgl. von Bogdandy, in: Grabitz/Hilf/Nettesheim, Art. 18 AEUV Rn. 43. 282 Vgl. EuGH, Rs. 293/83, Gravier, Slg. 1985, 593. 283 Vgl. EuGH, Rs. 39/86, Lair, Slg. 1988, 3161.
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Ausübung der wirtschaftlichen Grundfreiheiten, insbesondere der Arbeitnehmerfreizügigkeit, dar, ohne selbst von ihr geschützt zu sein. Gleiches gilt für die Einreise in einen Mitgliedstaat und den Aufenthalt zum Zwecke der Ausbildung.284 Von der zweiten Konstellation sind zudem diejenigen diskriminierenden Regelungen erfasst, die nicht geeignet sind, eine Grundfreiheit zu beschränken, weil sie in ihrer Wirkung auf das Schutzgut der jeweiligen Grundfreiheit zu ungewiss und zu mittelbar sind.285 Dies ist insbesondere bei nationalen Verfahrensvorschriften wie bei der Pflicht für ausländische Staatsangehörige, eine Prozesskostensicherheit zu stellen (vgl. § 110 ZPO a.F.), der Fall. Zwar ist die Wirkung solcher Vorschriften zu ungewiss und zu mittelbar, um für einen Eingriff in eine Grundfreiheit geeignet zu sein. Sie ist jedoch ausreichend, um einen „Berührungspunkt“ mit der Unionsrechtsordnung zu begründen, der den Anwendungsbereich der Verträge für Art. 18 Abs. 1 AEUV eröffnet. cc) Keine anderweitige Anwendungsbereichseröffnung bei umgekehrten Diskriminierungen Der Ausschluss von sog. umgekehrten Diskriminierungen,286 also von solchen Fällen, in denen innerstaatliche Sachverhalte gegenüber grenzüberschreitenden Sachverhalten benachteiligt werden, aus Art. 18 Abs. 1 AEUV durch die Rechtsprechung des EuGH287 ist eine Frage des Anwendungsbereichs der Verträge und nicht des Diskriminierungsbegriffs. Von seinem Wortlaut erfasst Art. 18 Abs. 1 AEUV nämlich „jede“ Diskriminierung aus Gründen der Staatsangehörigkeit. Darunter fällt auch die Diskriminierung eines Mitgliedstaates gegenüber den eigenen Staatsangehörigen.288 Unterliegen demnach dem Diskriminierungsbegriff des Art. 18 Abs. 1 AEUV auch die Sachverhaltskonstellationen der umgekehrten Diskriminierung, müssen diese Sachverhalte jedoch des Weiteren über einen Berührungspunkt mit der Unionsrechtsordnung verfügen, um vom Diskriminierungsverbot erfasst zu sein. Die unionsrechtliche Qualifikation von Fällen der umgekehrten Diskriminierung misslingt jedoch regelmäßig. Das Diskriminierungsverbot aus Gründen der Staatsangehörigkeit ist funktional auf die Erreichung der Unionsziele ausgerichtet. Hierzu gehört insbesondere die Errichtung eines Binnenmarktes, der den grundsätzlichen
284
EuGH, Rs. C-357/89, Raulin, Slg. 1992, I-1027 Rn. 34. Vgl. EuGH, Rs. C-323/95, Hayes, Slg. 1997, I-1711 Rn. 17; Rs. C-412/97, ED, Slg. 1999, I-3845 Rn. 11; Rs. C-96/94, Centro Servizi Spediporto, Slg. 1995, I-2883 Rn. 41; Rs. C-291/09, Guarnieri, Slg. 2011, I-2685 Rn. 17. 286 Begriff nach Epiney, Umgekehrte Diskriminierung, S. 33 ff. 287 Vgl. etwa EuGH, Rs. 44/84, Hurd, Slg. 1986, 29 Rn. 56. 288 Vgl. Zuleeg, in: von der Groeben/Schwarze, Art. 12 EGV Rn. 14; von Bogdandy, in: Grabitz/Hilf/Nettesheim, Art. 18 AEUV Rn. 50. 285
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Fortbestand der mitgliedstaatlichen Regelungsbefugnisse respektiert. Der Binnenmarkt verlangt die Gleichstellung von Sachverhalten mit einem EU-Auslandsbezug mit innerstaatlichen Sachverhalten. Jenseits der sekundären Rechtsetzung enthält das Binnenmarktrecht aber keine inhaltlichen Vorgaben für die Ausgestaltung der mitgliedstaatlichen Rechtsordnungen in Bezug auf innerstaatliche Sachverhalte, mit denen die Sachverhalte mit EU-Auslandsbezug gleichgestellt werden sollen. Aus diesem Grund sind auch Ungleichbehandlungen, die lediglich aufgrund des Zusammentreffens unterschiedlicher mitgliedstaatlicher Rechtsordnungen entstehen, nicht vom Diskriminierungsverbot erfasst.289 Ein Sachverhalt, der keinen Berührungspunkt mit der Unionsrechtsordnung aufweist, kann nicht in den Anwendungsbereich der Verträge und damit nicht in den sachlichen Anwendungsbereich des Diskriminierungsverbots aus Art. 18 Abs. 1 AEUV fallen. Ungleichbehandlungen, die in einer Benachteiligung des rein innerstaatlichen Sachverhaltes bestehen, unterliegen hiernach ausschließlich den Anforderungen des jeweiligen mitgliedstaatlichen Gleichheitssatzes.290 Sind damit einerseits rein innerstaatliche Sachverhalte von Art. 18 Abs. 1 AEUV ausgeschlossen, erfasst das Diskriminierungsverbot jedoch andererseits auch Diskriminierungen gegen eigene Staatsangehörige, soweit sie einen Berührungspunkt mit der Unionsrechtsordnung aufweisen, etwa weil sie nach einer Tätigkeit im EU-Ausland in den Mitgliedstaat der eigenen Staatsangehörigkeit zurückkehren. b) Allgemeiner Gleichheitssatz und weitere besondere Diskriminierungsverbote Der allgemeine Gleichheitssatz und die besonderen Diskriminierungsverbote aus Gründen des Geschlechts unabhängig von Entgeltfragen, der Rasse, der Hautfarbe, der ethnischen oder sozialen Herkunft, der genetischen Merkmale, der Sprache, der Religion oder der Weltanschauung, der politischen oder sonstigen Anschauung, der Zugehörigkeit zu einer nationalen Minderheit, des Vermögens, der Geburt, einer Behinderung, des Alters oder der sexuellen Ausrichtung finden sich in zweifacher Weise im Unionsrecht. Sie können als „allgemeine Grundsätze“ gemäß Art. 6 Abs. 3 EUV (aa)) oder als Rechte der EUGrundrechtecharta in Art. 20 GRCh und Art. 21 GRCh gemäß Art. 6 Abs. 1 EUV in Verbindung mit Art. 51 Abs. 1 S. 1 GRCh (bb)) Teil des Unionsrechts sein. In beiden Fällen sind die Mitgliedstaaten bei einer dem allgemeinen Gleichheitssatz oder den besonderen Diskriminierungsverboten erfassten Un-
289
Siehe in diesem Sinne etwa EuGH, Rs. 126/82, Smit Transport, Slg. 1983, 73 Rn. 27 mit Verweis auf eine fehlende gemeinsame Verkehrspolitik. 290 Vgl. für Österreich: ÖstVerfGH, Erkenntnis vom 17.6.1997, Az. B 592/96, EuGRZ 1997, 362; Erkenntnis vom 9.12.1999, Az. G 42/99 und G 135/99, EuZW 2001, 219; für Polen: PolnVerfGH, Urteil vom 21.4.2004, Az. K 33/03.
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gleichbehandlung nicht ohne weitere Voraussetzungen an die unionsrechtlichen Gleichheitssätze gebunden. Wie bei dem Diskriminierungsverbot aus Gründen der Staatsangehörigkeit in Art. 18 Abs. 1 AEUV muss der Anwendungsbereich des Unionsrechts durch die Ungleichbehandlung anderweitig eröffnet worden sein. aa) Allgemeine Grundsätze des Unionsrechts, Art. 6 Abs. 3 EUV Als allgemeine Grundsätze des Unionsrechts sind Gleichheitsrechte nach Art. 6 Abs. 3 EUV Teil des Unionsrechts. Art. 6 Abs. 3 EUV kodifizierte die Rechtsprechung des EuGH, die ihren Anfang mit der Rechtssache „Stauder“291 im Jahr 1969 nahm. Hier urteilte der EuGH, dass die Auslegung der Entscheidung 69/71/EWG292, wonach die Mitgliedstaaten Sozialhilfeempfängern Butter zu vergünstigten Preisen zur Verfügung stellen können, zu keinen Ergebnissen führte, die „die in den allgemeinen Grundsätzen der Gemeinschaftsrechtsordnung, deren Wahrung der Gerichtshof zu sichern hat, enthaltenen Grundrechte der Person in Frage stellen.“293 Auf der Grundlage des damaligen Art. 164 EWGV (des heutigen Art. 19 Abs. 1 EUV), wonach der EuGH die „Wahrung des Rechts bei der Auslegung und Anwendung der Verträge“ sichert, entwickelte der Gerichtshof einen Grundrechtsschutz im Recht der EWG, ohne dass der EWG-Vertrag und die nachfolgenden Verträge geschriebene Grundrechte enthielten. Dieser Grundrechtsschutz stützte sich darauf, dass „Recht“ im Sinne des Art. 164 EWGV über das geschriebene Gemeinschaftsrecht hinausgehend als Ausfluss der Union als „Rechtsgemeinschaft“294 auch ungeschriebene Rechtsgrundsätze umfasst, die im Wege einer wertenden Rechtsvergleichung, die sich aus den mitgliedstaatlichen Verfassungsordnungen und der von sämtlichen Mitgliedstaaten ratifizierten EMRK speist, vom EuGH festgestellt werden.295 Der Anwendungsbereich allgemeiner Grundsätze des Unionsrechts wird durch Art. 6 Abs. 3 EUV nicht festgelegt. Als „Teil des Unionsrechts“ können sie jedoch im Gegensatz zu beispielsweise den Marktgrundfreiheiten oder Art. 157 Abs. 1 AEUV ihren Anwendungsbereich nicht aus sich heraus eröffnen. Vielmehr bedarf es der Anwendungsbereichseröffnung einer anderen unionsrechtlichen Norm, um allgemeine Grundsätze des Unionsrechts anwenden zu können. Aus diesem Grund sind die Union und ihre Organe, Einrichtungen 291
EuGH, Rs. 26/69, Stauder, Slg. 1969, 419. Entscheidung 69/71/EWG der Kommission vom 12. Februar 1969 mit Maßnahmen zugunsten bestimmter Verbrauchergruppen für den verbilligten Bezug von Butter, ABl. 1969 L 52/9. 293 EuGH, Rs. 26/69, Stauder, Slg. 1969, 419 Rn. 7. 294 Vgl. EuGH, Rs. 249/83, Les Verts, Slg. 1986, 1357 Rn. 23. 295 Vgl. Gebauer, Parallele Grund- und Menschenrechtssysteme, S. 122; Kühling, in: von Bogdandy/Bast, Grundrechte, S. 662 f. 292
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und Agenturen bei ihrem Handeln, das sich auf Unionsrecht zurückführen lässt, an die allgemeinen Grundsätze gebunden. Aus demselben Grund muss jedoch im Hinblick auf die Mitgliedstaaten bei der Eröffnung des Anwendungsbereichs der allgemeinen Grundsätze des Unionsrechts und der hieraus fließenden Bindung der Mitgliedstaaten an diese Grundsätze unterschieden werden. Grundsätzlich kann mitgliedstaatliches Handeln ohne Bezug zur Unionsrechtsordnung nicht an einem allgemeinen Grundsatz des Unionsrechts gemessen werden.296 Das ergibt sich aus Art. 19 Abs. 1 EUV, wonach das Recht, dem die allgemeinen Grundsätze zuzuordnen sind, bei der Auslegung und Anwendung der Verträge zu sichern ist und nicht bei jedwedem nationalen Recht.297 Bedarf es demnach zur Begründung einer Bindung der Mitgliedstaaten an allgemeine Grundsätze des Unionsrechts der Eröffnung des Anwendungsbereichs anderer Unionsrechtsvorschriften, so ist eine solche anderweitige Eröffnung in zwei Situationen denkbar: Zum einen beim Vollzug und bei der Umsetzung von Unionsrecht und zum anderen bei Eingriffen in primärrechtliche Rechte wie den Grundfreiheiten. (1) Agency situation Die erste Situation wird in Anlehnung an Weiler „agency situation“ bezeichnet.298 Sie folgt einer Rechtsprechungslinie des EuGH, die dieser in Rechtssache „Wachauf“299 begründete. In dieser Situation handeln die Mitgliedstaaten und deren Einrichtungen funktional als Teil der Unionsverwaltung. Sie handeln im Auftrag („agency“) der Union. Die „agency situation“ tritt etwa bei der Erhebung des Außenzolls durch mitgliedstaatliche Zollbehörden oder bei der Unterstützung und Durchsetzung von Entscheidungen der Europäischen Kommission als Wettbewerbsbehörde durch nationale Kartellbehörden300 ein. (a) Nicht und fehlerhaft umgesetzte Richtlinien als Durchführung von Unionsrecht Ebenso fällt hierunter die Umsetzung von Richtlinien.301 Die Richtlinienumsetzung ist nicht erst dann als Durchführung von Unionsrecht zu sehen, wenn die Richtlinienbestimmungen tatsächlich in nationales Recht umgesetzt wurden. Ausreichend dafür ist die aus Art. 288 Abs. 3 AEUV folgende Pflicht der Mitgliedstaaten zur fristgemäßen und zielkonformen Umsetzung. Somit liegt 296
EuGH, verb. Rs. 60/84 und 61/84, Cinéthèque, Slg. 1985, 2605 Rn. 26. Vgl. Mayer, in: Grabitz/Hilf/Nettesheim, Anh zu Art. 6 EUV, Rn. 49. 298 Weiler, in: Neuwahl/Rosas, The European Union and Human Rights, S. 51, 67 ff. 299 EuGH, Rs. 5/88, Wachauf, Slg. 1989, 2609. 300 Vgl. EuGH, verb. Rs. 46/87 und 227/88, Hoechst/Kommission, Slg. 1989, 2859 Rn. 33. 301 EuGH, Rs. C-275/06, Promusicae, Slg. 2008, I-271 Rn. 68; Jarass, in: Jarass, Art. 51 GRCh Rn. 18; Kingreen, in: Calliess/Ruffert, Art. 51 GRCh Rn. 8. 297
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auch dann eine für die Eröffnung des Anwendungsbereich der allgemeinen Grundsätze ausreichende Durchführung von Unionsrecht vor, wenn ein Mitgliedstaat mit dem Ablauf der Umsetzungsfrist die Richtlinie überhaupt nicht oder nur unzureichend umgesetzt hat. Diese Konstellation lag der Rechtssache „Kücükdeveci“302 zugrunde. Nach dem Urteil des EuGH in dieser Rechtssache verstieß § 622 Abs. 2 S. 2 BGB gegen den allgemeinen Grundsatz des Verbots der Diskriminierung wegen des Alters. Nach dieser Regelung sollen bei der Bestimmung der für die Berechnung der gesetzlichen Kündigungsfrist relevanten Beschäftigungsdauer eines Arbeitnehmers in einem Betrieb oder Unternehmen Zeiten, die vor der Vollendung des 25. Lebensjahrs des Arbeitnehmers liegen, nicht berücksichtigt werden. Diese Regelung steht in Widerspruch zu Art. 2 Abs. 1 der Antidiskriminierungsrichtlinie 2000/78/EG in Beschäftigung und Beruf. Dieser Widerspruch hätte mit dem Ablauf der Umsetzungsfrist am 2. Dezember 2006 zu Gunsten der Richtlinie aufgelöst werden müssen. Eine Unanwendbarkeit von § 622 Abs. 2 S. 2 BGB in einem privaten Arbeitsrechtsstreit aufgrund der unzureichenden Umsetzung der Antidiskriminierungsrichtlinien 2000/78/EG wäre nur möglich, wenn einer Richtlinienbestimmung im Horizontalverhältnis zwischen dem privaten Arbeitgeber und der Arbeitnehmerin eine unmittelbare Wirkung zukäme, was von der ständigen Rechtsprechung des EuGH jedoch weiterhin abgelehnt wird.303 Der der Arbeitnehmerin aufgrund der mangelhaften Umsetzung entstandene Schaden wäre vielmehr im Wege des Staatshaftungsanspruchs an den die Richtlinie fehlerhaft oder nicht umsetzenden Mitgliedstaat weiterzureichen.304 Der EuGH entschied sich in der Rechtssache „Kücükdeveci“ jedoch für eine Unanwendbarkeit entgegenstehenden nationalen Rechts, was aufgrund der von ihm abgelehnten Horizontalwirkung mangelhaft umgesetzter Richtlinien lediglich auf der Grundlage einer Verletzung von Primärrecht möglich ist.305 Der EuGH hat damit das nationale Recht nicht an einer Richtlinienbestimmung, sondern an einem Primärrechtssatz, nämlich einem allgemeinen Grundsatz des Unionsrechts, der Diskriminierungen aus Gründen des Alters verbietet, gemessen. Als allgemeiner Grundsatz des Unionsrechts kann das primärrechtliche Verbot der Altersdiskriminierung jedoch seinen Anwendungsbereich nicht aus
302
EuGH, Rs. C-555/07, Kücükdeveci, Slg. 2010, I-365. Siehe dazu nur EuGH, Rs. 152/84, Marshall, Slg. 1986, 723 Rn. 48; zum Streitstand vgl. Schroeder, in: Streinz, Art. 288 AEUV Rn. 116 f. 304 Vgl. EuGH, verb. Rs. C-6/90 und C-9/90, Francovich, Slg. 1991, I-5357 Rn. 39; mit Bezug auf die Rechtssache „Kücükdeveci“: Bauer/Arnold, NJW 2008, 3377, 3379. 305 Siehe zur Horizontalwirkung von Primärrecht: EuGH, Rs. C-281/98, Angonese, Slg. 2000, I-4139; Rs. C-94/07, Raccanelli, Slg. 2008, I-5939 (zu Art. 45 AEUV); Rs. C-438/05, Viking, Slg. 2007, I-10779 (zu Art. 49, 56 AEUV) sowie Rs. 43/75, Defrenne, Slg. 1976, 455 (zu Art. 157 AEUV). 303
A. Gleichheitsrechtliche Vorgaben
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sich heraus eröffnen. Vielmehr bedarf es einer anderweitigen Anwendungsbereichseröffnung des Unionsrechts. Diese erkennt der EuGH in der mangelhaften Umsetzung oder der Nichtumsetzung einer Richtlinie nach dem Ablauf der Umsetzungsfrist. Ab diesem Zeitpunkt ist auch die mangelhafte Umsetzung oder Nichtumsetzung einer Richtlinie Durchführung von Unionsrecht, wodurch der Anwendungsbereich eines allgemeinen Grundsatzes des Unionsrechts eröffnet wird.306 Diese Betrachtungsweise überzeugt vor dem Hintergrund, dass die Richtlinienumsetzung ein Fall der Durchführung von Unionsrecht ist. Es wäre nämlich sinnwidrig, wenn ein Mitgliedstaat einem Unionsbürger den unionalen Grundrechtsschutz dadurch vorenthalten könnte, dass er eine Richtlinie nicht umsetzt. Der Mitgliedstaat würde dadurch Vorteile aus seinem unionsrechtswidrigen Verhalten ziehen. Eine Bindung an die Unionsgrundrechte in Form von allgemeinen Grundsätzen des Unionsrechts bei der Richtlinienumsetzung ist dabei nicht erst dann anzunehmen, wenn die umzusetzende Richtlinienvorgabe ähnlich einer Verordnung dem mitgliedstaatlichen Gesetzgeber keinerlei Umsetzungsspielräume überlässt, sondern auch bei der Ausfüllung eines regelmäßig bei einer Richtlinie vorhandenen Umsetzungsspielraums.307 Die Gegenansicht,308 die darauf abstellt, dass es sich bei der Ausfüllung des Umsetzungsspielraums um nationales Recht und damit um nationale Staatsgewalt handelt, die ausschließlich an den nationalen Grundrechte zu messen ist, während lediglich die Richtlinienvorgabe als Unionsrecht an den Unionsgrundrechten zu messen ist, berücksichtigt nicht in hinreichendem Maße, dass die Umsetzungsspielräume selbst erst durch die Richtlinie entstanden sind, und geht davon aus, dass eine Unterscheidung von unionsrechtlicher Zielvorgabe und nationaler Staatsgewalt bei einer Umsetzungsmaßnahme trennscharf möglich ist. Die Umsetzungsspielräume einer Richtlinie sind im Hinblick auf die unionsrechtlichen Vorgaben durch die Mitgliedstaaten auszufüllen. Diese unionsrechtlichen Vorgaben umfassen dabei die verbindlichen Richtlinienziele, aber auch das Primärrecht, in dessen Lichte die Richtlinienziele auszulegen sind. Die Umsetzungsspielräume sind mithin unionsrechtlich determiniert.309 Eine Richtlinienumsetzung
306
Ebenso Streinz/Michl, in: Streinz, Art. 51 GRCh Rn. 10. Vgl. EuGH, Rs. C-540/03, Parlament/Rat, Slg. 2006, I-5769 Rn. 104; GA Bot, SchlA Rs. C-108/10, Scattolon, Slg. 2011, I-7491 Nr. 119; Kühling, in: von Bogdandy/Bast, Grundrechte, S. 657, 682. 308 Ziegenhorn, NVwZ 2010, 803, 808; Kingreen, in: Calliess/Ruffert, Art. 51 GRCh Rn. 12; Di Fabio, NJW 1990, 947, 951 f. 309 Vgl. Kühling, in: von Bogdandy/Bast, Grundrechte, S. 657, 682, der von unionsrechtlicher Veranlassung spricht. 307
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4. Kapitel: Einwirkungen des Primärrechts in das autonome IPR
darf demnach nicht im Widerspruch zu Unionsgrundrechten in Form von allgemeinen Grundsätzen des Unionsrechts stehen.310 (b) Richtlinienvorwirkung führt nicht zu einer Durchführung von Unionsrecht Das Inkrafttreten einer Richtlinie (Art. 297 Abs. 2 AEUV) erzeugt bereits bestimmte Rechtswirkungen.311 Diese Rechtswirkungen bestehen, sofern sie nicht ausdrücklich von einer Richtlinienbestimmung angeordnet sind,312 in einem Frustrationsverbot, wonach die Mitgliedstaaten ab dem Inkrafttreten keine Maßnahmen mehr erlassen dürfen, die die Verwirklichung der Ziele der Richtlinie erschweren könnten.313 Diese Richtlinienvorwirkung ist aber mit der Richtlinienumsetzungspflicht in Art. 288 Abs. 3 AEUV nicht derart vergleichbar, dass man darunter noch die Durchführung von Unionsrecht verstehen könnte. Die Mitgliedstaaten sind in der Periode zwischen dem Inkrafttreten der Richtlinie und dem Ablauf ihrer Umsetzungsfrist gerade nicht dazu verpflichtet, eine bestimmte Umsetzungsmaßnahme zu erlassen. Sie führen daher auch kein Unionsrecht durch. Eine Durchführung kann demnach erst mit dem Ablauf der Umsetzungsfrist angenommen werden.314 Hieran ändert auch das Urteil des EuGH in der Rechtssache „Mangold“315 nichts.316 Auch wenn der in der Rechtssache „Mangold“ streitgegenständliche befristete Arbeitsvertrag zeitlich vor dem Ablauf der verlängerten Umsetzungsfrist der Antidiskriminierungsrichtlinie 2000/78/EG auf der Grundlage des nach dem Alter diskriminierenden § 14 Abs. 3 S. 4 TzBfG a.F. abgeschlossen wurde und der EuGH diese Vorschrift als mit dem unionsrechtlichen Grundsatz der Nichtdiskriminierung wegen des Alters unvereinbar und damit für unanwendbar erklärte, begründete der EuGH die Anwendbarkeit des allgemeinen Grundsatzes des Unionsrechts nicht mit der Vorwirkung der Antidiskriminierungsrichtlinie. Er betrachtete vielmehr § 14 Abs. 3 S. 4 TzBfG a.F. als Umsetzungsmaßnahme der Richtlinie 1999/70/EG.317 Diese Richtlinie über befristete Arbeitsverträge bildete die Grundlage, aufgrund derer der deutsche Gesetzgeber § 14 TzBfG erließ. Als 310
Ebenfalls eine Unionsgrundrechtsbindung mitgliedstaatlicher Umsetzungsmaßnahmen bei Umsetzungsspielräumen bejahend: Ladenburger, in: Tettinger/Stern, Art. 51 Rn. 35; Ruffert, EuR 2004, 165, 177. 311 EuGH, Rs. C-81/05, Cardero Alonso, Slg. 2006, I-7569 Rn. 32. 312 So etwa in Art. 2 Abs. 1 UAbs. 2 der Richtlinie 2002/74/EG (ABl. 2002 L 270/10), die Gegenstand des Verfahrens in EuGH, Rs. C-81/05, Cardero Alonso, Slg. 2006, I-7569 war. 313 EuGH, Rs. C-129/96, Inter-Environnement Wallonie, Slg. 1997, I-7411 Rn. 40 f. 314 Vgl. auch EuGH, Rs. C-427/06, Bartsch, Slg. 2008, I-7245 Rn. 25. 315 EuGH, Rs. C-144/04, Mangold, Slg. 2005, I-9981. 316 A.A. Frenz, RdA 2010, 229, 230 f. 317 Richtlinie 1999/70/EG des Rates vom 28. Juni 1999 zu der EGB-UNICE-CEEP-Rahmenvereinbarung über befristete Arbeitsverträge (ABl. 1999 L 175/43).
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Umsetzungsmaßnahme dieser Richtlinie war § 14 Abs. 3 S. 4 TzBfG eine Durchführung von Unionsrecht. Die Durchführung der Richtlinie 1999/70/EG und nicht die noch nicht umsetzungspflichtige Antidiskriminierungsrichtlinie 2000/78/EG eröffnete damit den Anwendungsbereich des primärrechtlichen Diskriminierungsverbots.318 (2) „ERT“-Situation Die zweite Situation, die zu einer Eröffnung des Anwendungsbereichs von allgemeinen Grundsätzen des Unionsrechts und damit zu einer Bindung der Mitgliedstaaten an diese führt, wird in Anlehnung an das erste Urteil des EuGH, das diese Situation behandelte,319 als „ERT“-Situation bezeichnet. In diesem Fall beantragte der griechische Staatssender ERT (Elliniki Radiofonia Tileorasi) eine einstweilige Verfügung gegen den Oberbürgermeister von Thessaloniki und die städtische Informationsgesellschaft mit dem Inhalt, die Ausstrahlung von Sendungen der städtischen Informationsgesellschaft zu untersagen. Die ERT verfügte nämlich über ein gesetzlich übertragenes Monopol, Rundfunk- und Fernsehsendungen im gesamten griechischen Hoheitsgebiet auszustrahlen. Trotz dieses Monopols gründeten der Oberbürgermeister von Thessaloniki und die städtische Informationsgesellschaft eine private Fernsehanstalt. Der EuGH erkannte in dem griechischen Fernsehmonopol eine Verletzung der Dienstleistungsfreiheit (Art. 56 AEUV), „wenn sich dieses Monopol auf Sendungen aus anderen Mitgliedstaaten diskriminierend auswirkt und die Regelung nicht durch einen der Gründe gerechtfertigt ist, die in Artikel 56 [Art. 52 AEUV] angegeben sind, auf den Artikel 66 EWG-Vertrag [Art. 62 AEUV] verweist.“320 Die Anwendung dieser Vorgabe überlässt der EuGH jedoch dem vorlegenden Gericht. Er fügt jedoch hinzu, dass „insbesondere wenn ein Mitgliedstaat sich auf Artikel 66 [Art. 62 AEUV] in Verbindung mit Artikel 56 [Art. 52 AEUV] beruft, um eine Regelung zu rechtfertigen, die geeignet ist, die Ausübung der Dienstleistungsfreiheit zu behindern, […] diese im Gemeinschaftsrecht vorgesehene Rechtfertigung im Lichte der allgemeinen Rechtsgrundsätze und insbesondere der Grundrechte auszulegen [ist]. Die in Artikel 66 [Art. 62 AEUV] in Verbindung mit Artikel 56 [Art. 52 AEUV] vorgesehenen Ausnahmen können daher für die betreffende nationale Regelung nur dann gelten, wenn sie im Einklang mit den Grundrechten steht, deren Wahrung der Gerichtshof zu sichern hat.“321
Hieraus folgt also, dass eine mitgliedstaatliche Maßnahme, die in eine Grundfreiheit eingreift, nur dann gegenüber dem Unionsrecht gerechtfertigt sein kann, wenn sie auch im Einklang mit den Unionsgrundrechten als allgemeine Grundsätze im Sinne des Art. 6 Abs. 3 EUV stehen. 318
EuGH, Rs. C-144/04, Mangold, Slg. 2005, I-9981 Rn. 75. EuGH, Rs. C-260/89, ERT, Slg. 1991, I-2925. 320 EuGH, Rs. C-260/89, ERT, Slg. 1991, I-2925 Rn. 26. 321 EuGH, Rs. C-260/89, ERT, Slg. 1991, I-2925 Rn. 43. 319
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4. Kapitel: Einwirkungen des Primärrechts in das autonome IPR
Die Rechtsprechung des EuGH zu der „ERT“-Situation, die in den Unionsgrundrechten in der Terminologie des deutschen Verfassungsrechts eine „Schranken-Schranke“ erkennt,322 ist überzeugend. Dadurch dass eine mitgliedstaatliche Maßnahme den Schutzbereich einer Grundfreiheit berührt, gelangt sie in den Anwendungsbereich des Binnenmarktrechts. Ihre unionsrechtliche Zulässigkeit bemisst sich dabei nach den Maßstäben des Binnenmarktrechts auf der Grundlage eines geschriebenen (Art. 36, 45 Abs. 3, 52 AEUV) oder ungeschriebenen,323 vom Binnenmarktrecht vorgegebenen Rechtfertigungsgrunds. Dabei reicht eine schlichte Eignung der mitgliedstaatlichen Maßnahme, das von dem anerkannten Rechtfertigungsgrund erfasste mitgliedstaatliche Allgemeininteresse zu verwirklichen, nicht aus, um sie für binnenmarktrechtlich zulässig zu erklären. Sie muss den zusätzlichen Anforderungen des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes entsprechen und damit erforderlich für die Verwirklichung des Allgemeininteresses und im Verhältnis zur Beschränkung des binnenmarktlichen Freiverkehrs angemessen sein. Hierdurch wird deutlich, dass nicht nur der Schutzbereich des Binnenmarktrechts, sondern auch der mitgliedstaatliche Spielraum unionsrechtlich determiniert ist. Die Determinanten sind dabei die allgemeinen Grundsätze des Unionsrechts, zu denen der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit324 gehört. In gleichem Maße wie der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit begrenzen daher die Unionsgrundrechte als allgemeine Grundsätze des Unionsrechts den mitgliedstaatlichen Spielraum von Maßnahmen, die geeignet sind, den Binnenmarkt zu beeinträchtigen. Bewegt sich nämlich eine mitgliedstaatliche Maßnahme innerhalb des vom Binnenmarktrecht abgesteckten mitgliedstaatlichen Spielraums, so ist die Maßnahme im Ergebnis unionsrechtlich unbedenklich. Mit anderen Worten kann die Unionsrechtsordnung einer mitgliedstaatlichen Vorschrift nur dann die unionsrechtliche Unbedenklichkeit ausstellen, wenn sie nicht zugleich Unionsgrundrechte verletzt.325 Dies macht auch deutlich, wieso die Gegenmeinung, die die „ERT“-Rechtsprechung als unzulässigen Übergriff in die nationale Rechtssphäre kritisiert,326 fehlgreift. Sie versteht den mitgliedstaatlichen Spielraum als einen unionsgrundrechtefreien327 Raum, der den Mitgliedstaaten „im Rahmen der Aus-
322
Vgl. Haltern, Europarecht, S. 530. Vgl. EuGH, Rs. 120/78, Rewe Zentral (Cassis de Dijon), Slg. 1979, 649 Rn. 8. 324 Vgl. erstmalig EuGH, Rs. 8/55, Fédération Charbonnière, Slg. 1955/1956, 197, 311. 325 Vgl. in diesem Sinne Weiler, Fundamental Rights and Fundamental Boundaries, in: ders., The Constitution of Europe, S. 102, 121 ff. 326 Vgl. etwa Kingreen/Störmer, EuR 1998, 263, 282; Kingreen, Struktur, S. 168; Huber, EuR 2008, 190, 194; 327 Formulierung nach Kühling, in: von Bogdandy/Bast, Grundrechte, S. 657, 682. 323
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nahmeklauseln die Kompetenz belässt, nationale Besonderheiten und Interessen zu berücksichtigen.“328 Die Argumentation ist jedoch letzten Endes zirkulär.329 Zwar unterliegt die Ausfüllung des mitgliedstaatlichen Spielraums, innerhalb dessen ein Mitgliedstaat gerechtfertigterweise den Binnenmarkt beeinträchtigen darf, seinem Beurteilungsspielraum. Es ist jedoch das Unionsrecht, von dem die allgemeinen Grundsätze nach Art. 6 Abs. 3 EUV ein Teil sind, das die Grenzen dieses Spielraums determiniert. Abschließend ist im Hinblick auf die „ERT“-Situation noch festzustellen, dass bei ihr die Unionsgrundrechte als allgemeine Grundsätze des Unionsrechts im Unionsinteresse in Stellung gebracht werden. Im Falle der Beeinträchtigung von Grundfreiheiten verstärken sie das Unionsinteresse, das durch die Grundfreiheiten zum Ausdruck gebracht wird. Daher hat diese Fallgruppe in der Rechtsprechungspraxis bislang auch keine große Bedeutung erlangt. Sie wird nämlich erst dann tragend, wenn eine Rechtfertigung eines Grundfreiheiteneingriffes gelänge, der daraus sich zugleich ergebende Unionsgrundrechteverstoß jedoch nicht gerechtfertigt werden kann und so der Schutzbereich des Unionsgrundrechts über denjenigen der Grundfreiheit hinausgeht. (3) Anwendungsbereichsberührung („Karner“-Situation) In dem Urteil in der Rechtssache „Karner“330 schien der EuGH eine neue Fallgruppe einzuführen, bei der der Anwendungsbereich der allgemeinen Grundsätze des Unionsrechts eröffnet ist. Im Gegensatz zur „ERT“-Situation sollte nach diesem Urteil die Berührung des Anwendungsbereichs einer anderen Unionsrechtsnorm hierfür ausreichen. Der dieser Rechtssache zugrunde liegende Sachverhalt behandelte einen möglichen Verstoß des Konkurshinweisverbots nach § 30 des österreichischen UWG gegen die Warenverkehrsfreiheit. Der EuGH kam dabei zu dem Ergebnis, dass es sich bei § 30 des österreichischen UWG um eine unterschiedslos anwendbare Verkaufsmodalität handelt, die den Absatz inländischer Erzeugnisse und solcher aus anderen Mitgliedstaaten rechtlich wie tatsächlich in der gleichen Weise berührt und die damit in Anwendung der „Keck“-Rechtsprechung331 nicht vom Tatbestand der Warenverkehrsfreiheit erfasst ist. Mangels anderweitiger Anwendungsbereichseröffnung können daher auch keine Unionsgrundrechte als allgemeine Grundsätze des Unionsrechts zur Anwendung gelangen. Trotzdem prüfte der EuGH, obwohl der Generalanwalt dies nur für den Fall der Einordnung von § 30 des
328
Kingreen/Störmer, EuR 1998, 263, 282. Vgl. Kühling, in: von Bogdandy/Bast, Grundrechte, S. 657, 683. 330 EuGH, Rs. C-71/02, Karner, Slg. 2004, I-3025. 331 EuGH, verb. Rs. C-267/91 und C-268/91, Keck und Mithouard, Slg. 1993, I-6097 Rn. 16. 329
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österreichischen UWG als produktbezogene Modalität vorschlug,332 die Verletzung der Meinungsfreiheit als allgemeinen Grundsatz des Unionsrechts, die er im Ergebnis verneint.333 Bei dem Urteil des EuGH in der Rechtssache „Karner“ handelt es sich nicht um eine Fortschreibung der „ERT“-Situation, da die staatliche Maßnahme aufgrund der Einschlägigkeit der „Keck“-Rechtsprechung nicht in den Anwendungsbereich einer Unionsrechtsnorm wie des Art. 34 AEUV fiel, während in der „ERT“-Situation der Eingriff in die Grundfreiheit feststehen muss, bevor Unionsgrundrechte als allgemeine Grundsätze des Unionsrechts im Rahmen der Verhältnismäßigkeitsprüfung angewandt werden können. Es handelt sich vielmehr um eine neue Fallgruppe, deren Einführung nicht überzeugend ist. Es ist nicht erklärbar, wieso der Anwendungsbereich allgemeiner Grundsätze des Unionsrechts bereits bei einer Anwendungsbereichsberührung einer anderen Unionsrechtsnorm, insbesondere der Grundfreiheiten, eröffnet sein soll. Hierdurch würde in einem nicht mehr begründbaren Maß in die nationale Rechtssphäre eingegriffen. Die für die Determination des mitgliedstaatlichen Spielraums bei der Ausgestaltung von Maßnahmen, die sich auf einen geschriebenen oder ungeschriebenen Rechtfertigungsgrund berufen können, dargelegten Ausführungen sind für die vorliegende Fallgruppe nicht übertragbar. Tatbestandsbegrenzungen der Grundfreiheiten unterliegen nach der Dogmatik der Grundfreiheiten gerade keinen zusätzlichen unionsrechtlichen Anforderungen wie die Rechtfertigung. Zu dieser Überzeugung scheint der EuGH letztlich auch gelangt zu sein, da sich die Gedankenführung in der Rechtssache „Karner“ in keiner folgenden Rechtssache mehr wiederholte. Eine Anwendungsbereichsberührung anderer Unionsvorschriften ist mithin nicht ausreichend, um den Anwendungsbereich von allgemeinen Grundsätzen des Unionsrechts im Sinne des Art. 6 Abs. 3 EUV zu eröffnen.334 (4) Existenz und Umfang einer sachlichen Unionszuständigkeit In ihren Schlussanträgen zur Rechtssache „Ruiz Zambrano“335 schlug die Generalanwältin Sharpston vor, „die Verfügbarkeit des Unionsgrundrechtsschutzes weder von der unmittelbaren Anwendbarkeit einer Vertragsbestimmung noch von dem Bestehen abgeleiteter Rechtsakte, sondern von Existenz und Umfang einer sachlichen Unionszuständigkeit abhängig [zu machen]. Anders formuliert lautet die Regel: Wenn die Union die (ausschließliche oder geteilte) Zustän-
332
GA Alber, SchlA Rs. C-71/02, Karner, Slg. 2004, I-3025 Nr. 68 ff. EuGH, Rs. C-71/02, Karner, Slg. 2004, I-3025 Rn. 48 ff. 334 A.A. Lenaerts, EuR 2012, 3, 4 in Fn. 12. Scheuing, EuR 2005, 162, 175 bezeichnet das Urteil als „letztlich rätselhaft“. 335 GA Sharpston, SchlA Rs. C-34/09, Ruiz Zambrano, Slg. 2011, I-1177. 333
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digkeit in einem bestimmten Rechtsbereich besitzt, sollten die Unionsgrundrechte den Unionsbürgern Schutz bieten, selbst wenn diese Zuständigkeit noch nicht wahrgenommen wurde.“336
Damit knüpft sie an die „agency situation“ und insbesondere an die Fallgruppe der mitgliedstaatlichen Umsetzung von unionalem Sekundärrecht an. Sie verschiebt den Zeitpunkt, zu dem eine solche Situation auftreten kann, von demjenigen des Ablaufs der Umsetzungsfrist im Fall der Richtlinienumsetzung bzw. des Inkrafttretens bei unmittelbar anwendbarem Sekundärrecht auf denjenigen des Inkrafttretens der primärrechtlichen Unionszuständigkeit für den Erlass des jeweiligen Sekundärrechts. Die Generalanwältin meint, mit diesem neuen Ansatz die von ihr aufgezählten diffizilen Fallgruppen, in denen der Anwendungsbereich des Unionsrechts aus ihrer Sicht durch „fiktive oder hypothetische ‚Bezüge zum Unionsrecht‘ [konstruiert]“337 wurde, um den Anwendungsbereich der Unionsgrundrechte zu eröffnen, zu vermeiden. Sie knüpft dabei an die Eröffnung des Anwendungsbereichs des Unionsrechts im Rahmen des Diskriminierungsverbots aus Gründen der Staatsangehörigkeit in Art. 18 AEUV an, bei dem ebenfalls das Bestehen einer sachlichen Unionszuständigkeit für ausreichend erachtet wird. Die Position der Generalanwältin überzeugt beim gegenwärtigen Stand des Unionsrechts jedoch nicht. Der sehr weit gezogene Anwendungsbereich des Unionsrechts im Hinblick auf Art. 18 AEUV begründet sich zum einen damit, dass das Diskriminierungsverbot aus Gründen der Staatsangehörigkeit das „Leitmotiv“338 der Europäischen Verträge ist. Zum anderen ist Art. 18 AEUV in seinem eigenen Anwendungsbereich dadurch begrenzt, dass er ein grenzüberschreitendes Element verlangt. Eine solche Einschränkung haben der allgemeine Gleichheitssatz oder die anderen Unionsgrundrechte nicht. Der weit verstandene Anwendungsbereichs des Unionsrechts, der das Bestehen einer sachlichen Unionszuständigkeit, ohne dass diese bereits in Anspruch genommen werden musste, für die Eröffnung des Anwendungsbereichs von Art. 18 Abs. 1 AEUV ausreichen lässt, wird dadurch kompensiert, dass das Erfordernis eines grenzüberschreitenden Elements die sachliche Reichweite des Diskriminierungsverbots auf unionsrelevante Sachverhalte beschränkt. Eine solche Kompensation liegt bei den allgemeinen Grundsätzen des Unionsrechts nicht vor. Ein derart weit verstandener Anwendungsbereich des Unionsrechts zur Anwendungsbereichseröffnung der in den allgemeinen Grundsätzen des Unionsrechts enthaltenen Unionsgrundrechte würde zu einer Föderalisierung der Eu-
336 GA Sharpston, SchlA Rs. C-34/09, Ruiz Zambrano, Slg. 2011, I-1177 Nr. 163 (Hervorhebungen im Original). 337 GA Sharpston, SchlA Rs. C-34/09, Ruiz Zambrano, Slg. 2011, I-1177 Nr. 164. 338 Formulierung nach von Bogdandy, in: Grabitz/Hilf/Nettesheim, Art. 18 AEUV Rn. 1.
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ropäischen Union führen, die in den Verträgen nicht angelegt ist. Die föderalisierende Wirkung von Grundrechten hat die Verfassungsgeschichte der Vereinigten Staaten von Amerika aufgezeigt.339 Mit dem Urteil des US Supreme Courts in der Rechtssache „Gitlow/New York“340 wurde eine Bindung der Einzelstaaten der USA (incorporation) u.a. an die Meinungsfreiheit, die im Ersten Verfassungszusatz der US-Verfassung verankert ist, über die sog. „due process clause“ im 14. Verfassungszusatz hergestellt. Eine vergleichbare Föderalisierung der EU würde angesichts des aktuellen Stands des Unionsrechts einer Vertragsänderung bedürfen. Eine Ausweitung des Anwendungsbereichs des Unionsrechts auf das Bestehen einer sachlichen Unionszuständigkeit durch die Rechtsprechung würde die Grenzen der rechtsprechenden Gewalt überschreiten.341 bb) EU-Grundrechtecharta, Art. 51 GRCh Der Anwendungsbereich der EU-Grundrechtecharta wird durch Art. 51 GRCh bestimmt. Nach Art. 51 Abs. 1 S. 1 gilt die Charta für die Mitgliedstaaten „ausschließlich bei der Durchführung des Rechts der Union“. Ebenso wie die allgemeinen Grundsätze des Unionsrechts binden die in der Charta verankerten Grundrechte die Mitgliedstaaten nicht aus sich heraus. Es bedarf vielmehr einer anderweitigen Eröffnung des Anwendungsbereichs des Unionsrechts. Während der Anwendungsbereich der allgemeinen Grundsätze des Unionsrechts nach Art. 6 Abs. 3 EUV in den Konstellationen des sog. „agency situation“ und der „ERT“-Situation eröffnet ist, stellt sich die Frage, ob der Wortlaut von Art. 51 Abs. 1 S. 1 GRCh mit dem Verweis auf die „Durchführung des Rechts der Union“ zur Folge hat, dass von der GRCh lediglich die „agency situation“ erfasst ist, nicht jedoch die „ERT“-Situation Dieser Wortlaut von Art. 51 Abs. 1 GRCh hat einige Autoren dazu verleitet, den Anwendungsbereich der Grundrechtecharta enger zu fassen als denjenigen der allgemeinen Grundsätze des Unionsrechts und damit ausschließlich auf die „agency situation“ zu begrenzen.342 Diesem Verständnis stehen allerdings die Erläuterungen zur Charta der Grundrechte343 entgegen. In den Erläuterungen zu Art. 51 GRCh steht dabei wörtlich, dass im Hinblick auf die Bindung der Mitgliedstaaten „der Rechtsprechung des Gerichtshofs eindeutig zu entnehmen 339
Vgl. auch Heun, VVDStRL 61 (2002), 80, 94. US Supreme Court, Gitlow v. People of the State of New York, 268 US 652, 45 S.Ct. 625, 69 L.Ed. 1138 (1925); vgl. dazu etwa Henkin, 73 Yale Law Journal (1963), S. 74. 341 So im Ergebnis auch GA Sharpston, SchlA Rs. C-34/09, Ruiz Zambrano, Slg. 2011, I-1177 Nr. 173, die nach einem Verweis auf die föderalisierende Wirkung der Rechtsprechung des US Supreme Courts „eine unmissverständliche politische Erklärung der Mächte, aus denen sich die Union zusammensetzt (ihrer Mitgliedstaaten) in Richtung einer neuen Stellung der Grundrechte in der Union“ verlangt. 342 Vgl. etwa Huber, EuR 2008, 190, 198. 343 ABl. 2007 C 303/17. 340
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[ist], dass die Verpflichtung zur Einhaltung der im Rahmen der Union definierten Grundrechte für die Mitgliedstaaten nur dann gilt, wenn sie im Anwendungsbereich des Unionsrechts handeln.“ Zur Stützung dieser Aussage verweisen die Erläuterungen ausdrücklich auf das „Urteil vom 18. Juni 1991, Rechtssache C-260/89, ERT, Slg. 1991, I-2925“.344 Somit wollen die Erläuterungen, die unter der Verantwortung des Präsidiums des Konvents, der die Grundrechtecharta ausarbeitete, formuliert und unter der Verantwortung des Präsidiums des Verfassungskonvents aktualisiert wurden, die „Durchführung des Rechts der Union“ im Sinne des Art. 51 Abs. 1 GRCh so verstanden sehen, dass sie sowohl die „agency situation“ als auch die „ERT“-Situation erfasst.345 Die rechtliche Bedeutung der Erläuterungen stellt Art. 52 Abs. 7 GRCh klar. Hiernach sind die Erläuterungen „von den Gerichten der Union und der Mitgliedstaaten gebührend zu berücksichtigen“. Ihnen kommt damit zwar keine Rechtsqualität zu. Sie haben aber als Auslegungshilfe eine hervorgehobene Bedeutung.346 Das Verständnis von Art. 51 Abs. 1 GRCh, wonach mit der Formulierung nicht hinter den Stand der Rechtsprechung zur Bindung der Mitgliedstaaten an die Unionsgrundrechte als allgemeine Grundsätze des Unionsrechts zurückgetreten werden sollte, wird durch die Entstehungsgeschichte der Grundrechtecharta gestützt.347 Im Konvent zur Erarbeitung der Grundrechtecharta brachten wenige Mitgliedstaaten Bedenken gegenüber der EuGHRechtsprechung zum Ausdruck. Die endgültige Formulierung in Art. 51 Abs. 1 S. 1 GRCh sollte nicht zu einer Umgestaltung der Rechtslage führen.348 Der EuGH selbst hat zu dieser Frage in der Rechtssache „Akerberg Fransson“ sehr weitgehend geurteilt. Für ihn „sind keine Fallgestaltungen denkbar, die vom Unionsrecht erfasst würden, ohne dass diese Grundrechte anwendbar wären. Die Anwendbarkeit des Unionsrechts umfasst die Anwendbarkeit der durch die Charta garantierten Grundrechte.“349
Die dem EuGH vorgelegte Rechtssache behandelte die Frage, ob das in Art. 50 GRCh niedergelegte Verbot der Doppelbestrafung (ne bis in idem) Anwendung findet auf einen Sachverhalt, in dem ein Steuerschuldner für unrechtmäßig 344
Erläuterungen zur Charta der Grundrechte, ABl. 2007 C 303/17, S. 32. Ebenso EuGH, Rs. C-617/10, Akerberg Fransson, EU:C:2013:105, Rn. 20; GA Bot, SchlA Rs. C-108/10, Scattolon, Slg. 2011, I-7491 Nr. 118. Ebenso Mayer, in: Grabitz/Hilf/Nettesheim, nach Art. 6 EUV Rn. 52; Grabenwarter, EuGRZ 2004, 563, 564. Im Ergebnis ebenfalls so Scheuing, EuR 2005, 162, 186 f., der jedoch in Art. 51 Abs. 1 GRCh nur eine partielle, nicht jedoch abschließende Normierung der mitgliedstaatlichen Bindung an die GRCh sieht mit der Folge, dass eine richterrechtliche Fortentwicklung, die über den Stand der Rechtsprechung des EuGH zu den allgemeinen Grundsätze des Unionsrechts hinausgeht, mit Art. 51 Abs. 1 GRCh vereinbar wäre. 346 Vgl. Streinz/Michl, in: Streinz, Art. 52 GRCh Rn. 32. 347 Nachweise zur Entstehungsgeschichte bei Scheuing, EuR 2005, 162, 182 ff. 348 Vgl. Scheuing, EuR 2005, 162, 183. 349 EuGH, Rs. C-617/10, Akerberg Fransson, EU:C:2013:105, Rn. 21. 345
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4. Kapitel: Einwirkungen des Primärrechts in das autonome IPR
nicht gezahlte Einkommen- und Mehrwertsteuer sowohl verwaltungsrechtlich in Form einer Steuersanktion als auch strafrechtlich in Form eines Strafverfahrens zur Verantwortung gezogen werden soll. Den Anwendungsbereich des Unionsrechts sieht der EuGH zum einen durch die Mehrwertsteuerrichtlinie 2006/12/EG350 und zum anderen durch die Rechtspflicht aus Art. 325 AEUV Folge eröffnet, wonach die Mitgliedstaaten dazu verpflichtet sind, rechtswidrige Handlungen, die sich gegen die finanziellen Interessen der Union richten, zu bekämpfen. Da ein Teil der mitgliedstaatlichen Einnahmen aus der Mehrwertsteuer nach Art. 2 Abs. 1 lit. b) des Eigenmittelbeschlusses 2007/436/EG, Euratom351 ein Eigenmittel der Union darstellt, ist die Bekämpfung von Mehrwertsteuerhinterziehung auch als Durchführung der Rechtspflicht aus Art. 325 AEUV anzusehen. Trotz der sachverhaltlichen gegebenen Möglichkeit, der Frage nach der Reichweite von Art. 51 Abs. 1 S. 1 GRCh auszuweichen, erklärt der EuGH, dass seinem Verständnis zufolge, der Anwendungsbereich der Grundrechtecharta gleich weit zu ziehen ist wie derjenige der allgemeinen Grundsätze des Unionsrechts. Aus einer Gesamtschau der vorgetragenen Argumente erscheint das Verständnis von Art. 51 Abs. 1 GRCh, wonach dieser an die Rechtsprechung des EuGH zum Anwendungsbereich der allgemeinen Grundsätze des Unionsrechts anknüpft und für die Grundrechte-Charta denselben Anwendungsbereich ziehen möchte, überzeugend. Nur so lässt sich ein gespaltener EU-Grundrechteschutz mit unterschiedlichen Anwendungsbereichen der Grundrechte-Charta einerseits und der allgemeinen Grundsätze des Unionsrechts andererseits verhindern.352 3. Zusammenfassung Nur wenige unionsrechtliche Gleichheitssätze eröffnen ihren Anwendungsbereich aus sich heraus. Hierunter fallen die von den Marktgrundfreiheiten und der Unionsbürgerfreizügigkeit sachlich erfassten Ungleichbehandlungen aus Gründen der Herkunft und der Staatsangehörigkeit sowie das agrarrechtliche Diskriminierungsverbot in Art. 40 Abs. 2 UAbs. 2 AEUV, das steuerrechtliche Diskriminierungsverbot für die Warenbesteuerung in Art. 110 Abs. 1 AEUV und das Verbot von Entgeltdiskriminierungen aus Gründen des Geschlechts in Art. 157 Abs. 1 AEUV. Die sekundärrechtlichen Gleichheitssätze der Antidiskriminierungsrichtlinien verlangen mit dem Ablauf der Umsetzungsfrist keine anderweitige Anwendungsbereichseröffnung des Unionsrechts, sofern die tatbestandlich erfasste Ungleichbehandlung vom Staat ausging.353 Im Horizontalverhältnis unter Privaten sind sie bereits nicht unmittelbar anwendbar, müssen 350
ABl. 2007 L 347/1 ABl. 2007 L 163/17. 352 Vgl. Thym, NVwZ 2013, 889, 890; Weiß, EuZW 2013, 287, 289. 353 Siehe oben S. 132. 351
A. Gleichheitsrechtliche Vorgaben
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jedoch, ohne dass es einer anderweitige Anwendungsbereichseröffnung des Unionsrechts bedürfte, von den nationalen Richtern im Rahmen der richtlinienkonformen Auslegung und Rechtsfortbildung beachtet werden. Für das Familienrechtsverhältnis sind die sekundärrechtlichen Gleichheitssätze der Antidiskriminierungsrichtlinien unbeachtlich, da es dem der Rechtsetzung auf Grundlage von Art. 19 AEUV entzogenen Bereich der „Privatsphäre“ angehört.354 Die anderen unionsrechtlichen Gleichheitssätze verlangen für ihre Anwendbarkeit die anderweitige Eröffnung des Anwendungsbereichs des Unionsrechts. Ihnen kommt „eine akzessorische Funktion bei der Realisierung einer unionsrechtlichen Position“355 zu. Dabei unterscheiden die Verträge und die Rechtsprechung des EuGH zwischen dem allgemeinen Diskriminierungsverbot aus Gründen der Staatsangehörigkeit in Art. 18 Abs. 1 AEUV, den unionsrechtlichen Gleichheitssätzen als allgemeine Grundsätze des Unionsrechts im Sinne des Art. 6 Abs. 3 EUV und den unionsrechtlichen Gleichheitssätzen der GRCh. Gemeinsam ist allen akzessorisch anwendbaren unionsrechtlichen Gleichheitssätzen, dass ihr Anwendungsbereich bei der Durchführung von Unionsrecht, insbesondere bei der Richtlinienumsetzung, und im Anwendungsbereich unmittelbar anwendbarer Unionsrechtsnormen eröffnet ist. Letzteres hat die Rechtsprechung des EuGH auch für die unionsrechtlichen Gleichheitssätze der GRCh bestätigt, obwohl deren Anwendungsbereich nach Art. 51 Abs. 1 S. 1 GRCh im Hinblick auf mitgliedstaatliches Handeln wörtlich nur „bei der Durchführung des Rechts der Union“ eröffnet ist.356 Die akzessorische Anwendungsbereichseröffnung der unionsrechtlichen Gleichheitssätze unterscheidet sich jedoch bei den Anforderungen an eine unionsrechtliche Position im Anwendungsbereich von Unionskompetenzen. Während bei dem allgemeinen Diskriminierungsverbot aus Gründen der Staatsangehörigkeit hierfür ausreichend ist, dass ein Sachverhalt in den Sachbereich einer ausschließlichen oder geteilten legislativen Unionszuständigkeit fällt, ohne dass es darauf ankommt, dass die Union von ihrer Zuständigkeit Gebrauch gemacht hat,357 wird dies bei den unionsrechtlichen Gleichheitssätzen als allgemeine Grundsätze des Unionsrechts und der GRCh abgelehnt.358 Die weitgehende Anwendungsbereichseröffnung von Art. 18 Abs. 1 AEUV im Vergleich zu den anderen unionsrechtlichen Gleichheitssätzen wird damit begründet, dass dieser das „Leitmotiv der Verträge“ bildet und die Weite des Anwendungsbereichs dadurch begrenzt ist, dass ein grenzüberschreitender Sachverhalt vorliegen muss, was bei den anderen unionsrechtlichen Gleichheitssätzen nicht der Fall ist. Auf-
354
Siehe oben S. 133 ff. von Bogdandy, in: Grabitz/Hilf/Nettesheim, Art. 18 AEUV Rn. 33. 356 Siehe oben S. 152 ff. 357 Siehe oben S. 137. 358 Siehe oben S. 150 f. 355
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4. Kapitel: Einwirkungen des Primärrechts in das autonome IPR
grund dieses fehlenden grenzüberschreitenden Elements kommt daher den anderen unionsrechtlichen Gleichheitssätzen eine unitarisierende Wirkung zu, die im Widerspruch zur Rechtsnatur der Union als Verbund autonomer Rechtsordnungen steht. Die Untersuchung der Reichweite der unionsrechtlichen Gleichheitssätze hat gezeigt, dass nur wenige, sachlich eng begrenzte Gleichheitssätze aus sich heraus anwendbar sind. Die Mehrzahl der unionsrechtlichen Gleichheitssätze verlangt für ihre Anwendbarkeit die anderweitige Anwendungsbereichseröffnung des Unionsrechts. Soweit hierfür die Anwendungsbereichseröffnung der unmittelbar anwendbaren Marktgrundfreiheiten und der Unionsbürgerfreizügigkeit ausreicht, ist die Bedeutung der unionsrechtlichen Gleichheitssätze gering, da nur wenige Fälle vorstellbar sind, in denen der Schutzbereich der Gleichheitssätze über den der unmittelbar anwendbaren Unionsrechtsnormen hinausgeht. Dies dürfte insbesondere bei denjenigen Ungleichbehandlungen der Fall sein, die nach anderen Merkmalen unterscheiden als die Staatsangehörigkeit und die Herkunft (also bspw. die sexuelle Ausrichtung) und deren Wirkung auf den Schutzgegenstand einer unmittelbar anwendbaren Unionsrechtsnorm zu ungewiss und zu mittelbar ist, um einen Eingriff in diese Norm zu begründen.359 Die zweite relevante Fallgruppe umfasst die Ungleichbehandlungen im Anwendungsbereich von umsetzungspflichtigen Richtlinienbestimmungen nach Ablauf der Umsetzungsfrist. Die dritte Fallgruppe betrifft Ungleichbehandlungen im Sachbereich von Unionszuständigkeiten, die die Union noch nicht wahrgenommen hat. Die hiervon erfassten Ungleichbehandlungen sind jedoch nur solche aus Gründen der Staatsangehörigkeit. IV. Zwischenergebnis zu den gleichheitsrechtlichen Vorgaben des Unionsrechts Die gleichheitsrechtlichen Vorgaben des Unionsrechts folgen einer einheitlichen Struktur und Dogmatik. Sie sind dem allgemeinen Gleichheitssatz entlehnt. Hiernach sind Ungleichbehandlungen vergleichbarer Sachverhalte und Gleichbehandlungen nicht vergleichbarer Sachverhalte vorbehaltlich einer objektiven Rechtfertigung untersagt. Diskriminierungsverbote konkretisieren den allgemeinen Gleichheitssatz dahingehend, dass das von ihnen untersagte Differenzierungsmerkmal zum einen die Nichtvergleichbarkeit zweier Sachverhalte aufgrund dieses Merkmals ausschließt und zum anderen als Grund für die Ungleichbehandlung unzulässig ist. Zur Feststellung einer Diskriminierung ist auf die Wirkungen der Ungleichbehandlung abzustellen, so dass eine tatbestandlich nicht nach dem untersagten Merkmal unterscheidende Maßnahme dennoch eine verbotene mittelbare Diskriminierung sein kann und eine tatbestandlich differenzierende Maßnahme, die jedoch keine Ungleichbehandlung 359
Siehe dazu unten S. 182 ff.
A. Gleichheitsrechtliche Vorgaben
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bewirkt, objektiv rechtfertigbar ist. Diskriminierungsverbote sind im Gegensatz zum allgemeinen Gleichheitssatz nur auf Ungleichbehandlungen vergleichbarer Sachverhalte ausgerichtet. Es widerspräche nämlich der ausdrücklichen Untersagung einer Unterscheidung nach einem bestimmten Merkmal, wenn das Diskriminierungsverbot zugleich eine derartige Ungleichbehandlung gebieten könnte. Gleichbehandlungen nicht vergleichbarer Sachverhalte sind daher gleichheitsrechtlich nur vom allgemeinen Gleichheitssatz erfasst. Die unionsrechtlichen Gleichheitssätze unterscheiden sich nicht in ihrer Struktur, sondern nur nach dem jeweils untersagten Differenzierungsmerkmal und nach ihrem jeweiligen sachlichen Anwendungsbereich. Mit dieser Unterscheidung ist allerdings wenig gewonnen, da innerhalb ihrer jeweiligen Anwendungsbereiche die Prüfung der gleichheitsrechtlichen Vorgaben einer einheitlichen Dogmatik folgt. Relevanter ist daher eine Kategorisierung der gleichheitsrechtlichen Vorgaben entsprechend den Anforderungen für die Eröffnung des jeweiligen Anwendungsbereichs. Hiernach kann folgende Kategorisierung vorgenommen werden: 1. Eigenständige Anwendungsbereichseröffnung: Der Anwendungsbereich des unionsrechtlichen Gleichheitssatzes ist aus sich heraus eröffnet. Der Gleichheitssatz ist auf jede tatbestandlich erfasste Maßnahme anwendbar. Dies ist der Fall bei den Diskriminierungsverboten der Marktgrundfreiheiten (Art. 34, 45, 49, 56, 63 AEUV) und der Unionsbürgerfreizügigkeit (Art. 21 Abs. 1 AEUV) sowie bei Art. 40 Abs. 2 UAbs. 2 AEUV, Art. 110 Abs. 1 AEUV und Art. 157 Abs. 1 AEUV. Mit dem Ablauf der Umsetzungsfrist gehören dieser Kategorie auch die sekundärrechtlichen, unmittelbar anwendbaren Diskriminierungsverbote der Antidiskriminierungsrichtlinien an. 2. Akzessorische Anwendungsbereichseröffnung bei Durchführung des Unionsrechts: Der Anwendungsbereich des unionsrechtlichen Gleichheitssatzes verlangt, dass der Mitgliedstaat zugleich Unionsrecht durchführt. Die relevanteste Fallgruppe ist die Richtlinienumsetzung. Mit dem Ablauf der Umsetzungsfrist unterliegen auch die Nichtumsetzung und die mangelhafte Umsetzung dieser Fallgruppe. Dieser Kategorie gehören Art. 18 Abs. 1 AEUV sowie die unionsrechtlichen Gleichheitssätze der GRCh (Art. 51 Abs. 1 S. 1 GRCh) und in Form der allgemeinen Grundsätze des Unionsrechts (Art. 6 Abs. 3 EUV) an. 3. Akzessorische Anwendungsbereichseröffnung bei anderweitiger Eröffnung des Anwendungsbereichs einer unmittelbar anwendbaren Unionsrechtsnorm: Als akzessorische Absicherung einer unmittelbar anwendbaren Unionsrechtsnorm ist ein unionsrechtlicher Gleichheitssatz nur anwendbar, wenn die Maßnahmen zugleich in den Anwendungsbereich einer anderen unmittelbar anwendbaren Unionsrechtsnorm fallen. Die bedeutsamste Fallgruppe bilden Diskriminierungen, die in ihrer Wirkung zu mittelbar und zu ungewiss sind,
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4. Kapitel: Einwirkungen des Primärrechts in das autonome IPR
um geeignet zu sein, in den Tatbestand einer Marktgrundfreiheit oder der Unionsbürgerfreizügigkeit einzugreifen. Während dies nur seltene Einzelfälle bei Diskriminierungen aus Gründen der Staatsangehörigkeit betrifft, ist diese Fallgruppe bedeutsamer bei Diskriminierungen aus anderen Gründen. Dieser Kategorie gehören Art. 18 Abs. 1 AEUV sowie die unionsrechtlichen Gleichheitssätze der GRCh (Art. 51 Abs. 1 S. 1 GRCh) und in Form der allgemeinen Grundsätze des Unionsrechts (Art. 6 Abs. 3 EUV) an. 4. Akzessorische Anwendungsbereichseröffnung im Sachbereich von legislativen Unionszuständigkeiten: Der Anwendungsbereich eines unionsrechtlichen Gleichheitssatzes ist in dieser Kategorie eröffnet, wenn sich die tatbestandlich erfasste Maßnahme zugleich im Sachbereich einer ausschließlichen (Art. 3 AEUV) oder geteilten (Art. 4 AEUV) Unionszuständigkeit befindet. Dabei kommt es nicht darauf an, dass die Union bereits Gebrauch von ihrer Rechtsetzungskompetenz gemacht hat. Andernfalls läge auch ein Fall der Anwendungsbereichseröffnung durch Durchführung von Unionsrecht vor. Dieser Kategorie gehört lediglich Art. 18 Abs. 1 AEUV an. 5. Keine akzessorische Anwendungsbereichseröffnung in Fällen der lediglichen Anwendungsbereichsberührung einer anderen Unionsrechtsnorm. Diese Fallgruppe betrifft Maßnahmen, die von der „Keck“-Rechtsprechung im Rahmen der Marktgrundfreiheiten erfasst sind. Unionsrechtliche Gleichheitssätze, deren Anwendungsbereich die anderweitige Anwendungsbereichseröffnung des Unionsrechst verlangen, können nicht auf mitgliedstaatliche Maßnahmen anwendbar sein, die sich nach der „Keck“-Rechtsprechung nicht im Anwendungsbereich einer Grundfreiheit befinden.
B. Die Vorgaben der Marktgrundfreiheiten B. Vorgaben der Marktgrundfreiheiten
Die Vorgaben der Marktgrundfreiheiten erweitern und ergänzen die gleichheitsrechtlichen Vorgaben des Unionsprimärrechts an die nationalen Privatrechtsordnungen. Die Marktgrundfreiheiten enthalten selber Diskriminierungsverbote. Sie untersagen eine Unterscheidung nach der Herkunft und der Staatsangehörigkeit. Ihr Tatbestand ist enger gefasst als derjenige des Art. 18 Abs. 1 AEUV, weshalb sie diesem als lex specialis vorgehen. Im Folgenden soll nunmehr untersucht werden, ob und inwieweit die Vorgaben der Marktgrundfreiheiten über die Vorgaben der unionsrechtlichen Gleichheitssätze hinausgehen. Dabei soll zunächst ein Blick auf die Funktion der Marktgrundfreiheiten im Binnenmarktrecht geworfen werden (I.), um anhand dessen den telos der Marktgrundfreiheiten zu bestimmen. Anschließend sollen die Marktgrundfreiheiten als besondere Gleichheitssätze beleuchtet (II.) werden, bevor die Frage behandelt wird, ob die Marktgrundfreiheiten über ei-
B. Vorgaben der Marktgrundfreiheiten
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nen gleichheitsrechtlichen Gehalt hinaus auch als freiheitsrechtliche Beschränkungsverbote verstanden werden können (III.), die damit auch weitergehendere Vorgaben an die mitgliedstaatlichen Rechtsordnungen stellen als die unionsrechtlichen Gleichheitssätze. Auf dieser dogmatischen Grundlage soll die Warenverkehrsfreiheit als paradigmatische Grundfreiheit, die der EuGH in seiner Rechtsprechung als erste näher konturiert hat, im Detail untersucht werden (IV.). Als Produktfreiheit unterscheidet sich die Warenverkehrsfreiheit in ihrer Funktion von den Faktorfreiheiten der Personenfreizügigkeiten. Diese sollen daher im Anschluss mit der Warenverkehrsfreiheit abgeglichen und auf dogmatische Gemeinsamkeiten und Unterschiede hin untersucht werden (V.). Die herausgearbeiteten gemeinsamen dogmatischen Strukturen von Produktfreiheiten einerseits und Faktorfreiheiten andererseits werden abschließend mit der Dienstleistungsfreiheit abgeglichen, die als Zwittergrundfreiheit sowohl Produkt- als auch Personenverkehrsfreiheit ist und damit den idealen Prüfstein für die Tauglichkeit einer einheitlichen Dogmatik der Marktgrundfreiheiten bildet (VI.). Diese Betrachtungen erlauben die Aufstellung einer Dogmatik der Marktgrundfreiheiten und die Feststellung der über die unionsrechtlichen Gleichheitssätze hinausgehenden Vorgaben der Marktgrundfreiheiten an die mitgliedstaatlichen Rechtsordnungen (VII.). I. Funktionale Ausrichtung der Marktgrundfreiheiten auf den Binnenmarkt Die Marktgrundfreiheiten sind funktional auf die Errichtung und Gewährleistung des in Art. 3 Abs. 3 S. 1 EUV als Unionsziel aufgeführten Binnenmarktes ausgerichtet.360 Der Binnenmarkt wird von den Verträgen als ein „Raum ohne Binnengrenzen, in dem der freie Verkehr von Waren, Personen, Dienstleistungen und Kapital […] gewährleistet ist“ (Art. 26 Abs. 2 AEUV) und „ein System umfasst, das den Wettbewerb vor Verfälschungen schützt“ (Protokoll Nr. 27 über den Binnenmarkt und den Wettbewerb)361 definiert. Aus wirtschaftstheoretischer Sicht verbindet er eine Zollunion mit einer Freihandelszone, die um die Freizügigkeit der Produktionsfaktoren und die Gewährleistung von Wettbewerb erweitert ist.362 Die hieraus resultierenden Wohlfahrtssteigerungen sollten gezielt politisch eingesetzt werden, um eine grenzüber-
360
Müller-Graff, in: Dauses, Handbuch des EU-Wirtschaftsrechts, A. I., Rn. 128 ff., 132. ABl. 2010 C 38/309. 362 Vgl. Repasi, in: EnzEuR Bd. 4, § 25 Rn. 17 ff. 361
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4. Kapitel: Einwirkungen des Primärrechts in das autonome IPR
schreitende Integration souveräner Staaten durch Schaffung eines Binnenmarktes zu erreichen.363 Nach der gescheiterten politischen Integration souveräner Staaten364 sollte eine Integration der Staatsbürger versucht werden. Indem der Staatsbürger durch die fortschreitende grenzüberschreitende wirtschaftliche Verflechtung im Binnenmarkt aus seinem nationalstaatlichen Referenzrahmen herausgelöst und als Marktbürger einem neuen europäischen Referenzrahmen zugeführt wird, soll eine derartige Integration der Bürger erreicht werden, dass die Abgabe von staatlicher Souveränität an die europäische Ebene zu einer Handlungsnotwendigkeit für die souveränen Staaten wird. Damit soll über den Umweg der Wirtschaftsintegration letztlich eine politische Integration erfolgen. Neben den ökonomischen Wohlfahrtseffekten des Binnenmarktes, die dessen langfristige Akzeptanz durch die Staatsbürger und durch die in ihm verbundenen souveränen Staaten sichern sollen, setzt die Marktintegration auf den gesellschaftsstiftenden Effekt des sich privatautonom vollziehenden Marktgeschehens.365 Dieser Effekt baut auf dem Gedanken auf, dass durch „vielfältige einzelne, privatautonom geknüpfte und verantwortete, dem wechselseitigen Vorteil dienende, grenzüberschreitende Geschäfts- und Arbeitskontakte“366 ein stets wachsendes und sich verdichtendes Geflecht von Verbindungen der einzelnen Unionsbürger untereinander entsteht, das stärker identitätsstiftend und damit gesellschaftsbildend wirkt als es durch die klassische intergouvernementale Kooperation souveräner Staaten möglich ist. Den Grundfreiheiten kommt auch die Aufgabe zu, Freiräume zu schaffen, in denen sich die gesellschaftsstiftende und damit integrationsfördernde Kraft grenzüberschreitender Privatautonomie ausbreiten kann.367
363 Müller-Graff, in: FS Kirchhof Bd. I, § 101, S. 1079 Rn. 14 mit Verweis auf Monnet, Mémoires, S. 348 ff.; Adenauer, Erinnerungen 1945–1953, S. 327 ff.; Hallstein, Die Europäische Gemeinschaft, S. 27 ff. 364 Das Scheitern der Europäischen Verteidigungsgemeinschaft (EVG) in der französischen Assemblée Nationale im Jahr 1954 führte dazu, die Pläne für die Errichtung einer Europäischen Politischen Gemeinschaft (EPG) nicht mehr weiterzuverfolgen, vgl. dazu im Detail Berthold, Die Europäische Politische Gemeinschaft (EPG) 1953 und die Europäische Union (EU), passim. 365 Dazu Müller-Graff, in: von der Groeben/Schwarze/Hatje, Art. 34 AEUV Rn. 4, ders., in: Müller-Graff/Roth, Recht und Rechtswissenschaft, Die Europäische Privatrechtsgesellschaft in der Verfassung der Europäischen Union, S. 271, 281 ff.; ders., in: Riesenhuber, Das Prinzip der Selbstverantwortung, § 7 Europarechtliche Grundlagen, S. 139, 153 ff.; ders., in: FS Kirchhof Bd. I, § 101, S. 1079 Rn. 15. 366 Müller-Graff, in: Müller-Graff/Roth, Recht und Rechtswissenschaft, Die Europäische Privatrechtsgesellschaft in der Verfassung der Europäischen Union, S. 271, 283. 367 Müller-Graff, in: Müller-Graff/Roth, Recht und Rechtswissenschaft, Die Europäische Privatrechtsgesellschaft in der Verfassung der Europäischen Union, S. 271, 284.
B. Vorgaben der Marktgrundfreiheiten
161
1. Ökonomischer Zweck des Binnenmarktes368 Die ökonomische Vorteilhaftigkeit von Freihandel baut auf der von dem klassischen Ökonomen David Ricardo entwickelten Theorie der komparativen Kostenvorteile369 auf. Mit dieser Theorie weist Ricardo nach, dass der Abbau von Handelshemmnissen zwischen nationalen Volkswirtschaften zu einem Wohlfahrtsgewinn für alle Beteiligten führt, selbst wenn alle absoluten Kostenvorteile bei nur einem Beteiligten liegen. Dieser Wohlfahrtsgewinn gründet auf der Spezialisierung von nationalen Volkswirtschaften auf solche Produkte, die sie im Verhältnis zu anderen Produkten innerhalb der eigenen Produktionsstrukturen am effizientesten herstellen können, und dem Außenhandel mit diesen Produkten, der ohne eine arbeitsteilige Zusammenarbeit von nationalen Volkswirtschaften nicht entstanden wäre. Betrachtet man in Erweiterung der Theorie der absoluten Kostenvorteile370 nicht nur die Kosten zur Herstellung eines Produktes im Verhältnis zu den hierfür aufgewandten Arbeitseinheiten, sondern auch die Opportunitätskosten, d.h. die Kosten der alternativen Verwendung der aufgewandten Arbeitseinheiten für die Herstellung anderer Produkte, so liegen die komparativen Kostenvorteile einer nationalen Volkswirtschaft bei denjenigen Produkten, bei deren Herstellung die Opportunitätskosten am geringsten sind. Spezialisieren sich nun die an einem Binnenmarkt beteiligten nationalen Volkswirtschaften auf die Herstellung des Produktes mit den für sie jeweils geringsten Opportunitätskosten, führt dies zunächst zu einer Überproduktion des spezialisierten Gutes und zu einer Unterproduktion der anderen Güter. Im Binnenmarkt werden aus den jeweiligen Überproduktionen der anderen beteiligten nationalen Volkswirtschaften die entstandenen Unterproduktionen ausgeglichen. Aufgrund der durch die Arbeitsteilung entsprechend der komparativen Kostenvorteile gesteigerten Produktion verbleiben nach dem marktinternen Ausgleich immer noch genügend Güter, die wohlfahrtssteigernd in den Außenhandel mit Drittstaaten gegeben werden können. Hieraus wird deutlich, dass der Wohlfahrtsgewinn umso höher ausfällt, je geringer die Hemmnisse auf dem Binnenmarkt für den freien Handel mit Gütern und Dienstleistungen sind. Die Wohlfahrtssteigerung erfolgt dabei nicht nur bei Spezialisierung auf einen Produktionssektor und Freihandel in einem Binnenmarkt (inter-industriell). Der Abbau von Handelshemmnissen führt auch dazu, dass sich der Markt innerhalb desselben Produktionssektors (intra-industriell) erweitert. Die sog. „Economies of Scale“ machen dabei deutlich, wie diese Markterweiterung 368
Die folgende Darstellung entspricht teilweise Repasi, EnzEuR Bd. 4, § 25 Rn. 18 ff. Ricardo, On the Principles of Political Economy and Taxation, 1817; vgl Ribhegge, Europäische Wirtschafts- und Sozialpolitik, S. 14 ff. 370 Begründet von Smith, An Inquiry into the Nature And Causes of the Wealth of Nations, 1776. 369
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4. Kapitel: Einwirkungen des Primärrechts in das autonome IPR
wohlfahrtssteigernd wirkt.371 Hiernach führt eine Marktintegration zu einer potenziell um die im Binnenmarkt hinzugekommenen Volkswirtschaften erhöhten Nachfrage an einem produzierten Gut, weshalb ein Unternehmen die Produktionszahlen erhöhen kann. Da die Fixkosten für eine Produktion ungeachtet der Anzahl an produzierten Gütern immer gleich hoch sind, bedeutet eine erhöhte Produktion, dass die Fixkosten pro produziertem Gut bis zum Erreichen der Kapazitätsgrenze sinken und damit der Gewinn bei erhöhtem Absatz und gleichbleibenden Preisen durch Marktintegration steigt. Diese erhöhten Absatzchancen auf den durch die Marktintegration zunächst einmal nur geographisch erweiterten Absatzmärkten liegen darin begründet, dass trotz einer bestehenden Produktion eines Gutes in einer dem Binnenmarkt angehörenden nationalen Volkswirtschaft die Verbraucher Interesse an Variationen dieses Gutes haben.372 Die Wohlfahrtssteigerung der Marktintegration besteht somit in der relativ kostengünstigeren Produktion eines Gutes und in einer Erhöhung der Produktvielfalt für den Verbraucher. Zu einem Binnenmarkt wird die Freihandelszone, wenn sie nicht nur den freien Verkehr von Gütern und Dienstleistungen gewährleistet, sondern auch die grenzüberschreitende Mobilität der Produktionsfaktoren Arbeit und Kapital herstellt. Die wohlfahrtssteigernde Notwendigkeit wird deutlich, wenn man die Theorie des komparativen Kostenvorteils im Sinne des Heckscher-Ohlin-Theorems weiterdenkt.373 Hiernach erfolgt die Spezialisierung von Volkswirtschaften entlang von Produktionsfaktoren, die in diesem Land reichlich vorhanden sind und für die Herstellung bestimmter Produkte intensiv eingesetzt werden können. Die Spezialisierung führt zu einer steigenden Nachfrage nach den Produktionsfaktoren, was aufgrund der Knappheit der in einer Volkswirtschaft vorhandenen Produktionsfaktoren zu steigenden Faktorpreisen führt. Zugleich bewirkt die Spezialisierung, dass ungenutzte Produktionsfaktoren größer werden. In einem Land, das sich auf die Herstellung eines kapitalintensives Produktes spezialisiert, führt dies zu steigenden Zinsen beim nachgefragten Produktionsfaktor Kapital und zu sinkenden Löhnen oder erhöhter Arbeitslosigkeit beim Produktionsfaktor Arbeit. Während in dem anderen Land, das sich auf die Herstellung eines arbeitsintensiven Produktes spezialisiert, die genau umgekehrte Faktorpreisentwicklung eintritt. Diese Situation müsste zu einer grenzüberschreitenden Wanderbewegung von Produktionsfaktoren führen, um einen Faktorpreisausgleich zu erreichen. Eröffnet mithin der gemeinsame Markt die Mobilität der Produktionsfaktoren und baut Mobilitätshemmnisse
371
Krugman, American Economic Review 70 (1980), S. 950 ff. Vgl. Dixit/Stiglitz, American Economic Review 67 (1977), S. 297 ff. 373 Vgl. Krugman/Obstfeld/Melitz, Internationale Wirtschaft, S. 138 ff. 372
B. Vorgaben der Marktgrundfreiheiten
163
ab, sinken die Faktorpreise in den spezialisierten Volkswirtschaften, was eine Steigerung der Gesamtwohlfahrt in dem Binnenmarkt zur Folge hat.374 Begründen die Theorie des komparativen Kostenvorteils und die „Economies of Scale“ erst einmal die wohlfahrtssteigernden Vorteile von Freihandel und das Faktorausgleichstheorem diejenigen der Faktormobilität, tritt beim Binnenmarkt hinzu, dass er zusätzlich zur Freihandelszone eine Zollunion ist. Die Zollunion schafft die Zölle zwischen den an ihr beteiligten Volkswirtschaften ab und legt zugleich einen gemeinsamen Außenzoll gegenüber Drittstaaten fest. Eine Zollunion ist zusätzlich zum Freihandel für die an ihr beteiligten Volkswirtschaften wohlfahrtssteigernd, wenn sie zu einer Handelsschaffung führt.375 Eine handelsschaffende Wirkung besteht, wenn die in einer Volkswirtschaft zu höheren Kosten produzierten Güter aufgrund des Wegfalls der Binnenzölle nunmehr zu niedrigeren Kosten aus einer anderen an der Zollunion beteiligten Volkswirtschaft bezogen werden. Somit können die Kostenvorteile der jeweiligen Volkswirtschaft innerhalb der Zollunion vollständig ausgenutzt werden. Vermieden werden sollte bei der Festsetzung des Außenzolls eine wohlfahrtsschwächende Handelsumlenkung, die beim Wegfall der Binnenzölle eintritt, wenn der Import von kostengünstigeren Gütern aus Drittstaaten nunmehr durch den Import von Gütern aus Volkswirtschaften innerhalb der Zollunion ersetzt wird. In diesem Fall entsteht die Wettbewerbsfähigkeit der Güter innerhalb der Zollunion nämlich ausschließlich aufgrund des Wegfalls der Binnenzölle und die importierende Volkswirtschaft erleidet Einnahmeverluste aufgrund der fehlenden Zolleinnahmen.376 Der Binnenmarkt kann daher als eine Zollunion begriffen werden, innerhalb derer der freie Handel mit Waren und Dienstleistungen gewährleistet ist und die Produktionsfaktoren eine umfassende Freizügigkeit genießen, um dadurch die pareto-optimale Allokation von Ressourcen innerhalb des Marktes zu erreichen. Ein funktionierender Binnenmarkt führt dabei zu Wohlfahrtssteigerungen für die an ihm beteiligten nationalen Volkswirtschaften. 2. Schlussfolgerungen für den rechtlichen Binnenmarktbegriff Die rechtlichen Konsequenzen, die sich aus der wirtschaftstheoretischen Grundierung des Binnenmarktbegriffes ergeben, lassen sich plakativ mit der Gewährleistung von Marktfreiheit, Marktgleichheit und des Systems unverfälschten Wettbewerbs beschreiben.377 Während die Gewährleistung des Systems unverfälschten Wettbewerbs durch die Wettbewerbsregeln in Art. 101 ff. AEUV 374 Vgl. Nienhaus, Europäische Integration, in: Apolte et al., Vahlens Kompendium der Wirtschaftstheorie und Wirtschaftspolitik, S. 615, 622 ff. 375 Vgl. Krugman/Obstfeld/Melitz, Internationale Wirtschaft, S. 346. 376 Vgl. Krugman/Obstfeld/Melitz, Internationale Wirtschaft, S. 346 a.E. 377 Grabitz, FS Ipsen, S. 645, 646 ff.; ders., FS Steindorff, S. 1229, 1234 ff.; Hoffmann, Grundfreiheiten, S. 41 ff.
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4. Kapitel: Einwirkungen des Primärrechts in das autonome IPR
und der Fusionskontrollverordnung378 realisiert wird,379 adressieren die Marktfreiheit und die Marktgleichheit die Grundfreiheiten und die binnenmarktfinale Rechtsangleichung. Der Binnenmarkt ist sowohl nach seinem wirtschaftstheoretischen Verständnis als auch nach seinem rechtlichen Leitbild in Art. 26 Abs. 2 AEUV kein einheitlich zu verstehender Markt, sondern eine erweiterte Freihandelszone, die nationale Teilmärkte in besonders enger Weise miteinander verflechtet. Verlangt wird zweierlei: Zum einen darf aus der Sicht der geschützten Waren und Dienstleistungen sowie der Personen und des Kapitals kein Unterschied zwischen dem Zugang zum heimischen Teilmarkt und zum ausländischen nationalen Teilmarkt bestehen. Zum anderen müssen sich ausländische Produkte und Produktionsfaktoren auf dem inländischen nationalen Teilmarkt unter den gleichen Bedingungen bewegen können wie vergleichbare inländische Produkte und Produktionsfaktoren. a) Marktfreiheit Marktfreiheit bezieht sich zunächst auf den Markt als den Ort, der Anbieter und Nachfrager eines Gutes zusammenführt. Unter Nutzung des Preismechanismus sollen hier die Verkaufspläne der Anbieter mit den Kaufplänen der Nachfrager zusammengeführt werden.380 Der Erfolg auf dem Markt bemisst sich in der Konsumentenrente, die die Differenz zwischen der individuellen Werteinschätzung des Nachfragers und dem gezahlten Marktpreis ausdrückt, und der Produzentenrente, die die Differenz zwischen den Grenzkosten der Produktion und dem erzielten Marktpreis ausdrückt.381 Die Konsumenten- und die Produzentenrente verringern sich in diesem Idealbild bei Eingriffen von außen in den freien Preisbildungsmechanismus auf dem Markt. Daher bedeutet Marktfreiheit zunächst einmal die Abwesenheit von Markteingriffen. Die so verstandene absolute Marktfreiheit trifft im Binnenmarkt allerdings auf den Fortbestand der mitgliedstaatlichen Teilmarktordnungen. Es kann sich daher bei der Marktfreiheit im Kontext des Binnenmarktes nur um eine modifizierte Marktfreiheit handeln. Der Binnenmarkt wird von Art. 26 Abs. 2 AEUV als „Raum ohne Binnengrenzen“ verstanden. Marktfreiheit bedeutet da-
378
Verordnung (EG) Nr. 139/2004 über die Kontrolle von Unternehmenszusammenschlüssen, ABl. 2004 L 24/1. 379 Näher zur Unterscheidung von Wettbewerbsregeln und Grundfreiheiten im Hinblick auf ihre Funktion zur Realisierung des Binnenmarktziels: Mühl, S. 139 ff.; Hoffmann, Grundfreiheiten, S. 99 f.; Grabitz, FS Ipsen, S. 645, 646 f. 380 Vgl. Bofinger, Grundzüge der Volkswirtschaftslehre, S. 14. 381 Vgl. Bofinger, Grundzüge der Volkswirtschaftslehre, S. 74 f.
B. Vorgaben der Marktgrundfreiheiten
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her im Binnenmarktkontext die Gewährleistung eines behinderungsfreien Zugangs zu den Binnenmarkt konstituierenden nationalen Teilmärkten.382 Die so verstandene Marktfreiheit nimmt daher die Perspektive des freizügigkeitsberechtigten Produkts bzw. des freizügigkeitswilligen Produktionsfaktors vor dem Grenzübertritt ein. Die Marktfreiheit ist beeinträchtigt durch Behinderungen, die den Produkten und Produktionsfaktoren beim Grenzübertritt entgegenstehen. Sie setzt damit am Marktzugang an und will die „grenzüberschreitende Wahrnehmung der Privatautonomie“383 gewährleisten. Sie zielt somit auf die Abschaffung grenzübertrittsspezifischer Behinderungen.384 Sie kann daher auch nicht mit einer allgemeinen wirtschaftlichen Handlungsfreiheit gleichgesetzt werden.385 b) Marktgleichheit Marktgleichheit bedeutet die Gewährleistung gleicher Marktbedingungen auf dem nationalen Teilmarkt für ausländische und vergleichbare inländische Marktteilnehmer. Ihre Funktion ist, Wettbewerbsneutralität innerhalb der Ordnung des Binnenmarktes zu erreichen.386 Ihre Bezugsgröße ist die nationale Teilmarktordnung und der Binnenmarkt zugleich. Marktgleichheit verlangt damit sowohl Wettbewerbsneutralität innerhalb der jeweiligen nationalen Teilmarktordnung als auch Homogenität der jeweiligen nationalen Teilmarktordnungen innerhalb des sie vereinenden Binnenmarktes. Gleiche Marktbedingungen können nämlich auf zweierlei Weise erreicht werden: Durch Gleichstellung ausländischer Marktteilnehmer und Produkte mit vergleichbaren inländischen Marktteilnehmern und Produkten auf den nationalen Teilmärkten oder durch Festlegung eines binnenmarkteinheitlichen Regelungsstandards, auf den sowohl die ausländische als auch die inländische Marktordnung verpflichtet ist. Hieraus wird die Problematik bei der Bestimmung der Vorgaben der Marktgleichheit für die Bestimmung des Gewährleistungsgehalts des Binnenmarktrechts deutlich.387 Die erste Dimension nimmt auf das mitgliedstaatliche Recht Bezug, prüft, ob der grenzüberschreitende Sachverhalt gegenüber dem vergleichbaren innerstaatlichen Sachverhalt benachteiligt wird, und untersagt unmittelbare und mittelbare Diskriminierungen. Die zweite Dimension nimmt auf den einen Binnenmarkt Bezug, der über den nationalen Teilmarktordnungen
382 Vgl. Forsthoff, in: Grabitz/Hilf/Nettesheim, Art. 45 AEUV Rn. 5; Mühl, Diskriminierung und Beschränkung, S. 130; Hoffmann, Grundfreiheiten, S. 44. 383 Müller-Graff, in: von der Groeben/Schwarze/Hatje, Art. 34 AEUV Rn. 7. 384 Hoffmann, Grundfreiheiten, S. 44; Grabitz, FS Steindorff, S. 1229, 1234 f. 385 Vgl. Basedow, Wirtschaftsverfassung, S. 33. 386 Mühl, Diskriminierung und Beschränkung, S. 137; Hoffmann, Grundfreiheiten, S. 44; Grabitz, FS Ipsen, S. 645, 646 f. 387 Vgl. Hoffmann, Grundfreiheiten, S. 45 ff.
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stehende Prinzipien festlegt, und prüft, ob die nationale Teilmarktordnung damit im Einklang steht. Die unmittelbar anwendbaren, mit Anwendungsvorrang gegenüber entgegenstehendem nationalen Recht ausgestatteten Marktgrundfreiheiten können aufgrund ihrer negativen Wirkung lediglich die erste Dimension der Marktgleichheit ausfüllen.388 Ihre Verletzung führt zur Unanwendbarkeit der rechtlichen Vorgabe auf dem nationalen Teilmarkt im Hinblick auf den grenzüberschreitenden Sachverhalt. Der Marktgrundfreiheit ist aber kein positiver Regelungsgehalt dergestalt entnehmbar, welche rechtlichen Vorgaben an die Stelle des unanwendbaren nationalen Rechts treten. Vor diesem Hintergrund wird der Unterschied der Marktgleichheit zur Marktfreiheit deutlich. Die Marktfreiheit stellt auf die Bedingungen ab, zu denen ein Produkt oder ein Produktionsfaktor auf seinem heimischen Markt Zugang hat, und verlangt, dass ein diesen Bedingungen genügendes Produkt oder genügender Produktionsfaktor Zugang zu sämtlichen dem Binnenmarkt angehörenden Teilmärkten erhält. Die Marktgleichheit betrachtet hingegen die Bedingungen, die für vergleichbare inländische Produkte und Produktionsfaktoren auf den nationalen Teilmärkten gelten. Marktgleichheit ist somit der Marktfreiheit nachgelagert. Beide bilden aber die konstitutiven Elemente der Teilmarktöffnung, die durch die Grundfreiheiten im Wege der negativen Integration erreicht werden soll.389 Die zweite Dimension der Marktgleichheit verlangt eine positivrechtliche Ausfüllung. Sie kann nur im Wege der Rechtsangleichung auf der Grundlage der Union hierfür übertragener Rechtsetzungskompetenzen, insbesondere auf Grundlage der Art. 114 f. AEUV, verwirklicht werden.390
388
Siehe zur sog. „negativen Integration“ oben S. 71 f. A.A. Grabitz, FS Ipsen, S. 645, 646 f., der die Grundfreiheiten lediglich der Funktion der Marktfreiheit zuordnet. Dagegen Mühl, Diskriminierung und Beschränkung, S. 137; Hoffmann, Grundfreiheiten S. 43. 390 Vgl. Mühl, Diskriminierung und Beschränkung, S. 138; tendenziell anders Hoffmann, Grundfreiheiten, S. 46 ff., der die zweite Dimension der Marktgleichheit auch durch die Marktgrundfreiheiten für verwirklichbar hält, indem diese Binnenmarkthomogenität simulieren. Eine solche Simulation von Binnenmarkthomogenität ist für ihn gegeben, wenn ein auf dem Binnenmarkt zirkulierendes Produkt oder zirkulierender Produktionsfaktor entweder seine Herkunftsrechtsordnung in das Zielland mitnimmt oder sich, praktisch in vorauseilendem Gehorsam, im Herkunftsstaat bereits den Bedingungen der Zielrechtsordnung unterwirft. Die hiermit aufgeworfene Frage ist jedoch besser bei der Marktfreiheit angesiedelt. Sie nimmt auf die rechtlichen Bedingungen vor dem Grenzübertritt Bezug, während die Marktgleichheit die rechtlichen Bedingungen nach dem Grenzübertritt betrachtet. Die „Mitnahme“ der Herkunftsrechtsordnung nach den Grenzübertritt, die nach vorliegendem Verständnis der Marktgleichheit zugeordnet wäre, ist lediglich die Folge des negativen Anwendungsvorrangs der Marktgrundfreiheiten, wonach das Recht der Zielrechtsordnung unangewendet bleiben muss mit der Konsequenz, dass sich die rechtlichen Bedingungen der Herkunftsrechtsordnung im Ergebnis durchsetzen. Dadurch simuliert die Marktgleichheit aber 389
B. Vorgaben der Marktgrundfreiheiten
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c) Bedeutung für die Bestimmung des Gewährleistungsgehalts der Marktgrundfreiheiten Die Marktfreiheit stellt auf das freizügigkeitsberechtigte Produkt und den freizügigkeitsberechtigten und -willigen Produktionsfaktor unter den Bedingungen ihrer jeweiligen Herkunftsrechtsordnung ab. Ihnen soll durch die Marktfreiheit der Marktzugang zu sämtlichen Teilmärkten des Binnenmarktes gewährleistet werden. Die Marktgleichheit verlangt, sobald ein Produkt oder Produktionsfaktor den nationalen Teilmarkt betreten hat, dass beide sich auf dem nationalen Teilmarkt im Verhältnis zu vergleichbaren inländischen Produkten oder Produktionsfaktoren zu denselben oder zumindest nicht zu nachteilhafteren Bedingungen bewegen dürfen. Während die Marktfreiheit somit absolut wirkt, wirkt die Marktgleichheit relativ.391 II. Marktgrundfreiheiten als besondere Gleichheitssätze Die Marktgrundfreiheiten beinhalten besondere Gleichheitssätze in Form von Diskriminierungsverboten aus Gründen der Staatsangehörigkeit392 und der Produktherkunft.393 Diese besonderen Gleichheitssätze sind in ihrem sachlichen Anwendungsbereich auf den grenzüberschreitenden Verkehr von Waren, Dienstleistungen und Kapital394 und die grenzüberschreitende Freizügigkeit von Arbeitnehmern, Selbstständigen und Gesellschaften395 beschränkt. Sie gehen als leges speciales sowohl dem allgemeinen Gleichheitssatz als auch dem allgemeinen Diskriminierungsverbot aus Gründen der Staatsangehörigkeit als lex generalis vor. Dieser Befund stützt sich zum einen auf den Wortlaut der Arbeitnehmerfreizügigkeit (Art. 45 Abs. 2 AEUV), wonach die „Abschaffung jeder auf der Staatsangehörigkeit beruhenden unterschiedlichen Behandlung der Arbeitnehmer“ verlangt wird, der Niederlassungsfreiheit (Art. 49 Abs. 2 AEUV), wonach den Grundfreiheitenberechtigten die Niederlassung „nach den Bestimmungen des Aufnahmestaates für seine eigenen Angehörigen“ zu gewähren ist, und der Dienstleistungsfreiheit (Art. 57 Abs. 3 AEUV), wonach die Dienstleis-
keine Binnenmarkthomogenität im Wege des Imports von ausländischen Regeln. Es handelt sich lediglich um die Rechtsfolge der Suspensivwirkung des Anwendungsvorrangs. 391 Vgl. Mühl, Diskriminierung und Beschränkung, S. 142. 392 Art. 45 Abs. 2 AEUV (Arbeitnehmerfreizügigkeit), Art. 49 AEUV (Niederlassungsfreiheit), Art. 56 AEUV (Niederlassungsfreiheit). 393 Art. 34 AEUV (Warenverkehrsfreiheit), Art. 56 AEUV (Dienstleistungsfreiheit), Art. 63 AEUV (Kapitalverkehrsfreiheit). 394 Art. 34 AEUV (Warenverkehrsfreiheit), Art. 56 AEUV (Dienstleistungsfreiheit), Art. 63 AEUV (Kapitalverkehrsfreiheit). 395 Art. 45 AEUV (Arbeitnehmerfreizügigkeit), Art. 49 AEUV (Niederlassungsfreiheit).
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tungserbringung in einem anderen Mitgliedstaat als demjenigen der Staatsangehörigkeit des Dienstleistungserbringers „unter den Voraussetzungen, welche dieser Mitgliedstaat für seine eigenen Angehörigen vorschreibt“, erfolgt. Zum anderen legte die frühere Rechtsprechung des EuGH die Grundfreiheiten als Diskriminierungsverbote aus.396 Erfasst sind somit von den Marktgrundfreiheiten im Rahmen ihres jeweiligen sachlichen Anwendungsbereichs unmittelbare Diskriminierungen aus Gründen der Staatsangehörigkeit und der Herkunft. Ebenso sind mittelbare Diskriminierungen erfasst, bei denen der Tatbestand der betroffenen Maßnahme nicht nach den Differenzierungsmerkmalen Staatsangehörigkeit und Herkunft differenziert, deren Rechtsfolge allerdings dazu geeignet ist, sich tatsächlich oder aufgrund einer typisierenden Betrachtungsweise im Verhältnis zu vergleichbaren inländischen Produkten oder Produktionsfaktoren in benachteiligender Weise auf ausländische Produkte und Produktionsfaktoren auszuwirken. Als besondere Ausformungen des Diskriminierungsverbots aus Art. 18 Abs. 1 AEUV verlangen die Marktgrundfreiheiten, dass bei einer von ihnen erfassten mittelbaren Diskriminierung ein spezifischer Zusammenhang der unterschiedslos anwendbaren Maßnahmen mit den verbotenen Differenzierungsmerkmalen Staatsangehörigkeit und Herkunft vorliegt. III. Marktgrundfreiheiten als freiheitsrechtliche Beschränkungsverbote Die entscheidende Frage in der Dogmatik der Grundfreiheiten ist die nach ihrer freiheitsrechtlichen Dimension als Beschränkungsverbote: Haben die Grundfreiheiten einen über ein weit verstandenes Diskriminierungsverbot, das mittelbare Diskriminierungen erfasst, hinausgehenden freiheitsrechtlichen Gehalt, in einem nationalen Teilmarkt unterschiedslos geltende Maßnahmen ähnlich einem Grundrecht zu untersagen?397 Eine zutreffende Antwort auf diese Frage lässt sich erst geben, wenn man definiert hat, unter welchen Voraussetzungen eine Maßnahme nicht mehr als eine mittelbare Diskriminierung zu verstehen ist und deshalb nur dann von den Grundfreiheiten erfasst ist, wenn es sich bei ihnen um Beschränkungsverbote handelt.
396 Vgl. etwa für Arbeitnehmerfreizügigkeit: EuGH, Rs. 1/78, Kenny, Slg. 1978, 1489 Rn. 18/20; für die Niederlassungsfreiheit: EuGH, Rs. 2/74, Reyners, Slg. 1974, 631 Rn. 24/28; für die Dienstleistungsfreiheit: EuGH, Rs. 15/78, Koestler, Slg. 1978, 1971 Rn. 5. 397 Vgl. Tietje, in: Ehlers, § 10 Rn. 56 Fn. 138.
B. Vorgaben der Marktgrundfreiheiten
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1. Marktgrundfreiheiten sind nicht ausschließlich Gleichheitssätze a) Begründungsansätze für ein gleichheitsrechtliches Verständnis der Marktgrundfreiheiten Nach einer in der Literatur vertretenen Ansicht398 sind die Marktgrundfreiheiten lediglich als Diskriminierungsverbote zu verstehen. Diese Ansicht baut auf einer kategorialen Unterscheidung von Unionsrechtsnormen als Normen der transnationalen Integration einerseits und als Normen der supranationalen Legitimation andererseits auf.399 aa) Marktgrundfreiheiten als transnationale Integrationsnormen Aufgabe der transnationalen Integration ist es, die Hemmnisse abzubauen, die sich aus der Existenz nebeneinander gleichrangig fortbestehender souveräner Rechtsordnungen ergeben, wenn eine Person über die Grenzen einer dieser Rechtsordnungen hinausgehend tätig sein möchte oder ein Produkt über die Grenzen dieser Rechtsordnung hinausgehend vertrieben werden soll. Solche Hemmnisse entstehen aufgrund von sog. „föderalen Gefährdungslagen“, die sich dadurch auszeichnen, dass in föderal gegliederten Mehrebenensystemen die Gliedstaaten ihre eigenen Angehörigen gegenüber den grenzüberschreitend Tätigen bevorzugen.400 Der grenzüberschreitend Tätige kann sich dann auf eine transnationale Integrationsnorm berufen, um die Bevorzugung des Gliedstaates dadurch zu egalisieren, dass die Zugehörigkeit zu dem Gliedstaat als Differenzierungsmerkmal aufgehoben wird. Transnationale Integrationsnormen sind mithin Diskriminierungsverbote. Sie legen den rechtlichen Standard für die Behandlung eines bestimmten Sachverhalts nicht selbst fest, sondern überlassen dies dem jeweiligen Gliedstaat, verlangen aber die Gleichbehandlung von vergleichbaren Sachverhalten. Im Gegensatz dazu dienen supranationale Legitimationsnormen der Legitimation der supranationalen Unionshoheitsgewalt. Sie wollen nicht lediglich die Rechtsnormen souveräner Gliedstaaten koordinieren, sondern definieren den rechtlichen Standard auf supranationaler Ebene selbst.401 Verstanden als supranationale Legitimationsnormen würden die Marktgrundfreiheiten hiernach „vor allen unverhältnismäßigen Beschränkungen grenzüberschreitender Transaktionen schützen“.402 Es kommt bei ihnen darauf an, ob die inländischen Transaktionen derselben Beschränkung unterliegen. Die Belastung der grenz-
398 Vgl. etwa Kingreen, Struktur, S. 115 ff.; Englisch, Wettbewerbsgleichheit, S. 234 ff.; Jarass, in: FS Everling, S. 593; Bernard, ICLQ 45 (1996), 82. 399 Vgl. Kingreen, in: von Bogdandy/Bast, Grundfreiheiten, S. 705, 725 f. 400 Vgl. Kingreen, in: von Bogdandy/Bast, Grundfreiheiten, S. 705, 719. 401 Vgl. Kingreen, in: von Bogdandy/Bast, Grundfreiheiten, S. 705, 726. 402 Kingreen, in: von Bogdandy/Bast, Grundfreiheiten, S. 705, 727.
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überschreitenden Beschränkung, die nicht durch einen Abgleich mit dem inländischen Regulierungsstandard, sondern in Abgleich mit dem supranationalen Regulierungsstandard festgestellt wird, ist für die Inanspruchnahme einer supranationalen Legitimationsnorm ausreichend. Das gleichheitsrechtliche Verständnis der Marktgrundfreiheiten ordnet diese der von ihr aufgestellten Kategorie der transnationalen Integrationsnormen zu, woraus folgt, dass die Marktgrundfreiheiten mangels eigener Standardfestsetzung lediglich bestehende mitgliedstaatliche Standards koordinieren können und daher lediglich ein weit verstandenes Diskriminierungsverbot enthalten. bb) Das Argument der Kompetenzverteilung Die Einordnung der Marktgrundfreiheiten als transnationale Integrationsnormen ergibt sich für diese Ansicht neben den gerade erwähnten systematischteleologischen Erwägungen zu den „föderalen Gefährdungslagen“ zudem aus der horizontalen Kompetenzverteilung innerhalb der Union (1) sowie aus der vertikalen Kompetenzverteilung zwischen der Union und den Mitgliedstaaten (2).403 (1) Gleichheitsrechtliches Verständnis als Ausdruck des institutionellen Gleichgewichts von EuGH und Unionsgesetzgeber Die horizontale Kompetenzverteilung bezieht sich auf das Verhältnis von EuGH und dem Unionsgesetzgeber und knüpft damit an das institutionelle Gleichgewicht in der EU404 an. Der EuGH legt durch Auslegung die Reichweite der Marktgrundfreiheiten fest, was zur Unanwendbarkeit entgegenstehenden mitgliedstaatlichen Rechts führt. Der Unionsgesetzgeber erlässt im Wege des Gesetzgebungsverfahrens auf der Grundlage einer in den Verträgen hierfür vorgesehenen Kompetenz positives Recht, das an die Stelle mitgliedstaatlichen Rechts tritt. Sowohl die Auslegung der Marktgrundfreiheiten als auch das auf Unionsebene gesetzte Recht wirken in die mitgliedstaatlichen Rechtsordnungen ein. Allerdings erscheint die rechtsangleichende Wirkung der Grundfreiheiten in die nationale Souveränität stärker einzuschneiden als die unionale Rechtsangleichung durch Rechtsetzung. Der Grund dafür wird darin gesehen, dass der nationale Gesetzgeber bei der gesetzgeberischen Schließung der durch den Anwendungsvorrang der Grundfreiheiten in der nationalen Rechtsordnung gerissenen Lücke aus politischen Gründen dazu neigt, die von der Grundfreiheit verlangte Privilegierung des grenzüberschreitenden Sachverhalts auf den 403 Vgl. Kingreen, in: von Bogdandy/Bast, Grundfreiheiten, S. 705, 711 ff. betreffend das Horizontalverhältnis und S. 718 ff. betreffend das Vertikalverhältnis. 404 Vgl. Art. 13 EUV; dazu Nettesheim, in: Grabitz/Hilf/Nettesheim, Art. 13 EUV Rn. 30 ff.; auch EuGH, Rs. 70/88, Parlament/Rat, Slg. 1990, I-2041 Rn. 26.
B. Vorgaben der Marktgrundfreiheiten
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internen Sachverhalt auszudehnen.405 Er baut damit trotz der zulässigen Inländerdiskriminierung eine nationale Regelung ab, die (vermutlich) nicht in gleichem Maße aufgrund unionaler Rechtsetzung abzubauen gewesen wäre. Die geringere Eingriffsintensität von unionaler Rechtsetzung in die mitgliedstaatliche Souveränität wird darin erkannt, dass die unionale Rechtsangleichung entweder aufgrund fehlender Mehrheiten in Rat und Europäischem Parlament scheitert oder aufgrund der Notwendigkeit politischer Kompromisse gegenüber den mitgliedstaatlichen Rechtsordnungen weniger einschneidend ausfällt als die Wirkung der unmittelbar anwendbaren Grundfreiheiten.406 Erkennt man nun, wie es die Ansicht vom gleichheitsrechtlichen Verständnis der Marktgrundfreiheiten tut, in der Wirkung der Grundfreiheiten in der mitgliedstaatlichen Rechtsordnung eine vergleichbare rechtsangleichende Wirkung wie in der Wirkung von gesetztem Unionsrecht, so liegt der Schluss nahe, dass der EuGH mit seiner Auslegung der Grundfreiheiten die Funktion und die Rolle der gesetzgebenden Unionsorgane Rat und Europäisches Parlament einnimmt, womit er das institutionelle Gleichgewicht verletzt. Der EuGH kann nach diesem Verständnis nämlich durch Auslegung der Grundfreiheiten einen Regelungsstandard setzen, den der Unionsgesetzgeber in vergleichbarer Weise nicht oder anders gesetzt hätte. Funktion der Grundfreiheiten ist es jedoch, lediglich Verwerfungen, die innerhalb eines unvollkommenen Binnenmarktes aufgrund der Unterschiedlichkeit der Rechtsordnungen der Teilmärkte entstehen, punktuell aufzulösen, während die Funktion der unionalen Rechtsetzung darin besteht, entsprechend der hierfür vorgesehenen Verfahren einen allen Teilmärkten gemeinsamen Standard zu setzen. Diese horizontale Kompetenzverteilung innerhalb der Union steht dieser Ansicht nach einem freiheitsrechtlichen Gehalt der Marktgrundfreiheiten entgegen, der losgelöst von einem Vergleich der bei einem transnationalen Sachverhalt berührten mitgliedstaatlichen Rechtsordnungen einen eigenständigen Standard setzt. (2) Gleichheitsrechtliches Verständnis als Ausdruck der vertikalen Kompetenzverteilung zwischen der EU und den Mitgliedstaaten In vertikaler Hinsicht folgt nach den Vertretern eines gleichheitsrechtlichen Verständnisses der Marktgrundfreiheiten aus dem Prinzip der begrenzten Einzelermächtigung (Art. 5 Abs. 2 EUV) und dem Subsidiaritätsprinzip (Art. 5 Abs. 3 EUV), dass die Mitgliedstaaten weiterhin zuständig für die Ausgestaltung der internen Marktregulierung sind, während die Union lediglich spezifisch transnationale Regulierung vornehmen darf. Diese Kompetenzverteilung
405 406
Vgl. Kingreen, Struktur, S. 34 ff. Vgl. Kingreen, Struktur, S. 99 ff.
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bildet nach dieser Ansicht eine „grundsätzliche Vorgabe für die Strukturierung des Tatbestandes der Grundfreiheiten“.407 Der internen Marktregulierung werden Maßnahmen zugeschlagen, deren Eingriffswirkung in die wirtschaftliche Handlungsfreiheit mit den Mitteln des mitgliedstaatlichen Rechts (insbesondere durch die mitgliedstaatlichen Grundrechte) in ausreichendem Maße überprüft und gegebenenfalls zurückgewiesen werden kann. Keine interne Marktregulierung liegt mehr vor, wenn Rechtsschutz mit den Mitteln des mitgliedstaatlichen Rechts nicht mehr erreichbar ist. Dies ist bei den für einen grenzüberschreitenden Sachverhalt typischen Mehrfachbelastungen der Fall. Diese Mehrfachbelastungen entstehen aufgrund der Unterschiedlichkeit der Rechtsordnungen im unvollkommenen Binnenmarkt. Während die grenzüberschreitende Markttransaktion den Belastungen von mindestens zwei Rechtsordnungen ausgesetzt ist, unterliegt die inländische Markttransaktion lediglich den Belastungen der einen inländischen Rechtsordnung. Das nationale Verfassungsrecht erfasst jedoch diese für den transnationalen Sachverhalt typischen Mehrfachbelastungen nicht, da sie sich aus der Perspektive des jeweiligen mitgliedstaatlichen Rechts als Einfachbelastung und damit gerade als Gleichbehandlung des ausländischen und des inländischen Sachverhalts darstellt. Es bedarf somit auf der Ebene des Binnenmarktes Normen, die die für den transnationalen Sachverhalt typischen Mehrfachbelastungen erfassen und den Zugang ausländischer Marktteilnehmer zu mitgliedstaatlichen Teilmärkten durch den Abbau solcher Mehrfachbelastungen ermöglichen. Diese Funktion nehmen die Marktgrundfreiheiten wahr. Dabei legen sie nicht selbst den Grad der für den transnationalen Sachverhalt noch hinnehmbaren Belastung fest. Die Funktion der Marktgrundfreiheiten ist lediglich, den Zugang zu den nationalen Teilmärkten zu eröffnen und somit die mit dem Marktzugang unmittelbar verbundenen Belastungen abzubauen.408 Diese Belastungen sind durch einen Vergleich der unterschiedlichen Rechtsordnungen, denen der transnationale Sachverhalt unterliegt, feststellbar. Hierzu reicht allerdings nicht schon die Unterschiedlichkeit vergleichbarer Regelungen der verschiedenen Rechtsordnungen aus. Vielmehr muss die Ungleichbehandlung des transnationalen Sachverhalts auf den Grenzübertritt zurückführbar sein.409 cc) Gleichheitsrechtliches Verständnis verlangt den „Grenzübertritt“ als verbotenes Differenzierungsmerkmal Die Konsequenzen dieser Vorgaben für die Struktur der Marktgrundfreiheiten sind zweierlei: Zum einen beinhalten die Marktgrundfreiheiten lediglich Gleichheitsrechte, da sie mangels eigenständigen Gewährleistungsinhalts auf 407
Kingreen, Struktur, S. 110. Vgl. Kingreen, Struktur, S. 110 f.; Englisch, Wettbewerbsgleichheit, S. 328 ff. 409 Vgl. Kingreen, Struktur, S. 118 f. 408
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einen Vergleich der von einem transnationalen Sachverhalt berührten Rechtsordnungen angewiesen sind. Zum anderen muss den Grundfreiheiten der Grenzübertritt als verbotenes Differenzierungsmerkmal entnommen werden,410 da andernfalls der für das Vorliegen einer mittelbaren Diskriminierung verlangte Zusammenhang einer Ungleichbehandlung mit den Differenzierungsmerkmalen der Staatsangehörigkeit oder der Herkunft zu diffus wird.411 Die Fälle, in denen die Herkunftsstaaten den eigenen Staatsangehörigen die Ausübung von Grundfreiheiten erschweren (Wegzugs- und Rückkehrerfälle),412 stellen sich nämlich vor dem Hintergrund des verbotenen Differenzierungsmerkmals der Staatsangehörigkeit nicht mehr als Diskriminierungen dar. Sie erschweren allerdings den Grenzübertritt und damit den transnationalen Sachverhalt gegenüber dem rein internen Sachverhalt. Daher verlangt ein gleichheitsrechtliches Verständnis der Marktgrundfreiheiten, das auf die Herstellung eines einheitlichen Binnenmarktes ausgerichtet ist, eine Erweiterung der verbotenen Differenzierungsmerkmale der Staatsangehörigkeit und der Herkunft um den Grenzübertritt. Es muss durch die Marktgrundfreiheiten gewährleistet werden, dass der transnationale Sachverhalt gegenüber dem inländischen Sachverhalt nicht unterschiedlich behandelt wird.413 b) Kritik Mit der Erweiterung der verbotenen Differenzierungsmerkmale um dasjenige des Grenzübertritts zeigt die gleichheitsrechtliche Sichtweise der Marktgrundfreiheiten bereits die Schwäche ihres Ansatzes auf. Als Ausformungen des allgemeinen Diskriminierungsverbotes aus Gründen der Staatsangehörigkeit in Art. 18 Abs. 1 AEUV ist der gleichheitsrechtliche Gehalt der Marktgrundfreiheiten auf Diskriminierungen wegen der Staatsangehörigkeit beschränkt. Diese Beschränkung verlässt die gleichheitsrechtliche Sichtweise, wenn sie den Grenzübertritt als verbotenes Differenzierungsmerkmal losgelöst von jedweder Verbindung zum Differenzierungsmerkmal der Staatsangehörigkeit in die Gleichbehandlungspflichten der Marktgrundfreiheiten einführt. Der Unterschied zu der Auffassung, die in den Marktgrundfreiheiten neben den besonderen Diskriminierungsverboten auch freiheitsrechtlich fundierte Beschränkungsverbote erkennt, manifestiert sich in der Reichweite der mittelbaren Diskriminierung. Während die freiheitsrechtliche Sichtweise zur Bestimmung der
410
Vgl. Kingreen, Struktur, S. 138 ff. Zur Notwendigkeit eines derartigen Zusammenhangs in der Dogmatik der Diskriminierungsverbote, vgl. oben S. 112 ff. 412 Beispielhaft: EuGH, Rs. 115/78, Knoors, Slg. 1979, 399; Rs. C-19/92, Kraus, Slg. 1993, I-1663. 413 Vgl. Kingreen, in: von Bogdandy/Bast, Grundfreiheiten, S. 705, 727. 411
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Reichweite der von den Marktgrundfreiheiten erfassten mittelbaren Diskriminierungen einen faktischen oder normativen Zusammenhang414 der Ungleichbehandlung mit dem verbotenen Differenzierungsmerkmal der Staatsangehörigkeit verlangt, verzichtet die gleichheitsrechtliche Sichtweise auf einen solchen Zusammenhang mit dem personen- und sachbezogenen Differenzierungsmerkmal, solange die Maßnahme in ihrer Wirkung nach dem verhaltensbezogenen Grenzübertritt unterscheidet. Diese Erweiterung um das verbotene Differenzierungsmerkmal des Grenzübertritts sieht sich zunächst dem Einwand ausgesetzt, dass es in den Verträgen selbst keinen textlichen Nachweis dafür gibt.415 Das Diskriminierungsverbot in Art. 18 Abs. 1 AEUV benennt ausdrücklich die Staatsangehörigkeit. Art. 28 Abs. 2 AEUV bestimmt die Warenherkunft für die Zwecke der Warenverkehrsfreiheit. Der teleologische Ansatz, wonach das Prinzip der begrenzten Einzelermächtigung (Art. 5 Abs. 2 EUV) und das Subsidiaritätsprinzip (Art. 5 Abs. 3 EUV) als Ausdruck der Kompetenzverteilung zwischen der EU und den Mitgliedstaaten eine Vorgabe dafür bilden, grenzüberschreitende Sachverhalte als vom Gewährleistungsgehalt der Marktgrundfreiheiten erfasst zu betrachten, woraus folgt, dass der Grenzübertritt ein für die Marktgrundfreiheiten verbotenes Differenzierungsmerkmal ist, sieht sich dem Einwand ausgesetzt, dass die Kompetenzverteilung für die Bestimmung des Gewährleistungsumfangs der Marktgrundfreiheiten irrelevant ist.416 Diese sind darauf ausgerichtet, die grenzüberschreitende wirtschaftliche Handlungsfreiheit zu gewährleisten. Gegenläufige mitgliedstaatliche Schutzinteressen sind auf der Ebene der Rechtfertigung zu berücksichtigen. Löst demnach die Marktgrundfreiheit eine Kollision zwischen dem Individualinteresse an grenzüberschreitender wirtschaftlicher Betätigung einerseits und dem mitgliedstaatlich geschützten Kollektivinteresse andererseits aus, ist es die Funktion des Subsidiaritätsprinzips in Art. 5 Abs. 3 EUV das unionale Regelungsinteresse von dem mitgliedstaatlichen Regelungsinteresse abzugrenzen. Eine mit der Kompetenzverteilung zwischen der Union und den Mitgliedstaaten vergleichbare Berücksichtigung des Subsidiaritätsprinzips bei der Feststellung des Gewährleistungsumfangs der Marktgrundfreiheiten würde letztlich dazu führen, dass überall dort, wo die Mitgliedstaaten die grenzüberschreitend gewünschte Tätigkeit „auf zentraler [bzw.] auf regionaler oder lokaler Ebene ausreichend“ gewährleisten können, kein grundfreiheitenrelevanter Sachverhalt auftreten könnte. So müsste sich mitgliedstaatliche Gesetzgebung, die aufgrund des Subsidiaritätsprinzips nach Art. 5 Abs. 3 EUV nicht durch unionale Rechtsetzung verdrängt werden darf, auch nicht an den Marktgrundfreiheiten messen lassen. Spätestens hier wird deutlich, dass eine auf dem Subsidiaritätsprinzip fußende Auslegungsvorgabe 414
Siehe dazu oben S. 112; Plötscher, Begriff der Diskriminierung, S. 56 ff. Vgl. Pechstein, JZ 2005, 943. 416 Vgl. Müller-Graff, ZHR 159 (1995), 34, 74. 415
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für den Gewährleistungsgehalt der Marktgrundfreiheiten nicht überzeugend ist. Sie missachtet, dass es Einzelfälle geben kann, zu deren Regelung die Union zwar aus Subsidiaritätsgründen nicht befugt sein mag, bei denen jedoch das vom Binnenmarktziel geschützte Einzelinteresse an einer bestimmten grenzüberschreitenden wirtschaftlichen Tätigkeit sich gegen ein unverhältnismäßig geschütztes einzelstaatliches Rechtsgut durchsetzen kann. Aus diesem Grund unterscheidet der EuGH auch in seiner Rechtsprechung zum Anwendungsbereich der Grundfreiheiten zwischen der Wahrnehmungszuständigkeit der Mitgliedstaaten und der Ausübung dieser Zuständigkeiten. Letztere unterliegt den Anforderungen der Marktgrundfreiheiten.417 Hinzu tritt, dass der Grenzübertritt bei der einschränkenden Bestimmung des sachlichen Anwendungsbereichs der Marktgrundfreiheiten bereits eine Funktion hat. Die gleichheitsrechtliche Sichtweise verschmilzt diese Funktion mit der Definition des Eingriffs.418 Die getrennte Behandlung von der Einschränkung des sachlichen Anwendungsbereichs, der einen grenzüberschreitenden Bezug verlangt, und der Definition des Eingriffs ist dogmatisch sauberer. Die vom Tatbestand einer Marktgrundfreiheit erfasste Diskriminierung muss dann nicht zusätzlich den sachlichen Anwendungsbereich bestimmen. Daher sind in einem ersten Schritt bei der Prüfung der Marktgrundfreiheiten all jene Sachverhalte auszuscheiden, denen jedweder grenzüberschreitender Bezug fehlt, bevor dann in einem nächsten Schritt zu klären ist, ob der grenzüberschreitende Sachverhalt im Hinblick auf das Schutzgut der einschlägigen Marktgrundfreiheit eine Diskriminierung oder Beschränkung beinhaltet.419 Abschließend vermag die gleichheitsrechtliche Sichtweise Urteile des EuGH etwa in den Rechtssachen „Bosman“420 oder „Graf“421 nicht zu erklären. In der Rechtssache „Bosman“ ging es um Transferregeln für Fußballspieler, die trotz des Endes eines Spielervertrags sowohl beim grenzüberschreitenden als auch beim inländischen Vereinswechsel die Zahlung von Transfersummen erlaubten. In der Rechtssache „Graf“ ging es um eine Regel, nach der ein Arbeitgeber einem Arbeitnehmer eine sog. „Abfertigung“ zahlen musste, die sich in Abhängigkeit von der Betriebszugehörigkeit berechnete, wenn der Arbeitgeber dem Arbeitnehmer nach Ablauf eines mindestens dreijährigen Angestelltenverhältnisses kündigt. Die Abfertigung ist u.a. nicht zu zahlen, wenn der Arbeitnehmer kündigt. Ob der Arbeitnehmer kündigt, um einen neue Stelle im
417 Vgl. etwa im Bereich der direkten Steuern: EuGH, Rs. C-279/93, Schumacker, Slg. 1995, I-225 Rn. 21; Rs. C-250/95, Futura Participations, Slg. 1997, I-2471 Rn. 19; verb. Rs. C-397/98 und C-410/98, Metallgesellschaft, Slg. 2001, I-1727 Rn. 37; Rs. C-9/02, Lasteyrie du Saillant, Slg. 2004, I-2409 Rn. 44. 418 Kritisch betrachtet bei Plötscher, Begriff der Diskriminierung, S. 303. 419 Vgl. Plötscher, Begriff der Diskriminierung, S. 303 f. 420 EuGH, Rs. C-415/93, Bosman, Slg. 1995, I-4921. 421 EuGH, Rs. C-190/98, Graf, Slg. 2000, I-493.
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Ausland oder im Inland anzutreten, spielt hierbei keine Rolle. Beide Fälle stehen stellvertretend für eine Reihe von Urteilen des EuGH, in denen die streitgegenständliche Maßnahme weder tatbestandlich noch in ihren Wirkungen nach der Staatsangehörigkeit unterschied, und auch der grenzüberschreitende Sachverhalt nicht gegenüber dem internen Sachverhalt ungleichbehandelt wurde. Während die gleichheitsrechtliche Sichtweise diese Urteile als fehlerhaft klassifizieren muss,422 zeigen sie vielmehr, dass die Marktgrundfreiheiten einen über die besonderen Diskriminierungsverbote aus Gründen der Staatsangehörigkeit und Herkunft hinausgehenden freiheitsrechtlichen Gehalt haben, der nicht gleichheitsrechtlich erklärt werden kann.423 Im Ergebnis liegen die gleichheitsrechtliche und die freiheitsrechtliche Sichtweise auf die Marktgrundfreiheiten nicht weit auseinander. Die Vielzahl der von den Marktfreiheiten erfassten Fällen unterliegen auch nach der gleichheitsrechtlichen Sichtweise den Marktgrundfreiheiten. Diejenigen unterschiedslos anwendbaren Maßnahmen, die im Hinblick auf die Differenzierungsmerkmale der Staatsangehörigkeit und der Herkunft mangels typischerweise diskriminierender Wirkung nicht mehr als mittelbare Diskriminierungen einzuordnen sind und dann als freiheitshemmende Beschränkungen behandelt werden, erfasst der Diskriminierungsbegriff der gleichheitsrechtlichen Sichtweise, indem diese den Grenzübertritt als verbotenes Differenzierungsmerkmal einführt. Das lässt sich allerdings mit dem Wortlaut der Grundfreiheiten nicht mehr vereinbaren, ohne dass durch die vorgeschlagene systematisch-teleologischen Auslegung vor dem Hintergrund der in den Verträgen angelegten vertikalen und horizontalen Kompetenzverteilung das den Wortlaut der Grundfreiheiten übersteigende Verständnis überzeugend begründet werden kann. Die Ansicht verliert letztlich ihre Überzeugungskraft, weil es ihr nicht gelingt, diejenigen Beschränkungen noch sinnvoll zu erfassen, die den grenzüberschreitenden Sachverhalt und den internen Sachverhalt rechtlich wie tatsächlich in gleicher Weise berühren, aber dennoch den Marktzugang behindern. 2. Marktgrundfreiheiten sind nicht ausschließlich Freiheitsrechte Der Ansicht, wonach die Marktgrundfreiheiten ausschließlich (wenn auch weit verstandene) Diskriminierungsverbote sind, steht am anderen Ende des Meinungsspektrums die in der Literatur vertretene Ansicht gegenüber, wonach die Marktgrundfreiheiten absolut wirkende Freiheitsrechte sind.424 Diese Ansicht verwirft den Diskriminierungsbegriff oder gar die Verwendung „formaler Kri-
422
Vgl. Kingreen, Struktur, S. 133 f. Mühl, Diskriminierung und Beschränkung, S. 231. 424 Vgl. Steindorff, Gleichheitssatz, passim; ders., ZHR 158 (1994), S. 149, 163 ff.; Grabitz, FS Ipsen, S. 645, 651 ff., 657. 423
B. Vorgaben der Marktgrundfreiheiten
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terien“ als gänzlich untauglich für die Bestimmung des Gewährleistungsgehalts der Marktgrundfreiheiten425 oder stellt auf den Marktzugang als einzig relevantes Abgrenzungsmerkmal426 ab. Für diese Sichtweise ist entscheidend, dass „im Sinne des Herkunftsprinzips – jeder Anbieter mit seinem spezifischen Produkt und seinen Parametern europaweit tätig werden [könne]; jeder Nachfrager […] Zugriff auf die nach Herkunftsstaaten unterschiedlichen Leistungen haben [solle].“427 Die Ansicht von dem rein freiheitsrechtlichen Verständnis der Marktgrundfreiheiten steht zunächst im Widerspruch zu dem Textbefund, wonach Marktgrundfreiheiten zumindest besondere Diskriminierungsverbote sind (Art. 45 Abs. 2 AEUV, Art. 49 Abs. 2 AEUV oder Art. 57 Abs. 3 AEUV). Bedeutsamer und überzeugender als dieser Konflikt, der sich mit einem Verweis auf den „effet utile“ der Marktgrundfreiheiten lösen ließe, ist jedoch die Erkenntnis, dass das rein freiheitsrechtliche Verständnis der Marktgrundfreiheiten dazu führt, mitgliedstaatliche, die Ausübung der jeweiligen Grundfreiheit behindernde Regelungen ausschließlich am Grundsatz der Verhältnismäßigkeit zu messen.428 Nach dem rein freiheitsrechtlichen Verständnis erscheinen die Grundfreiheiten als „Transmissionsriemen“ der Rechtsordnungen der Herkunftsstaaten in die Zielstaaten. Die mit einer Norm des Herkunftsstaates konfligierenden Rechtsnormen der Zielrechtsordnung greifen danach grundsätzlich in den Schutzbereich der Marktgrundfreiheit ein und müssen auf der Grundlage eines zwingenden Erfordernisses des Allgemeininteresses gegenüber der Marktgrundfreiheit gerechtfertigt werden. Der Gewinn, den diese Sichtweise durch eine einfache und undifferenzierte Handhabung des Tatbestandes der Marktgrundfreiheiten gewonnen hat, verliert sie wieder durch eine sich lediglich an den Maßstäben der Verhältnismäßigkeitsprüfung ausrichtende und dadurch Rechtsunsicherheit erzeugende umfangreiche Rechtfertigungsprüfung. Dies wurde von Steindorff selbst als „horror iuris“ bezeichnet.429 Ein rein freiheitsrechtliches Verständnis ist deshalb ebenso abzulehnen wie ein rein gleichheitsrechtliches Verständnis der Marktgrundfreiheiten. 3. Marktgrundfreiheiten enthalten auch Beschränkungsverbote Aus dem Vorhergehenden ist deutlich geworden, dass die Marktgrundfreiheiten nicht ausschließlich gleichheitsrechtlich und nicht ausschließlich freiheitsrechtlich zu verstehen sind. Sie haben vielmehr einen gleichheitsrechtlichen
425
Steindorff, ZHR 150 (1986), S. 687, 696; ders., ZHR 158 (1994), S. 149, 162. Grabitz, FS Ipsen, S. 645, 654 f. 427 So bei Steindorff, ZHR 158 (1994), S. 149, 163 mit Verweis auf Donner, SEW 1982, 362. 428 Vgl. etwa Mülbert, ZHR 159 (1995), S. 2, 4. 429 Steindorff, JZ 1994, 95, 97 f. 426
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4. Kapitel: Einwirkungen des Primärrechts in das autonome IPR
und einen freiheitsrechtlichen Gewährleistungsgehalt. Das in den Marktgrundfreiheiten enthaltene Diskriminierungsverbot realisiert dabei den Aspekt der Marktgleichheit, während das freiheitsrechtliche Beschränkungsverbot den Aspekt der Marktfreiheit verwirklicht.430 Das Diskriminierungsverbot erfasst dabei die oben skizzierten unmittelbaren und mittelbaren Diskriminierungen aus Gründen der Staatsangehörigkeit und der Herkunft. Das Beschränkungsverbot wendet sich gegen all jene Maßnahmen, die die Errichtung und das Funktionieren des Binnenmarktes behindern. Im Folgenden soll das in den einzelnen Marktgrundfreiheiten enthaltene Beschränkungsverbot näher untersucht und der Frage nachgegangen werden, welche Vorgaben die Beschränkungsverbote für die mitgliedstaatlichen Rechtsordnungen aufstellen, die über diejenigen der marktgrundfreiheitlichen Diskriminierungsverbote als besondere unionsrechtliche Gleichheitssätze431 hinausgehen. Dabei wird zunächst die Warenverkehrsfreiheit betrachtet, deren Dogmatik vom EuGH als erste in seiner Rechtsprechung entwickelt wurde. Im Anschluss hieran sollen die Beschränkungsverbote der Personenverkehrsfreiheiten und der Dienstleistungsfreiheit daraufhin untersucht werden, inwieweit sie von der Dogmatik der paradigmatischen Grundfreiheit der Warenverkehrsfreiheit abweichen und ob sich aus diesem Abgleich eine einheitliche Dogmatik der Marktgrundfreiheiten ergibt. IV. Die paradigmatische Grundfreiheit: Das Beschränkungsverbot der Warenverkehrsfreiheit Die Warenverkehrsfreiheit verbietet mengenmäßige Beschränkungen und Maßnahmen gleicher Wirkung bei der Wareneinfuhr (Art. 34 AEUV) und bei der Warenausfuhr (Art. 35 AEUV). Bei der Wareneinfuhrfreiheit richtet sich das Verbot typischerweise gegen Maßnahmen eines anderen Mitgliedstaates als desjenigen der Warenherkunft, während der Warenausfuhrfreiheit Maßnahmen des Herkunftsstaates der Ware unterliegen. Somit behandelt die Warenausfuhrfreiheit die Konstellation, in der eine inländische Ware durch die eigene Rechtsordnung beschränkt wird, wohingegen die Wareneinfuhrfreiheit die umgekehrte Konstellation betrifft, in der die ausländische Ware durch die inländische Rechtsordnung beschränkt wird. Bei der Warenausfuhrfreiheit erreicht die inländische Ware im Erfolgsfall eine Privilegierung gegenüber anderen inländischen Waren. Bei der Wareneinfuhrfreiheit entsteht aufgrund der zulässigen Inländerdiskriminierung im Erfolgsfall eine Privilegierung der ausländischen gegenüber der inländischen Ware.
430
Vgl. Mühl, Diskriminierung und Beschränkung, S. 245. Zu den Vorgaben der unionsrechtlichen Gleichheitssätze für die mitgliedstaatlichen Rechtsordnungen siehe oben S. 154 ff 431
B. Vorgaben der Marktgrundfreiheiten
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Diese kategorialen Unterschiede legen zunächst eine Untersuchung der Warenverkehrsfreiheit nahe, die zunächst nach der Freiverkehrsrichtung unterscheidet, um anschließend die Frage zu beantworten, ob sich diese kategorialen Unterschiede in der Dogmatik der Warenverkehrsfreiheit niederschlagen. 1. Beschränkungsverbot der Wareneinfuhrfreiheit (Art. 34 AEUV) Nach der Wareneinfuhrfreiheit in Art. 34 AEUV sind mengenmäßige Einfuhrbeschränkungen sowie alle Maßnahmen gleicher Wirkung zwischen den Mitgliedstaaten verboten. Mit der Entscheidung in der Rechtssache „Dassonville“432 im Jahr 1974 stellte der EuGH klar, dass eine solche Maßnahme gleicher Wirkung nicht nur eine Diskriminierung sein kann,433 sondern „jede Handelsregelung der Mitgliedstaten, die geeignet ist, den innergemeinschaftlichen Handel unmittelbar oder mittelbar, tatsächlich oder potenziell zu behindern“. Der Wortlaut dieser Formel erfasst grundsätzlich sämtliche staatlichen Maßnahmen und damit sowohl in ihrem Tatbestand differenzierende als auch unterschiedslos anwendbare Maßnahmen. Die „Dassonville“-Formel will der Warenverkehrsfreiheit die maximale Durchschlagskraft zum Abbau protektionistischer Maßnahmen verleihen.434 Quotenregelungen, wie sie vom Tatbestandsmerkmal der „mengenmäßigen Einfuhrbeschränkungen“ erfasst wären, und offene Diskriminierungen weichen kaschierten Maßnahmen, die jedoch wie Nullkontingente wirken, wie beispielsweise das Festsetzen nationaler Umwelt- und Verbraucherschutzstandards oder Produktsicherheitsstandards. Diesen möchte die Warenverkehrsfreiheit entgegentreten, um die Abschottung der Teilmärkte im Binnenmarkt abzubauen und ausländischen Waren den Zugang zu diesen Teilmärkten zu eröffnen. a) Behinderung des innerunionalen Handels: Marktzugangsbehinderungen Ausgangspunkt des Beschränkungsbegriffs ist die Behinderung des innerunionalen Handels im Hinblick auf die Einfuhr von Waren. Hierunter wird jede negative Beeinflussung des Einfuhrvolumens verstanden.435 Diese negative Beeinflussung wird durch einen Vergleich des Einfuhrvolumens unter Anwendung und unter Außerachtlassung der beanstandeten Maßnahme festgestellt.436 Eine solche negative Beeinflussung des Einfuhrvolumens ist anzunehmen, wenn die Rechtsordnung des Bestimmungslandes höhere Anforderungen an ein
432
EuGH, Rs. 8/74, Dassonville, Slg. 1974, 837. Vgl. dazu etwa Seidel, NJW 1967, 2081. 434 Vgl. Mayer, EuR 2003, 793, 795 f. 435 Vgl. Müller-Graff, in: von der Groeben/Schwarze/Hatje, Art. 34 AEUV Rn. 50. 436 Vgl. Schroeder, in: Streinz, Art. 34 AEUV Rn. 37; EuGH, Rs. 12/74, Kommission/Deutschland, Slg. 1975, 181 Rn. 14; Rs. 124/85, Kommission/Griechenland, Slg. 1986, 3935 Rn. 7. 433
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4. Kapitel: Einwirkungen des Primärrechts in das autonome IPR
Produkt oder seine Vermarktung stellt als die Rechtsordnung des Herkunftslandes oder wenn die Anforderungen der Rechtsordnung des Bestimmungslandes Absatzhindernisse für ein importiertes Produkt begründen. Solche Absatzhindernisse können Regelungen über den Preis, über die Vermarktung oder über die Art und Weise des Verkaufs bzw. des Vertriebs eines Produktes im Bestimmungsland sein. b) Eignung zur unmittelbaren oder mittelbaren, tatsächlichen oder potenziellen Behinderung Die Eignung einer Maßnahme, bei deren Außerachtlassung das Einfuhrvolumen einer von dieser Maßnahme erfassten Ware höher ist als bei deren Anwendung, zur unmittelbaren oder mittelbaren, tatsächlichen oder potenziellen Behinderung der Warenverkehrsfreiheit lässt sich anhand des Marktzugangskriteriums grob in zwei Kategorien unterteilen: Einerseits gibt es Maßnahmen, die am Produkt selbst ansetzen und von diesem die Erfüllung bestimmter Kriterien verlangen, bevor es auf dem Markt des Bestimmungslandes verkauft werden darf (aa)). Dabei handelt es sich um Kriterien, die unterschiedslos auf jedes Produkt, das im Bestimmungsland verkauft wird, Anwendung finden. In ihrer Wirkung kommen diese Maßnahmen einem Einfuhrverbot gleich, da die importierte Ware nicht ohne Modifikation („tel quel“) verkauft werden kann. Andererseits gibt es Maßnahmen, die keine Kriterien für das Produkt selbst aufstellen, aber einen Einfluss auf dessen Absatz im Bestimmungsland haben (bb)). Solche Maßnahmen können je nach Ausgestaltung einem Einfuhrverbot gleichkommen, wenn der Kauf einer Ware aus Sicht des Verbrauchers praktisch uninteressant ist oder wenn sie zumindest zu einem geringeren Einfuhrvolumen im Vergleich zu dem Volumen bei Außerachtlassung solcher Maßnahmen führen. Schließlich gibt es noch Maßnahmen, die für den Absatz eines konkreten Produktes nachteilig, jedoch ohne Bedeutung für den grenzüberschreitenden Verkehr dieses Produktes sind. Diese Maßnahmen sind mangels Kausalität nicht geeignet, eine Beschränkung des grenzüberschreitenden Warenverkehrs herbeizuführen (cc)). aa) Eignung von produktbezogenen Kriterien des Bestimmungslandes zur Einfuhrbehinderung In der Rechtssache „Cassis de Dijon“437 wandte sich der EuGH erstmals einer nationalen Regelung zu, die produktbezogene Kriterien aufstellte, die von sämtlichen im Bestimmungsland verkauften Produkten zu erfüllen waren, aber faktisch wie ein Einfuhrverbot wirkte. Hierbei ging es um eine deutsche Vorschrift (§ 100 Abs. 3 BranntwMonG von 1976), nach der Trinkbranntweine nur mit einem Mindestweingeistgehalt von 32 % in den Verkehr gebracht werden 437
EuGH, Rs. 120/78, Rewe Zentral (Cassis de Dijon), Slg. 1979, 649.
B. Vorgaben der Marktgrundfreiheiten
181
dürfen. Die Rewe-Zentral AG beantragte eine Einfuhrgenehmigung für den französischen Likör „Cassis de Dijon“, der einen Alkoholgehalt von 15 bis 20 % aufwies. Zwar bedurfte es nach dem damaligen BranntwMonG keinerlei Einfuhrgenehmigung, jedoch untersagte die deutsche Branntweinmonopolverwaltung den Verkauf des „Cassis de Dijon“, weil sein Alkoholgehalt unterhalb der für Liköre verlangten 32 % lag. Die Regelung des damaligen § 100 Abs. 3 BranntwMonG war unterschiedslos anwendbar. Sie unterschied nicht zwischen Likören deutscher oder ausländischer Herkunft. Da ausländische Liköre auch nicht typischerweise einen Alkoholgehalt von unterhalb 32 % aufweisen, handelte es sich bei dieser Regelung auch nicht um eine mittelbare Diskriminierung. In konsequenter Anwendung der „Dassonville“-Formel ist § 100 Abs. 3 BranntwMonG jedoch dazu geeignet, den innergemeinschaftlichen Handel mit „Cassis de Dijon“, der in Frankreich problemlos verkauft werden konnte, unmittelbar und tatsächlich zu behindern, wie der Sachverhalt gezeigt hatte. Der EuGH hielt sich trotz der Tatsache, dass „Cassis de Dijon“ der erste Fall war, in dem es sachverhaltlich um die Anwendung einer unterschiedslos anwendbaren Maßnahme ging, nicht lange damit auf, die Eignung dieser Regel zur Behinderung der Warenverkehrsfreiheit zu bejahen.438 Die Wirkung von § 100 Abs. 3 BranntwMonG von 1976 kommt zweifelsfrei einem Einfuhrverbot gleich. bb) Eignung von Absatzbehinderungen im Bestimmungsland Die Frage nach der Eignung von Regelungen, die keine Kriterien an ein Produkt stellen, aber negativen Einfluss auf seinen Absatz im Bestimmungsland haben können, stellte sich für den EuGH erstmals in der Rechtssache „Oosthoek“.439 Deutlich formulierte er in dem Urteil, dass eine Maßnahme, die geeignet ist, „das Einfuhrvolumen zu beschränken, weil sie die Absatzmöglichkeiten für die eingeführten Erzeugnisse beeinträchtigt“,440 von der Warenverkehrsfreiheit erfasst ist. In dem streitgegenständlichen Sachverhalt ging es um das niederländische Zugabeverbot, wonach Waren in den Niederlanden nicht als Zugaben, deren Verbrauch oder Gebrauch nicht in einem Zusammenhang mit dem verkauften Produkt stehen, vertrieben werden durften. Die niederländische Firma Oosthoek’s Uitgeversmaatschappij vertrieb u.a. ein belgisches Nachschlagewerk in niederländischer Sprache in den Niederlanden, dem sie eine Zugabe in Form von anderen, kleineren Büchern beilegte, was die niederländischen Strafverfolgungsbehörden mit einer Geldstrafe ahndeten. Der EuGH hielt das Zugabeverbot im Hinblick auf das belgische Nachschlagewerk für einen Eingriff in die Warenverkehrsfreiheit. Die Beschränkung er-
438
EuGH, Rs. 120/78, Rewe Zentral (Cassis de Dijon), Slg. 1979, 649 Rn. 8. EuGH, Rs. 286/81, Oosthoek, Slg. 1982, 4575. 440 EuGH, Rs. 286/81, Oosthoek, Slg. 1982, 4575 Rn. 15. 439
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4. Kapitel: Einwirkungen des Primärrechts in das autonome IPR
kannte er in dem aus der niederländischen Regelung für Unternehmen entspringenden möglichen „Zwang, sich entweder für die einzelnen Mitgliedstaaten unterschiedlicher Systeme der Werbung und Absatzförderung zu bedienen oder ein System, das er für besonders wirkungsvoll hält, aufzugeben.“441 Hieraus folgt, dass nach Ansicht des EuGH eine unterschiedslos anwendbare Maßnahme nicht nur bei solchen Regelungen des Bestimmungslands vorliegt, mit denen der Inhalt und die Zusammensetzung des Produktes selbst bestimmt wird (so der Sachverhalt im „Cassis de Dijon“-Urteil), sondern auch bei Regelungen, die die Werbung und das Marketing eines Produktes regeln. Demnach handelt es sich bereits um eine warenverkehrsfreiheitsrelevante Absatzbehinderung, wenn sich das Handelsvolumen der grenzüberschreitend vertriebenen Ware aufgrund der Regelung reduzieren kann. Dieser Ansatz wurde in der Folgerechtsprechung bestätigt.442 Ausreichend für die Annahme einer Reduktion des grenzüberschreitenden Handelsvolumens sind mögliche negative Effekte auf das Verkaufsvolumen eines Produktes im Bestimmungsland. Dabei ist es nicht von Bedeutung, ob diese negativen Effekte ausschließlich oder überwiegend bei Einfuhrwaren auftreten. So formulierte es der EuGH deutlich in der Rechtssache „Conforama“, in der es um sonntägliche Verkaufsverbote ging: „Denn selbst wenn es wenig wahrscheinlich ist, daß die sonntägliche Schließung einiger dieser Geschäfte die Verbraucher veranlaßt, endgültig vom Erwerb von Erzeugnissen abzusehen, die an den anderen Wochentagen erhältlich sind, so kann das fragliche Verbot doch negative Folgen für das Verkaufsvolumen und folglich auch für das Einfuhrvolumen haben.“443 Hiernach sind also all jene Absatzbedingungen von der Warenverkehrsfreiheit erfasst, die geeignet sind, negative Folgen für den Verkauf einer Ware in einem Teilmarkt des Binnenmarktes zu erzeugen. cc) Mangelnde Eignung aufgrund fehlender Kausalität der Beschränkung Die „Dassonville“-Formel legt in ihrem Wortlaut nahe, dass sie praktisch jede Maßnahme erfasst, die geeignet sein könnte, negative Folgen für den Verkauf einer Ware in einem Teilmarkt des Binnenmarktes zu haben. Dem steht allerdings entgegen, dass die Grundfreiheiten die Unterschiede, die aus dem Fortbestand der mitgliedstaatlichen Rechtsordnungen entstehen, grundsätzlich hinnehmen. Den Nachteilen für den grenzüberschreitenden Handel muss eine binnenmarktspezifische Qualität zukommen, die über diejenige hinausgeht, die der mangelnden Abstimmung mitgliedstaatlicher Rechtsordnungen entspringt. Hieraus ergibt sich, dass es Nachteile für den grenzüberschreitenden Handel 441
EuGH, Rs. 286/81, Oosthoek, Slg. 1982, 4575 Rn. 15. S. bspw. EuGH, Rs. C-362/88, GB INNO-BM, Slg. 1990, I-667 Rn. 7; Rs. C-126/91, Yves Rocher, Slg. 1993, I-2361 Rn. 10. 443 EuGH, Rs. C-312/89, Conforama, Slg. 1991, I-997 Rn. 8. 442
B. Vorgaben der Marktgrundfreiheiten
183
geben kann, die, obwohl sie den innerunionalen Handel mittelbar und potenziell zu behindern geeignet sind, gegenüber dem Schutzzweck der Warenverkehrsfreiheit, den Zugang zu den mitgliedstaatlichen Teilmärkten des Binnenmarktes zu gewährleisten, zu unbedeutend und zu gleichgültig erscheinen. Der EuGH behandelte diese Problematik in der „Oebel“-Rechtsprechung444 und den darauf aufbauenden Urteilen. In der Rechtssache „Oebel“ ging es um das deutsche Nachtback- und -ausfuhrverbot (§ 5 des damaligen Gesetzes über die Arbeitszeit in Bäckereien und Konditoreien)445, wonach zum einen werktags von 22 Uhr bis 4 Uhr „in den zur Herstellung von Bäcker- oder Konditorwaren dienenden Räumen“ niemand arbeiten durfte und zum anderen von 22 Uhr bis 5.45 Uhr Bäcker- oder Konditorwaren nicht an Verbraucher oder Verkaufsstellen abgegeben, ausgetragen oder ausgefahren werden durften. Die Regelung war unterschiedslos auf inländische wie eingeführte Waren anwendbar. Während der EuGH das Nachtbackverbot einerseits aus Gründen der Verbesserung der Arbeitsbedingungen für gerechtfertigt hielt446 und andererseits eine Verletzung der Warenausfuhrfreiheit (heutiger Art. 35 AEUV) mangels diskriminierender Wirkung des Nachtbackverbots ablehnte447, verneinte er die Verletzung der Warenverkehrsfreiheit durch das Nachtausfuhrverbot, weil Lager und Zwischenhändler von diesem Verbot nicht erfasst sind und „der innergemeinschaftliche Handelsverkehr nämlich jederzeit möglich [bleibt], unter dem einzigen Vorbehalt, daß die Lieferung an die Verbraucher und den Einzelhandel für sämtliche Hersteller unabhängig von ihrem Niederlassungsort in der gleichen Weise beschränkt ist.“448 Mithin könnte das Nachtausfuhrverbot zwar mittelbar und potenziell den grenzüberschreitenden Warenverkehr beschränken, jedoch nur dann, wenn durch diese Beschränkung der einzig mögliche Vertriebsweg verschlossen wird. Mit anderen Worten ist das deutsche Nachtausfuhrverbot für den innerunionalen Handel mit Bäcker- und Konditorwaren bedeutungslos. Deutlicher wurde der EuGH in einem wenig später ergangenen Urteil, in dem es um das belgische Verbot ging, Getränke mit einem Alkoholgehalt von über 22 % zum sofortigen Verzehr an öffentlich zugänglichen Orten zu vertreiben.449 Ähnlich wie bei dem Nachtausfuhrverbot für Bäcker- und Konditorwaren in der Rechtssache „Oebel“ war in der Rechtssache „Blesgen“ mit dem sofortigen Verzehr an öffentlich zugänglichen Orten zwar ein Vertriebsweg für Getränke mit einem Alkoholgehalt von über 22 % versperrt. Daneben standen
444
EuGH, Rs. 155/80, Oebel, Slg. 1981, 1993. RGBl. I, 1936, S. 521 i.d.F. des Änderungsgesetzes vom 23. Juli 1969 (BGBl. I, 1969, Nr. 66, S. 937). Das Nachtbackverbot ist mittlerweile aufgehoben. 446 EuGH, Rs. 155/80, Oebel, Slg. 1981, 1993 Rn. 12. 447 EuGH, Rs. 155/80, Oebel, Slg. 1981, 1993 Rn. 16. 448 EuGH, Rs. 155/80, Oebel, Slg. 1981, 1993 Rn. 20. 449 EuGH, Rs. 75/81, Blesgen, Slg. 1982, 1211. 445
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4. Kapitel: Einwirkungen des Primärrechts in das autonome IPR
diesen Getränken jedoch noch andere Vertriebswege offen. Der EuGH verneinte daher die Eignung des belgischen Verbots zur Handelsbeschränkung, da eine „derartige gesetzgeberische Maßnahme […] in Wirklichkeit in keinem Zusammenhang mit der Einfuhr der Waren [steht]“.450 Diese Rechtsprechung, die in späteren Urteilen451 bestätigt wurde, macht deutlich, dass es einen Kausalzusammenhang zwischen einer staatlichen Maßnahme und einer Warenverkehrsbeschränkung geben muss. Die „Oebel“Rechtsprechung stellte dabei darauf ab, ob eine Regelung, die für sich genommen geeignet sein könnte, den innerunionalen Handel zu beschränken, im Zusammenspiel mit anderen Regelungen den Zugang einer Ware zu einem Teilmarkt des Binnenmarktes versperrt oder lediglich eine Absatzmöglichkeit nimmt, die auch inländischen Waren nicht zur Verfügung steht. In letzterem Fall verneinte der EuGH den Kausalzusammenhang. Auf diesem Gedankengang aufbauend entwickelte der EuGH seine Rechtsprechung zu den „zu ungewissen und zu mittelbaren“ Wirkungen einer Regelung im Hinblick auf den Warenverkehr. In der Rechtssache „Krantz“452, in der es um eine niederländische Regelung ging, wonach der niederländische Fiskus Gegenstände, die sich auf dem Grundstück eines Steuersäumigen befinden, pfänden konnte, auch wenn diese dem Steuerschuldner unter Eigentumsvorbehalt verkauft wurden. Der EuGH hielt die Tatsache, dass „Bürger anderer Mitgliedstaaten zögern würden, Sachen an Käufer in dem betreffenden Mitgliedstaat auf Raten zu verkaufen, weil die Gefahr bestünde, daß diese Sachen vom Steuereinnehmer gepfändet würden, wenn die Käufer ihre niederländischen Steuerschulden nicht beglichen, [für] so ungewiß und von nur mittelbarer Bedeutung, daß eine nationale Bestimmung, die eine solche Pfändung zulässt, nicht als geeignet angesehen werden kann, den Handel zwischen den Mitgliedstaaten zu behindern.“453 Eine vergleichbare Wirkung nahm er in der Rechtssache „CMC Motorradcenter“454 an, in der es um vorvertragliche Aufklärungspflichten eines Verkäufers nach den Grundsätzen der deutschen culpa in contrahendo ging. Der streitgegenständliche Verkäufer wies die Käuferin nicht darauf hin, dass es in Deutschland die Praxis gibt, wonach Vertragshändler Gewährleistungsreparaturen an parallel importierten Motorrädern verweigerten. Als die Käuferin von dieser Praxis erfuhr, verweigerte sie die Abnahme des Motorrads und verklagte den Verkäufer auf Schadensersatz, der auf die Rückabwicklung des Kaufvertrags gerichtet war. Auch in diesem Fall ordnete der EuGH die „die restriktiven Wirkungen, die von der Aufklärungspflicht auf den freien Warenverkehr ausgehen könnten, [als] zu ungewiß und zu mittelbar 450
EuGH, Rs. 75/81, Blesgen, Slg. 1982, 1211 Rn. 9. EuGH, Rs. 148/85, Forest, Slg. 1986, 3475 Rn. 19; Rs. C-23/89, Quietlynn, Slg. 1990, I-3059 Rn. 11; Rs. C-350/89, Sheptonhurst, Slg. 1991, I-2387. 452 EuGH, Rs. C-69/88, Krantz, Slg. 1990, I-583. 453 EuGH, Rs. C-69/88, Krantz, Slg. 1990, I-583 Rn. 11. 454 EuGH, Rs. C-93/92, CMC Motorradcenter, Slg. 1993, I-5009. 451
B. Vorgaben der Marktgrundfreiheiten
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[ein], als daß diese Verpflichtung als geeignet angesehen werden könnte, den Handel zwischen den Mitgliedstaaten zu behindern.“455 Die Aufklärungspflicht, deren Verletzung die deutsche culpa in contrahendo auslöste, war nämlich nicht der Grund für die mit der Abnahmeverweigerung der Käuferin einhergehende Reduzierung des Absatzes von parallel importierten Motorrädern. Der Grund für die Abnahmeverweigerung war vielmehr, „daß ein Teil der Vertragshändler der betroffenen Marke die Durchführung von Gewährleistungsarbeiten an parallel importierten Motorrädern verweigert.“456 Die Aufklärungspflicht ist eine dieser Tatsache nachgelagerte Konsequenz dieses Verhaltens. In beiden Fällen betrachtete der EuGH jeweils den Normalfall eines grenzüberschreitenden Kaufes und prüfte, welche Gefahren von den streitgegenständlichen Normen auf ein mögliches Nichtzustandekommen des Kaufvertrags ausgehen. Hierbei erkannte er in der Rechtssache „Krantz“ zutreffend, dass es einer Verkettung außergewöhnlicher Umstände bedarf, um zu einer Gefahr für die verkaufte Ware zu werden: Die Ware muss unter Eigentumsvorbehalt verkauft worden sein. Der Käufer muss der niederländischen Steuerhoheit unterliegen und er muss steuersäumig sein. Zudem muss der niederländische Fiskus entschieden haben, die Steuerschuld im Wege der Sachpfändung einzutreiben.457 In der Rechtssache „CMC Motorradcenter“ verwies der EuGH darauf, dass das marktbeschränkende Ereignis die rechtswidrige Weigerung der deutschen Vertragshändler ist, parallel importierte Motorräder zu reparieren. Die nach den Grundsätzen der deutschen culpa in contrahendo erforderliche Aufklärungspflicht des Verkäufers von parallel importierten Motorrädern über diese Reparaturweigerung erhöht die Wahrscheinlichkeit für eine beschränkende Wirkung der Reparaturweigerung der deutschen Vertragshändler im Hinblick auf den grenzüberschreitenden Warenverkehr in einem höchstens unerheblichen Maße.458 Dies macht deutlich, dass die Formel „zu ungewiss und zu mittelbar“ als Kausalitätserfordernis im Sinne der Adäquanz zu verstehen ist.459 Die vom EuGH hiermit erfasste Problematik ist mit derjenigen aus dem Haftungsrecht vergleichbar, wonach nicht jede Handlung eines mutmaßlichen Schädigers eine Rechtsgutsverletzung beim Geschädigten hervorruft oder eine den Geschädigten schützende Norm verletzt. Das Zivilrecht fängt die Problematik mit der Adäquanztheorie460 auf, wonach „das zum Schaden führende Ereignis im Allgemeinen und nicht nur unter besonders eigenartigen, unwahrscheinlichen und
455
EuGH, Rs. C-93/92, CMC Motorradcenter, Slg. 1993, I-5009 Rn. 12. EuGH, Rs. C-93/92, CMC Motorradcenter, Slg. 1993, I-5009 Rn. 11. 457 Anschaulich GA Darmon, SchlA Rs. C-69/88, Krantz, Slg. 1990, I-583 Nr. 12. 458 Vgl. Köhler, ZEuP 1994, 664, 668 f. 459 Vgl. Köhler, ZEuP 1994, 664, 670; Repasi, EuZW 2011, 430, 431. 460 Siehe dazu etwa MünchKommBGB/Oetker, § 249 BGB Rn. 109 ff. 456
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4. Kapitel: Einwirkungen des Primärrechts in das autonome IPR
nach dem gewöhnlichen Verlauf der Dinge außer Betracht zu lassenden Umständen geeignet [ist], einen Erfolg der eingetretenen Art herbeizuführen.“461 Es sollen hierdurch „solche Bedingungen ausscheiden, die ihrer Natur nach für die Entstehung des Schadens gleichgültig sind und nur durch eine Verkettung außergewöhnlicher Umstände den Erfolg herbeigeführt haben.“462 Festgestellt wird die Adäquanz aus der ex post-Sicht eines optimalen Beobachters. Übertragen auf die Kausalitätsproblematik bei der Warenverkehrsfreiheit bedeutet dies: Eine Maßnahme ist dann eine Beschränkung der Warenverkehrsfreiheit, wenn sie aus der Sicht eines optimalen Beobachters im allgemeinen und nicht nur unter besonders eigenartigen, unwahrscheinlichen und nach dem gewöhnlichen Verlauf der Dinge außer Betracht zu lassenden Umständen geeignet ist, den innerunionalen Handel zu behindern.463 c) Kein Spürbarkeitskriterium Einige Stimmen in der Literatur wollen ein Spürbarkeitskriterium im Sinne von de minimis non curat praetor in die Dogmatik der Warenverkehrsfreiheit einführen.464 Ein solches wurde der gerade skizzierten Rechtsprechung des EuGH zu der „zu ungewiss und zu mittelbar“-Formel entnommen. Der EuGH hat jedoch in seiner Rechtsprechung ein Spürbarkeitserfordernis stets abgelehnt.465 Gegen die Annahme eines Spürbarkeitserfordernis spricht, dass die Formel „zu ungewiss und zu mittelbar“ auf der Ebene der Geeignetheit einer Maßnahme zur Handelsbeschränkung ansetzt. Sind die Wirkungen einer Maßnahme lediglich hypothetischer Art, handelt es sich bei ihr nicht um eine Beschränkung der Warenverkehrsfreiheit. Hieraus wird auch deutlich, warum diese Formel kein verkapptes Spürbarkeitserfordernis für Eingriffe in eine Grundfreiheit ist. Dieses verlangt nämlich erst das Vorhandensein einer Beschränkung, die dann aber in ihren Auswirkungen so geringfügig ist, dass sie keinen Eingriff darstellt.466 Die Formel beschreibt einen Kausalzusammenhang, nicht aber den Wirkungsgrad einer Beschränkung.467
461
BGHZ 59, 139, 144; BGH NJW 1976, 1143, 1144; NJW 2002, 2232, 2233. MünchKommBGB/Oetker, § 249 BGB Rn. 110. 463 Vgl. Repasi, EuZW 2011, 430, 431. In diesem Sinne GA Sharpston, SchlA Rs. C-212/06, Gouvernement wallon, Slg. 2008, I-1683 Nr. 65. Die Rechtsprechung wurde auch in jüngster Zeit bestätigt: EuGH, Rs. C-291/09, Guarnieri, Slg. 2011, I-2685 Rn. 17; Rs. C-20/03, Burmanjer, Slg. 2005, I-4133 Rn. 31. 464 Fezer, JZ 1994, 623, 624f.; Jestaedt/Kästle, EWS 1994, 26, 28; Sack, WRP 1998, 103, 116 ff.; Rohe, RabelsZ 61 (1997), 1, 56 f. 465 EuGH, Rs. 16/83, Prantl, Slg. 1984, 1299 Rn. 20; verb. Rs. 177/82 und 178/82, Van de Haar, Slg. 1984, 1797 Rn. 13; Rs. C-126/91, Yves Rocher, Slg. 1993, I-2361 Rn. 21. 466 Vgl. Repasi, EuZW 2011, 430, 431. 467 Vgl. Körber, Grundfreiheiten und Privatrecht, S. 172; GA Fennelly, SchlA Rs. C-67/97, Bluhme, Slg. 1998, I-8033 Nr. 19. 462
B. Vorgaben der Marktgrundfreiheiten
187
d) Beschränkungsverbot als Gewährleistung der Herkunftsrechtsordnung (Herkunftslandprinzip)? Die Verkürzung des Einfuhrvolumens eines Produktes bei Anwendung einer Maßnahme des Bestimmungslandes im Vergleich zu ihrer Außerachtlassung begründet zunächst die grundsätzliche Eignung dieser Maßnahme zur innerunionalen Handelsbehinderung. Der hierdurch hergestellte Bezug zum absoluten Einfuhrvolumen eines Produkts lenkt den Blick auf die Regelungen, die dieses Einfuhrvolumen definieren, bevor es vom Anwendungsbereich einer Maßnahme des Bestimmungslandes erfasst wird. Dies nimmt die Herkunftsrechtsordnung in den Blick. In dem grundlegenden „Cassis de Dijon“-Urteil stellt der EuGH in den Randnummern 8 und 14 der Urteilsbegründung den Bezug zur Herkunftsrechtsordnung her und gleicht die Maßnahmen des Bestimmungslandes mit ihr ab: „In Ermangelung einer gemeinschaftlichen Regelung der Herstellung und Vermarktung von Weingeist […] ist es Sache der Mitgliedstaaten, alle die Herstellung und Vermarktung von Weingeist und alkoholischen Getränken betreffenden Vorschriften für ihr Hoheitsgebiet zu erlassen. Hemmnisse für den Binnenhandel der Gemeinschaft, die sich aus den Unterschieden der nationalen Regelungen über die Vermarktung dieser Erzeugnisse ergeben, müssen hingenommen werden, soweit diese Bestimmungen notwendig sind, um zwingenden Erfordernissen gerecht zu werden […]. […] Es gibt somit keinen stichhaltigen Grund dafür, zu verhindern, daß in einem Mitgliedstaat rechtmäßig hergestellte und in den Verkehr gebrachte alkoholische Getränke in die anderen Mitgliedstaaten eingeführt werden; dem Absatz dieser Erzeugnisse kann kein gesetzliches Verbot des Vertriebs von Getränken entgegengehalten werden, die einen geringeren Weingeistgehalt haben, als im nationalen Recht vorgeschrieben ist.“
Zunächst stellt der EuGH einen Vorrang des Sekundärrechts als leges speciales fest. Liegt solches vor, bildet dieses den vorrangigen Prüfmaßstab.468 Fehlt es an einschlägigem Sekundärrecht, bleibt es Sache der Mitgliedstaaten, die notwendigen Regeln zu erlassen. Hieraus folgt ein Nebeneinander unterschiedlicher Rechtsordnungen, deren Existenz nicht per se eine Beschränkung der Warenverkehrsfreiheit darstellt. Vielmehr ist in einem ersten Schritt auf die Herkunftsrechtsordnung abzustellen: Ein Produkt, das unter den Prämissen dieser Rechtsordnung rechtmäßig in den Wirtschaftsverkehr dieses Mitgliedstaates gelangt ist, hat grundsätzlich binnenmarktweite Verkehrsfähigkeit. In einem zweiten Schritt ist die Bestimmungsrechtsordnung zu betrachten. Verfügt diese
468 Wobei das Sekundärrecht selbst auch marktgrundfreiheitenkonform sein muss. Dabei verfügt der Unionsgesetzgeber jedoch über einen gesetzgeberischen Spielraum, vgl. aus der Rechtsprechung bspw. EuGH, verb. Rs. C-402/05 P und C-415/05 P, Kadi, Slg. 2008, I-6351 Rn. 360.
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4. Kapitel: Einwirkungen des Primärrechts in das autonome IPR
über funktionsäquivalente469 Regelungen, müssen sich diese Regelungen, soweit sie zu zusätzlichen Belastungen für den Warenexporteur bzw. den Warenimporteur und damit zu einer Verkürzung des Einfuhrvolumens einer Ware führen, gegenüber der Warenverkehrsfreiheit rechtfertigen. Es findet somit ein Abgleich von Herkunftsrechtsordnung und Bestimmungsrechtsordnung statt. Führt die Anwendung beider Rechtsordnungen auf die Ware oder auf die grenzüberschreitende Verbringung der Ware dazu, dass die Ware im Vergleich zur singulären Anwendung der Herkunftsrechtsordnung stärker belastet ist, so liegt hierin eine Behinderung der Warenverkehrsfreiheit begründet. Mit diesem Prüfungsmaßstab gewährleistet der Gerichtshof eine der ökonomischen Funktionen des Binnenmarktes. Ließe man die Möglichkeit einer Verteuerung der Herstellungskosten aufgrund einer Überlagerung der rechtlichen Vorgaben der Herkunftsrechtsordnung durch funktionsäquivalente rechtliche Vorgaben der Bestimmungsrechtsordnung zu, würden die durch die Markterweiterung erreichten Größenvorteile, die nach der Theorie der „Economies of Scale“ gerade jene Wohlfahrtseffekte produzieren, die man sich von der Errichtung des Binnenmarktes erwartet, im Ergebnis durch die Kosten der Anpassung einer Ware an die unterschiedlichen Vorgaben der jeweiligen Bestimmungsrechtsordnungen egalisiert.470 Die Effekte der „Economies of Scale“ sind in idealer Weise erreichbar, indem eine Ware unter Einhaltung der Vorgaben einer Rechtsordnung hergestellt wird und damit binnenmarktweit zirkulationsfähig ist. Dieser Prüfungsmaßstab wurde von der Literatur als Herkunftsprinzip,471 Herkunftslandprinzip,472 Anerkennungsprinzip473 oder Ursprungslandprinzip474 bezeichnet. Im englischsprachigen Raum wurde hierfür auch der Begriff der „double burden theory“ entwickelt.475 Es ist allerdings zweifelhaft, ob die Cassis-Rechtsprechung tatsächlich mit Begrifflichkeiten wie Herkunftsprinzip oder Herkunftslandprinzip zutreffend umschrieben ist. In den Worten von Wilmowskys ist dieses Prinzip „weder eine hinreichende noch eine notwendige Bedingung für die Verwirklichung der genannten Freiheiten. Es gibt Fälle, in denen die Anwendung von Normen des Herkunftsstaats die Grundfreiheiten nicht ausschöpft; umgekehrt ist die An-
469 Vgl. dazu W.-H. Roth, ZHR 159 (1995), 78, 87; Basedow, RabelsZ 59 (1995), 1, 8 mit Verweis auf EuGH, Rs. 220/81, Robertson, Slg. 1982, 2349 und Rs. 27/80, Fietje, Slg, 1980, 3839 Rn. 12. 470 Vgl. Basedow, RabelsZ 59 (1995), 1, 8. 471 Steindorff, ZHR 150 (1986), 3, 7 f. 472 Grabitz, FS Steindorff, S. 1229, 1231 f. 473 Behrens, EuR 1992, 145, 156 f. 474 Müller-Graff, in: von der Groeben/Schwarze/Hatje, Art. 34 AEUV Rn. 190. 475 Vgl. Poiares Maduro, ELJ 3 (1997), 55, 59; Spaventa, CMLR 41 (2004), 743, 745.
B. Vorgaben der Marktgrundfreiheiten
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wendung des Herkunftsrechts nicht immer erforderlich, um den Freiheiten Genüge zu tun.“476 Er verweist zur Untermauerung seiner Aussage auf einen bemerkenswerten Fall aus der Rechtsprechung: Den Wermutwein-Fall.477 Der § 32 Abs. 1 des damaligen deutschen Weingesetzes sah vor, dass „im Ausland hergestellte weinhaltige Getränke […] nur ins Inland verbracht werden [dürfen], wenn die gesamte Herstellung in demselben Staat nach den dort geltenden Vorschriften vorgenommen worden ist und das Erzeugnis dort mit der Bestimmung, unverändert verzehrt zu werden, in den Verkehr gebracht werden darf“. Das Herkunftslandprinzip wurde hier in seiner Reinform in die Gesetzesform gegossen. Trotzdem hielt der EuGH die deutsche Regelung für einen Verstoß gegen die Warenverkehrsfreiheit.478 Der Grund dafür ist evident. Wenn wie im streitgegenständlichen Sachverhalt die Herkunftsrechtsordnung eine Vorgabe über einen bestimmten Mindestalkoholgehalt enthält, die Bestimmungsrechtsordnung für die heimische Produktion jedoch keinen Mindestalkoholgehalt für ein vergleichbares Produkt verlangt, dann liegt hier eine Ungleichbehandlung der ausländischen Waren mit vergleichbaren inländischen Waren im Bestimmungsland vor. Es handelt sich um eine klassische mittelbare Diskriminierung, die die Warenverkehrsfreiheit verletzt. Dieser Fall macht deutlich, dass die Warenverkehrsfreiheit nicht aus grundsätzlichen Erwägungen der Herkunftsrechtsordnung zur Durchsetzung verhilft. Für eine zutreffende Einordnung der „Cassis“-Rechtsprechung muss man zum einen die Wirkungsrichtung der Warenverkehrsfreiheit in Art. 34 AEUV auf Wareneinfuhren und zum anderen die Wirkungsweise der Marktgrundfreiheiten als Normen der negativen Integration berücksichtigen. Als Wareneinfuhrfreiheit nimmt die Warenverkehrsfreiheit in Art. 34 AEUV den Import aus dem Herkunftsstaat in den Bestimmungsstaat in Betracht. Sie klopft also die Bestimmungsrechtsordnung, soweit deren Regeln nicht bereits unmittelbar oder mittelbar diskriminierend ausgestaltet sind, daraufhin ab, ob sie Regelungen enthält, die die Einfuhr einer ausländischen Ware erschweren. Die Erschwernis beim Import entsteht dadurch, dass eine Ware, die vor dem Import entsprechend der rechtlichen Vorgaben ihrer Herkunftsrechtsordnung rechtmäßig hergestellt und dort in den Verkehr gebracht worden ist, zusätzlichen Anforderungen in der Bestimmungsrechtsordnung unterliegt. Bietet die Warenverkehrsfreiheit selber keinen eigenständigen Prüfungsmaßstab, muss sie demnach die Herkunftsrechtsordnung aufgreifen. Der Verweis auf das Sekundärrecht im Cassis-Urteil macht deutlich, dass der EuGH die Warenverkehrsfreiheit nicht so verstanden sehen möchte, dass sie 476
von Wilmowsky, RabelsZ 62 (1998), 1, 11. EuGH, Rs. 59/82, Schutzverband gegen Unwesen in der Wirtschaft/WeinvertriebsGmbH, Slg. 1983, 1217. 478 EuGH, Rs. 59/82, Schutzverband gegen Unwesen in der Wirtschaft/WeinvertriebsGmbH, Slg. 1983, 1217 Rn. 8 f. 477
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4. Kapitel: Einwirkungen des Primärrechts in das autonome IPR
selbst eine materielle Vorgabe für die Binnenmarktausgestaltung enthält. Dies überlässt der Gerichtshof dem Sekundärrechtsgeber. Die so verstandene „Cassis“-Rechtsprechung bedeutet dann im Ergebnis nichts anderes als die konsequente Anwendung des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes auf Maßnahmen des Bestimmungslandes bei der Rechtfertigung des Warenverkehrsfreiheitseingriffs.479 Die von der Warenverkehrsfreiheit denklogisch aufgegriffene Perspektive von der Herkunftsrechtsordnung auf die Bestimmungsrechtsordnung führt, wenn man sie mit dem negativ wirkenden Normbefehl kombiniert, der sich im Wege des Anwendungsvorrangs an die Stelle der mitgliedstaatlichen Norm setzt, zu dem als Herkunftslandprinzip bezeichneten Ergebnis. Die Durchsetzung der Herkunftsrechtsordnung ist nämlich die Folge davon, dass die Norm der Bestimmungsrechtsordnung aufgrund eines möglicherweise festgestellten Verstoßes gegen die Warenverkehrsfreiheit unanwendbar ist. Diese Unanwendbarkeit führt zunächst zu einer Lücke in der Rechtsordnung des Bestimmungslandes, die nach Maßgabe der juristischen Methodenlehre dieser Rechtsordnung zu schließen ist.480 Hierbei kann das Ergebnis sein, dass keine weiteren rechtlichen Vorgaben an die EU-ausländische Ware durch die Bestimmungsrechtsordnung gestellt werden und somit faktisch die Vorgaben der Herkunftsrechtsordnung für die eingeführte Ware rechtlich maßgeblich sind.481 Zwingend ist dieses Ergebnis jedoch nicht. Deshalb ist es auch keine ungeschriebene Tatbestandsvoraussetzung für die Warenverkehrsfreiheit, dass die Ware in ihrem Herkunftsstaat rechtmäßig hergestellt und in den Verkehr gebracht worden ist,482 wie es der WermutweinFall483 deutlich zum Ausdruck bringt. Sind die rechtlichen Vorgaben der Herkunftsrechtsordnung restriktiver als diejenigen der Bestimmungsrechtsordnung, bedeutet dies nicht, dass im Herkunftsland keine Waren hergestellt werden dürfen, die weniger restriktiven Vorgaben entsprechen und lediglich für den Export vorgesehen sind. Auch solche Waren genießen den Schutz der Warenverkehrsfreiheit.484 Der Verweis auf die Rechtmäßigkeit der Waren in der Bestimmungsrechtsordnung im „Cassis de Dijon“-Urteil ist lediglich sachverhaltlich bedingt.485
479
Vgl. Steindorff, FS W. Lorenz, S. 561, 562; Roth, ZHR 159 (1995), 78, 90 f.; Siehe dazu im Detail bereits oben S. 69 ff. 481 Vgl. von Wilmowsky, Europäisches Kreditsicherungsrecht, S. 54; Müller-Graff, in: GTE (4. Aufl.), Art. 30 EWGV Rn. 81. 482 Vgl. Müller-Graff, in: von der Groeben/Schwarze/Hatje, Art. 34 AEUV Rn. 235. 483 EuGH, Rs. 59/82, Schutzverband gegen Unwesen in der Wirtschaft/WeinvertriebsGmbH, Slg. 1983, 1217. 484 Vgl. von Wilmowsky, Europäisches Kreditsicherungsrecht, S. 55. 485 Ebenso Müller-Graff, in: von der Groeben/Schwarze/Tietje, Art. 34 AEUV Rn. 235. 480
B. Vorgaben der Marktgrundfreiheiten
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Dass die Warenverkehrsfreiheit zwar einen teilweisen Schutz der Herkunftsrechtsordnung beinhaltet, damit jedoch nicht erschöpft ist, beweist eine Kontrollüberlegung, die von Wilmowsky anführt: Er modifiziert den Cassis-Fall dergestalt, dass nunmehr auch die französische Herkunftsrechtsordnung für Liköre einen Mindestalkoholgehalt von 25 % verlangen würde.486 Bestehen nun dieselben rechtlichen Anforderungen an ein Produkt sowohl in der Herkunftsals auch in der Bestimmungsrechtsordnung, hat dies nicht zur Folge, dass der Schutzbereich die Warenverkehrsfreiheit verschlossen wäre. Da nach dem vorhergehend Gesagten nicht notwendig ist, dass eine Ware in ihrer Herkunftsrechtsordnung rechtmäßig in den Verkehr gekommen ist, ist eine Anforderung der Bestimmungsrechtsordnung, wenn sie nicht von einer funktionsäquivalenten Anforderung der Herkunftsrechtsordnung abweicht, immer noch daraufhin zu prüfen, ob sie den Marktzugang für eine EU-ausländische Ware versperrt. Hieraus lässt sich nun zweierlei schlussfolgern: Zum einen lässt sich der Gewährleistungsgehalt des Beschränkungsverbots nicht auf ein Herkunftslandprinzip reduzieren. Zum anderen hat diese Erkenntnis Konsequenzen für die Bestimmung des Einfuhrvolumens, dessen Verringerung durch eine Maßnahme der Bestimmungsrechtsordnung den Schutzbereich der Warenverkehrsfreiheit eröffnet. Diesbezüglich ließe sich nämlich vertreten, dass die Herkunftsrechtsordnung bestimmt, wie hoch das maximale Einfuhrvolumen einer Ware ist. Jede im Vergleich zur Herkunftsrechtsordnung restriktivere Regelung würde dann das Einfuhrvolumen verringern mit der Folge, dass eine Behinderung der Warenverkehrsfreiheit vorliegt. Alternativ dazu ließe sich das Einfuhrvolumen auch losgelöst von einer konkreten Rechtsordnung bestimmen. Dann bezieht sich das Einfuhrvolumen auf die Ware, so wie sie hergestellt wurde, und jede hiervon abweichende mitgliedstaatliche Regelung stellt eine potenzielle Verringerung des Einfuhrvolumens dar. Für letzteres spricht, dass die Warenverkehrsfreiheit nicht mit einem Herkunftslandprinzip gleichgesetzt werden kann und deshalb die Herkunftsrechtsordnung auch nicht die Bezugsgröße für das Einfuhrvolumen sein kann. Bestätigt wurde die letztere Sichtweise vom EuGH in seiner Rechtsprechung zu den Sonntagsverkaufsverboten. In der Rechtssache „Torfaen“487 ging es um das britische Sonntagsverkaufsverbot. Die hiergegen verstoßende Beklagte im Ausgangsverfahren, die britische B&Q plc, machte zur Eröffnung des Schutzbereichs der Warenverkehrsfreiheit lediglich geltend, dass ihre Umsätze nach Anwendung des Sonntagsverkaufsverbots durchschnittlich jährlich um 23 % zurückgingen und sie 10 % ihres Warensortiments aus dem EU-Ausland bezieht.488 Der EuGH be-
486
Vgl. von Wilmowsky, Kreditsicherungsrecht, S. 55 f. EuGH, Rs. C-145/88, Torfaen, Slg. 1989, 3851. 488 Vgl. GA van Gerven, SchlA Rs. C-154/88, Torfaen, Slg. 1989, 3851 Nr. 3. 487
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4. Kapitel: Einwirkungen des Primärrechts in das autonome IPR
jahte das Vorliegen einer Maßnahme gleicher Wirkung wie eine mengenmäßige Einfuhrbeschränkung und prüfte die Rechtfertigung des Sonntagsverkaufsverbots.489 e) Herausnahme von absatzregulierenden Handelsbehinderungen, die nicht den Marktzugang versperren oder behindern Eine rein auf einen Vergleich der Einfuhrvolumina bei Anwendung und bei Außerachtlassung einer Maßnahme abzielende Eignungsprüfung erfasst im Ergebnis jedwede Marktregulierung. Das Einfuhrvolumen ist dann nämlich bei Abwesenheit jeglicher zusätzlicher Regulierung am größten, so dass ihr Vorhandensein den Absatz im Bestimmungsland zwangsläufig reduzieren muss. Ein derartige Bestimmung der Eignung einer Maßnahme zur Handelsbehinderung führt dazu, dass sich eine auch sehr abseits von der negativen Beeinflussung der grenzüberschreitenden warenbezogenen Handelsströme stehende Regulierung gegenüber der Warenverkehrsfreiheit rechtfertigen muss. Eine derart weite Definition des Eingriffs in eine Grundfreiheit führt nicht nur zwangsläufig zu einer Überfrachtung des Unionsrichters.490 Dieses Verständnis verliert auch die Binnenmarktfinalität der Grundfreiheiten aus dem Blick. Die Warenverkehrsfreiheit möchte in ihrer marktfreiheitlichen Dimension freizügigkeitsberechtigten Waren den Marktzugang zu sämtlichen Teilmärkten des Binnenmarktes gewährleisten und in ihrer marktgleichen Dimension erreichen, dass eine Ware, sobald sie den nationalen Teilmarkt betreten hat, auf diesem im Verhältnis zu vergleichbaren inländischen Waren zu denselben oder zumindest nicht zu nachteilhafteren Bedingungen gehandelt werden darf. Die so verstandene Warenverkehrsfreiheit erfasst jegliche Form von Diskriminierung aufgrund der Warenherkunft sowie sämtliche Kriterien, die die Rechtsordnung des Bestimmungslandes zusätzlich zu denen der Herkunftsrechtsordnung an eine Ware anlegt. Sie muss jedoch nicht jede Verringerung des Einfuhrvolumens einer Ware erfassen, die in einer Beeinträchtigung der Absatzmöglichkeiten besteht, solange gewährleistet ist, dass ausländische Waren den mitgliedstaatlichen Teilmarkt des Binnenmarkt betreten können und vergleichbaren inländischen Waren rechtlich und tatsächlich gleichgestellt sind. Eine derartige, auf den Schutzzweck der Warenverkehrsfreiheit bezogene Eignungsprüfung mitgliedstaatlicher Maßnahmen schien die „Oosthoek“Rechtsprechung anzudeuten.491 Das im Jahr 1993 ergangene „Keck“-Urteil be-
489 EuGH, Rs. C-145/88, Torfaen, Slg. 1989, 3851 Rn. 12 f.; bestätigt in EuGH, Rs. C-312/89, Conforama, Slg. 1991, I-997 Rn. 8 f.; Rs. C-332/89, Marchandise, Slg. 1991, I-1027 Rn. 9 f. 490 Vgl. EuGH, verb. Rs. C-267/91 und C-268/91, Keck und Mithouard, Slg. 1993, I-6097 Rn. 14. 491 EuGH, Rs. 286/81, Oosthoek, Slg. 1982, 4575; dazu siehe oben S. 181 ff.
B. Vorgaben der Marktgrundfreiheiten
193
traf die Fallgruppe von Maßnahmen, die geeignet sein können, das Einfuhrvolumen einer Ware zu verringern, ohne zugleich diskriminierend zu wirken und den Zugang zum mitgliedstaatlichen Teilmarkt zu versperren.492 Streitgegenständlich war im „Keck“-Urteil eine französische Regelung, die es untersagte, Waren in ihrem unveränderten Zustand unter ihrem tatsächlichen Einkaufspreis weiterzuverkaufen. Die ersten Schlussanträge493 in dieser Rechtssache warfen die Frage auf, ob der Weiterverkauf unter Verlustpreis nicht eine „Methode der Absatzförderung“ im Sinne der „Oosthoek“-Rechtsprechung sei.494 Einleitend führt der EuGH in seinem Urteil in dieser Rechtssache hierzu aus: „Zwar können solche Rechtsvorschriften das Absatzvolumen und damit das Volumen des Absatzes von Erzeugnissen aus anderen Mitgliedstaaten insoweit beschränken, als sie den Wirtschaftsteilnehmern eine Methode der Absatzförderung nehmen. Es ist jedoch fraglich, ob diese Möglichkeit ausreicht, um die in Rede stehenden Rechtsvorschriften als eine Maßnahme mit gleicher Wirkung wie eine mengenmäßige Einfuhrbeschränkung anzusehen.“495
In den hierauf folgenden Ausführungen verweist der EuGH auf die „Cassis de Dijon“-Rechtsprechung, um im Anschluss daran seine neue Rechtsprechungslinie von dieser Rechtsprechung abzugrenzen: „Demgegenüber ist entgegen der bisherigen Rechtsprechung die Anwendung nationaler Bestimmungen, die bestimmte Verkaufsmodalitäten beschränken oder verbieten, auf Erzeugnisse aus anderen Mitgliedstaaten nicht geeignet, den Handel zwischen den Mitgliedstaaten im Sinne des Urteils Dassonville […] unmittelbar oder mittelbar, tatsächlich oder potenziell zu behindern, sofern diese Bestimmungen für alle betroffenen Wirtschaftsteilnehmer gelten, die ihre Tätigkeit im Inland ausüben, und sofern sie den Absatz der inländischen Erzeugnisse und der Erzeugnisse aus anderen Mitgliedstaaten rechtlich wie tatsächlich in der gleichen Weise berühren.“496
Der EuGH begründet dies mit dem Verweis auf den Marktzugang: „Sind diese Voraussetzungen nämlich erfüllt, so ist die Anwendung derartiger Regelungen auf den Verkauf von Erzeugnissen aus einem anderen Mitgliedstaat, die den von diesem Staat aufgestellten Bestimmungen entsprechen, nicht geeignet, den Marktzugang für diese Erzeugnisse zu versperren oder stärker zu behindern, als sie dies für inländische Erzeugnisse tut.“497
492
EuGH, verb. Rs. C-267/91 und C-268/91, Keck und Mithouard, Slg. 1993, I-6097. Die zweiten Schlussanträge stellte GA van Gerven am 28. April 1993 vor. 494 GA van Gerven, SchlA I verb. Rs. C-267/91 und C-268/91, Keck und Mithouard, Slg. 1993, I-6097 Nr. 4. 495 EuGH, verb. Rs. C-267/91 und C-268/91, Keck und Mithouard, Slg. 1993, I-6097 Rn. 13. 496 EuGH, verb. Rs. C-267/91 und C-268/91, Keck und Mithouard, Slg. 1993, I-6097 Rn. 16. 497 EuGH, verb. Rs. C-267/91 und C-268/91, Keck und Mithouard, Slg. 1993, I-6097 Rn. 17. 493
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4. Kapitel: Einwirkungen des Primärrechts in das autonome IPR
Aus dem „Keck“-Urteil folgt damit zunächst, dass „bestimmte Verkaufsmodalitäten“ trotz ihrer Eignung, den innerunionalen Handel zu behindern, da sie als Regelung einer Methode der Absatzförderung das Absatzvolumen ausländischer Waren im Bestimmungsland verringern,498 keine Maßnahmen gleicher Wirkung wie eine mengenmäßige Einfuhrbeschränkung sind. Das Urteil wurde im Schrifttum stark kritisiert.499 Hierbei wird insbesondere die mangelnde Prägnanz und Konturenschärfe des Begriffes der „bestimmten Verkaufsmodalitäten“ kritisiert, die zur Folge hat, dass die Kategorie kein „subsumtionsleitendes eigenständiges Kriterium für die Prüfung“500 bilden kann. Sie entspricht allenfalls einer Vermutung, die der EuGH „aufgrund seiner Erfahrung und seiner Kenntnis des Marktverhaltens […] über die wahrscheinlichen Auswirkungen verschiedener Arten von Regelungen auf die Erreichung des Endziels“501 der Warenverkehrsfreiheit aufstellt. aa) Absatzregulierende Handelsbehinderungen mit Produktbezug Diesen Eindruck bestätigt die Folgerechtsprechung, die den Produktregeln solche Regelungen zuschlug, die wie Regelungen zur Produktzusammensetzung502, absolute Vertriebsverbote503 oder Verpackungsregeln betreffend die Angabe der Produktzusammensetzung504 oder den Markennamen505 Eigenschaften des Produkts in ihrem Tatbestand tragen oder die zwar nicht unmittelbar Eigenschaften des Produkts in ihrem Tatbestand tragen, jedoch eine Wirkung zeitigen, als ob sie Eigenschaften des Produktes regelten. Das ist insbesondere bei Regelungen, die die Verpackung oder die Absatzförderung betreffen, die körperlich mit dem Produkt verbunden sind, der Fall.506 So etwa in der Rechtssache „Mars“, in der das Verbot des Aufdrucks „+10%“ auf der Verpackung für einen Eiskremriegel, der auch tatsächlich ein um zehn Prozent größeres Volumen hatte, vom EuGH als Produktregel qualifiziert wurde.507 Oder 498
Vgl. auch Müller-Graff, in: von der Groeben/Schwarze/Hatje, Art. 34 AEUV Rn. 181. Müller-Graff, in: von der Groeben/Schwarze/Hatje, Art. 34 AEUV Rn. 247 ff.; Steindorff, ZHR 158 (1994), 159 f.; Roth, in: FIW, Marktwirtschaft und Wettbewerb im sich erweiternden europäischen Raum, S. 21, 32 f.; Schubert, Der Gemeinsame Markt als Rechtsbegriff, S. 378 ff.; Reich, EuZW 2007, 715, 716. 500 Müller-Graff, in: von der Groeben/Schwarze/Hatje, Art. 34 AEUV Rn. 247. 501 GA Fenelly, SchlA Rs. C-190/98, Graf, Slg. 2000, I-493 Nr. 19. 502 Salzgehalt von Brot: EuGH, Rs. C-17/93, Van der Veldt, Slg. 1994, I-3537 Rn. 11; Feuchtigkeitsgehalt von Brot: EuGH, Rs. C-358/95, Morellato, Slg. 1997, I-1431 Rn. 12. 503 Verbot bestimmte Bienenrassen auf dänischen Inseln einzuführen: EuGH, Rs. C-67/97, Bluhme, Slg. 1998, I-8033 Rn. 19. 504 EuGH, Rs. C-217/99, Kommission/Belgien, Slg. 2000, I-10251 Rn. 18. 505 Die Verwendung des französischen Produktnamens „Clinique“: EuGH, Rs. C-315/92, Clinique, Slg. 1994, I-317 Rn. 19. 506 Vgl. Körber, Grundfreiheiten und Privatrecht, S. 178 f. 507 EuGH, Rs. C-470/93, Mars, Slg. 1995, I-1923 Rn. 13. 499
B. Vorgaben der Marktgrundfreiheiten
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auch in der Rechtssache „Familiapress“, in der der EuGH das österreichische Zugabeverbot, wonach u.a. Preisausschreiben in Zeitschriften untersagt waren, im Hinblick auf eine deutschsprachige Zeitschrift, die ein in Deutschland zulässiges Kreuzworträtsel enthielt, dessen richtige Beantwortung die Teilnahme an einer Verlosung eröffnete, ebenfalls als Produktregel einordnete. Deutlich führte er aus: „Selbst wenn die streitige nationale Regelung eine verkaufsfördernde Maßnahme betreffen sollte, so bezieht sie sich im vorliegenden Fall doch auf den Inhalt der Erzeugnisse selbst, denn die fraglichen Preisausschreiben sind Bestandteil der Zeitschrift, in der sie sich befinden.“508 In gleichem Maße knüpft eine Regelung an Produkteigenschaften an, die die Besonderheiten einer Produktkategorie nicht hinreichend berücksichtigt. Dies ist der Fall bei einer nicht vorhandenen Differenzierung zwischen Aufbackbroten, die lediglich einen Ofen verlangen, und normalen Backwaren. Eine griechische Regelung verlangte von Geschäften für den Verkauf von Aufbackbroten, dass diese wie eine Bäckerei ausgestattet sein müssen (bspw. ein Mehllager vorhalten). Dies war daher als produktbezogene Regel einzuordnen.509 Gemeinsam ist diesen Regelungen, dass ihre Nichtbeachtung zu einem Einfuhrverbot führt und damit den Marktzugang nicht nur beschränkt, sondern versperrt.510 Anders ausgedrückt, kann das Produkt nicht „tel quel“ den Bestimmungsmarkt betreten. bb) Absatzregulierende Handelsbehinderungen ohne Produktbezug: Bestimmte Verkaufsmodalitäten Von der Rechtsprechung anerkannte „bestimmte Verkaufsmodalitäten“ regelten eine Methode der Absatzförderung im Bestimmungsland, ohne damit andere sinnvolle Methoden der Absatzförderung zu verschließen. So verhindern weder das an Apotheken gerichtete Verbot, für apothekenübliche Waren zu werben, 511 noch das an Vertriebshändler gerichtete Verbot, Fernsehwerbung zu betreiben,512 oder das vollständige Verbot von Werbung, die an Kinder unter zwölf Jahren gerichtet oder irreführend ist,513 dass davon betroffene Waren entweder von anderen Wirtschaftsteilnehmern oder mit anderen Werbemethoden
508
EuGH, Rs. C-368/95, Familapress, Slg. 1997, I-3689 Rn. 11. EuGH, Rs. verb. Rs. C-158/04 und C-159/04, Alfa Vita Vassilopoulos, Slg. 2006, I-8135 Rn. 19. 510 Vgl. Körber, Grundfreiheiten und Privatrecht, S. 179. 511 EuGH, Rs. C-292/92, Hünermund, Slg. 1993, I-6787 Rn. 19. 512 EuGH, Rs. C-412/93, Leclerc-Siplec, Slg. 1995, I-179 Rn. 22. 513 EuGH, verb. Rs. C-34/95 bis C-36/95, De Agostini, Slg. 1997, I-3843 Rn. 40f., 44. 509
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4. Kapitel: Einwirkungen des Primärrechts in das autonome IPR
im Bestimmungsland beworben werden konnten. Ebenso führen Ladenöffnungsregeln, die in Abkehr von der Rechtsprechung in „Torfaen“514 als „bestimmte Verkaufsmodalitäten“ qualifiziert wurden,515 nur dazu, dass Produkte zu bestimmten Zeiten nicht verkauft werden konnten, nicht jedoch, dass sie überhaupt nicht vertrieben werden konnten und der Marktzugang damit versperrt gewesen wäre. So lässt sich auch die Rechtssache „TK-Heimdienst Sass“516 erklären, in der es um eine österreichische Regelung ging, die den ambulanten Direktvertrieb (Feilbieten von vorher nicht bestellten Waren im Umherziehen) für Bäckereien, Metzgereien und Lebensmittelhändler an das Vorhandensein einer ortsfesten Betriebsstätte in einem Vertriebsbezirk knüpfte. Diese Regelung versperrt den Direktvertrieb durch Händler ohne ortsfeste Betriebsstätte, ohne dadurch jedoch den Marktzugang des Produktes selbst zu versperren, da es von Händlern mit ortsfester Betriebsstätte vertrieben werden kann.517 Dieser Gedanke findet sich auch in der Rechtsprechung zu den Vertriebsmonopolen von Produkten wieder. Hierbei handelt es sich um die Umkehrung der gerade aufgezählten Rechtsprechung: Anstatt bestimmte Methoden der Absatzförderung zu untersagen, wird lediglich eine Methode erlaubt, was im Umkehrschluss dazu führt, dass alle anderen Methoden der Absatzförderung untersagt sind. Daher handelt es sich aus Sicht des EuGH bei dem italienischen Tabakvertriebsmonopol um eine „bestimmte Verkaufsmodalität“,518 obwohl die entsprechende Vorschrift tatbestandlich an das Produkt „Tabak“ anknüpfte. Sie führte allerdings keine zusätzlichen Anforderungen an das Produkt „Tabak“ ein.519 Auf der selben Argumentationslinie ordnete der EuGH eine griechische Regelung, die den Verkauf von verarbeiteter Milch für Säuglinge grundsätzlich den Apotheken vorbehält,520 und eine deutsche Regelung, wonach die Versorgung von Krankenhäusern mit Arzneimitteln praktisch nur Apotheken möglich ist, die in regionaler Nähe zu einem Krankenhaus niedergelassen sind,521 als eine solche „bestimmte Verkaufsmodalität“ ein. 514
EuGH, Rs. C-145/88, Torfaen, Slg. 1989, I-3851. EuGH, Rs. verb. C-401/92 und C-402/92, ’t Heukske und Boermans, Slg. 1994, I-2199 Rn. 12 ff.; verb. Rs. C-69/93 und C-258/93, Punto Casa, Slg. 1994, I-2355 Rn. 15; verb. Rs. C-418/93 bis C-421/93, C-460/93 bis C-462/93, C-464/93, C-9/94 bis C-11/94, C-14/94, C15/94, C-23/94, C-24/94 und C-332/94, Semeraro Caso Uno, Slg. 1996, I-2975 Rn. 28. 516 EuGH, Rs. C-254/98, TK-Heimdienst Sass, Slg. 2000, I-151. 517 EuGH, Rs. C-254/98, TK-Heimdienst Sass, Slg. 2000, I-151 Rn. 24. Die Regelung unterliegt jedoch aufgrund ihrer mittelbar diskriminierenden Wirkung der Warenverkehrsfreiheit, vgl. Rn. 25 ff. 518 EuGH, Rs. C-387/93, Banchero, Slg. 1995, I-4663 Rn. 36 ff. 519 Vgl. Körber, Grundfreiheiten und Privatrecht, S. 181 f. 520 EuGH, Rs. C-391/92, Kommission/Griechenland, Slg. 1995, I-1621 Rn. 21. Ebenso in jüngerer Zeit zum ungarischen Vertriebsmonopol für Kontaktlinsen: EuGH, Rs. C-108/09, Ker-Optika, Slg. 2010, I-12213 Rn. 52. 521 EuGH, Rs. C-141/07, Kommission/Deutschland, Slg. 2008, I-6935 Rn. 31. 515
B. Vorgaben der Marktgrundfreiheiten
197
cc) Zwischenfazit Die Rechtsprechung des EuGH, die auf das „Keck“-Urteil folgte, lässt erkennen, dass Regelungen, die einem ausländischen Produkt den Zugang zu einem mitgliedstaatlichen Teilmarkt des Binnenmarktes komplett versperren, als Maßnahmen gleicher Wirkung im Sinne der Warenverkehrsfreiheit eingeordnet werden. Das ist insbesondere bei Regelungen der Fall, die in ihrem Tatbestand an bestimmte Produkteigenschaften anknüpfen, deren Erfüllung eine Modifikation des Produktes nach sich zöge. Das gilt ebenfalls für solche Regelungen, die zwar nicht auf Produkteigenschaften Bezug nehmen, jedoch Methoden der Absatzförderung (wie Verpackungen) regulieren, die in einem körperlichen Bezug zum Produkt stehen. Gemeinsam ist diesen Fällen, dass eine Nichtbefolgung dieser Regelungen einem Einfuhrverbot gleichkommt. Regelungen, deren Wirkung lediglich darin besteht, eine Methode der Absatzförderung im Bestimmungsland zu nehmen, ohne dass deren Nichtbefolgung einem Einfuhrverbot gleichkommt, unterliegen nicht mehr der Warenverkehrsfreiheit. Die Ablehnung der Eignung dieser Regelungen zur Behinderung der Warenverkehrsfreiheit in der Folge des Urteils in der Rechtssache „Keck“ bewegt sich im Ergebnis auf einer Linie mit der Rechtsprechung des EuGH vor „Keck“ in den Rechtssachen „Oebel“ und „Blesgen“. So sehr allerdings aus dieser Zusammenschau eine Ratio des Marktzugangs durchscheint, so wenig hat sich der EuGH in der Folgerechtsprechung dazu bekannt.522 Es blieb unklar, ob es für die Herausnahme absatzregulierender Handelsbehinderungen aus dem Tatbestand der Warenverkehrsfreiheit auf eine kasuistische Einordnung als „bestimmte Verkaufsmodalität“ ankommt oder ob es sich hierbei lediglich um eine Vermutung handelt, wonach Fälle von bestimmten Verkaufsmodalitäten regelmäßig den Marktzugang nicht versperren und deshalb ausgenommen werden können. Entscheidungsrelevant wurde diese Unklarheit bei Maßnahmen, deren beschränkende Wirkung erst durch das Verbraucherverhalten eintritt. Solche Maßnahmen regeln die dem Kauf einer Ware nachgelagerte Verwendung dieser Ware. Da der Verkauf des Produktes durch solche Maßnahmen nicht betroffen ist, lassen sie sich nicht den „Verkaufsmodalitäten“ zuordnen. Dennoch führt die aus Verbrauchersicht reduzierte Brauchbarkeit des Produktes dazu, dass die Nachfrage gering ist und damit die durch die Verwendungsregelungen beeinflusste Verbrauchernachfrage das Absatzvolumen des betroffenen Produktes im Bestimmungsland verringert, was zwangsläufig zu einer Reduktion des Einfuhrvolumens führt. Stellt man anstelle der kasuistischen Einordnung als „bestimmte Verkaufsmodalität“ auf den Marktzugang als Kriterium für die Eignung einer Maßnahme zur Warenverkehrsbehinderung ab, ließen sich Verwendungsregelungen, die den Kauf eines Produktes im Bestimmungsland 522
Dies wurde allerdings von den Generalanwälten angeregt: S. etwa GA Stix-Hackl, SchlA Rs. C-322/01, DocMorris, Slg. 2003, I-14887 Nr. 74 ff.
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4. Kapitel: Einwirkungen des Primärrechts in das autonome IPR
praktisch nutzlos werden lassen, als Marktzugangssperren und solche Regelungen, die immer noch eine teilweise Nutzung ermöglichten, als ungeeignet einordnen, die Warenverkehrsfreiheit zu behindern. Nach den oben in der „Oosthoek“-Rechtsprechung des EuGH aufgestellten Grundsätzen unterliegen derartige Regelungen der Warenverkehrsfreiheit.523 Ihre Eignung zur Behinderung der Warenverkehrsfreiheit ließe sich nur aufgrund fehlender Kausalität ablehnen. Eine Einordnung als „bestimmte Verkaufsmodalität“ scheidet bereits terminologisch aus. dd) Absatzregulierende Handelsbehinderungen ohne Produktbezug: Verwendungsbeschränkungen Die Frage nach dem rechtlichen Umgang mit Maßnahmen, deren beschränkende Wirkung erst durch das Verbrauchverhalten aufgrund der eingeschränkten Nutzbarkeit eines Produkts eintritt, beschäftigte den EuGH in zwei parallel anhängigen Verfahren: In den Rechtssachen „Mickelsson und Roos“524 und „Kommission/Italien“525. Die erste Rechtssache behandelte eine schwedische Vorschrift, wonach die Nutzung von Wassermotorrädern außerhalb der öffentlichen Wasserstraßen und der Wasserflächen, auf denen die Behörden die Nutzung von Wassermotorrädern gestattet haben, verboten und unter Geldstrafe gestellt ist. Die zweite Rechtssache betraf eine italienische Regelung, wonach das Ziehen von Anhängern durch Kleinkrafträder, Krafträder, dreirädrige Kraftfahrzeuge und vierrädrige Kraftfahrzeuge verboten ist. Beide Regeln hatten zur Folge, dass Verbrauchern der Kauf von Wassermotorrädern oder Anhängern, die eigens für Kraftfahrzeuge hergestellt wurden, weniger attraktiv bis sinnlos erscheinen musste. Die Generalanwälte schlugen zwei gegensätzliche Lösungen vor: Einerseits sollten Nutzungsmodalitäten den bestimmten Verkaufsmodalitäten als zweite Fallgruppe gleichgestellt werden mit der Folge, dass „eine nationale Bestimmung, die bestimmte Nutzungsmodalitäten beschränkt oder verbietet, nicht unter das Verbot des Artikels 28 EG [Art. 34 AEUV]“ fällt.526 Andererseits sollte die „Keck“-Rechtsprechung gerade nicht auf Nutzungsmodalitäten übertragen, sondern vielmehr anhand des Kriteriums des Marktzugangs geprüft werden, ob eine Behinderung der Warenverkehrsfreiheit vorliegt.527 Der EuGH entschied sich für eine notwendige Klarstellung seiner Rechtsprechung zur Warenverkehrsfreiheit. In seiner Urteilsbegründung in der Rechtssache „Kommission/Italien“ wiederholte der Gerichtshof unter der 523
Siehe oben S. 181 ff. EuGH, Rs. C-142/05, Mickelsson und Roos, Slg. 2009, I-4273. 525 EuGH, Rs. C-110/05, Kommission/Italien, Slg. 2009, I-519. 526 GA Kokott, SchlA Rs. C-142/05, Mickelsson und Roos, Slg. 2009, I-4273 Nr. 47 bis 524
56. 527
GA Bot, SchlA Rs. C-110/05, Kommission/Italien, Slg. 2009, I-519 Nr. 107 bis 138.
B. Vorgaben der Marktgrundfreiheiten
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Überschrift „Vorbemerkungen“ zunächst die Formeln seiner bisherigen Rechtsprechung zur Warenverkehrsfreiheit unter Verweis auf die Urteile „Dassonville“, „Cassis de Dijon“ und „Keck“, um abschließend seine Rechtsprechung zusammenzufassen: „Daher sind Maßnahmen eines Mitgliedstaats, mit denen bezweckt oder bewirkt wird, Erzeugnisse aus anderen Mitgliedstaaten weniger günstig zu behandeln, sowie die in Randnr. 35 des vorliegenden Urteils genannten Maßnahmen [„Hemmnisse für den freien Warenverkehr, die sich in Ermangelung einer Harmonisierung der Rechtsvorschriften daraus ergeben, dass Waren aus anderen Mitgliedstaaten, die dort rechtmäßig hergestellt und in den Verkehr gebracht worden sind, bestimmten Vorschriften entsprechen müssen, selbst dann […] wenn diese Vorschriften unterschiedslos für alle Erzeugnisse gelten“] als Maßnahmen mit gleicher Wirkung wie mengenmäßige Einfuhrbeschränkungen in Sinne des Art. 28 EG [Art. 34 AEUV] anzusehen. Ebenfalls unter diesen Begriff fällt jede sonstige Maßnahme, die den Zugang zum Markt eines Mitgliedstaats für Erzeugnisse aus anderen Mitgliedstaaten behindert.“528
Hieraus ergibt sich für den EuGH ein von der Literatur als „3-Stufen-Test“529 bezeichnetes Prüfungsschema, das demjenigen, das Generalanwalt Poiares Maduro in seinen Schlussanträgen in der Rechtssache „Alfa Vita Vassilopoulos“ bereits vorgeschlagen hatte,530 sehr ähnlich sieht.531 Hiernach sind Maßnahmen gleicher Wirkung wie mengenmäßige Einfuhrbeschränkungen im Sinne des Art. 34 AEUV: 1. Unmittelbare und mittelbare Diskriminierungen; 2. Unterschiedslos anwendbare Maßnahmen, wenn sie im Bestimmungsland zusätzliche Anforderungen an in anderen Mitgliedstaaten rechtmäßig hergestellte und in den Verkehr gebrachte Waren stellen; 3. Andere unterschiedslos anwendbare Maßnahmen, wenn sie den Zugang zum Markt eines Mitgliedstaates behindern. Der dritte Punkt erfasst damit die „bestimmten Verkaufsmodalitäten“ wie auch Verwendungsmodalitäten. Vor dem Hintergrund der auf das Urteil „Keck“ folgenden Rechtsprechung lässt sich darin keine Abkehr von „Keck“ erkennen. Vielmehr nimmt der EuGH Abstand von typisierenden Fallgruppen. Eine Zuordnung zur Fallgruppe der „bestimmten Verkaufsmodalitäten“ indiziert damit lediglich eine Behinderung des Marktzugangs. Die Zuordnung führt jedoch an
528
EuGH, Rs. C-110/05, Kommission/Italien, Slg. 2009, I-519 Rn. 33 bis 37 unter Streichung der Urteilsverweise. 529 Sack, EWS 2011, 265, 276 ff.; Brigola, EuZW 2011, 248, 252 ff. nennt ihn „3-StufenTheorie“; vgl. auch Repasi, EuZW 2011, 430, 431. 530 GA Poiares Maduro, SchlA verb. Rs. C-158/04 und C-159/04, Alfa Vita Vassilopoulos, Slg. 2006, I-8135 Nr. 43 bis 45. 531 Kingreen, in: Calliess/Ruffert, Art. 34 bis 36 AEUV Rn. 54.
200
4. Kapitel: Einwirkungen des Primärrechts in das autonome IPR
sich noch nicht zur Herausnahme einer absatzregulierenden Handelsbehinderung aus dem Tatbestand der Warenverkehrsfreiheit.532 Zur Beurteilung der Auswirkungen einer Verwendungsmodalität auf den Marktzugang stellt der EuGH auf den Verbraucher ab: „Ein Verbot der Verwendung eines Erzeugnisses im Hoheitsgebiet eines Mitgliedstaats [hat] erheblichen Einfluss auf das Verhalten der Verbraucher […], das sich wiederum auf den Zugang des Erzeugnisses zum Markt des Mitgliedstaats auswirkt.“533 Wenn Verbraucher aufgrund einer Verwendungsmodalität „praktisch kein Interesse daran“534 haben, ein Produkt zu erwerben, dann versperrt diese Regelung den Marktzugang. Im Fall der schwedischen Wassermotorräder überließ der EuGH die konkrete Feststellung der Wirkung der schwedischen Verwendungsmodalität auf den Verbraucher dem vorlegenden nationalen Gericht. Er hielt dabei neben der Marktzugangssperre, die darin begründet ist, den einem Produkt „eigenen und wesensimmanenten Gebrauch“ nicht nutzen zu können, auch für ausreichend, dass „deren Nutzung stark“ durch die Verwendungsmodalitäten behindert ist.535 ee) Relevantes Kriterium: Marktzugang Zur Feststellung, ob eine unterschiedslos anwendbare Maßnahme, die weder unmittelbar noch mittelbar aus Gründen der Warenherkunft diskriminierend wirkt noch zusätzliche Anforderungen an eine rechtmäßig hergestellte und in den Verkehr gebrachte Ware aufstellt, als eine Maßnahme gleicher Wirkung wie eine mengenmäßige Einfuhrbeschränkung unter die Warenverkehrsfreiheit fällt, ist auf den Zugang einer Ware zum mitgliedstaatlichen Teilmarkt im Binnenmarkt abzustellen. Dabei ist entscheidend, ob der Marktzugang versperrt ist. Hierfür ist die Feststellung einer marktzugangsversperrenden Wirkung ausreichend. Nach der Rechtsprechung wirkt eine Marktzugangsbehinderung wie eine Marktzugangssperre, wenn diese lediglich eine marginale Nutzungsmöglichkeit des Produktes zulässt.
532 Vgl. auch Brigola, EuZW 2011, 248, 252: „Metamorphose der Keck-Formel“; Leible/T. Streinz, in: Grabitz/Hilf/Nettesheim, Art. 34 AEUV Rn. 83; Müller-Graff, in: von der Groeben/Schwarze/Hatje, Art. 34 AEUV Rn. 250. 533 EuGH, Rs. C-110/05, Kommission/Italien, Slg. 2009, I-519 Rn. 56. 534 EuGH, Rs. C-110/05, Kommission/Italien, Slg. 2009, I-519 Rn. 57. 535 EuGH, Rs. C-142/05, Mickelsson und Roos, Slg. 2009, I-4273 Rn. 28. Die Annahme einer starken Nutzungsbehinderung folgt dabei GA Kokott, SchlA Rs. C-142/05, Mickelsson und Roos, Slg. 2009, I-4273 Nr. 67: „Als eine Versperrung des Marktzugangs ist insofern nicht nur eine im Ergebnis zu einem kompletten Ausschluss führende Regelung, etwa ein generelles Nutzungsverbot für ein bestimmtes Produkt, anzusehen. Bereits dann, wenn aufgrund einer besonders restriktiven Nutzungsregelung für ein Produkt eine lediglich marginale Nutzungsmöglichkeit verbleibt, ist dies als Versperrung des Marktzugangs anzusehen.“
B. Vorgaben der Marktgrundfreiheiten
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ff) Keine Verkürzung der Warenverkehrsfreiheit auf ein Diskriminierungsverbot bei marktzugangsbehindernden Maßnahmen Die „Keck“-Formel hat in der Literatur die Frage aufgeworfen, ob der EuGH mit ihr das Beschränkungsverbot der Warenverkehrsfreiheit in den Fällen „bestimmter Verkaufsmodalitäten“ auf ein Diskriminierungsverbot verkürzt hat.536 Grundlage dafür war die Aussage des EuGH, wonach „bestimmte Verkaufsmodalitäten“ nur Maßnahmen gleicher Wirkung sind, „sofern sie den Absatz der inländischen Erzeugnisse und der Erzeugnisse aus anderen Mitgliedstaaten rechtlich wie tatsächlich in der gleichen Weise berühren.“537 Diese Sichtweise ignoriert den Marktzugang als das zentrale Unterscheidungskriterium für die Einordnung von unterschiedslos anwendbaren Maßnahmen als Maßnahmen gleicher Wirkung im Sinne des Art. 34 AEUV. Die Frage nach dem Marktzugang stellt sich nämlich erst, nachdem man eine unmittelbar oder mittelbar diskriminierende Wirkung abgelehnt hat. Sachverhaltlich lässt sich das an der Rechtssache „Mickelsson und Roos“ deutlich machen. Die schwedische Beschränkung der Nutzung von Wassermotorrädern betraf schwedische wie ausländische Wassermotorräder in gleichem Maße.538 Sie beschränkte jedoch die Nutzung der Wassermotorräder derart, dass sie praktisch wie eine Marktzugangssperre wirkte.539 Dieses Fehlverständnis des „Keck“-Urteils ist aber bereits in der Urteilsbegründung angelegt. In der entscheidenden Randnummer 16 des Urteils entsteht der Eindruck, dass zuerst eine Zuordnung einer Maßnahme zu den „bestimmten Verkaufsmodalitäten“ erfolgen müsse, bevor die „Keck-Rückausnahme“540 in Form der „rechtlichen wie tatsächlichen Gleichberührung“ geprüft werden kann. Hieraus entstand der Eindruck, es handele sich bei der „Keck-Rückausnahme“ um ein zusätzliches besonderes Diskriminierungsverbot.541 In seinen späteren Urteilen nahm der EuGH auch selbst zunächst das Vorliegen einer „bestimmten Verkaufsmodalität“ an, bevor er die Frage beantwortete, ob der Absatz ausländischer und inländischer Waren rechtlich wie tatsächlich gleich-
536
Vgl. etwa Kingreen, Struktur, S. 56 f. EuGH, verb. Rs. C-267/91 und C-268/91, Keck und Mithouard, Slg. 1993, I-6097 Rn. 16. 538 Das Nichtvorhandensein einer schwedischen Produktion von Wassermotorrädern ist dabei in Anlehnung an EuGH, Rs. C-391/92, Kommission/Griechenland, Slg. 1995, I-1621 Rn. 15 ff. irrelevant, da es willkürlich wäre, für die Beurteilung der Ungleichberührung auf die gerade gegebenen faktischen Marktgegebenheiten abzustellen. Vgl. dazu GA Kokott, SchlA Rs. C-142/05, Mickelsson und Roos, Slg. 2009, I-4273 Nr. 61 f. 539 Vgl. GA Kokott, SchlA Rs. C-142/05, Mickelsson und Roos, Slg. 2009, I-4273 Nr. 66 ff. 540 Begrifflichkeit bei Leible/T. Streinz, in: Grabitz/Hilf/Nettesheim, Art. 34 AEUV Rn. 74; Streinz, EuZW 2003, 37, 40. 541 Becker, EuR 1994, 162, 172. 537
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4. Kapitel: Einwirkungen des Primärrechts in das autonome IPR
berührt ist. Damit wurde der Blick darauf verstellt, dass es sich bei der so genannten „Rückausnahme“ um einen lediglich klarstellenden Verweis darauf handelte, dass die Kategorisierung als „bestimmte Verkaufsmodalität“ nicht die Tragweite der Warenverkehrsfreiheit als Diskriminierungsverbot einschränkt.542 Vor diesem Hintergrund hätte der Gerichtshof richtigerweise bei denjenigen Maßnahmen, die er zwar als „bestimmte Verkaufsmodalität“ einordnete, dann jedoch aufgrund der mangelnden rechtlichen wie tatsächlichen Gleichberührung als rechtfertigungsbedürftig einstufte, zuerst das Vorliegen einer mittelbaren Diskriminierung in Form einer typischerweise den Absatz von Produkten ausländischer Warenherkunft benachteiligenden Regelung prüfen sollen.543 Im Gegensatz zu Überlegungen, die in der Literatur aufgekommen sind,544 sind die Diskriminierungsprüfung und die Prüfung der rechtlichen wie tatsächlichen Gleichberührung keine getrennten Prüfungsschritte. Die tatsächliche Gleichberührung ist vielmehr als faktische Diskriminierung aus Gründen der Warenherkunft bereits vom mittelbaren Diskriminierungsverbot des Art. 34 AEUV erfasst.545 Die „Keck“-Rechtsprechung hat die Warenverkehrsfreiheit bei „bestimmten Verkaufsmodalitäten“ nicht auf ein Diskriminierungsverbot verkürzt, wie insbesondere das Urteil in der Rechtssache „Kommission/Italien“ klargestellt hat. Vielmehr sind unterschiedslos anwendbare Maßnahmen, die keine zusätzlichen Anforderungen an EU-ausländische Waren aufstellen, dahingehend zu prüfen, ob sie geeignet sind, den Marktzugang zu versperren oder so stark zu beschränken, dass sie in ihrer Wirkung einer Marktzugangssperre nahekommen. gg) Zusammenfassung Der Sinn der „Keck“-Rechtsprechung wird erst durch einen Abgleich mit der „Oosthoek“-Rechtsprechung deutlich. Letztere baut auf dem Grundsatz auf, demzufolge eine Maßnahme gleicher Wirkung wie eine mengenmäßige Einfuhrbeschränkung immer dann vorliegt, wenn das Einfuhrvolumen bei Außerachtlassung der streitgegenständlichen Maßnahme größer gewesen wäre als bei ihrer Anwendung. Dieses sehr weit reichende Verständnis überstrapaziert den 542 Vgl. nur Joliet, GRUR Int 1994, 979, 984, der als EuGH-Richter an der Urteilsfindung beteiligt war und der die Formulierung als „elementare Vorsichtsmaßnahme“ bezeichnet, dass „Vorschriften über die Verkaufsmodalitäten […] nur dann nicht in den Anwendungsbereich von [Art. 34 AEUV fallen], wenn sie tatsächlich nicht zugunsten der nationalen Industrie diskriminieren.“ 543 So etwa in EuGH, Rs. C-322/01, DocMorris, Slg. 2003, I-14887 Rn. 74, wonach das Verbot des Versandhandels mit Arzneimitteln EU-ausländische Apotheken stärker belastet als deutsche Apotheken. 544 Vgl. etwa Weyer, DZWiR 1994, 89, 93; 545 Vgl. Müller-Graff, in: von der Groeben/Schwarze/Hatje, Art. 34 AEUV Rn. 259; Körber Grundfreiheiten und Privatrecht, S. 188 ff., 191 f.
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Gehalt der Warenverkehrsfreiheit als Marktzugangsfreiheit. Die „Keck“Rechtsprechung will daher die „Oosthoek“-Rechtsprechung auf das für die Warenverkehrsfreiheit relevante Maß zurücksetzen.546 Hieraus folgt jedoch weder eine schematische Herausnahme bestimmter Fallgruppen aus dem Tatbestand der Warenverkehrsfreiheit noch ihre Verkürzung auf ein Diskriminierungsverbot bei bestimmten Fallgruppen. Soweit es sich bei einer absatzregulierende Maßnahme nicht um eine unmittelbare oder mittelbare Diskriminierung aus Gründen der Warenherkunft handelt und soweit hierdurch nicht im Vergleich zur Herkunftsrechtsordnung zusätzliche Anforderungen an ein Produkt aufgestellt werden, unterliegen derartige Maßnahmen nur dann dem Tatbestand der Warenverkehrsfreiheit, wenn sie den Marktzugang versperren oder ihre Wirkungen einer Marktzugangssperre nahekommen. 2. Beschränkungsverbot der Warenausfuhrfreiheit (Art. 35 AEUV) Der EuGH behandelte in seiner frühen Rechtsprechung die Wareneinfuhr- und die Warenausfuhrfreiheit als gleichwertig.547 Daher übertrug er zunächst auch die „Dassonville“-Formel aus der Wareneinfuhrfreiheit auf die Auslegung des Begriffes der „Maßnahme gleicher Wirkung“ in der Warenausfuhrfreiheit.548 Im Jahr 1979 wich er davon jedoch ab und entschied in der Rechtssache „Groenveld“, dass Maßnahmen gleicher Wirkung wie mengenmäßige Ausfuhrbeschränkungen nur Maßnahmen sein können, „die spezifische Beschränkungen der Ausfuhrströme bezwecken oder bewirken und damit unterschiedliche Bedingungen für den Binnenhandel innerhalb eines Mitgliedstaats und seinen Außenhandel schaffen, so daß die nationale Produktion oder der Binnenmarkt des betroffenen Staates zum Nachteil der Produktion oder des Handels anderer Mitgliedstaaten einen besonderen Vorteil erlangt.“549 Der Fall betraf das niederländische Verbot, Pferdefleisch vorrätig zu halten, zu be- oder zu verarbeiten, das erlassen wurde, um zu gewährleisten, dass niederländische Fleischund Wurstwaren für Importstaaten, die den Verkauf von Pferdefleisch ablehnen, frei von Pferdefleisch sind. Der Generalanwalt erkannte in diesem Produktionsverbot eine mit dem Ausfuhrverbot vergleichbare Wirkung, da niederländische Fleischproduzenten lediglich im Ausland hergestellte und zunächst importierte Fleisch- und Wurstwaren aus Pferdefleisch exportieren konnten, jedoch nicht selbst hergestellte.550 Der EuGH erkannte allerdings einen Unterschied darin, dass das Produktionsverbot auch Fleisch- und Wurstwaren nie-
546
Vgl. Körber, Grundfreiheiten und Privatrecht, S. 202 ff. m.w.N., 212. Vgl. etwa EuGH, verb. Rs. 51/71 bis 54/71, International Fruit Company, Slg. 1971, 1107 Rn. 8/9. 548 EuGH, Rs. 53/76, Bouhelier, Slg. 1977, 197 Rn. 16/17. 549 EuGH, Rs. 15/79, Groenveld, Slg. 1979, 3409 Rn. 7. 550 GA Capotorti, SchlA Rs. C-15/79, Groenveld, Slg. 1979, 3409 Nr. 3. 547
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derländischer Produktion mit Pferdefleisch für den niederländischen Binnenhandel und für den Außenhandel verbot, während ein Ausfuhrverbot den Binnenhandel unberührt lassen würde mit der Folge, dass das niederländische Produktionsverbot mit der Warenausfuhrfreiheit „nicht unvereinbar“ war.551 Die in der Rechtssache „Groenveld“ aufgestellte und von der Wareneinfuhrfreiheit abweichende Formel wurde in späteren Urteilen des EuGH bestätigt.552 a) Gleichheitsrechtliches Verständnis der Warenausfuhrfreiheit des EuGH Aus der unterschiedlichen Behandlung von Maßnahmen gleicher Wirkung wie eine Einfuhrbeschränkung und solchen gleicher Wirkung wie eine Ausfuhrbeschränkung durch den EuGH wurde abgeleitet, dass von der Warenausfuhrfreiheit nur erfasst ist, was die folgenden drei Kriterien kumulativ erfüllt: Die streitgegenständliche Maßnahme muss erstens eine spezifische Beschränkung der Ausfuhrströme bezwecken oder bewirken, die zweitens die inländische Produktion und Vermarktung von Waren für den Binnenhandel innerhalb eines Mitgliedstaats und für Außenhandel unterschiedlich behandelt und dadurch drittens einen Vorteil für die inländische Produktion für den heimischen Markt erzeugt.553 Bei näherer Betrachtung wird jedoch deutlich, dass die Formel nur eine einzige Bedingung beinhaltet, nämlich die Feststellung einer Ungleichbehandlung von Binnenhandel und Außenhandel durch den Herkunftsstaat einer Ware.554 Das wird beim Blick auf das jüngste Urteil des EuGH zur Warenausfuhrfreiheit deutlich. In der Rechtssache „Gysbrechts“555 beschäftigte er sich mit einer Regelung des belgischen Verbraucherschutzgesetzes über den Fernabsatz, wonach der Verkäufer vom Verbraucher vor Ablauf einer siebentägigen Rücktrittsfrist keine Anzahlung oder Zahlung verlangen darf. Hierunter fiel nach der belgischen Rechtsprechung auch, dass der in Belgien ansässige Verkäufer keine Kreditkartendetails erfragen durfte, da der Verkäufer auf der Grundlage dieser Information bereits vor Ablauf der Rücktrittsfrist den vertraglich vereinbarten Kaufpreis einziehen konnte. Die Regelung ist nicht darauf ausgerichtet, Ausfuhren aus Belgien zu benachteiligen. Dennoch erkannte der EuGH in ihr eine gegenüber Art. 35 AEUV rechtfertigungsbedürftige staatliche Maßnahme.556 Als Begründung verwies er darauf, dass die Regelung in 551
EuGH, Rs. 15/79, Groenveld, Slg. 1979, 3409 Rn. 9. Vgl. etwa EuGH Es. 155/80, Oebel, Slg. 1981, 1993 Rn. 15; Rs. C-339/89, Alsthom Atlantique, Slg. 1991, I-107 Rn. 14; Rs. C-412/97, ED, Slg. 1999, I-3845 Rn. 10; Rs. C-12/02, Grilli, Slg. 2003, I-11585 Rn. 41; Rs. C-293/02, Jersey Produce, Slg. 2005, I-9543 Rn. 73. 553 Vgl. etwa Brigola, EuZW 2009, 479, 481. 554 Anders Kingreen, in: Calliess/Ruffert, Art. 34 bis 36 AEUV Rn. 130, der die relevanten Vergleichsgruppen bei der Ausfuhrfreiheit in den Produktionsbedingungen im Herkunftsstaat einerseits und im Bestimmungsstaat andererseits erkennt. 555 EuGH, Rs. C-205/07, Gysbrechts, Slg. 2008, I-9947. 556 EuGH, Rs. C-205/07, Gysbrechts, Slg. 2008, I-9947 Rn. 44. 552
B. Vorgaben der Marktgrundfreiheiten
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ihrer Auslegung durch die belgischen Gerichte einen Schutz vereitle, auf den der insbesondere Internet-gestützte Außenhandel mehr angewiesen ist als der innerbelgische Binnenhandel, nämlich den Schutz vor Zahlungssäumnis. Die Verfolgung säumiger Zahler ist im Inland immer noch einfacher als diejenige säumiger ausländischer Käufer trotz des vorhandenen Sekundärrechts. Daher kommt der EuGH zu dem Schluss: „Selbst wenn ein Verbot wie das im Ausgangsverfahren in Rede stehende für alle inländischen Wirtschaftsteilnehmer gilt, betrifft es tatsächlich jedoch die Ausfuhren, d. h., wenn die Waren den Markt des Ausfuhrmitgliedstaats verlassen, stärker als den Absatz der Waren auf dem inländischen Markt.“557 Hiermit ist deutlich gemacht, dass der EuGH eine spezifische Ausfuhrbeschränkung immer dann annimmt, wenn die streitgegenständliche Maßnahme den Außenhandel gegenüber dem Binnenhandel zumindest mittelbar diskriminiert. b) Kritik Diese Rechtsprechung hat Kritik in der Literatur hervorgerufen.558 Sie entzündet sich vor allem daran, dass die gleichheitsrechtliche Auslegung des EuGH dazu führt, dass die Herstellung von Waren, die zwar im Widerspruch zu der Herkunftsrechtsordnung steht, jedoch den rechtlichen Anforderungen der Bestimmungsrechtsordnung entspricht, nicht vom Schutz der Warenausfuhrfreiheit erfasst ist, selbst wenn die Waren lediglich dazu bestimmt sind, im Bestimmungsland in den Verkehr gebracht zu werden.559 Damit verkennt die Auslegung des EuGH die Binnenmarktfinalität der Warenausfuhrfreiheit. Das Binnenmarktziel verlangt nämlich die Gewährleistung eines freien Zugangs zu den mitgliedstaatlichen Teilmärkten des Binnenmarktes. Dies ist verfehlt, wenn einem Hersteller aufgrund der Herkunftsrechtsordnung verweigert wird, ein Produkt zu den Bedingungen der Bestimmungsrechtsordnung herzustellen und dort in den Verkehr zu bringen. Die Kritik überzeugt, wenn man nochmals einen Blick auf einen Fall aus der Wareneinfuhrfreiheit wirft. In dem oben zitierten Wermutwein-Fall560 erkannte der EuGH einen Verstoß einer Regelung gegen Art. 34 AEUV, die besagte, dass „im Ausland hergestellte weinhaltige Getränke […] nur ins Inland verbracht werden [dürfen], wenn die gesamte Herstellung in demselben Staat nach den dort geltenden Vorschriften vorgenommen worden ist und das Erzeugnis 557
EuGH, Rs. C-205/07, Gysbrechts, Slg. 2008, I-9947 Rn. 43. Siehe Dauses/Brigola, in: Dauses, Handbuch des EU-Wirtschaftsrechts, C. I., Rn. 203 ff.; Becker, in: Schwarze, Art. 35 AEUV Rn. 12; Hoffmann, Grundfreiheiten, S. 208 ff.; Roth, ZHR 159 (1995), 78, 88 ff.; Füller, Warenverkehrsfreiheiten, S. 149 ff. 559 Siehe v.a. Roth, ZHR 159 (1995), 78, 91 f.; Müller-Graff, in: von der Groeben/Schwarze/Hatje, Art. 35 AEUV Rn. 21. 560 EuGH, Rs. 59/82, Schutzverband gegen Unwesen in der Wirtschaft/WeinvertriebsGmbH, Slg. 1983, 1217. 558
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4. Kapitel: Einwirkungen des Primärrechts in das autonome IPR
dort mit der Bestimmung, unverändert verzehrt zu werden, in den Verkehr gebracht werden darf“. Die Herkunftsrechtsordnung sah im streitgegenständlichen Sachverhalt im Gegensatz zu der deutschen Bestimmungsrechtsordnung einen bestimmten Mindestalkoholgehalt von Wermutwein vor. Dennoch sollte in Italien hergestellter Wermutwein, der den Anforderungen des Mindestalkoholgehalts der italienischen Herkunftsrechtsordnung nicht entsprach, nach Deutschland exportiert werden können. Dies ist von der Wareneinfuhrfreiheit geschützt, da diese ungeachtet der Anforderungen der Herkunftsrechtsordnung den Zugang zu einem Teilmarkt des Binnenmarktes gewährleistet, sofern die Waren jedenfalls den Anforderungen der Bestimmungsrechtsordnung entsprechen. Andernfalls läge eine mittelbare Diskriminierung aus Gründen der Warenherkunft durch die Bestimmungsrechtsordnung vor. Die Warenausfuhrfreiheit, die den Export von Waren, die den Anforderungen der Bestimmungsrechtsordnung entspricht, schützt, ist mithin die Kehrseite der Wareneinfuhrfreiheit. c) Besonderes Beschränkungsverbot unter Berücksichtigung der Sonderlage bei Ausfuhrbehinderungen Dabei darf allerdings die „Sonderlage bei der Ausfuhrbehinderung“561 nicht unberücksichtigt bleiben. Diese besteht darin, dass die Behinderung des innerunionalen Handels im Gegensatz zur Wareneinfuhrfreiheit nicht auf die ausländische Warenherkunft und der darin begründeten Gefahr von Doppelbelastungen durch die Anwendung zweier unterschiedlicher Rechtsordnungen zurückzuführen ist, sondern vielmehr in der Anwendung einer einzigen, nämlich der heimischen Rechtsordnung auf die Produktion im Inland besteht. Diese Inlandssachverhalte sind gerade nicht Gegenstand der Grundfreiheiten, die den grenzüberschreitenden Handel befördern sollen.562 Insoweit sind zwar höhere Maßstäbe an die Annahme einer Warenausfuhrbehinderung im Sinne des Art. 35 AEUV als an die einer Wareneinfuhrbehinderung im Sinne des Art. 34 AEUV anzusetzen. Dies erschöpft sich jedoch nicht in einer Reduzierung des Gewährleistungsgehalts des Art. 35 AEUV auf ein weit verstandenes Diskriminierungsverbot. Vielmehr müssen auch solche unterschiedslos anwendbaren Maßnahmen des Herkunftsstaates darunter fallen, die, ohne eine unmittelbare oder mittelbare Diskriminierung zu begründen, dazu geeignet sind, den Zugang zu einem anderen mitgliedstaatlichen Teilmarkt des Binnenmarktes zu den Bedingungen der Bestimmungsrechtsordnung zu versperren.563 Dies folgt daraus,
561
Müller-Graff, in: von der Groeben/Schwarze/Hatje, Art. 35 AEUV Rn. 17. Müller-Graff, in: von der Groeben/Schwarze/Hatje, Art. 35 AEUV Rn. 17; SchöndorfHaubold, GPR 2008, 237, 241 f. 563 Ebenso Müller-Graff, in: von der Groeben/Schwarze/Hatje, Art. 35 AEUV Rn. 21; Eilmansberger, jbl 1999, 345, 355. 562
B. Vorgaben der Marktgrundfreiheiten
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dass die Warenausfuhrfreiheit als Kehrseite der Wareneinfuhrfreiheit zu verstehen ist. Sie ermöglicht den Export von Waren, die den rechtlichen Anforderungen der Bestimmungsrechtsordnung entsprechen. Hindernisse für die Warenausfuhr entstehen nicht nur aus einer Diskriminierung des Exporthandels gegenüber dem Binnenhandel, sondern auch aus unterschiedslos anwendbaren Maßnahmen, die den Marktaustritt versperren. 3. Zusammenfassung Das Beschränkungsverbot der Warenverkehrsfreiheit, das neben das Verbot unmittelbarer und mittelbarer Diskriminierungen aus Gründen der Warenherkunft tritt, setzt sich aus zwei Elementen zusammen: dem Verbot der Mehrfachbelastung und dem Verbot der Marktzugangssperre. Die beiden Elemente unterscheiden sich danach, ob auf ein Produkt, das nach den rechtlichen Vorgaben einer mitgliedstaatlichen Rechtsordnung hergestellt und damit rechtmäßig in einem mitgliedstaatlichen Teilmarkt des Binnenmarktes in den Verkehr gebracht wurde, unterschiedliche, jedoch funktionsäquivalente Regelungen der Herkunfts- und der Bestimmungsrechtsordnung Anwendung finden. Diese mehrfache Anwendung von funktionsäquivalenten Vorgaben unterscheidet den grenzüberschreitenden Sachverhalt von dem rein inländischen Sachverhalt, so dass die Verteuerung in Form der Mehrfachbelastung dem grenzüberschreitenden Warenverkehr zuzuschreiben ist. Da dies dem Binnenmarktgedanken zuwiderläuft, widerspricht die Mehrfachbelastung der Warenverkehrsfreiheit. Dabei muss sich diejenige rechtliche Vorgabe gegenüber der Warenverkehrsfreiheit rechtfertigen, die die zusätzliche Belastung begründet. Entspricht eine Ware den Anforderungen der Herkunftsrechtsordnung, handelt es sich dabei um Regelungen der Bestimmungsrechtsordnung. Entspricht eine Ware den Anforderungen der Bestimmungsrechtsordnung, handelt es sich dabei um Regelungen der Herkunftsrechtsordnung. Welcher Rechtsordnung ein Produkt dabei entsprechen soll, wird durch die Warenverkehrsfreiheit nicht vorgegeben. Es liegt vielmehr in der Entscheidungsfreiheit des Warenherstellers, an welcher Rechtsordnung er sein Produkt ausrichtet. Die Mehrfachbelastung gegenüber der Rechtsordnung, für die sich der Hersteller entschied, begründet die Beschränkung. Ein Herkunftslandprinzip, demzufolge grundsätzlich die Bestimmungsrechtsordnung gegenüber der Herkunftsrechtsordnung rechtfertigungsbedürftig ist, ergibt sich nicht aus dem Unionsrecht. Relevant ist lediglich der Ursprung der Mehrfachbelastung. Liegt keine Mehrfachbelastung vor, dürfen unterschiedslos anwendbare Maßnahmen den Marktzugang des Produktes nicht versperren. Die Marktzugangssperre ist dabei entsprechend ihrer Wirkungen zu untersuchen. So reicht es für die Annahme einer Marktzugangssperre aus, dass ein Produkt den betroffenen mitgliedstaatlichen Teilmarkt des Binnenmarktes zwar betreten darf, aber die Möglichkeiten zur Bekanntmachung des Produktes oder seine nach
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4. Kapitel: Einwirkungen des Primärrechts in das autonome IPR
dem Marktzutritt anschließende Nutzbarkeit derart gering ist, dass die entsprechende Maßnahme wie eine Marktzugangssperre wirkt. Beide Elemente des Beschränkungsverbots betreffen sowohl die Wareneinfuhr als auch die Warenausfuhr. Mehrfachbelastungen, die daraus entstehen, dass die Herkunftsrechtsordnung bei der Warenausfuhr zusätzliche Anforderungen an eine Ware stellt, die nach den Anforderungen der Bestimmungsrechtsordnung hergestellt wurde, unterliegen der Warenausfuhrfreiheit ebenso wie unterschiedslos anwendbare Maßnahmen der Herkunftsrechtsordnung, die den Marktaustritt versperren. Unterschiedslos anwendbare Maßnahmen, die weder diskriminierend wirken noch eine Mehrfachbelastung begründen und die den Marktzugang weder rechtlich noch tatsächlich versperren, unterliegen nicht der Warenverkehrsfreiheit. V. Das Beschränkungsverbot der Verkehrsfreiheiten der natürlichen Personen Nachdem nunmehr die Dogmatik der Warenverkehrsfreiheit im Hinblick auf die Erfassung nationaler Maßnahmen von ihrem Tatbestand ausgeleuchtet wurde, ist die Frage zu behandeln, ob diese Dogmatik auf die anderen Grundfreiheiten übertragbar ist. Während die finale Ausrichtung aller Grundfreiheiten auf die Gewährleistung des Binnenmarktes (Art. 26 Abs. 2 AEUV) für eine einheitliche Dogmatik aller Grundfreiheiten spricht, deutet die Unterscheidung in Produktfreiheiten und Faktorfreiheiten an, dass auch Unterschiede in der Dogmatik zwischen Produkt- und Faktorfreiheiten bestehen könnten. Dem ist im Folgenden mit einer Untersuchung der Dogmatik der Verkehrsfreiheiten der natürlichen Personen nachzugehen. Die Arbeitnehmerfreizügigkeit und die Niederlassungsfreiheit bilden gemeinsam mit der Kapitalverkehrsfreiheit die Faktorfreiheiten. Vorliegend sollen angesichts der Fokussierung der Arbeit auf das nicht vereinheitlichte autonome IPR die Personenverkehrsfreiheiten näher betrachtet werden. Ihre Dogmatik ist im Hinblick auf das nicht vereinheitlichte IPR der Rechtsverhältnisse der Personen von größerer Relevanz als die Dogmatik der Kapitalverkehrsfreiheit. Darüber hinausgehend sollen zunächst lediglich die Verkehrsfreiheiten der natürlichen Personen in den Blick genommen werden. Die juristischen Personen (oder besser: die rechtlich konfigurierten Marktakteure)564 werden weiter unten bei der Behandlung der Einwirkungen der Grundfreiheiten in das Internationale Gesellschaftsrecht im Detail beleuchtet.565 Die getrennte Betrachtung von natürlichen und juristischen Personen vermeidet unnötige Doppelungen und erlaubt zudem im Anschluss an die Behandlung des Internationalen Gesellschaftsrechts Rückschlüsse daraus zu 564
Zu diesem Begriff: S. 340 Siehe dazu: S. 339 ff. (Besprechung der Rechtsprechung des EuGH), S. 371 ff. (Dogmatik der Niederlassungsfreiheit rechtlich konfigurierter Marktakteure). 565
B. Vorgaben der Marktgrundfreiheiten
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ziehen, ob und inwieweit sich die Niederlassungsfreiheit rechtlich konfigurierter Marktakteure von den Verkehrsfreiheiten natürlicher Personen unterscheidet. Die Arbeitnehmerfreizügigkeit in Art. 45 AEUV und die Niederlassungsfreiheit in Art. 49 AEUV bilden zusammen die Verkehrsfreiheiten der natürlichen Personen. Beide decken Ausschnitte der grenzüberschreitenden wirtschaftlichen Mobilität natürlicher Personen ab: Während die Arbeitnehmerfreizügigkeit die Personen schützt, die „während einer bestimmten Zeit für einen anderen nach dessen Weisung Leistungen [erbringen], für die diese als Gegenleistung eine Vergütung [erhalten]“566, erfasst die Niederlassungsfreiheit „die Aufnahme und Ausübung selbstständiger Erwerbstätigkeiten sowie die Gründung und Leitung von Unternehmen“ (Art. 49 Abs. 2 AEUV). Das Abgrenzungsmerkmal zwischen beiden Grundfreiheiten ist die Selbstständigkeit der wirtschaftlichen Tätigkeit der natürlichen Person.567 Der Gewährleistungsgehalt ist jedoch identisch, weshalb im Hinblick auf natürliche Personen beide Grundfreiheiten auch als „dogmatische Zwillinge“568 bezeichnet werden können.569 Sie sollen daher im Folgenden auch gemeinsam als Verkehrsfreiheiten der natürlichen Personen behandelt werden. Die Verkehrsfreiheiten der natürlichen Personen unterscheiden sich von den Produktverkehrsfreiheiten dadurch, dass sie personenbezogen sind und nicht Erzeugnisse (wie bei der Warenverkehrsfreiheit) oder nicht-körperliche Leistungen (wie bei der Dienstleistungsfreiheit) als Schutzobjekt haben. Dieser grundlegende Unterschied wird bereits bei einer ersten Annäherung an den Schutzgehalt der Verkehrsfreiheiten der natürlichen Personen deutlich: Eine Ware oder eine Dienstleistung wird nach den Vorgaben einer Herkunftsrechtsordnung hergestellt und soll über die Grenze in einen anderen mitgliedstaatlichen Teilmarkt des Binnenmarktes verbracht und dort angeboten werden. Die Berührung mit der Aufnahmerechtsordnung ist somit lediglich punktuell. Bei den Verkehrsfreiheiten der natürlichen Personen begibt sich eine Person in einen anderen mitgliedstaatlichen Teilmarkt, um sich selbst für eine abhängige Beschäftigung (bei der Arbeitnehmerfreizügigkeit) oder eine selbstständige Wirtschaftstätigkeit (bei der Niederlassungsfreiheit) anzubieten. Eine dauerhafte Integration in das Aufnahmeland ist von der freizügigkeitswilligen Person im Gegensatz zur verbrachten Ware oder Dienstleistung intendiert. Somit erscheint es auf den ersten Blick auch gerechtfertigt, der Aufnahmerechtsordnung bei den Verkehrsfreiheiten der natürlichen Personen eine größere Bedeutung beizumessen als bei den Produktverkehrsfreiheiten. Mit anderen Worten 566 Vgl. etwa EuGH, Rs. 66/85. Lawrie Blum, Slg. 1986, 2121 Rn. 17; Rs. C-456/02, Trojani, Slg. 2004, I-7573 Rn. 15. 567 Müller-Graff, in: Streinz, Art. 49 AEUV Rn. 14. 568 Nettesheim, NVwZ 1996, 342, 343. 569 Ebenso der EuGH: Besonders deutlich in Rs. C-106/91, Ramrath, Slg. 1992, I-3351 Rn. 17, 28.
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4. Kapitel: Einwirkungen des Primärrechts in das autonome IPR
erscheint der Anspruch der Person, ihre Herkunftsrechtsordnung mit in das Aufnahmeland zu nehmen, in das sie sich dauerhaft begeben möchte, weniger berechtigt als bei den Produktverkehrsfreiheiten.570 Hieraus ließe sich schließen, dass den Anforderungen der Verkehrsfreiheiten der natürlichen Personen bereits genügt ist, wenn die Aufnahmerechtsordnung die freizügigkeitsberechtigten natürlichen Personen nicht aus Gründen ihrer Staatsangehörigkeit diskriminiert. Art. 45 Abs. 2 AEUV verlangt dementsprechend „die Abschaffung jeder auf der Staatsangehörigkeit beruhenden unterschiedlichen Behandlung der Arbeitnehmer der Mitgliedstaaten in Bezug auf Beschäftigung, Entlohnung und sonstige Arbeitsbedingungen.“ Sekundärrechtlich wird dieses primärrechtliche Diskriminierungsverbot durch die Art. 7 bis 9 der Verordnung (EU) Nr. 492/2011571 konkretisiert. Art. 49 Abs. 2 AEUV verweist darauf, dass die (primäre und sekundäre) Niederlassung „nach den Bestimmungen des Aufnahmestaats für seine eigenen Angehörigen“ zu gewährleisten ist. Die Rechtsprechung des EuGH hat unmittelbare Diskriminierungen572 und unterschiedslos anwendbare, jedoch im Wesentlichen ausländische natürliche Personen treffende Maßnahmen, die an den Wohnsitz573, an den Ausbildungsort574 oder an Sprachkenntnisse575 anknüpfen oder die im Ausland verbrachte Arbeitszeiten576 nicht anerkennen, als von den Verkehrsfreiheiten der natürlichen Personen erfasst eingeordnet. Es stellt sich mithin die im Folgenden nachzugehende Frage, ob die Verkehrsfreiheiten der natürlichen Personen ein über ein Diskriminierungsverbot hinausgehendes Beschränkungsverbot enthalten. 570
Vgl. Franzen, Privatrechtsangleichung, S. 174. Verordnung (EU) Nr. 492/2011 über die Freizügigkeit der Arbeitnehmer innerhalb der Union, ABl. 2011 L 141/1. Sie ersetzt die Verordnung (EWG) Nr. 1612/68 über die Freizügigkeit der Arbeitnehmer innerhalb der Gemeinschaft, ABl. 1968 L 257/2, und die darin enthaltenen Gleichbehandlungsvorschriften in Art. 7 bis 9. 572 Vgl. für die Arbeitnehmerfreizügigkeit: EuGH, Rs. C-465/01, Kommission/Österreich, Slg. 2004, I-8291 Rn. 31 ff. (Wählbarkeit von Mitgliedern der österreichischen Arbeiterkammern beschränkt auf österreichische Staatsangehörige). Vgl. für die Niederlassungsfreiheit: EuGH, Rs. 38/87, Kommission/Griechenland, Slg. 1988, 4415 Rn. 6 (Mitgliedschaft in den Berufskammern der Architekten und Ingenieure sowie der Zugang zum Rechtsanwaltsberuf war nur den eigenen Staatsangehörigen vorbehalten); Rs. C-375/92, Kommission/Spanien, Slg. 1994, I-923 Rn. 9 f. (Tätigkeit des Fremdenführers ist nur den eigenen Staatsangehörigen vorbehalten). 573 EuGH, Rs. 175/88, Biehl, Slg. 1990, I-1779 Rn. 13 ff. (betreffend die Arbeitnehmerfreizügigkeit); Rs. C-337/97, Meeusen, Slg. 1999, I-3280 Rn. 28 f. (betreffend die Niederlassungsfreiheit). 574 EuGH, Rs. C-281/98, Angonese, Slg. 2000, I-4139 Rn. 37 ff. 575 Vgl. Art. 3 Abs. 1 UAbs. 2 der Verordnung (EU) Nr. 492/2011, die Sprachkenntnisse nur „in Anbetracht der Besonderheit der zu vergebenden Stelle“ vom Diskriminierungsverbot ausnimmt. 576 Vgl. etwa EuGH, Rs. C-15/96, Schöning-Kougebetopoulou, Slg. 1998, I-47 Rn. 22 ff. 571
B. Vorgaben der Marktgrundfreiheiten
211
Bevor eine Antwort hierauf gegeben werden soll, muss noch geklärt werden, ob die im Hinblick auf den Schutzgehalt in der Warenverkehrsfreiheit bereits textuell verankerte Unterscheidung zwischen Einfuhr und Ausfuhr, was bei natürlichen Personen dem Zuzug und Wegzug entspricht, auch bei den Verkehrsfreiheiten der natürlichen Personen von Bedeutung ist. Im Gegensatz zur Warenverkehrsfreiheit in Art. 34 AEUV und Art. 35 AEUV unterscheidet der Vertragstext bei den Verkehrsfreiheiten nicht zwischen dem Zuzug und dem Wegzug natürlicher Personen. Art. 45 Abs. 1 AEUV verweist schlicht auf die „Freizügigkeit der Arbeitnehmer“ und Art. 49 Abs. 1 AEUV erfasst die freie Niederlassung im Hoheitsgebiet eines anderen Mitgliedstaates. Hieraus den Schluss zu ziehen, dass Zuzug und Wegzug im Gegensatz zur Warenverkehrsfreiheit gleichzusetzen seien, wäre jedoch vorschnell. Die die unterschiedliche Behandlung von Ausfuhr und Einfuhr bei der Warenverkehrsfreiheit kennzeichnende „Sonderlage bei der Ausfuhrbehinderung“577, die darin besteht, dass sich der inländische Warenhersteller im Gegensatz zur Wareneinfuhrfreiheit bei der Warenausfuhrfreiheit gegen die inländische Rechtsordnung wendet, kommt nämlich bei den Verkehrsfreiheiten in gleichem Maße vor. Beim Zuzug wendet sich ein ausländischer Unionsbürger oder ein zurückkehrender Inländer gegen die zweite, neben die Herkunftsrechtsordnung tretende Rechtsordnung des Aufnahmestaates, während bei der Wegzugsfreiheit der Inländer eine Verletzung der Grundfreiheiten durch die heimische Rechtsordnung rügt. Daher liegt es nahe, auch bei den Verkehrsfreiheiten diese „Sonderlage“ zu berücksichtigen und bei der folgenden Behandlung des freiheitsrechtlichen Schutzgehalts der Verkehrsfreiheiten natürlicher Personen zwischen Beschränkungen des Zuzugs (1.) und des Wegzugs (2.) zu unterscheiden, bevor die Fragen nach der mangelnden Eignung einer Beschränkung aufgrund fehlender Kausalität (3.) und nach einer weitergehenden Einengung des Anwendungsbereichs des Beschränkungsverbots durch eine analoge Anwendung der „Keck“Rechtsprechung (4.) behandelt werden sollen. 1. Beschränkungen des Zuzugs von natürlichen Personen a) Ausgangspunkt: Nichtanerkennung ausländischer Qualifikationen Die Verkehrsfreiheiten der natürlichen Personen unterscheiden sich von den Produktverkehrsfreiheiten zum einen dahingehend voneinander, dass eine natürliche Person im Gegensatz zu einer Ware, die im Herkunftsstaat unter den Bedingungen dieser Rechtsordnung fertiggestellt wird und anschließend als solche in dem Bestimmungsland feilgeboten werden soll, ihre Arbeitskraft und ihre selbstständige Erwerbstätigkeit innerhalb des Zuzugsstaates und damit unter den Bedingungen der Aufnahmerechtsordnung anbieten möchte. Zum anderen ist die rechtliche Situation einer natürlichen Person jedoch insoweit mit 577
Müller-Graff, in: von der Groeben/Schwarze/Hatje, Art. 35 AEUV Rn. 17.
212
4. Kapitel: Einwirkungen des Primärrechts in das autonome IPR
derjenigen eines Produktes vergleichbar, als dass die Ausbildung einer Person und damit der Arbeitskraft (im Falle der Arbeitnehmerfreizügigkeit) bzw. der selbstständigen wirtschaftlichen Tätigkeit (im Falle der Niederlassungsfreiheit) wie die Herstellung einer Ware (im Falle der Warenverkehrsfreiheit) typischerweise unter den Bedingungen und nach den Vorgaben der Herkunftsrechtsordnung erfolgt. Vorgaben an die Ausbildung der Arbeitskraft bzw. der selbstständigen wirtschaftlichen Tätigkeit werden beispielsweise durch Ausbildungs- und Prüfungsordnungen aufgestellt. Ihre Erfüllung ist in der Regel durch Nachweise der beruflichen Qualifikation zu belegen. Das Nebeneinander der Ausbildungsund Prüfungsordnungen des Herkunfts- und des Aufnahmestaates kann nun zu folgenden Situationen führen:578 Die Ausbildungs- und Prüfungsordnungen stimmen miteinander überein. Dann handelt es sich um jeweils funktionsäquivalente Regelungen. Erkennt nun eine der beteiligten Rechtsordnungen die Qualifikationsnachweise der anderen Rechtsordnung nicht an, muss die betroffene Person die Ausbildung im nichtanerkennenden Staat erneut absolvieren. Es entsteht eine Mehrfachbelastung, da mangels Auseinanderfallens der Ausbildungs- und Prüfungsordnungen die Arbeitskraft bzw. die selbstständige wirtschaftliche Tätigkeit selbst nach den Maßstäben der Aufnahmerechtsordnung bereits vollständig ausgebildet ist. Es fehlt lediglich ein inländischer Qualifikationsnachweis. Dies entspricht einer Situation, die derjenigen im Fall „Cassis de Dijon“ aus der Warenverkehrsfreiheit gleichkommt.579 Die Arbeitskraft und die selbstständige Erwerbstätigkeit, so wie sie nach den rechtmäßigen Vorgaben des Herkunftsstaat ausgebildet wurden, können die Grenze zum nationalen Teilmarkt des Aufnahmelandes nicht ohne eine zusätzliche Ausbildung oder Prüfung nach den Vorgaben des Aufnahmestaats überschreiten, was damit einer Marktzugangssperre gleichkommt. Weichen nun die Ausbildungs- und Prüfungsordnungen des Aufnahmelandes von denjenigen des Herkunftslandes ab, führt die unterschiedslose Anwendung der Aufnahmerechtsordnung in aller Regel dazu, dass ausländische Qualifikationsnachweise nicht anerkannt oder die Erfüllung zusätzlicher Anforderungen für die Ausübung einer beruflichen Tätigkeit nach Maßgabe der Aufnahmerechtsordnung verlangt werden. Handelt es sich bei dem nach den Vorgaben des Herkunftsstaats ausgebildeten Beruf allerdings um einen, von der Tätigkeit her gleichwertigen Beruf, wie er in den Ausbildungs- und Prüfungsordnungen des Aufnahmestaates definiert ist, entsteht bei der Nichtanerken-
578 Vgl. auch die Grundsätze der Rechtsprechung des EuGH zur Qualifikation der ausgeübten Tätigkeit bei Forsthoff, in: Grabitz/Hilf/Nettesheim, Art. 49 AEUV Rn. 110. 579 Siehe dazu oben S. 194 f.
B. Vorgaben der Marktgrundfreiheiten
213
nung der Qualifikationsnachweise mit der Konsequenz der erneuten Absolvierung der Ausbildung im Aufnahmestaat ein weiteres Mal eine mit „Cassis de Dijon“ vergleichbare Situation der Mehrfachbelastung. Fehlt es an der Gleichwertigkeit des Berufes, liegt keine mit „Cassis de Dijon“ vergleichbare Situation vor. Die voneinander abweichenden Ausbildungs- und Prüfungsordnungen regeln unterschiedliche Berufe, so dass eine (teilweise) Absolvierung der Ausbildung im Aufnahmestaat mangels Funktionsäquivalenz der Ausbildungs- und Prüfungsordnungen des Aufnahmestaates keine Mehrfachbelastung begründet.580 Die Verkehrsfreiheiten der natürlichen Personen würden, wenn man sie als Diskriminierungsverbote versteht, in den mit „Cassis de Dijon“ vergleichbaren Situationen nicht greifen, da die Aufnahmerechtsordnung ausländische und inländische Personen nach ihrer Maßgabe gerade gleichbehandelt.581 Der Aufnahmestaat dürfte dann von beiden Personen die Ablegung derselben inländischen Prüfungen verlangen. Deutlich hat dies der EuGH in der Rechtssache „Vlassopoulou“ zum Ausdruck gebracht: „Hierzu ist festzustellen, daß nationale Qualifikationsvoraussetzungen, selbst wenn sie ohne Diskriminierung aufgrund der Staatsangehörigkeit angewandt werden, sich dahin auswirken können, daß sie die Staatsangehörigen der anderen Mitgliedstaaten in der Ausübung des ihnen durch Artikel 52 EWG-Vertrag [Art. 49 AEUV] gewährleisteten Niederlassungsrechts beeinträchtigen. Dies kann der Fall sein, wenn die fraglichen nationalen Vorschriften die von dem Betroffenen in einem anderen Mitgliedstaat bereits erworbenen Kenntnisse und Fähigkeiten unberücksichtigt lassen.“582
Die Anwendung der „Cassis de Dijon“-Rechtsprechung aus der Warenverkehrsfreiheit auf die Verkehrsfreiheiten der natürlichen Personen müsste dazu führen, dass es in Ermangelung einer sekundärrechtlichen Regelung zunächst Sache der Mitgliedstaaten ist, die rechtlichen Rahmenbedingungen für die Ausgestaltung und Sicherstellung der Qualität der angebotenen Fähigkeiten zu erlassen. Wird hiernach eine Arbeitskraft oder eine selbstständige wirtschaftliche Tätigkeit in einem Mitgliedstaat rechtmäßig angeboten und in Anspruch genommen, darf der Aufnahmestaat das Angebot dieser Arbeitskraft oder selbstständigen wirtschaftlichen Tätigkeit nur einschränken, soweit dies notwendig ist, um zwingenden Erfordernissen gerecht zu werden.
580
Siehe in diesem Sinne EuGH, Rs. C-330/03, Colegio de Ingenieros de Caminos, Slg. 2006, I-801 Rn. 35. 581 Vgl. Steindorff, EG-Vertrag und Privatrecht, S. 225; Franzen, Privatrechtsangleichung, S. 174. 582 EuGH, Rs. C-340/89, Vlassopulou, Slg. 1991, I-2357 Rn. 15.
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4. Kapitel: Einwirkungen des Primärrechts in das autonome IPR
Die dargelegte Problematik beschäftigte den EuGH in besonderem Maße im Kontext der Niederlassungsfreiheit von Trägern freier Berufe. In der Rechtssache „Thieffry“583 knüpften die streitgegenständlichen französischen Vorschriften für die Zulassung zur Rechtsanwaltschaft an das Vorhandensein eines von einer französischen Universität ausgestellten Qualifikationsnachweises an. Das belgische Doktordiplom des Klägers im Ausgangsverfahren wurde nicht berücksichtigt. Dieselbe Problematik lag der Rechtssache „Patrick“584 zugrunde, in der die streitgegenständlichen französischen Normen für die Zulassung zum Architektenberuf eine Gleichwertigkeit ausländischer Qualifikationsnachweise nur annahmen, wenn es ein Gegenseitigkeitsabkommen zwischen Frankreich und dem Herkunftsstaat des Antragstellers gab, was bei dem britischen Kläger des Ausgangsverfahrens nicht der Fall war. In beiden Fällen erklärte der EuGH die pauschale Nichtanerkennung der ausländischen Qualifikationsnachweise für unvereinbar mit den Grundfreiheiten. Dieser Gedanke wurde in der Rechtssache „Heylens“585, in der es um die Anerkennung eines belgischen Fußballtrainerdiploms in Frankreich ging, ausdrücklich auf die Arbeitnehmerfreizügigkeit übertragen,586 auch wenn in dem streitgegenständlichen Sachverhalt zwar ein Anerkennungsverfahren eingerichtet war, dieses jedoch mangels Begründungspflicht und Möglichkeit zur Einlegung eines Rechtsbehelfs gegen Verfahrensgrundrechte verstieß.587 Die Argumentationsstruktur des EuGH gleicht in den Fällen, die ausländische Qualifikationen betreffen, derjenigen in seinem Urteil in der Rechtssache „Cassis de Dijon“: „[D]ie Mitgliedstaaten [können], solange es an einer Harmonisierung der Bedingungen für den Zugang zu einem Beruf fehlt, festlegen […], welche Kenntnisse und Fähigkeiten zur Ausübung dieses Berufs notwendig sind, und dass sie die Vorlage eines Diploms verlangen können, in dem diese Kenntnisse und Fähigkeiten bescheinigt werden. Jedoch setzt das [Unionsrecht] der Ausübung dieser Befugnis durch die Mitgliedstaaten insoweit Grenzen, als die hierzu ergangenen nationalen Rechtsvorschriften keine ungerechtfertigte Behinderung der tatsächlichen Ausübung der durch die Art. 39 EG [heute: Art. 45 AEUV] und 43 EG [heute: 49 AEUV] garantierten Grundfreiheiten darstellen dürfen.“588
Die ähnliche Argumentation überrascht letzten Endes nicht. Die Problemlage ist schließlich vergleichbar. Gemeinsam ist den Sachverhaltskonstellationen
583
EuGH, Rs. 71/76, Thieffry, Slg. 1977, 765. EuGH, Rs. 11/77, Patrick, Slg. 1977, 1199. 585 EuGH, Rs. 222/86, Heylens, Slg. 1987, 4112. 586 EuGH, Rs. 222/86, Heylens, Slg. 1987, 4112 Rn. 13. 587 Dies bestätigt auch die jüngere Rechtsprechung: EuGH, Rs. C-340/89, Vlassopoulou, Slg. 1991, I-2357 Rn. 15; Rs. C-313/01, Morgenbesser, Slg. 2003, I-13467 Rn. 64; Rs. C-345/08, Peśla, Slg. 2009, I-11677 Rn. 34 ff., in denen es jedoch weniger um das Nichtvorhandensein einer Anerkennungsmöglichkeit als vielmehr um deren Ausgestaltung ging. 588 Vgl. nur EuGH, Rs. C-345/08, Peśla, Slg. 2009, I-11677 Rn. 34 f. m.w.N. 584
B. Vorgaben der Marktgrundfreiheiten
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sowohl der Warenverkehrsfreiheit im „Cassis de Dijon“-Fall als auch der Verkehrsfreiheiten der natürlichen Personen im Hinblick auf die ausländischen Qualifikationen, dass der Grund für die Behinderung der Mobilität in der kumulierten Anwendung mehrerer Rechtsordnungen auf den grenzüberschreitenden Sachverhalt liegt, während der Inländer lediglich der eigenen heimischen Rechtsordnung unterliegt.589 b) Niederlassungserfordernisse als über eine Mehrfachbelastung hinausgehende Marktzugangssperre Eine weitere Fallkonstellation, in der die Verkehrsfreiheiten der natürlichen Personen vor eine vergleichbare Herausforderung wie die Warenverkehrsfreiheit als Produktverkehrsfreiheit gestellt werden und die sich nicht durch ein Verständnis der Verkehrsfreiheiten als Diskriminierungsverbote lösen lässt, betrifft unterschiedslos anwendbare Maßnahmen, die, ohne eine Mehrfachbelastung zu begründen, eine marktzugangsversperrende Wirkung haben. Hiermit musste sich die Rechtsprechung bei den Niederlassungserfordernissen beschäftigen. In der Rechtssache „Klopp“590 ging es um eine französische Regelung, wonach ein Rechtsanwalt nur dann bei einem französischen Gericht zugelassen werden kann, wenn er ausschließlich in dem Gerichtsbezirk niedergelassen ist, in dem er seine Zulassung beantragt hat. Dies hätte für den Kläger des Ausgangsverfahrens, der bisher als Anwalt in Deutschland niedergelassen war, zur Folge gehabt, die Niederlassung in seinem Herkunftsstaat aufzugeben. Entsprechend beurteilte der EuGH diese Regelung, die unterschiedslos auf französische wie nichtfranzösische Antragsteller Anwendung findet, als mit der Niederlassungsfreiheit unvereinbar. Andernfalls würde die Niederlassungsfreiheit einen Vorgang erlauben, wonach eine Person „die Freiheitsrechte des Vertrages zur Niederlassung in einem anderen Mitgliedstaat nur noch in Anspruch nehmen könnte, wenn [sie ihre] bereits bestehende Niederlassung aufgeben würde.“591 Möchte die Person ihre Tätigkeit jedoch im Sinne des Binnenmarktes in mehreren nationalen Teilmärkten ausüben, so ist ihr dies unmöglich, was einer Zugangssperre zu dem nationalen Teilmarkt gleichkommt. Auf die Arbeitnehmerfreizügigkeit wurde diese Rechtsprechung in der Rechtssache „Ramrath“ übertragen.592 Hierbei ging es um eine luxemburgische Regelung, die für die Ausübung der Tätigkeit des Wirtschaftsprüfers eine berufliche Niederlassung in Luxemburg verlangt. Ist ein angestellter Wirtschaftsprüfer nicht in Luxemburg beruflich niedergelassen, aber für eine in Luxem-
589
Vgl. auch GA Fenelly, SchlA Rs. C-190/98, Graf, Slg. 2000, I-493 Nr. 26. EuGH, Rs. 107/83, Klopp, Slg. 1984, I-2971. 591 EuGH, Rs. 107/83, Klopp, Slg. 1984, I-2971 Rn. 18. 592 EuGH, Rs. C-106/91, Ramrath, Slg. 1992, I-3351. 590
216
4. Kapitel: Einwirkungen des Primärrechts in das autonome IPR
burg niedergelassene Gesellschaft tätig, verlangt die Regelung eine tatsächliche Mindestanwesenheit im luxemburgischen Hoheitsgebiet. Der Kläger des Ausgangsverfahrens war zunächst für eine luxemburgische Wirtschaftsprüfungsgesellschaft tätig, bevor er zu einer deutschen Gesellschaft wechselte, aber weiterhin Wirtschaftsprüfertätigkeiten im Auftrag seines bisherigen luxemburgischen Arbeitgebers in Luxemburg durchführte. Ihm wurde die luxemburgische Zulassung als Wirtschaftsprüfer entzogen, weil er selbst nicht mehr in Luxemburg ansässig war und sein Arbeitgeber ebenfalls keine berufliche Niederlassung in Luxemburg hatte. Der EuGH prüfte diesen Fall „an der Gesamtheit der Freizügigkeitsvorschriften des Vertrages“593, darunter auch die Arbeitnehmerfreizügigkeit. Die Arbeitnehmerfreizügigkeit schützt dabei sowohl das Recht auf „Zugang zu einer vorübergehenden Beschäftigung in einem anderen Mitgliedstaat“, die einem Arbeitnehmer „nicht mit der Begründung verweigert werden [darf], daß er in seinem Herkunftsland bereits eine unselbstständige Erwerbstätigkeit ausübe“, als auch das Recht „für einen Arbeitnehmer, der in einem Mitgliedstaat ansässig ist und daneben einer Tätigkeit als Selbstständiger in einem anderen Mitgliedstaat nachgehen möchte.“594 Die luxemburgische Regelung, die unterschiedslos auf inländische wie ausländische Arbeitnehmer anwendbar ist, schränkt die Arbeitnehmerfreizügigkeit ein und ist daher nur dann mit dem Unionsrecht vereinbar, „wenn nachgewiesen wird, daß in dem betreffenden Tätigkeitsbereich zwingende Gründe des Allgemeininteresses bestehen, die Beschränkungen der Freizügigkeit rechtfertigen, daß dem Allgemeininteresse nicht bereits durch Rechtsvorschriften des Staates, in dem der Gemeinschaftsbürger ansässig ist, Rechnung getragen wird und daß das gleiche Ergebnis nicht durch weniger einschneidende Rechtsvorschriften erreicht werden kann.“595 Die Untersagung, eine bestimmte Tätigkeit an mehr als einem Ort auszuüben, führt dazu, dass demjenigen, der seine Arbeitskraft an mehr als einem Ort anbieten und einsetzen möchte, faktisch der Zugang zu einem nationalen Teilmarkt des Binnenmarktes versperrt wird. Das widerspricht der Arbeitnehmerfreizügigkeit, der nicht zu entnehmen ist, dass ein Arbeitnehmer nur in einem Mitgliedstaat einer unselbstständigen Tätigkeit nachgehen darf. Da es sich bei solchen Regelungen aber um unterschiedslos anwendbare handelt, unterliegen sie der Arbeitnehmerfreizügigkeit nur, wenn diese als Beschränkungsverbot verstanden wird.596
593
EuGH, Rs. C-106/91, Ramrath, Slg. 1992, I-3351 Rn. 24. EuGH, Rs. C-106/91, Ramrath, Slg. 1992, I-3351 Rn. 25 f. 595 EuGH, Rs. C-106/91, Ramrath, Slg. 1992, I-3351 Rn. 31. 596 Vgl. ebenso Franzen, Privatrechtsangleichung, S. 175; Forsthoff, in: Grabitz/Hilf/Nettesheim, Art. 45 AEUV Rn. 276; Kainer, Unternehmensübernahmen, S. 72 f. 594
B. Vorgaben der Marktgrundfreiheiten
217
c) Verallgemeinerung: „Kraus“ und „Gebhard“ In der Rechtssache „Kraus“597 führte der EuGH sowohl die Konstellation der Mehrfachbelastung als auch diejenige der Marktzugangssperre, ohne dass eine Mehrfachbelastung vorliegt, zusammen und entwickelte die Formel, wonach die Arbeitnehmerfreizügigkeit jeder nationalen Regelung entgegensteht, „die zwar ohne Diskriminierung aus Gründen der Staatsangehörigkeit anwendbar ist, die aber geeignet ist, die Ausübung der durch den EWG-Vertrag garantierten grundlegenden Freiheiten durch die Gemeinschaftsangehörigen einschließlich der Staatsangehörigen des Mitgliedstaats, der die Regelung erlassen hat, zu behindern oder weniger attraktiv zu machen. Anders verhielte es sich nur, wenn mit einer solchen Regelung ein berechtigter Zweck verfolgt würde, der mit dem EWG-Vertrag vereinbar und aus zwingenden Gründen des Allgemeininteresses gerechtfertigt wäre. In einem solchen Fall müsste jedoch darüber hinaus die Anwendung der fraglichen nationalen Regelung geeignet sein, die Verwirklichung des mit ihr verfolgten Zwecks zu gewährleisten, und sie dürfte nicht über das hinausgehen, was zur Erreichung dieses Zwecks erforderlich ist.“598
Streitgegenständlich war eine Vorschrift des Landes Baden-Württemberg, wonach das Führen ausländischer akademischer Titel von einer vorherigen Genehmigung abhängig gemacht wurde. Das Genehmigungserfordernis ordnete der EuGH als eine tatbestandliche Beschränkung ein, die jedoch gerechtfertigt werden kann. Die Formel ist umso bemerkenswerter, als dass der streitgegenständliche Fall selbst eine klassische mittelbare Diskriminierung war. Das Genehmigungserfordernis unterscheidet nach dem Ausbildungsort, der bei ausländischen Staatsangehörigen typischerweise im Ausland liegt.599 Hinzu tritt, dass die konkrete Beschränkung keiner der beiden genannten Konstellationen zuzuordnen ist. Das Genehmigungserfordernis zum Führen ausländischer akademischer Titel folgt nicht aus einer Doppelregulierung. Sie führt zudem nicht zu einer Marktzugangssperre, da der streitgegenständliche „Master of Laws (LL.M.)“ für keinen juristischen Beruf in Deutschland eine Zugangsvoraussetzung darstellt. Der EuGH griff diese Bedenken bezüglich der Annahme einer Beschränkung, die unmittelbar mit dem Sachverhalt zusammenhingen, nicht auf, sondern entwickelte die zitierte Formel. In der Rechtssache „Gebhard“600 stellte der EuGH endgültig jene Formel auf, die zum Obersatz des Beschränkungsverbots der Verkehrsfreiheiten der natürlichen Personen wurde: „Unterliegt die Aufnahme oder Ausübung einer spezifischen Tätigkeit im Aufnahmemitgliedstaat derartigen Bedingungen, so muß der Angehörige eines anderen Mitgliedstaats, der
597
EuGH, Rs. C-19/92, Kraus, Slg. 1993, I-1663. EuGH, Rs. C-19/92, Kraus, Slg. 1993, I-1663 Rn. 32. 599 Vgl. GA van Gerven, SchlA Rs. C-19/92, Kraus, Slg. 1993, I-1663 Nr. 7; Körber, Grundfreiheiten und Privatrecht, S. 263. 600 EuGH, Rs. C-55/94, Gebhard, Slg. 1995, I-4165. 598
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4. Kapitel: Einwirkungen des Primärrechts in das autonome IPR
diese Tätigkeit ausüben will, diese Bedingungen grundsätzlich erfüllen. […] Aus der Rechtsprechung des Gerichtshofes ergibt sich jedoch, daß nationale Maßnahmen, die die Ausübung der durch den Vertrag garantierten grundlegenden Freiheiten behindern oder weniger attraktiv machen können, vier Voraussetzungen erfüllen müssen: Sie müssen in nichtdiskriminierender Weise angewandt werden, sie müssen aus zwingenden Gründen des Allgemeininteresses gerechtfertigt sein, sie müssen geeignet sein, die Verwirklichung des mit ihnen verfolgten Zieles zu gewährleisten, und sie dürfen nicht über das hinausgehen, was zur Erreichung dieses Zieles erforderlich ist.“601
d) Konkrete Anwendung des Beschränkungsverbots: „Bosman“ und „Lehtonen“ Allgemein wird das Urteil des EuGH in der Rechtssache „Bosman“602 als der erste Anwendungsfall für das Beschränkungsverbot der Verkehrsfreiheiten der natürlichen Personen angesehen.603 In dieser Rechtssache ging es um die Transferregeln der Fußballverbände URBSFA, UEFA und FIFA. Diese sahen vor, dass für einen Fußballspieler ein Vereinswechsel erst dann möglich ist, wenn der neue Verein, der ihn verpflichten möchte, seinem bisherigen Verein eine Transfer-, Ausbildungs- oder Förderungsentschädigung zahlt. Diese Entschädigung wurde fällig ungeachtet eines möglichen grenzüberschreitenden Transfers und ungeachtet der Staatsangehörigkeit des wechselwilligen Fußballspielers. Die streitgegenständliche Regelung war demnach nicht nur unterschiedslos anwendbar, sondern auch in ihren Wirkungen eindeutig nichtdiskriminierend. Für den EuGH „sind diese Regeln […] geeignet, die Freizügigkeit der Spieler, die ihre Tätigkeit in einem anderen Mitgliedstaat ausüben wollen, dadurch einzuschränken, daß sie die Spieler sogar nach Ablauf der Arbeitsverträge mit den Vereinen, denen sie angehören, daran hindern oder davon abhalten, diese Vereine zu verlassen.“604 Die Tatsache, dass sie auch auf mitgliedstaatsinterne Sachverhalte Anwendung finden, ändert „nichts daran, daß diese Regeln den Zugang der Spieler zum Arbeitsmarkt in den anderen Mitgliedstaaten unmittelbar beeinflussen und somit geeignet sind, die Freizügigkeit der Arbeitnehmer zu beeinträchtigen.“605 Mit Verweis auf die Rechtssachen „Kraus“ und „Gebhard“ ordnet der EuGH die Transferregeln als rechtfertigungsbedürftige Beschränkungen der Arbeitnehmerfreizügigkeit ein.606
601
EuGH, Rs. C-55/94, Gebhard, Slg. 1995, I-4165 Rn. 36 f. EuGH, Rs. C-415/93, Bosman, Slg. 1995, I-4921. 603 Vgl. nur Franzen, in: Streinz, Art. 45 AEUV Rn. 86; Körber, Grundfreiheiten und Privatrecht, S. 264; Nettesheim, NVwZ 1996, 342, 343. 604 EuGH, Rs. C-415/93, Bosman, Slg. 1995, I-4921 Rn. 99. 605 EuGH, Rs. C-415/93, Bosman, Slg. 1995, I-4921 Rn. 103. 606 EuGH, Rs. C-415/93, Bosman, Slg. 1995, I-4921 Rn. 104. 602
B. Vorgaben der Marktgrundfreiheiten
219
Diese Rechtsprechung wurde in der Rechtssache „Lehtonen“607 bestätigt. Diese Rechtssache ist für die Frage nach dem Gewährleistungsgehalt der Verkehrsfreiheiten der natürlichen Personen im Hinblick auf den Zuzug interessanter als die Rechtssache „Bosman“. In „Bosman“ ging es letzten Endes um eine Wegzugskonstellation. Nur dann, wenn ein künftiger Arbeitgeber im Aufnahmeland bereit ist, die Entschädigungssumme nach Maßgabe der Herkunftsrechtsordnung zu zahlen, ist ein grenzüberschreitender Transfer und damit ein Wegzug in das Aufnahmeland zur Aufnahme einer beruflichen Tätigkeit möglich. Der EuGH maß der Unterscheidung von Wegzug und Zuzug im Rahmen der Arbeitnehmerfreizügigkeit im „Bosman“-Urteil keine große Bedeutung zu. Die Rechtssache „Lehtonen“ betraf aber nunmehr eine Maßnahme des Aufnahmestaates. Auch in dieser Rechtssache ging es um Regelungen eines Sportverbandes, die den Transfer von Profisportlern betrafen. Die Regel des belgischen Basketballverbandes war vergleichbar den Transferentschädigungen der Fußballverbände sowohl auf inländische als auch grenzüberschreitende Spielertransfers anwendbar, wenn auch mit schärferen Bedingungen für inländische Vereinswechsel. Sie beinhaltete die zeitliche Begrenzung von Vereinswechseln. Spieler konnten nach dieser Regel nur bis zu einem bestimmten Stichtag verpflichtet werden, um in der darauffolgenden Spielsaison noch eingesetzt werden zu können. Ein Vereinswechsel nach dem Stichtag war zwar weiterhin möglich, jedoch war der Spieler bis zum Ende der Saison nicht spielberechtigt. Mit Verweis auf das Urteil „Bosman“ hielt der EuGH auch diese Regel für eine Beschränkung der Arbeitnehmerfreizügigkeit.608 Interessant wird diese Rechtssache, wenn man eine Parallele zur Warenverkehrsfreiheit zieht. Die zeitlich begrenzte Einsetzbarkeit eines Profisportlers kann mit der zeitlich begrenzten Vermarktungsdauer von Produkten verglichen werden. Letztere behandelte der EuGH in einem Fall, in dem es um zwingende halbjährliche Verfallsdaten zum 30. Juni oder 31. Dezember eines Jahres ging. Diese verkürzte Vermarktungsdauer stellt eine temporäre Marktzugangssperre zu einem mitgliedstaatlichen Teilmarkt dar.609 In gleichem Maße stellt das Spielverbot bei einem Vereinswechsel nach einem bestimmten Stichtag eine temporäre Marktzugangssperre zu einem mitgliedstaatlichen Teilarbeitsmarkt dar. e) Zusammenfassung Die Verkehrsfreiheiten der natürlichen Personen enthalten ein Verbot von Beschränkungen des Zuzugs natürlicher Personen, das über das Diskriminierungsverbot aus Gründen der Staatsangehörigkeit hinausgeht. Dieses Be-
607
EuGH, Rs. C-176/96, Lehtonen, Slg. 2000, I-2681. EuGH, Rs. C-176/96, Lehtonen, Slg. 2000, I-2681 Rn. 49 f. 609 EuGH, Rs. C-317/92, Kommission/Deutschland, Slg. 1994, I-2039 Rn. 12. 608
220
4. Kapitel: Einwirkungen des Primärrechts in das autonome IPR
schränkungsverbot umfasst die Konstellationen der Mehrfachbelastung, in denen sich die zuziehende Person im Zuzugsstaat mit Regelungen konfrontiert sieht, die einen Sachverhalt regeln, der im Wegzugsstaat bereits geregelt wurde, und der (temporären) Marktzugangssperre. Die vom EuGH in den Rechtssachen „Kraus“ und „Gebhard“ entwickelte Formel, wonach „Maßnahmen, die die Ausübung der durch den Vertrag garantierten grundlegenden Freiheiten behindert oder weniger attraktiv machen können,“ von den Verkehrsfreiheiten erfasst sind, weitet die Zugangsfreiheit zudem tatbestandlich über die Konstellationen der Doppelbelastung und der Marktzugangssperre hinaus auf sämtliche belastend wirkende Maßnahmen des Zuzugsstaats aus. Diese Ausweitung wirft die später zu behandelnde Frage nach der Einengung des Beschränkungsbegriffs im Sinne der „Keck“-Rechtsprechung auf.610 2. Beschränkungen des Wegzugs von natürlichen Personen Die Verkehrsfreiheiten der natürlichen Personen kennen kein dem Art. 35 AEUV vergleichbares Verbot mit Bezug auf Wegzugsbeschränkungen. Der EuGH erkennt jedoch den Wegzugsfall in ständiger Rechtsprechung als mit dem Zuzugsfall gleichrangig von der Arbeitnehmerfreizügigkeit in Art. 45 AEUV und der Niederlassungsfreiheit in Art. 49 AEUV erfasst an. Die Leitentscheidung „Bosman“, wonach die Arbeitnehmerfreizügigkeit als Beschränkungsverbot zu verstehen ist, behandelte einen Wegzugsfall. Ein mit dem Wortlaut der Freizügigkeitsbestimmungen begründbarer Ausschluss der Wegzugsfreiheit aus dem Schutzbereich entspräche nach Ansicht des EuGH einer Beraubung der Substanz der Freizügigkeitsbestimmungen.611 Wegzug und Zuzug einer natürlichen Person bilden die beiden Teilelemente, die zusammen die Freizügigkeit ausmachen. Eine unterschiedliche Behandlung dieser beiden Elemente danach, ob die Behinderung vom Herkunfts- oder Aufnahmestaat ausgeht, bedarf gegenüber dem einheitlichen Schutzgehalt der Freizügigkeitsbestimmungen einer besonderen Rechtfertigung, damit dieser Schutzgehalt nicht leerzulaufen droht.612 Dies wurde für die Arbeitnehmerfreizügigkeit in der Rechtssache „Graf“613 bestätigt. Hierbei ging es um die österreichische Abfertigung. Eine solche Abfertigung muss von einem Arbeitgeber gezahlt werden, wenn er seinem Arbeitnehmer nach einer mindestens dreijährigen Beschäftigung kündigt. Sie wird nicht fällig, wenn der Arbeitnehmer selbst kündigt oder dieser seine Kündigung verschuldet hatte. Der Kläger im Ausgangsverfahren war ein deutscher Arbeitnehmer, der bei seinem österreichischen Arbeitgeber kündigte, um einen neuen Arbeitsplatz in Deutschland anzunehmen. Er erhielt entsprechend den 610
Siehe dazu unten S. 224 ff. EuGH, Rs. C-415/93, Bosman, Slg. 1995, I-4921 Rn. 97. 612 Körber, Privatrecht und Grundfreiheiten, S. 277. 613 EuGH, Rs. C-190/98, Graf, Slg. 2000, I-493. 611
B. Vorgaben der Marktgrundfreiheiten
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österreichischen Vorschriften keine Abfertigung, was er als eine Beschränkung seiner Wegzugsfreiheit als Arbeitnehmer empfand. Der EuGH folgte dieser Argumentation im Ergebnis nicht. Er erkannte jedoch zunächst die Anwendbarkeit der Arbeitnehmerfreizügigkeit auf den Wegzugsfall ohne eine tiefergehende Problematisierung an,614 ließ einen Grundfreiheitenverstoß jedoch an der mangelnden Eignung der Abfertigungsregelung zur Freiheitsverletzung scheitern.615 Im Hinblick auf die Niederlassungsfreiheit ist die Rechtsprechung des EuGH zur Wegzugsbesteuerung natürlicher Personen interessant. In der Rechtssache „Lasteyrie du Saillant“616 ging es um die Besteuerung stiller Reserven, die eintritt, wenn eine natürliche Person, die in Frankreich in einem Zeitraum von zehn Jahren mindestens sechs Jahre lang unbeschränkt steuerpflichtig war, ihren steuerlichen Wohnsitz aus Frankreich hinausverlegt. Dabei wird von den Steuerbehörden der gemeine Wert von Gesellschaftsanteilen zum Zeitpunkt des Wegzugs berechnet und in ein Verhältnis zum Anschaffungspreis gesetzt. Der somit berechnete Gewinn wurde mit einer Wegzugssteuer versteuert. Die Zahlung der Wegzugssteuer konnte jedoch unter der Bedingung der Zahlung einer Sicherheitsleistung gestundet werden. Bei einer Beibehaltung des steuerlichen Wohnsitzes in Frankreich würden Wertsteigerungen von Gesellschaftsanteilen erst besteuert, wenn sie realisiert werden. Es handelte sich mithin um eine Besteuerung latenter Wertsteigerungen, die unmittelbar an den Wegzug aus dem Hoheitsgebiet des besteuernden Mitgliedstaates geknüpft ist. Der EuGH prüfte die Wegzugsbesteuerung an der Niederlassungsfreiheit, da diese „es doch auch [verbietet], dass der Herkunftsmitgliedstaat die Niederlassung seiner Staatsangehörigen in einem anderen Mitgliedstaat behindert.“617 Eine solche Wegzugsbesteuerung ist geeignet, „die Ausübung dieses Rechts zu beschränken, da er für Steuerpflichtige, die sich in einem anderen Mitgliedstaat niederlassen wollen, zumindest abschreckende Wirkung hat.“618 Selbiges attestierte der EuGH dem niederländischen System der Wegzugsbesteuerung von latenten Wertsteigerungen in der Rechtssache „N“.619 Die Behandlung der Wegzugsfälle im Schutzbereich der Verkehrsfreiheiten der natürlichen Personen unterstreicht den Gewährleistungsgehalt der Freizügigkeitsbestimmungen als Beschränkungsverbote. Die Wegzugskonstellation tritt typischerweise im Verhältnis zwischen einem Mitgliedstaat und den eigenen Staatsangehörigen auf. Zwar erkennt der EuGH die Beschränkung darin, dass etwa der „Steuerpflichtige, der im Rahmen der Ausübung des Rechts, das 614
EuGH, Rs. C-190/98, Graf, Slg. 2000, I-493 Rn. 23. Dazu sogleich unten S. 222 ff. 616 EuGH, Rs. C-9/02, Lasteyrie du Saillant, Slg. 2004, I-2409. 617 EuGH, Rs. C-9/02, Lasteyrie du Saillant, Slg. 2004, I-2409 Rn. 42. 618 EuGH, Rs. C-9/02, Lasteyrie du Saillant, Slg. 2004, I-2409 Rn. 45, Hervorhebung durch den Verfasser. 619 EuGH, Rs. C-470/04, N, Slg. 2006, I-7409 Rn. 34. 615
222
4. Kapitel: Einwirkungen des Primärrechts in das autonome IPR
ihm durch [Artikel 49 AEUV] garantiert wird, seinen Wohnsitz ins Ausland verlegen möchte, […] gegenüber einer Person, die ihren Wohnsitz in Frankreich beibehält, benachteiligt“620 wird. Jedoch handelt es sich dabei nicht um eine unmittelbare oder mittelbare Diskriminierung aus Gründen der Staatsangehörigkeit, da sowohl Inländer wie auch Ausländer ihren steuerlichen Wohnsitz aus Frankreich hinausverlegen.621 Der Grenzübertritt wird vom EuGH zutreffenderweise nicht als verbotenes Differenzierungsmerkmal bei der Grundfreiheitenprüfung angenommen. Zudem stellt der EuGH kein einschränkendes Kriterium in Form einer „spezifischen“ Wegzugsbeschränkung auf, wie er es noch im Hinblick auf Beschränkungen der Warenausfuhr bei der Warenausfuhrfreiheit in Art. 35 AEUV verlangt.622 Für den EuGH ist ausreichend, dass die Maßnahme eine „abschreckende Wirkung“ auf den wegzugswilligen Unionsbürger hat. 3. Mangelnde Eignung aufgrund fehlender Kausalität Die Verkehrsfreiheiten der natürlichen Personen eint mit den Produktverkehrsfreiheiten ihre Binnenmarktfinalität. Hieraus folgt zum einen, dass ihr Gewährleistungsgehalt über ein Diskriminierungsverbot hinausgeht und ein Beschränkungsverbot mitumfasst. Die Binnenmarktfinalität begrenzt zum anderen aber auch die Reichweite des Beschränkungsverbots. Im Hinblick auf die Warenverkehrsfreiheit wurde festgestellt, dass eine Beschränkung nicht allein aufgrund der Unterschiede der mitgliedstaatlichen Rechtsordnungen, die unkoordiniert nebeneinander stehen, entstehen kann. Die Grundfreiheiten legen keinen binnenmarktweit geltenden Regelungsstandard positiv fest. Dies ist dem Sekundärrechtsgeber überlassen. Nach der „Dassonville“-Formel zur Bestimmung des Schutzbereichs der Warenverkehrsfreiheit erfasst diese jedoch jede Handelsregelung, deren Hinwegdenken zu einer Erhöhung des Einfuhrvolumens führt. Die Binnenmarktfinalität der Warenverkehrsfreiheit verlangt es nunmehr, jene Maßnahmen vom Tatbestand auszuschließen, die aus der Sicht eines optimalen Beobachters nur unter besonders eigenartigen, unwahrscheinlichen und nach dem gewöhnlichen Verlauf der Dinge außer Betracht zu lassenden Umständen geeignet sind, den innerunionalen Handel zu behindern, und mithin zu ungewiss und zu mittelbar sind, um den Marktzugang einer Ware zu behindern. Die in der Warenverkehrsfreiheit vorgefundene Problematik lässt sich auch bei den Verkehrsfreiheiten der natürlichen Personen erkennen. Nach der „Gebhard“-Formel ist von diesen jede Maßnahme erfasst, die die Ausübung dieser
620
EuGH, Rs. C-9/02, Lasteyrie du Saillant, Slg. 2004, I-2409 Rn. 46. Vgl. Forsthoff, in: Grabitz/Hilf/Nettesheim, Art. 45 AEUV Rn. 118 f.; ders., in: Grabitz/Hilf/Nettesheim, Art. 49 AEUV Rn. 116 f. 622 Siehe zur spezifischen Warenausfuhrbeschränkung oben S. 203 ff. 621
B. Vorgaben der Marktgrundfreiheiten
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Freiheiten weniger attraktiv macht. Anders ausgedrückt ist hiernach jede Maßnahme erfasst, deren Hinwegdenken die Ausübung der Freizügigkeit einfacher gestaltet. Dies trifft auch im Kontext der Verkehrsfreiheiten der natürlichen Personen auf einen unvollendeten Binnenmarkt, in dem die Unterschiedlichkeit der mitgliedstaatlichen Rechtsordnungen nicht per se eine Beschränkung ist. Diese Problematik stellte sich dem EuGH im Hinblick auf die Arbeitnehmerfreizügigkeit in der bereits erwähnten Rechtssache „Graf“ über die österreichische Abfertigung, die ein Arbeitgeber einem von ihm gekündigten Arbeitnehmer ab einer dreijährigen Betriebszugehörigkeit zahlen muss. Der Kläger des Ausgangsverfahrens sah seine Wegzugsfreiheit als Arbeitnehmer dadurch beschränkt, dass er trotz mindestens dreijähriger Betriebszugehörigkeit die Abfertigung nicht gezahlt bekommt, wenn er aufgrund eines Arbeitsplatzwechsels in das europäische Ausland den Arbeitsvertrag mit seinem österreichischen Arbeitgeber kündigt. Der EuGH besann sich in seinem Urteil seiner Rechtsprechung zur Kausalität einer Maßnahme, den grenzüberschreitenden Warenverkehr zu beschränken. Er erkannte in dem Ausschluss der Zahlung einer Abfertigung im Fall der Eigenkündigung keine Maßnahme, die geeignet wäre, „den Arbeitnehmer daran zu hindern oder davon abzuhalten, sein Arbeitsverhältnis zu beenden, um eine unselbstständige Tätigkeit bei einem anderen Arbeitgeber auszuüben.“ Das die Abfertigung begründende Ereignis, die „Beendigung des Arbeitsverhältnisses, die der Arbeitnehmer selbst weder herbeigeführt noch zu vertreten hat“, ist nämlich ein „zukünftiges hypothetisches Ereignis“. „Ein derartiges Ereignis wäre jedoch zu ungewiß und wirkte zu indirekt, als daß eine Regelung, die an die Beendigung des Arbeitsverhältnisses durch den Arbeitnehmer selbst ausdrücklich nicht dieselbe Rechtsfolge knüpft wie an eine Beendigung, die er weder herbeigeführt noch zu vertreten hat, die Freizügigkeit der Arbeitnehmer beeinträchtigen könnte.“623 Der EuGH nahm in diesem Urteil die Perspektive des freizügigkeitswilligen Unionsbürgers ein, der seinen Arbeitsplatzwechsel regelmäßig dadurch einleitet, dass er selbst seinem bisherigen Arbeitgeber kündigt und anschließend die Grenze zu seinem neuen Arbeitgeber überschreitet. Betrachtet man die Motivlage eines solchen freizügigkeitswilligen Unionsbürgers, wird sich dieser von seinem Arbeitsplatzwechsel nicht dadurch abbringen lassen, dass er möglicherweise nach einer dreijährigen Betriebszugehörigkeit unverschuldet gekündigt werden könnte und dann eine Abfertigung erhält. Die Aussicht auf eine Abfertigung dürfte regelmäßig deutlich unterhalb der Verbesserungsmöglichkeiten liegen, die ein freizügigkeitswilliger Unionsbürger in dem Arbeitsplatzwechsel erkennt. Dies bestätigt auch der Sachverhalt des Ausgangsverfahrens in der Rechtssache „Graf“, in dem der Kläger nach der Eigenkündigung die
623
EuGH, Rs. C-190/98, Graf, Slg. 2000, I-493 Rn. 24 f.
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Zahlung der Abfertigung einfordert. Aus der Sicht eines optimalen Beobachters ist die Zahlung einer Abfertigung für den Fall einer von dem Arbeitnehmer nicht verschuldeten Kündigung durch den Arbeitgeber im allgemeinen nicht, sondern allenfalls unter besonders eigenartigen, unwahrscheinlichen und nach dem gewöhnlichen Verlauf der Dinge außer Betracht zu lassenden Umständen geeignet, den Wegzug eines Arbeitnehmers in einen anderen mitgliedstaatlichen Teilarbeitsmarkt weniger attraktiv zu machen. Wie bei den Produktfreiheiten enthalten somit auch die Verkehrsfreiheiten der natürlichen Personen ein Kausalitätserfordernis im Sinne der Adäquanz.624 4. Übertragbarkeit der „Keck“-Rechtsprechung Abschließend ist die Frage aufzuwerfen, ob über das Kausalitätserfordernis hinaus die Reichweite des Gewährleistungsgehalts der Verkehrsfreiheiten der natürlichen Personen noch weitergehend zu verengen ist. In diversen Schlussanträgen wurde etwa vorgeschlagen, in Analogie zum „Keck“-Urteil in der Warenverkehrsfreiheit bei der Arbeitnehmerfreizügigkeit die Unterscheidung zwischen Berufszugangsregelungen und Berufsausübungsregelungen einzuführen,625 was auch von Teilen der Literatur aufgegriffen wurde.626 Während bei Berufszugangsregelungen das Beschränkungsverbot uneingeschränkt gelten soll, sind Berufsausübungsregelungen, sofern sie nichtdiskriminierend wirken und den Marktzugang nicht versperren, vom Tatbestand der Arbeitnehmerfreizügigkeit auszunehmen. Diese modifizierend-semantische Übertragung der Fallgruppen der „Keck“Rechtsprechung, deren Bedeutung, wie bereits festgestellt, lediglich darin besteht, dass sie aus der Erfahrung des EuGH geronnene Fallgruppen darstellen, denen grundsätzlich die Eignung zur Marktzugangssperre entweder fehlt, muss auf Widerspruch stoßen. Der Grund dafür liegt in dem Unterschied zwischen Waren einerseits, die unter den Bedingungen der Herkunftsrechtsordnung hergestellt und dann im Bestimmungsland, so wie sie sind, verkauft werden können (oder im Fall von produktbezogenen Regelungen angepasst werden müssten, was die Grundfreiheitenkontrolle auslöst), und natürlichen Personen andererseits, deren Arbeitskraft in ihrem Herkunftsstaat unter dessen Bedingungen ausgebildet wurde, die sich den Ausübungsmodalitäten im Aufnahmestaat jedoch anpassen muss: „Menschen sind keine Waren, und der Prozeß der Ab-
624
Ebenso im Hinblick auf die Arbeitnehmerfreizügigkeit: GA Sharpston, SchlA Rs. C-212/06, Gouvernement wallon, Slg. 2008, I-1683 Nr. 65. 625 Vgl. GA Lenz, SchlA Rs. C-415/93, Bosman, Slg. 1995, I-4921 Nr. 205 ff.; GA Cosmas, verb. SchlA Rs. C-51/96 und C-191/97, Deliège, Slg. 2000, I-2549 Nr. 66 626 Vgl. etwa Brechmann, in: Calliess/Ruffert, Art. 45 AEUV Rn. 51; Franzen, Privatrechtsangleichung, S. 180 f.; Schroeder, JZ 1996, 254, 255; Eberhartinger, EWS 1997, 43, 49.
B. Vorgaben der Marktgrundfreiheiten
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wanderung zum Zweck der Beschäftigung oder Niederlassung im Ausland einschließlich der Vorbereitung dafür kann nicht so klar in (Massen-)Produktion und Vermarktungsstufen eingeteilt werden.“627 Vor diesem Hintergrund sind „Berufsausübungsregeln […] den produktbezogenen Regeln sehr viel näher als den Verkaufsmodalitäten. Ausübungsregeln sind nämlich wie produktbezogene Regelungen unmittelbar von dem Unionsbürger zu erfüllen, der die Grundfreiheit des [Art. 45 AEUV] in Anspruch nehmen will. Er muß gegebenenfalls nach jedem grenzüberschreitenden Arbeitsplatzwechsel neue Ausübungsregeln berücksichtigen und sich entsprechende Fähigkeiten aneignen.“628 Will man den Gedanken der „Keck“-Rechtsprechung, nämlich solche nichtdiskriminierenden Regelungen, die in keinem konkreten Bezug auf das jeweilige Produkt stehen und damit keine Produktmodifikation verlangen, ohne die das betroffene Produkt den jeweiligen mitgliedstaatlichen Teilmarkt nicht betreten könne, aus dem Tatbestand der Warenverkehrsfreiheit auszuschließen, auf die Arbeitskraft übertragen, so würde dies Regelungen über die Art der Bewerbungsunterlagen, der Bewerbung oder der Dauer der Gültigkeit einer Bewerbung betreffen.629 Die modifizierend-semantische Übertragung der „Keck“-Rechtsprechung auf die Arbeitnehmerfreizügigkeit überzeugt vor diesem Hintergrund nicht.630 Allerdings ist die semantische Fallgruppenbildung von produktbezogenen Regelungen und bestimmten Verkaufsmodalitäten schon bei der Warenverkehrsfreiheit nicht überzeugend. Die Fallgruppe der Verwendungsmodalitäten hat auch den EuGH in letzter Konsequenz davon überzeugt, auf den Marktzugang als das entscheidende Merkmale zur Unterscheidung von Behinderungen, die der Warenverkehrsfreiheit noch unterliegen, und solchen, die vom Tatbestand nicht erfasst sind, abzustellen. Der EuGH scheint sich den Marktzugang auch bei der Arbeitnehmerfreizügigkeit zu eigen zu machen, wenn er in seinen Entscheidungsgründen in der Rechtssache „Graf“ darauf verweist, dass eine 627
GA Fenelly, SchlA Rs. C-190/98, Graf, Slg. 2000, I-493 Nr. 18. GA Alber, SchlA Rs. C-176/96, Lehtonen, Slg. 2000, I-2681 Nr. 48. Vgl. auch Mojzesowicz, Möglichkeiten und Grenzen einer einheitlichen Dogmatik der Grundfreiheiten, S. 117. 629 Vgl. Roloff, Das Beschränkungsverbot des Art. 39 EG (Freizügigkeit) und seine Auswirkungen auf das nationale Arbeitsrecht, S. 103 ff. 630 Eine andere Fallgruppenbildung schlägt Schulte Westenberg, Das Beschränkungsverbot des Art. 39 EG (Freizügigkeit) und seine Auswirkungen auf das nationale Arbeitsrecht, S. 175 ff. vor, der zwischen „tätigkeitsverhältnisgestaltenden“ und „tätigkeitsverhältnisbegleitenden“ Regelungen unterscheiden möchte. Diesen Bezeichnungen ist zuzugeben, dass sie deutlich trennschärfer sind als diejenigen der Berufszugangs- und Berufsausübungsregelungen. Es gelingt ihm mit diesen Fallgruppen auch die bisherige Rechtsprechung des EuGH zur Arbeitnehmerfreizügigkeit widerspruchsfrei zuzuordnen. Hieraus folgen jedoch weniger subsumtionsleitende Kriterien als vielmehr eine handhabbare Fallgruppenbildung, die einer aus der Rechtsprechung geronnenen Erfahrung entspricht, wann von einer Marktzugangssperre typischerweise ausgegangen werden kann. 628
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4. Kapitel: Einwirkungen des Primärrechts in das autonome IPR
Beschränkung nur dann vorliegt, „wenn sie den Zugang der Arbeitnehmer zum Arbeitsmarkt beeinflussen.“631 Der Zusammenhang der Nichtgewährung der österreichischen Abfertigung im Fall der Eigenkündigung mit der Ausübung der Arbeitnehmerfreizügigkeit war jedoch derart gering, dass der EuGH die mögliche Verletzung von Art. 45 AEUV bereits an der fehlenden Kausalität scheitern lassen konnte, so dass das Marktzugangskriterium nicht mehr entscheidungsrelevant war. Mit dem Marktzugangskriterium lässt sich zudem das Urteil in der Rechtssache „Kommission/Dänemark“632 erklären. In dieser Rechtssache ging es um die dänische Besteuerung von im Ausland zugelassenen Firmenwagen, die der ausländische Arbeitgeber tragen muss. Der EuGH ordnete diese Regelung als eine Ausübungsmodalität ein, die „aber geeignet [ist], auch den Zugang zu der betreffenden Tätigkeit zu beeinflussen. [… E]ine Regelung, die die Bedingungen der Ausübung einer Erwerbstätigkeit betrifft, [kann] eine Beschränkung der Freizügigkeit im Sinne [der Rechtssache „Graf“] darstellen.“633 Dänemark selber berief sich unter anderem darauf, dass die Steuer nicht den Zugang zum Arbeitsmarkt, sondern nur die Arbeitsbedingungen betrifft, was von der Arbeitnehmerfreizügigkeit nicht erfasst sei. Die modifizierend-semantische Übertragung der „Keck“-Rechtsprechung käme nun in Erklärungsschwierigkeiten. Betrachtet man aber den Marktzugang, so wird deutlich, dass ein ausländischer Arbeitgeber durch die höheren Kosten, die ihm durch die Übernahme der Zahlung der dänischen Zulassungssteuer entstehen, davon abgehalten werden könnte, einen dänischen Arbeitnehmer einzustellen.634 Dies kommt dann einer Marktzugangssperre gleich.635 Diese Betrachtungsweise wird durch die Rechtssache „Weigel“636 bestätigt. Streitgegenständlich war ebenfalls eine Zulassungssteuer für Kraftfahrzeuge. Im Ausgangssachverhalt ging es allerdings nicht um Firmenwagen, sondern um private Kraftfahrzeuge. Nimmt nun ein ausländischer Arbeitnehmer in Österreich eine Tätigkeit auf und zieht mit seinem privaten Kraftfahrzeug um, so muss er die österreichische Zulassungssteuer zahlen. Der EuGH hält diese Vorschrift zunächst für eine solche, die „Wanderarbeitnehmer davon abhalten könnte, von ihrem Recht auf Freizügigkeit Gebrauch zu machen.“ Er verneint jedoch im Folgenden einen Eingriff in die Arbeitnehmerfreizügigkeit mit dem Verweis auf die Koexistenz unterschiedlicher mitgliedstaatlicher Steuerrechtsordnungen, die im Einzelfall zu Nachteilen für Wanderarbeitnehmer führen
631
EuGH, Rs. C-190/98, Graf, Slg. 2000, I-493 Rn. 23. EuGH, Rs. C-464/02, Kommission/Dänemark, Slg. 2005, I-7929. 633 EuGH, Rs. C-464/02, Kommission/Dänemark, Slg. 2005, I-7929 Rn. 37. 634 EuGH, Rs. C-464/02, Kommission/Dänemark, Slg. 2005, I-7929 Rn. 48. 635 Vgl. ebenso EuGH, Rs. C-232/01, Van Lent, Slg. 2003, I-11525 Rn. 20; verb. Rs. C-151/04 und C-152/04, Nadin-Lux, Slg. 2005, I-11203 Rn. 36. 636 EuGH, Rs. C-387/01, Weigel, Slg. 2004, I-4981. 632
B. Vorgaben der Marktgrundfreiheiten
227
kann.637 Die österreichische Zulassungssteuer ist eine unterschiedslos anwendbare Maßnahme, die jedermann, der in Österreich seinen Wohnsitz hat, einmal leisten muss. Die Zulassungssteuer macht den Umzug nach Österreich für einen Wanderarbeitnehmer unangenehm. Sie bewirkt jedoch keine Marktzugangssperre, da ein österreichischer Arbeitgeber dadurch nicht davon abgehalten werden könnte, einen ausländischen Arbeitnehmer einzustellen, und dem zuziehenden Arbeitnehmer durch die einmalige Entrichtung der Steuer der Zugang zu Österreich ökonomisch nicht versperrt wird.638 Mithin unterliegen nur solche unterschiedslos anwendbare Maßnahmen, die natürliche Personen auch nicht mittelbar aus Gründen der Staatsangehörigkeit diskriminieren, den Verkehrsfreiheiten der natürlichen Personen, die geeignet sind, den Zugang zum Arbeitsmarkt oder zur Niederlassung in einem anderen Mitgliedstaat zu versperren oder so stark zu beschränken, dass sie in ihrer Wirkung einer Zugangssperre nahekommen. 5. Zusammenfassung Das Beschränkungsverbot, das in den Verkehrsfreiheiten der natürlichen Personen (Arbeitnehmerfreizügigkeit und Niederlassungsfreiheit) neben dem Verbot der Diskriminierungen aus Gründen der Staatsangehörigkeit enthalten ist, setzt sich wie das Beschränkungsverbot der Warenverkehrsfreiheit aus dem Verbot der Mehrfachbelastung und dem Verbot der Marktzugangssperre zusammen. Das Verbot der Mehrfachbelastungen steht einer Regelung entgegen, wenn die natürliche Person einer funktionsäquivalenten Regelung in einem anderen Mitgliedstaat bereits entsprochen hat. Relevant ist das Verbot der Mehrfachbelastung bei der Anerkennung von ausländischen Qualifikationsnachweisen. Unterliegt die erlernte und ausgeübte Tätigkeit, die auf einem anderen mitgliedstaatlichen Teilmarkt angeboten wird als demjenigen, in dem die Qualifikation für diese Tätigkeit erworben wurde, denselben oder funktionsäquivalenten Vorgaben für diese Tätigkeit im Zuzugs- und im Herkunftsstaat, führt der Zwang zur Vorlage inländischer Qualifikationsnachweise trotz vorhandener ausländischer Nachweise zu einer Mehrfachbelastung, die dem Binnenmarktgedanken gerade widerspricht. Dabei muss sich gegenüber der Verkehrsfreiheit, wie schon bei der Warenverkehrsfreiheit, diejenige Regelung rechtfertigen, die die zusätzliche Belastung begründet. Hierbei kann es sich sowohl um Regelungen des Zuzugsstaats handeln, wenn die Qualifikation der Arbeitskraft 637
EuGH, Rs. C-387/01, Weigel, Slg. 2004, I-4981 Rn. 54. Der Fall hätte auch aufgrund des fehlenden Kausalzusammenhangs zwischen der einmaligen Entrichtung der Zulassungssteuer und einer Behinderung der Ausübung der Arbeitnehmerfreizügigkeit als „zu ungewiss und zu indirekt“ entschieden werden können. In diese Richtung das vorgetragene Argument bei GA Tizzano, SchlA Rs. C-387/01, Weigel, Slg. 2004, I-4981 Nr. 28. 638
228
4. Kapitel: Einwirkungen des Primärrechts in das autonome IPR
des Arbeitnehmers bzw. der wirtschaftlichen Tätigkeit des Selbstständigen entsprechend der Regelungen im Herkunftsstaat erreicht wurde, als auch um Regelungen des Herkunftsstaats, wenn die Arbeitskraft oder die wirtschaftliche Tätigkeit den Regelungen des Zuzugsstaates entsprechen. Ein Herkunftslandprinzip, demzufolge grundsätzlich die Bestimmungsrechtsordnung gegenüber der Herkunftsrechtsordnung rechtfertigungsbedürftig ist, ergibt sich aus dem Unionsrecht nicht. Relevant ist, wie bei der Warenverkehrsfreiheit, lediglich der Ursprung der Mehrfachbelastung. Das Verbot der Marktzugangssperre greift ein, wenn einer natürlichen Person, ohne dass es zu einer Mehrfachbelastung gekommen ist, in ihrer Funktion als Arbeitnehmer (Art. 45 AEUV) oder als Selbstständiger (Art. 49 AEUV) der Zugang zu einem mitgliedstaatlichen Teilmarkt des Binnenmarktes verwehrt wird. Dabei ist auf die Wirkungen einer Maßnahme abzustellen, so dass nicht erforderlich ist, dass die Person physisch am Zugang gehindert wird. Ausreichend ist vielmehr, dass die Arbeitskraft eines Arbeitnehmers bzw. die wirtschaftliche Tätigkeit eines Selbstständigen praktisch nicht nutzbar ist, so dass die entsprechende Maßnahme wie eine Marktzugangssperre wirkt. Auch wenn der EuGH selbst es für ausreichend hält, dass eine Maßnahme die Ausübung der durch den Vertrag garantierten Grundfreiheiten „weniger attraktiv“ machen könnte, um den Tatbestand der Verkehrsfreiheiten für erfüllt zu erkennen, ist der konkreten Rechtsprechung zu entnehmen, dass bei rechtlich wie tatsächlich nichtdiskriminierenden Maßnahmen, ohne dass diese eine Mehrfachbelastung begründen, nur solche rechtfertigungsbedürftig sind, die wie eine Marktzugangssperre wirken. Selbiges gilt für den Wegzug, wenn der EuGH in diesen Fällen verlangt, dass die den Wegzug behindernde Maßnahme eine „abschreckende Wirkung“ auf den wegzugswilligen Unionsbürger hat. Die abschreckende Wirkung muss dergestalt sein, dass sie den Unionsbürger vom Wegzug abhält und damit die Wirkung einer Marktausgangsperre erhält. Wie gezeigt, betreffen das Verbot der Mehrfachbelastung und das Verbot der Marktzugangssperre sowohl den Zuzug als auch den Wegzug. Die Unterschiede, die in den Urteilen des EuGH zur Warenausfuhrfreiheit („spezifische Ausfuhrbeschränkung“) und zur Wegzugsfreiheit („abschreckende Wirkung“) terminologisch auftauchen, führen zu keinen Unterschieden in der Sache. In beiden Sachverhaltskonstellationen möchte der EuGH der Sonderlage bei der Warenausfuhr, auf der einen Seite, und beim Wegzug der natürlichen Person, auf der anderen Seite, gerecht werden, indem er eine scheinbar verengende Terminologie verwendet. Stellt man allerdings auf die Mehrfachbelastung und die marktausgangsversperrende Wirkung ab, wird deutlich, dass beide Fallgruppen sowohl den Zuzug als auch den Wegzug in gleichem Maße zu erfassen vermögen. Unterschiedslos anwendbare Maßnahmen, die demnach weder diskriminierend wirken noch eine Mehrfachbelastung begründen und die den Marktzugang oder Marktausgang weder rechtlich noch tatsächlich versperren, unterliegen
B. Vorgaben der Marktgrundfreiheiten
229
nicht den Verkehrsfreiheiten der natürlichen Personen. Den Besonderheiten der Verkehrsfreiheiten der rechtlich konfigurierten Marktakteure wird bei der Untersuchung des Internationalen Gesellschaftsrecht nachgegangen.639 VI. Die Zwittergrundfreiheit: Das Beschränkungsverbot des freien Dienstleistungsverkehrs (Art. 56 AEUV) Die Dienstleistungsfreiheit nimmt eine „Zwitterstellung“640 zwischen der Warenverkehrsfreiheit als Produktfreiheit einerseits und den Verkehrsfreiheiten der natürlichen Personen als Faktorfreiheiten andererseits ein. Sie verfügt sowohl über personenbezogene als auch über produktbezogene Aspekte.641 Sie ist damit der Prüfstein dafür, ob die Dogmatik, die für die Warenverkehrsfreiheit als Produktfreiheit einerseits und die für die Verkehrsfreiheiten als Faktorfreiheiten andererseits entwickelt worden ist, auf sämtliche Grundfreiheiten anwendbar ist. Die personenbezogenen Aspekte ergeben sich nicht nur daraus, dass Art. 56 AEUV systematisch in dem Titel über die Freizügigkeit steht, das die Beschränkungsverbote bezüglich der Produktionsfaktoren Arbeit (selbstständig und unselbstständig) und Kapital beinhaltet. Eine Dienstleistung ist eine persönliche Leistung, bei der der Inhalt der Leistung nicht von der Person des Leistungserbringers getrennt werden kann. Sie unterscheidet sich von der Arbeitskraft (Art. 45 AEUV) durch ihre selbstständige Erbringungsweise (Art. 57 Abs. 1 AEUV) und von der Niederlassungsfreiheit durch ihre punktuelle und vorübergehende Erbringung in einem anderen mitgliedstaatlichen Teilmarkt des Binnenmarktes als dem Heimatmarkt. Soweit der personenbezogene Aspekt der Dienstleistungsfreiheit durch eine beschränkende Maßnahme betroffen ist, liegt es nahe, die Wertungen der Verkehrsfreiheiten der natürlichen Personen auf die Bestimmung des Gewährleistungsgehalts der Dienstleistungsfreiheit zu übertragen.642 Die produktbezogenen Aspekte ergeben sich aus der Bedeutung der Dienstleistung für die ökonomische Funktion des Binnenmarktes. Um die maximale Wohlstandssteigerung durch den Binnenmarkt zu erreichen, müssen Produkte und Produktionsfaktoren eine umfassende Freizügigkeit genießen. Die Produktionsfaktoren Arbeit und Kapital sind durch die Grundfreiheiten der Art. 45, 49
639
Siehe unten S. 339 ff. Forsthoff, EWS 2001, 59, 61. 641 Vgl. Holoubek, in: Schwarze, Art. 56, 57 AEUV Rn. 7 f.; Tiedje, in: von der Groeben/Schwarze/Hatje, Art. 56 AEUV Rn. 36. 642 Vgl. Forsthoff, in: Grabitz/Hilf/Nettesheim, Art. 57 AEUV Rn. 3. 640
230
4. Kapitel: Einwirkungen des Primärrechts in das autonome IPR
und 63 AEUV abgedeckt. Unter den Produkten betrifft die Warenverkehrsfreiheit lediglich körperliche Produkte,643 nicht jedoch die Erbringung nichtkörperlicher Leistungen. Diese Lücke deckt die Dienstleistungsfreiheit ab.644 Soweit der produktbezogene Aspekt der Dienstleistungsfreiheit durch eine beschränkende Maßnahme betroffen ist, liegt es mithin nahe, die Wertungen der Warenverkehrsfreiheit auf die Bestimmung des Gewährleistungsgehalts der Dienstleistungsfreiheit zu übertragen.645 Der produktbezogene Aspekt manifestiert sich in der Anerkennung der passiven Dienstleistungsfreiheit646 und der Korrespondenzdienstleistung647 als Schutzgüter der Dienstleistungsfreiheit.648 Die „Persönlichkeit“ des Leistungserbringers ist lediglich bei der aktiven Dienstleistungsfreiheit relevant, da die besonderen Fähigkeiten und Qualifikationen des Leistungserbringers die Dienstleistung definieren. Dieser Aspekt ist bei der passiven Dienstleistungsfreiheit irrelevant, da die „Persönlichkeit“ des Dienstleistungsempfängers nicht auf die Dienstleistung durchschlägt. Die Differenzierung von personenbezogenen Aspekten, auf die die Wertungen der Verkehrsfreiheiten der natürlichen Personen übertragen werden können, und produktbezogenen Aspekten, auf die die Wertungen der Warenverkehrsfreiheit übertragen werden können, sind bei der Frage nach der Übertragbarkeit der „Keck“-Rechtsprechung auf die Bestimmung der tatbestandlichen Reichweite der Dienstleistungsfreiheit und bei der Frage nach der Rechtfertigung relevant. 1. Verbot der Beschränkung von Dienstleistungen durch den Bestimmungsstaat Der EuGH baute die Dienstleistungsfreiheit in seinem Urteil in der Rechtssache „Säger“649 endgültig zu einem Beschränkungsverbot aus. In dieser Rechtssache ging es um ein in Großbritannien niedergelassenes Unternehmen, das auf Dienstleistungen im Zusammenhang mit der Aufrechterhaltung von Patenten (patent renewal service) spezialisiert war. Diese Tätigkeiten unterlagen in Deutschland dem Rechtsberatungsgesetz, wonach diese ausschließlich zuge-
643 Besonderheiten gibt es lediglich beim „Strom“ als Ware, vgl. Müller-Graff, in: von der Groeben/Schwarze/Hatje, Art. 34 AEUV Rn. 276. 644 Sehr deutlich Müller-Graff, in: Streinz, Art. 49 AEUV Rn. 7 ff.; vgl. auch Tiedje, in: von der Groeben/Schwarze/Hatje, vor Art. 56 bis 62 AEUV Rn. 27 f.; Holoubek, in: Schwarze, Art. 56, 57 AEUV Rn. 7 f. 645 Vgl. Tiedje, in: von der Groeben/Schwarze/Hatje, vor Art. 56 bis 62 AEUV Rn. 29 ff. 646 EuGH, verb. Rs. 286/82 und 26/83, Luisi und Carbone, Slg. 1984, 377; Rs. 186/87, Cowan, Slg. 1989, 195. 647 EuGH, Rs. 155/73, Sacchi, Slg. 1974, 409; Rs. C-384/93, Alpine Investments, Slg. 1995, I-1141. 648 Vgl. Müller-Graff, in: Streinz, Art. 56 AEUV Rn. 9. 649 EuGH, Rs. C-76/90, Säger, Slg. 1991, I-4221.
B. Vorgaben der Marktgrundfreiheiten
231
lassenen Patentanwälten vorbehalten waren. Das im Ausgangsverfahren beklagte britische Unternehmen verfügte nicht über eine derartige Erlaubnis. Die Erteilung der Erlaubnis selbst knüpfte diskriminierungsfrei an die Qualifikation als Patentanwalt und die Zahlung einer Gebühr an. Der EuGH machte deutlich, dass die Dienstleistungsfreiheit „nicht nur die Beseitigung sämtlicher Diskriminierungen des Dienstleistungserbringers aufgrund seiner Staatsangehörigkeit, sondern auch die Aufhebung aller Beschränkungen – selbst wenn sie unterschiedslos für einheimische Dienstleistende wie für Dienstleistende anderer Mitgliedstaaten gelten – verlangt, wenn sie geeignet sind, die Tätigkeit des Dienstleistenden, der in einem anderen Mitgliedstaat ansässig ist und dort rechtmäßig ähnliche Dienstleistungen erbringt, zu unterbinden oder zu behindern.“650 Die vom EuGH in der Rechtssache „Säger“ erarbeitete Formel ist deutlich an diejenige angelehnt, die er in der Rechtssache „Cassis de Dijon“ im Rahmen der Warenverkehrsfreiheit entwickelte: Eine Dienstleistung, die in einem mitgliedstaatlichen Teilmarkt des Binnenmarktes rechtmäßig in den Verkehr gelangt ist, kann als solche auch in jeden anderen mitgliedstaatlichen Teilmarkt des Binnenmarktes importiert werden, sofern darüber hinausgehende Anforderungen an die Dienstleistung oder den Dienstleistungserbringer nicht aus zwingenden Erfordernissen gerechtfertigt werden können. In diesem Urteil wird auch der produktbezogene Aspekt der Dienstleistungsfreiheit deutlich, indem die Wertungen des Urteils „Cassis de Dijon“ aus der Warenverkehrsfreiheit auf die Dienstleistungsfreiheit übertragen wurden. In der Rechtssache „Gebhard“ löste der EuGH schließlich die Behinderungseignung einer Maßnahme von einem Vergleich mit der Herkunftsrechtsordnung der importierten Dienstleistung und verlangte lediglich die Feststellung, dass sie „die Ausübung der durch den Vertrag garantierten grundlegenden Freiheiten behindern oder weniger attraktiv machen können.“651 Während die „Säger“-Formel eine Übertragung aus der Warenverkehrsfreiheit ist, wurde die „Gebhard“-Formel im Kontext der Verkehrsfreiheit der natürlichen Personen entwickelt. Hieraus den Schluss zu ziehen, dass sich die jeweiligen Formeln nur jeweils auf die produkt- und auf die personenbezogenen Aspekte der Dienstleistungsfreiheit beziehen, ist jedoch nicht naheliegend. Sowohl bei der Warenverkehrsfreiheit als auch bei den Verkehrsfreiheiten der natürlichen Personen soll der jeweilige Schutzbereich gleich weit eröffnet sein, so dass in den unterschiedlichen Formeln keine unterschiedliche Tragweite des Gewährleistungsgehalts zu erkennen ist.652
650
EuGH, Rs. C-76/90, Säger, Slg. 1991, I-4221 Rn. 12. EuGH, Rs. C-55/94, Gebhard, Slg. 1995, I-4165 652 Vgl. auch Forsthoff, in: Grabitz/Hilf/Nettesheim, Art. 57 AEUV Rn. 102. 651
232
4. Kapitel: Einwirkungen des Primärrechts in das autonome IPR
2. Verbot der Beschränkung von Dienstleistungen durch den Herkunftsstaat des Leistungserbringers Die Frage nach dem Gleichlauf der Dienstleistungsfreiheit als Produktfreiheit mit der Warenverkehrsfreiheit ist im Hinblick auf die „Ausfuhrdimension“ der Dienstleistungsfreiheit relevant. Diese Dimension erfasst die Beschränkungen der Dienstleistungsfreiheit durch den Herkunftsstaat des Leistungserbringers. Anders als die Warenverkehrsfreiheit beinhalten die Regelungen zum freien Dienstleistungsverkehr keine dem Art. 35 AEUV vergleichbare Regelung. Der Wortlaut des Art. 56 Abs. 1 AEUV, der lediglich auf die Leistungserbringung „in einem anderen Mitgliedstaat als demjenigen des Leistungsempfängers“ abstellt, erfasst sowohl den Import als auch den Export einer Dienstleistung. Der EuGH hat die „Exportdimension“ der Dienstleistungsfreiheit in seiner Rechtsprechung anerkannt. Er behandelte sie zunächst als Hindernisse für den Dienstleistungsempfänger durch seinen Heimatstaat653, bevor er sich in der Rechtssache „Corsica Ferries“ den Dienstleistungsexportbeschränkungen des Ansässigkeitsstaates des Leistungserbringers zuwandte.654 Wenn sich die Reichweite der Dienstleistungsfreiheit in ihrer Exportdimension an die Rechtsprechung des EuGH zu Art. 35 AEUV anlehnen würde, so müsste diese entsprechend der Rechtssache „Gysbrechts“ auf ein weit verstandenes Diskriminierungsverbot reduziert sein, bei dem eine Benachteiligung des Dienstleistungsexports gegenüber der inländischen Dienstleistungserbringung nachgewiesen werden muss.655 Mit dieser Frage beschäftigte sich der EuGH in der Rechtssache „Alpine Investments“656, ohne jedoch auf Art. 35 AEUV einzugehen. In dieser Rechtssache ging es um das niederländische Verbot des sog. „cold callings“. Dabei werden Verbraucher telefonisch kontaktiert, um ihnen Finanzdienstleistungen anzubieten, ohne dass sie hierzu vorher schriftlich eingewilligt haben. Dieses Verbot galt für Anrufe sowohl innerhalb als auch außerhalb der Niederlande. Von der Regelungstechnik her ist die niederländische Regelung mit dem belgischen Verbot, vor Ablauf einer siebentägigen Rücktrittsfrist eine Anzahlung oder Zahlung zu verlangen, wie es dem Urteil in der Rechtssache „Gysbrechts“ zu Art. 35 AEUV zugrunde lag, vergleichbar. Während der EuGH allerdings in „Gysbrechts“ feststellte, dass das belgische Verbot „tatsächlich die Ausfuhren, d. h., wenn die Waren den Markt des Ausfuhrmitgliedstaats verlassen, stärker als den Absatz der Waren auf dem inländischen Markt“657 betrifft, begnügte er sich in „Alpine Investments“ damit, das 653
EuGH, verb. Rs. 286/82 und 26/83, Luisi und Carbone, Slg. 1984, 377 Rn. 10, 16. EuGH, Rs. C-18/93, Corsica Ferries, Slg. 1994, I-1783, 1822 Rn. 30; Rs. C-379/92, Peralta, Slg. 1994, I-3453 Rn. 40; Rs. C-384/93, Alpine Investments, Slg. 1995, I-1141 Rn. 30; Rs. C-208/05, ITC, Slg. 2007, I-181 Rn. 56. 655 Siehe zu der Rechtssache „Gysbrechts“ oben S. 204 f., sowie Kritik hieran S. 205 ff. 656 EuGH, Rs. C-384/93, Alpine Investments, Slg. 1995, I-1141. 657 EuGH, Rs. C-205/07, Gysbrechts, Slg. 2008, I-9947 Rn. 43. 654
B. Vorgaben der Marktgrundfreiheiten
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niederländische Verbot als Wegnahme eines „schnelle[n] und direkte[n] Mittel[s] der Werbung und der Kontaktaufnahme mit potenziellen Kunden in anderen Mitgliedstaaten“658 einzuordnen. Da dieses Verbot nicht nur Anrufe innerhalb des Ansässigkeitsstaates des Dienstleistungserbringes betraf, sondern auch solche in das Ausland, kam der EuGH zu dem Schluss, dass „es unmittelbar den Zugang zum Dienstleistungsmarkt in den anderen Mitgliedstaaten [beeinflusst]. Es ist daher geeignet, den innergemeinschaftlichen Dienstleistungsverkehr zu behindern.“659 Sowohl der Rechtssache „Gysbrechts“ als auch der Rechtssache „Alpine Investments“ unterlagen unterschiedslos anwendbare Regelungen, deren mittelbare diskriminierende Wirkung der EuGH im Hinblick auf Art. 35 AEUV feststellte, während er hierauf im Hinblick auf Art. 56 AEUV verzichtete. Genauso wenig erwähnte er im Obersatz in „Alpine Investments“ die Notwendigkeit des Vorliegens einer „spezifischen“ Beschränkung der Ausfuhrströme,660 was der EuGH seit dem Urteil in der Rechtssache „Groenveld“661 in ständiger Rechtsprechung zu Art. 35 AEUV verlangt. Diese Unterschiede in den beiden Rechtsprechungssträngen werden von Teilen der Lehre ignoriert, die das Diskriminierungsverbot aus Art. 35 AEUV weiterhin in der Exportfreiheit des Art. 56 AEUV erkennen möchten und in das Urteil „Alpine Investments“ hineinlesen.662 Dieses Verständnis des Urteils basiert auf der Annahme, dass das Urteil lediglich im Hinblick auf Modalitäten der Leistungserbringung von Bedeutung ist. Soweit Regelungen des Herkunftsstaates jedoch leistungs- und erbringerbezogen sind, soll für sie weiterhin ein weit gefasstes Diskriminierungsverbot wie in Art. 35 AEUV gelten. Begründet wird dies mit einer spiegelverkehrten Anwendung der „Keck“Rechtsprechung und dem Herkunftslandprinzip. Nach dieser Ansicht unterliegen beim Dienstleistungsimport die Vertriebsmodalitäten des Bestimmungsstaates lediglich einem Diskriminierungsverbot und die Modalitäten, die sich unmittelbar auf die Dienstleistung selbst beziehen, einem Beschränkungsverbot. Spiegelverkehrt unterliegen beim Dienstleistungsexport dann die Vertriebsmodalitäten des Herkunftsstaates einem Beschränkungsverbot und die Modalitäten, die sich unmittelbar auf die Dienstleistung selbst beziehen, lediglich einem Diskriminierungsverbot. Das niederländische Verbot des „cold callings“ stellt eine Vertriebsmodalität des Herkunftsstaats der Dienstleitung dar, weshalb nach dieser Ansicht die Ausweitung von Art. 56 AEUV auf ein Beschränkungsverbot zutreffend war. Diese Feststellung in dem Urteil sagt jedoch, so die Vertreter dieser Ansicht, nichts 658
EuGH, Rs. C-384/93, Alpine Investments, Slg. 1995, I-1141 Rn. 28. EuGH, Rs. C-384/93, Alpine Investments, Slg. 1995, I-1141 Rn. 38. 660 So ausdrücklich in EuGH, Rs. C-205/07, Gysbrechts, Slg. 2008, I-9947 Rn. 40. 661 EuGH, Rs. 15/79, Groenveld, Slg. 1979, 3409 Rn. 7. 662 Vgl. Forsthoff, in: Grabitz/Hilf/Nettesheim, Art. 57 AEUV Rn. 165; Eilmansberger, jbl 1999, 434, 450. 659
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darüber aus, dass auch Modalitäten, die sich auf die Dienstleistung selbst beziehen, beim Dienstleistungsexport einem Beschränkungsverbot unterliegen.663 Unterlägen nunmehr auch jene Modalitäten, die sich auf die Dienstleistung selbst beziehen, beim Dienstleistungsexport einem Beschränkungsverbot, so entstünde ein Regelungsvakuum.664 Es könnte nämlich der Fall eintreten, in dem der Bestimmungsstaat seinen Regelungsanspruch gegenüber dem Recht des Herkunftsstaates einer Dienstleistung aufgrund der Dienstleistungsimportfreiheit zurücknehmen muss und zugleich die entsprechende Regelung des Herkunftsstaats aufgrund der Dienstleistungsexportfreiheit unanwendbar ist. Ein vergleichbares Regelungsvakuum wäre bei den Vertriebsmodalitäten nicht zu befürchten, da in dem Fall, in dem eine entsprechende Regelung des Herkunftsstaates aufgrund des Beschränkungsverbots der Dienstleistungsexportfreiheit unanwendbar ist, der Bestimmungsstaat entsprechend einer analogen Anwendung der „Keck“-Rechtsprechung seinen eigenen Regelungsanspruch durchsetzen kann,665 da er nur dem Diskriminierungsverbot unterliegt. Diese Argumentation baut auf dem Verständnis der Grundfreiheiten als Ausdruck des Herkunftslandprinzips auf.666 Weiter oben wurde bereits ausgeführt, wieso die Reduktion des Bedeutungsgehalts der Grundfreiheiten auf ein Herkunftslandprinzip nicht überzeugend ist. Hier soll lediglich der Hinweis ausreichen, dass das Herkunftslandprinzip eine mögliche Wirkungsweise der Grundfreiheiten beschreibt, jedoch nicht den Zweck der Grundfreiheiten.667 Betrachtet man aber die Fallgruppe näher, die in der Warenverkehrsfreiheit von der „Cassis de Dijon“-Rechtsprechung behandelt wurde, so erkennt man, dass der Ausgangspunkt das Vorhandensein zweier funktionsäquivalenter Vorschriften ist. Die zusätzliche Anwendung einer funktionsäquivalenten Norm des Bestimmungsstaates, deren Vorgaben über diejenigen der entsprechenden Norm des Herkunftsstaates hinausgehen, führt zu einer Mehrfachbelastung der importierten Dienstleistung. Dies macht auch deutlich, wieso die Argumentation vom „Regelungsvakuum“ nicht überzeugend ist. Ist nämlich eine Regelung des Herkunftsstaates, die sich auf die Dienstleistung selbst bezieht, aufgrund eines Verstoßes gegen die Dienstleistungsexportfreiheit nicht anwendbar, fehlt es aus der Perspektive der Rechtsordnung des Bestimmungslandes an einer funktionsäquivalenten Regel des Herkunftslandes, die die Anwendung des Herkunftslandprinzips erst begründet.668 Sofern eine solche Regelung des
663
Vgl. Forsthoff, in: Grabitz/Hilf/Nettesheim, Art. 57 AEUV Rn. 164 f. Donner, SEW 1982, 362, 369. 665 Zur Frage nach der Übertragbarkeit der „Keck“-Rechtsprechung auf die Dienstleistungsfreiheit siehe sogleich auf S. 239 ff. 666 Vgl. Roth, ZHR 159 (1995), 78, 84. 667 Siehe oben S. 187 ff. 668 Vgl. Roth, ZHR 159 (1995), 78, 85; Schilling, Binnenmarktkollisionsrecht, S. 129. 664
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Bestimmungslandes nicht diskriminierend ist und den Marktzugang für importierte Dienstleistungen nicht versperrt, bleibt sie im Hinblick auf die Dienstleistungsimportfreiheit anwendbar. Ein Regelungsvakuum ist nicht erkennbar. Dies führt auch unmittelbar zu dem zweiten Argumentationsstrang, der entsprechend der Unterscheidung aus der „Keck“-Rechtsprechung Regelungen,669 die sich unmittelbar auf die Dienstleistung selbst beziehen, im Hinblick auf die Dienstleistungsexportfreiheit lediglich einem Diskriminierungsverbot unterwerfen möchte. Nach dieser Ansicht wären durch ein Beschränkungsverbot praktisch sämtliche Regeln des Herkunftsstaates an der Dienstleistungsfreiheit zu messen.670 Dies sei unter dem Gesichtspunkt der regulatorischen Freiheit der Herkunftsstaaten für die Setzung von Produkt- und Produktionsbedingungen problematisch. Man könne nämlich einen Unterschied darin erkennen, ob Regelungen des Bestimmungsstaates punktuell von ausländischen Leistungserbringern, die nicht in diesem Staat niedergelassen sind und zudem mangels aktiven Wahlrechts auch nicht an der Erstellung der Regelungen durch Ausübung des Wahlrechts mitwirken, auf den grundfreiheitlichen Prüfstand gestellt werden oder ob Regelungen des Herkunftsstaats von den in diesem Staat niedergelassenen Leistungserbringern aufgrund eines möglichen Dienstleistungsexports infrage gestellt werden.671 Die Unterscheidung nach dem Grad der Integration der Person, die eine mitgliedstaatliche Regelung grundfreiheitlich infrage stellt, in die Rechtsordnung des regelnden Mitgliedstaates erscheint auf den ersten Blick einleuchtend. Sie führt, wenn man diesem Gedanken folgen möchte, zu einer Abhängigkeit der Berechtigung einer Person, sich gegenüber einer mitgliedstaatlichen Regelung auf die Grundfreiheiten zu berufen, von dem Grad der Integration in die mitgliedstaatliche Rechtsordnung. Je stärker eine Person in die Rechtsordnung eines Mitgliedstaates integriert ist, umso geringer wird ihre Berechtigung, sich auf die Dienstleistungsfreiheit zu berufen. Dieser Gedanke überzeugt jedoch letztlich nicht. Problematisch wäre nämlich die Annahme eines Beschränkungsverbots beim Dienstleistungsexport in Art. 56 AEUV nur dann, wenn damit ein Inländer tatsächlich Normen der Inlandsrechtsordnung außer Kraft setzen könnte. Dies ist jedoch durch eine Berufung auf eine Grundfreiheit gar nicht möglich. Die Voraussetzung des grenzüberschreitenden Sachverhalts führt dazu, dass eine möglicherweise grundfreiheitenwidrige mitgliedstaatliche Norm nur beim grenzüberschreitenden Dienstleistungsexport unangewendet bleiben muss. Dadurch dass das Unionsrecht die Rechtsgültigkeit einer entgegenstehenden
669
Zur Frage nach der Übertragbarkeit der „Keck“-Rechtsprechung auf die Dienstleistungsfreiheit siehe sogleich auf S. 239 ff. 670 Forsthoff, in: Grabitz/Hilf/Nettesheim, Art. 57 AEUV Rn. 165. 671 Roth, ZHR 159 (1995), 78, 87 f. spricht von den „Entscheidungsprozessen der Mitgliedstaaten“.
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mitgliedstaatlichen Norm unberührt lässt, bleibt die Norm für den Inlandssachverhalt anwendbar. Eine Regelung des Herkunftsstaates, die sich unmittelbar auf die Dienstleistung selbst bezieht, ist erst dann zur Behinderung des Dienstleistungsexports geeignet, wenn die entsprechenden Regelungen des Bestimmungslandes weniger restriktiv sind als diejenigen des Herkunftslandes.672 Dadurch dass die Grundfreiheiten keine allgemeine Handlungsfreiheit begründen, muss beim Dienstleistungsexport immer die jeweilige Rechtslage im Exportstaat berücksichtigt werden. Dabei kann es bei divergierenden Rechtslagen in den jeweiligen Exportstaaten innerhalb der Europäischen Union durchaus vorkommen, dass eine Regelung des Herkunftsstaates, die sich unmittelbar auf die Dienstleistung selbst bezieht, im Verhältnis zu bestimmten Bestimmungsländern weniger restriktiv und im Verhältnis zu anderen Bestimmungsländern restriktiver ausfällt. Eine Marktzugangssperre entsteht jedenfalls nicht, wenn eine Dienstleistung in beiden mitgliedstaatlichen Teilmärken untersagt ist. Sind die Regelungen des Herkunftsstaates weniger restriktiv als diejenigen des Bestimmungsstaates, entsteht genauso wenig eine Marktzugangssperre. Somit ist die einzige relevante Konstellation diejenige, in der die Regelungen des Herkunftsstaates restriktiver als diejenigen des Bestimmungsstaates sind. Nur in dieser Konstellation tritt die Frage auf, ob die Exportfreiheit es einem Dienstleistungserbringer ermöglicht, eine Dienstleistung im Bestimmungsstaat nach dessen Vorschriften zu erbringen, auch wenn sie im Widerspruch zu denjenigen Bestimmungen steht, die im Herkunftsstaat gelten. Die Konstellation und ihr sehr begrenzter Anwendungsbereich machen deutlich, dass dadurch das fein austarierte Gleichgewicht innerhalb einer Inlandsrechtsordnung nicht ins Wanken gebracht wird. Die Sichtweise, wonach der Dienstleistungsexport auch bei Regelungen, die sich unmittelbar auf die Dienstleistung selbst beziehen, einem Beschränkungsverbot unterliegt, nimmt sogar den Druck aus einem möglichen Wettbewerb der mitgliedstaatlichen Rechtsordnungen, da es hierdurch Dienstleistungserbringern ermöglicht wird, Dienstleistungen nach den Vorgaben eines anderen mitgliedstaatlichen Teilmarktes zu erbringen, ohne dass sie ihre Niederlassung aus dem Herkunftsstaat hinausverlagern müssen.673 Dabei ist zu berücksichtigen, dass die Grundfreiheiten keinen Wettbewerb der mitgliedstaatlichen Rechtsordnungen stimulieren wollen, sondern vielmehr einen Wettbewerb der Marktakteure.674 Der Dienstleistungserbringer als Marktakteur soll daher das Recht haben, auch nach den Bedingungen des jeweiligen Bestimmungslandes seine Dienstleistungen erbringen zu können, was dem Herkunftsstaat eine Rechtfertigungspflicht gegenüber der Dienstleistungsfreiheit auferlegt, wenn er den Marktzugang zu Bestimmungsländern mit weniger restriktiven Regelungen versperrt. 672
Hierzu Körber, Grundfreiheiten und Privatrecht, S. 341 f. Vgl. Körber, Grundfreiheiten und Privatrecht, S. 342. 674 Roth, ZHR 159 (1995), 78, 88 ff. 673
B. Vorgaben der Marktgrundfreiheiten
237
Aus dem Gesagten folgt nunmehr, dass auch beim Dienstleistungsexport das Beschränkungsverbot der Dienstleistungsfreiheit gilt. Bei jeder Regelung, die den Dienstleistungsexport weniger attraktiv macht, gilt das Beschränkungsverbot der Dienstleistungsfreiheit uneingeschränkt. 3. Mangelnde Eignung aufgrund fehlender Kausalität Eine Maßnahme ist zudem erst dann eine Beschränkung der Dienstleistungsfreiheit, wenn sie aus der Sicht eines optimalen Beobachters im allgemeinen und nicht nur unter besonders eigenartigen, unwahrscheinlichen und nach dem gewöhnlichen Verlauf der Dinge außer Betracht zu lassenden Umständen geeignet ist, den innerunionalen Handel zu behindern. Dieses Kausalitätserfordernis im Sinne der Adäquanz ist bei der Warenverkehrsfreiheit und bei den Verkehrsfreiheiten der natürlichen Personen mit der Formel „zu ungewiss und zu mittelbar“ zum Ausdruck gebracht worden. Dieses Kausalitätserfordernis findet sich auch in der Dienstleistungsfreiheit. In der Rechtssache „Grogan“675 ließ der EuGH erstmals den Eingriff einer Maßnahme in die Dienstleistungsfreiheit an ihrer fehlenden Kausalität für die Beschränkung einer Dienstleistung scheitern. Hierbei ging es um eine Unterlassungsklage, die eine irische Organisation, die gegen die Abtreibung ist, gegen eine Gruppe von Studierenden einreichte, die Informationen über Abtreibungskliniken in Großbritannien verbreitete. Sie berief sich dabei auf die höchstrichterliche irische Rechtsprechung, wonach es in Irland nicht erlaubt ist, schwangere Frauen dadurch bei einem Schwangerschaftsabbruch zu unterstützen, dass man ihnen Informationen über einen legalen Schwangerschaftsabbruch im Ausland gibt. Der EuGH ordnete in seinem Urteil zunächst den ärztlichen Schwangerschaftsabbruch, der im Einklang mit dem Recht des Mitgliedstaates steht, in dem er vorgenommen wird, als eine Dienstleistung im Sinne des Unionsrechts ein. Den Zusammenhang zwischen der Informationstätigkeit der Studierenden und der Vornahme von legalen Schwangerschaftsabbrüchen im EU-Ausland hielt der EuGH jedoch für „zu lose […], als daß das Verbot der Verbreitung von Informationen als eine Beschränkung im Sinne von [Art. 56 AEUV] angesehen werden könnte.“676 Für den EuGH kam es darauf an, ob es eine Verbindung zwischen den Dienstleistungserbringern (den Kliniken, die Schwangerschaftsabbrüche in Großbritannien durchführen) und den Studierenden gibt: „Die Informationen […] werden aber nicht im Auftrag eines in einem anderen Mitgliedstaat niedergelassenen Wirtschaftsteilnehmers verbreitet. Sie stellen vielmehr eine Inanspruchnahme der Meinungs- und Informationsfreiheit dar, die von der wirtschaftlichen Tätigkeit, die die in einem anderen Mitgliedstaat niedergelassenen Kliniken ausüben, unabhängig ist.“677 675
EuGH, Rs. C-159/90, Grogan, Slg. 1994, I-4685. EuGH, Rs. C-159/90, Grogan, Slg. 1994, I-4685 Rn. 24. 677 EuGH, Rs. C-159/90, Grogan, Slg. 1994, I-4685 Rn. 26. 676
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4. Kapitel: Einwirkungen des Primärrechts in das autonome IPR
Somit hatte auch die Untersagung dieser Informationstätigkeit keinen Einfluss auf die wirtschaftliche Tätigkeit der Dienstleistungserbringer. Die Formel „zu ungewiss und zu mittelbar“ verwandte der EuGH erst in der späteren Rechtssache „Kommission/Spanien“.678 In dieser Rechtssache ging es um eine spanische Kostenerstattungsregel für in Spanien gesetzlich Krankenversicherte bei Krankenbehandlungen im Ausland. Die Regelung sah vor, dass bei ungeplanten Krankenbehandlungen im Ausland die Kosten der Behandlung in der Art und Weise erstattet werden, wie dies bei gesetzlich Krankenversicherten im Behandlungsstaat der Fall ist. In dem streitgegenständlichen Fall verlangte der in Spanien gesetzlich krankenversicherte Bürger von seiner Krankenversicherung eine Erstattung des von ihm nach den französischen Regeln in Frankreich gezahlten Selbstbehalts. Dies wurde verweigert, obwohl für ihn in Spanien eine vergleichbare Krankenbehandlung aufgrund des Sachleistungsprinzips komplett kostenfrei gewesen wäre, mit dem Verweis darauf, dass die spanische Krankenversicherung nur nach den Regeln des Behandlungsstaates erstatte. Im Behandlungsstaat seien der dortigen Krankenversicherung aber nur Kosten abzüglich des Selbstbehalts entstanden. Nur diese Kosten werden von der spanischen Krankenversicherung erstattet. Die Besonderheit dieses Falles liegt darin, dass es sich um eine ungeplante Krankenbehandlung handelte. Wäre der in Spanien Versicherte wegen der Krankenbehandlung nach Frankreich gegangen, hätte er auf Grundlage der EuGH-Rechtsprechung eine Erstattung nach dem Sachleistungsprinzip (einschließlich des Selbstbehalts) bekommen können, wenn eine Krankenbehandlung im Inland nicht rechtzeitig verfügbar war.679 Für den Fall der ungeplanten Krankenbehandlung ordnete der EuGH die spanische Erstattungsregel jedoch als „zu ungewiss und zu mittelbar“ ein, als dass sie geeignet sein könnte, den grenzüberschreitenden Dienstleistungsverkehr zu behindern.680 Konkret erschien es dem EuGH aus der Sicht eines optimalen Beobachters für unwahrscheinlich, dass ein in Spanien gesetzlich Krankenversicherter das Land nicht für einen Urlaub oder eine geschäftliche Reise vorübergehend verlässt, nur weil er befürchten muss, dass im Falle einer während dieser Reise unerwartet notwendigen Krankenbehandlung ein Teil der von ihm zu tragenden Kosten nicht vom spanischen Krankenversicherungssystem getragen werde.681 Mit diesem Urteil hat der EuGH deutlich gemacht, dass das Kausalitätserfordernis im Sinne der Adäquanz auch bei Beschränkungen der Dienstleistungsfreiheit zu berücksichtigen ist.682 678
EuGH, Rs. C-211/08, Kommission/Spanien, Slg. 2010, I-5267. Vgl. EuGH, Rs. C-368/98, Vanbraekel, Slg. 2001, I-5363 Rn. 37; Rs. C-372/04, Watts, Slg. 2006, I-4326 Rn. 48; Rs. C-444/05, Stamatelaki, Slg. 2007, I-3185 Rn. 38. 680 EuGH, Rs. C-211/08, Kommission/Spanien, Slg. 2010, I-5267 Rn. 72 mit Verweis auf EuGH, Rs. C-69/88, Krantz, Slg. 1990, I-583 Rn. 11 und Rs. C-190/98, Graf, Slg. 2000, I-493 Rn. 24 f. 681 Zustimmend auch Janda, ZESAR 2010, 465, 470. 682 Müller-Graff, in: Streinz, Art. 56 AEUV Rn. 87. 679
B. Vorgaben der Marktgrundfreiheiten
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4. Übertragbarkeit der „Keck“-Rechtsprechung Analog zur Warenverkehrsfreiheit ist schließlich die Frage aufzuwerfen, ob die „Keck“-Rechtsprechung auf die Dienstleistungsfreiheit als Produktfreiheit übertragbar ist.683 Bejahendenfalls sollen „Produktregeln“, die auf den Leistungsinhalt abstellen und bestimmte Leistungsinhalte verbieten oder die rechtmäßige Leistungserbringung im Bestimmungsland zusätzlichen Anforderungen unterwerfen, und unternehmensbezogene Regelungen, die an den persönlichen Eigenschaften des Dienstleistungserbringers, die bei einer persönlichen Leistung wie der Dienstleistung zu den charakteristischen Merkmalen einer Dienstleistung gehören, anknüpfen, dem Beschränkungsverbot und Vertriebsund Umfeldregelungen dem Diskriminierungsverbot unterliegen.684 Begründet wird die Herausnahme von Vertriebs- und Umfeldregelungen mit deren fehlender marktzugangsversperrenden Wirkung.685 a) Rechtsprechung des EuGH Der EuGH hat sich hierzu in seiner Rechtsprechung nicht positioniert. In der bereits erwähnten Rechtssache „Alpine Investments“ folgte der EuGH dem Vorbringen der britischen und niederländischen Regierung nicht, die das Verbot des „cold calling“ in Anlehnung an die „Keck“-Rechtsprechung aus dem Tatbestand der Dienstleistungsfreiheit herausnehmen wollten.686 Allerdings erfolgte dies weniger aus grundsätzlichen Erwägungen heraus als auf der Grundlage, dass es sich bei der niederländischen Regelung um eine Beschränkung der Ausfuhrfreiheit handelte, während die „Keck“-Rechtsprechung Einfuhrbehinderungen betrifft. Deutlich kommt dies in den Schlussanträgen von Generalanwalt Jacobs zur Sprache: „Würde man der Ansicht sein, daß dieser Grundsatz [der „Keck“-Rechtsprechung] sowohl für die vom Ausfuhrmitgliedstaat wie auch für die vom Einfuhrmitgliedstaat erlassenen Vorschriften über Verkaufsmodalitäten gilt, dann würde daraus folgen, daß beide Vorschriftenkomplexe aus dem Anwendungsbereich des [Art. 56 AEUV] herausfallen, sofern sie nichtdiskriminierend sind. Eine Person, die Dienstleistungen exportiert, müßte dann beide befolgen, selbst wenn sie nicht objektiv gerechtfertigt wären. Dies würde die Dienstleistungsfreiheit wertlos machen. Zudem könnten diese Vorschriftenkomplexe sogar widersprüchliche Anforderungen begründen.“687 Diese Erwägungen überzeugen dahingehend, dass die Nichtanwendung der „Keck“-Rechtsprechung in der Rechtssache „Alpine Investments“ nicht als 683
Vgl. Körber, Grundfreiheiten und Privatrecht, S. 328 ff.; Tiedje, in: von der Groeben/Schwarze/Hatje, Art. 56 AEUV Rn. 98 (die Frage aufwerfend, aber im Ergebnis verneinend). 684 Körber, Grundfreiheiten und Privatrecht, S. 336 ff. 685 Körber, Grundfreiheiten und Privatrecht, S. 339. 686 EuGH, Rs. C-384/93, Alpine Investments, Slg. 1995, I-1141 Rn. 33 f. 687 GA Jacobs, SchlA Rs. C-384/93, Alpine Investments, Slg. 1995, I-1141 Nr. 61.
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4. Kapitel: Einwirkungen des Primärrechts in das autonome IPR
Rechtsprechungsbeleg gegen die Übertragbarkeit herhalten kann.688 Würde man nämlich die „Keck“-Rechtsprechung sowohl im Einfuhr- wie im Ausfuhrfall anwenden, sähe sich der Dienstleistungserbringer zweier ihn beschränkender Rechtsregime ausgesetzt mit der Folge, dass bei der Fallgruppe der Vertriebsmodalitäten praktisch eine Bereichsausnahme für nichtdiskriminierende Regelungen geschaffen wäre. Das Entstehen einer derartigen Bereichsausnahme kann vor dem Hintergrund der Binnenmarktfinalität der Dienstleistungsfreiheit nicht überzeugen. Der Gerichtshof begründet dies mit den Worten, dass „der Schutz der Verbraucher im Gebiet der anderen Mitgliedstaaten an sich nicht den niederländischen Behörden obliegt.“689 Genauso wenig kann die Entscheidung in der Rechtssache „De Agostini“690 gegen die Übertragbarkeit angeführt werden. In dieser Entscheidung, der das schwedische Verbot von Fernsehwerbung, die an Kinder unter zwölf Jahren gerichtet ist, zugrunde lag, nahm der EuGH im Hinblick auf die Warenverkehrsfreiheit das Vorliegen einer bestimmten Verkaufsmodalität an,691 während er im Hinblick auf die Dienstleistungsfreiheit die Rechtfertigung einer Beschränkung prüft.692 Die unterschiedliche Behandlung ist dadurch zu erklären, dass die Werbung eine Marketingstrategie für eine Ware darstellt. Als Dienstleistung ist die Werbung jedoch das Produkt selbst.693 Deutlich wurde der EuGH erst im Jahr 2009 mit seinem Urteil in der Rechtssache „Kommission/Italien“.694 Dieser Rechtssache lag der italienische Kontrahierungszwang für sämtliche in Italien zugelassene Kraftfahrzeug-Haftpflichtversicherungsunternehmen zugrunde. Dieser Kontrahierungszwang erstreckte sich auf sämtliche potenzielle Versicherungsnehmer und das gesamte Landesgebiet. Es war damit für ein Versicherungsunternehmen unmöglich, Geschäftsmodelle anzubieten, die sich auf eine bestimmte Gruppe von Versicherungsnehmern (wie bspw. Halter einer bestimmten Fahrzeugkategorie) oder eine bestimmte Teilregion Italiens beschränken. Vielmehr mussten entsprechende Versicherungsunternehmen ihre Versicherungsprodukte derart modifizieren, dass sie den Anforderungen des Kontrahierungszwangs entsprachen.695
688
Vgl. Körber, Grundfreiheiten und Privatrecht, S. 330; Eilmansberger, jbl 1999, 434,
441. 689
EuGH, Rs. C-384/93, Alpine Investments, Slg. 1995, I-1141 Rn. 43. EuGH, verb. Rs. C-34/95 bis C-36/95, De Agostini, Slg. 1997, I-3843. 691 EuGH, verb. Rs. C-34/95 bis C-36/95, De Agostini, Slg. 1997, I-3843 Rn. 44, wobei der EuGH die konkrete Feststellung, ob das Verbot eine bestimmte Verkaufsmodalität ist, dem vorlegenden Gericht überließ. 692 EuGH, verb. Rs. C-34/95 bis C-36/95, De Agostini, Slg. 1997, I-3843 Rn. 50 ff. Selbiges gilt für EuGH, Rs. C-9/68, ARD, Slg. 1999, I-7599. 693 Körber, Grundfreiheiten und Privatrecht, S. 331. 694 EuGH, Rs. C-518/06, Kommission/Italien, Slg. 2009, I-3491. 695 Vgl. GA Mazák, SchlA Rs. C-518/06, Kommission/Italien, Slg. 2009, I-3491 Nr. 49. 690
B. Vorgaben der Marktgrundfreiheiten
241
Der EuGH erkannte hier zunächst, dass der formale Marktzugang EU-ausländischer Versicherungsunternehmen zum italienischen Kraftfahrzeug-Versicherungsmarkt durch den Kontrahierungszwang unberührt ist, da sich dieser nicht auf die Zulassung durch den italienischen Staat als einziger formaler Zugangsvoraussetzung bezieht.696 In der Folge nahm er jedoch eine materielle Beschränkung des Marktzugangs durch den Kontrahierungszwang an, da dieser von EU-ausländischen Versicherungsunternehmen verlangt, „ihre Geschäftspolitik und -strategie [zu] überdenken, u. a. indem sie ihr Angebot an Versicherungsleistungen erheblich erweitern“, was „Anpassungen und Kosten von solchem Umfang nach sich zieht“, dass „der Zugang zum italienischen Markt durch diese Verpflichtung weniger attraktiv gemacht“ wird und dass trotz eines ungehinderten formalen Marktzugangs „die Möglichkeit der betroffenen Unternehmen, ohne Weiteres mit den traditionell in Italien ansässigen Unternehmen wirksam in Wettbewerb zu treten“ verringert ist.697 Der EuGH drückt hier ein wenig umständlich aus, was er in der Rechtsprechung zur Warenverkehrsfreiheit als produktbezogene Regel klassifiziert. Der italienische Kontrahierungszwang wirkt sich auf den Inhalt der angebotenen Versicherungsleistung aus. Eine Versicherungsleistung, die sich nur an Versicherungsnehmer bestimmter Fahrzeugkategorien oder aus bestimmen Regionen richtet, kann nicht mehr als solche auf dem italienischen Kraftfahrzeug-Versicherungsmarkt angeboten werden, so dass sie entweder gar nicht oder nur in abgeänderter Form den Versicherungsmarkt betreten darf. Daher wirkt der Kontrahierungszwang wie eine Marktzugangssperre. Dies zeigt, dass der EuGH den Marktzugang als relevantes Abgrenzungskriterium, so wie er es in seiner Rechtsprechung zur Warenverkehrsfreiheit und zu den Verkehrsfreiheiten der natürlichen Personen versteht, auch in der Dienstleistungsfreiheit anwendet.698 Dieses Urteil spricht damit stark gegen eine formale Übernahme der „Keck“-Rechtsprechung in Form von einer Unterscheidung nach bestimmten Fallgruppen, jedoch für eine Übernahme des Marktzugangs als entscheidendes Kriterium zur Abgrenzung der von Dienstleistungsfreiheit noch erfassten Beschränkungen und der diese nicht mehr berührenden Maßnahmen. In zwei abgabenrechtlichen Fällen rekurrierte der EuGH zwar weder auf die „Keck“-Rechtsprechung noch auf den Marktzugang, sie betrafen jedoch inhaltlich Fälle, die unter der Warenverkehrsfreiheit als Verkaufsmodalitäten behandelt worden wären. In der Rechtssache „Viacom Outdoor“699 ging es um eine kommunale Werbungssteuer, die für das Aufhängen von Plakaten in einer
696
EuGH, Rs. C-518/06, Kommission/Italien, Slg. 2009, I-3491 Rn. 65. EuGH, Rs. C-518/06, Kommission/Italien, Slg. 2009, I-3491 Rn. 69 f. 698 Vgl. auch Forsthoff, in: Grabitz/Hilf/Nettesheim, Art. 57 AEUV Rn. 104, 141; Roth, in: Dauses, Handbuch des EU-Wirtschaftsrechts, E.I. Rn. 174. 699 EuGH , Rs. C-143/03, Viacom Outdoor, Slg. 2005, I-1167. 697
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4. Kapitel: Einwirkungen des Primärrechts in das autonome IPR
Kommune erhoben wurden. Die Erhebung einer kommunalen Abgabe auf Sendetürme, Sendemasten und Antennen für den Mobilfunk war Gegenstand der Rechtssache „Mobistar“700. Beide Abgaben waren unterschiedslos anwendbar auf inländische wie ausländische Dienstleistungserbringer. In der Rechtssache „Mobistar“ führte der EuGH einen Obersatz ein, der stark an das Urteil in der Rechtssache „Keck“ erinnerte: „Für die Beantwortung der Frage, ob die Erhebung von Abgaben durch die Gemeindebehörden, wie sie in den Ausgangsverfahren in Rede stehen, eine mit Artikel 59 EG-Vertrag [heute: Art. 56 AEUV] unvereinbare Beschränkung darstellt, ist erheblich, dass diese Abgaben unterschiedslos auf alle Eigentümer von Mobilfunkanlagen im Gebiet der betreffenden Gemeinde erhoben werden und dass ausländische Betreiber durch diese Maßnahmen weder in tatsächlicher noch in rechtlicher Hinsicht stärker belastet werden als inländische Betreiber.“701 In der konkreten Subsumtion kam der EuGH dann zu dem Ergebnis, dass die kommunale Abgabe diesen Voraussetzungen nicht entspricht und damit keine mit der Dienstleistungsfreiheit unvereinbare Beschränkung ist. Hieraus ließe sich nun der Schluss ziehen, dass der EuGH die „Keck“-Rechtsprechung auf die Dienstleistungsfreiheit übertragen hat.702 Für die zutreffende Einordnung des Urteils ist aber noch der folgende Aspekt zu berücksichtigen. Die Keck-Formel verlangt neben der rechtlichen und tatsächlichen Gleichberührung, dass der Marktzugang nicht versperrt oder stärker behindert ist, als dies für inländische Erzeugnisse der Fall ist. In dem „Mobistar“-Urteil nannte der EuGH das Marktzugangserfordernis nicht ausdrücklich. Er wandte es jedoch wenig später an, indem er erwähnte, dass „den Akten nicht zu entnehmen [ist], dass die kumulierte Wirkung der gemeindlichen Abgaben den freien Dienstleistungsverkehr beim Mobilfunk zwischen den anderen Mitgliedstaaten und dem Königreich Belgien beeinträchtigt.“703 Hiermit sprach der EuGH die Frage nach der Marktzugangssperre an. Ähnlich wie in „Mickelsson“ geht er dabei nicht nur von einer absoluten Marktzugangssperre aus. Es reicht ihm aus, dass die unterschiedslos anwendbare Maßnahme eine derartige Erheblichkeit bekommt, dass sie praktisch wie eine Marktzugangssperre wirkt. In den Fällen zur Wegzugsbesteuerung von natürlichen Personen sprach der EuGH von einer „zumindest abschreckenden Wirkung“, die von der Wegzugssteuer ausgehen muss. Vor diesem Hintergrund wird auch die Begründung verständlich, die der EuGH für die Ablehnung der Beschränkung in der Rechtssache „Viacom Outdoor“ heranzog, wonach die kommunale Abgabe „nur für Außenwerbung, die die Benutzung durch die Gemeinden verwalteten öffentlichen Raumes bedingt, 700
EuGH, verb. Rs. C-544/03 und C-545/03, Mobistar, Slg. 2005, I-7723. EuGH, verb. Rs. C-544/03 und C-545/03, Mobistar, Slg. 2005, I-7723 Rn. 32. 702 So etwa Frenz, Handbuch Europarecht, Bd. I, Rn. 3195. 703 EuGH, verb. Rs. C-544/03 und C-545/03, Mobistar, Slg. 2005, I-7723 Rn. 34. 701
B. Vorgaben der Marktgrundfreiheiten
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erhoben wird und […] ihr Betrag auf eine Höhe festgesetzt wird, die im Vergleich zum Wert der Dienstleistungen […] als niedrig angesehen werden kann“, weshalb ihre Erhebung „nicht geeignet [ist], die Werbungsdienstleistungen […] zu verhindern, zu behindern oder weniger attraktiv zu machen.“704 Auch hier wird auf die Geringfügigkeit der Abgabe abgestellt. Dabei handelt es sich jedoch nicht um eine verkappte de minimis-Regel,705 sondern vielmehr um die Prüfung des Vorliegens einer Marktzugangssperre. Eine Marktzugangssperre kann in Anlehnung an die Rechtsprechung zu Wegzugssteuern erst angenommen werden, wenn die kommunale Abgabe eine „zumindest abschreckende Wirkung“ hat, die der EuGH nicht erkennen konnte. Vor dem Hintergrund der dargestellten Rechtsprechung folgt der EuGH in der Dienstleistungsfreiheit zwar nicht der auch im Rahmen der Warenverkehrsfreiheit implizit überkommenen formalen Unterscheidung nach bestimmten Fallgruppen, jedoch der Unterscheidung nach dem Marktzugang. Regelungen, die den Marktzugang formal oder materiell versperren oder deren Wirkungen derart abschreckend im Hinblick auf den Marktzugang sind, dass sie faktisch einer Marktzugangssperre gleichkommen, sind aus dem Tatbestand der Dienstleistungsfreiheit ausgenommen. b) Ansätze in der Literatur Neben den Autoren, die der Rechtsprechung des EuGH folgen und eine Übertragbarkeit der Kategorien der „Keck“-Rechtsprechung auf die Dienstleistungsfreiheit ablehnen und stattdessen auf den Marktzugang abstellen,706 gibt es solche, die die „Keck“-Rechtsprechung „terminologisch angepaßt“ auf die Dienstleistungsfreiheit übertragen wollen.707 Die Unterschiede bestehen jedoch mehr in der Terminologie als im Inhalt. Beide Ansichten erkennen Regelungen, die weder unmittelbar noch mittelbar diskriminierend wirken, als nicht in jedem Fall von der Dienstleistungsfreiheit erfasst an. Während die letzte Auffassung versucht, Begrifflichkeiten zu finden, die die „bestimmten Verkaufsmodalitäten“ an die Dienstleistungsfreiheit anpassen, hält die erste Auffassung
704
EuGH , Rs. C-143/03, Viacom Outdoor, Slg. 2005, I-1167 Rn. 38. So aber Hojnik, EJLS 2013, 25, 35; Jansson/Kalimo, CMLR 51 (2014), 523, 535, die diese Rechtsprechung als Spuren einer de minimis-Regel bezeichnen. Gegen eine de minimis-Regel etwa Müller-Graff, in: Streinz, Art. 56 AEUV Rn. 87. 706 Forsthoff, in: Grabitz/Hilf/Nettesheim, Art. 57 AEUV Rn. 110 f.; Roth, in: Dauses, Handbuch des EU-Wirtschaftsrechts, E.I. Rn. 174; Müller-Graff, in: Streinz, Art. 56 AEUV Rn. 88; Holoubek, in: Schwarze, Art. 56, 57 AEUV Rn. 73. 707 Franzen, Privatrechtsangleichung, S. 132; Körber, Grundfreiheiten und Privatrecht, S. 335 ff., der den Grundgedanken übertragen möchte, wonach das „Was“ und „Wer“ der Dienstleistungserbringung dem Beschränkungsverbot unterliegen soll und das „Wie“ dem Diskriminierungsverbot; Kort, JZ 1996, 132, 136 f.; Mülbert, ZHR 159 (1995), 2, 29 f.; Remien, Zwingendes Vertragsrecht, S. 200 ff. 705
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4. Kapitel: Einwirkungen des Primärrechts in das autonome IPR
diese Suche für müßig und stellt auf den Marktzugang als Unterscheidungskriterium ab, wobei beide Auffassungen im Ergebnis dieselben Fallgruppen vom Beschränkungsverbot ausgeschlossen sehen.708 Zu unterschiedlichen Ergebnissen kommen nur jene Auffassungen, die die Grundfreiten freiheitsrechtlich und damit als umfassendes Beschränkungsverbot verstehen,709 oder jene, die ein Beschränkungsverbot nur in Bezug auf Korrespondenzdienstleistungen710 sehen.711 Die letzte Ansicht baut darauf auf, dass nur bei der Korrespondenzdienstleistung das nichtkörperliche Produkt Dienstleistung, vergleichbar dem körperlichen Produkt Ware bei der Warenverkehrsfreiheit, die Grenze überschreitet. Überschreiten Personen gemeinsam mit der Dienstleistung die Grenze liegt wertungsmäßig eine Nähe zur Niederlassungsfreiheit vor. Daher sollen die aktive und die passive Dienstleistungsfreiheit in Anlehnung an die Niederlassungsfreiheit als Diskriminierungsverbot ausgelegt und die Grundsätze der Warenverkehrsfreiheit lediglich auf Korrespondenzdienstleistungen angewendet werden. Diese Ansicht ist inzwischen schon deshalb überholt, weil die Niederlassungsfreiheit selbst als Beschränkungsverbot ausgelegt wird. Darüber hinaus ignoriert sie die Besonderheit der Dienstleistung, in Abgrenzung zur Ware eine persönliche Leistung zu sein, bei der es gekünstelt wäre, die Person des Dienstleistungserbringers von der Dienstleistung zu trennen. Diese Ansicht, die auch keine Bestätigung in der Rechtsprechung gefunden hat, ist wenig überzeugend. Somit spricht sich die Literatur mehrheitlich dafür aus, das Beschränkungsverbot der Dienstleistungsfreiheit dann zu begrenzen, wenn die streitgegenständliche Maßnahme nicht dazu geeignet ist, den Marktzugang der Dienstleistung zu versperren. 5. Zusammenfassung Das Beschränkungsverbot, das neben das in der Dienstleistungsfreiheit ebenfalls enthaltene Verbot der unmittelbaren und mittelbaren Diskriminierung des Dienstleistungserbringers oder des Dienstleistungsempfängers aus Gründen der Staatsangehörigkeit tritt,712 setzt sich wie bei der Warenverkehrsfreiheit und bei den Verkehrsfreiheiten der natürlichen Personen aus zwei Elementen 708 Vgl. einerseits Körber, Grundfreiheiten und Privatrecht, S. 338 f. („sonstige Regelungen (Vertriebs- und Umfeldregelungen)“) und andererseits Forsthoff, in: Grabitz/Hilf/Nettesheim, Art. 57 AEUV Rn. 157; Müller-Graff, in: Streinz, Art. 56 AEUV Rn. 94. 709 Vgl. etwa Steindorff, EuR 1988, 19, 28; Lurger, Regulierung, S. 59. Eine Auseinandersetzung mit dieser Ansicht erfolgte auf S. 176 ff. 710 Korrespondenzdienstleistungen sind solche, bei denen sich weder der Dienstleistungserbringer noch der Dienstleistungsempfänger in einen anderen Mitgliedstaat begeben, sondern lediglich die Dienstleistung die Grenze überschreitet, vgl. Müller-Graff, in: Streinz, Art. 56 AEUV Rn. 40. 711 So etwa Weber, EWS 1995, 292, 294 ff. 712 Müller-Graff, in: Streinz, Art. 56 AEUV Rn. 74.
B. Vorgaben der Marktgrundfreiheiten
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zusammen: Dem Verbot der Mehrfachbelastung und dem Verbot der Marktzugangssperre. Beide Elemente treten beim Beschränkungsverbot sowohl im Hinblick auf den Dienstleistungserbringer und den Dienstleistungsempfänger (Faktorfreiheit) als auch im Hinblick auf die Dienstleistung selbst (Produktfreiheit) auf. Besondere Bedeutung haben beide Elemente bei der Frage nach der rechtlichen Behandlung des Dienstleistungsexports erhalten. Diese Frage behandelt die Dimension der Dienstleistungsfreiheit als Produktfreiheit. In Anlehnung an die Rechtsprechung des EuGH zur Warenausfuhrfreiheit hätte der Dienstleistungsexport durch den EuGH lediglich dem Diskriminierungsverbot unterworfen werden können. In der Rechtssache „Alpine Investments“713 entschied sich der EuGH gegen eine Sonderbehandlung des Dienstleistungsexports. Damit bestätigt der EuGH für die Dienstleistungsfreiheit die Erwägungen, die hier bereits zur Warenausfuhrfreiheit vorgetragen wurden,714 wonach der Export zwar insoweit eine Sonderkonstellation begründet, als dass der Inländer sich gegen eine inländische Norm mit Berufung auf eine Grundfreiheit wendet, diese Besonderheit aber mit dem Verbot der Mehrfachbelastung und dem Verbot der Marktzugangssperre in ausreichendem Maße behandelt werden kann, ohne grundsätzlich ausschließen zu müssen, dass beim Dienstleistungsexport das Beschränkungsverbot nicht gilt. Das Verbot der Mehrfachbelastung zieht die Kosten für die Erbringung der Dienstleistung in Betracht und verlangt von derjenigen Rechtsordnung, die die Mehrfachbelastung verursacht, dass sie sich gegenüber der Dienstleistungsfreiheit rechtfertigt. Wird die Dienstleistung auf einen anderen Markt als denjenigen, in dem der Dienstleistungserbringer ansässig ist, ausgerichtet, entsteht dieser Rechtfertigungsdruck auf Seiten der inländischen Rechtsordnung, die an die Erbringung der Dienstleistung funktionsäquivalente Anforderungen stellt. Dieses Verständnis zeigt ein weiteres Mal, dass die Grundfreiheiten kein Herkunftslandprinzip verwirklichen, sondern lediglich eine Teilgruppe der von ihnen erfassten Maßnahmen sich am Maßstab der Herkunftsrechtsordnung messen lassen muss. In diesem Sinne entschied der EuGH in der Rechtssache „Alpine Investments“. Dies wirft im Hinblick auf die einheitliche dogmatische Behandlung der Grundfreiheiten die Frage danach auf, ob beim Export von Waren einerseits und von Dienstleistungen andererseits zu unterscheiden ist. Während der Wortlaut der Rechtsprechung des EuGH zu Art. 35 AEUV dies nahezulegen scheint,715 lassen sich die Rechtsprechungslinien zu Art. 35 AEUV und zum Dienstleistungsexport unter Annahme eines Verbots der Mehrfachbelastungen und eines Verbots der Marktzugangssperre (dann in Form einer „Marktaus-
713
EuGH, Rs. C-384/93, Alpine Investments, Slg. 1995, I-1141. Siehe oben S. 206 ff. 715 Siehe oben S. 204 f. 714
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trittssperre“) erklären. Sowohl bei der Warenausfuhr als auch beim Dienstleistungsexport entsteht die Mehrfachbelastung durch die inländische Rechtsordnung erst dann, wenn die Ware oder die Dienstleistung im Exportstaat und nicht zugleich im Herkunftsstaat angeboten wird. Das Verbot der Marktaustrittssperre greift, wenn einer Ware oder einer Dienstleistung, die auch auf dem heimischen Markt angeboten wird, durch Regelungen des Herkunftsstaats der Marktaustritt verweigert wird. Maßnahmen des Herkunftsstaates, die nicht unmittelbar oder mittelbar diskriminierend sind, keine Mehrfachbelastungen begründen, weil die Ware oder die Dienstleistung nicht im Inland angeboten wird, und in ihrer Wirkung unterhalb der Marktaustrittssperre liegen, sind sowohl bei der Warenausfuhrfreiheit als auch bei der Freiheit des Dienstleistungsexports aus Art. 56 AEUV nicht vom Tatbestand der Grundfreiheiten erfasst. Dieses teleologische Verständnis der Exportdimension der Produktfreiheiten erlaubt ein konvergentes Gesamtverständnis der Grundfreiheiten. Unterschiedslos anwendbare Maßnahmen, die weder diskriminierend wirken noch eine Mehrfachbelastung begründen und die den Marktzugang für Dienstleistungen sowie den Dienstleistungserbringer oder den Dienstleistungsempfänger weder rechtlich noch tatsächlich versperren, unterliegen nicht der Dienstleistungsfreiheit. VII. Zwischenergebnis: Dogmatik der Marktgrundfreiheiten Die Marktgrundfreiheiten haben eine gleichheitsrechtliche (auf Herstellung von Marktgleichheit ausgerichtete) und eine freiheitsrechtliche (auf Herstellung von Marktfreiheit ausgerichtete) Dimension, die sich aus ihrer Binnenmarktfinalität herleitet.716 Sie sind besondere Gleichheitssätze, die als tatbestandlich begrenzte besondere Verbote der Diskriminierung aus Gründen der Staatsangehörigkeit und der Produktherkunft der einheitlichen Dogmatik der unionsrechtlichen Gleichheitssätze folgen.717 Ihre freiheitsrechtliche Dimension äußert sich in den Beschränkungsverboten der Grundfreiheiten, die unterschiedslos anwendbare Maßnahmen betreffen, die keine Diskriminierung aus Gründen der Staatsangehörigkeit oder der Produktherkunft bewirken. Beschränkungen erfassen mithin zunächst einmal sämtliche Maßnahmen, die die Ausübung einer wirtschaftlichen Tätigkeit in anderen Teilmärkten des Binnenmarktes weniger attraktiv machen. Ein derart weites Verständnis des Beschränkungsbegriffs steht deutlich mit der grundsätzlichen Regelungszuständigkeit der Mitgliedstaaten einerseits aber auch mit dem telos des Binnenmarktrechts andererseits im Konflikt, das darauf ausgerichtet ist, die Nachteile abzubauen, die aus einer Grenzüberschreitung der wirtschaftlichen Tätigkeit
716 717
Siehe oben S. 163 ff. Siehe oben S. 156 ff., 167 ff.
B. Vorgaben der Marktgrundfreiheiten
247
entstehen. In diesem Spannungsfeld zwischen mitgliedstaatlicher Regulierungsfreiheit und grenzüberschreitender Marktfreiheit718 hat sich eine Dogmatik der Grundfreiheiten entwickelt, die sich aus den folgenden Elementen zusammensetzt: 1. Unterschiedslos anwendbare Maßnahmen unterliegen nur dann den Grundfreiheiten, wenn sie aus der Sicht eines optimalen Beobachters im allgemeinen und nicht nur unter besonders eigenartigen, unwahrscheinlichen und nach dem gewöhnlichen Verlauf der Dinge außer Betracht zu lassenden Umständen geeignet sind, den innerunionalen Handel zu behindern. 2. Das Beschränkungsverbot besteht aus dem Verbot der Mehrfachbelastung und dem Verbot der Marktzugangssperre. 3. Das Verbot der Mehrfachbelastung steht einer mehrfachen Anwendung von Regelungen entgegen, die denselben Regelungsgegenstand haben, mithin funktionsäquivalent sind. Handelt es sich dabei um Regelungen unterschiedlicher mitgliedstaatlicher Rechtsordnungen, muss diejenige Regelung, die die Mehrfachbelastung begründet, gegenüber der Grundfreiheit gerechtfertigt werden. 4. Die Grundfreiheiten sind nicht Ausdruck eines Herkunftslandprinzips, wonach sich die Regelungen des Bestimmungslandes immer an den Regelungen des Herkunftslandes messen lassen müssen. Relevant ist lediglich, welche Rechtsordnung die Mehrfachbelastung begründet. Dies kann sowohl die Bestimmungs- als auch die Herkunftsrechtsordnung sein. Die Grundfreiheiten geben keine Vorgaben, welcher dieser Rechtsordnungen die Mehrfachbelastung entspringt. 5. Das Verbot der Marktzugangssperre betrifft Maßnahmen, die keine Mehrfachbelastung begründen. Derartige Maßnahmen unterliegen den Grundfreiheiten, wenn sie den Marktzugang versperren oder eine marktzugangsversperrende Wirkung haben. Letztere liegt vor, wenn ein Produkt oder ein Marktakteur einen mitgliedstaatlichen Teilmarkt des Binnenmarktes zwar betreten darf, die Möglichkeiten zur Bekanntmachung des Produktes oder der eigenen wirtschaftlichen Tätigkeit sowie die an den Marktzutritt anschließende Nutzbarkeit des Produktes oder der eigenen wirtschaftlichen Tätigkeit jedoch derart gering ist, dass die entsprechende Maßnahme wie eine Marktzugangssperre wirkt. 6. Das Verbot der Mehrfachbelastung und das Verbot der Marktzugangssperre gelten in gleichem Maße beim Import eines Produktes und dem Zuzug einer Person wie beim Export eines Produktes und dem Wegzug einer Person. Die Grundfreiheiten sind in der Export- bzw. Wegzugssituation nicht auf ein Diskriminierungsverbot beschränkt. Den Besonderheiten der Export- bzw. 718
Dazu Müller-Graff , EuR-Beiheft 1/2002, 7 ff.
248
4. Kapitel: Einwirkungen des Primärrechts in das autonome IPR
Wegzugssituation, die darin begründet sind, dass ein Inländer eine Norm der inländischen Rechtsordnung unter Berufung auf die Grundfreiheiten infrage stellt, ist durch die Begrenzung des Beschränkungsverbots auf die Fälle der Mehrfachbelastung und der Marktaustrittssperre in ausreichendem Maße Rechnung getragen. 7. Das Verbot der Mehrfachbelastung und das Verbot der Marktzugangssperre führen, vorbehaltlich einer Rechtfertigung, zur Unanwendbarkeit der betroffenen Maßnahmen. Die hierdurch in der mitgliedstaatlichen Rechtsordnung eröffnete Lücke ist nach Maßgabe der Methodenlehre der betroffenen Rechtsordnung zu schließen. Hierbei kann es zu dem Ergebnis kommen, dass keine weiteren rechtlichen Vorgaben an die EU-ausländischen Produkte oder an Personen durch die Bestimmungsrechtsordnung gestellt werden und somit ausschließlich die Vorgaben der Herkunftsrechtsordnung rechtlich maßgeblich sind. Diese Wirkungsweise ist die Konsequenz des Anwendungsvorrangs und nicht mit einem Herkunftslandprinzip gleichzusetzen.
C. Vorgaben der Grundfreiheit ohne Markt: Die Unionsbürgerfreizügigkeit C. Vorgaben der Unionsbürgerfreizügigkeit
Neben den wirtschaftsbezogenen Marktgrundfreiheiten stellt das Primärrecht seit dem Vertrag von Maastricht mit der Unionsbürgerfreizügigkeit im heutigen Art. 21 Abs. 1 AEUV Vorgaben für die mitgliedstaatlichen Privatrechtsordnungen auf, die tatbestandlich von der Ausübung einer wirtschaftlichen Tätigkeit losgelöst sind. Diese Loslösung vom Erfordernis einer wirtschaftlichen Tätigkeit macht auch deutlich, wieso in der Unionsbürgerfreizügigkeit im Vergleich zu den Marktgrundfreiheiten die für eine Privatrechtsordnung relevantere Vorgabe des EU-Primärrechts besteht. Die Unionsbürgerfreizügigkeit erfasst damit nämlich auch jene Rechtsmaterien wie das Familien- und Erbrecht, deren Binnenmarktrelevanz zu geringfügig erscheint, um von den Marktgrundfreiheiten erfasst zu sein.719 Ursprünglich wurde den Regelungen zur Unionsbürgerschaft im Vertrag von Maastricht keine den Marktgrundfreiheiten vergleichbare Durchschlagskraft zugesprochen.720 Gründe dafür wurden in der Koppelung der Unionsbürgerschaft an die nationale Staatsangehörigkeit, in der Beschränkung der Freizügigkeit durch das Sekundärrecht und in der Unklarheit der vom Vertragstext verwandten Terminologie gesehen. Dies änderte sich jedoch schlagartig, als 719
Vgl. Repasi, StudZR 2004, 251, 276 ff. Vgl. etwa Weiler, in: Winter/Curtin/Kellermann/de Witte, Reforming the Treaty of the European Union, S. 57, 68; Jessurun d’Oliveira, in: Dehousse, Europe after Maastricht, S. 126, 141, 147; Everling, ZfRV 1992, 241, 248. 720
C. Vorgaben der Unionsbürgerfreizügigkeit
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der EuGH die Unionsbürgerschaft zum „grundlegende[n] Status der Angehörigen der Mitgliedstaaten [erklärte], der es denjenigen unter ihnen, die sich in der gleichen Situation befinden, erlaubt, unabhängig von ihrer Staatsangehörigkeit und unbeschadet der insoweit ausdrücklich vorgesehenen Ausnahmen die gleiche rechtliche Behandlung zu genießen.“721 Die hierauf folgende Rechtsprechungsentwicklung des EuGH führte dazu, die Unionsbürgerfreizügigkeit in Art. 21 Abs. 1 AEUV als „Grundfreiheit ohne Markt“722 zu bezeichnen. Im Folgenden sollen die Vorgaben, die die Unionsbürgerfreizügigkeit für mitgliedstaatliche Privatrechtsordnungen aufstellt, näher beleuchtet werden. I. Vom Marktbürger zum Unionsbürger Die Einführung der Unionsbürgerschaft im Vertrag von Maastricht bildet das „open end“723 einer Entwicklung, die ihren Ausgangspunkt in der „Marktbürgerschaft“724 hat. Diese „Marktbürgerschaft“ wurde als „Rechtsstellung [umschrieben], in der der einzelne nicht als integrale Persönlichkeit, sondern nur funktional insoweit erfaßt wird, als ihm Freiheit und Gleichheit zur Erfüllung der ökonomischen Ziele der Gemeinschaften gewährleistet wird. In diesem Sinne kann, auf die Marktbürger bezogen, von einer funktionellen Integration gesprochen werden.“725 Anders gewendet wurde mit der Gründung der EWG aus dem dem Nationalstaat umfassend zugeordneten und unterworfenen Staatsbürger ein aus dem Nationalstaat herausgelöster und dem Gemeinsamen Markt zugeordneter Marktbürger, soweit das Recht des Gemeinsamen Marktes reichte. Außerhalb des Gemeinsamen Marktes verblieb der Marktbürger Staatsbürger und damit der mitgliedstaatlichen Hoheitsgewalt unterworfen. Das zentrale Element dieser Marktbürgerschaft ist die unmittelbare Anwendbarkeit der mit Anwendungsvorrang ausgestatteten Marktgrundfreiheiten.726 Der Begriff der „Marktbürgerschaft“ ist dabei mehr deskriptiv als konstitutiv zu verstehen. Mit der Marktbürgerschaft sollte den Staatsbürgern der Mitgliedstaaten kein Status verschafft werden, der neben die Staatsbürgerschaft tritt.727 Allerdings knüpfen an die Rechtssubjektivität des Staatsbürgers im Unionsrecht, wie dargelegt, tief in die mitgliedstaatlichen Rechtsordnungen eingreifende Vorgaben an, die der Staatsbürger in seiner Funktion als Marktbürger 721
EuGH, Rs. C-184/99, Grzelczyk, Slg. 2001, I-6193 Rn 31. So der treffende Titel der Dissertation von Wollenschläger, Grundfreiheit ohne Markt. 723 Kadelbach, Unionsbürgerschaft, in: von Bogdandy/Bast, Europäisches Verfassungsrecht, S. 611, 614. 724 Vgl. Ipsen, Gemeinschaftsrecht, § 9 Rn. 132 ff., S. 250 ff.; Grabitz, Europäisches Bürgerrecht, S. 65 ff. 725 Grabitz, Europäisches Bürgerrecht, S. 68 (Hervorhebungen im Original). 726 Vgl. auch Wollenschläger, Grundfreiheit ohne Markt, S. 25 ff.; Everling, ZfRV 1992, S. 241, 242 ff. 727 Wollenschläger, Grundfreiheit ohne Markt, S. 314. 722
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4. Kapitel: Einwirkungen des Primärrechts in das autonome IPR
vor den mitgliedstaatlichen Gerichten geltend machen kann. Treffend formuliert Hans Peter Ipsen, dass die Marktbürgerschaft dem Einzelnen „ein subjektiv-öffentliches Recht auf Inländergleichbehandlung, auf Nichtbehandlung als Fremder“728 verleiht. Dieses subjektiv-öffentliche Recht ist jedoch durch die jeweiligen Tatbestände der unmittelbar anwendbaren Unionsnormen begrenzt, weshalb es sich bei dieser „Marktbürgerschaft“ eben auch nur um eine fragmentarische Rechtsstellung handelt. Der spezielle funktionelle Charakter der Marktbürgerschaft äußert sich in ihrer Verknüpfung mit dem Gemeinsamen Markt und darin, dass sie den Marktgrundfreiheiten innerhalb ihres Anwendungsbereichs Geltung innerhalb der mitgliedstaatlichen Rechtsordnungen verleihen möchte.729 Erkennt man jedoch in der Marktbürgerschaft den Embryo für eine umfassende Rechtssubjektivität des Einzelnen im Gemeinschaftsrecht (heute: Unionsrecht), d.h. dass der Einzelne Träger von gemeinschaftsrechtlichen (heute: unionsrechtlichen) Rechten und Pflichten ist, so liegt es mit Eberhard Grabitz nahe, „den marktbürgerlichen Status der Gleichheit zu einem Bürgerrecht Europas zu erweitern, das die volle rechtliche Gleichstellung zumindest der Marktbürger mit dem Inländer sicherte.“730 Denn das „Freizügigkeitsrecht und das Niederlassungsrecht bezwecken […] die soziale Eingliederung der Arbeitnehmer und Selbstständigen im Ausland“.731 Ein derart weitreichendes Verständnis der Rechtssubjektivität war freilich auf der Grundlage der Marktgrundfreiheiten nicht zu erreichen. Jedoch eröffnete bereits der Direktwahlakt732 die politische Teilhabe der Angehörigen der Mitgliedstaaten an der Wahl eines Entscheidungsgremiums der gemeinschaftlichen Herrschaftsgewalt. Die mit dem Direktwahlakt verbundenen politischen Rechte gingen damit über die wirtschaftlichen Freiheitsrechte der Marktgrundfreiheiten hinaus und machten deutlich, dass die Grenzen der Integration nicht mit der Errichtung des Gemeinsamen Marktes erreicht waren. Kennzeichen der europäischen Bürgerschaft unter dem EWG waren damit die Rechtssubjektivität des Einzelnen gegenüber den Mitgliedstaaten aufgrund unmittelbar anwendbaren Gemeinschaftsnormen und die politische Einbindung des Einzelnen in der Ausübung der Gemeinschaftsgewalt. Die beide Elemente verbindende Klammer war das Integrationsprojekt, das den Einzelnen in seinen Mittelpunkt stellt.733 Der historische Gemeinschaftsgesetzgeber erkannte noch vor der Vertragsrevision von Maastricht selbst die Grenzen der durch die Marktgrundfreiheiten gewährleisteten Freizügigkeitsrechte und die Notwendigkeit ihrer Erstreckung 728
Ipsen, Gemeinschaftsrecht, § 9 Rn. 140, S. 254. Deutlich Ipsen, Gemeinschaftsrecht, § 8 Rn. 6, S. 187, Fn. 10. 730 Grabitz, Europäisches Bürgerrecht, S. 111 (Hervorhebungen im Original). 731 Grabitz, Europäisches Bürgerrecht, S. 112 (Hervorhebungen im Original). 732 ABl. 1976 L 287/1. 733 Vgl. Wollenschläger, Grundfreiheit ohne Markt, S. 321. 729
C. Vorgaben der Unionsbürgerfreizügigkeit
251
auf Personen, denen auch ohne vorhandene wirtschaftliche Tätigkeit ein Aufenthaltsrecht in den anderen Mitgliedstaaten vermittelt werden müsste.734 So erließ er auf der Grundlage des damaligen Art. 235 EWGV (des heutigen Art. 352 AEUV) Sekundärrechtsakte, die Rentnern,735 Studenten736 und sonstigen Personen, die nicht über ein anderweitig gemeinschaftsrechtlich begründetes Aufenthaltsrecht verfügen,737 ein Aufenthaltsrecht verleihen. Allerdings wurde dieses sekundärrechtlich begründete Aufenthaltsrecht unter den Vorbehalt gestellt, „dass [die Aufenthaltsberechtigten] für sich und ihre Familienangehörigen […] über ausreichende Existenzmittel verfügen, durch die sichergestellt ist, daß sie während ihres Aufenthalts nicht die Sozialhilfe des Aufnahmemitgliedstaats in Anspruch nehmen müssen.“738 Auf dieser Grundlage war der Weg nicht mehr weit, ein primärrechtliches Aufenthaltsrecht für jeden Unionsbürger und die hierfür erforderliche Freizügigkeitsgarantie zu schaffen. Als Art. 8a wurde der heutige Art. 21 AEUV im Vertrag von Maastricht in das Primärrecht eingeführt. Art. 8a EGV a.F. verband dabei die Fallgruppen, denen sekundärrechtlich noch ausdifferenziert ein jeweils eigenes Aufenthaltsrecht geschaffen wurde, zu einer gemeinsamen Obergruppe in Form der „Unionsbürgerschaft“, die zur nationalen Staatsangehörigkeit hinzutritt, sie aber nicht ersetzt. Die Unionsbürgerschaft erweitert die europäische Marktbürgerschaft der EWG primärrechtlich um die nichtwirtschaftliche Dimension. Sie schafft mit der Freizügigkeit ein Freiheitsrecht, auf das sich der Unionsbürger gegenüber den Mitgliedstaaten berufen können soll. Sie bestätigt die politischen Teilhaberechte der Unionsbürger auf Unionsebene und verlängert sie in die kommunale Ebene. Sie steht damit in der Tradition der Marktbürgerschaft, den Einzelnen in den Mittelpunkt des Integrationsprojekts zu stellen.739 Vor diesem Hintergrund soll nunmehr im Folgenden die Freizügigkeit der Unionsbürger in Art. 21 Abs. 1 AEUV am Wirkungsmaßstab einer Marktgrundfreiheit gemessen werden. Hieraus lassen sich dann die für die vorliegende Arbeit relevanten Schlüsse ziehen, ob die Normstruktur der Marktgrundfreiheiten auf die Unionsbürgerfreizügigkeit übertragbar ist und ob die Unionsbürgerfreizügigkeit
734
Vgl. Scheuing, EuR 2003, 744, 755. Richtlinie 90/365/EWG über das Aufenthaltsrecht der aus dem Erwerbsleben ausgeschiedenen Arbeitnehmer und selbständig Erwerbstätigen, ABl. 1990 L 180/28. 736 Richtlinie 90/366/EWG über das Aufenthaltsrecht der Studenten, ABl. 1990 L 180/30. Die Richtlinie wurde vom EuGH, Rs. C-295/90, Parlament/Rat, Slg. 1992, I-4193 wegen fehlerhafter Rechtsgrundlage für nichtig erklärt und als Richtlinie 93/96/EWG über das Aufenthaltsrecht der Studenten, ABl. 1993 L 317/59, auf der richtigen Rechtsgrundlage erneut erlassen. 737 Richtlinie 90/364/EWG über das Aufenthaltsrecht, ABl. 1990 L 180/26. 738 Jeweils Art. 1 Abs. 1 der genannten Richtlinien. 739 Vgl. Wollenschläger, Grundfreiheit ohne Markt, S. 321 ff. 735
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4. Kapitel: Einwirkungen des Primärrechts in das autonome IPR
damit als Grundfreiheit ohne Markt auszulegen und anzuwenden ist und den mitgliedstaatlichen Privatrechtsordnungen entsprechende Vorgaben macht. II. Unmittelbare Anwendbarkeit Der EuGH sprach in seinem Urteil in der Rechtssache „Baumbast“740 der Unionsbürgerfreizügigkeit in Art. 18 Abs. 1 EGV a.F. die unmittelbare Anwendbarkeit zu. Die Voraussetzungen, die der EuGH an die unmittelbare Anwendbarkeit von Unionsnormen gestellt hat, wonach die Norm hinreichend klar und präzise sein muss, sind von der Unionsbürgerfreizügigkeit erfüllt. Sie verleiht dem Unionsbürger „das Recht, sich im Hoheitsgebiet der Mitgliedstaaten […] frei zu bewegen und aufzuhalten.“ Zweifel hieran, die sich am Wortlaut „vorbehaltlich der in diesem Vertrag und in den Durchführungsvorschriften vorgesehenen Beschränkungen und Bedingungen“ festmachten741 und die in Art. 18 EGV a.F. lediglich die primärrechtliche Verankerung der sekundärrechtlichen Aufenthaltsrichtlinien einschließlich ihrer Grenzen erkennen wollten,742 konnten sich nicht durchsetzen. Bei der Unionsbürgerfreizügigkeit in Art. 21 Abs. 1 AEUV handelt es sich um ein unmittelbar anwendbares und damit direkt vor den nationalen Gerichten einklagbares Individualrecht des Unionsbürgers.743 Dies wird bereits durch den Wortlaut der Norm deutlich, die ein „Recht, sich im Hoheitsgebiet der Mitgliedstaaten […] frei zu bewegen und aufzuhalten“ verleiht. Der Verweis auf Beschränkungen und Bedingungen im sonstigen Unionsrecht ist nicht als ein Rechtsausübungsvorbehalt, der zur Folge hätte, dass die Norm aufgrund ihrer Abhängigkeit von weiteren Bedingungen nicht unmittelbar anwendbar wäre, sondern als Einschränkungsvorbehalt zu verstehen. Dieses Verständnis wird mit Blick auf Art. 21 Abs. 2 AEUV deutlich, in dem eine Rechtsgrundlage für die Erleichterung der Ausübung der Rechte nach Absatz 1 geschaffen wird.744 Die Ausübung der Rechte nach Art. 21 Abs. 1 AEUV ist nicht an die Existenz von Sekundärrecht gekoppelt. Sie kann durch Sekundärrecht allenfalls erleichtert werden. Damit bringt der Vorbehalt in Art. 21 Abs. 1 AEUV etwas zum Ausdruck, was bei den Marktgrundfreiheiten anerkannt und der unmittelbaren
740
EuGH, Rs. C-413/99, Baumbast, Slg. 2002, I-7091 Rn. 84. Vgl. etwa Kaufmann-Bühler, in: Lenz/Borchardt, 2. Aufl. 1999, Art. 18 EGV Rn. 1. 742 Pechstein/Burk, EuGRZ 1997, 547, 554. 743 Vgl. etwa Scheuing, EuR 2003, 744, 759; Borchardt, NJW 2000, 2057, 2060; Closa, CMLR 32 (1995), 487, 495 f.; Wollenschläger, Grundfreiheit ohne Markt, S. 126 ff.; Hatje, in: Schwarze, Art. 21 AEUV Rn. 7; Magiera, in: Streinz, Art. 21 AEUV Rn. 11. 744 Scheuing, EuR 2003, 744, 760. 741
C. Vorgaben der Unionsbürgerfreizügigkeit
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Anwendbarkeit nicht entgegenstand, nämlich die Möglichkeit, dass die primärrechtliche Freizügigkeit durch den Unionsgesetzgeber im Wege des Sekundärrechts beschränkt werden kann.745 Die Unionsbürgerfreizügigkeit ist demnach ein über die bestehenden Aufenthaltsrichtlinien hinausgehendes, primärrechtlich verbürgtes, unmittelbar anwendbares Aufenthaltsrecht des Unionsbürgers in den Mitgliedstaaten der EU, dessen Entstehen lediglich von dem Innehaben einer Staatsangehörigkeit eines EU-Mitgliedstaates abhängt. III. Diskriminierungsverbot Wie die Marktgrundfreiheiten enthält auch die Unionsbürgerfreizügigkeit ein Verbot der Diskriminierung von Unionsbürgern aufgrund der Staatsangehörigkeit. Umstritten sind dabei jedoch die Reichweite des Diskriminierungsverbots und, im Ergebnis jedoch zweitrangig, die dogmatische Verankerung des Diskriminierungsverbots in Art. 18 Abs. 1 AEUV in Verbindung mit Art. 21 Abs. 1 AEUV oder als eigenständiges besonderes Diskriminierungsverbot in Art. 21 Abs. 1 AEUV. 1. Reichweite des Diskriminierungsverbots Ausgangspunkt der Überlegungen nach der Reichweite des Diskriminierungsverbots ist die Bestimmung des Anwendungsbereichs der Verträge, der durch die Unionsbürgerfreizügigkeit eröffnet wird. Folgt man der Ansicht, wonach das Diskriminierungsverbot auf Art. 18 Abs. 1 AEUV in Verbindung mit Art. 21 Abs. 1 AEUV zurückzuführen ist, folgt dies bereits aus dem Wortlaut des Art. 18 Abs. 1 AEUV, der für die Anwendung des Verbots von Diskriminierungen aus Gründen der Staatsangehörigkeit einer anderweitigen Eröffnung des Anwendungsbereichs der Verträge bedarf.746 Versteht man Art. 21 Abs. 1 AEUV wie die Marktgrundfreiheiten als ein besonderes Diskriminierungsverbot aus Gründen der Staatsangehörigkeit, so folgt die Eröffnung des Anwendungsbereichs gleichsam dem Schutzbereich der Unionsbürgerfreizügigkeit. Erfasst sind nach dem Wortlaut des Art. 21 Abs. 1 AEUV das Recht, sich im Hoheitsgebiet der Mitgliedstaaten frei zu bewegen, und das Recht, sich im Hoheitsgebiet der Mitgliedstaaten aufzuhalten. Die geschützten Verhaltensweisen sind damit die Bewegung und der Aufenthalt, was „die Einreise in andere Mitgliedstaaten, die freie Bewegung in ihrem Hoheitsgebiet, das Verlassen des Hoheitsgebiets des Heimatstaates oder eines anderen Mitgliedstaates
745 Vgl. etwa zur Arbeitnehmerfreizügigkeit: EuGH, Rs. 41/74, van Duyn, Slg. 1974, 1337 Rn. 4 ff. 746 S. dazu oben S. 137 ff.
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4. Kapitel: Einwirkungen des Primärrechts in das autonome IPR
sowie de[n] ständige[n] Aufenthalt an einem Ort einschließlich der Wohnsitznahme“ umfasst.747 Der Oberbegriff für diese Verhaltensweisen ist die „Freizügigkeit“.748 Aus diesem Schutzbereichsverständnis lässt sich ein erster Schluss dergestalt ziehen, dass der Anwendungsbereich des Art. 21 Abs. 1 AEUV eröffnet und jede sich hieran anschließende Diskriminierung des Unionsbürgers aus Gründen der Staatsangehörigkeit rechtfertigungsbedürftig ist, wenn ein Unionsbürger von seinem Freizügigkeitsrecht grenzüberschreitend Gebrauch macht. Dieser erste Schluss setzt sich jedoch zwei Rückfragen aus, die im Folgenden noch zu klären sind. In der Anfangszeit, unmittelbar nach der Einführung der Unionsbürgerfreizügigkeit, stellte sich die Frage, ob die Einschränkung in Art. 21 Abs. 1 AEUV, wonach die Freizügigkeit „vorbehaltlich der in diesem Vertrag und in den Durchführungsvorschriften vorgesehenen Beschränkungen und Bedingungen“ auszuüben ist, den Schutzbereich bereits verkürzt. Als zweites stellt sich die Frage, ob die Freizügigkeit von dem Unionsbürger tatsächlich bereits ausgeübt worden sein muss oder ob die Möglichkeit einer Freizügigkeitsausübung für die Eröffnungen des Anwendungsbereichs ausreicht. a) Keine Schutzbereichsverkürzung durch den Vorbehalt in Art. 21 Abs. 1 AEUV Während oben bereits dargelegt wurde, dass der Vorbehalt in Art. 21 Abs. 1 AEUV nicht seiner unmittelbaren Anwendbarkeit entgegensteht, stellt sich im Folgenden die Frage, ob dieser Vorbehalt eine schutzbereichsverkürzende Wirkung hat. Zur Beantwortung dieser Frage sind zunächst die Koordinaten aufzuzeigen, die das Feld definieren, innerhalb dessen die Antwort zu geben ist. Mit der Einführung der Unionsbürgerfreizügigkeit sind zwei qualitative Aufwertungen im Verhältnis zu dem zum Zeitpunkt der Einführung geltenden Gemeinschaftsrecht vorgenommen worden. Zum einen wurde die Freizügigkeit des wirtschaftlich aktiven Unionsbürgers von einem Annex der Marktgrundfreiheiten zu einer eigenständigen primärrechtlichen Norm zusammengeführt. Zum anderen wurde das Aufenthaltsrecht der nicht-wirtschaftlich tätigen Unionsbürger vom Sekundärrecht auf die Ebene des Primärrechts erhoben.749 Somit wurde die rechtliche Bedeutung der Freizügigkeit gestärkt, mit dem Einfügen des Vorbehalts jedoch deutlich gemacht, dass die Freizügigkeit nicht absolut gilt, sondern beschränkt werden kann. Im Kern750 drehte sich die Frage nach der Schutzbereichsverkürzung durch das bestehende Sekundärrecht um die Bedeutung der ökonomischen Aufenthaltsvoraussetzung, wonach die Unionsbürger nachweisen müssen, dass „sie 747
Kluth, in: Calliess/Ruffert, Art. 21 AEUV Rn. 4. Scheuing, EuR 2003, 744, 745. 749 Wollenschläger, Grundfreiheit ohne Markt, S. 159 f. 750 Vgl. auch Kokott, in: FS Tomuschat, S. 207, 221. 748
C. Vorgaben der Unionsbürgerfreizügigkeit
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für sich und ihre Familienangehörigen […] über ausreichende Existenzmittel verfügen, durch die sichergestellt ist, daß sie während ihres Aufenthalts nicht die Sozialhilfe des Aufnahmemitgliedstaats in Anspruch nehmen müssen“.751 Es stellte sich mit der Einführung der primärrechtlichen Unionsbürgerfreizügigkeit also die Frage, ob diese ökonomische Aufenthaltsvoraussetzung als Tatbestandsvoraussetzung fortexistiert oder sich als Diskriminierung der ausländischen Unionsbürger rechtfertigen muss.752 Diese Frage stellte sich erstmalig in der Rechtssache „Grzelczyk“.753 Hier beantragte ein französischer Student in seinem vierten und abschließenden Studienjahr in Belgien Sozialhilfe, um sich auf den Abschluss seines Studiums konzentrieren zu können und nicht wie in den vorhergegangenen drei Studienjahren neben dem Studium arbeiten zu müssen. Diese wurde ihm verweigert mit dem Argument, dass die Sozialhilfe lediglich belgischen Staatsangehörigen bzw. Unionsbürgern, die unter den Anwendungsbereich der Verordnung (EWG) Nr. 1612/68 fallen, offensteht. Die Verweigerung begründet eine Diskriminierung aus Gründen der Staatsangehörigkeit, da belgische Staatsangehörige für die Inanspruchnahme der Sozialhilfe nicht auch zusätzlich Arbeitnehmer sein müssen. Der Student Rudy Grzelczyk, der sich mangels Arbeitnehmereigenschaft nicht auf die Arbeitnehmerfreizügigkeit aus Art. 45 AEUV berufen konnte, konnte die Diskriminierung jedoch nur erfolgreich als Verstoß gegen das allgemeine Diskriminierungsverbot aus Gründen der Staatsangehörigkeit in Art. 18 Abs. 1 AEUV rügen, wenn der Anwendungsbereich der Verträge anderweitig, d.h. etwa durch die Unionsbürgerfreizügigkeit, eröffnet ist. Diese steht jedoch unter dem Vorbehalt des Sekundärrechts, das in Art. 1 der Richtlinie 93/96/EG gerade das Vorhandensein von ausreichenden Existenzmitteln zur Voraussetzung für die Verleihung eines Aufenthaltsrechts erhebt. Die Inanspruchnahme von Sozialhilfe ist jedoch gerade der Nachweis mangelnder Existenzmittel, was bei einem schutzbereichsverkürzenden Verständnis des Vorbehalts in Art. 21 Abs. 1 AEUV somit eine Berufung auf die Unionsbürgerfreizügigkeit ausschließt.754 Der EuGH erkennt die sekundärrechtliche Rechtslage in seinem Urteil und kommt auch zu dem Zwischenergebnis, dass ein Mitgliedstaat auf der Grundlage des Sekundärrechts das Aufenthaltsrecht bei dem durch die Beantragung der Sozialhilfe zum Ausdruck gebrachten Mangel an Existenzmitteln beenden
751
Art. 1 Abs. 1 der Richtlinien 90/364/EWG und 90/365/EWG. Art. 1 der Richtlinie 90/366/EWG verlangt leicht modifiziert, dass „die betreffenden Studenten […] über Existenzmittel verfügen, so daß sie während ihres Aufenthalts nicht die Sozialhilfe des Aufnahmemitgliedstaats in Anspruch nehmen müssen“. 752 Siehe dazu im Detail Wollenschläger, Grundfreiheit ohne Markt, S. 164 ff. 753 EuGH, Rs. C-184/99, Grzelczyk, Slg. 2001, I-6193 Rn. 37 ff. 754 In diesem Sinne Hailbronner, NJW 2004, 2185, 2187.
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4. Kapitel: Einwirkungen des Primärrechts in das autonome IPR
kann.755 Allerdings unterliegt diese Beendigung dem Verhältnismäßigkeitsgrundsatz und darf nicht automatisch erfolgen.756 Der EuGH bestätigte diese Auslegung in dem Urteil in der Rechtssache „Baumbast“. Hier führte er ausdrücklich aus, dass die „Beschränkungen und Bedingungen unter Einhaltung der einschlägigen gemeinschaftsrechtlichen Grenzen und im Einklang mit den allgemeinen Grundsätzen des Gemeinschaftsrechts, insbesondere dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit, anzuwenden“757 sind, woraus im konkreten Fall folgt, dass „es ein unverhältnismäßiger Eingriff in das Aufenthaltsrecht aus Artikel 18 Absatz 1 EG [heute: Art. 21 Abs. 1 AEUV] [wäre], wenn Herrn Baumbast dessen Ausübung in Anwendung der Richtlinie 90/364 mit der Begründung versagt würde, dass seine Krankenversicherung eine Notversorgung im Aufnahmemitgliedstaat nicht abdecke.“758 Während in der Rechtssache „Grzelczyk“ das Auslegungsergebnis noch richtlinienimmanent begründet werden konnte,759 stellt der EuGH in der Rechtssache „Baumbast“ ausdrücklich auf die primärrechtliche Unionsbürgerfreizügigkeit ab. Aus beiden Urteilen wird deutlich, dass der EuGH die Aufenthaltsrichtlinien selbst im Lichte des Primärrechts auslegt. Zutreffend erkennt er, dass das Sekundärrecht nicht den Schutzbereich von Primärrecht definieren kann. Vielmehr muss der sekundärrechtliche Vorbehalt in Art. 21 Abs. 1 AEUV primärrechtskonform so ausgelegt werden, dass er der Entscheidung des Primärrechtsgebers Rechnung trägt, mit dem Vertrag von Maastricht den Unionsbürgerstatus zu schaffen, der „dazu bestimmt [ist], der grundlegende Status der Angehörigen der Mitgliedstaaten zu sein, der es denjenigen unter ihnen, die sich in der gleichen Situation befinden, erlaubt, unabhängig von ihrer Staatsangehörigkeit und unbeschadet der insoweit ausdrücklich vorgesehenen Ausnahmen die gleiche rechtliche Behandlung zu genießen“.760 Darin äußert sich die neue und damit konstitutive Qualität, die das Aufenthaltsrecht der Unionsbürger unabhängig von ihrer wirtschaftlichen Motivation durch ihre Primärrechtswerdung in Art. 8a EGV a.F. (heute: Art. 21 AEUV) erfährt.761 Hieraus folgt, dass der Vorbehalt in Art. 21 Abs. 1 AEUV an die Aufenthaltsbeendigung und nicht an die Aufenthaltsbegründung anknüpft.762 Das Aufenthaltsrecht entsteht aus Gründen des Primärrechts (Art. 21 Abs. 1 AEUV). Der positive Anspruch auf Erteilung einer Aufenthaltsgenehmigung 755
EuGH, Rs. C-184/99, Grzelczyk, Slg. 2001, I-6193 Rn. 42. EuGH, Rs. C-184/99, Grzelczyk, Slg. 2001, I-6193 Rn. 43. 757 EuGH, Rs. C-413/99, Baumbast, Slg. 2002, I-7091 Rn. 91. 758 EuGH, Rs. C-413/99, Baumbast, Slg. 2002, I-7091 Rn. 93. 759 Siehe die Argumentation des EuGH, Rs. C-184/99, Grzelczyk, Slg. 2001, I-6193 Rn. 39–45. 760 EuGH, Rs. C-184/99, Grzelczyk, Slg. 2001, I-6193 Rn. 31. 761 Vgl. Kokott, in: FS Tomuschat, S. 207, 220. 762 Wollenschläger, Grundfreiheit ohne Markt, S. 180 ff.; Bode, Europarechtliche Gleichbehandlungsansprüche Studierender, S. 212 f.; Borchardt, NJW 2000, 2057, 2060. 756
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wird durch das Sekundärrecht begründet (in der Rechtssache „Grzelczyk“ also durch die damals geltende Richtlinie 93/96/EG), das damit die Ausübung des primärrechtlichen Aufenthaltsrechts begrenzen und die Rechtsgrundlagen für die Beendigung des primärrechtlichen Aufenthaltsrechts schaffen kann.763 Der Vorbehalt in Art. 21 Abs. 1 AEUV hat damit die Funktion des aus Art. 45 Abs. 3 AEUV und Art. 52 AEUV bei den Marktgrundfreiheiten bekannten „ordre public“-Vorbehalts. Dieser kommt hier auf der Ebene der Rechtfertigung zur Anwendung und unterliegt dem für die Rechtfertigungsprüfung typischen Verhältnismäßigkeitsgrundsatz, den der EuGH auch bei der Prüfung des Vorbehalts in Art. 21 Abs. 1 AEUV zur Anwendung brachte.764 Die Gegenauffassung stützt sich auf das schwache Wortlautargument, wonach „Beschränkungen“ und „Bedingungen“ zwei voneinander getrennte Kategorien sind, von denen die erste als „ordre public“-Vorbehalt auf Rechtfertigungsebene und die zweite als Tatbestandsdefinition zu betrachten seien.765 Dies überzeugt jedoch nur wenig. Aus Gründen der Rechtssicherheit liegen eine einheitliche Auslegung der Schranken der Freizügigkeit und damit eine Behandlung von „Beschränkungen“ und „Bedingungen“ auf der Rechtfertigungsebene nahe. Darüber hinaus lässt sich die Ungleichbehandlung der Aufenthaltsbeendigung einer Person, die die öffentliche Ordnung gefährdet, die also in tatsächlicher und hinreichend schwerwiegender Art und Weise Schutzgüter gefährdet, die ein Grundinteresse der Gesellschaft berühren,766 mit der Nichtentstehung eines Aufenthaltsrechts für eine mittellose Person nur schwerlich begründen.767 Somit entspricht der Vorbehalt in Art. 21 Abs. 1 AEUV dem aus den Marktgrundfreiheiten bekannten „ordre public“-Vorbehalt, der im Hinblick auf die Aufenthaltsbeendigung auf der Ebene der Rechtfertigung zu prüfen ist. Er verkürzt den Schutzbereich der Unionsbürgerfreizügigkeit nicht und steht damit der Eröffnung des Anwendungsbereichs der Verträge nicht entgegen.768
763
Borchardt, NJW 2000, 2057, 2060. Aus diesem Grund lehnt auch Becker, EuR 1999, 522, 530 Fn. 63 die Anwendung des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes auf den Vorbehalt in Art. 21 Abs. 1 AEUV ab, da er diesen als tatbestandsbeschränkend versteht und der Verhältnismäßigkeitsgrundsatz zutreffenderweise auf der Tatbestandsebene keine Anwendung findet. 765 Becker, EuR 1999, 522, 530; Dienelt, Freizügigkeit nach der EU-Osterweiterung, Rn. 96 ff. 766 Vgl. zu Art. 52 AEUV: EuGH Rs. 30/77, Boucherau, Slg. 1977, 1999 Rn. 33 ff. 767 Wollenschläger, Grundfreiheit ohne Markt, S. 183. 768 Ebenso Magiera, in: Streinz, Art. 21 AEUV Rn. 20; Wollenschläger, Grundfreiheit ohne Markt, S. 183; Borchardt, NJW 2000, 2057, 2060; Scheuing, EuR 2003, 744, 768; Kubicki, EuR 2006, 489, 496; Rabenschlag, Leitbilder der Unionsbürgerschaft, S. 171 ff. 764
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4. Kapitel: Einwirkungen des Primärrechts in das autonome IPR
b) Keine zusätzlichen Anforderungen an den Zusammenhang von Freizügigkeit und Diskriminierung Neben der Eröffnung des Schutzbereichs von Art. 21 Abs. 1 AEUV und damit des Anwendungsbereichs der Verträge im Sinne des Art. 18 Abs. 1 AEUV wird teilweise verlangt, dass eine Konnexität zwischen dem primärrechtlich geschützten Aufenthalt in Art. 21 Abs. 1 AEUV und der diskriminierenden Maßnahme bestehen muss.769 Dabei reicht die Spannweite von dem Erfordernis eines „unmittelbaren oder mittelbaren Zusammenhang[s] mit dem Aufenthalt der Unionsbürger“770 über ein „qualifiziertes Näheverhältnis inhaltlicher, räumlicher oder zeitlicher Art“ zur Freizügigkeit771 und die Notwendigkeit, dass die erfassten diskriminierenden Maßnahmen der „effektive[n] Ausübung der in Art. 18 EG [heute: Art. 21 AEUV] verbürgten Freizügigkeit“ dienen müssen,772 bis hin zu einer Art von Spürbarkeitstest.773 Diese Konnexitätserfordernisse, die im Vergleich mit der Dogmatik der Marktgrundfreiheiten überraschen, entstammen der Dogmatik des Diskriminierungsverbots aus Art. 18 Abs. 1 AEUV, die eine derartige Konnexität bei der Eröffnung des Anwendungsbereichs der Verträge aufgrund eines „Berührungspunktes“ mit der Unionsrechtsordnung verlangt.774 So entschied der EuGH etwa in der Rechtssache „Cowan“ bezüglich einer französischen Regelung, die eine staatliche Entschädigung für Opfer einer Gewalttat vorsah. Einem Unionsbürger, der sich lediglich als Tourist in Paris aufhielt, wurde eine Entschädigung mit der Begründung verweigert, dass die Regelung auf französische Staatsangehörige und Inhaber einer Fremdenkarte beschränkt sei. Der EuGH entschied in dieser Rechtssache, dass der Unionsbürger als freizügigkeitsberechtigter Dienstleistungsempfänger einen Anspruch auf die Entschädigung aufgrund des Verbots von Diskriminierungen aus Gründen der Staatsangehörigkeit aus Art. 18 Abs. 1 AEUV hat, weil es „zwingende Folge dieser Freizügigkeit [ist], daß Leib und Leben dieser Person in dem betreffenden Mitgliedstaat in gleicher Weise geschützt sind, wie dies bei den eigenen Staatsangehörigen und den in diesem Staat wohnhaften Personen der Fall ist.“775 Hieraus ließe sich der Umkehrschluss ziehen, dass alles, was nicht „zwingende Folge dieser Freizügigkeit“ ist, auch nicht vom Diskriminierungsverbot aus Art. 18 Abs. 1 AEUV er769
Bode, EuZW 2005, 279, 280; dies., Europarechtliche Gleichbehandlungsansprüche Studierender, S. 260 f.; Epiney, NVwZ 2004, 1067, 1070; Kohler, in: FS Jayme I, S. 445, 456 f. 770 Epiney, NVwZ 2004, 1067, 1070. 771 Bode, Europarechtliche Gleichbehandlungsansprüche Studierender, S. 244. 772 Bode, EuZW 2005, 279, 280. 773 Kohler, in: FS Jayme I, S. 445, 456, der hierzu auf die Formel „zu ungewiss und zu mittelbar“ verweist. 774 Sie dazu oben S. 139 ff. 775 EuGH, Rs. 186/87, Cowan, Slg. 1989, 195 Rn. 17.
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fasst ist. Vor diesem Hintergrund überrascht die Diskussion zum Zusammenhang von Freizügigkeit und Diskriminierung im Schrifttum weniger, da der EuGH selbst das Diskriminierungsverbot der Unionsbürgerfreizügigkeit mit Art. 18 Abs. 1 AEUV in Verbindung mit Art. 21 Abs. 1 AEUV begründete.776 Dem ist zunächst entgegenzuhalten, dass das genannte Konnexitätserfordernis in der Dogmatik des Art. 18 Abs. 1 AEUV nur dann zum Tragen kommt, wenn eine mitgliedstaatliche Maßnahme nicht bereits selbst von der den Anwendungsbereich der Verträge eröffnenden Unionsnorm erfasst ist, sondern lediglich „Berührungspunkte mit irgendeinem der Sachverhalte aufweis[t], auf die das Gemeinschaftsrecht abstellt“.777 Wenn allerdings eine Maßnahme bereits von der den Anwendungsbereich eröffnenden Unionsnorm erfasst ist (vorliegend Art. 21 Abs. 1 AEUV), dann bedarf es auch keiner weiteren Konnexität mehr. Ein Blick auf Art. 21 AEUV zeigt dabei, dass der Schutzbereich weit zu verstehen ist. Die Rechtsetzungsgrundlage in Art. 21 Abs. 2 AEUV verweist darauf, dass der Unionsgesetzgeber Vorschriften erlassen darf, „mit denen die Ausübung der Rechte nach Absatz 1 erleichtert wird“, wobei Absatz 3 „Maßnahmen, die die soziale Sicherheit oder den sozialen Schutz betreffen“, dem besonderen Gesetzgebungsverfahren zuweist. Wären somit Regelungen, die die soziale Sicherheit oder den sozialen Schutz betreffen, nicht bereits von Art. 21 Abs. 1 AEUV erfasst, bedürfte es der Anordnung in Abs. 3 nicht. Dies macht deutlich, dass bereits der Schutzbereich von Art. 21 Abs. 1 AEUV weit zu verstehen ist und Maßnahmen, die von diesem erfasst sind, nicht mehr zusätzlich einem Konnexitätserfordernis zur Feststellung einer von der Unionsbürgerfreizügigkeit erfassten Diskriminierung unterliegen.778 Darüber hinaus lässt sich auch keine Begrenzung auf bestimmte Politikfelder begründen, in denen die Union über Rechtsetzungsbefugnisse verfügt.779 Dieser auf dem Prinzip der begrenzten Einzelermächtigung in Art. 5 Abs. 2 EUV aufbauenden Ansicht ist zunächst entgegenzuhalten, dass schon Art. 5 Abs. 2 EUV sich in seinem Wortlaut lediglich auf die „Grenzen der Zuständigkeiten“ bezieht, während sich Art. 18 Abs. 1 AEUV auf den „Anwendungsbereich“ der Verträge bezieht, der über die „Grenzen der Zuständigkeiten“ hinausgeht.780 Zudem würde eine derartige Verkürzung dem Sinn und Zweck einer Primärrechtsnorm, die der negativen Integration dient, zuwiderlaufen. Ihre Funktion ist es, solchen mitgliedstaatlichen Maßnahmen entgegenzustehen, die gerade aufgrund mangelnden Sekundärrechts (entweder aus Gründen der nicht in Anspruch genommenen Rechtsetzungskompetenz oder aus Gründen der 776
Vgl. bspw. EuGH, Rs. C-85/96, Martínez Sala, Slg. 1998, I-2691 (Art. 20 i.V.m. 18 AEUV); Rs. C-184/99, Grzelczyk, Slg. 2001, I-6193 (Art. 20 i.V.m. 18 AEUV); Rs. C-209/03, Bidar, Slg. 2005, I-2119 (Art. 21 i.V.m. 18 AEUV). 777 EuGH, verb. Rs. 35/82 und 36/82, Morson, Slg. 1982, 3723 Rn. 16. 778 Vgl. Wollenschläger, Grundfreiheit ohne Markt, S. 232; ders., ZEuS 2009, 1, 33. 779 Vgl. Bode, EuZW 2005, 279, 280; Kanitz/Steinberg, EuR 2003, 1013, 1032. 780 Kubicki, EuR 2006, 489, 502.
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Nichtexistenz einer Rechtsetzungskompetenz) ein Hemmnis für die grenzüberschreitende Freizügigkeit bilden. Nur dort, wo die Regelungszuständigkeit noch bei den Mitgliedstaaten ist, kann es überhaupt zu Diskriminierungen oder Beschränkungen kommen. Daher werden Unionsnormen, die der negativen Integration dienen, insbesondere in den Bereichen benötigt, in denen der Unionsgesetzgeber nicht tätig wurde oder werden darf.781 Die Beschränkung der Reichweite des Diskriminierungsverbots bei der Ausübung der Unionsbürgerfreizügigkeit zum Schutz vermeintlich oder tatsächlich sinnvoller mitgliedstaatlicher Einzelregelungen lässt sich schließlich in gleichem Maße auf der Ebene der Rechtfertigung verwirklichen, wobei diese aufgrund der Möglichkeit der Anwendung des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes sogar hierfür geeigneter erscheint.782 2. Art. 21 Abs. 1 AEUV als besonderes Diskriminierungsverbot Die aufgezeichnete Reichweite des Diskriminierungsverbots der Unionsbürgerfreizügigkeit macht deutlich, dass es sich hierbei eigentlich um ein von Art. 21 Abs. 1 AEUV mitumfasstes besonderes Diskriminierungsverbot aus Gründen der Staatsangehörigkeit handelt, das dem allgemeinen Diskriminierungsverbot aus Gründen der Staatsangehörigkeit vorgeht. In diesem Fall stellt sich nämlich das Problem des Konnexitätserfordernisses nicht mehr, das vorliegend abgelehnt wird. Hinzu tritt, dass die Unionsbürgerfreizügigkeit wie die marktgrundfreiheitlichen Freizügigkeitsgewährleistungen demselben Unionsziel der Herstellung eines Raums ohne Binnengrenzen, in dem der freie Personenverkehr gewährleistet ist (Art. 3 Abs. 2, Art. 3 Abs. 3 UAbs. 1 EUV, Art. 26 Abs. 2 AEUV), dient und damit wie eine Marktgrundfreiheit dogmatisch zu betrachten ist. Eine Grundfreiheit ist dabei ein in sachlicher und/oder persönlicher Hinsicht begrenztes Diskriminierungsverbot aus Gründen der Staatsangehörigkeit, das dem Art. 18 Abs. 1 AEUV vorgeht.783 Dazu kommt, dass der Grund für die abweichende Sichtweise, die das Diskriminierungsverbot in Art. 18 Abs. 1 AEUV in Verbindung mit Art. 21 Abs. 1 AEUV sieht, vor allem darin besteht, dass die ersten Urteile des EuGH, in denen er das Diskriminierungsverbot aus Gründen der Staatsangehörigkeit auf
781 Vgl. Wollenschläger, Grundfreiheit ohne Markt, S. 234; Schönberger, Unionsbürger, S. 403 f.; Rossi, AöR 127 (2002), 612, 646. 782 Kubicki, EuR 2006, 489, 503. 783 Ebenso für ein besonderes Diskriminierungsverbot: Scheuing, EuR 2003, 744, 783 f.; von Bogdandy/Bitter, in: FS Zuleeg, S. 309, 318; Magiera, in: Streinz, Art. 21 AEUV Rn. 8, 15.
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wirtschaftlich inaktive Unionsbürger anwandte,784 zeitlich vor der Anerkennung der unmittelbaren Anwendbarkeit von Art. 21 Abs. 1 AEUV785 gefällt wurden, weshalb ein subjektives Recht für den betroffenen Unionsbürger nur aus Art. 18 Abs. 1 AEUV hergeleitet werden konnte. Diese Notwendigkeit besteht allerdings mit dem inzwischen unmittelbar anwendbaren Art. 21 Abs. 1 AEUV nicht mehr. Somit handelt es sich bei Art. 21 Abs. 1 AEUV um ein besonderes Diskriminierungsverbot aus Gründen der Staatsangehörigkeit, das für seine Anwendung nicht mehr zusätzlich auf Art. 18 Abs. 1 AEUV gestützt werden muss, sondern diesen vielmehr nach dem Spezialitätsgrundsatz verdrängt. Der EuGH scheint sich in jüngeren Urteilen dieser Ansicht angeschlossen zu haben.786 Folgt man im Übrigen der Gegenauffassung, die bei Diskriminierungen bei der Ausübung der Unionsbürgerfreizügigkeit weiterhin Art. 18 Abs. 1 AEUV heranzieht,787 führt dies zwar zu einer kombinierten Anwendung von Art. 18 Abs. 1 mit Art. 21 Abs. 1 AEUV. Aufgrund des oben dargelegten Verzichts auf ein wie auch immer geartetes Konnexitätserfordernis zwischen Freizügigkeit und Diskriminierung788 produziert diese Gegenauffassung jedoch keine anderen Ergebnisse als die vorliegend bevorzugte schlichte Anwendung von Art. 21 Abs. 1 AEUV. Damit kommt der Frage der Einordnung von Art. 21 Abs. 1 AEUV auch letztlich keine große praktische Bedeutung zu.789 IV. Beschränkungsverbot Bereits früh legte der EuGH in seiner Rechtsprechung zur Unionsbürgerfreizügigkeit das Fundament für ein Verständnis von Art. 21 Abs. 1 AEUV als Beschränkungsverbot. In der Rechtssache „Wijsenbeek“ im Jahr 1999, in der es um die In- wie Ausländer gleichermaßen treffende Pflicht, bei der Einreise in die Niederlande ihren Pass oder Personalausweis vorzulegen, ging, prüfte der 784 EuGH, Rs. C-85/96, Martínez Sala, Slg. 1998, I-2691; Rs. C-184/99, Grzelczyk, Slg. 2001, I-6193. 785 EuGH, Rs. C-413/99, Baumbast, Slg. 2002, I-7091. 786 EuGH, Rs. C-391/09, Runevič-Vardyn, Slg. 2011, I-3787 Rn. 65: „Da Art. 21 AEUV nicht nur das Recht, sich im Hoheitsgebiet der Mitgliedstaaten frei zu bewegen und aufzuhalten, sondern auch […] das Verbot jeglicher Diskriminierung aus Gründen der Staatsangehörigkeit beinhaltet, ist die Weigerung der Behörden eines Mitgliedstaats, unter Umständen wie denen des Ausgangsverfahrens, Personenstandsurkunden zu ändern, an dieser Bestimmung zu messen.“ Implizit bereits EuGH, Rs. C-544/07, Rüffler, Slg. 2009, I-3389 Rn. 86: „Da eine Regelung wie die im Ausgangsverfahren streitige eine objektiv nicht gerechtfertigte Beschränkung von Art. 18 EG darstellt, erübrigt sich eine Entscheidung über die Vereinbarkeit mit Art. 12 EG.“ 787 So Wollenschläger, Grundfreiheit ohne Markt, S. 225; Hatje, in: Schwarze, Art. 21 AEUV Rn. 11. 788 S. 258 ff. 789 Zutreffend Wollenschläger, Grundfreiheit ohne Markt, S. 214.
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EuGH die Identitätskontrolle an Art. 7a EGV a.F. (der inhaltlich dem heutigen Art. 26 AEUV entspricht) und an Art. 8a EGV a.F. (Art. 21 AEUV).790 Er kam dabei zu dem Ergebnis, dass die niederländischen Regelungen „nach dem zur maßgeblichen Zeit geltenden Gemeinschaftsrecht […] keine Behinderung des freien Personenverkehrs darstellten.“791 Dies gründete darauf, dass zum streitgegenständlichen Zeitpunkt die damalige Gemeinschaft noch keine harmonisierte Kontrolle der Außengrenzen der EG eingeführt hatte, was der Annahme einer möglichen Gemeinschaftspflicht zur Abschaffung von Identitätskontrollen an den Binnengrenzen der Mitgliedstaaten entgegenstand. Die Sanktionen, die die Mitgliedstaaten bei Zuwiderhandlungen der Vorlagepflicht von Pässen verhängten, müssen jedoch dem Verhältnismäßigkeitsgrundsatz entsprechen.792 Während der Wortlaut der Urteilsbegründung sich nicht deutlich zu einer Beschränkungsprüfung bekannte, wird ein entsprechendes Verständnis bei näherer Betrachtung der Gedankenführung des EuGH deutlich. Zum einen ging der Generalanwalt in seinen Schlussanträgen in dieser Rechtssache deutlich von einem Beschränkungsverbot aus.793 Zudem konnte eine Rechtfertigung der Identitätskontrolle nur gelingen, wenn man ungeschriebene Rechtfertigungsgründe im Sinne der aus der Warenverkehrsfreiheit bekannten „Cassis de Dijon“-Rechtsprechung zur Anwendung bringt, was zuvor die Annahme eines Beschränkungsverbots verlangt.794 Damit war zwar das Fundament für die Annahme eines Beschränkungsverbots in der Rechtsprechung gelegt.795 Im Anschluss war aber dennoch weiterhin lange streitig, ob die Unionsbürgerfreizügigkeit nicht doch nur als ein weit verstandenes Diskriminierungsverbot zu verstehen sei.796 Grund dafür war die Rechtsprechung des EuGH zu den Beschränkungen des Herkunftsstaats gegenüber den eigenen Staatsangehörigen. Es wiederholte sich hier die aus der Dogmatik den Marktgrundfreiheiten bekannte Debatte um das für die Reichweite des Schutzbereichs relevante gleichheitsrechtliche oder freiheitsrechtliche Verständnis der Freizügigkeit.797
790 Das vorlegende Gericht fragte den EuGH ausdrücklich nach einer Auslegung dieser beiden Vorschriften. 791 EuGH, Rs. C-378/97, Wijsenbeek, Slg. 1999, I-6207 Rn. 45. 792 EuGH, Rs. C-378/97, Wijsenbeek, Slg. 1999, I-6207 Rn. 44. 793 GA Cosmas, SchlA Rs. C-378/97, Wijsenbeek, Slg. 1999, I-6207 Nr. 99 ff., insb. Nr. 105. 794 So Scheuing, EuR 2003, 744, 780. 795 Ebenfalls für ein Beschränkungsverbot Wollenschläger, Grundfreiheit ohne Markt, S. 297 ff.; Rabenschlag, Leitbilder der Unionsbürgerschaft, S. 191 ff.; Magiera, in: Streinz, Art. 21 AEUV Rn. 16. 796 Dafür Kubicki, EuR 2006, 489, 508 f.; Kingreen, EuR-Beiheft 1/2007, 43, 55. 797 Siehe dazu oben S. 168 ff.
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1. Gewährleistungsgehalt des Beschränkungsverbots Ausgangspunkt für die Debatte war die Entscheidung des EuGH in der Rechtssache „D’Hoop“.798 Hier ging es um eine belgische Staatsangehörige, der das von ihr in Belgien beantragte Überbrückungsgeld verweigert wurde. Das belgische Überbrückungsgeld wird Personen mit höherer Schulbildung gewährt, die sich auf der Suche nach der ersten Beschäftigung befinden. Die Verweigerung knüpfte daran an, dass die Antragstellerin ihren höheren Schulabschluss nicht in Belgien, sondern in Frankreich erworben hatte. Sie fiel zudem aufgrund der fehlenden Wanderarbeitnehmereigenschaft ihrer Eltern nicht unter die Sonderregelung, die das Überbrückungsgeld auch bei höheren Schulabschlüssen, die in anderen Mitgliedstaaten erworben wurden, gewährt, wenn es sich bei den Antragstellern um Kinder von in Belgien wohnhaften Wanderarbeitnehmern handelt. Somit lag der Rechtssache eine Beschränkung zugrunde. Eine mittelbare Diskriminierung, die darin hätte bestehen können, dass typischerweise Kinder von ausländischen Wanderarbeitnehmern einen höheren Schulabschluss außerhalb Belgiens erwerben, wurde durch die Sonderregelung vermieden.799 Der EuGH erkennt in der Rechtssache die Unionsbürgerfreizügigkeit als einschlägig, da die Antragstellerin als Universitätsabsolventin ohne bisherige berufliche Tätigkeit nicht unter die Arbeitnehmerfreizügigkeit fällt. Eine Diskriminierung aus Gründen der Staatsangehörigkeit konnte aufgrund der Sonderregelung nicht festgestellt werden, weshalb der EuGH seine in der Rechtssache „Grzelczyk“ aufgestellte Formel modifizierte und sein Ergebnis nicht zusätzlich auf das Diskriminierungsverbot aus Art. 18 Abs. 1 AEUV stützte. Ein Unionsbürger hat „in allen Mitgliedstaaten Anspruch auf die gleiche rechtliche Behandlung wie die Staatsangehörigen dieses Mitgliedstaats […], die sich in der gleichen Situation befinden“. Es wäre daher „mit dem Recht auf Freizügigkeit unvereinbar, wenn der Mitgliedstaat, dessen Staatsangehöriger er ist, ihn deshalb weniger günstig behandeln würde, weil er von den Möglichkeiten Gebrauch gemacht hat, die ihm die Freizügigkeitsbestimmungen des EG-Vertrags eröffnen.“ Der EuGH erkannte darin eine Ungleichbehandlung: „Die nationale Regelung benachteiligt dadurch, dass sie den Anspruch auf Überbrückungsgeld an die Bedingung knüpft, dass dieses Zeugnis in Belgien erworben wurde, bestimmte eigene Staatsangehörige allein deshalb, weil sie ihr Recht auf Freizügigkeit genutzt und ihre Schulbildung in einem anderen Mitgliedstaat erhalten haben. Eine solche Ungleichbehandlung widerspricht den Grundsätzen, auf denen der Status eines Unionsbürgers beruht, nämlich
798
EuGH, Rs. C-224/98, D’Hoop, Slg. 2002, I-6191. Die Sonderregelung war eine Reaktion auf ein entsprechendes Urteil des EuGH, Rs. C-278/94, Kommission/Belgien, Slg. 1996, I-4307. 799
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der Garantie gleicher rechtlicher Behandlung bei Ausübung der Freizügigkeit.“800 Die Argumentation des Gerichtshofs, wonach eine gegenüber der Unionsbürgerfreizügigkeit zu rechtfertigende Ungleichbehandlung bei einem Inländer vorliegt, wenn die Regelung des Herkunftsstaates eine Benachteiligung (die zumeist in der Vorenthaltung eines Vorteils besteht) daran anknüpft, dass der Inländer von seiner Freizügigkeit Gebrauch gemacht hat und das die Benachteiligung auslösende Tatbestandsmerkmal im Ausland erfüllt hat, taucht in der späteren Rechtsprechung regelmäßig wieder auf.801 a) Der gleichheitsrechtliche Deutungsversuch der Unionsbürgerfreizügigkeit Diese Rechtsprechung wurde kritisiert, weil sie die Grenzen des allgemeinen Diskriminierungsverbots aus Gründen der Staatsangehörigkeit in Art. 18 Abs. 1 AEUV überdehne.802 Das wäre auch sicher zutreffend, wenn der EuGH auf Art. 18 Abs. 1 AEUV abgestellt hätte. Allerdings stützt er sein Ergebnis ausschließlich auf Art. 21 Abs. 1 AEUV. Während auf Grundlage der Feststellung, dass der EuGH sich ausschließlich auf Art. 21 Abs. 1 AEUV stützte, die Annahme eines Beschränkungsverbots nahelag,803 wurde der Unionsbürgerfreizügigkeit von der Gegenauffassung stattdessen eine schlicht anwendungsbereichseröffnende Wirkung für den allgemeinen unionsrechtlichen Gleichheitssatz zugeschrieben.804 Dabei wird die Diskussion zum gleichheitsrechtlichen Gehalt der Marktgrundfreiheiten wiederholt, in der das Merkmal „Grenzübertritt“ zum verbotenen Differenzierungsmerkmal erhoben wurde, das damit die Tragweite der Marktgrundfreiheiten auf Ungleichbehandlung von grenzüberschreitenden gegenüber rein internen Sachverhalten begrenzt.805 Die Unionsbürgerfreizügigkeit wird hiernach als eine „transnationale Integrationsnorm“ verstanden, deren Zweck der Abbau der durch den Herkunftsstaat aufgestellten Hindernisse für den freien Personenverkehr ist.806 Gegen das gleichheitsrechtliche Verständnis der Unionsbürgerfreizügigkeit sprechen bereits dieselben Gründe, die auch schon gegen ein gleichheitsrechtliches Verständnis der Marktgrundfreiheiten sprechen. Insoweit sei hier 800
EuGH, Rs. C-224/98, D’Hoop, Slg. 2002, I-6191 Rn. 34 f. EuGH, Rs. C-224/02, Pusa, Slg. 2004, I-5763 Rn. 19 ff.; verb. Rs. C-502/01 und C-31/02, Gaumain-Cerri, Slg. 2004, I-6483 Rn. 34 ff.; Rs. C-365/02, Lindfors, Slg. 2004, I-7183 Rn. 34 f.; Rs. C-406/04, De Cuyper, Slg. 2006, I-6947 Rn. 39; Rs. C-192/05, TasHagen, Slg. 2006, I-10451 Rn. 35; Rs. C-520/04, Turpeinen, Slg. 2006, I-10685 Rn. 20 ff.; Rs. C-76/05, Schwarz, Slg. 2007, I-6849 Rn. 88 ff.; verb Rs. C-11/06 und C-12/06, Morgan und Bucher, Slg. 2007, I-9161 Rn. 25; Rs. C-499/06, Nerkowksa, Slg. 2008, I-3993 Rn. 32 f. 802 Bode, EuZW 2002, 637, 638; Kanitz/Steinberg, EuR 2003, 1013, 1016 ff. 803 So Scheuing, EuR 2003, 744, 780. 804 So Kubicki, EuR 2006, 489, 509 f. 805 Siehe oben S. 172. 806 Kubicki, EuR 2006, 489, 510, abstellend auf Kingreen, in: von Bogdandy/Bast, Grundfreiheiten, S. 705, 725 f.; dazu auch oben S. 169 f. 801
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schlicht auf diese Auseinandersetzung verwiesen.807 Hinzu tritt, dass die gleichheitsrechtliche Konstruktion auch nicht notwendig ist, damit der mobile Inländer in den Genuss der von der Unionsbürgerfreizügigkeit verliehenen Rechte kommt. Einfacher lässt sich die Bindung des Herkunftsstaates an die Unionsbürgerfreizügigkeit auch gegenüber den eigenen mobilen Staatsangehörigen über ein Beschränkungsverbot begründen.808 Das Freizügigkeitshemmnis des Beschränkungsverbots verlangt nämlich tatbestandlich keine Begrenzung auf die betroffene Personengruppe. Vielmehr kann sich jedermann auf ein Beschränkungsverbot berufen, der die Eröffnung des sachlichen Anwendungsbereichs nachweisen kann, wozu bei der Unionsbürgerfreizügigkeit, wie bei den Marktgrundfreiheiten, das Vorliegen eines grenzüberschreitenden Sachverhalts gehört. Dieser grenzüberschreitende Sachverhalt umfasst sowohl die ausländischen Staatsangehörigen, die in den Zuzugsstaat kommen, als auch diejenigen mobilen eigenen Staatsangehörigen, die den Herkunftsstaat verlassen wollen oder zurückkehren. Schwierigkeiten bereitet freilich die Grenzziehung zwischen den (potenziell) mobilen und den immobilen Inländern, gegenüber denen der Herkunftsstaat weiterhin die unionsrechtlich unbegrenzte Regelungsmacht besitzt (die sog. Möglichkeit zur Inländerdiskriminierung). Sie wird beim Beschränkungsverbot anhand des grenzüberschreitenden Sachverhalts vorgenommen und sie ist das eigentliche Anliegen des gleichheitsrechtlichen Verständnisses der Unionsbürgerfreizügigkeit.809 Damit wird auch deutlich, warum der gleichheitsrechtliche Ansatz nicht überzeugen kann. Der Gewährleistungsgehalt einer Norm wird nicht durch die Notwendigkeit einer Grenzziehung und darauf aufbauend mit dem die Grenzziehung begründenden Kriterium definiert, sondern vielmehr eigenständig aus dem telos der Norm abgeleitet. Dieser spricht deutlich für ein freiheitsrechtliches Verständnis des Gewährleistungsgehalts, was im Folgenden näher begründet wird. b) Das freiheitsrechtliche Beschränkungsverständnis der Unionsbürgerfreizügigkeit Ein freiheitsrechtliches Verständnis unterlegte der EuGH der Unionsbürgerfreizügigkeit selbst bereits in seiner Urteilsbegründung in der Rechtssache „D’Hoop“, obwohl er hier gleichheitsrechtlich argumentierte. Er stellt nämlich auf den „effet utile“ der Unionsbürgerfreizügigkeit ab und sieht die „volle Wirkung“ der Freizügigkeit in Gefahr, „wenn ein Staatsangehöriger eines Mitgliedstaats von der Wahrnehmung dieser Möglichkeiten abgehalten werden 807
Siehe oben S. 173 ff. Rabenschlag, Leitbilder der Unionsbürgerschaft, S. 190 f.; Scheuing, EuR 2003, 744, 780; Wollenschläger, Grundfreiheit ohne Markt, S. 295 ff. 809 Vgl. Wollenschläger, Grundfreiheit ohne Markt, S. 296 f., der den „nicht in Abrede stellbaren Vorteil“ des gleichheitsrechtlichen Verständnisses darin erkennt, dem Gewährleistungsgehalt des allgemeinen Freizügigkeitsrechts Konturen zu verleihen. 808
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könnte, weil ihm bei der Rückkehr in sein Herkunftsland Nachteile entstünden, die eine Regelung an diese Wahrnehmung knüpft.“810 Hier deutet sich die Argumentationsfigur an, die der EuGH in der Beschränkungsrechtsprechung zu den wirtschaftlich motivierten Freizügigkeitsrechten bei der Arbeitnehmerfreizügigkeit und der Niederlassungsfreiheit aufgestellt hat. Im Hinblick auf Wegzugsbeschränkungen natürlicher Personen, die typischerweise im Verhältnis zwischen dem Herkunftsstaat und den eigenen Staatsangehörigen auftreten, entschied der EuGH im Fall der Wegzugsbesteuerung, dass diese geeignet ist, „die Ausübung dieses Rechts zu beschränken, da er für Steuerpflichtige, die sich in einem anderen Mitgliedstaat niederlassen wollen, zumindest abschreckende Wirkung hat.“811 Die „abschreckende Wirkung“ der Wegzugsbesteuerung entspricht der Wirkung, die den Unionsbürger von der Möglichkeit abhalten kann, die Freizügigkeitsrechte aus der Unionsbürgerschaft wahrzunehmen.812 Endgültig durchgesetzt hatte sich das freiheitsrechtliche Verständnis der Unionsbürgerfreizügigkeit in der Rechtsprechung in der Rechtssache „De Cuyper“, in der es um eine Regelung ging, die die Gewährung einer Sozialleistung vom Bestehen eines tatsächlichen Aufenthalts im betreffenden Mitgliedstaat abhängig macht.813 Für den EuGH stellt die Aufenthaltsklausel, „die einige Staatsangehörige allein deswegen benachteiligt, weil sie ihre Freiheit, sich in einen anderen Mitgliedstaat zu begeben und sich dort aufzuhalten, wahrgenommen haben, eine Beschränkung der Freiheiten [dar], die Artikel [21 AEUV] jedem Unionsbürger verleiht.“814 Deutlich bezeichnet er die Regel als eine „Beschränkung“.815 Das freiheitsrechtliche Beschränkungsverständnis ist durch den Wortlaut von Art. 21 Abs. 1 AEUV gedeckt. Dieser spricht von einem „Recht, sich […] frei zu bewegen und aufzuhalten“, ohne weitere wörtliche Einschränkungen hinsichtlich der Qualität dieses Rechts vorzunehmen. Der von Art. 21 Abs. 1 AEUV ausgesprochene Vorbehalt ist, wie oben bereits dargelegt,816 ein „ordre public“-Vorbehalt, der wie bei den Marktgrundfreiheiten auf Rechtsfertigungs-
810
EuGH, Rs. C-224/98, D’Hoop, Slg. 2002, I-6191 Rn. 30 f. EuGH, Rs. C-9/02, Lasteyrie du Saillant, Slg. 2004, I-2409 Rn. 45; Rs. C-470/04, N, Slg. 2006, I-7409 Rn. 34. 812 Wendel, in: EnzEuR Bd. 2, § 18 Rn. 100. 813 EuGH, Rs. C-406/04, De Cuyper, Slg. 2006, I-6947. 814 EuGH, Rs. C-406/04, De Cuyper, Slg. 2006, I-6947 Rn. 39. 815 In der englischen und in der französischen Fassung: „restriction“, wiederholt in EuGH, Rs. C-192/05, Tas-Hagen, Slg. 2006, I-10451 Rn. 31; Rs. C-76/05, Schwarz, Slg. 2007, I-6849 Rn. 93; verb. Rs. C-11/06 und C-12/06, Morgan und Bucher, Slg. 2007, I-9161 Rn. 25; Rs. C-353/06, Grunkin-Paul, Slg. 2008, I-7639 Rn. 21; Rs. C-208/09, Sayn-Wittgenstein, Slg. 2010, I-13693 Rn. 53; Rs. C-391/09, Runevič-Vardyn, Slg. 2011, I-3787 Rn. 68. 816 Siehe oben S. 254 ff. 811
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ebene zu berücksichtigen ist. In systematischer Hinsicht spricht für das freiheitsrechtliche Beschränkungsverständnis der Unionsbürgerfreizügigkeit, dass sie als allgemeine Auffangfreiheit für die Freizügigkeit formuliert ist. Anders gewendet sind die Freizügigkeitsrechte der Arbeitnehmer, Dienstleistungserbringer und -empfänger sowie der Selbstständigen von dem allgemeinen Freizügigkeitsrecht der Unionsbürger erfasst. Ihre Beschränkung unterliegt jedoch nach dem Grundsatz „lex specialis derogat legi generali“ den besonderen Freizügigkeitsrechten der Arbeitnehmerfreizügigkeit, Dienstleistungsfreiheit und der Niederlassungsfreiheit.817 Schließlich stützt der Sinn und Zweck der Unionsbürgerfreizügigkeit ihr Verständnis als Beschränkungsverbot. Die Unionsbürgerschaft ist die Fortschreibung der Marktbürgerschaft unter Loslösung der Notwendigkeit einer wirtschaftlichen Motivation. In den Worten des EuGH handelt es sich bei der Unionsbürgerschaft um den „grundlegenden Status aller Unionsbürger, der ihnen unabhängig von jeglicher wirtschaftlicher Betätigung zusteht“. Die so verstandene Unionsbürgerschaft verlangt die größtmögliche Wirksamkeit der sie verwirklichenden Freizügigkeitsrechte. Sie muss daher als Beschränkungsverbot verstanden werden.818 2. Das grenzüberschreitende Element Weiterhin bedarf es bei der Unionsbürgerfreizügigkeit eines grenzüberschreitenden Sachverhalts zur Eröffnung ihres Anwendungsbereichs. Zutreffend ist zwar, dass sich der Wortlaut von Art. 21 Abs. 1 AEUV auf das „Hoheitsgebiet der Mitgliedstaaten“ und nicht auf das Hoheitsgebiet der Mitgliedstaaten, deren Staatsangehörigkeit der Unionsbürger nicht besitzt, bezieht.819 Dennoch ist hieraus nicht zu schließen, dass es des grenzüberschreitenden Elementes nicht mehr bedürfe.820 Die Unionsbürgerfreizügigkeit ist nämlich darauf ausgerichtet, eine Gleichbehandlung ausländischer Unionsbürger mit Inländern sowie die barrierefreie Freizügigkeit zwischen den Mitgliedstaaten zu erreichen. Sie ist ein allgemeines Freizügigkeits- und nicht ein allgemeines Freiheitsrecht.821 Hierauf liefe jedoch der Verzicht auf ein grenzüberschreitendes Element bei 817 Vgl. EuGH, Rs. C-193/94, Skanavi und Chryssanthakopoulos, Slg. 1996, I-929 Rn. 22 (zur Niederlassungsfreiheit); Rs. C-100/01, Oteiza Olazabal, Slg. 2002, I-10981 Rn. 26 (zur Arbeitnehmerfreizügigkeit); Rs. C-92/01, Stylianakis, Slg. 2003, I-1291 Rn. 18 (zur Dienstleistungsfreiheit); vgl. auch Höfler, Die Unionsbürgerfreiheit, S. 140 f.; Wendel, EnzEuR Bd. 2, § 18 Rn. 73. 818 Vgl. Kokott, in: FS Tomuschat, S. 207, 224 f.; GA Kokott, SchlA Rs. C-192/05, TasHagen, Slg. 2006, I-10451 Nr. 38 ff.; Höfler, Die Unionsbürgerfreiheit, S. 141 f.; Rabenschlag, Leitbilder der Unionsbürgerschaft, S. 191 ff. 819 Vgl. Wendel, in: EnzEuR Bd. 2, § 18 Fn. 225. 820 So aber GA Sharpston, SchlA Rs. C-34/09, Ruiz Zambrano, Slg. 2011, I-1177 Nr. 100 f.; ebenso Frenz, ZAR 2011, 221, 222. 821 Wollenschläger, Grundfreiheit ohne Markt, S. 305.
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gleichzeitiger Anerkennung eines weiten Beschränkungsbegriffs hinaus. Der EuGH machte schließlich in seiner Rechtsprechung bereits früh deutlich, dass die „Unionsbürgerschaft nicht bezweckt, den sachlichen Anwendungsbereich des Vertrages auf rein interne Sachverhalte auszudehnen, die keinerlei Bezug zum Gemeinschaftsrecht aufweisen.“822 Relevanter jedoch als die Fortexistenz der Notwendigkeit eines grenzüberschreitenden Sachverhalts zur Eröffnung des Anwendungsbereichs der Unionsbürgerfreizügigkeit ist die Frage, ob der Grenzübertritt hierfür tatsächlich erfolgt sein muss oder ob ein potenzieller künftiger Grenzübertritt ausreicht. Folgt man dem letzteren Verständnis, kommt dies zum einen im Ergebnis einem Verzicht auf das Vorliegen eines grenzüberschreitenden Sachverhalts gleich. Zum anderen besitzt die Unionsbürgerfreizügigkeit das Potenzial, tief in die bestehende mitgliedstaatliche Souveränität einzugreifen. Die Abgrenzung zur zulässigen Inländerdiskriminierung würde hierdurch verschwimmen. Für einen Inländer würde es dann nämlich ausreichen, ohne selbst die Freizügigkeit beansprucht zu haben, eine inländische Norm unter Berufung auf die Unionsbürgerfreizügigkeit vor Gericht anzugreifen mit der schlichten Behauptung, potenziell künftig von der Freizügigkeit Gebrauch machen zu wollen. Ein solches Verständnis schien der EuGH in den Rechtssachen „Garcia Avello“,823 „Zhu und Chen“824 und „Schempp“825 an den Tag zu legen. In der Rechtssache „Schempp“ hielt es der EuGH für ausreichend, dass die geschiedene Ehefrau des Betroffenen von ihrer Freizügigkeit Gebrauch gemacht hat, um die fehlende steuerliche Abzugsfähigkeit von Unterhaltsleistungen des Betroffenen, der selbst die Freizügigkeit nicht in Anspruch genommen hat, an seine geschiedene Ehefrau in den Anwendungsbereich der Unionsbürgerfreizügigkeit fallen zu lassen.826 Der Fall „Garcia Avello“ betraf Unionsbürger mit einer doppelten Staatsangehörigkeit, ohne dass diese die Freizügigkeit selber bereits ausgeübt hätten (es handelte sich in um minderjährige Kinder). Die Tatsache, dass die Unionsbürger (auch) eine andere Staatsangehörigkeit als diejenige des Aufenthaltsstaates besaßen, reichte für die Annahme eines grenzüberschreitenden Sachverhalts aus.827 In der Rechtssache „Zhu und Chen“ ging es um den Aufenthaltsstatus eines minderjährigen Kindes, das eine andere Staatsangehörigkeit besaß als diejenige seines Aufenthaltslandes und das aufgrund des Kleinkindalters (acht Monate) von ihrer Freizügigkeit noch keinen Gebrauch ge-
822 EuGH, verb. Rs. C-64/96 und C-65/96, Uecker, Slg. 1997, I-3171 Rn. 23, bestätigt u.a. in EuGH, Rs. C-403/03, Schempp, Slg. 2005, I-6421 Rn. 20; Rs. C-192/05, Tas-Hagen, Slg. 2006, I-10451 Rn. 23. 823 EuGH, Rs. C-148/02, Garcia Avello, Slg. 2003, I-11613. 824 EuGH, Rs. C-200/02, Zhu und Chen, Slg. 2004, I-9925. 825 EuGH, Rs. C-403/03, Schempp, Slg. 2005, I-6421. 826 EuGH, Rs. C-403/03, Schempp, Slg. 2005, I-6421 Rn. 24 f. 827 EuGH, Rs. C-148/02, Garcia Avello, Slg. 2003, I-11613 Rn. 27 f.
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macht hatte. Hier entschied der EuGH, dass nicht alleine aufgrund der Tatsache, dass ein Unionsbürger noch keinen Gebrauch von seiner Freizügigkeit gemacht hat, nicht geschlossen werden könne, dass kein grenzüberschreitender Sachverhalt vorliegt. Als einzigen Grund für den bislang mangelnden grenzüberschreitenden Bezug machte der Gerichtshof das Alter des Kindes aus. Da aber die „Fähigkeit des Angehörigen eines Mitgliedstaats, Inhaber der durch den Vertrag und das abgeleitete Recht auf dem Gebiet der Freizügigkeit gewährleisteten Rechte zu sein,“ nicht von einem bestimmten Mindestalter abhängt, kann eine alleine auf das Alter zurückzuführende Nichtfreizügigkeit nicht zur Annahme eines rein internen Sachverhalts und damit zur Verneinung der Eröffnung des Anwendungsbereichs der Unionsbürgerfreizügigkeit führen.828 Während hieraus teilweise der Schluss gezogen wurde, der EuGH habe die Notwendigkeit eines grenzüberschreitenden Bezugs zur Eröffnung des Anwendungsbereichs der Unionsbürgerfreizügigkeit relativiert,829 überraschte der EuGH in seinem Urteil in der Rechtssache „McCarthy“ mit der Aussage, „dass die Situation einer Person wie Frau McCarthy keine Berührung mit irgendeinem der Sachverhalte aufweist, auf die das Unionsrecht abstellt, und dass diese Situation mit keinem relevanten Element über die Grenzen eines Mitgliedstaats hinausweist.“830 Die Überraschung lag darin begründet, dass die betroffene Unionsbürgerin die doppelte (britische und irische) Staatsangehörigkeit besaß und sich auf die andere Staatsangehörigkeit als diejenige ihres Ansässigkeitsstaates berief, um den Anwendungsbereich der Unionsbürgerfreizügigkeit zu eröffnen, da sie selber von ihrer Freizügigkeit noch keinen Gebrauch gemacht hatte. In Anlehnung an das Urteil in der Rechtssache „Garcia Avello“ hätte dies für die Bejahung des grenzüberschreitenden Elements ausgereicht. Der tatsächliche Unterschied zwischen beiden Rechtssachen war das Alter der betroffenen Unionsbürger. Frau McCarthy war eine erwachsene Frau, während in „Garcia Avello“ minderjährige Kinder betroffen waren. Der EuGH versuchte den Widerspruch zur Rechtssache „Garcia Avello“ aufzulösen, indem er auf die unterschiedliche Schwere der Beeinträchtigungen abstellte. In der Rechtssache „Garcia Avello“ sei es nämlich um eine Situation gegangen (unterschiedliche Familiennamensführung in verschiedenen Mitgliedstaaten), die für die betroffenen Unionsbürger „zu schwerwiegenden Nachteilen beruflicher wie auch privater Art führen konnte“.831 Die Situation von Frau McCarthy war nicht von derart schwerwiegenden Nachteilen gekennzeichnet, da sie durch die Nichtbe-
828
EuGH, Rs. C-200/02, Zhu und Chen, Slg. 2004, I-9925 Rn. 19 f. Vgl. etwa Hatje, in: Schwarze, Art. 21 AEUV Rn. 9; weitergehender noch Frenz, ZAR 2011, 221, 222. 830 EuGH, Rs. C-434/09, McCarthy, Slg. 2011, I-3375 Rn. 55. 831 EuGH, Rs. C-434/09, McCarthy, Slg. 2011, I-3375 Rn. 51. 829
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rücksichtigung ihrer irischen Staatsangehörigkeit durch die britischen Behörden „weder in ihrem Recht, sich im Hoheitsgebiet der Mitgliedstaaten frei zu bewegen und aufzuhalten, noch im Übrigen in irgendeinem anderen Recht, das ihr durch den Unionsbürgerstatus verliehen wird“, berührt worden sei.832 Diese Aussage ist im Hinblick auf das Aufenthaltsrecht von Frau McCarthy sicherlich zutreffend. Jedoch ging es nicht um ihr, sondern um das abgeleitete Aufenthaltsrecht ihres drittstaatsangehörigen Ehemanns. Hierzu ergänzt jedoch die Generalanwältin, dass „es nicht gänzlich auszuschließen [ist], dass das Vereinigte Königreich kraft seiner eigenen Mitgliedschaft in der EMRK verpflichtet sein könnte, Herrn McCarthy als Ehegatten einer in England lebenden britischen Staatsbürgerin ein Aufenthaltsrecht zu gewähren. Dies ist aber keine Frage des Unionsrechts, sondern allein eine Frage der Bindung des Vereinigten Königreichs an die EMRK, für deren Beurteilung ausschließlich die innerstaatlichen Gerichte und gegebenenfalls der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte zuständig sind.“833 Diese Argumentation vermag allerdings nicht zu überzeugen. Wäre nämlich der grenzüberschreitende Bezug aufgrund der doppelten Staatsangehörigkeit zu bejahen gewesen, hätte dies den Anwendungsbereich der Unionsbürgerfreizügigkeit eröffnet, was wieder nach der Rechtsprechung des EuGH zu Art. 51 Abs. 1 GRCh ausreichend gewesen wäre, um Art. 7 GRCh zur Anwendung zu bringen. Schließlich überzeugt aber auch die vom EuGH vorgenommene Verkoppelung von grenzüberschreitendem Bezug und schwerwiegendem Nachteil durch die mitgliedstaatliche Beeinträchtigung nicht. In diesem Zusammenhang ist darauf hingewiesen worden, dass der EuGH den Anwendungsbereich der Unionsbürgerfreizügigkeit nicht nach dem tatsächlich erfolgten Grenzübertritt bestimmt, sondern nach dem „Beeinträchtigungspotenzial der mitgliedstaatlichen Maßnahme“.834 Es kommt jedoch auf das Beeinträchtigungspotenzial einer Maßnahme nicht an, wenn die von ihr betroffene Person keinen grenzüberschreitenden Bezug nachweisen kann. Das Beeinträchtigungspotenzial kann den Nachweis des grenzüberschreitenden Bezugs nicht ersetzen. Dies hat natürlich auf den ersten Blick die missliche Konsequenz zur Folge, die Urteile in den Rechtssachen „Garcia Avello“ und „Zhu und Chen“ als Fehlurteile deklarieren zu müssen, da bei ihnen kein tatsächlicher Grenzübertritt vorgelegen hat. Bei einem weiteren Blick wird jedoch eine überzeugende Differenzierungsmöglichkeit offenkundig. Statt auf das Beeinträchtigungspotenzial der mitgliedstaatlichen Maßnahme abzustellen, hätte man das Kindesalter näher betrachten müssen. Zutreffend ist nämlich die Aussage des EuGH in der Rechts-
832
EuGH, Rs. C-434/09, McCarthy, Slg. 2011, I-3375 Rn. 49. GA Kokott, SchlA Rs. C-434/09, McCarthy, Slg. 2011, I-3375 Nr. 60. 834 Wendel, in: EnzEuR Bd. 2, § 18 Rn. 80 mit Verweis auf Rabenschlag, Leitbilder der Unionsbürgerschaft, S. 175 a.E. 833
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sache „Zhu und Chen“, dass eine Ablehnung des grenzüberschreitenden Bezugs aufgrund eines fehlenden tatsächlichen Grenzübertritts bei minderjährigen Unionsbürgern dazu führen würde, implizit eine Altersgrenze bei der Frage nach der Eröffnung des Anwendungsbereichs der Unionsbürgerfreizügigkeit zu ziehen, da minderjährige Kinder regelmäßig ein bestimmtes Alter erreichen müssen, um Freizügigkeitsrechte selbst auszuüben.835 Es sollte ihnen daher nicht zum Nachteil gereichen, dass aufgrund des geringen Lebensalters die Wahrscheinlichkeit eines tatsächlichen Grenzübertritts deutlich geringer ist als bei älteren Unionsbürgern. Dieser Gedanke eröffnet auch den Weg zur Zusammenführung der Rechtssachen „Garcia Avello“, „Zhu und Chen“ und „McCarthy“ (einschließlich aller späteren auf „McCarthy“ aufbauenden Urteile836). Ausgangspunkt ist das Erfordernis eines grenzüberschreitenden Sachverhalts. Jedoch kann alleine aufgrund der Tatsache, dass ein Unionsbürger von seiner Freizügigkeit noch keinen Gebrauch gemacht hat, nicht darauf geschlossen werden, dass ein interner Sachverhalt vorliegt. Vielmehr sind die Umstände des Nichtgebrauchmachens der Freizügigkeit näher zu betrachten. Einem minderjährigen Kind kann es nicht zum Nachteil gereichen, dass es aufgrund seines geringen Lebensalters nicht von seiner Freizügigkeit Gebrauch gemacht hat. Mithin ist bei einem minderjährigen Unionsbürger, der (auch) eine andere Staatsangehörigkeit als diejenige seines Aufenthaltsstaats, die widerlegbare Vermutung aufzustellen, dass er künftig von seiner Freizügigkeit Gebrauch machen wird, weshalb grundsätzlich ein grenzüberschreitender Bezug anzunehmen ist. Hat hingegen ein erwachsener Unionsbürger, der (auch) eine andere Staatsangehörigkeit als diejenige seines Aufenthaltsstaats besitzt, nachweislich in der Vergangenheit keinen Gebrauch von seinen Freizügigkeitsrechten gemacht, so gilt die Vermutung, die für den minderjährigen Unionsbürger galt, als widerlegt. Er muss vielmehr wie in der Rechtssache „Schempp“ andere Umstände nachweisen, die den grenzüberschreitenden Bezug begründen können.837 Hieraus ergibt sich ein Gesamtbild für das Verständnis des grenzüberschreitenden Sachverhalts zur Eröffnung des Anwendungsbereichs der Unionsbürgerfreizügigkeit. Grundsätzlich ist ein tatsächlicher Grenzübertritt notwendig, 835
EuGH, Rs. C-200/02, Zhu und Chen, Slg. 2004, I-9925 Rn. 20. EuGH, Rs. C-256/11, Dereci, Slg. 2011, I-11315 Rn. 54; Rs. C-87/12, Ymeraga, EU:C:2013:291 Rn. 30. 837 Angedeutet bei Seyr/Rümke, EuR 2005, 667, 674: „So wäre es gerade in der Konstellation, die der Chen-Entscheidung zugrunde lag, wohl kaum ernsthaft zu fordern, dass das Kind kurz in die irische Republik einreist, um sogleich wieder in das Vereinigte Königreich zurückzukehren, damit es auch körperlich eine innergemeinschaftliche Grenze überschritten hat.“ Manche Autoren erkennen in der Rechtsprechung des EuGH eine negative Definition, wonach grenzüberschreitend alle Sachverhalte sind, die nicht intern sind (Plötscher, Begriff der Diskriminierung, S. 302; Lackhoff, Niederlassungsfreiheit, S. 55 f.), was einer Vermutungsregel gleichkommt. 836
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der darin besteht, dass der Unionsbürger von seiner Freizügigkeit Gebrauch gemacht hat. Liegt kein tatsächlicher Grenzübertritt vor, muss der betroffene Unionsbürger nachweisen, dass andere Elemente seines Sachverhalts einen tatsächlichen grenzüberschreitenden Bezug begründen. Bei minderjährigen Unionsbürgern, die (auch) eine andere Staatsangehörigkeit als diejenige ihres Aufenthaltsstaates besitzen, wird widerlegbar das Vorliegen eines grenzüberschreitenden Sachverhalts vermutet. 3. Kernbestand der Rechte, die der Unionsbürgerstatus verleiht In der jüngeren Rechtsprechung „verzichtete“ der EuGH in einer besonderen Sachverhaltskonstellation auf das Erfordernis eines grenzüberschreitenden Bezugs, um einen Unionsbürger in den Genuss von besonderen Rechten kommen zu lassen, die an den Unionsbürgerstatus geknüpft sind. In der Rechtssache „Ruiz Zambrano“ führte er den Topos des „Kernbestands der Rechte, die […] der Unionsbürgerstatus verleiht“ in die Dogmatik der Unionsbürgerschaft ein.838 Das Besondere an diesem Topos ist, dass er tatbestandlich keine tatsächliche Ausübung von Freizügigkeit und darüber hinaus überhaupt keinen grenzüberschreitenden Sachverhalt verlangt. In der Rechtssache „Ruiz Zambrano“ ging es streitgegenständlich um das Aufenthaltsrecht eines drittstaatsangehörigen Vaters zweier minderjähriger Unionsbürger mit der Staatsbürgerschaft ihres Aufenthaltsstaates, die von ihrer Freizügigkeit bislang noch keinen Gebrauch gemacht hatten. Der Sachverhalt grenzt sich von den oben genannten Rechtssachen „Garcia Avello“ und „Zhu und Chen“, in denen eine widerlegbare Vermutung für das Vorliegen eines grenzüberschreitenden Sachverhalts erkannt wurde, dadurch ab, dass die beiden minderjährigen Unionsbürger keine andere Staatsangehörigkeit als diejenige des Aufenthaltsstaates besaßen. In der Dogmatik der Marktgrundfreiheiten wäre dieser Fall mangels grenzüberschreitenden Bezugs als ein Fall der zulässigen Inländerdiskriminierung einzuordnen gewesen839 mit der Folge, dass der drittstaatsangehörige Vater sich nicht auf ein vom Aufenthaltsrecht der minderjährigen Unionsbürger ableitbares Aufenthaltsrecht hätte berufen können. Die Konsequenzen erkannte der EuGH deutlich: „Eine solche Aufenthaltsverweigerung hat nämlich zur Folge, dass sich die genannten Kinder – Unionsbürger – gezwungen sehen, das Gebiet der Union zu verlassen, um ihre Eltern zu begleiten. Ebenso besteht die Gefahr, dass eine solche Person, wenn ihr keine Arbeitserlaubnis erteilt wird, nicht über die für ihren Unterhalt und den ihrer Angehörigen erforderlichen Mittel verfügt, was ebenfalls zur Folge hätte, dass sich ihre Kinder – Unionsbürger – gezwungen sähen, das Hoheitsgebiet der Union zu verlassen.“840 838
EuGH, Rs. C-34/09, Ruiz Zambrano, Slg. 2011, I-1177 Rn. 42. So auch der Vortrag der Europäischen Kommission und der am Verfahren beteiligten Mitgliedstaaten: EuGH, Rs. C-34/09, Ruiz Zambrano, Slg. 2011, I-1177 Rn. 37. 840 EuGH, Rs. C-34/09, Ruiz Zambrano, Slg. 2011, I-1177 Rn. 44. 839
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Mit einem Zwang, das Unionsgebiet verlassen zu müssen, wäre es jedoch für die minderjährigen Unionsbürger unmöglich, irgendwelche Rechte aus ihrem Unionsbürgerstatus geltend zu machen. Zu diesen Rechten gehören nach dem EuGH auch der „Kernbestand der Rechte, die ihnen der Unionsbürgerstatus verleiht“. Er spezifiziert jedoch in seinem Urteil den Kernbestand der Unionsbürgerrechte nicht, sondern setzt ihre Existenz voraus.841 Geltend gemacht werden kann dieser Kernbestand der Unionsbürgerrechte nur auf dem Unionsgebiet, weshalb der faktische Zwang für einen Unionsbürger, das Unionsgebiet zu verlassen, gegen die Unionsbürgerschaft aus Art. 20 AEUV verstößt: „Unter diesen Umständen steht Art. 20 AEUV nationalen Maßnahmen entgegen, die bewirken, dass den Unionsbürgern der tatsächliche Genuss des Kernbestands der Rechte, die ihnen der Unionsbürgerstatus verleiht, verwehrt wird.“842
Der Verweis auf Art. 20 AEUV macht deutlich, wieso die sog. Kernbestandsrechtsprechung für die Dogmatik der Unionsbürgerfreizügigkeit keine weitere Bedeutung hat. Der Kernbestandsschutz wird nämlich nicht aus der Freizügigkeit in Art. 21 Abs. 1 AEUV, sondern aus der Unionsbürgerschaft selbst abgeleitet. Die Unionsbürgerfreizügigkeit aus Art. 21 Abs. 1 AEUV und der Kernbestandsschutz aus Art. 20 AEUV stehen nebeneinander.843 Deutlich wird dies, wenn der EuGH in der Rechtssache „McCarthy“ seine bisherige Rechtsprechung zur Unionsbürgerschaft dahingehend analysiert, dass „die in den Rechtssachen Ruiz Zambrano und Garcia Avello in Rede stehende nationale Maßnahme bewirkt, dass Unionsbürgern der tatsächliche Genuss des Kernbestands der durch diesen Status verliehenen Rechte verwehrt oder die Ausübung ihres Rechts, sich im Hoheitsgebiet der Mitgliedstaaten frei zu bewegen und aufzuhalten, behindert wurde.“844 Dabei geht Art. 21 Abs. 1 841 Der Verweis auf EuGH, Rs. C-135/08, Rottmann, Slg. 2010, I-1449 Rn. 42 führt nicht zu größerer Klarheit. Hier entschied der EuGH, „dass die Situation eines Unionsbürgers, gegen den wie gegen den Kläger des Ausgangsverfahrens eine Entscheidung der Behörden eines Mitgliedstaats über die Rücknahme seiner Einbürgerung ergangen ist, die ihn – nachdem er die Staatsangehörigkeit eines anderen Mitgliedstaats, die er ursprünglich besessen hatte, verloren hat – in eine Lage versetzt, die zum Verlust des durch Art. 17 EG verliehenen Status und der damit verbundenen Rechte führen kann, ihrem Wesen und ihren Folgen nach unter das Unionsrecht fällt.“ Ohne auf das Vorliegen eines grenzüberschreitenden Bezugs einzugehen, unterwirft der EuGH die Rücknahme der Einbürgerung des Betroffenen dem Unionsrecht. Graf Vitzthum hat hierzu treffend ausgeführt: „Die Rücknahme einer Einbürgerung liegt somit deswegen im sachlichen Anwendungsbereich des Unionsrechts, weil sie zum Verlust des Unionsbürgerstatus führen kann“ (EuR 2011, 550, 555). Welche Unionsbürgerrechte durch den mit der Ausbürgerung verbundenen Entzug der Unionsbürgerschaft verloren gehen, präzisiert der EuGH in der Rechtssache „Rottmann“ ebenfalls nicht. 842 EuGH, Rs. C-34/09, Ruiz Zambrano, Slg. 2011, I-1177 Rn. 42. 843 Wendel, in: EnzEuR Bd. 2, § 18 Rn. 114; Lenaerts, in: FS Lindh, S. 213, 230; Kochenov, 18 ColumJEurL (2011), 55, 86 f.; Nettesheim, JZ 2011, 1030, 1031. 844 EuGH, Rs. C-434/09, McCarthy, Slg. 2011, I-3375 Rn. 53; Hervorhebung durch den Verf.
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AEUV, wenn seine Voraussetzungen erfüllt sind, als speziellere Norm dem Art. 20 AEUV vor.845 Die Folgerechtsprechung versuchte zu präzisieren, unter welchen Voraussetzungen von einem durch tatsächlichen Zwang vermittelten Verzicht auf den Kernbestand der Rechte aus der Unionsbürgerschaft zu sprechen ist. Während der EuGH in der Rechtssache „Ruiz Zambrano“ einen solchen Zwang zum Verzicht bei der Ablehnung einer Aufenthalts- und Arbeitserlaubnis für ein drittstaatsangehöriges Elternteil minderjähriger Unionsbürger annahm, lehnte er ihn in der Rechtssache „McCarthy“ bei der Verweigerung eines Aufenthaltsrechts für einen drittstaatsangehörigen Ehemann ab. Die mit ihm verheiratete Unionsbürgerin sei nämlich hierdurch nicht verpflichtet, selbst das Hoheitsgebiet der Union zu verlassen.846 In negativer Abgrenzung zu „Ruiz Zambrano“ präzisierte der EuGH in der Rechtssache „Dereci“, dass „die bloße Tatsache, dass es für einen Staatsbürger eines Mitgliedstaats aus wirtschaftlichen Gründen oder zur Aufrechterhaltung der Familiengemeinschaft im Gebiet der Union wünschenswert erscheinen könnte, dass sich Familienangehörige, die nicht die Staatsbürgerschaft eines Mitgliedstaats besitzen, mit ihm zusammen im Gebiet der Union aufhalten können, für sich genommen nicht die Annahme [rechtfertigt], dass der Unionsbürger gezwungen wäre, das Gebiet der Union zu verlassen, wenn kein Aufenthaltsrecht gewährt würde.“847 Erforderlich ist vielmehr eine „rechtliche, finanzielle oder affektive“848 Abhängigkeit.849 Eine solche erkannte der EuGH in seiner Rechtsprechung nicht bei einem drittstaatsangehörigen Vater, dessen Ehefrau und Tochter, die beide Unionsbürger sind, sich in einem anderen Mitgliedstaat aufhalten als der Vater,850 bei einer drittstaatsangehörigen Personen, die für den Lebensunterhalt der Verwandten mit der Unionsbürgerschaft nicht aufkamen,851 oder bei den drittstaatsangehörigen Eltern und volljährigen drittstaatsangehörigen Geschwistern eines Unionsbürgers.852 Bei nicht sorgeberechtigten drittstaatsangehörigen Stiefvätern von Unionsbürgern, deren drittstaatsangehörige Mütter den Lebensunterhalt für die Kinder 845 Vgl. Schönberger, in: Grabitz/Hilf/Nettesheim, Art. 20 AEUV Rn. 56: „Der Sache nach tritt so neben die grenzüberschreitende Mobilitätsbürgerschaft eine ergänzende Sesshaftenbürgerschaft.“ Vgl. auch EuGH, Rs. C-133/15, Chavez-Vilchez, EU:C:2017:354, Rn. 57; Rs. C-165/14, Rendón Marín, EU:C:2016:675 Rn. 79, hier allerdings auf einen Test verweisend, der die Inanspruchnahme des Aufenthaltsrechts, das sich von der Unionsbürgerfreizügigkeit ableitet, davon abhängig macht, ob eine Integration in diesen Aufenthaltsstaat gelingen kann. 846 EuGH, Rs. C-434/09, McCarthy, Slg. 2011, I-3375 Rn. 50. 847 EuGH, Rs. C-256/11, Dereci, Slg. 2011, I-11315 Rn. 68. 848 EuGH, Rs. C-356/12, O. und S., EU:C:2012:776 Rn. 56. 849 Almhofer, NVwZ 2013, 1134, 1135 f. 850 EuGH, Rs. C-40/11, Iida, EU:C:2012:691. 851 EuGH, Rs. C-256/11, Dereci, Slg. 2011, I-11315 Rn. 32. 852 EuGH, Rs. C-87/12, Ymeraga, EU:C:2013:291.
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bestreiten, zweifelte der EuGH und überließ die konkrete Beurteilung den vorlegenden nationalen Gerichten.853 Das Vorhandensein eines sorgeberechtigten Elternteils mit Unionsbürgerschaft steht dabei nicht zwingend der Annahme eines Abhängigkeitsverhältnisses eines minderjährigen Unionsbürgers mit seinem anderen drittstaatsangehörigen Elternteil, wenn dies im Interesse des Kindeswohls ist.854 In dem Fall einer drittstaatsangehörigen alleinerziehenden Mutter von minderjährigen Unionsbürgern, die eine andere Staatsangehörigkeit als diejenige des Aufenthaltsstaats besitzen, ist nach dem EuGH der Kernbestand der Rechte aus der Unionsbürgerschaft nicht betroffen, da der drittstaatsangehörigen Mutter ein abgeleitetes Aufenthaltsrecht im Hoheitsgebiet des Mitgliedstaates der Staatsangehörigkeit der minderjährigen Unionsbürger zusteht.855 Hiernach wird deutlich, dass für die Annahme einer Betroffenheit des Kernbestandes der Rechte der Unionsbürgerschaft aus Art. 20 AEUV bei einem Unionsbürger, der bisher nicht von seiner Freizügigkeit Gebrauch gemacht und dessen Situation darüber hinaus keine weiteren grenzüberschreitenden Bezüge aufweist, hohe Hürden aufgestellt sind. Die künftige Inanspruchnahme dieser Unionsbürgerrechte muss durch die mitgliedstaatliche Maßnahme rechtlich („Rottmann“) oder tatsächlich („Ruiz Zambrano“) verwehrt werden. Letzteres kann nur angenommen werden, wenn durch die mitgliedstaatliche Maßnahme ein tatsächlicher Zwang auf den Unionsbürger ausgeübt wird, das Unionsgebiet zu verlassen. Dies kann im Verhältnis zu drittstaatsangehörigen Personen, denen der Aufenthalt im Unionsgebiet verweigert wird, bei Bestehen einer rechtlichen, finanziellen oder affektiven Abhängigkeit angenommen werden. Eine Absenkung des Abhängigkeitskriteriums auf das Wünschenswerte aufgrund des Grund- und Menschenrechts auf Achtung des Privat- und Familienlebens (Art. 7 GRCh, Art. 9 GRCh oder Art. 8 EMRK) kommt nicht in Betracht, da nach Art. 51 Abs. 1 GRCh die Unionsgrundrechte erst zur Anwendung gelangen, wenn der Anwendungsbereich der Verträge im Sinne der „Akerberg“Rechtsprechung des EuGH856 anderweitig eröffnet ist. Da das Bestehen einer rechtlichen, finanziellen oder affektiven Abhängigkeit eines Unionsbürgers von dem Drittstaatsangehörigen die notwendige Voraussetzung dafür ist, damit mitgliedstaatliche Maßnahmen gegen diesen Drittstaatsangehörigen die künftige Inanspruchnahme von Rechten des Unionsbürgers aus dem Kernbestand der Unionsbürgerschaft verwehren können, und damit die Voraussetzung für die anderweitige Eröffnung des Anwendungsbereichs der Verträge im Sinne des Art. 51 Abs. 1 GRCh ist, kann die Grundrechtecharta nicht schon auf die 853
EuGH, Rs. C-356/12, O. und S., EU:C:2012:776. EuGH, Rs. C-133/15, Chavez-Vilchez, EU:C:2017:354, Rn. 68 ff. 855 EuGH, Rs. C-86/12, Alokpa, EU:C:2013:645; Rs. C-165/14, Rendón Marín, EU:C:2016:675 Rn. 79. 856 EuGH, Rs. C-617/10, Akerberg Fransson, EU:C:2013:105. Siehe dazu auch oben S. 152 ff. 854
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4. Kapitel: Einwirkungen des Primärrechts in das autonome IPR
Kriterienbildung für die autonome Anwendungsbereichseröffnung einwirken.857 Die Kernbestandsrechtsprechung des EuGH hat subjektive Rechte auf Grundlage der Unionsbürgerschaft geschaffen, ohne dass es eines grenzüberschreitenden Bezugs bedarf. Diese für die Dogmatik der Marktgrundfreiheiten und der Unionsbürgerfreizügigkeit auf den ersten Blick revolutionäre Rechtsprechung hat bei näherem Betrachten keine Auswirkungen auf ihre Dogmatik. Zum einen greift die Kernbestandsrechtsprechung immer erst dann, wenn eine Verletzung der Unionsbürgerfreizügigkeit am fehlenden grenzüberschreitenden Bezug scheitert. Sie ist damit nicht geeignet, die Unionsbürgerfreizügigkeit auszudehnen. Darüber hinaus sind die von der Kernbestandsrechtsprechung erfassten Fallgruppen äußerst eng gezogen, so dass diese Rechtsprechung in der Praxis nur geringe Bedeutung entwickeln wird. 4. Mangelnde Eignung aufgrund fehlender Kausalität Versteht man die Unionsbürgerfreizügigkeit als ein Beschränkungsverbot, das all diejenigen Maßnahmen erfasst, die die Ausübung des grenzüberschreitenden Freizügigkeitsrechts für Unionsbürger weniger attraktiv machen, so kollidiert die Unionsbürgerfreizügigkeit mit der grundsätzlichen Fortexistenz der divergierenden mitgliedstaatlichen Rechtsordnungen in dem gleichen Maße, wie man es bei den Marktgrundfreiheiten kennt. Einerseits entsteht aus der schlichten Unterschiedlichkeit der mitgliedstaatlichen Rechtsordnungen nicht per se eine Beschränkung. Andererseits ist der Begriff der Beschränkung so weit, dass er theoretisch sämtliche mitgliedstaatlichen Regelungen erfassen kann. Die gemeinsame Ausrichtung der Unionsbürgerfreizügigkeit und der Verkehrsfreiheiten der natürlichen Personen auf die Herstellung des freien Personenverkehrs in der EU nach Art. 3 Abs. 2 EUV und Art. 26 Abs. 2 AEUV legt eine Übertragung der Lösungsansätze nahe, die zum Austarieren des Verhältnisses von weitem Beschränkungsbegriff einerseits und der Fortexistenz der divergierenden mitgliedstaatlichen Rechtsordnungen anderseits gefunden wurde.858 Das grundfreiheitliche Grundverständnis verlangt dabei als Ausgangspunkt aller Überlegungen, dass ein unionsweit einheitlich geltender Regelungsstandard nur vom Unionsgesetzgeber im Wege des Sekundärrechts geschaffen werden kann. Das Beschränkungsverbot kann daher nur punktuell im Hinblick auf den konkreten grenzüberschreitenden Sachverhalt eingreifen. Dies verlangt auch, dass die mitgliedstaatliche Regelung für die Behinderung der Freizügigkeit oder des Aufenthaltsrechts ursächlich ist. Entsprechend der 857 EuGH, Rs. C-256/11, Dereci, Slg. 2011, I-11315 Rn. 71. Zustimmend Thym, NVwZ 2013, 103, 104; Schönberger, in: Grabitz/Hilf/Nettesheim, Art. 20 AEUV Rn. 58; a.A. von Bogdandy et al., ZaöRV 72 (2012), 45, 65. 858 Vgl. Wollenschläger, Grundfreiheit ohne Markt, S. 306 f.
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für die Feststellung dieses Kausalzusammenhangs bei den marktgrundfreiheitlichen Personenverkehrsfreiheiten gefundenen Formel sind, wenn man diese Formel auf die Unionsbürgerfreizügigkeit überträgt, von dieser jene Freizügigkeitsbehinderungen erfasst, die aus der Sicht eines optimalen Beobachters im allgemeinen und nicht nur unter besonders eigenartigen, unwahrscheinlichen und nach dem gewöhnlichen Verlauf der Dinge außer Betracht zu lassenden Umständen geeignet sind, den grenzüberschreitenden Personenverkehr zu behindern, und damit nicht zu ungewiss und zu mittelbar sind, um die Freizügigkeit und das Recht auf Aufenthalt zu beeinträchtigen. Der EuGH zitierte die Formel von der „zu ungewissen und zu mittelbaren“ Wirkung einer mitgliedstaatlichen Regelung bereits in Urteilen zur Unionsbürgerfreizügigkeit, ohne dass die Formel allerdings tragend gewesen wäre.859 In der Rechtssache „Iida“, in der es um das Aufenthaltsrecht eines Drittstaatsangehörigen in einem anderen Mitgliedstaat als demjenigen seiner Ehefrau und seiner Tochter ging, hielt der EuGH sowohl „die rein hypothetische Aussicht auf die Ausübung des Rechts auf Freizügigkeit“ als auch „die rein hypothetische Aussicht einer Beeinträchtigung dieses Rechts“ für nicht ausreichend, um einen Bezug zum Unionsrecht herzustellen, „der eng genug wäre, um die Anwendung der Unionsbestimmungen zu rechtfertigen“.860 Zwar verfügte der betroffene Drittstaatsangehörige nicht über ein unionsrechtliches Aufenthaltsrecht. Dennoch konnten die Personen, von denen er ein unionsrechtliches Aufenthaltsrecht hätte ableiten können, seine Ehefrau und seine Tochter, von einem Mitgliedstaat problemlos in einen anderen Mitgliedstaat wegziehen. Damit berührte die Nichtexistenz eines unionsrechtlichen Aufenthaltsrecht für den drittstaatsangehörigen Ehemann und Vater die Ausübung des Unionsbürgerfreizügigkeitsrechts der Ehefrau und der Tochter offensichtlich nicht. Mithin konnte sich der drittstaatsangehörige Betroffene nicht auf eine Verletzung des Unionsbürgerfreizügigkeitsrechts der Ehefrau und der Tochter berufen. Wie bei den Verkehrsfreiheiten der natürlichen Personen enthält auch die Unionsbürgerfreizügigkeit mithin ein Kausalitätserfordernis im Sinne der Adäquanz.861
859
EuGH, verb. Rs. C-11/06 und C-12/06, Morgan und Bucher, Slg. 2007, I-9161 Rn 32; Rs. C-275/12, Elrick, EU:C:2013:684 Rn 29. Angedacht bereits bei GA Geelhoed, SchlA Rs. C-403/03, Schempp, Slg. 2005, I-6421 Nr. 14. 860 EuGH, Rs. C-40/11, Iida, EU:C:2012:691 Rn. 77 mit Verweis auf EuGH, Rs. C-299/95, Kremzow, Slg. 1997, I-2629 Rn. 16. 861 Ebenso Wollenschläger, ZEuS 2009, 1, 43 f.; Nic Shuibhne, in: Barnard/Odudu, The Outer Limits of European Union Law, S. 167, 179 f.; Wendel, EnzEuR Bd. 2, § 18 Rn. 81
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4. Kapitel: Einwirkungen des Primärrechts in das autonome IPR
5. Herausnahme von Beschränkungen, die den Zugang zum Hoheitsgebiet nicht versperren Abschließend ist die Frage aufzuwerfen, ob es über das Kausalitätserfordernis hinaus weitergehende Verengungen der Reichweite des Gewährleistungsgehalts der Unionsbürgerfreizügigkeit gibt. Vorschläge hierzu wurden zahlreich entwickelt. Diesem Anliegen wollte etwa die gleichheitsrechtliche Sichtweise der Unionsbürgerfreizügigkeit gerecht werden, wonach all jene Beschränkungen, bei denen keine Benachteiligung des grenzüberschreitenden Sachverhalts gegenüber dem internen Sachverhalt vorliegt, vom Tatbestand der Unionsbürgerfreizügigkeit auszuscheiden waren.862 Diese Sichtweise wurde jedoch bereits weiter oben abgelehnt.863 Weiter wurden eine Spürbarkeit der Beeinträchtigung,864 die Feststellung eines direkten Bezugs zur Freizügigkeit,865 die Notwendigkeit eines „qualifizierten Näheverhältnisses inhaltlicher, räumlicher oder zeitlicher Art“ von mitgliedstaatlicher Maßnahme und Freizügigkeitsausübung,866 eine „streng freizügigkeitsorientierte Konturierung“867 oder eine Unterscheidung von Kern- und Begleitbereichen868 vorgeschlagen. Gegen die Spürbarkeit sprechen bereits die Gründe, die für eine Ablehnung dieser Einschränkungsmöglichkeit bei den Grundfreiheiten gesprochen haben.869 Der EuGH hat das Spürbarkeitskriterium mit einem Verweis auf die subjektive Relativität dessen, was man unter Spürbarkeit versteht, und auf die damit einhergehende Rechtsunsicherheit abgelehnt. Die beschränkenden Wirkungen beispielsweise einer finanziellen Förderung sind „insbesondere für diejenigen, die über die geringsten finanziellen Mittel verfügen, auch nicht zu ungewiss oder zu unbedeutend“.870 Nähekriterien zeitlicher Art wurden vom EuGH verworfen871 und entsprechen auch nicht dem auf ein zeitliches Dauerverhältnis ausgerichteten Aufenthaltsrecht eines Unionsbürgers mit einer anderen Staatsangehörigkeit als derjenigen seines Aufenthaltsstaates. Nähekriterien räumlicher Art führen nur zu geringfügigen Einschränkungen, da sie höchstens auf das Hoheitsgebiet eines Mitgliedstaates reduziert werden können.872 Schließlich 862
Kubicki, EuR 2006, 489, 508 f.; Kingreen, EuR-Beiheft 1/2007, 43, 55. Siehe oben S. 264 ff. 864 GA Alber, SchlA Rs. C-92/01, Stylianakis, Slg. 2003, I-1291 Nr. 39. 865 Ziekow, in: Dörr Symposium für Randelzhofer, S. 101, 106 f. 866 Bode, Europarechtliche Gleichbehandlungsansprüche Studierender, S. 244. 867 Wollenschläger, Grundfreiheit ohne Markt, S. 307 868 Bode, Europarechtliche Gleichbehandlungsansprüche Studierender, S. 245 f. 869 Siehe oben S. 186 f. 870 EuGH, verb. Rs. C-11/06 und C-12/06, Morgan und Bucher, Slg. 2007, I-9161 Rn. 32. 871 EuGH, Rs. C-224/98, D’Hoop, Slg. 2002, I-6191 (der grenzüberschreitende Sachverhalt war fünf Jahre vor dem Eintritt der Beschränkung abgeschlossen); Rs. C-499/06, Nerkowska, Slg. 2008, I-3993 (Berufung auf die Unionsbürgerfreizügigkeit über 20 Jahre nach der Wohnsitznahme in einem anderen Mitgliedstaat). 872 Vgl. Rabenschlag, Leitbilder der Unionsbürgerschaft, S. 201. 863
C. Vorgaben der Unionsbürgerfreizügigkeit
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beinhalten Nähekriterien inhaltlicher Art wie auch eine streng freizügigkeitsorientierte Konturierung keine subsumtionsfähigen Kriterien, anhand derer man vom Tatbestand der Unionsbürgerfreizügigkeit erfasste Maßnahmen von solchen unterscheiden könnte, die nicht erfasst sind.873 Das Namensrecht beispielsweise erscheint auf den ersten Blick als weniger freizügigkeitsrelevant, als es der EuGH schließlich eingeordnet hat. Dennoch muss sich auch die Unionsbürgerfreizügigkeit, wenn sie als freiheitsrechtliches Beschränkungsverbot zu verstehen ist, der Herausforderung stellen, die die Marktgrundfreiheiten zu meistern hatten. Der weite Beschränkungsbegriff führt nämlich dazu, dass praktisch sämtliche mitgliedstaatlichen Regelungen der Unionsbürgerfreizügigkeit und damit dem unionalen Verhältnismäßigkeitsgrundsatz unterworfen sind.874 Die Unionsbürgerfreizügigkeit würde sich so zu einem Art. 2 Abs. 1 GG des Unionsrechts, zu einem „Auffanggrundrecht des Gemeinschaftsrechts“,875 entwickeln. Dies widerspricht allerdings der vom Unionsrecht hinzunehmenden Fortexistenz mitgliedstaatlicher Rechtsordnungen und ihrer Divergenz. Alleine aus der Unterschiedlichkeit der mitgliedstaatlichen Rechtsordnungen kann bei der Unionsbürgerfreizügigkeit wie bei den Marktgrundfreiheiten keine Freizügigkeitsbehinderung entstehen. Dieser Herausforderung wandte sich der EuGH bei der Warenverkehrsfreiheit in der Rechtssache „Keck“ zu. Sie beschäftigte ihn aber auch bei der Unionsbürgerfreizügigkeit, auch wenn dies mit weniger Aufmerksamkeit begleitet wurde als bei dem Urteil in der Rechtssache „Keck“. In seiner Rechtsprechung zur fehlenden Tatbestandsmäßigkeit einer Maßnahme bei der Unionsbürgerfreizügigkeit hat der EuGH neben dem fehlenden grenzüberschreitenden Element („McCarthy“) und der fehlenden Kausalität der Maßnahme für eine Freizügigkeitsbeeinträchtigung („Iida“) eine dritte Kategorie von Maßnahmen aufgestellt, die im Ergebnis die Unionsbürgerfreizügigkeit nicht beschränken. Es handelt sich dabei um Maßnahmen, die keine „schwerwiegenden Nachteile“ für den Betroffenen begründen.876 Tragend geworden ist diese Kategorie in Form des Fehlens schwerwiegender Nachteile bislang allerdings nur in der Rechtssache „Runevič-Vardyn“. In dieser Rechtssache ging es um die Transkription von Namen. Die Rechtssache betraf dabei drei verschiedene Fälle: Im ersten Fall ging es um die Transkription des Vorund Mädchennamens einer litauischen Staatsangehörigen, die als Angehörige der polnischen Minderheit einen polnischen Vor- und Mädchennamen trägt, in einer litauischen Geburts- und Heiratsurkunde („Małgorzata Runiewicz“ in 873
Vgl. Rabenschlag, Leitbilder der Unionsbürgerschaft, S. 202. Wollenschläger, Grundfreiheit ohne Markt, S. 301 f.; Nettesheim, Grundfreiheiten und Grundrechte, S. 46 f.; Spaventa, CMLR 41 (2004), 473, 765. 875 Füßer, DÖV 1999, 96, 97. 876 EuGH, Rs. C-148/02, Garcia Avello, Slg. 2003, I-11613 Rn. 36; Rs. C-353/06, Grunkin-Paul, Slg. 2008, I-7639 Rn. 23 ff.; Rs. C-208/09, Sayn-Wittgenstein, Slg. 2010, I-13693 Rn. 67, 69 f.; Rs. C-391/09, Runevič-Vardyn, Slg. 2011, I-3787 Rn. 76. 874
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4. Kapitel: Einwirkungen des Primärrechts in das autonome IPR
„Malgožata Runevič“). Im zweiten Fall ging es um die Transkription des Nachnamens des polnischen Ehemanns dieser litauischen Staatsbürgerin in der litauischen Heiratsurkunde („Wardyn“ in „Vardyn“). Im dritten Fall ging es um die Transkription des Vornamens des polnischen Ehemanns in der litauischen Heiratsurkunde („Łukasz Paweł“ in „Lukasz Pawel“). Hinsichtlich des letzten Falles, in dem die diakritischen Zeichen weggelassen wurden, entschied der EuGH: „Diakritische Zeichen werden jedoch oft […] bei vielen Handlungen des täglichen Lebens aus technischen Gründen, wie z. B. objektiven Zwängen bestimmter Informatiksysteme, weggelassen. Außerdem kennt eine Person, die keine Fremdsprache beherrscht, die Bedeutung diakritischer Zeichen oftmals nicht und bemerkt sie nicht einmal. Es ist daher wenig wahrscheinlich, dass dem Betroffenen allein durch das Weglassen dieser Zeichen tatsächliche und schwerwiegende Nachteile im Sinne der in RandNr. 76 des vorliegenden Urteils angeführten Rechtsprechung erwachsen können, die geeignet sind, Zweifel an seiner Identität und an der Echtheit der von ihm vorgelegten Dokumente oder an der Wahrheitsgemäßheit der darin enthaltenen Angaben zu wecken.“877
Mithin sieht der EuGH beim Weglassen diakritischer Zeichen die Schwelle zum schwerwiegenden Nachteil als noch nicht überschritten an, während er einen derartigen Nachteil bei der Transkription des Nachnamens „Wardyn“ in „Vardyn“ erkennt. Die konkrete Feststellung des schwerwiegenden Nachteils überlässt der EuGH jedoch dem vorlegenden Gericht.878 Die Ablehnung belgischer Behörden, bei belgisch-spanischen Doppelstaatsangehörigen den nach belgischem Namensrecht gebildeten Nachnamen „Garcia Avello“ in den nach spanischem Namensrecht gebildeten Nachnamen „Garcia Weber“ zu ändern,879 die Ablehnung deutscher Behörden, bei einem in Dänemark geborenen deutschen Staatsangehörigen den nach deutschem Namensrecht gebildeten Nachnamen in den nach dänischem Namensrecht gebildeten und dort eingetragenen Nachnamen „Grunkin-Paul“ zu ändern,880 sowie die Streichung des Adelsprädikats „Fürstin von“ in dem österreichischen Geburtenbucheintrag der österreichischen Staatsangehörigen Ilonka Fürstin von Sayn-Wittgenstein881 waren allesamt dazu geeignet, „schwerwiegende Nachteile beruflicher wie auch privater Art“ zu begründen. Diese Nachteile bestanden für den EuGH in den genannten Rechtssachen in dem „Zweifel an der Identität der Person, der Echtheit der vorgewiesenen Dokumente oder der Wahrheitsgemäßheit der darin enthaltenen Angaben“.
877
EuGH, Rs. C-391/09, Runevič-Vardyn, Slg. 2011, I-3787 Rn. 81. EuGH, Rs. C-391/09, Runevič-Vardyn, Slg. 2011, I-3787 Rn. 77 f. 879 EuGH, Rs. C-148/02, Garcia Avello, Slg. 2003, I-11613; im Detail dazu unter S. 406 ff. 880 EuGH, Rs. C-353/06, Grunkin-Paul, Slg. 2008, I-7639; im Detail dazu unter S. 413 ff. 881 EuGH, Rs. C-208/09, Sayn-Wittgenstein, Slg. 2010, I-13693; im Detail dazu unter S. 429 ff. 878
C. Vorgaben der Unionsbürgerfreizügigkeit
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Betrachtet man sich diese Rechtsprechungslinie mit ein wenig mehr Abstand, so erkennt man die folgenden Elemente. Erstens sind von dieser Fallgruppe Sachverhalte erfasst, die untrennbar mit der von der Unionsbürgerfreizügigkeit geschützten Person verbunden sind. Der Name einer Person ist Identitätsmerkmal dieser Person. Zweitens wird die Bedeutung des Sachverhalts (der Schweregrad) vom Verkehr bestimmt. Der Zweifel an der Echtheit von Dokumenten oder an der Wahrheitsgemäßheit der darin enthaltenen Angaben begründet den Nachteil. Dieser Zweifel entsteht nicht bei der betroffenen Person, sondern bei denjenigen, mit denen diese Person im Austausch steht. Ist demnach die mitgliedstaatliche Maßnahme nicht geeignet, den Verkehr zu Lasten des betroffenen Unionsbürgers zu beeinflussen (wie bei dem Weglassen diakritischer Zeichen), liegt kein schwerwiegender Nachteil vor, selbst wenn das subjektive Empfinden des betroffenen Unionsbürgers etwas anderes aussagt (diakritische Zeichen, insbesondere wenn sie in der Heimatsprache des betroffenen Unionsbürgers einzigartig sind, können etwas Identitätsstiftendes für den betroffenen Unionsbürger haben). Abstrahiert man diese Elemente weiter, so erkennt man, dass sich die von der Rechtsprechungslinie erfassten Sachverhalte dadurch auszeichnen, dass einer Eigenschaft, die untrennbar mit einer Person verbunden ist, der Zugang zum Hoheitsgebiet eines Mitgliedstaats versperrt wird. Die Rechtsordnung des Mitgliedstaates erlaubt zwar der Person den physischen Zugang. Sie verweigert aber den uneingeschränkten Zugang der Person mit all ihren Eigenschaften, wozu der Name gehört, den diese Person führt. Diese Problematik erinnert an die Rechtsprechung des EuGH zur Anerkennung von Qualifikationsnachweisen bei der Arbeitnehmerfreizügigkeit.882 Qualifikationsnachweise verbriefen die beruflichen Fähigkeiten einer Person. Diese Fähigkeiten sind höchstpersönlich und damit untrennbar mit der Person verbunden. In den Fällen vor dem EuGH wurde den Arbeitnehmern physisch der Zugang zum Arbeitsmarkt eines Mitgliedstaates gewährt. Ihre Fähigkeiten durften den Arbeitsmarkt jedoch nicht betreten, da die Nachweise, die diese Fähigkeiten verbriefen, in dem Mitgliedstaat nicht anerkannt wurden. Stattdessen mussten die bereits erworbenen Fähigkeiten im Inland einer erneuten „Ausbildung“ unterworfen werden. Der EuGH prüfte diese Nichtbeachtung der Fähigkeiten des Arbeitnehmers zutreffenderweise am Beschränkungsverbot der Arbeitnehmerfreizügigkeit. Im Hinblick auf die vom Unionsbürger angebotene Arbeitskraft kommt nämlich die Zugangsverweigerung für den Qualifikationsnachweis einer Zugangssperre für den Arbeitnehmer gleich, da die Fähigkeiten untrennbar mit der Person des Arbeitnehmers verbunden sind. Die Zugangssperre konnte dabei nur dadurch überwunden werden, dass die bereits erworbenen Fähigkeiten erneut nach den Vorgaben der inländischen Rechtsordnung 882
EuGH, Rs. C-234/97, Bobadilla, Slg. 1999, I-4773 Rn. 29 ff.; Rs. C-238/98, Hocsman, Slg. 2000, I-6623 Rn. 23 ff.
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4. Kapitel: Einwirkungen des Primärrechts in das autonome IPR
„auszubilden“ waren, was eine rechtfertigungsbedürftige Mehrfachbelastung und damit eine Beschränkung der Arbeitnehmerfreizügigkeit begründete. Steht der Person des Arbeitnehmers als solche („tel quel“) mit all ihren Fähigkeiten der Zugang zum Arbeitsmarkt eines Mitgliedstaates offen, können Regelungen dieses Mitgliedstaates dennoch die Ausübung der Arbeitnehmerfreizügigkeit weniger attraktiv machen. Solche Unannehmlichkeiten resultieren aus dem vom Unionsrecht zu tolerierenden Fortbestehen divergierender mitgliedstaatlicher Rechtsordnungen. Der EuGH prüft jedoch solche nichtdiskriminierenden Unannehmlichkeiten am Maßstab der Arbeitnehmerfreizügigkeit, die in ihrer Wirkung einer Marktzugangssperre gleich oder nahe kommen. Diese marktzugangsversperrende Wirkung wird dabei von der Marktgegenseite her beurteilt, im Falle der Arbeitnehmerfreizügigkeit also von Seiten eines möglichen Arbeitgebers.883 Deutlich wurde dies bei einem Vergleich der beiden scheinbar widersprüchlichen EuGH-Urteile zur Zulassungssteuer von Autos. Während in der Rechtssache „Kommission/Dänemark“884 die Zulassungssteuer von im Ausland zugelassenen Firmenwägen vom Arbeitgeber zu zahlen gewesen war und damit ein Einstellungshindernis begründete, musste die Zulassungssteuer in der Rechtssache „Weigel“885 von jedermann, der in Österreich seinen Wohnsitz innehat oder einnimmt, geleistet werden und begründete damit für einen österreichischen Arbeitgeber kein Einstellungshindernis, so dass diese Zulassungssteuer für den Arbeitnehmer zwar unangenehm, aber nicht marktversperrend wirkte.886 Einen ähnlichen Weg scheint der EuGH in der Rechtssache „RunevičVardyn“ zu gehen, in der er in der Transkription des Nachnamens „Wardyn“ in „Vardyn“ eine Gefahr für Zweifel an der Identität des Namensträgers beim Verkehr ausmacht, während er diese Zweifel beim Weglassen diakritischer Zeichen nicht erkennt. Analysiert man diesen Weg anhand der gerade dargelegten Beschränkungsprüfung des EuGH bei der marktgrundfreiheitlichen Personenfreizügigkeit, wird deutlich, dass der EuGH in der Sache in dem Urteil in der Rechtssache „Runevič-Vardyn“ diese Beschränkungsprüfung auf die allgemeine Personenfreizügigkeit der Unionsbürger übertragen hat. So begründet die Zugangssperre für einen Namen, der mit einer Person untrennbar verbunden ist, grundsätzlich eine rechtfertigungsbedürftige Zugangssperre für den Unionsbürger. Dabei bedarf es bei der Nichtbeachtung der Namensführung des Unionsbürgers eigentlich keiner weiteren Prüfung mehr, ob die Zweifel des Verkehrs einer Zugangssperre für den Unionsbürger gleich oder nahe kommen. Als untrennbar mit der Person verbundene Eigenschaft kommt die Zugangssperre für den vom Unionsbürger geführten Namen einer Zugangssperre für 883
Vgl. dazu oben S. 224 ff. EuGH, Rs. C-464/02, Kommission/Dänemark, Slg. 2005, I-7929. 885 EuGH, Rs. C-387/01, Weigel, Slg. 2004, I-4981. 886 Siehe dazu oben S. 226. 884
C. Vorgaben der Unionsbürgerfreizügigkeit
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den namensführenden Unionsbürger gleich, auch wenn ihm physisch der Zugang nicht verweigert wird. Dasselbe gilt für anders zusammengesetzte Nachnamen („Garcia Weber“), Doppelnamen („Grunkin-Paul“) oder Adelsprädikate („Gräfin von“), die vom Namensinhaber tatsächlich geführt werden und daher untrennbar mit ihm als Person verbunden sind. Beim Wegfall der diakritischen Zeichen bleibt der Name als solcher unverändert, lediglich die in der Herkunftssprache des Namens in Form diakritischer Zeichen zum Ausdruck gebrachte Aussprache oder Betonung findet sich im leicht veränderten Schriftbild nicht mehr wieder. Dadurch wird allerdings weder dem Namen noch dem namensführenden Unionsbürger der Zugang zum Hoheitsgebiet des transkribierenden Mitgliedstaates verweigert. Vielmehr handelt es sich hierbei um eine Unannehmlichkeit, deren zugangsversperrende Wirkung vom Verkehr zu beurteilen ist. Hier erkennt der EuGH zutreffenderweise eine geringe bis nicht vorhandene Zweifelsanfälligkeit des transkribierten Namens, da diakritische Zeichen „bei vielen Handlungen des täglichen Lebens aus technischen Gründen, wie z. B. objektiven Zwängen bestimmter Informatiksysteme, weggelassen [werden]. Außerdem kennt eine Person, die keine Fremdsprache beherrscht, die Bedeutung diakritischer Zeichen oftmals nicht und bemerkt sie nicht einmal.“887 Der EuGH unterscheidet demnach unter Anwendung des Kriteriums des „schwerwiegenden Nachteils“ in der Rechtssache „RunevičVardyn“ zwischen Beschränkungen, die den Zugang des Unionsbürgers zum Hoheitsgebiet eines Mitgliedstaates derart behindern, dass sie gegenüber der Unionsbürgerfreizügigkeit rechtfertigungsbedürftig sind, und solchen, die vom Tatbestand der Unionsbürgerfreizügigkeit nicht mehr erfasst sind. Vor diesem Hintergrund spricht einiges dafür, dass der EuGH mit dem „schwerwiegenden Nachteil“ ein Kriterium schaffen wollte, anhand dessen er bestimmte Sachverhalte bereits aus dem Tatbestand der Unionsbürgerfreizügigkeit herausnimmt. Das Kriterium verfolgt damit ein Anliegen, das der EuGH in der Warenverkehrsfreiheit mit dem Urteil in der Rechtssache „Keck“ in die Dogmatik der Marktgrundfreiheiten einführte. Weder unmittelbar noch mittelbar diskriminierende interne Regulierung, die den Zugang zum Hoheitsgebiet eines Mitgliedstaates weder versperrt noch so stark beschränkt, das sie in ihrer Wirkung einer Zugangssperre nahekommt, ist vom Tatbestand der Unionsbürgerfreizügigkeit nicht erfasst. Die zugangsversperrende Wirkung ist dabei vom Verkehr her zu bestimmen. Ähnlich dem Urteil in der Rechtssache „Kommission/Italien“888 in der Warenverkehrsfreiheit ist eine Regelung, die zwar den Zugang zum Hoheitsgebiet eines Mitgliedstaats zulässt, die jedoch den Aufenthalt im Hoheitsgebiet – im Fall der Warenverkehrsfreiheit den späteren Absatz der Ware oder ihre Verwendung – aus Sicht des Verkehrs in dem Mitgliedstaat – im Fall der Warenverkehrsfreiheit aus Sicht der Käufer einer 887 888
EuGH, Rs. C-391/09, Runevič-Vardyn, Slg. 2011, I-3787 Rn. 81. EuGH, Rs. C-110/05, Kommission/Italien, Slg. 2009, I-519.
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4. Kapitel: Einwirkungen des Primärrechts in das autonome IPR
Ware – derart einschränkt, dass der barrierefreie Zugang faktisch (nahezu) versperrt wird, eine rechtfertigungsbedürftige Beschränkung der Freizügigkeit. Nicht verwechselt werden darf die Fallgruppe der „schwerwiegenden Nachteile“ mit der mangelnden Kausalität einer Maßnahme für die Beschränkung der Unionsbürgerfreizügigkeit, weil deren Wirkung „zu ungewiss und zu mittelbar“ ist.889 Einen schwerwiegenden Nachteil kann eine Maßnahme nur begründen, wenn sie grundsätzlich geeignet ist, die Freizügigkeit des Unionsbürgers zu behindern. Insoweit sind die Kausalität und die Feststellung eines „schwerwiegenden Nachteils“ zwei voneinander zu trennende Schritte. Eindeutig ist dies, wenn man die Fallgruppe der „schwerwiegenden Nachteile“ wie hier als die Übersetzung der Herausnahme bestimmter Maßnahmen aus dem Tatbestand einer Grundfreiheit aus der Dogmatik der Marktgrundfreiheiten in die Dogmatik der Unionsbürgerfreizügigkeit versteht. In der Dogmatik der Marktgrundfreiheiten werden diese beiden Prüfungsschritte als voneinander getrennte Schritte betrachtet. Somit reiht sich die Rechtsprechung zu den „schwerwiegenden Nachteilen“ in die aus den Marktgrundfreiheiten bekannte Dogmatik ein. Sie stellt mit dem „schwerwiegenden Nachteil“ ein Kriterium auf, dessen Funktion die Herausnahme von Maßnahmen aus dem Tatbestand der Unionsbürgerfreizügigkeit ist, die adäquat kausal für eine Beschränkung der Freizügigkeit des Unionsbürgers sind. Das Kriterium dient der Gewährleistung des behinderungsfreien Zugangs des Unionsbürgers zum Hoheitsgebiet des Mitgliedstaats, indem es Maßnahmen erfasst, die zwar dem physischen Zugang des Unionsbürgers zum Hoheitsgebiet eines Mitgliedstaaten nachgelagert sind, aber den Aufenthalt im Hoheitsgebiet derart beschränken, dass sie in ihrer Wirkung einer Zugangssperre nahekommen.890 V. Zusammenfassung: Dogmatik der Unionsbürgerfreizügigkeit Die Unionsbürgerschaft, die mit dem Vertrag von Maastricht in das Gemeinschaftsrecht eingeführt wurde, beinhaltet neben dem aktiven und passiven Wahlrecht bei Kommunal- und Europawahlen sowie dem Anspruch auf diplomatischen und konsularischen Schutz durch andere EU-Mitgliedstaaten als dem Staat der Staatsangehörigkeit im Wesentlichen zwei subjektive Rechte, die unmittelbar anwendbare Vorgaben an die mitgliedstaatlichen Rechtsordnungen stellen: Dies ist zum einen der Kernbestand der Rechte, die sich aus dem Unionsbürgerstatus ableiten (Art. 20 AEUV), und zum anderen das Freizügigkeitsrecht aus Art. 21 Abs. 1 AEUV. Der Kernbestand der Rechte, die sich aus dem Unionsbürgerstatus ableiten, ist subsidiär zum Freizügigkeitsrecht aus Art. 21 Abs. 1 AEUV. Er ist damit 889
So allerdings Horsley, ELRev 37 (2012), 734, 749. Eine ähnliche Einordnung in den „negative scope of free movement law“ nimmt Nic Shuibhne, The Coherence of EU Free Movement Law, S. 168 f., 255 ff. vor. 890
C. Vorgaben der Unionsbürgerfreizügigkeit
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immer dann relevant, wenn das Freizügigkeitsrecht keine subjektiven Rechte verleiht. Dies ist insbesondere bei einem fehlenden grenzüberschreitenden Sachverhalt der Fall. Ein Unionsbürger kann sich dann auf den Kernbestand der Rechte, die der Unionsbürgerstatus verleiht, gegenüber einer mitgliedstaatlichen Rechtsordnung berufen, wenn die künftige Inanspruchnahme von Unionsbürgerrechten rechtlich oder tatsächlich verunmöglicht wird. Ersteres tritt bei dem Entzug der für den Unionsbürgerstatus notwendigen Staatsangehörigkeit eines EU-Mitgliedstaates ein. Letzteres ist anzunehmen, wenn der Unionsbürger durch die mitgliedstaatliche Maßnahme dazu gezwungen wird, das Unionsgebiet als Ganzes zu verlassen. Ein derartiger Zwang entsteht bei aufenthaltsbeendenden Maßnahmen gegenüber einem Drittstaatsangehörigen, mit dem der Unionsbürger in einem rechtlichen, finanziellen oder affektiven Abhängigkeitsverhältnis steht. Zur Bestimmung dieses Abhängigkeitsverhältnisses ist dabei nicht auf Unionsgrundrechte abzustellen. Andernfalls würde Art. 51 Abs. 1 GRCh unterlaufen, wonach zur Eröffnung des Anwendungsbereichs der EU-Grundrechtecharta für die Mitgliedstaaten der Anwendungsbereich der Unionsverträge anderweitig eröffnet sein muss. Wenn nun die Grundrechtecharta dazu herangezogen wird, den Anwendungsbereich des Kernbereichs der Rechte zu bestimmen, die der Unionsbürgerstatus verleiht, dann würden die Unionsgrundrechte aus der Grundrechtecharta ihren Anwendungsbereich eigenständig eröffnen. Dies ist von der GRCh jedoch ausdrücklich nicht gewollt. Damit hat der Kernbestand der Rechte, die der Unionsbürgerstatus verleiht, einen sehr engen Anwendungsbereich. Die Unionsbürgerfreizügigkeit in Art. 21 Abs. 1 AEUV greift deutlich tiefer in die mitgliedstaatlichen Rechtsordnungen ein. Sie setzt sich aus einem Verbot von Diskriminierungen aus Gründen der Staatsangehörigkeit und einem Beschränkungsverbot zusammen. Entgegen der früheren Rechtsprechung des EuGH, die ein unmittelbar anwendbares Diskriminierungsverbot aus Art. 18 Abs. 1 AEUV in Verbindung mit der Unionsbürgerschaft herleitete, handelt es sich bei dem Diskriminierungsverbot der Unionsbürgerfreizügigkeit um ein eigenständiges, aus Art. 21 Abs. 1 AEUV ableitbares und damit Art. 18 Abs. 1 AEUV vorgehendes besonderes Diskriminierungsverbot. Die frühere Rechtsprechung war damit zu begründen, dass der Unionsbürgerfreizügigkeit zunächst keine unmittelbare Anwendbarkeit zugesprochen wurde. Mithin konnten subjektive Rechte für wirtschaftlich inaktive Unionsbürger nur durch das Diskriminierungsverbot aus Art. 18 Abs. 1 AEUV mit einer Anwendungsbereichseröffnung der Verträge durch die Unionsbürgerschaft begründet werden. Mit der Anerkennung der unmittelbaren Anwendbarkeit des Art. 21 Abs. 1 AEUV ist dieser Grund entfallen. Eine dennoch fortbestehende Stützung des Diskriminierungsverbots auf Art. 18 Abs. 1 AEUV wäre damit gleichbedeutend mit einer Verkürzung des Schutzbereichs von Art. 21 Abs. 1 AEUV durch das besondere Konnexitätserfordernis bei Art. 18 Abs. 1 AEUV. Es wurde al-
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4. Kapitel: Einwirkungen des Primärrechts in das autonome IPR
lerdings dargelegt, dass es eines derartigen Konnexitätserfordernisses nicht bedarf und sich ein solches auch nicht aus dem telos der Unionsbürgerfreizügigkeit ableiten lässt. Neben das eigenständige Diskriminierungsverbot tritt in Art. 21 Abs. 1 AEUV das Beschränkungsverbot, das unterschiedslos anwendbare Maßnahmen erfasst. Das Beschränkungsverbot besteht aus einem Verbot der Mehrfachbelastung und einem Verbot der Zugangssperre zum Hoheitsgebiet der EU-Mitgliedstaaten. Die Unionsbürgerfreizügigkeit folgt damit dogmatisch den Marktgrundfreiheiten. Eine Zugangssperre ist dabei immer dann anzunehmen, wenn es sich um Maßnahmen handelt, die „schwerwiegende Nachteile“ für den Betroffenen begründen. Diese Nachteile sind solcher Art, dass sie zwar dem physischen Zugang des Unionsbürgers nicht entgegenstehen, jedoch den Zugang von untrennbar mit dem Unionsbürger verbundenen Eigenschaften verhindern. In der Rechtsprechung ist dies bei Familiennamen von Unionsbürgern angenommen worden, deren Nichtanerkennung durch den Zuzugsstaat „Zweifel an der Identität der Person“ hervorrufen. Somit begründet der Zweifel den Nachteil. Diese Argumentationsfigur ist aus der Dogmatik der Marktgrundfreiheiten bekannt, in der die Marktzugangssperre, sofern sie nicht durch Mehrfachbelastungen begründet ist, von der Marktgegenseite her zu bestimmen ist. Unterschiedslos anwendbare Maßnahmen, die auch nicht mittelbar diskriminieren, sind dann von den Marktgrundfreiheiten erfasst, wenn die dem physischen Marktzugang nachgelagerte Verwendbarkeit oder Einsetzbarkeit aus der Sicht der Marktgegenseite so gering ist, dass der physische Marktzugang bedeutungslos ist und die Maßnahme damit einer Zugangssperre in ihrer Wirkung gleichkommt. Dieser Kerngedanke der „Keck“-Rechtsprechung findet sich auch in der Dogmatik der Unionsbürgerfreizügigkeit wieder, wonach jene unterschiedslos anwendbaren Maßnahmen, die keine schwerwiegenden Nachteile für den Betroffenen begründen, keine Beschränkungen der Unionsbürgerfreizügigkeit sind. Tragend wurde diese Argumentation bei der Transkription von Namen durch Weglassen diakritischer Zeichen. Beschränkungen der Unionsbürgerfreizügigkeit unterliegen schließlich nur dann Art. 21 Abs. 1 AEUV, wenn sie aus der Sicht eines optimalen Beobachters im allgemeinen und nicht nur unter besonders eigenartigen, unwahrscheinlichen und nach dem gewöhnlichen Verlauf der Dinge außer Betracht zu lassenden Umständen geeignet sind, die innerunionale Freizügigkeit zu behindern. Damit folgt das Diskriminierungs- und Beschränkungsverbot der Unionsbürgerfreizügigkeit dogmatisch den Marktgrundfreiheiten. Die Unionsbürgerfreizügigkeit begründet so eine „Grundfreiheit ohne Markt“, deren sachlicher
D. Schutzbereichsverstärkung durch Unionsgrundrechte
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Anwendungsbereich über die von den Marktgrundfreiheiten geschützte wirtschaftliche Tätigkeit hinaus auch die Freizügigkeit der Unionsbürger aus nichtökonomischen Gründen schützt.891
D. Schutzbereichsverstärkung durch Unionsgrundrechte D. Schutzbereichsverstärkung durch Unionsgrundrechte
Die subjektiven Rechte in der EU-Grundrechtecharta können freiheitsrechtliche Vorgaben für die mitgliedstaatlichen Rechtsordnungen beinhalten, die im Kollisionsfall kraft Anwendungsvorrangs zur Unanwendbarkeit entgegenstehenden nationalen Rechts führen. Zu diesem Kollisionsfall kann es allerdings nur kommen, wenn sich die entgegenstehende Norm im Anwendungsbereich der EU-Grundrechtecharta befindet. Art. 51 Abs. 1 GRCh stellt klar, dass die EU-Grundrechtecharta keinen eigenständigen Anwendungsbereich gegenüber den Mitgliedstaaten hat. Ihre Anwendbarkeit bedarf vielmehr der Anwendungsbereichseröffnung einer anderen Unionsrechtsnorm. Eine solche andere Unionsrechtsnorm kann nach dem Wortlaut des Art. 51 Abs. 1 S. 1 GRCh eine Sekundärrechtsnorm und nach der Rechtsprechung des EuGH892 jede unmittelbar anwendbare Primärrechtsnorm sein. Mithin kommt einem Grundrecht der EU-Grundrechtecharta nur dann eine eigenständige Bedeutung zu, wenn ihr Schutzgehalt über denjenigen einer anderweitig unmittelbar anwendbaren Primärrechtsnorm hinausgeht. Dabei hat der EuGH in seinem Urteil in der Rechtssache „Carpenter“ erstmals den Schutzbereich einer Grundfreiheit durch ein Unionsgrundrecht verstärkt.893 In dieser Rechtssache ging es um eine Ausweisung, die Großbritannien gegenüber der Drittstaatsangehörigen Mary Carpenter verfügt hatte. Diese war mit dem britischen Staatsangehörigen Peter Carpenter verheiratet. Sie betreute die Kinder ihres Ehemannes und führte den Haushalt. Der Ehemann verkaufte und betreute Werbeflächen, die zu einem erheblichen Teil von Kunden mit Sitz in anderen EU-Mitgliedstaaten genutzt wurden. Der EuGH entschied, dass Art. 56 AEUV „im Licht des Grundrechts auf Achtung des Familienlebens dahin auszulegen [ist], dass er es in einer Situation wie der des Ausgangsverfahrens verbietet, dass der Herkunftsmitgliedstaat eines in diesem Staat ansässigen Dienstleistungserbringers, der Dienstleistungen für in anderen Mitgliedstaaten ansässige Empfänger erbringt, dessen Ehegatten, der Staatsangehöriger eines Drittstaats ist, den Aufenthalt in seinem Hoheitsgebiet verwehrt.“ Die Argumentation des EuGH baut darauf auf, dass der Ehemann eine von Art. 56 891
Aus diesem Grund sind im Folgenden, wenn auf die „Grundfreiheiten“ verwiesen wird, immer die Marktgrundfreiheiten und die Unionsbürgerfreizügigkeit gemeint. 892 EuGH, Rs. C-617/10, Akerberg Fransson, EU:C:2013:105, Rn. 21; siehe auch oben S. 152 ff. 893 EuGH, Rs. C-60/00, Carpenter, Slg. 2002, I-6279.
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4. Kapitel: Einwirkungen des Primärrechts in das autonome IPR
AEUV erfasste wirtschaftliche Tätigkeit ausübt,894 auf die sich die erzwungene Trennung von seiner Ehefrau aufgrund der negativen Folgen für das Familienleben des Herrn Carpenter nachteilig auswirken würde.895 Der EuGH prüft allerdings, nachdem er einen möglichen Eingriff in die Dienstleistungsfreiheit festgestellt hat, nicht mehr eine Rechtfertigung dieses Eingriffs, sondern wendet sich vielmehr einer Rechtfertigungsprüfung für einen Eingriff in das Recht auf Achtung des Familienlebens im Sinne des Art. 8 EMRK zu.896 Da dieser Eingriff nach Ansicht des EuGH von Großbritannien nicht gerechtfertigt werden kann, liegt auch eine Verletzung der Dienstleistungsfreiheit „im Licht des Grundrechts auf Achtung des Familienlebens“ vor. Diese Entscheidung ist sehr kontrovers aufgenommen worden.897 Sie stellt sich selbst in eine Reihe mit den klassischen Urteilen des EuGH zur Wirkung von Gemeinschaftsgrundrechten bei einem mitgliedstaatlichen Eingriff in Grundfreiheiten wie den Urteilen in den Rechtssachen „ERT“ 898 und „Familiapress“.899 Der Unterschied zu diesen Rechtssachen ist jedoch, dass der EuGH die Gemeinschaftsgrundrechte in diesen als „Schranken-Schranke“ innerhalb der Verhältnismäßigkeitsprüfung bei der Rechtfertigung des Grundfreiheitenverstoßes prüfte, während in der Rechtssache „Carpenter“ offenbleibt, ob überhaupt ein Grundfreiheitenverstoß vorliegt.900 Dieser Unterschied ist relevant. Weiter oben wurde bereits ausgeführt, dass eine Anwendungsbereichsberührung anderer Unionsvorschriften nicht ausreichend ist, um den Anwendungsbereich der EU-Grundrechtecharta nach Art. 51 Abs. 1 GRCh und der allgemeinen Grundsätze des Unionsrechts im Sinne des Art. 6 Abs. 3 EUV zu eröffnen.901 Eine nichtdiskriminierende Maßnahme, die den Marktzugang nicht behindert, kann nicht deshalb in den Anwendungsbereich der Verträge fallen, weil sie ein EU-Grundrecht verletzt. Eine solche Ansicht kehrt das Verhältnis von Grundfreiheit und EU-Grundrecht in sein Gegenteil um. Erst die positive Eröffnung des Anwendungsbereichs der Grundfreiheit ermöglicht die Anwendbarkeit der EU-Grundrechte. Liegt allerdings eine Anwendungsbereichseröffnung der Grundfreiheiten vor, so kann der Schutzbereich der Grundfreiheiten über Art. 6 Abs. 1 EUV in Verbindung mit Art. 51 Abs. 1 GRCh und über Art. 6 Abs. 3 EUV in Verbin-
894
EuGH, Rs. C-60/00, Carpenter, Slg. 2002, I-6279 Rn. 29 f. EuGH, Rs. C-60/00, Carpenter, Slg. 2002, I-6279 Rn. 39. 896 EuGH, Rs. C-60/00, Carpenter, Slg. 2002, I-6279 Rn. 41 ff. 897 Siehe nur die Kritik bei Mager, JZ 2003, 204 ff.; Britz, NVwZ 2004, 173, 176 f. 898 EuGH, Rs. C-260/89, ERT, Slg. 1991, I-2925 Rn. 43. 899 EuGH, Rs. C-368/95, Familiapress, Slg. 1997, I-3689 Rn. 24. 900 Diesen bezweifelt bspw. von Papp, Die Integrationswirkung von Grundrechten in der Europäischen Gemeinschaft, S. 147 ff. 901 Siehe oben S. 149 f. 895
E. Zwischenergebnis
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dung mit der EMRK mit unionsgrundrechtlichen Schutzgehalten verstärkt werden.902 Es macht nämlich im Hinblick auf die Anwendbarkeit eines Unionsgrundrechts keinen Unterschied, ob es erst am Ende der Verhältnismäßigkeitsprüfung als „Schranken-Schranke“, als Rechtfertigungsgrund oder als Schutzbereichsverstärkung der Grundfreiheit zum Tragen kommt.903 Wie weitreichend diese Schutzbereichsverstärkung durch die Unionsgrundrechte ist, hängt stark von dem einzelnen Unionsgrundrecht selbst ab. Vorliegend kann dies nicht im Detail ausgeführt werden. Es soll lediglich auf die entsprechenden Kommentierungen verwiesen werden.904 Eine nur geringe Schutzbereichsverstärkung ist von denjenigen Unionsgrundrechten zu erwarten, deren sachlicher Anwendungsbereich sich größtenteils mit den Grundfreiheiten und der Unionsbürgerfreizügigkeit deckt. Aufgrund des weiten Gewährleistungsgehalts der Grundfreiheiten und der Unionsbürgerfreizügigkeit kommt diesen Unionsgrundrechten eine nur geringe eigenständige Bedeutung zu.905 Größere Bedeutung kommt den Unionsgrundrechten zu, die über die Grundfreiheiten und die Unionsbürgerfreizügigkeit hinausgehende Schutzbereiche haben. Hervorzuheben ist hier insbesondere das Recht auf Achtung des Privat- und Familienlebens in Art. 7 GRCh. Diese Schutzbereiche zeichnet der im Vergleich zu den Grundfreiheiten und der Unionsbürgerfreizügigkeit stärkere personale Gehalt aus.906 Aus dieser Schutzbereichsverstärkung folgt nicht nur eine Ausweitung der negativen Integration in Form von Abwehrrechten des Einzelnen gegenüber den Mitgliedstaaten. Die Unionsgrundrechte begründen auch Handlungspflichten für die Mitgliedstaaten im Sinne der sog. „positive obligations“, deren konkreter Inhalt von dem jeweiligen Unionsgrundrecht abhängt.907
E. Zwischenergebnis E. Zwischenergebnis
Das unmittelbar anwendbare, privatrechtsrelevante Primärrecht stellt gleichheits- wie freiheitsrechtliche Vorgaben an die mitgliedstaatlichen Rechtsord-
902 Schindler, Die Kollision von Grundfreiheiten und Gemeinschaftsgrundrechten, S. 141; Forsthoff, in: Grabitz/Hilf/Nettesheim, Art. 45 AEUV Rn. 341 ff. 903 Schindler, Die Kollision von Grundfreiheiten und Gemeinschaftsgrundrechten, S. 141 f. 904 Meyer, Charta der Grundrechte der Europäischen Union, 4. Aufl. 2014; Jarass, Charta der Grundrechte der Europäischen Union, 3. Aufl. 2016; Stern/Sachs, Europäische Grundrechte-Charta, 2016. 905 Müller-Graff, in: Streinz, Art. 52 AEUV Rn. 20. 906 Forsthoff, in: Grabitz/Hilf/Nettesheim, Art. 45 AEUV Rn. 346. 907 Siehe dazu Cremer, in: EnzEuR Bd. 2, § 1 Rn. 77 ff. mit einer Typisierung der „positive obligations“ in der GRCh.
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4. Kapitel: Einwirkungen des Primärrechts in das autonome IPR
nungen auf. Ist das Rechtsanwendungsergebnis der mitgliedstaatlichen Privatrechtsnormen mit den gleichheits- oder freiheitsrechtlichen Vorgaben unvereinbar, beruft der unionsrechtliche Anwendungsvorrang die unmittelbar anwendbare Primärrechtsnorm zur Anwendung und ordnet die Unanwendbarkeit der mitgliedstaatlichen Privatrechtsnorm an. Dabei stellen die unmittelbar anwendbaren Primärrechtsnormen an die mitgliedstaatlichen Rechtsordnungen lediglich Ergebnisvorgaben („obligations de résultat“), die darin bestehen, Ungleichbehandlungen oder Beschränkungen der jeweils erfassten Schutzgüter zu untersagen. Führt damit die Unanwendbarkeit der mitgliedstaatlichen Privatrechtsnorm nunmehr zur Lückenhaftigkeit der Privatrechtsordnung, müssen die mitgliedstaatlichen Gerichte die Lücke mit den Mitteln der eigenen Methodenlehre schließen. Bei der unionsrechtskonformen Rechtsfortbildung infolge unmittelbar anwendbarer Primärrechtsnormen kommen bis zur „contra legem“-Grenze die Vorgaben derjenigen Primärrechtsnormen zum Tragen, die selbst nicht unmittelbar anwendbar sind. Konkret ließen sich bei einer näheren Untersuchung die folgenden Vorgaben des Primärrechts an die mitgliedstaatlichen Rechtsordnungen herausdestillieren: 1. Ungleichbehandlungen vergleichbarer Sachverhalte sind vorbehaltlich einer objektiven Rechtfertigung verboten. Die Feststellung der Vergleichbarkeit mindestens zweier nicht nur hypothetisch bestehender Sachverhalte erfolgt im Hinblick auf die Norm, deren Anwendung die Ungleichbehandlung zur Folge hat. Die Norm legt die Merkmale fest, anhand derer die Vergleichsgruppen zu bilden sind. Unterscheiden sich die Sachverhalte in diesen Merkmalen nicht, obwohl die Norm ihrer Wirkung nach die Sachverhalte ungleichbehandelt, liegt eine Ungleichbehandlung vor, die sich grundsätzlich gegenüber den unionsrechtlichen Gleichheitssätzen rechtfertigen muss. Die Besonderheiten des Einzelfalls werden auf der Rechtfertigungsebene im Rahmen der Verhältnismäßigkeitsprüfung gewürdigt. a) Ungleichbehandlungen aus Gründen der Staatsangehörigkeit sind vorbehaltlich einer Rechtfertigung bei der grenzüberschreitenden Freizügigkeit von Arbeitnehmern (Art. 45 AEUV), bei der grenzüberschreitenden Niederlassung von Selbstständigen (Art. 49 AEUV), beim grenzüberschreitenden Dienstleistungsverkehr in der Person des Dienstleistungserbringers bzw. des Dienstleistungsempfängers (Art. 56 AEUV), beim grenzüberschreitenden Kapitalverkehr in der Person des Kapitalgebers bzw. des Kapitalnehmers (Art. 63 AEUV) sowie bei der grenzüberschreitenden Freizügigkeit von Unionsbürgern (Art. 21 AEUV) untersagt. aa) Diese Ungleichbehandlungen umfassen solche Maßnahmen, deren Tatbestand nach dem verbotenen Differenzierungsmerkmal der Staatsangehörigkeit ausdrücklich unterscheidet.
E. Zwischenergebnis
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bb) Diese Ungleichbehandlungen umfassen auch solche Maßnahmen, die zwar in ihrem Tatbestand nicht nach dem verbotenen Differenzierungsmerkmal unterscheiden, jedoch in ihrer Wirkung einer tatbestandlichen Differenzierung gleichkommen (mittelbare Diskriminierung). Eine solche Wirkung ist anzunehmen, wenn ein Sachverhalt gegenüber einem vergleichbaren Sachverhalt faktisch-quantitativ benachteiligt wird. Ausreichend ist, dass normativ die Eignung einer Maßnahme, diskriminierende Wirkungen zu erzeugen festgestellt wird. Dafür genügt es, dass eine Maßnahme geeignet ist, Ausländer von der Inanspruchnahme ihrer Unionsrechte abzuhalten. b) Ungleichbehandlungen aus Gründen der Herkunft einer Ware beim grenzüberschreitenden Warenverkehr (Art. 34 AEUV, Art. 110 AEUV) oder der Herkunft einer Dienstleistung beim grenzüberschreitenden Dienstleistungsverkehr (Art. 56 AEUV) sind vorbehaltlich einer Rechtfertigung untersagt. Erfasst sind hiervon sowohl unmittelbare als auch mittelbare Diskriminierungen. c) Ungleichbehandlungen aus Gründen des Geschlechts in Entgeltfragen (Art. 157 AEUV), beim Zugang zu Beschäftigung, Berufsbildung und zum beruflichen Aufstieg sowie bei Arbeitsbedingungen (Richtlinie 76/207/EWG) und beim Zugang zu und bei der Versorgung mit Gütern und Dienstleistungen (Richtlinie 2004/113/EG) sind vorbehaltlich einer Rechtfertigung untersagt. Erfasst sind hiervon sowohl unmittelbare als auch mittelbare Diskriminierungen. Die sekundärrechtlichen Diskriminierungsverbote sind dabei erst mit Ablauf der Umsetzungsfrist der Richtlinien unmittelbar anwendbar. d) Ungleichbehandlungen aus Gründen der Rasse und ethnischen Herkunft (Richtlinie 2000/43/EG) sowie aus Gründen der Religion, der Weltanschauung, der Behinderung, des Alters und der sexuellen Ausrichtung bei Beschäftigung und Beruf (Richtlinie 2000/78/EG) sind untersagt. Erfasst sind hiervon sowohl unmittelbare als auch mittelbare Diskriminierungen, wobei nur letztere mit einem sachlichen Grund rechtfertigbar sind. Die sekundärrechtlichen Diskriminierungsverbote sind erst mit Ablauf der Umsetzungsfrist der Richtlinien unmittelbar anwendbar. e) Ungleichbehandlungen aus anderen Gründen und Ungleichbehandlungen, die nicht in den sachlichen Anwendungsbereich der aufgezählten besonderen unionsrechtlichen Gleichheitssätze fallen, unterliegen nicht aus sich heraus dem Unionsrecht. Es bedarf vielmehr einer anderweitigen Eröffnung des Anwendungsbereichs der Verträge, so dass die Ungleichbehandlung zugleich von einer anderen Unionsrechtsnorm als dem einschlägigen unionsrechtlichen Gleichheitssatz erfasst sein muss.
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4. Kapitel: Einwirkungen des Primärrechts in das autonome IPR
aa) Ungleichbehandlungen aus Gründen der Staatsangehörigkeit (Art. 18 Abs. 1 AEUV), die nicht von a) erfasst sind, sind bei der Durchführung von Unionsrecht (bspw. bei der Richtlinienumsetzung), im Anwendungsbereich der Grundfreiheiten bei mangelnder Kausalität für einen Grundfreiheiteneingriff sowie im Anwendungsbereich von ausschließlichen oder geteilten Unionszuständigkeiten vorbehaltlich einer objektiven Rechtfertigung untersagt. Erfasst sind hiervon sowohl unmittelbare als auch mittelbare Diskriminierungen. bb) Ungleichbehandlungen, die, soweit sie nicht von b) bis d) erfasst sind, unter die besonderen Diskriminierungsverbote der GRCh bzw. unter den allgemeinen unionsrechtlichen Gleichheitssatz fallen, sind bei der Durchführung von Unionsrecht (bspw. bei der Richtlinienumsetzung) oder im Anwendungsbereich der Grundfreiheiten vorbehaltlich einer objektiven Rechtfertigung untersagt. cc) Ungleichbehandlungen, die als unterschiedslos anwendbare Maßnahmen im Sinne der Marktgrundfreiheiten und der Unionsbürgerfreizügigkeit nicht in deren Anwendungsbereich fallen, weil sie ohne Mehrfachbelastungen zu begründen, den Marktzugang oder den Zugang zum Hoheitsgebiet eines EU-Mitgliedstaates nicht versperren, unterliegen, soweit sie nicht von b) bis d) oder von aa) und bb) erfasst sind, mangels Anwendungsbereichseröffnung der Marktgrundfreiheiten oder der Unionsbürgerfreizügigkeit nicht den unionsrechtlichen Gleichheitssätzen. 2. Gleichbehandlungen nicht vergleichbarer Sachverhalte sind ungeachtet der möglichen Verwirklichung verbotener Differenzierungsmerkmale nicht von den unionsrechtlichen Diskriminierungsverboten erfasst. Vorbehaltlich einer möglichen Einordnung als Beschränkung der Grundfreiheiten unterliegen sie dem allgemeinen unionsrechtlichen Gleichheitssatz in den unter 1. e) bb) genannten Grenzen. Die Diskriminierungsverbote sind auf die Erreichung von Statusgleichheit ausgerichtet. Die Rechtsfolge einer von einem unionsrechtlichen Diskriminierungsverbot ausgesprochenen Ungleichbehandlung verträgt sich daher nicht mit ihrem Sinn und Zweck. 3. Unterschiedslos anwendbare Maßnahmen, die nicht wie eine Diskriminierung aus Gründen der Staatsangehörigkeit oder der Herkunft wirken, können vorbehaltlich einer Rechtfertigung aus zwingenden Erfordernissen des Allgemeinwohls mit unmittelbar anwendbaren Primärrechtsnormen unvereinbar sein, wenn sie den grenzüberschreitenden Personenverkehr von Unionsbürgern (Art. 21 Abs. 1 AEUV), den grenzüberschreitenden Warenverkehr (Art. 34 und Art. 35 AEUV), den grenzüberschreitenden Personenverkehr von Arbeitnehmern (Art. 45 AEUV), die grenzüberschreitende Niederlassung von Selbstständigen (Art. 49 AEUV), den grenzüberschreitenden Dienstleistungsverkehr
E. Zwischenergebnis
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(Art. 56 AEUV) oder den grenzüberschreitenden Kapitalverkehr (Art. 63 AEUV) beschränken. a) Die Maßnahmen müssen aus der Sicht eines optimalen Beobachters im allgemeinen und nicht nur unter besonders eigenartigen, unwahrscheinlichen und nach dem gewöhnlichen Verlauf der Dinge außer Betracht zu lassenden Umständen geeignet sein, den innerunionalen Handel oder Personenverkehr zu behindern, um eine Beschränkung der Grundfreiheiten zu begründen. b) Beschränkungen der Grundfreiheiten sind vorbehaltlich einer einzelfallbedingten Rechtfertigung Mehrfachbelastungen in Form einer mehrfachen Anwendung von Regelungen unterschiedlicher mitgliedstaatlicher Rechtsordnungen, die denselben Regelungsgegenstand haben und mithin funktionsäquivalent sind. Dabei ist diejenige Regelung, die die Mehrfachbelastung begründet, gegenüber der Grundfreiheit zu rechtfertigen. Dies kann sowohl eine Norm der Bestimmungs- als auch der Herkunftsrechtsordnung sein. Die Grundfreiheiten geben keine Vorgaben, welcher dieser Rechtsordnungen die Mehrfachbelastung entspringt. c) Beschränkungen der Grundfreiheiten sind vorbehaltlich einer einzelfallbedingten Rechtfertigung ferner Zugangssperren, die nicht auf Mehrfachbelastungen zurückgeführt werden können. Hierbei handelt es sich um Maßnahmen, die den Zugang zum Hoheitsgebiet bzw. zum Markt eines Mitgliedstaates versperren oder eine zugangsversperrende Wirkung haben. Eine zugangsversperrende Wirkung liegt vor, wenn ein Produkt den Markt eines Mitgliedstaates zwar betreten darf, jedoch die dem Marktzutritt nachgelagerte Nutzbarkeit des Produkts oder seine Vermarktung derart eingeschränkt ist, dass die Marktgegenseite ein so geringes Interesse an dem Produkt hat, dass die mit dem Produkt verbundene wirtschaftliche Tätigkeit effektiv nicht ausgeübt werden kann. Bei Personen liegt eine zugangsversperrende Wirkung vor, wenn zwar die Person selbst, nicht jedoch eine mit ihr untrennbar verbundene Eigenschaft das Hoheitsgebiet eines Mitgliedstaats betreten darf und damit der Person als solcher („tel quel“) der Zugang verweigert wird. Dabei wird die Bedeutung der Eigenschaft nicht von der betroffenen Person, sondern vom Verkehr bestimmt. d) Beschränkungen der Grundfreiheiten sind vorbehaltlich einer einzelfallbedingten Rechtfertigung schließlich Austrittssperren, mit denen einem Produkt oder einer Person der Marktaustritt bzw. der Wegzug aus dem Herkunftsstaat versperrt wird, oder Maßnahmen, die wie eine Austrittssperre wirken.
Kapitel 4
Einwirkungen des Primärrechts in das autonome IPR Ein Konflikt zwischen einer mitgliedstaatlichen Rechtsnorm und einer unmittelbar anwendbaren Unionsrechtsnorm entsteht, wenn die Rechtsfolgen der mitgliedstaatlichen Rechtsnorm mit den Vorgaben der unmittelbar anwendbaren Unionsrechtsnorm nicht im Einklang stehen. Lässt sich ein Einklang nicht im Wege der unionsrechtskonformen Auslegung der mitgliedstaatlichen Rechtsnorm erreichen, ordnet der unionsrechtliche Anwendungsvorrang die Unanwendbarkeit der mitgliedstaatlichen Rechtsnorm an, an deren Stelle sich der Normbefehl der unmittelbar anwendbaren Unionsrechtsnorm setzt. Erschöpft sich der Normbefehl der Unionsrechtsnorm in der Untersagung der von der mitgliedstaatlichen Rechtsnorm ausgehenden Ungleichbehandlung oder Beschränkung, führt der Anwendungsvorrang zunächst zu einer Lücke in der mitgliedstaatlichen Rechtsordnung, die das mitgliedstaatliche Gericht mit den Instrumenten der eigenen Methodenlehre zu schließen suchen muss. Dabei sind bei einer unionsrechtskonformen Rechtsfortbildung bis zur „contra legem“Grenze, die dort zu ziehen ist, wo der nationale Gesetzgeber willentlich Normen erlassen hat, deren Rechtsfolgen im Widerspruch zu den unionsrechtlichen Handlungsaufträgen stehen, auch die Vorgaben von Unionsrechtsnormen, die nicht unmittelbar anwendbar sind, zu beachten. Nachdem nunmehr die Wirkungsweise des Anwendungsvorrangs und die Vorgaben des Unionsrechts an die mitgliedstaatlichen Rechtsordnungen abstrakt-theoretisch herausgearbeitet worden sind, ist im nächsten Schritt die konkrete Wirkungsweise des Anwendungsvorrangs und der hierdurch in die mitgliedstaatlichen Rechtsordnungen getragenen Vorgaben des Unionsrechts im autonomen mitgliedstaatlichen IPR näher zu betrachten. Dabei soll vorweg die Frage behandelt werden, ob das Kollisionsrecht überhaupt Gegenstand der Kontrolle durch die unmittelbar anwendbaren unionsrechtlichen Gleichheitssätze und die Grundfreiheiten ist (A.). Anschließend sollen zwei Teilrechtsgebiete des IPR näher im Hinblick auf die Wirkungsweise des unionsrechtlichen Anwendungsvorrangs untersucht werden. Dabei werden das Internationale Gesellschaftsrecht (B.) und das Internationale Namensrecht (C.) ausgewählt. Diese Auswahl liegt zum einen darin begründet, dass diese Teilrechtsgebiete stellvertretend die gesamte Bandbreite von wirtschaftlichen und nicht-
A. Kollisionsrecht als Gegenstand der Kontrolle durch EU-Primärrecht
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wirtschaftlichen Aktivitäten abdecken, die durch die unionsrechtlichen Gleichheitssätze und die Grundfreiheiten geschützt werden. Zum anderen liegt für beide Teilrechtsgebiete eine umfangreiche Rechtsprechung des EuGH vor, die es ermöglicht, die Wirkungsweise des Anwendungsvorrangs anhand konkreter Urteile und Einzelfälle zu untersuchen. Die Betrachtungen beider Teilrechtsgebiete soll eine verallgemeinerungsfähige Aussage über die Wirkungsweise des unionsrechtlichen Anwendungsvorrangs im autonomen mitgliedstaatlichen IPR ermöglichen (D.).
A. Kollisionsrecht als Gegenstand der Kontrolle durch die unionsrechtlichen Gleichheitssätze und die Grundfreiheiten A. Kollisionsrecht als Gegenstand der Kontrolle durch EU-Primärrecht
Eine Kollisionsnorm unterliegt als Norm einer nationalen Rechtsordnung grundsätzlich wie jede andere nationale Rechtsnorm den Anforderungen des Unionsrechts. Aus der Zuordnung einer Norm zu einem bestimmten Rechtsgebiet wie etwa dem IPR ergibt sich keine Unanwendbarkeit der Grundfreiheiten oder des Diskriminierungsverbots. Dennoch argumentierte eine Auffassung, dass das Kollisionsrecht als „bloßes Rechtsanwendungsrecht“ das primäre Unionsrecht nicht verletzen könne.1 Sanktioniert werde durch das primäre Unionsrecht nicht die kollisionsrechtliche Verweisung auf ein bestimmtes Sachrecht, sondern die diskriminierende oder beschränkende Anwendung dieses Sachrechts. Das auf einen grenzüberschreitenden Sachverhalt anzuwendende Sachrecht stehe aber erst nach der kollisionsrechtlichen Verweisungsentscheidung fest, weshalb das IPR dem primären Unionsrecht vorgelagert und mithin der Kontrolle durch das primäre Unionsrecht entzogen sei.2 Diese Auffassung trägt nicht in ausreichendem Maße der Tatsache Rechnung, dass eine diskriminierende oder beschränkende Sachnorm ohne den kollisionsrechtlichen räumlichen Anwendungsbefehl gar nicht erst auf den grenzüberschreitenden Sachverhalt angewandt würde. Art. 3 EGBGB macht für den deutschen Rechtsanwender deutlich, dass er „bei Sachverhalten mit einer Verbindung zu einem ausländischen Staat“ zunächst das deutsche IPR anzuwenden hat. Daher erscheint es gekünstelt, die Vereinbarkeit des auf den grenzüberschreitenden Sachverhalt angewandten Rechtssatzes losgelöst von seinem räumlichen Anwendungsbefehl zu prüfen. Das Kollisionsrecht kann nämlich auch eine Ursache für die diskriminierende oder beschränkende Wirkung der
1 Rohe, RabelsZ 61 (1997), 1, 58 f.; Franzen, Privatrechtsangleichung, S. 145 f.; Duintjer Tebbens, RCDIP 86 (1994), 451, 481; Sonnenberger, ZVglRWiss 95 (1996), 3, 22. 2 Franzen, Privatrechtsangleichung, S. 145.
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aus der Kollisionsnorm und Sachnorm gebildeten Gesamtnorm sein.3 Von der Frage des Gegenstands der Unionsrechtskontrolle zu trennen ist die Frage nach der Art und Weise, wie die Unionsrechtskonformität im Falle einer Verletzung herzustellen ist. Das Unionsrecht legt den Mitgliedstaaten im Falle der negativen Integration lediglich eine Ergebnispflicht auf, bei der die Art und Weise, wie ihr Genüge geleistet wird, im Ermessen der Mitgliedstaaten liegt und deren Erfüllung damit auch mit Mitteln des Kollisionsrechts erfolgen kann.4 Bilden daher Kollisionsnormen grundsätzlich taugliche Gegenstände der Kontrolle durch unionsrechtliche Gleichheitssätze und die Grundfreiheiten, ist in der Folge jedoch genauer zu untersuchen, ob es spezifisch kollisionsrechtliche Diskriminierungen und Beschränkungen gibt, die einen Unionsrechtsverstoß einer IPR-Norm begründen können, ohne dass es auf das zur Anwendung berufene Sachrecht ankommt (I.), und inwieweit diskriminierende und beschränkende Sachnormen auf die unionsrechtliche Beurteilung von Kollisionsnormen durchschlagen (II.). Im Falle spezifisch kollisionsrechtlicher Diskriminierungen und Beschränkungen ist die Herstellung eines unionsrechtskonformen Rechtszustands im mitgliedstaatlichen Rechtsraum alleine auf der Ebene des Kollisionsrechts zu erreichen. Bei einer Kollisionsrechtsrelevanz sachrechtlicher Diskriminierungen und Beschränkungen stellt sich die Folgefrage nach der Rolle des Kollisionsrechts bei der Herstellung der Unionsrechtskonformität der Gesamtnorm. I. Spezifisch kollisionsrechtliche Diskriminierungen und Beschränkungen Eine spezifisch kollisionsrechtliche Diskriminierung oder Beschränkung liegt vor, wenn eine Diskriminierung oder Beschränkung unabhängig vom Inhalt der potenziell zur Anwendung berufenen Sachnorm feststellbar ist.5 Hierzu ist auf den konkreten Sachverhalt, in dem eine Diskriminierung oder Beschränkung vorliegt, alternativ zur berufenen Sachnorm eine hypothetische Sachnorm zu bilden, deren Rechtsfolgen im Vergleich zur berufenen Sachnorm günstiger sind. Liegt bei einer erneuten Beurteilung des Sachverhalts unter Zugrundelegung der hypothetischen Sachnorm weiterhin eine Diskriminierung oder Be-
3 Vgl. Basedow, RabelsZ 59 (1995), 1, 12; Roth, in: Baur/Mansel, Systemwechsel, S. 47, 52 f.; Leifeld, Anerkennungsprinzip, S. 20 Fn. 4. Ebenso im Ergebnis Sonnenberger, ZVglRWiss 95 (1996), 3, 23, der zwar davon ausgeht, dass das IPR grundsätzlich dem primären Unionsrecht gegenüber neutral steht, jedoch an einer durch eine Sachnorm hervorgerufenen Diskriminierung oder Beschränkung „gleichsam nur Anteil“ hat und damit in diesem Fall dem primären Unionsrecht nicht entzogen ist. 4 Vgl. Körber, Privatrecht und Grundfreiheiten, S. 442. 5 Bruinier, Einfluss der Grundfreiheiten, S. 117.
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schränkung vor, handelt es sich um eine spezifisch kollisionsrechtliche Diskriminierung oder Beschränkung.6 In der abstrakten Auseinandersetzung mit dieser Hypothese sind aus der Perspektive desjenigen, der sich auf das Diskriminierungsverbot oder eine Grundfreiheit berufen kann, die folgenden Fallgruppen zu unterscheiden: Grundsätzlich können die erforderlichen zusätzlichen Transaktionskosten bei einer Berufung einer unbekannten fremden Rechtsordnung durch das IPR eine spezifisch kollisionsrechtliche Diskriminierung oder Beschränkung begründen (2.). Darüber hinaus sind zwei Konstellationen voneinander getrennt zu betrachten. In der einen Konstellation entstehen die Belastungen für den unionsrechtlich Berechtigten daraus, dass im Fall eines Grenzübertritts auf das Schutzgut der betroffenen Grundfreiheit eine andere Rechtsordnung zur Anwendung gelangt als diejenige, an die sich das Schutzgut zuvor ausrichtete (3.). Das ist bei Waren und Dienstleistungen etwa die Rechtsordnung, deren Produkt- und Produktionsstandards bei der Warenherstellung und der Dienstleistungserbringung erfüllt wurden, bei Berufsqualifikationen die Prüfungsordnung oder bei juristischen Personen die Gründungsrechtsordnung. Als Oberbegriff für diese Rechtsordnungen soll im Folgenden der Begriff der „Herkunftsrechtsordnung“ verwendet werden. In der anderen Konstellation entstehen die Belastungen für den unionsrechtlichen Berechtigten aus dem umgekehrten Fall, in dem nämlich trotz eines Grenzübertritts die Herkunftsrechtsordnung weiterhin auf das Schutzgut der betroffenen Grundfreiheit anwendbar bleibt (4.).7 Der räumliche Rechtsanwendungsbefehl kann dabei sowohl vom Kollisionsrecht der Herkunftsrechtsordnung als auch vom Kollisionsrecht der Bestimmungsrechtsordnung, wenn der Grenzübertritt noch nicht vollzogen ist, bzw. der Aufenthaltsrechtsordnung, wenn er Grenzübertritt bereits erfolgt ist, erteilt worden sein. Die lex fori des zur Entscheidung berufenen inländischen Richters fällt dabei nicht zwangsläufig mit der Kollisionsrechtsordnung, der sich der räumliche Anwendungsbefehl entnehmen lässt, zusammen. Dies folgt daraus, dass Verweisungsnormen Gesamtverweisungen, die in ihrem Verweisungsbefehl auch das IPR der berufenen Rechtsordnung einschließen, welches dann die Entscheidung über den räumlichen Anwendungsbefehl an eine andere Kollisionsrechtsordnung weiterverweisen kann, oder Sachnormverweisungen sein können, die direkt auf die Sachnormen der berufenen Rechtsordnung ohne Berücksichtigung von dessen IPR verweisen. Nur in letzterem Fall entspricht die lex fori der Kollisionsrechtsordnung, die den räumlichen Anwendungsbefehl für eine belastende Sachnorm erteilt. Daher ist vorab die Frage zu klären, ob die Unterscheidung von Kollisionsnormen als Gesamtverweisung oder als 6
Bruinier, Einfluss der Grundfreiheiten, S. 117 f. Bruinier, Einfluss der Grundfreiheiten, S. 117 ff., der auf S. 118 ff. den „Verweis auf ein anderes Recht als dasjenige des Herkunftsstaates“ und auf S. 143 ff. den „Verweis auf das Recht des Herkunftsstaates“ behandelt. 7
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Sachnormverweisung für die Identifikation von spezifisch kollisionsrechtlichen Diskriminierungen und Beschränkungen relevant ist (1.). 1. Relevanz der Unterscheidung von Gesamtverweisung und Sachnormverweisung Kollisionsnormen können zwei Arten von Verweisungen aussprechen: Gesamtverweisungen und Sachnormverweisungen. Sie unterscheiden sich dadurch, dass Gesamtverweisungen auf das gesamte Recht eines anderen Staates unter Einschluss dessen Kollisionsrechts verweisen, während Sachnormverweisungen unter Ausschluss des Kollisionsrechts unmittelbar auf die Sachnormen der berufenen Rechtsordnung verweisen. Die Kollisionsnormen des deutschen autonomen IPR beinhalten nach Art. 4 Abs. 1 S. 1 EGBGB grundsätzlich Gesamtverweisungen. Sachnormverweisungen sind nach Art. 3a Abs. 1 EGBGB die Ausnahme und müssen ausdrücklich angeordnet sein.8 Insbesondere die Rechtswahl ist nach Art. 4 Abs. 2 EGBGB eine Sachnormverweisung. Im Gegensatz zu dieser Entscheidung der deutschen Kollisionsrechtsordnung für die Gesamtverweisung gibt es andere mitgliedstaatliche Kollisionsrechtsordnungen, die sich grundsätzlich für die Sachnormverweisung entschieden haben.9 Auch das EU-Kollisionsrecht beinhaltet grundsätzlich Sachnormverweisungen (vgl. etwa Art. 20 Rom I-Verordnung, Art. 24 Rom II-Verordnung, Art. 11 Rom III-Verordnung). Dadurch dass bei einer Gesamtverweisung immer zunächst die Kollisionsnorm der berufenen Rechtsordnung nach einer Annahme der Verweisung oder einer Weiter- bzw. Rückverweisung zu befragen ist, stellt sich die Frage, ob Kollisionsnormen, die eine Gesamtverweisung aussprechen, überhaupt spezifisch kollisionsrechtliche Diskriminierungen und Beschränkungen der Grundfreiheiten beinhalten können oder erst die Sachnormverweisung (und damit das letzte Glied in der Verweisungskette) solche begründen kann.10 Die Annahme, Gesamtverweisungen könnten nicht Gegenstand der Kontrolle durch die unionsrechtlichen Gleichheitssätze oder die Grundfreiheiten sein, wurde mit dem Argument begründet, dass erst die endgültige Bestimmung der anwendbaren Sachrechtsordnung zu einem rechtfertigungsbedürftigen Eingriff führe und die Gesamtverweisung lediglich das erste Glied einer Verweisungskette bilde, an dessen Ende erst die relevante Sachnormverweisung stehe.11
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Vgl. MünchKommBGB/v. Hein, Art. 3a EGBGB Rn. 3 ff. Dies sind in der EU: Belgien, Dänemark, Griechenland, Portugal und Schweden. Vgl. rechtvergleichend Sonnentag, Der Renvoi im Internationalen Privatrecht, S. 44 ff., 45 m.w.N.; Staudinger/Hausmann, Anh. Art. 4 EBGBG. 10 Die Frage wurde bspw. bei Bruinier, Einfluss der Grundfreiheiten, S. 201 ff. aufgeworfen. 11 Bruinier, Einfluss der Grundfreiheiten, S. 201. 9
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Dieses Argument verfängt jedoch nicht. Die unionsrechtlichen Gleichheitssätze und die Grundfreiheiten unterscheiden nämlich nicht nach der Verweisungsmechanik innerhalb einer aus (einer oder mehreren) Kollisionsnorm(en) und einer Sachnorm zusammengesetzten Gesamtnorm. Relevant ist lediglich, ob aus der Perspektive des unionsrechtlich Berechtigten die Ausübung der von unmittelbar anwendbaren Unionsrechtsnormen geschützten Rechte durch die Gesamtnorm beschränkt ist. Das von dem unionsrechtlich Berechtigten angerufene mitgliedstaatliche Gericht hat dabei die Pflicht, die unionalen Rechte zu gewährleisten und durchzusetzen. Das Gericht muss die Gesamtnorm mithin so auslegen und, falls notwendig, fortbilden, dass ein Rechtsanwendungsergebnis erreicht wird, das nicht mehr im Widerspruch zu den Vorgaben des Unionsrechts steht. Bei einem Sachverhalt mit Auslandsberührung ist dabei der Ausgangspunkt für das mitgliedstaatliche Gericht immer das eigene Kollisionsrecht. Eine mit den unionsrechtlichen Gleichheitssätzen oder den Grundfreiheiten unvereinbare Gesamtnorm ist somit ohne das Kollisionsrecht der lex fori, selbst wenn es sich dabei um eine Gesamtverweisung handelt, undenkbar. Dabei kann die Gesamtverweisung selbst die Grundlage für eine Benachteiligung legen. Erkennt man etwa, wie unter 4. im Detail zu untersuchen sein wird, in der Berufung der Sachnormen der Herkunftsrechtsordnung eine Benachteiligung für den unionsrechtlich Berechtigten, so kann auf der Ebene des Kollisionsrechts diese Benachteiligung daher rühren, dass unabhängig davon, ob eine Gesamtverweisung oder eine Sachnormverweisung vorliegt, die Kollisionsnorm der Herkunftsrechtsordnung ein Anknüpfungsmoment beinhaltet, dessen Verwirklichung zur Berufung des eigenen Sachrechts führt. Zu einer Berufung des Sachrechts der Herkunftsrechtsordnung kommt es allerdings auch und gerade, weil eine Gesamtverweisung vorliegt, wenn die Kollisionsnorm der Herkunftsrechtsordnung als lex fori zwar eine andere Rechtsordnung zur Anwendung beruft, deren einschlägige Kollisionsnorm jedoch in die Herkunftsrechtsordnung zurückverweist (etwa dadurch, dass sie ein anderes Anknüpfungsmoment als die Kollisionsnorm der Herkunftsrechtsordnung verwendet, das im Herkunftsstaat verwirklicht ist). Handelt es sich bei letzterer Kollisionsnorm ebenfalls um eine Gesamtverweisung und wird auf deutsches Recht (als Herkunftsrechtsordnung) zurückverwiesen, ist nach Art. 4 Abs. 1 S. 2 EGBGB die Verweisungskette abzubrechen und deutsches Sachrecht anzuwenden.12 Selbiges kann im Falle einer Weiterverweisung durch die beru-
12 Zu diesem Ergebnis kommen sämtliche Kollisionsrechtsordnungen der EU-Mitgliedstaaten, die dem Modell der Gesamtverweisung folgen, vgl. Sonnentag, Der Renvoi im Internationalen Privatrecht, S. 65 f. m.w.N. Der „double renvoi“, dem zufolge das rückverwiesene IPR erneut in das IPR des ursprünglich zur Anwendung berufenen Rechts zurückver-
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fene Kollisionsnorm eintreten, wenn irgendeine der weiterverwiesenen Kollisionsnormen auf die Herkunftsrechtsordnung zurückverweist. Wäre demnach die Kollisionsnorm der Herkunftsrechtsordnung keine Gesamtverweisung, sondern Sachnormverweisung, käme es mangels Rückverweisung durch das IPR der berufenen Rechtsordnung und des damit verbundenen Abbruchs der Verweisungskette nicht zur Anwendung der Sachnorm der Herkunftsrechtsordnung. Diese Überlegungen zeigen, dass eine Kollisionsnorm als Gesamtverweisung durchaus selbst Gegenstand der Kontrolle durch die unionsrechtlichen Gleichheitssätze und die Grundfreiheiten sein kann. Wenn nunmehr im Folgenden untersucht wird, ob bei der Berufung von Sachnormen einer anderen Rechtsordnung als derjenigen des Herkunftsstaates (3.) oder bei der Berufung von Sachnormen der Rechtsordnung des Herkunftsstaates (4.) eine spezifisch kollisionsrechtliche Diskriminierung oder Beschränkung vorliegt, wird dabei derjenige kollisionsrechtliche Vorgang betrachtet, der zur Anwendbarkeit einer bestimmten Sachnorm führt. Bei einer Sachnormverweisung ist es die (zuletzt) verweisende Kollisionsnorm selbst. Bei einer Gesamtverweisung ist zu unterscheiden zwischen der Annahme der Verweisung einerseits und der Rück- und Weiterverweisung andererseits: Nimmt die berufene Rechtsordnung die Verweisung der lex fori an, wird die Kollisionsnorm der lex fori betrachtet. Spricht die berufene Rechtsordnung eine Rückverweisung aus, folgt die Anwendung des Sachrechts der lex fori zwar aus dem Abbruch des renvoi (wie ihn Art. 4 Abs. 1 S. 2 EGBGB für das deutsche IPR anordnet) und somit ebenso aufgrund des Kollisionsrechts der lex fori. In Betracht genommen wird dennoch die rückverweisende Kollisionsnorm, da sie die letzte relevante Verweisung ausgesprochen hat, bevor es zum Abbruch der Verweisungskette kommt. Selbiges gilt für die letzte Kollisionsnorm in der Verweisungskette einer Weiterverweisung, bei der die Kette nach der Verweisung auf die Rechtsordnung der lex fori entsprechend Art. 4 Abs. 1 S. 2 EGBGB abgebrochen wird. Schließlich ist im Hinblick auf Diskriminierungen oder Beschränkungen, die sich daraus ergeben, dass überhaupt eine fremde Rechtsordnung berufen wird und hieraus Transaktionskosten für den unionsrechtlich Berechtigten entstehen (2.), darauf hinzuweisen, dass derartige Transaktionskosten nicht nur entstehen, wenn eine fremde Sachnorm berufen wird, sondern auch wenn auf fremdes Kollisionsrecht verwiesen wird. Somit ändert die Art der Verweisungsmechanik bezüglich der Frage nach den Transaktionskosten und deren Diskriminierungs- oder Beschränkungswirkung nichts. Aus dem Vorstehenden folgt nunmehr, dass im Hinblick auf die Feststellung einer spezifisch kollisionsrechtlichen Diskriminierung oder Beschränkung die weist, so dass es dort zum Abbruch der Verweisungskette und damit zur Berufung der Sachnorm kommt, wird nur von Japan angewandt, vgl. Sonnentag, Der Renvoi im Internationalen Privatrecht, S. 66 m.w.N.
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Unterscheidung von Gesamtverweisung und Sachnormverweisung von keiner Relevanz ist. Entscheidend für eine entsprechende Feststellung ist derjenige kollisionsrechtliche Vorgang, der als letzter zur Berufung der anwendbaren Sachnorm führt. In diesem Sinne ist es im Folgenden zu verstehen, wenn von der Verweisung einer Kollisionsnorm auf eine Sachnorm gesprochen wird. 2. Transaktionskosten durch Berufung einer fremden Rechtsordnung Spezifisch kollisionsrechtliche Diskriminierungen und Beschränkungen können durch Benachteiligungen entstehen, die vom konkreten Rechtsanwendungsergebnis losgelöst sind und mit der Tatsache zusammenhängen, dass das Kollisionsrecht eine andere Rechtsordnung als diejenige zur Anwendung beruft, der der unionsrechtlich Berechtigte vor Durchführung einer grenzüberschreitenden Markttransaktion unterliegt und deren Kenntnis beim unionsrechtlich Berechtigten unterstellt wird. Bei der Berufung fremden Sach- oder Kollisionsrechts entstehen damit ex ante-Transaktionskosten, die ausschließlich darauf zurückzuführen sind, dass sich der unionsrechtlich Berechtigte über eine ihm fremde Rechtsordnung informieren und sich dieser anpassen muss.13 Typischerweise ist es im Inland schwieriger, ausländische Quellen zu finden und die Bedeutung ausländischen Rechts zu ermitteln. Es wird möglicherweise erforderlich sein, fachkundigen, aber kostspieligen Rat über die fremde Rechtsordnung von einem dort niedergelassenen Rechtsanwalt einzuholen. Die Unbekanntheit der Rechtsordnungen führt zudem zu Unsicherheiten im Hinblick auf die hieraus entstehenden Rechte und Pflichten, die ihrerseits das Risiko erhöhter Verluste infolge von Missverständnissen bezüglich der Tragweite dieser Rechte und Pflichten in sich tragen.14 Die dargelegten Transaktionskosten fallen unabhängig von den für den unionsrechtlich Berechtigten möglicherweise positiven oder negativen Rechtsfolgen dieser ihm unbekannten Rechtsordnung an. Sie können damit eine abschreckende Wirkung entfalten. Diese erhöhten Transaktionskosten sind ausschließlich darauf zurückzuführen, dass das zur Entscheidung berufene IPR eine andere Rechtsordnung zur Anwendung beruft als diejenige, in der sich der unionsrechtlich Berechtigte aufhält. Das kann in zwei Konstellationen auftreten: Zum einen kann im Fall einer grenzüberschreitenden Erbringung von Dienstleistung und Verbringung von Waren, einer grenzüberschreitenden Niederlassung sowie eines grenzüberschreitenden Angebots von Arbeitskraft oder beim 13
Dieses Problem im Hinblick auf die Warenverkehrsfreiheit aufwerfend Müller-Graff, in: von der Groeben/Schwarze/Hatje, Art. 34 AEUV Rn. 165; ders., Gemeinschaftsprivatrecht, S. 33. 14 Vgl. Bruinier, Einfluss der Grundfreiheiten, S. 119; Drobnig, RabelsZ 34 (1970), 636, 644; Fischer, in: von Bar, Europäisches Gemeinschaftsrecht und IPR, S. 157, 162; Troge, Europarecht und Staatsangehörigkeitsprinzip, S. 158 ff.; Dethloff, AcP 204 (2004), 544, 550 f.
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grenzüberschreitenden Personenverkehr das IPR der Bestimmungsrechtsordnung auf eine andere Rechtsordnung verweisen als derjenigen der Herkunft der Dienstleistung, der Ware, der niederlassungswilligen (natürlichen oder juristischen) Person, der Arbeitskraft oder des Unionsbürgers. Zum anderen kann das IPR des Herkunfts- oder Aufenthaltsstaates des unionsrechtlich persönlich Berechtigten eine andere Rechtsordnung als die lex fori berufen, ohne dass es sich dabei um einen Fall zulässiger Inländerdiskriminierung handelt. Der Annahme einer Diskriminierungs- oder Beschränkungsqualität der genannten Transaktionskosten ist jedoch entgegenzuhalten, dass es sich hierbei um Lasten handelt, die schlicht der Unterschiedlichkeit der Rechtsordnungen im unvollkommenen Binnenmarkt geschuldet sind.15 Diese Unterschiedlichkeit ist jedoch nicht schon per se von den Grundfreiheiten und dem Diskriminierungsverbot erfasst.16 Hinzu tritt, dass sich der unionsrechtlich berechtigte Marktakteur, der in einen anderen mitgliedstaatlichen Teilmarkt innerhalb des Binnenmarktes expandieren möchte, vor seiner grenzüberschreitenden Expansion über den betroffenen Teilmarkt im Detail informieren wird, um eine Risikoeinschätzung seines Vorhabens vorzunehmen. Hierzu wird er sich auch über die rechtlichen Rahmenbedingungen in diesem Teilmarkt informieren. Informationskosten, die aufgrund einer geplanten Marktexpansion entstehen, treten demnach losgelöst von der Bestimmung fremden Rechts durch eine Kollisionsnorm auf. Mithin lassen sich auch keine spezifisch kollisionsrechtlichen Diskriminierungen oder Beschränkungen aus solchen Transaktionskosten ableiten.17 Würden die möglichen Transaktionskosten für die Annahme einer spezifisch kollisionsrechtlichen Diskriminierung oder Beschränkung bereits ausreichen, käme man zudem zu widersinnigen Ergebnissen. In der ersten, Transaktionskosten hervorrufenden Konstellation, in der das IPR des Bestimmungsstaates eine andere als die Herkunftsrechtsordnung zur Anwendung beruft, würde dies bedeuten, dass jedwede Berufung der lex fori unter dem unionsrechtlichen Rechtfertigungsvorbehalt stünde. In der zweiten Konstellation, in der das IPR des Aufenthaltsstaates eine andere Rechtsordnung als die lex fori zur Anwendung beruft, wäre damit die Berufung jedweder ausländischer Rechtsordnung unionsrechtlich zu rechtfertigen.18 Es bestünde mithin kein IPR, das nicht bereits eine spezifisch kollisionsrechtliche Diskriminierung oder Beschränkung beinhaltet. Somit wären sämtliche nationalen Kollisionsrechts-
15
Bruinier, Einfluss der Grundfreiheiten, S. 119 f.; Langner, RabelsZ 65 (2001), 222,
237. 16
Siehe oben S. 98 (zur Diskriminierung) und S. 164 (zu den Grundfreiheiten). Freitag, Produkthaftungsrecht, S. 358 f.; Roth, in: Bauer/Mansel, Systemwechsel, S. 47, 57. 18 So aber Drobnig, RabelsZ 34 (1970), 636, 639 f.; Fischer, in: von Bar, Europäisches Gemeinschaftsrecht und IPR, S. 157, 162; Troge, Staatsangehörigkeitsprinzip, S. 161. 17
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ordnungen unionsrechtlich rechtfertigungsbedürftig und es gäbe keinen gesetzgeberischen Weg aus diesem Dilemma. Das IPR als solches wäre infrage gestellt.19 Dieses sinnwidrige Ergebnis wird jedoch weder von dem Diskriminierungsverbot noch von den Grundfreiheiten verlangt. Sie fordern nicht die Aufhebung des IPR und seines Verweisungssystems. Die Transaktionskosten, die aufgrund der Unterschiedlichkeit der mitgliedstaatlichen Rechtsordnungen entstehen, sind lediglich die Konsequenz der Unvollkommenheit des unionalen Rechtsraums. Diese Unvollkommenheit ist von den Normen der negativen Integration wie dem Diskriminierungsverbot und den Grundfreiheiten hinzunehmen. Das Anfallen von Transaktionskosten aufgrund der Berufung fremden Sach- oder Kollisionsrechts durch eine Kollisionsnorm begründet keine spezifisch kollisionsrechtliche Diskriminierung oder Beschränkung.20 3. Berufung von Sachnormen einer anderen Rechtsordnung als derjenigen des Herkunftsstaates Eine spezifisch kollisionsrechtliche Diskriminierung oder Beschränkung durch die Berufung einer anderen als der Herkunftsrechtsordnung kann darin erkannt werden, dass eine gemäß den Sachnormen der Herkunftsrechtsordnung rechtmäßig entstandene Rechtslage aufgrund fehlenden internationalen Entscheidungseinklangs21 oder infolge eines Statutenwechsels verloren geht. Die möglicherweise günstigeren Rechtsfolgen, die im Falle eines Fortbestehens der Rechtslage von den eigentlich zur Anwendung berufenen Sachnormen ausgehen, sind dann nicht mehr von Bedeutung. Eine solche Situation tritt etwa dann ein, wenn die Kollisionsrechtsordnung des Aufenthaltsstaates ein anderes Anknüpfungsmoment zur Bestimmung des auf das Bestehen einer Rechtslage anwendbaren Rechts verwendet als die Kollisionsnorm des Herkunftsstaates und das durch die Kollisionsnorm des Aufenthaltsstaats zur Anwendung berufene Sachrecht die Rechtslage, wie sie in Anwendung der von der Kollisionsnorm des Herkunftsstaates bestimmten Sachrechtsordnung entstanden ist, nicht kennt bzw. divergierende Voraussetzungen an ihr Bestehen knüpft. Dasselbe Phänomen tritt in den sog. „Rückkehrerfällen“ bei der Verwendung der Staatsangehörigkeit als Anknüpfungsmoment der einschlägigen Kollisionsnorm des Herkunftsstaates auf, wenn die Rechtsordnung, aus der heraus der eigene Staatsangehörige zurückkehrt, an
19 Roth, Internationales Versicherungsvertragsrecht, S. 693 f.; Kropholler, IPR, § 38 IV 3, S. 277; von Bar/Mankowski, IPR, Bd. I, § 3 I, Rn. 41, S. 138 f. 20 Bruinier, Einfluss der Grundfreiheiten, S. 119 f.; Kropholler, IPR, § 38 IV 3, S. 277; von Bar/Mankowski, IPR, Bd. I, § 3 I, Rn. 41, S. 138 f.; Körber, Grundfreiheiten und Privatrecht, S. 466 f.; Roth, RabelsZ 55 (1991), 623, 643. 21 Siehe etwa für das Familienrecht Dethloff, AcP 204 (2004), 544, 552 f.
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den gewöhnlichen Aufenthalt anknüpft. Eine Divergenz der Anknüpfungsmomente kann dabei sowohl dann vorliegen, wenn das Bestehen der Rechtslage die Hauptfrage bildet, als auch dann, wenn das Bestehen der Rechtslage eine Vorfrage ist, das IPR des Bestimmungslands die Vorfrage unselbstständig anknüpft und das auf die Hauptfrage anwendbare Recht mit einem abweichenden Anknüpfungsmoment bestimmt wird. In diesen Fällen kann ein hinkendes Rechtsverhältnis entstehen,22 welches zwar in der Herkunftsrechtsordnung, nicht aber in der Bestimmungs- bzw. Aufenthaltsrechtsordnung besteht (oder umgekehrt). Fraglich ist nunmehr, ob es sich bei dem hinkenden Rechtsverhältnis um ein spezifisch kollisionsrechtliches Phänomen handelt, so dass auch seine mögliche Eingriffsqualität in das Diskriminierungsverbot aus Gründen der Staatsangehörigkeit und in die Grundfreiheiten als spezifisch kollisionsrechtlich einzuordnen ist. Ausgangspunkt für die Beantwortung dieser Frage ist die Feststellung, dass das hinkende Rechtsverhältnis zunächst kein rein kollisionsrechtliches Phänomen ist. Zwar entsteht es erst bei einem Auseinanderfallen der Anknüpfungsmomente in den jeweiligen Kollisionsrechtsordnungen, die das auf ein Rechtsverhältnis anwendbare Sachrecht bestimmen. Jedoch führen die unterschiedlichen zur Anwendung berufenen Sachrechtsordnungen erst dann zu einem hinkenden Rechtsverhältnis, wenn die jeweiligen Sachnormen voneinander divergieren. Das Rechtsverhältnis hinkt mithin erst dann, wenn das auf das Rechtsverhältnis anwendbare Sachrecht von dem ursprünglich bei der Begründung des Rechtsverhältnisses anwendbaren Sachrecht dergestalt abweicht, dass das Rechtsverhältnis in der anderen Rechtsordnung als nicht mehr bestehend betrachtet wird. Hieraus wird bereits deutlich, dass die Antwort auf die aufgeworfene Frage ganz davon abhängt, wie die Spezifität einer nicht rein kollisionsrechtlichen Beschränkung zu verstehen ist. Dabei sind zwei Sichtweisen denkbar. Nach einer Sichtweise kann man eine spezifisch kollisionsrechtliche Beschränkung darin erkennen, dass die Beschränkungsqualität der Sachnorm erst aufgrund ihres internationalen Anwendungsbereichs entsteht und auf diesen unmittelbar zurückzuführen ist. Denkt man die Kollisionsnorm in dieser Sichtweise weg, würde die Beschränkungseigenschaft der Sachnorm entfallen.23 Nach der anderen Sichtweise handelt es sich erst dann um eine spezifisch kollisionsrechtliche Beschränkung, wenn noch vor der konkreten Anwendung des durch die Kollisionsnorm berufenen Sachrechts feststünde, dass jede andere Sachnorm
22
Vgl. nur Dorenberg, Hinkende Rechtsverhältnisse, S. 15 ff. So wohl Roth, in: Bauer/Mansel, Systemwechsel, S. 47, 57 f., der darauf abstellt, dass „die Sachnorm in zumindest einigen international verknüpften Sachverhalten sich als eine Regelung erweist, die von einem Rechtfertigungsgrund getragen ist und dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit genügt.“ 23
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als die des Herkunftsstaates „in einem sehr hohen Prozentsatz der Fälle“24 eine Beschränkung begründen würde.25 Zutreffend ist die zweite Sichtweise. Dies folgt aus der Funktion des Kriteriums der Spezifität. Wie oben ausgeführt, bedeutet das Vorliegen einer spezifisch kollisionsrechtlichen Beschränkung, dass die Unionsrechtskonformität ausschließlich auf der Ebene des Kollisionsrechts hergestellt werden kann. Wenn die Unionsrechtskonformität ausschließlich auf einer Normebene erreicht werden kann, sollte das diese Normebene bestimmende Kriterium eng verstanden werden. Die Spezifität einer kollisionsrechtlichen Beschränkung erfasst somit nur solche Fälle, in denen die Beschränkung der Kollisionsnorm unter vollständiger Außerachtlassung der berufenen Sachnorm zu entnehmen ist. Eine derartige kollisionsrechtliche Beschränkung kann bereits angenommen werden, wenn die kollisionsrechtliche Verweisung auf ein anderes als das Herkunftssachrecht „in einem hohen Prozentsatz von Fällen und somit quasi ‚generell‘“26 eine Beschränkung begründet. Die Sichtweise, der zufolge eine spezifisch kollisionsrechtliche Beschränkung bereits dann vorliegt, wenn die Beschränkung unmittelbar auf den internationalen Anwendungsbereich der Sachnorm zurückzuführen ist, berücksichtigt im Ergebnis die sachrechtlichen Beschränkungen auf kollisionsrechtlicher Ebene. Die Beschränkung geht nämlich in diesem Fall von der Sachnorm aus, die zwar in einigen grenzüberschreitenden Sachverhalten unionsrechtmäßig sein kann, in anderen aber gerade das Unionsrecht verletzt. Eine strikte Trennung von Kollisionsnorm und Sachnorm vermag diese Sichtweise nicht zu leisten, weshalb sie für die Bestimmung einer spezifisch kollisionsrechtlichen Beschränkung nicht geeignet ist.27 Gleichwohl kann eine Belastung des unionsrechtlich Berechtigten, deren Entstehen in Abhängigkeit von einem bestimmten zur Anwendung berufenen Sachrecht steht, eine spezifisch kollisionsrechtliche Beschränkung begründen, wenn die relevante Kollisionsrechtsordnung zugleich die lex fori ist und eine ausländische Rechtsordnung zur Anwendung beruft. Sind die Möglichkeiten des Gerichts der lex fori, das ausländische Sachrecht aufgrund eines ungewollten Rechtsanwendungsergebnisses zu modifizieren, geringer als bei inländischen Sachnormen, kann sich hieraus eine spezifisch kollisionsrechtliche Beschränkung durch die lex fori ergeben. Hierauf wird noch einzugehen sein.28 Mithin ist das hinkende Rechtsverhältnis, das bei der Berufung einer anderen Rechtsordnung als derjenigen des Herkunftsstaates für die Beurteilung des Bestehens einer Rechtslage eines unionsrechtlich Berechtigten entstehen kann, 24
Lurger, IPRax 2001, 346, 351. Bruinier, Einfluss der Grundfreiheiten, S. 123 f., 142 f. 26 Lurger, IPRax 2001, 346, 351. 27 Bruinier, Einfluss der Grundfreiheiten, S. 64 f. 28 Siehe dazu unten S. 312 ff. 25
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nicht als spezifisch kollisionsrechtliche Diskriminierung oder Beschränkung einzuordnen. 4. Berufung von Sachnormen der Rechtsordnung des Herkunftsstaates Wie im Fall der spezifisch kollisionsrechtlichen Beschränkung durch die Berufung einer anderen Rechtsordnung als derjenigen des Herkunftsstaates ist auch bei der Feststellung einer spezifisch kollisionsrechtlichen Beschränkung durch die Berufung der Rechtsordnung des Herkunftsstaates darauf abzustellen, ob die belastende Wirkung unabhängig vom konkreten Rechtsanwendungsergebnis eintritt. Bei der Berufung des Herkunftsrechts sind gerade die weiter oben näher beleuchteten Transaktionskosten, die mit der Berufung einer fremden Rechtsordnung einhergehen, bedeutungslos. Der unionsrechtlich Berechtigte bewegt sich gerade weiterhin in der ihm vertrauten Herkunftsrechtsordnung. Die Behinderungswirkung in dieser Konstellation wird deutlich, wenn die Sachnormen der Rechtsordnung des Bestimmungs- bzw. Aufenthaltslandes aus dem Blickwinkel des unionsrechtlich Berechtigten günstiger erscheinen als diejenigen der Herkunftsrechtsordnung und somit die Vorteile dieser Rechtsordnung gegenüber den Nachteilen in Form von Transaktionskosten aufgrund eines Rechtsordnungswechsels überwiegen. In diesem Fall kann man jedoch noch nicht von einer spezifisch kollisionsrechtlichen Beschränkung sprechen, da die Günstigkeit der Sachnorm des Bestimmungslandes entspringt und mithin erst die Verweigerung einer sachrechtlichen Begünstigung die Behinderungseignung begründet. Löst man sich in dieser Konstellation von einem Günstigkeitsvergleich der jeweils möglichen Sachrechtsnormen, erkennt man dennoch, dass eine vom konkreten Rechtsanwendungsergebnis unabhängige Beschränkung denkbar ist.29 Hierzu muss der Blick auf das konkrete Geschehen am Marktort bzw. Aufenthaltsort des unionsrechtlich Berechtigten gelenkt werden. Bei einer wirtschaftlichen Tätigkeit des unionsrechtlich Berechtigten macht die Berufung des Herkunftsrechts einer Ware, Dienstleistung oder Person aus der Sicht des potenziellen Vertragspartners diese Ware, Dienstleistung oder Person weniger attraktiv als vergleichbare Waren, Dienstleistungen und Personen im Bestimmungsland, auf die die Bestimmungsrechtsordnung Anwendung finden würde. Die Transaktionskosten, die aus der Sicht des Anbieters eine behindernde Wirkung haben können, wenn ein anderes als sein Herkunftsrecht berufen wird, entstehen in diesem umgekehrten Fall auf Seiten des Nachfragers. Im Gegensatz zu den Transaktionskosten, die einem Anbieter beim Betreten eines fremden Marktes entstehen können, sind Transaktionskosten, die dem Nachfrager
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Bruinier, Einfluss der Grundfreiheiten, S. 144 ff.
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auf seinem heimischen Markt entstehen, gerade keine notwendige Folge einer von diesem bewusst vorgenommenen Expansion in andere Märkte. Damit kann die Berufung des Herkunftsrechts eine angebotslenkende Wirkung dergestalt haben, dass aus Sicht des Nachfragers Waren, Dienstleistungen und Personen, die dem gewohnten Recht unterliegen, attraktiver erscheinen. Die Vermeidung dieser Nachteile für den Anbieter unter Inkaufnahme der Transaktionskosten, die ihm bei einer Unterwerfung unter eine ihm fremde Rechtsordnung entstehen, wird dem unionsrechtlich Berechtigten durch die Berufung der Herkunftsrechtsordnung unabhängig vom konkreten Rechtsanwendungsergebnis verweigert. Hierbei handelt es sich zunächst also um eine spezifisch kollisionsrechtliche Beschränkung durch die Berufung der Herkunftsrechtsordnung. Noch deutlicher wird diese Beschränkungswirkung bei einem Blick auf die nichtwirtschaftliche Tätigkeit. Eine solche Situation ist häufig dadurch gekennzeichnet, dass der wandernde Unionsbürger den Willen hat, sich in dem Land seines neuen Aufenthalts zu integrieren. Wird dem Unionsbürger in einer solchen Situation die Inanspruchnahme des Rechts des Aufenthaltslandes durch eine Berufung seiner Herkunftsrechtsordnung verweigert, kann dieser seinen Integrationswillen nicht verwirklichen. Diese Beschränkung liegt dabei ungeachtet dessen vor, ob das Recht des Aufenthaltsstaates auch tatsächlich günstiger ist. Auch hierin kann zunächst eine spezifisch kollisionsrechtliche Beschränkung durch Berufung der Herkunftsrechtsordnung erkannt werden. Im Folgenden wird näher zu betrachten sein, welche Art von spezifisch kollisionsrechtlicher Beschränkung konkret vorliegt, je nachdem, ob die Herkunftsrechtsordnung durch das IPR der Herkunftsstaates (a)) oder durch das IPR des Bestimmungs- bzw. Aufenthaltsstaates (b)) zur Anwendung berufen wurde. a) Berufung der Sachnormen der Herkunftsrechtsordnung durch das IPR des Herkunftsstaates Verweist das IPR der Herkunftsrechtsordnung auf das eigene Sachrecht, so ist für die Annahme eines Eingriffes in den Schutzbereich einer Grundfreiheit notwendig, dass ein grenzüberschreitender Sachverhalt vorliegt. Andernfalls handelt es sich bei der Anwendung des Sachrechts des Herkunftsstaats auf Waren, Dienstleistungen und Personen, die aus diesem Staat kommen, um einen reinen Inlandsfall, auf den die Grundfreiheiten nicht anwendbar sind und in dem somit auch keine spezifisch kollisionsrechtliche Beschränkung vorliegen kann. Soweit das Herkunftsrecht auch auf einen grenzüberschreitenden und damit auf einen Sachverhalt mit Auslandsberührung Anwendung finden soll, ist die Berufung des Herkunftsrechts durch das Kollisionsrecht des Herkunftsstaates unter dem Blickwinkel der Ausfuhr- bzw. Wegzugsfreiheiten zu betrachten. In der Dogmatik der Grundfreiheiten ist diesbezüglich bereits geklärt, dass die
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unterschiedslose Anwendung einer Inlandsnorm auf die Ausfuhr oder den Wegzug eine Beschränkung der Grundfreiheiten begründen kann.30 Dabei erscheint eine spezifisch kollisionsrechtliche Beschränkung der Ausfuhr- bzw. Wegzugsfreiheit naheliegend, da die Anwendung der Sachnorm der Herkunftsrechtsordnung ausschließlich darauf zurückzuführen ist, dass das Kollisionsrecht des Herkunftslandes die Anwendbarkeit der Sachnorm der Herkunftsrechtsordnung anordnet.31 Es stellt sich jedoch zuvor die Frage danach, ob dem unionsrechtlich Berechtigten rechtliche Möglichkeiten zur Verfügung stehen, um der beschränkenden Anwendbarkeit des Sachrechts des Herkunftsstaates zu entgehen. Auf kollisionsrechtlicher Ebene könnte dem unionsrechtlich Berechtigten die Möglichkeit der Rechtswahl im Ausfuhr- bzw. Wegzugsfall eröffnet sein. Nimmt der unionsrechtlich Berechtigte diese Möglichkeit lediglich nicht wahr, kann die Berufung des eigenen Sachrechts durch das IPR der Herkunftsrechtsordnung keine spezifisch kollisionsrechtliche Beschränkung begründen. Darüber hinaus ist die Herkunftsrechtsordnung danach zu befragen, wie sie mit dem Wechsel des anwendbaren Sachrechts umgeht, wenn etwa die Kollisionsrechtsordnung des Bestimmungsstaates einen Statutenwechsel ermöglicht. Die hiermit angedeuteten kollisionsrechtlichen Möglichkeiten, den beschränkenden Wirkungen der unterschiedslosen Anwendung von Herkunftssachrecht auf den Inlands- wie auf den grenzüberschreitenden Sachverhalt zu entgehen, erlaubt die Schlussfolgerung, dass bei einer Berufung von Sachnormen der Herkunftsrechtsordnung durch das IPR des Herkunftsstaates jedenfalls nicht per se von einer spezifisch kollisionsrechtlichen Beschränkung ausgegangen werden kann. Einzelfallbedingt kann sie jedoch vorliegen, wenn es gerade keine Möglichkeit gibt, die belastende Wirkung der Berufung des Herkunftsrechts zu vermeiden. Ist die Herkunftsrechtsordnung zugleich die lex fori, stehen dem unionsrechtlich Berechtigten zudem die Möglichkeiten der unionsrechtskonformen Auslegung und Fortbildung des inländischen Sachrechts zur Verfügung. Hierbei handelt es sich um Möglichkeiten des Gerichts der lex fori, dem eigenen IPR die spezifische Eingriffsqualität in unionsrechtliche Vorgaben zu nehmen. Letztlich geht es um die Möglichkeit, die spezifisch kollisionsrechtliche Beschränkung in Form der Berufung der Herkunftsrechtsordnung durch eine Anpassung des inländischen Sachrechts an den rechtlichen Rahmen der Bestimmungs- bzw. Aufenthaltsrechtsordnung aufzulösen, und damit um die Bedeutung sachrechtlicher Diskriminierungen und Beschränkungen für das Vorliegen einer spezifisch kollisionsrechtlichen Diskriminierung oder Beschränkung, worauf später noch einzugehen ist.32 30
Siehe S. 247. Bruinier, Einfluss der Grundfreiheiten, S. 148 f., 156. 32 Siehe dazu unten S. 312 ff. 31
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b) Berufung der Sachnormen der Herkunftsrechtsordnung durch das IPR des Bestimmungs- bzw. Aufenthaltsstaates Erfolgt die Verweisung auf das Herkunftsrecht durch eine Kollisionsnorm der Rechtsordnung des Bestimmungs- bzw. Aufenthaltslandes, so unterscheidet das von der Kollisionsnorm verwendete Anknüpfungsmoment nach der Herkunft der Ware, Dienstleistung oder Person. Ein solches Anknüpfungsmoment differenziert mithin nach einem von den Grundfreiheiten und dem Diskriminierungsverbot aus Gründen der Staatsangehörigkeit verbotenen Unterscheidungsmerkmal, so dass die Kollisionsnorm auf den ersten Blick eine mittelbare oder unmittelbare Diskriminierung begründet. Das Anknüpfungsmoment führt typischerweise zu einer Anwendung ausländischen Sachrechts im Inland bei im Ausland ansässigen Personen sowie solchen mit einer ausländischen Staatsangehörigkeit und ausländischen Waren oder Dienstleistungen.33 Hierdurch werden im Inland unterschiedliche Rechtsregime geschaffen. Der Zutritt zu den rechtlichen Bedingungen, die für im Inland ansässige Personen sowie solche mit inländischer Staatsangehörigkeit oder inländische Waren oder Dienstleistungen gelten, ist regelmäßig versperrt, was den Zugang zum Markt bzw. zu dem Hoheitsgebiet des Bestimmungslandes erschwert.34 Jedoch begründet nicht schon jede Differenzierung eine Diskriminierung. Eine Differenzierung wird erst dann zu einer Diskriminierung, wenn die Unterscheidung eine Benachteiligung nach sich zieht. Grundsätzlich ist daher auch in diesen Fällen der Berufung der Rechtsordnung des Herkunftsstaates durch das Kollisionsrecht des Bestimmungs- bzw. Aufenthaltsstaates zur Feststellung einer spezifisch kollisionsrechtlichen Diskriminierung wie im Fall der spezifisch kollisionsrechtlichen Beschränkung durch die Berufung einer anderen Rechtsordnung als derjenigen des Herkunftsstaates darauf abzustellen, ob die belastende Wirkung unabhängig vom konkreten Rechtsanwendungsergebnis eintritt. Dabei handelt es sich zum einen um die bereits dargelegten Nachteile, die bei einer Anwendung eines aus der Sicht des Nachfragers fremden Rechts auf Waren, Dienstleistungen oder Personen aus anderen Mitgliedstaaten entstehen.35 Zum anderen können die Anknüpfungsmomente oder die von der Kollisionsnorm gewählte Anknüpfungstechnik selbst eine Diskriminierung 33
Handelt es sich bei der Kollisionsnorm, die das Differenzierungsmerkmal beinhaltet, um eine Gesamtverweisung, hängt der Eintritt der potenziell diskriminierenden Wirkung der Berufung des Sachrechts der Herkunftsrechtsordnung davon ab, ob das IPR des Herkunftsstaates seinerseits auf das eigene Sachrecht verweist. Andernfalls kommt es zu einer Rückoder Weiterverweisung. Die Rückverweisung führt, sofern das Kollisionsrecht des Bestimmungs- bzw. Aufenthaltsstaates die Verweisungskette abbricht, zu einer Anwendung des Sachrechts des Bestimmungs- bzw. Aufenthaltsstaates (und damit von Sachnormen einer anderen Rechtsordnung als derjenigen des Herkunftsstaates, vgl. dazu oben S. 298 ff.). 34 Bruinier, Einfluss der Grundfreiheiten, S. 161 ff. 35 Siehe oben Seite 306 ff.
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4. Kapitel: Einwirkungen des Primärrechts in das autonome IPR
begründen.36 Letzteres tritt beispielsweise ein, wenn sich der Ausländer aufgrund der Kollisionsnorm gegenüber dem Inländer zusätzlich zur Inlandrechtsordnung mit seiner Herkunftsrechtsordnung auseinandersetzen muss. Eine solche Doppelung des anwendbaren Sachrechts entsteht durch eine kumulative Anknüpfung.37 Das von der Kollisionsnorm gewählte Anknüpfungsmoment kann selbst eine Diskriminierung begründen, wenn bereits die tatbestandliche Verwendung eines vom Unionsrecht verbotenen Differenzierungsmerkmals hierfür ausreicht.38 Dies wäre allerdings aus unionsrechtlicher Sicht nur dann der Fall, wenn das unionale Diskriminierungsverbot als ein formales Diskriminierungsverbot zu verstehen ist. Das unionale Diskriminierungsverbot aus Gründen der Staatsangehörigkeit ist jedoch, wie dargelegt,39 kein Anknüpfungsverbot, sondern ein Begründungsverbot. Damit kann die Verwendung eines verbotenen Differenzierungsmerkmals im Tatbestand einer Kollisionsnorm an sich keine spezifisch kollisionsrechtliche Diskriminierung begründen. Die Rechtsfolge der Kollisionsnorm ist die auf einen Sachverhalt anwendbare Rechtsordnung. Hierin bereits eine materielle Diskriminierung zu erkennen, hieße, ausländisches Recht als per se benachteiligend zu bewerten. Eine solche Bewertung stünde nicht nur im Widerspruch zum Grundsatz des IPR, wonach alle Rechtsordnungen gleichwertig sind, sondern auch zum Unionsrecht, das im unvollkommenen Binnenmarkt die Existenz mitgliedstaatlicher Rechtsordnungen und die damit verbundene Unterschiedlichkeit grundsätzlich hinnimmt. Dieses Ergebnis wird durch die folgende Kontrollüberlegung gestützt: Eine ausländische Sachnorm, die eine im Verhältnis zu der vergleichbaren inländischen Sachnorm vorteilhaftere Rechtsfolge hat, ist nicht von den unionalen Diskriminierungsverboten aus Gründen der Staatsangehörigkeit erfasst.40 Die Benachteiligung liegt hier nämlich auf Seiten des Inländers aufgrund der auf ihn anwendbaren inländischen Sachrechtsnorm vor. Mangels grenzüberschreitenden Sachverhalts liegt hier aus der Sicht der unionalen Diskriminierungsverbote eine zulässige Inländerdiskriminierung vor.41 Mithin lässt sich aus der schlichten Verwendung eines verbotenen Differenzierungsmerkmals unter Außerachtlassung der konkreten Anwendung der von der Kollisionsnorm bestimmten Sachnorm nicht auf eine spezifisch kollisionsrechtliche Diskriminierung schließen. 36 Roth, in: GS Lüderitz, S. 635, 641 f.; ders., in: Bauer/Mansel, Systemwechsel, S. 47, 59 ff.; Troge, Staatsangehörigkeitsprinzip, S. 144 ff. 37 Vgl. dazu Kropholler, IPR, § 20 IV, S. 144 f. 38 In diese Richtung Drobnig, RabelsZ 34 (1970), 636, 643 f.; Troge, Staatsangehörigkeitsprinzip, S. 171 ff. 39 Siehe oben S. 103 f. 40 AA Drobnig, RabelsZ 34 (1970), 636, 643 f. 41 Siehe auch oben S. 140 f.; von Bogdandy, in: Grabitz/Hilf/Nettesheim, Art. 18 AEUV Rn. 49 ff.; Epiney, in: Calliess/Ruffert, Art. 18 AEUV Rn. 28 ff.
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Daneben ist bei der Berufung von Sachnormen der Herkunftsrechtsordnung durch das IPR der Bestimmungs- bzw. Aufenthaltsrechtsordnung eine spezifisch kollisionsrechtliche Diskriminierung auch denkbar, ohne dass die Kollisionsnorm selbst diskriminierend ist. Dies folgt aus der Tatsache, dass in der vorliegenden Konstellation die Rechtsordnung der Kollisionsnorm und diejenige der anwendbaren Sachnorm auseinanderfallen. Die belastenden Wirkungen der Gesamtnorm sind, wenn nicht die Kollisionsnorm selbst diskriminierend wirkt, einem Vergleich der Rechtsfolgen der zur Anwendung berufenen Sachnorm der Herkunftsrechtsordnung mit denjenigen der funktionsäquivalenten Sachnorm der lex fori zu entnehmen. Die anwendbare Sachnorm ist aus der Sicht der lex fori ausländisches Sachrecht. Entscheidend dafür, dass die benachteiligenden Wirkungen der ausländischen Sachnorm eine spezifisch kollisionsrechtliche Diskriminierung durch das IPR des Bestimmungs- bzw. Aufenthaltsstaates begründen, ist erneut – wie schon bei der Berufung des belastenden Sachrechts durch das IPR des Herkunftsstaates – das Vorhandensein rechtlicher Möglichkeiten, die dem unionsrechtlich Berechtigten zur Verfügung stehen, um der benachteiligenden Anwendbarkeit des Sachrechts des Herkunftsstaates zu entgehen. Dadurch dass Sachnorm und Kollisionsnorm unterschiedlichen Rechtsordnungen entspringen, scheinen die Möglichkeiten der Rechtsordnung der Kollisionsnorm, auf die es zur Feststellung der spezifisch kollisionsrechtlichen Diskriminierung ankommt, beschränkter, als wenn Sachund Kollisionsnorm, wie in der unter a) behandelten Konstellation, derselben Rechtsordnung entstammen. Mit Blick auf die kollisionsrechtlichen Möglichkeiten der Bestimmungsbzw. Aufenthaltsrechtsordnung, sachrechtlichen Benachteiligungen des unionsrechtlich Berechtigten zu entgehen, könnte das IPR die Möglichkeit der Rechtswahl im Import- bzw. Zuzugsfall eröffnet haben. Nimmt der unionsrechtlich Berechtigte diese Möglichkeit lediglich nicht wahr, kann die Berufung des Sachrechts der Herkunftsrechtsordnung durch das IPR der Bestimmungs- bzw. Aufenthaltsrechtsordnung keine spezifisch kollisionsrechtliche Beschränkung begründen.42 Ist die Bestimmungs- bzw. Aufenthaltsrechtsordnung zugleich die lex fori, stehen dem unionsrechtlich Berechtigten zudem die Möglichkeiten der unionsrechtskonformen Modifikation ausländischen Sachrechts zur Verfügung, sofern man eine solche grundsätzlich anerkennt. Hierbei handelt es sich um Möglichkeiten des Gerichts der lex fori, dem eigenen IPR die spezifische Eingriffsqualität in unionsrechtliche Vorgaben zu nehmen. Letztlich geht es um die Möglichkeit, die spezifisch kollisionsrechtliche Diskriminierung in Form der 42 EuGH, Rs. C-339/89, Alsthom Atlantique, Slg. 1991, I-107 Rn. 15: „Im übrigen steht es den Parteien eines internationalen Kaufvertrags im allgemeinen frei, das auf ihre Vertragsbeziehungen anwendbare Recht zu bestimmen und so die Unterwerfung unter das französische Recht zu vermeiden.“
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4. Kapitel: Einwirkungen des Primärrechts in das autonome IPR
Berufung der Herkunftsrechtsordnung durch eine Anpassung des ausländischen Sachrechts an den rechtlichen Rahmen der Bestimmungs- bzw. Aufenthaltsrechtsordnung aufzulösen, und damit um die Bedeutung sachrechtlicher Benachteiligungen für das Vorliegen einer spezifisch kollisionsrechtlichen Diskriminierung, worauf sogleich einzugehen ist.43 Erneut lässt sich wie bei der Berufung durch das IPR des Herkunftsstaates auch bei der Berufung durch das IPR des Bestimmungs- bzw. Aufenthaltsstaates nicht schlussfolgern, dass die Berufung des Sachrechts des Herkunftsstaates per se eine spezifisch kollisionsrechtlich Beschränkung begründet. Ebenso wenig lässt sich ihr Vorkommen in allerdings äußerst eng umrissenen Konstellationen komplett verneinen. Dies hängt insbesondere von den rechtlichen Möglichkeiten der Bestimmungs- bzw. Aufenthaltsrechtsordnung ab, die benachteiligenden Wirkungen des zur Anwendung berufenen Sachrechts der Herkunftsrechtsordnung zu ändern. II. Bedeutung sachrechtlicher Diskriminierungen und Beschränkungen für das Kollisionsrecht Spezifisch kollisionsrechtliche Diskriminierungen oder Beschränkungen kommen unter Außerachtlassung des potenziell zur Anwendung berufenen Sachrechts, wie unter I. gesehen, in nur sehr eng umrissenen Fällen vor. Viel häufiger sind es die Rechtsfolgen der anwendbaren Sachnorm im Rechtsraum der lex fori, die einen Eingriff in die unionalen Vorgaben begründen. Die Anwendbarkeit der Sachnorm im Rechtsraum der lex fori ist dabei ausschließlich auf die Kollisionsnorm zurückzuführen. Somit folgen zwar die benachteiligenden Wirkungen der Gesamtnorm aus den Rechtsfolgen des anwendbaren Sachrechts. Die Kollisionsnorm kann jedoch nicht hinweggedacht werden, ohne dass die Benachteiligung entfällt. Diese Erkenntnis zieht zweierlei Folgen nach sich: Zum einen zeigt sie, dass sachrechtliche Diskriminierungen und Beschränkungen auch auf der Ebene des Kollisionsrechts aufgelöst werden können. Für das Unionsrecht steht es dann „im Ermessen der Mitgliedstaaten […] zu entscheiden, welche Maßnahmen in einer bestimmten Situation am geeignetsten sind, um Beeinträchtigungen […] zu beseitigen.“44 Zum anderen können sich sachrechtliche Diskriminierungen und Beschränkungen zu spezifisch kollisionsrechtlichen Diskriminierungen und Beschränkungen verdichten, wenn die lex fori über keine (weiteren) rechtlichen Möglichkeiten verfügt, auf der Ebene der Sachnorm die benachteiligenden Rechtsfolgen zu modifizieren. Im Folgenden soll daher näher betrachtet werden, welche rechtlichen Möglichkeiten dem Gericht der lex fori zur Verfügung stehen, um ein benachteiligendes Rechtsanwendungsergebnis zu korrigieren. Dabei ist zu unterscheiden, ob das benachteiligende Sachrecht aus der 43 44
Siehe dazu unten S. 312 ff. EuGH, Rs. C-265/95, Kommission/Frankreich, Slg. 1997, I-6959 Rn. 33.
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Sicht des Gerichts der lex fori inländisches Sachrecht (1.) oder ausländisches Sachrecht (2.) ist, da die Befugnis zur Modifikation der Sachnorm und die Reichweite dieser Befugnis unterschiedlich sein können, je nachdem ob die Sachnorm eine der lex fori ist oder nicht. 1. Modifikation benachteiligenden inländischen Sachrechts Handelt es sich bei der lex fori um die Rechtsordnung, deren Sachrecht zur Anwendung berufen wird, verfügt das Gericht der lex fori über das gesamte Instrumentarium der richterlichen Rechtsfortbildung einschließlich der unionsrechtskonformen Rechtsfortbildung45 und über die Möglichkeit, benachteiligendes Sachrecht aufgrund des unionsrechtlichen Anwendungsvorrangs zu suspendieren und durch den Normbefehl der Grundfreiheit oder des Diskriminierungsverbots zu ersetzen.46 Fallen dann die lex fori und die Kollisionsrechtsordnung, die den räumlichen Anwendungsbefehl für das inländische Sachrecht ausgesprochen hat, zusammen, steht es dem inländischen Gericht grundsätzlich frei, sowohl Kollisions- als auch Sachnorm unionsrechtskonform fortzubilden oder nach dem Erreichen der „contra legem“-Grenze aufgrund des unionsrechtlichen Anwendungsvorrangs unangewendet zu lassen. In dieser Konstellation ist eine spezifisch kollisionsrechtliche Beschränkung mithin nicht denkbar, da das Gericht der lex fori immer die inländische Sachnorm modifizieren und suspendieren kann. 2. Modifikation benachteiligenden ausländischen Sachrechts Anders ist möglicherweise die Konstellation zu betrachten, in der das zur Anwendung berufene Sachrecht aus der Sicht der lex fori ein ausländisches ist. Da die lex fori an der benachteiligenden Gesamtnorm lediglich durch ihr Kollisionsrecht beteiligt ist, erscheint der Schluss naheliegend, dass dem Gericht der lex fori lediglich kollisionsrechtliche Korrekturmöglichkeiten zur Verfügung stehen. Ausländisches Sachrecht ist als fremdes Recht in der lex fori zu behandeln, weshalb auch die Möglichkeiten der Korrektur benachteiligenden ausländischen Sachrechts durch die Gerichte der lex fori beschränkter sein können als in Bezug auf inländisches Sachrecht.47 Vor diesem Hintergrund soll im Folgenden zunächst betrachtet werden, ob der inländische Richter über eine Auslegungs- und Fortbildungsbefugnis im Hinblick auf ausländisches Sachrecht verfügt (a)) und wie weit eine entsprechende Befugnis reicht (b)). Auf dieser Grundlage lässt sich dann schlussfolgern, ob und unter welchen Voraussetzungen im Falle einer benachteiligenden ausländischen Sachnorm von einer spezifisch kollisionsrechtlichen Diskriminierung der lex fori auszugehen ist, was 45
Siehe dazu oben S. 54 ff. Siehe dazu oben S. 53 f. 47 Roth, in: GS Lüderitz, S. 635, 652. 46
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4. Kapitel: Einwirkungen des Primärrechts in das autonome IPR
zur Folge hat, dass ein unionsrechtskonformer Rechtszustand ausschließlich auf der Ebene der Kollisionsnorm hergestellt werden kann. a) Auslegungs- und Fortbildungsbefugnis des inländischen Richters für ausländisches Sachrecht Die grundsätzliche Befugnis des Richters, Recht auszulegen und fortzubilden, tritt bei der Auslegung und Fortbildung ausländischen Sachrechts in Konflikt mit der Regelungsverantwortung des Gesetzgebers des ausländischen Sachrechts. Eine richterliche Rechtsfortbildung würde in diesen Verantwortungsbereich übergreifen. Die Regelungsverantwortung des ausländischen Gesetzgebers wird in der Dogmatik des IPR unter dem Stichwort der „Anwendung ausländischen Rechts als ausländisches“ berücksichtigt. Hiernach wird bei einer aus Kollisionsnorm und Sachnorm zusammengesetzten Gesamtnorm zwischen ihrem imperativen und ihrem rationalen Element unterschieden.48 Der territoriale Rechtsanwendungsbefehl einer nationalen Sachnorm, das imperative Element, kann nur durch den nationalen Gesetzgeber erteilt werden und ist auf das Hoheitsgebiet dieser Rechtsordnung begrenzt. Die Sachnorm kann nicht außerhalb des Hoheitsgebiets des Mitgliedstaates, dessen Gesetzgeber die Sachnorm erlassen hat, gelten. Der Befehl zur Anwendung einer ausländischen Sachnorm kann daher nur vom inländischen Gesetzgeber erteilt werden. Dies tut er in Form von Kollisionsnormen. Hiervon zu trennen ist jedoch die konkrete Regelung, das rationale Element, die als „ratio“ der Sachnorm ausschließlich vom Gesetzgeber der Sachnorm getroffen werden kann und daher dem Regelungseinfluss anderer Gesetzgeber entzogen ist.49 In der IPR-Dogmatik spiegelt sich das dadurch wider, dass ausländisches Sachrecht so auszulegen und so anzuwenden ist, wie es in seiner Herkunftsrechtsordnung ausgelegt und angewandt wird.50 Das betrifft die Grenzen der Auslegung ebenso wie die Grenzen der richterlichen Rechtsfortbildung.51 Das Gericht der lex fori kann demnach nur das IPR nach eigenen Maßstäben auslegen oder fortbilden. Hieraus scheint zu folgen, dass es keine autonome Befugnis des Richters der lex fori zur Anpassung des ausländischen Sachrechts an die Anforderungen des Unionsrechts
48 Schurig, Kollisionsnorm und Sachnorm, S. 70 ff.; Sonnenberger, Grundgesetz und IPR, S. 74 ff.; Gebauer, in: FS Jayme I, S. 223, 227; Kropholler, IPR, § 31 I, S. 212 ff.; zurückgehend auf Batiffol, Aspects philosophiques, S. 110 ff. 49 Vgl. Dölle, in: FS Raape, S. 149, 151 f. 50 Kegel/Schurig, IPR, § 15 III, S. 505; Kropholler, IPR, § 31 I, S. 212 ff.; Siehr, IPR, § 52 I 2, S. 469 f.; Jansen/Michaels, ZZP 116 (2003), 3. 51 Jansen/Michaels, ZZP 116 (2003), 3, 34 ff. (zur Auslegung), 39 ff. (zur Rechtsfortbildung).
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gibt, so dass die Diskriminierung in diesen Fällen eine spezifisch kollisionsrechtliche ist und die Unionsrechtskonformität auf der Ebene des Kollisionsrechts herzustellen ist.52 Dieses Ergebnis sieht sich dem Einwand ausgesetzt, dass es den Beitrag der ausländischen Sachnorm zum benachteiligenden Rechtsanwendungsergebnis ignoriert. Die Verantwortung für die Herstellung des unionsrechtskonformen Rechtszustandes werde hiernach einseitig der Kollisionsrechtsordnung der lex fori zugewiesen, welches das ausländische Sachrecht beruft.53 Überzeugender sei es jedoch, diese Verantwortung dem Staat zuzuweisen, der die Sachnorm erlassen hat.54 Der unionsrechtlich Berechtigte solle dementsprechend das benachteiligende Rechtsanwendungsergebnis nicht im Bestimmungsland angreifen können, sondern müsse vielmehr unter dem Blickwinkel der Wegzugsbzw. Ausfuhrfreiheit in seinem Herkunftsland gegen die Sachnorm vorgehen. Gegen diese Argumentation lässt sich dieselbe Kritik mit umgekehrtem Vorzeichen vortragen.55 Denn auch der Herkunftsstaat trägt nur eine Teilverantwortung für das diskriminierende Rechtsanwendungsergebnis, da die Sachnorm in seiner eigenen Rechtsordnung unionsrechtskonform ist und erst durch den Anwendungsbefehl einer anderen Rechtsordnung aufgrund eines Vergleichs mit einer funktionsäquivalenten Sachnorm dieser Rechtsordnung diskriminierend wirkt. Wäre nunmehr nur der Staat, der die Sachnorm erlassen hat, alleinverantwortlich für die Herstellung des unionsrechtskonformen Rechtszustandes, müsste dieser sein eigenes Recht für grenzüberschreitende Sachverhalte an Regelungsentscheidungen anderer Mitgliedstaaten anpassen. Eine solche Pflicht sieht das Unionsrecht jedoch nicht vor. Vielmehr ist derjenige Staat, auf dessen Hoheitsgebiet der Unionsbürger in ungerechtfertigter Weise schlechter behandelt wird als ein Inländer, dazu verpflichtet, den Unionsrechtsverstoß abzustellen. Erlaubt dessen Rechtsordnung jedoch keine Modifikation ausländischen Sachrechts, so liegt in diesem Staat eine spezifisch kollisionsrechtliche Diskriminierung vor, der dementsprechend ausschließlich auf der Ebene des Kollisionsrechts entgegenzutreten ist. Die dogmatische Einordnung ausländischen Sachrechts, wie sie die herrschende Meinung in Deutschland vornimmt, ist jedoch keinesfalls zwingend. Bereits in der deutschen Theorie gibt es starke Gegenmeinungen, die auf der Grundlage eines strikt rechtspositivistischen Geltungsbegriffs bei der aus Kollisionsnorm und Sachnorm gebildeten Gesamtnorm die Trennung von imperativem und rationalem Element nicht überzeugend finden und stattdessen zu dem Ergebnis kommen, dass die Gesamtnorm als Ganze inländisch gilt mit der 52
So Roth, GS Lüderitz, S. 635, 652. Körber, Grundfreiheiten und Privatrecht, S. 472 ff. 54 Höpping, Auswirkungen der Warenverkehrsfreiheit auf das IPR, S. 111 ff.; Remien, CMLR 38 (2001), 53, 83 ff.; in der Tendenz: Basedow, RabelsZ 59 (1995), 1, 17. 55 Vgl. Körber, Grundfreiheiten und Privatrecht, S. 478 ff. 53
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Konsequenz, dass der nationale Richter die ausländische Sachnorm wie eine inländische Sachnorm an die Vorgaben des Europarechts anpassen kann.56 In der italienischen Rechtsordnung wird beispielsweise, anders als es die herrschende Meinung für die deutsche Rechtsordnung annimmt, davon ausgegangen, dass die inländische Kollisionsnorm bei Berufung einer ausländischen Sachnorm eine inländische Parallelnorm mit dem Inhalt der ausländischen Sachnorm schafft.57 b) Reichweite der Befugnis zur Modifikation ausländischen Sachrechts Eine konkrete Entscheidung bezüglich der dogmatischen Einordnung des ausländischen Sachrechts für die Feststellung einer spezifisch kollisionsrechtlichen Diskriminierung kann jedoch offenbleiben, wenn das Gericht der lex fori auch bei Annahme der Anwendung ausländischen Rechts als ausländisches über die Möglichkeit verfügt, das ausländische Sachrecht dergestalt zu modifizieren, dass es den Vorgaben des Unionsrechts entspricht. In diesem Fall ließe sich auch auf dem Standpunkt der herrschenden Meinung in Deutschland nicht mehr von einer spezifisch kollisionsrechtlichen Diskriminierung sprechen. Dabei ist im Folgenden zwischen der Auslegung und Fortbildung des ausländischen Sachrechts nach den Methoden der Auslandsrechtsordnung (aa)) und der Adaptation ausländischen Sachrechts an forumeigene Tatsachen und Wertungen (bb)) zu unterscheiden. Die Grenzen einer möglichen Modifikation des ausländischen Sachrechts sind in der ersten Perspektive der Auslandsrechtsordnung und in der zweiten Perspektive der Inlandsrechtsordnung zu entnehmen. Eine Adaptation der ausländischen Sachnorm an forumeigene Tatsachen und Wertungen zur Herstellung von Unionsrechtskonformität verlangt zunächst die konkrete Feststellung des Bedeutungsgehalts der ausländischen Sachnorm. Ließe sich eine Unionsrechtskonformität bereits auf Grundlage einer nach der Auslandsrechtsordnung möglichen Auslegung und Fortbildung erreichen, müsste der gegenüber dem äußeren Entscheidungseinklang intensivere Eingriff durch die Inlandsrechtsordnung nicht erfolgen. Lässt sich die Unionsrechtskonformität der ausländischen Sachnorm weder durch Mittel der Auslandsrechtsordnung noch der Inlandsrechtsordnung erreichen, so ist abschließend die Frage aufzuwerfen, ob eine unionsrechtskonforme Auslegung oder Fortbildung ausländischen Sachrechts (cc)) dem inländischen Richter die Möglichkeit einer weitergehenden Auslegung und Fortbildung ausländischen Sachrechts eröffnet, um hiermit die Unionsrechtskonformität der Gesamtnorm herzustellen. 56
Schinkels, Normsatzstruktur des IPR, S. 140 f. Corte di Cass., 16.2.1966, Giur. It. 1966 I/1, 1401, 1413; Ago, RdC 1936, S. 243, 302. Für die Übernahme in die deutsche Rechtsordnung Bruinier, Einfluss der Grundfreiheiten, S. 182 ff.; Knittel, S. 20 ff. 57
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aa) Auslegung und Fortbildung ausländischer Sachnormen nach den Methoden der Auslandsrechtsordnung Die Grenzen der Auslegung und Fortbildung ausländischer Sachnormen sind im deutschen Schrifttum nur wenig behandelt.58 Die geführte Diskussion konzentriert sich auf die zivilprozessuale Frage, ob es sich bei ausländischem Sachrecht um „Recht“ oder um eine „Tatsache“ handelt, und dreht sich damit darum, ob es von den Parteien zu beweisen oder von Amts wegen zu ermitteln ist und ob die Anwendung ausländischen Sachrechts revisibel ist.59 Hierbei handelt es sich allerdings nur um „zivilprozessuale ‚Nebenkriegsschauplätze‘“60, in deren Kern es um die oben angedeutete Streitfrage nach der dogmatischen Einordnung von ausländischem Sachrecht geht. Das macht auch deutlich, wieso die Diskussion um die zivilprozessuale Einordnung von Auslandsrecht als Recht oder als Tatsache für die vorliegende Fragestellung nach den Grenzen der Auslegung und Fortbildung ausländischen Rechts als ausländisches von geringer Bedeutung ist. Zu ihrer Beantwortung wird diese Streitfrage nämlich zunächst im Sinne der herrschenden Meinung entschieden, um danach die Unterschiede zu den Grenzen bei einer anderen dogmatischen Einordnung ausländischen Sachrechts, sofern vorhanden, zu diskutieren. Im ausländischen Schrifttum widmet man sich der Frage nach den Grenzen der Auslegung und Fortbildung ausländischen Sachrechts ausführlicher.61 Ausgangspunkt der deutschen Diskussion ist die Metapher von Goldschmidt,62 wonach der Richter im eigenen Recht Architekt sei und bei der Anwendung fremden Rechts dagegen Fotograf. Dieses missverständliche Bild63 drückt den Kern des deutschen Verständnisses von der Rolle des Richters bei der Auslegung und Anwendung ausländischen Rechts aus: „Die IPR-Verweisung macht weder das ausländische Recht zum inländischen (Rezeptionslehre, local law theory), noch den deutschen Richter zum ausländischen (foreign court theory, for du raisonnement); sie verlangt, der Richter solle als inländischer Richter aufgrund des ausländischen Rechts urteilen. Der deutsche Richter soll also nicht wie ein ausländischer Richter urteilen; er soll als Teilnehmer am ausländischen Recht aus dessen Perspektive argumentieren und auf der
58 Dölle, RCDIP 1955, 233; ders., GRUR 1957, 56; Neumayer, RabelsZ 23 (1958), 573; Wengler, JR 1983, 221; Jansen/Michaels, ZZP 116 (2003), 3, 34 ff. (zur Auslegung), 39 ff. (zur Rechtsfortbildung). 59 Siehe S. 317 f. 60 Schinkels, Normsatzstruktur des IPR, S. 29. 61 Sauveplanne, RHDI 13 (1960), 7; Yasseen, RdC 106 (1962), 499; Zajtay, The Application of Foreign Law, in: Int.Enc.Comp.L. III ch. 14 (1972), S. 27 ff.; Schnyder, Die Anwendung des zuständigen fremden Sachrechts im Internationalen Privatrecht, S. 156–195; Vrellis, in: FS Siehr (2000), S. 829. 62 Goldschmidt, in: FS Wolff, S. 203, 217. 63 Kritik bei Kegel/Schurig, IPR, § 15 III, S. 506; Kropholler, § 31 I 2, S. 213.
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4. Kapitel: Einwirkungen des Primärrechts in das autonome IPR
Grundlage einer solchen Argumentation eine eigene Entscheidung fällen.“64 Damit nimmt der Richter bei der Rechtsanwendung eine Auslandsperspektive ein. Er ist nicht darauf reduziert, das ausländische Recht lediglich zu beschreiben, sondern muss, falls es die Rechtsanwendung im konkreten Fall verlangt, auch normativ werten. Dies geschieht jedoch auf dem Boden und aus der Perspektive der jeweiligen Auslandsrechtsordnung. Der Richter hat daher „das ausländische Gesetz im Einklang mit der gesamten ausländischen Rechtsordnung auszulegen“65. Er hat somit auch die Grenze der Auslegung dort zu ziehen, wo sie die ausländische Rechtsordnung zieht. Beim Überschreiten dieser Grenze stellt sich die Folgefrage, ob der Richter zur Fortbildung einer ausländischen Rechtsnorm befugt ist. Dies wurde insbesondere von der älteren Literatur abgelehnt.66 Als Grund dafür wird der Zusammenhang von Rechtsfortbildung, Rechtsetzung und Souveränität vorgetragen. Mit einer Fortbildung ausländischen Rechts, die neue Rechtssätze schöpft, übernimmt der Richter eine Funktion, die ihm außerhalb des Hoheitsbereichs der Rechtsordnung, aus der die fortgebildete Rechtsnorm stammt, nicht zusteht. Dem tritt die neuere Literatur entgegen.67 Sie verweist auf unterschiedliche Bedeutungsaspekte der richterlichen Rechtsfortbildung, die unterschieden werden müssen. So gibt es eine Rechtfortbildung zum Zwecke der konkreten Falllösung in der inländischen Rechtsordnung und eine Rechtsfortbildung zum Zwecke der Schaffung eines zukünftigen Rechtssatzes der Auslandsrechtsordnung. Während der inländische Richter im Hinblick auf die Auslandsrechtsordnung zu letzterem nicht befugt ist, kann er ersteres im Hinblick auf die Anwendung von ausländischem Recht in der eigenen inländischen Rechtsordnung tun. In diesem Fall urteilt der Richter nämlich als Vertreter der inländischen Hoheitsgewalt. Dabei gilt jedoch, dass den Präjudizien der ausländischen Rechtsprechung aufgrund der zu respektierenden vorrangigen Rechtsfortbildungsbefugnis des ausländischen Richters für sein eigenes Recht, sofern sie vorhanden sind, grundsätzlich der Vorzug gegenüber einer eigenen Rechtsfortbildung gebührt, ohne diese auszuschließen.68
64
Jansen/Michaels, ZZP 116 (2003), 3, 23. BGHZ 118, 151, 164. Ebenso bereits BGH, IPRspr. 1958–1959, Nr. 3, S. 8; IPRspr. 1968–1969, Nr. 3, S. 7. 66 Neuhaus, RabelsZ 20 (1955), S. 201, 245 f.; Neumayer, RabelsZ 23 (1958), S. 573, 594 f.; Wengler, JR 1983, 221, S. 225 f. 67 Kegel/Schurig, IPR, § 15 III, S. 506 f.; Kropholler, IPR, § 31 I 2, S. 214; Jayme, in: FS der Juristischen Fakultät zur 600-Jahrfeier der Ruprecht-Karls-Universität Heidelberg, S. 567, 570; Jansen/Michaels, ZZP 116 (2003), 3, 40 ff. 68 Jansen/Michaels, ZZP 116 (2003), 3, 25 f., 42. 65
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bb) Auslegung und Fortbildung ausländischen Sachrechts im Lichte forumeigener Tatsachen und Wertungen Nach dem vorstehend Dargelegten ist mithin deutlich geworden, dass auch auf der Grundlage der Annahme von der Anwendung ausländischen Sachrechts als ausländisches eine Modifikation dieses Sachrechts durch den inländischen Richter nach den Regeln der Auslandsrechtsordnung über die Auslegung und Fortbildung von Rechtsnormen möglich ist. Im Hinblick auf die Rechtsfortbildung ist mit der unzulässigen Rechtsschöpfung jedoch die Grenze der zulässigen Fortbildung ausländischen Rechts für den inländischen Richter eher als für den ausländischen Richter erreicht. Trotz dieser auf Grundlage der Auslandsrechtsordnung möglichen Modifikation ausländischen Sachrechts kann somit unter Umständen die Herstellung der Unionsrechtskonformität der Gesamtnorm aufgrund der gezogenen Grenzen für Auslegung und Fortbildung fehlschlagen. In der Konsequenz würde in diesen Fällen eine spezifisch kollisionsrechtliche Diskriminierung vorliegen. Es stellt sich dann die Frage nach der Berücksichtigung forumeigener Tatsachen und Wertungen bei der Auslegung und Fortbildung ausländischen Sachrechts.69 Dies ist insbesondere in den Konstellationen naheliegend, in denen eine Diskriminierung durch die Berufung des ausländischen Herkunftsrechts für ausländische Waren, Dienstleistungen und Personen, die sich bereits in dem Bestimmungs- bzw. Aufenthaltsstaat befinden, begründet wird. So können in diesen Konstellationen tatsächliche Umstände, die unter die ausländische Sachnorm zu subsumieren sind, im Inland entstanden und damit anders sein als die vergleichbaren tatsächlichen Umstände, die im Regelungsumfeld der ausländischen Sachnorm im Regelfall entstehen.70 Zugleich ist mit dem Aufenthalt einer Person im Inland und mit dem Anbieten von Waren und Dienstleistungen im Inland eine Verknüpfung der grenzüberschreitenden Sachverhalte mit der Inlandsrechtsordnung hergestellt, die die Frage nach einer Berücksichtigung inländischer forumeigener Tatsachen und inländischer forumeigener Wertungen von Normen aufwirft, die auf Inländer und auf mit den ausländischen Waren und Dienstleistungen konkurrierende inländische Produkte anwendbar sind. Diese Frage lässt sich dahingehend umformulieren, ob und wie das kollisionsrechtlich nicht berufene Sachrecht bei der Anwendung des hierzu berufenen Sachrechts zu berücksichtigen ist. 69
Vgl. Jansen/Michaels, ZZP 116 (2003), 3, 34 ff. Vgl. dazu beispielsweise die Fälle über den Prozesskostenzuschuss, den das türkische Unterhaltsrecht bei einem Scheidungsprozess nicht vorsieht, da in der Türkei in Ehesachen kein Anwaltszwang besteht und die Prozesskosten niedrig sind. Anders ist die Situation, wenn das Scheidungsverfahren vor einem deutschen Gericht geführt wird, das nach dem IPR der lex fori zur Bestimmung für das auf die Unterhaltspflichten anwendbaren Rechts nach Art. 14 Abs. 1 EGBGB auf türkisches Recht verweist: OLG Oldenburg, NJW 1982, 2736; AG Charlottenburg, IPRax 1983, 128. 70
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4. Kapitel: Einwirkungen des Primärrechts in das autonome IPR
Die kollisionsrechtliche Dogmatik kennt vier Instrumente zur Berücksichtigung anderer Rechtsordnungen als der zur Anwendung berufenen bei der konkreten Rechtsanwendung: die Substitution, die Transposition sowie die Anpassung (1) und die Auslegung ausländischen Sachrechts (Datumtheorie) (2).71 (1) Substitution, Transposition und Anpassung Die Substitution72 setzt am Tatbestand der Sachnorm an. Sie ist immer dann einschlägig, wenn die zur Anwendung berufene Sachnorm eine rechtlich geprägte Tatbestandsvoraussetzung enthält und die zu ihrer Erfüllung verlangten rechtlichen Umstände in einer anderen als der anwendbaren Rechtsordnung entstanden sind. Stellt man aufgrund einer Rechtsvergleichung fest, dass die fremde Rechtserscheinung konkret-funktional äquivalent mit dem Systembegriff der zur Anwendung berufenen Sachnorm ist, so kann das fremde Rechtsverhältnis das von der eigentlich anwendbaren Sachnorm verlangte Rechtsverhältnis ersetzen (substituieren). Die Transposition73 greift im Fall des Wechsels der auf einen Sachverhalt anwendbaren Rechtsordnung ein. Hierbei müssen die in einer fremden Rechtsordnung begründeten Rechtsverhältnisse und die hieraus entlehnten Rechtsbegriffe in die rechtlichen Kategorien der nunmehr anwendbaren Rechtsordnung übertragen werden. Wie bei der Substitution muss auch zur Transposition eine Gleichwertigkeit der jeweiligen rechtlichen Kategorien vorliegen. Im Gegensatz zur Substitution wird bei der Transposition nicht ein Tatbestandsmerkmal einer anwendbaren Sachnorm ausgefüllt, sondern ein der anwendbaren Rechtsordnung unbekanntes Rechtsinstitut in ein dieser bekanntes funktional-äquivalentes Rechtsinstitut umgewandelt (transponiert). Bei der Anpassung74 werden die Rechtsfolgen einer zur Anwendung berufenen Sachnorm modifiziert. Der Grund dafür liegt in Normwidersprüchen, die aus der Anwendbarkeit mehrerer Rechtsordnungen auf einen einheitlichen Sachverhalt entstehen. Diese Situation tritt ein, wenn verschiedene Rechtsordnungen nacheinander oder nebeneinander auf einen Sachverhalt Anwendung finden.75 Ein Nacheinander ergibt sich in Fällen des Statutenwechsels, ein Nebeneinander in Fällen, in denen Teile des einheitlichen Sachverhalts vom Kollisionsrecht unterschiedlichen Rechtsordnungen zur Regelung zugewiesen werden. Da die Sachnormen unterschiedlicher Rechtsordnungen nicht aufeinander abgestimmt sind, kann aus ihrem Zusammenspiel eine Normenhäufung
71
Vgl. etwa Siehr, IPR, S. 474 ff., aufbauend auf Lewald, RdC 69 (1939), S. 126 ff. Lewald, RdC 69 (1939), S. 130 ff.; Mansel, in: FS W. Lorenz, S. 689 ff. 73 Lewald, RdC 69 (1939), S. 127 ff. 74 Lewald, RdC 69 (1939), S. 136 ff.; Looschelders, Anpassung, passim; Dannemann, Die ungewollte Diskriminierung, passim. 75 Kropholler, IPR, § 34 I, S. 234 f. 72
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oder ein Normenmangel entstehen, die ungewollte Rechtsfolgen zur Folge haben. Um diese zu beseitigen, wird vom Richter im Wege der Anpassung die berufene Sachnorm geändert oder eine neue Sachnorm geschaffen. Aus der groben Darstellung der Substitution, Transposition und Anpassung wird deutlich, dass diese drei Instrumente für eine Auflösung einer Diskriminierung durch Berufung der Herkunftsrechtsordnung wenig beitragen können. Den Maßstab für die Substitution bildet das Verständnis des rechtlich geprägten Tatbestandsmerkmals der zur Anwendung berufenen Sachnorm, in der vorliegend interessierenden Konstellation also der Sachnorm der Herkunftsrechtsordnung. Die Diskriminierung entsteht jedoch, weil die Rechtsfolgen der ausländischen Sachnorm im Vergleich zur inländischen Sachnorm benachteiligend sind. Die Substitution hat keinen Einfluss auf die benachteiligenden Rechtsfolgen. Die Anpassung modifiziert zwar Rechtsfolgen, sie verlangt aber eine intertemporale oder parallele Anwendbarkeit einer anderen Rechtsordnung neben der berufenen Rechtsordnung auf den grenzüberschreitenden Sachverhalt. Bei der Berufung der Herkunftsrechtsordnung kommt es jedoch regelmäßig nicht zu einem Statutenwechsel (intertemporale Anwendbarkeit einer anderen Rechtsordnung). Aus diesem Grund führt auch die Transposition nicht zu weitergehenden Erkenntnissen. Daneben liegt nur in sehr seltenen Ausnahmefällen eine parallele Anwendbarkeit der lex fori und der Herkunftsrechtsordnung auf die hier interessierenden Sachverhalte vor. Relevanter ist für die vorliegende Problematik, in der die Diskriminierung durch eine benachteiligende Wirkung des ausländischen Sachrechts gegenüber dem inländischen Sachrecht eintritt, inwieweit das gerade nicht anwendbare inländische Sachrecht bei der Auslegung und Fortbildung des anwendbaren ausländischen Sachrechts berücksichtigt werden kann. (2) Datumtheorie Eine derartige Berücksichtigung des nicht zur Anwendung berufenen Sachrechts für den Fall, dass eigentlich ausländisches Sachrecht anwendbar ist, wird in Teilen der Literatur mit der Begründung abgelehnt, dass hierdurch der Grundsatz verletzt werde, wonach ausländisches Sachrecht in derselben Art und Weise im Inland anzuwenden ist wie im Ausland.76 Mit der Verweisung auf das ausländische Sachrecht hat die Inlandsrechtsordnung die konkrete Regelung des Auslandssachverhalts an die Auslandsrechtsordnung abgegeben. Die Inlandsrechtsordnung darf daher außer bei Vorliegen der Voraussetzungen des „ordre public“ nach Art. 6 EGBGB nicht in das von der Auslandsrechtsordnung vorgegebene Rechtsanwendungsergebnis eingreifen. Dem steht jedoch entgegen, dass eine nationale Sachnorm regelmäßig vom nationalen Gesetzgeber für die Behandlung inländischer Sachverhalte geschaffen wurde und 76
MünchKommBGB (2010)/Sonnenberger, Einl. IPR Rn. 610; von Bar/Mankowski, IPR I, § 4 Rn. 24.
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4. Kapitel: Einwirkungen des Primärrechts in das autonome IPR
die Kollisionsnorm lediglich die entsprechende Anwendung einer nationalen Sachnorm auf einen Sachverhalt mit Auslandsbezug anordnet.77 Die Kollisionsnorm verlangt, anders gewendet, die Gleichstellung eines internationalen Sachverhalts mit einem nationalen Sachverhalt durch Verweisung. Da die anwendbare nationale Sachnorm jedoch primär für die Regelung des nationalen Sachverhalts erlassen wurde, kann die Internationalität des an diese Sachnorm verwiesenen Sachverhalts eine Modifikation der Sachnorm verlangen, um die gewünschte materielle Gerechtigkeit zu erreichen. In die aufgrund der Internationalität des Sachverhalts notwendige Modifikation fließen die Wertungen des nicht anwendbaren Sachrechts ein. Die Berücksichtigung eines Sachrechts, das eigentlich nicht anwendbar ist, vermag die Datumtheorie zu erklären. Für die Datumtheorie78 ist das nicht anwendbare Sachrecht, das mit einem internationalen Sachverhalt verknüpft ist, eine beim Subsumtionsvorgang unter die zur Anwendung berufene Sachnorm berücksichtigungsfähige Tatsache (datum).79 Sie erkennt dabei Regeln, die an einem bestimmten Ort gelten, als sog. „local data“ an, die entweder durch Verweisung als „rules of decision“ angewandt oder ohne kollisionsrechtliche Anknüpfung als „data of the domestic rule“ berücksichtigt werden.80 Daneben können auch Rechts-, Kultur- und Moralvorstellungen einer Rechtsordnung, mit der der Sachverhalt mit Auslandsbezug verknüpft ist, als „moral data“ berücksichtigungsfähig sein.81 Die Datumtheorie ermöglicht damit, den Tatbestand der eigentlich anwendbaren Sachnorm durch die Berücksichtigung des nicht anwendbaren, aber mit dem Sachverhalt verknüpften Sachrechts an die Besonderheiten des Sachverhalts mit Auslandsbezug anzupassen.82 Die Rechtsfolgen sind der anwendbaren Sachrechtsnorm zu entnehmen. Methodisch wird die Datumtheorie im IPR durch die zweite Stufe der „Zwei-StufenTheorie des IPR“83 umgesetzt. Während auf der ersten Stufe das anwendbare 77 E. Lorenz, FamRZ 1987, 645, 647 f.; Mansel, in: FS W. Lorenz, S. 689, 704; Looschelders, Anpassung, S. 94 ff. 78 Entwickelt von Ehrenzweig, Private International Law, Band 1, S. 83 ff.; ders., Buff.L.Rev. 16 (1966/67), 55 ff.; ders., RdC 124 (1968), 167, 308 f.; in den deutschsprachigen Rechtsraum eingeführt und fortentwickelt von Jayme, in: GS Ehrenzweig, S. 35 ff.; ders., in: Zacher, Der Versorgungsausgleich, S. 423, 424 f.; ders., in: FS Müller-Freienfels, S. 341, 367 ff. 79 Weller, Grenze der Vertragstreue, S. 45. 80 Ehrenzweig, Buff.L.Rev. 16 (1966/67), 55, 57. 81 Jayme, in: GS Ehrenzweig, S. 35, 43 ff. 82 Mansel, in: FS W. Lorenz, S. 689, 704. 83 Jayme, Rechtsvergleichung – Ideengeschichte und Grundlagen von Emerico Amari zur Postmoderne, 2000, S. 137, 143 f.; ders., FS Müller-Freienfels, 1986, S. 367 ff.; E. Lorenz, FamRZ 1987, 645 ff.; ders., in: FS W. Lorenz, S. 441, 464 ff.; Heßler, Sachrechtliche Generalklausel und internationales Privatrecht – Zu einer zweistufigen Theorie des internationalen Privatrechts, passim; Mansel, in: FS W. Lorenz, S. 689, 703 ff.; Weller, ZGR 2010, 679, 694 f.; ders. Grenzen der Vertragstreue, S. 43 ff.
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Recht mittels Qualifikation, Anknüpfung und renvoi ermittelt wird, passt die zweite Stufe auf der Sachrechtsebene das anwendbare Sachrecht an die Internationalität des Sachverhalts mit Auslandsbezug mittels Transposition, Substitution, Anpassung und Datumtheorie an.84 Diese klare Trennung der zwei Stufen widerlegt85 auch die Kritik an der „Zwei-Stufen-Theorie“, wonach es sich bei ihr um einen „Methodenmix“ handele, bei dem die Gefahr „einer Verwischung von kollisions- und sachrechtlicher Ebene und einer willkürlichen Manipulation der Sachnormen“ bestehe.86 Beruft das inländische Kollisionsrecht eine ausländische Sachnorm, kann nach der „Datum-Theorie“ auf der zweiten Stufe der „Zwei-Stufen-Theorie“ dem berücksichtigungsfähigen forumeigenen Sachrecht in den Grenzen Rechnung getragen werden, die die Methodenlehre der Auslandsrechtsordnung und die ratio legis der ausländischen Sachnorm setzen. Andernfalls würden der ausländischen Sachnorm Regelungen, die der Auslandsrechtsordnung gänzlich fremd sind,87 und Wertungen eines anderen, insbesondere des inländischen Rechts „aufgepfropft“88, was mit dem Sinn und Zweck der kollisionsrechtlichen Verweisung nicht mehr in Einklang zu bringen wäre. Sind die Grenzen der Berücksichtigung forumeigenen Rechts bei der Anwendung, Auslegung und Fortbildung der ausländischen Sachnorm erreicht, kann ein dadurch nicht erreichtes Anwendungsergebnis nur durch eine Änderung des Verweisungsergebnisses auf Ebene des Kollisionsrechts erreicht werden.89 Projiziert man dieses Ergebnis auf die vorliegende Ausgangsfrage, so liegt in diesen Fällen eine spezifisch kollisionsrechtliche Diskriminierung vor. cc) Unionsrechtskonforme Auslegung und Fortbildung ausländischer Sachnormen Nunmehr ist deutlich geworden, dass der inländische Richter die ausländische Sachnorm auch bei der Anwendung ausländischen Sachrechts als ausländisches in der Inlandsrechtsordnung nach den Regeln der Auslandsrechtsordnung auslegen und fortbilden und dabei auch forumeigene Tatsachen und Wertungen als Datum berücksichtigen kann. Diesen Modifikationsmöglichkeiten sind zugleich Grenzen gesetzt, die die jeweilige ausländische Methodenlehre zieht. Vor diesem Hintergrund stellt sich die abschließende Folgefrage, ob das Gericht der lex fori bei einem Unionsrechtsverstoß der aus der inländischen Kollisionsnorm und der ausländischen Sachnorm gebildeten Gesamtnorm jenseits 84
Weller, ZGR 2010, 679, 694 f.; ders. Grenzen der Vertragstreue, S. 44. E. Lorenz, FamRZ 1987, 645, 648; Weller, Grenzen der Vertragstreue, S. 48. 86 So die Kritik bei MünchKommBGB (2010)/Sonnenberger, Einl. IPR Rn. 608. 87 Beispielsweise der Versorgungsausgleich in einer Rechtsordnung, die diesen nicht kennt, vgl. E. Lorenz, FamRZ 1987, 645, 653. 88 Looschelders, Anpassung, S. 102; E. Lorenz, FamRZ 1987, 645, 653. 89 E. Lorenz, FamRZ 1987, 645, 653. 85
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der bislang aufgezeigten Grenzen der Modifikation ausländischen Sachrechts über weitergehende Befugnisse zur Fortbildung des ausländischen Sachrechts bis hin zum Ausspruch von dessen Unanwendbarkeit verfügt, wenn der Sachverhalt in den Anwendungsbereich von Unionsrecht fällt. Der Grund für die Annahme derartiger weitergehender Fortbildungsbefugnisse liegt in der den Verbund der Rechtsordnungen in der Europäischen Union kennzeichnenden Bindung des nationalen Richters an zwei Rechtsordnungen: die eigene nationale Rechtsordnung und die EU-Rechtsordnung. Bislang wurden die Befugnis zur und die Möglichkeiten der Modifikation der ausländischen Sachnorm aus dem Blickwinkel der jeweiligen nationalen Rechtsordnung betrachtet. Der inländische Richter soll die ausländische Sachnorm schließlich so auslegen, wie es der ausländische Richter tut. Nunmehr soll die Möglichkeit der Modifikation ausländischen Sachrechts aus dem Blickwinkel der Unionsrechtsordnung betrachtet werden. Die Wirkung und die Bindung der Unionsrechtsordnung sind für den inländischen Richter dieselben wie für jeden anderen EU-ausländischen Richter. Damit gilt das Unionsrecht in der inländischen wie in der ausländischen Rechtsordnung gleichermaßen, bindet die Gesetzgebung wie die Rechtsprechung in gleichem Maße und macht dieselben rechtlichen Vorgaben. Für das inländische Recht wurde bereits herausgearbeitet, dass das Unionsrecht weitreichende Vorgaben für die Auslegung und Fortbildung nationalen Rechts macht. Diese Vorgaben schließen insbesondere die Möglichkeit der Nichtanwendung entgegenstehenden nationalen Rechts bei unmittelbar anwendbaren Unionsrechtsnormen ein.90 Die weiterreichenden Befugnisse des Richters im Anwendungsbereich des unmittelbar anwendbaren Unionsrechts erklären sich daraus, dass er dann nicht mehr nur nationaler Richter ist, sondern auch Unionsrichter. Dies legt mithin den Schluss nahe, dass der inländische Richter, wenn er im Verhältnis zum ausländischen Sachrecht als Unionsrichter auftritt, über dieselben aus dem Unionsrecht folgenden Befugnisse im Hinblick auf die Modifikation des ausländischen Sachrechts verfügt. Die Antwort auf die eingangs aufgeworfene Folgefrage findet sich im Urteil des EuGH in der Rechtssache „Murphy“,91 in der sich der Gerichtshof zur gemeinschaftsrechtskonformen Auslegung äußert. Hiernach ist es Sache des „nationalen Gerichts, das innerstaatliche Gesetz unter voller Ausschöpfung des Beurteilungsspielraums, den ihm das nationale Recht einräumt, in Übereinstimmung mit den Anforderungen des Gemeinschaftsrechts auszulegen und anzuwenden; soweit eine solche gemeinschaftsrechtskonforme Auslegung nicht möglich ist, darf es entgegenstehende innerstaatliche Vorschriften nicht anwenden.“92 Nach dem oben Ausgeführten wendet der inländische Richter das 90
Siehe oben S. 69 ff. EuGH, Rs. 157/86, Murphy, Slg. 1988, 673. 92 EuGH, Rs. 157/86, Murphy, Slg. 1988, 673 Rn. 11. 91
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ausländische Sachrecht in derselben Weise an wie der ausländische Richter. Dieser hat als Unionsrichter sein innerstaatliches Recht im Anwendungsbereich des Unionsrechts unter Beachtung der gerade zitierten Anforderungen, die das „Murphy“-Urteil an ihn stellt, auszulegen und fortzubilden und im Anwendungsbereich des unmittelbar anwendbaren Unionsrechts bei fortbestehender Unionsrechtsverletzung sogar unangewendet zu lassen. Somit kann der inländische Richter das ausländische Sachrecht wie der ausländische Richter in unionsrechtskonformer Weise auslegen und bis zur „contra legem“-Grenze fortbilden, die nach den Maßstäben der ausländischen Rechtsordnung unter besonderer Berücksichtigung des Prinzips der Kompatibilität der Rechtsordnungen im Verbund der Rechtsordnungen gezogen wird. Da das Unionsrecht selbst keine Pflicht zur unionsrechtskonformen Auslegung und Rechtsfortbildung aufstellt, sondern sich eine solche vielmehr aus dem nationalen Recht ableitet, muss, wenn der inländische Richter auf eine derartige Auslegung oder Rechtsfortbildung verzichten möchte, die Auslandsrechtsordnung daraufhin befragt werden, ob sie eine dem deutschen verfassungsrechtlichen „favor legis“ vergleichbare Rechtspflicht zur weitestmöglichen Aufrechterhaltung der nationalen Rechtsnorm enthält. Gelingt es nunmehr nicht, einen unionsrechtskonformen Rechtszustand unter Aufrechterhaltung der ausländischen Sachnorm herzustellen, ist der inländische Richter im Anwendungsbereich unmittelbar anwendbaren Unionsrechts als Unionsrichter dazu befugt, die ausländische Sachnorm aufgrund des Anwendungsvorrangs des Unionsrechts unangewendet zu lassen.93 Ein Beispiel für diese Befugnisse des inländischen Richters als Unionsrichter bei der Anwendung, Auslegung und Fortbildung ausländischen Sachrechts liefert in der Rechtsprechung des EuGH das Urteil in der Rechtssache „Delhaize“.94 Hier legte der belgische „tribunal de commerce“ dem EuGH eine Frage zur Eingriffsqualität einer spanischen Vorschrift in die Ausfuhrfreiheit nach Art. 34 EWGV (Art. 35 AEUV) vor, die der EuGH im Ergebnis mit der Folge bejahte, dass das belgische Gericht die spanischen Vorschriften nicht anwenden durfte. In einem späteren Urteil machte der EuGH zudem deutlich, dass ein nationales Gericht in seiner Funktion als Unionsgericht dem EuGH auch Fragen vorlegen kann, deren Beantwortung dem nationalen Gericht der Prüfung der Vereinbarkeit ausländischen Sachrechts mit Unionsrecht dient. In dem Urteil in der Rechtssache „Bacardi-Martini“ stellte der EuGH fest: „Da
93
Sonnenberger, ZVglRWiss 95 (1996), 3, 46 f.; Leible/Domröse, in: Riesenhuber, Europäische Methodenlehre, § 9 Rn. 53 f., S. 275 f.; GA Alber, SchlA Rs. C-220/01, Lennox, Slg. 2002, I-7091 Nr. 82 ff. Zur richtlinienkonformen Auslegung ausländischen Sachrechts: Gebauer, in: Jayme, Kulturelle Identität, S. 187 ff.; Pfeiffer, StudZR 2004, 171, 191 f.; Ehricke, RabelsZ 59 (1995), 598, 640 ff.; Roth, in: Riesenhuber, Europäische Methodenlehre, § 14 Rn. 6 ff., S. 396 ff. 94 EuGH, Rs. C-47/90, Delhaize, Slg. 1992, I-3669.
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die Vorlagefragen es im vorliegenden Fall dem vorlegenden Gericht ermöglichen sollen, die Vereinbarkeit der Rechtsvorschriften eines anderen Mitgliedstaats mit dem Gemeinschaftsrecht zu beurteilen, müssen dem Gerichtshof die Gründe eingehend dargelegt werden, die dieses Gericht zu der Annahme bewogen haben, dass die Beantwortung dieser Fragen erforderlich sei, um ihm eine Entscheidung zu ermöglichen.“95 Bevor allerdings der inländische Richter eine ausländische Sachnorm unangewendet lassen kann, muss er bei festgestellter Unmöglichkeit einer unionsrechtskonformen Auslegung und Fortbildung dieser Sachnorm die inländische Kollisionsnorm daraufhin überprüfen, ob sie in unionsrechtskonformer Weise dergestalt ausgelegt oder fortgebildet werden kann, dass sie auf diejenige Sachnorm verweist, die das unionsrechtskonforme Ergebnis erzeugt. Dies folgt aus dem Gedanken des Respekts vor der gesetzgeberischen Entscheidung in der Auslandsrechtsordnung. Es handelt sich bei diesem Vorgang um einen „favor legis“ zu Gunsten des Auslandsrechts. Eine mögliche Fortbildung der Kollisionsnorm erfolgt dann allerdings nicht aufgrund des Vorliegens einer spezifisch kollisionsrechtlichen Beschränkung, sondern aufgrund eines Abweichens der aus der Sach- und Kollisionsnorm gebildeten Gesamtnorm von den unionsrechtlichen Vorgaben.96 Ist schließlich eine unionsrechtskonforme Auslegung oder Fortbildung weder der ausländischen Sachnorm noch der inländischen Kollisionsnorm möglich, greift der Anwendungsvorrang gegenüber der Gesamtnorm. Dies bedeutet, dass der nationale Richter dasjenige Elemente der Gesamtnorm unangewendet lassen muss, das die Rechtsfolgendivergenz begründet. Da es sich hierbei meist um sowohl die Sach- als auch die Kollisionsnorm handeln kann, steht es dem nationalen Richter mithin frei zu entscheiden, welche er suspendiert und durch den Normbefehl der Unionsrechtsnorm ersetzt.97 Hieraus wird deutlich, dass aufgrund des Anwendungsvorrangs, der vom inländischen Richter gegenüber der ausländischen Sachnorm in gleichem Maße durchzuführen ist wie gegenüber einer vergleichbaren inländischen Sachnorm, eine spezifisch kollisionsrechtliche Diskriminierung durch die Berufung benachteiligenden ausländischen Sachrechts nicht vorliegen kann. Dem unionsrechtlich Berechtigten stehen nämlich mit dem Anwendungsvorrang in jeder Konstellation rechtliche Möglichkeiten zur Verfügung, um der benachteiligenden Anwendbarkeit des ausländischen Sachrechts zu entgehen. In diesen Konstellationen, dies sei abschließend noch angemerkt, erscheint es vorzugswürdig, die Unionsrechtskonformität auf der Ebene des Kollisionsrechts herzustellen. Selbst wenn die Befugnis zur Rechtsfortbildung ausländi-
95
EuGH, Rs. C-318/00, Bacardi-Martini, Slg. 2003, I-905 Rn. 46. Zu dieser Fallgruppe sogleich S. 312. 97 Hierzu sogleich unter II., S. 312 f. 96
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schen Sachrechts im Anwendungsbereich des unmittelbar anwendbaren Unionsrechts weitgehender ist als außerhalb und selbst wenn hiermit der inländische Richter zur Behandlung des ihm vorgelegten Sachverhalts weitreichende Modifikationen des Auslandsrechts vornehmen kann, bedeutet eine Fortbildung des Auslandssachrechts aufgrund eines grenzüberschreitenden Sachverhalts einen Eingriff in die Stimmigkeit des Auslandsrechts, die zu weiteren Lücken und Anpassungsproblemen führt. Lässt sich der Sachverhalt allerdings durch die schlichte Berufung eines anderen Sachrechts, unionsrechtskonform behandeln, ohne dass dieses weitergehend modifiziert werden müsste, erscheint die Herstellung eines unionsrechtskonformen Rechtszustands auf der Ebene des Kollisionsrechts die vorzugswürdige Herangehensweise zu sein. III. Zusammenfassung Die Existenz spezifisch kollisionsrechtlicher Diskriminierungen oder Beschränkungen, bei denen die Herstellung der Unionsrechtskonformität ausschließlich auf der Ebene des Kollisionsrechts erfolgt, ist nicht vollkommen ausgeschlossen. Sie kommen aber nur unter sehr engen Voraussetzungen vor. Transaktionskosten, die mit der kollisionsrechtlichen Berufung fremden Rechts verbunden sind, können keine derartigen Unionsrechtsverstöße begründen, da sie die zwingende Folge der vom Unionsrecht grundsätzlich hinzunehmenden Fortexistenz divergierender mitgliedstaatlicher Rechtsordnungen sind. Die Berufung einer anderen Rechtsordnung als der Herkunftsrechtsordnung mit der Folge, dass im Fall divergierenden Sachrechts eine im Herkunftsstaat erworbene Rechtslage im Hoheitsgebiet der lex fori nicht besteht, ist grundsätzlich ebenso wenig eine spezifisch kollisionsrechtliche Beschränkung. Eine solche könnte nämlich nur dann angenommen werden, wenn unabhängig von dem konkret zur Anwendung berufenen Sachrecht die schlichte Berufung eines anderen als des Sachrechts der Herkunftsrechtsordnung zu einem hinkenden Rechtsverhältnis führt. Dies ist allenfalls bei sehr eigenartigen und wenig verbreiteten Rechtslagen der Fall. Eine spezifisch kollisionsrechtliche Beschränkung wäre in diesem Kontext noch denkbar, wenn ein anderes als das Herkunftssachrecht „in einem hohen Prozentsatz von Fällen und somit quasi ‚generell‘“98 ein hinkendes Rechtsverhältnis begründet. In allen anderen Fällen sind hinkende Rechtsverhältnisse auf divergierende Sachrechte zurückzuführen. Die Kollisionsnorm, die eine andere als die Herkunftsrechtsordnung des unionsrechtlich Berechtigten zur Anwendung bestimmt, kann sowohl solche Sachnormen berufen, die Auswirkungen auf das Bestehen einer Rechtslage haben, als auch solche, die mangels Rechtsfolgendivergenz das Bestehen der
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Rechtslage unberührt lassen. Mithin lässt sich im Regelfall bei der kollisionsrechtlichen Berufung anderer Rechtsordnungen als der Herkunftsrechtsordnung keine spezifisch kollisionsrechtliche Beschränkung ausmachen. Bei der Berufung von Sachnormen des Herkunftsstaates ist danach zu unterscheiden, ob der kollisionsrechtliche Verweis von der Herkunftsrechtsordnung selbst oder von der Rechtsordnung des Bestimmungs- bzw. Aufenthaltsstaates des unionsrechtlich Berechtigten ausgeht. Im ersten Fall liegt eine spezifisch kollisionsrechtliche Beschränkung nicht vor. Deren Annahme hängt nämlich davon ab, ob die Herkunftsrechtsordnung kollisions- oder sachrechtliche Möglichkeiten für den unionsrechtlich Berechtigten vorsieht, sich den beschränkenden Wirkungen des Sachrechts des Herkunftsstaates zu entziehen. Derartige Möglichkeiten können auch erst im Wege und in den Grenzen der richterlichen Rechtsfortbildung geschaffen worden sein. Da das beschränkende Sachrecht zudem aus der Sicht des Gerichts der lex fori inländisches Recht ist, verfügt das Gericht über die gesamte Bandbreite der inländischen Auslegungs- und Fortbildungsbefugnisse einschließlich der unionsrechtskonformen Auslegung und Fortbildung. Sind deren Grenzen erreicht, greift der Anwendungsvorrang, wobei es im Ermessen des Gerichts steht, ob die Kollisionsnorm oder die Sachnorm dem Anwendungsvorrang unterliegt. Mithin kann in dieser Konstellation die Unionsrechtskonformität immer auch auf der Ebene des Sachrechts hergestellt werden, so dass keine spezifisch kollisionsrechtliche Beschränkung vorliegt. Bei der Berufung des Sachrechts des Herkunftsstaates durch das Kollisionsrecht des Bestimmungs- bzw. Aufenthaltsstaates ist die Annahme einer spezifisch kollisionsrechtlichen Diskriminierung ermaßen abzulehnen. Sie läge nämlich erst dann vor, wenn das Rechtsanwendungsergebnis der aus der Kollisionsnorm der lex fori und der ausländischen Sachnorm zusammengesetzten Gesamtnorm nicht mit den Mitteln der unionsrechtskonformen Auslegung und Rechtsfortbildung sowie, als ultima ratio, mit der Unanwendbarkeit der ausländischen Sachnorm aufgrund des Anwendungsvorrangs des Unionsrechts erreicht werden kann. Im Anwendungsbereich des unmittelbar anwendbaren Unionsrechts verfügt das Gericht der lex fori in seiner Funktion als Unionsgericht über dieselben Befugnisse wie das Gericht des ausländischen Sachrechts in seiner Funktion als Unionsgericht. Mithin steht dem Gericht immer die Möglichkeit zur Verfügung, ausländisches Sachrecht zu suspendieren und durch den Normbefehl des unmittelbar anwendbaren Unionsrechts zu ersetzen. Dabei ist allerdings zu berücksichtigen, dass das Gericht der lex fori nach dem Erreichen der „contra legem“-Grenze im ausländischen Sachrecht zunächst eine unionsrechtskonforme Auslegung und Fortbildung des Kollisionsrechts versuchen sollte. Erst wenn auch im Kollisionsrecht die „contra legem“-Grenze erreicht ist, führt das Gericht der lex fori den Anwendungsvorrang durch. Dabei erscheint es vorzugswürdiger, den unionsrechtskonformen Rechtszustands auf
B. Internationales Gesellschaftsrecht
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der Ebene des Kollisionsrechts herzustellen, wenn die Durchführung des Anwendungsvorrangs auf dieser Ebene die Berufung eines anderen Sachrechts zur Folge hat und dadurch weitreichende Modifikationen des ausländischen Sachrechts vermieden werden können.
B. Internationales Gesellschaftsrecht B. Internationales Gesellschaftsrecht
Das erste Teilrechtsgebiet des Kollisionsrechts, in dem das europäische Primärrecht relevant wurde und zu dem der EuGH eine Reihe von Entscheidungen erließ, ist das Internationale Gesellschaftsrecht. Dies ist vor dem Hintergrund auch wenig überraschend, dass es gerade dem Grundgedanken des Binnenmarktes entspricht, dass sich Unternehmen dort ansiedeln, wo sie am effizientesten ihrer jeweiligen wirtschaftlichen Tätigkeit nachgehen können. Mithin ist eine grenzüberschreitende Unternehmensverlagerung vom Binnenmarktrecht gerade gewollt. Im Gegensatz zu natürlichen Personen können Unternehmen jedoch nicht lediglich „umziehen“. Schließlich handelt es sich bei ihnen um rechtlich konfigurierte Marktakteure,99 deren Existenz von einer Rechtsordnung abhängt. Verlagern sich inländische Unternehmen in das EU-Ausland oder verlagern sich EU-ausländische Unternehmen in das Inland, so kommen sowohl die Rechtsordnung des Herkunftsstaates des Unternehmens als auch diejenige des Zuzugsstaates ins Spiel. Die Regelung des Aufeinandertreffens unterschiedlicher Rechtsordnungen ist die Aufgabe des Kollisionsrechts. Die durch das Kollisionsrecht bestimmte, auf die rechtliche Konfiguration anwendbare Sachrechtrechtsordnung kann nun aus der Sicht des freizügigkeitsberechtigten rechtlich konfigurierten Marktakteurs nachteilhaft sein. Führt die Kollisionsnorm zu einem Wechsel der anwendbaren Sachrechtsordnungen, könnten rechtliche Vorteile der Herkunftsrechtsordnung verloren gehen. Bestimmt das Kollisionsrecht des Bestimmungsstaates weiterhin das Herkunftsrecht als anwendbare Sachrechtsordnung, könnte damit der Zugang zu günstigeren Rechtsvorschriften der Bestimmungsrechtsordnung verwehrt werden. Derartige Nachteile, die die Ausübung der grundfreiheitlich geschützten Freizügigkeitsrechte für rechtlich konfigurierte Marktakteure weniger attraktiv erscheinen lassen, führten dazu, dass Sachverhalte, in denen das Internationale Gesellschaftsrecht relevant war, in den Fokus des europäischen Primärrechts gerieten. Nach einer Einführung in das autonome Kollisionsrecht der rechtlich konfigurierten Marktakteure und seiner Grundstrukturen (I.) soll entlang der Rechtsprechung des EuGH (II.) untersucht werden, auf welche Weise der Anwendungsvorrang des europäischen Primärrechts im autonomen Internationalen Gesellschaftsrecht wirkt (III.). 99
Begriff nach Müller-Graff, in: Streinz, Art. 54 AEUV Rn. 2; ders., EWS 2009, 489.
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4. Kapitel: Einwirkungen des Primärrechts in das autonome IPR
I. Das autonome Kollisionsrecht der rechtlich konfigurierten Marktakteure 1. Aufgabe des Kollisionsrechts: Bestimmung des Gesellschaftsstatuts Als Kollisionsrecht bestimmt das Internationale Gesellschaftsrecht bei einem gesellschaftsrechtlichen Sachverhalt mit Auslandsberührung diejenige der berührten Gesellschaftsrechtsordnungen, die auf die gesellschaftsrechtliche Beziehung anzuwenden ist.100 Die Auslandsberührung des Sachverhalts hat zur Folge, dass neben der inländischen auch eine oder mehrere ausländische Gesellschaftsrechtsordnungen Anwendung finden können. Es stellt sich mithin die Frage, „welche Rechtsordnung verleiht einer Gesellschaft Rechtsfähigkeit [und] welche Rechtsordnung läßt sie entstehen, leben, vergehen“.101 Das Kollisionsrecht weist die Beantwortung dieser Fragen einer Gesellschaftsrechtsordnung zu.102 Hierbei ist das Kollisionsrecht nicht frei. Es soll vielmehr „das der Sache angemessene, d.h. dem privaten Rechtsanwendungsinteresse der Beteiligten am nächsten stehende Entscheidungsrecht berufen“.103 Ausgehend vom Gleichrang und damit einhergehend von der Gleichwertigkeit aller vom Sachverhalt berührten Gesellschaftsrechtsordnungen sucht das Kollisionsrecht nach derjenigen Gesellschaftsrechtsordnung, zu der der Sachverhalt die „engste Verbindung“ hat.104 Dies ist im Kollisionsrecht Savigny’scher Prägung das „räumlich beste Recht“.105 Hierdurch soll dem Ideal entsprochen werden, dass „die Rechtsverhältnisse, in Fällen einer Kollision der Gesetze, dieselbe Beurteilung zu erwarten haben, ohne Unterschied, ob in diesem oder jenem Staate das Urteil gesprochen wird.“106 Die Zuordnung zum räumlich besten Recht erfolgt in bewusster Abwendung von einer möglichen einzelfallbezogenen Feststellung des jeweiligen sachverhaltlichen Schwerpunkts durch typisierte Kriterien, den Anknüpfungsmomenten.107 Die somit ermittelten Sachnormen bilden das Personalstatut der Gesellschaft – auch Gesellschaftsstatut oder lex societatis genannt.108 Bevor jedoch das Anknüpfungsmoment die Zuordnung zur anzuwendenden Gesellschafsrechtsordnung bestimmen kann, ist im
100
Staudinger/Großfeld, IntGesR Rn. 1. Staudinger/Großfeld, IntGesR Rn. 1. 102 MünchKommGmbHG/Weller, Einl. Rn. 314. 103 MünchKommBGB (2010)/Sonnenberger, Einl. IPR Rn. 19. 104 MünchKommGmbHG/Weller, Einl. Rn. 315; MünchKommBGB (2010)/Sonnenberger, Einl. IPR Rn. 23, der von der „stärksten Beziehung“ spricht. 105 Vgl. MünchKommBGB (2010)/Sonnenberger, Einl. IPR Rn. 23, 79 ff.; im Gegensatz dazu die „politische“ Schule des IPR, die materielle Wertungen durch das Kollisionsrecht verwirklicht sehen möchte, vgl. hierzu MünchKommBGB (2010)/Sonnenberger, Einl. IPR Rn. 24 ff. 106 Savigny, System des heutigen Römischen Rechts, Bd. VIII, S. 27. 107 MünchKommGmbHG/Weller, Einl. Rn. 316. 108 Staudinger/Großfeld, IntGesR Rn. 17. 101
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Wege der Qualifikation zu entscheiden, ob der Lebenssachverhalt mit Auslandsberührung dem Anknüpfungsgegenstand der gesellschaftsrechtlichen Kollisionsnorm unterliegt. Die konkrete Begriffsbildung ist im deutschen autonomen Gesellschaftskollisionsrecht mangels Kodifikation Aufgabe von Rechtsprechung und Lehre.109 Art. 1 Abs. 2 lit. f) der Rom I-VO110 bestimmt, dass „Fragen betreffend das Gesellschaftsrecht, das Vereinsrecht und das Recht der juristischen Personen, wie die Errichtung durch Eintragung oder auf andere Weise, die Rechts- und Handlungsfähigkeit, die innere Verfassung und die Auflösung von Gesellschaften, Vereinen und juristischen Personen sowie die persönliche Haftung der Gesellschafter und der Organe für die Verbindlichkeiten einer Gesellschaft, eines Vereins oder einer juristischen Person“ nicht von ihr erfasst sind. Damit ist das Internationale Gesellschaftsrecht entweder Gegenstand von Staatsverträgen oder des autonomen Internationalen Gesellschaftsrechts der Mitgliedstaaten. 2. Der Gesellschaftsbegriffs des autonomen Gesellschaftskollisionsrechts In subjektiver Hinsicht muss es sich um eine Gesellschaft im Sinne des Internationalen Privatrechts handeln. Der kollisionsrechtliche Gesellschaftsbegriff ist im autonomen deutschen Recht weiter als der sachrechtliche.111 Er umfasst nicht nur rechtsfähige juristische Personen, sondern alle „organisierten Personenzusammenschlüsse und organisierten Vermögenseinheiten“112. Damit sind auch die Personenhandelsgesellschaften wie die OHG oder die KG erfasst, die keine eigene Rechtspersönlichkeit haben. Zu unterscheiden ist bei der Gesellschaft bürgerlichen Rechts (GbR).113 Sofern diese als Außengesellschaft im Rechtsverkehr auftritt, ist die GbR hinsichtlich des zu bestimmenden Gesellschaftsstatuts den juristischen Personen ebenfalls gleichzustellen. Dies folgt schon aus der mittlerweile gesetzten Rechtsprechung, wonach die Außen-GbR über eine eigene Rechtspersönlichkeit verfügt.114 Als reine Innengesellschaft ist die GbR schuldvertraglich zu qualifizieren und unterliegt somit den Art. 3, 4 der Rom I-VO.115
109 Vgl. MünchKommBGB/Kindler, IntGesR Rn. 4 f.; Wedemann, RabelsZ 75 (2011), 541, 547. 110 Verordnung (EG) Nr. 593/2008 über das auf vertragliche Schuldverhältnisse anzuwendende Recht (Rom I), ABl. 2008 L 177/6. 111 MünchKommBGB/Kindler, IntGesR Rn. 3. 112 MünchKommBGB/Kindler, IntGesR Rn. 3 mit Verweis auf Art. 150 Abs. 1 des schweizerischen IPRG. 113 BGH WM 1959, 1110; NJW 1967, 36, 38. 114 Vgl. BGHZ 146, 341; BGH, NJW 2002, 1207. 115 Vgl. BGH, IPRax 2010, 367; BGH, NJW 2004, 3706, 3708 (beide noch bezugnehmend auf Art. 27 EGBGB); MünchKommBGB/Kindler, IntGesR Rn. 287; MünchKomm-
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4. Kapitel: Einwirkungen des Primärrechts in das autonome IPR
3. Die Reichweite des Gesellschaftsstatuts: Einheit des Gesellschaftsstatuts Das Gesellschaftsstatut im deutschen Kollisionsrecht erfasst nach überwiegender Ansicht alle gesellschaftsrechtlichen Rechtsbeziehungen.116 Alle Rechtssätze, die regeln, „unter welchen Voraussetzungen die juristische Person entsteht, lebt und vergeht“,117 sollen hiernach einheitlich einer einzigen Rechtsordnung unterstellt werden.118 Diese weitreichende einheitliche Anknüpfung des Gesellschaftsstatuts wird als Einheitslehre bezeichnet und wurde vom BGH bestätigt.119 Als Grund für die Einheitlichkeit der Anknüpfung wird angeführt, dass die materiellen Gesellschaftsrechtsregeln sinnhaft aufeinander abgestimmt sind. So stehen etwa die Regelungen zum Haftungsdurchgriff auf die Gesellschafter in einem Sinnzusammenhang mit dem von einer Rechtsordnung geforderten Gesellschaftskapital.120 Sie voneinander zu trennen, widerspräche dem funktionalen Zusammenhang, in dem die gesellschaftsrechtlichen Regelungen zum Innen- und Außenverhältnis miteinander stehen.121 Die mit einer Anwendung unterschiedlicher Sachrechte auf eine Gesellschaft einhergehenden Abgrenzungs- und Anpassungsprobleme sind der Rechtssicherheit und der Rechtsklarheit abträglich und sollten daher durch die einheitliche Anwendung eines Sachrechts vermieden werden.122 Vor diesem Hintergrund wird deutlich, wieso die Frage nach dem Anknüpfungsmoment die „quaestio famosa des Internationalen Gesellschaftsrechts“123 ist. Die Wahl des Anknüpfungsmoments hat unter der Einheitslehre eine weitreichende Bedeutung. Das durch das Anknüpfungsmoment bestimmte Recht regelt schließlich einerseits die Existenz der Gesellschaft und andererseits ihre Tätigkeit. Hinsichtlich der Tätigkeit der Gesellschaft tariert dieses Sachrecht die Interessen der Gesellschaft und die Schutzinteressen Dritter aus. GmbHG/Weller, Einl. Rn. 318. Zu weiteren Einzelfällen, die dem kollisionsrechtlichen Gesellschaftsbegriff unterfallen, wie nichtrechtsfähige Vermögensmassen oder „trusts“, vgl. Wedemann, RabelsZ 75 (2011), 541, 547 ff. 116 Grundlegend RG, JW 1884, 271; vgl. Staudinger/Großfeld, IntGesR Rn. 16; MünchKommBGB/Kindler, IntGesR Rn. 543; Spahlinger/Weger, Internationales Gesellschaftsrecht, B Rn. 21; Behrens, IPRax 2003, 193, 204. 117 So BGHZ 25, 134, 144. 118 von Bar, IPR, Band II, Rn. 622; MünchKommGmbHG/Weller, Einl. Rn. 388. 119 BGH, EuZW 2000, 412, 413 (Vorlagebeschluss in der Rechtssache Überseering); implizit durch BGH, EuZW 2006, 61, indem der BGH betreffend die gesetzliche Haftung einer englischen Limited englisches Recht zur Anwendung berief. 120 So etwa BGH, EuZW 2000, 412, 413. 121 Staudinger/Großfeld, IntGesR Rn. 249; MünchKommBGB/Kindler, IntGesR Rn. 543. 122 MünchKommBGB/Kindler, IntGesR Rn. 543; BGH, EuZW 2000, 412, 413 mit Verweis auf die Anwendung deutscher Mitbestimmungsregeln bei einer ausländischen Gesellschaft, die keinen Aufsichtsrat hat; von Bar spricht von „angleichender Willkür“, IPR, Band II, Rn. 622. 123 So Staudinger/Großfeld, IntGesR Rn. 18.
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4. Bestimmung des Gesellschaftsstatuts Elemente eines Sachverhalts, die ein Anknüpfungsmoment für gesellschaftsrechtliche Rechtsverhältnisse bilden können, sind zahlreich vorstellbar: der Ort der Kapitalzeichnung, der Gründungsort, die Staatsangehörigkeit der Gesellschafter oder der Organe, das „centre d’exploitation“.124 Die Diskussion hat sich heutzutage auf zwei Anknüpfungsmomente reduziert: Einerseits kann auf den tatsächlichen Sitz der Hauptverwaltung abgestellt werden (Sitztheorie), andererseits auf den Willen der Gründer, die denjenigen Staat auswählen, in dem die Gesellschaft gegründet und registriert wurde, womit auf den Ort der Gründung abzustellen wäre (Gründungstheorie).125 a) Sitztheorie Die Sitztheorie wählt den effektiven Verwaltungssitz als Anknüpfungsmoment. Es handelt sich dabei um eine objektive Anknüpfung. Dem Willen der Gesellschaftsgründer, das anwendbare Recht durch Wahl des Registerortes oder eines in der Gesellschaftssatzung festgelegten Satzungssitzes zu bestimmen, wird hierdurch gerade nicht entsprochen.126 Die Sitztheorie steht der Parteiautonomie der Gesellschaftsgründer bewusst „skeptisch“ gegenüber.127 Sie stellt vielmehr auf den „Tätigkeitsort der Geschäftsführung und der dazu berufenen Vertretungsorgane [ab], also [auf den] Ort, wo die grundlegenden Entscheidungen der Unternehmensleitung effektiv in laufende Geschäftsführungsakte umgesetzt werden.“128 Dadurch soll dem Sachrecht zur Durchsetzung verholfen werden, das durch die Tätigkeit der Gesellschaft am stärksten betroffen ist, da sich am Ort der Geschäftsleitung der „Schwerpunkt des wirtschaftlichen Lebens einer Gesellschaft“ befindet.129 Die Sitztheorie hat damit primär die Schutzinteressen derjenigen im Blick, die in einem Rechtsverhältnis mit der Gesellschaft stehen. Schließlich leben „mehr Direktoren, leitende Angestellte, Begünstigte, Anteilseigner und Gläubiger im Sitzstaat […] als in irgendeinem anderen Staat.“130 Sie ist eine „Schutztheorie“.131 Das Bayerische Oberste Landesgericht führte treffend aus, dass diese Theorie „eine wirksame staatliche Kontrolle [ermöglicht] und […] den größtmöglichen Schutz der Gläubigerinteressen [bietet]. Ein Staat, der in Sorge um seine eigene Volkswirtschaft dem Ineinandergreifen der Interessen von Gründern und Gründungsstaat mißtraut, wird grundsätzlich eine von Satzungssitz und Registerbelegenheit unabhängige 124
Vgl. Staudinger/Großfeld, IntGesR Rn. 18; Wolff, IPR (1933), S. 69. Staudinger/Großfeld, IntGesR Rn. 18. 126 Vgl. von Bar, IPR, Bd. II, Rn. 621. 127 Staudinger/Großfeld, IntGesR Rn. 20, 39. 128 BGHZ 97, 269, 272. 129 von Bar, IPR, Bd. II Rn. 621. 130 Großfeld, RabelsZ 31 (1967), 1, 22. 131 BayObLGZ 1992, 113. 125
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4. Kapitel: Einwirkungen des Primärrechts in das autonome IPR
Anknüpfung wählen und auf das Recht des Ortes abstellen, von dem aus die Gesellschaft tatsächlich gesteuert wird.“132 Die Sitztheorie hat sich historisch aus dem Domizilprinzip entwickelt, das vor seiner Ablösung durch das Staatsangehörigkeitsprinzip im 19. Jahrhundert die Anknüpfung des Personalstatuts der natürlichen Personen bestimmte.133 Hiermit war die Anknüpfung an den tatsächlichen Wohnsitz der Person, den „bleibenden Mittelpunkt der Lebensverhältnisse und Geschäfte“134, gemeint.135 Im Gleichlauf mit dem hierdurch zum Ausdruck kommenden Vorrang des effektiven Wohnortes vor dem Geburtsort bei natürlichen Personen sollte bei juristischen Personen auf den Ort des tatsächlichen Sitzes anstelle des ebenso denkbaren Gründungsortes abgestellt werden.136 Die Sitztheorie wurde erstmals in Belgien kodifiziert137 und von der französischen „Cour de Cassation“ in ihrem Urteil vom 20. Juni 1870138 anerkannt. Im deutschsprachigen Rechtsraum wurde die Anknüpfung an den Verwaltungssitz durch Art. 9 des Handelsund Zollvertrags zwischen dem Norddeutschen Bund und der Schweiz eingeführt, wobei hier noch auf den Wohnsitz der „Kaufleute, Fabrikanten und andere[n] Gewerbetreibende[n]“ abgestellt wurde.139 Im Jahr 1904 erklärte das Reichsgericht endgültig den effektiven Verwaltungssitz zum für das deutsche Kollisionsrecht relevanten Anknüpfungsmerkmal, indem es auf ein Unternehmen, das in den USA gegründet und eingetragen war, in Mexiko Bergwerke betrieb und in Hamburg seinen Verwaltungsrat hatte, der sich ausschließlich aus in Hamburg wohnhaften Personen zusammensetzte und dort seine ordentlichen und außerordentlichen Generalversammlungen abhielt, deutsches Gesellschaftsrecht anwandte.140 Diese reichsgerichtliche Rechtsprechung wurde vom BGH aufgenommen und bestätigt.141
132
BayObLGZ 1992, 113. Vgl. auch das Plädoyer von Kegel, EWS 1999, I. Vgl. Großfeld, in: FS Westermann, S. 199, 203. 134 Lesse, Archiv für Theorie und Praxis des Allgemeinen deutschen Handels- und Wechselrechts 29 (1874), 19, 20 f. 135 Vgl. Kropholler, IPR, § 37 I 2 a). 136 Vgl. Großfeld, in: FS Westermann, S. 199, 203 ff. 137 Vgl. Art. 110 Abs. 1 des belgischen Code de droit international privé, der die Formulierung aus Art. 128, 129 des Gesetzes vom 18. Mai 1873 über die Handelsgesellschaften übernommen hat. 138 Cass. civ., 20. Juni 1870, S. 1870.1.373. 139 Handels- und Zollvertrag zwischen dem Norddeutschen Bunde und den zu diesem Bunde nicht gehörenden Mitgliedern des Zollvereins einerseits und der Schweiz andererseits, Bundesgesetzblatt des Norddeutschen Bundes, Band 1869, Nr. 33, S. 603. 140 RG, JW 1904, 231, 232. 141 Vgl. BGHZ 25, 134, 144; BGHZ 53, 181, 197; BGHZ 97, 269, 272. 133
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b) Gründungstheorie Die Gründungstheorie, auch Gründungsrechts- oder Inkorporationstheorie genannt, beruft diejenige Rechtsordnung zur Anwendung, die von den Gründern zur Konstituierung der Personenvereinigung ausgewählt wurde142 und nach der die Personenvereinigung konfiguriert ist.143 Sie ist eine Theorie, die der Parteiautonomie der Gesellschaftsgründer den größtmöglichen Spielraum einräumt144 und dabei die angemessene Berücksichtigung der Schutzinteressen Dritter, die in einem Rechtsverhältnis mit der Gesellschaft stehen, grundsätzlich dem gewählten Recht überantwortet. Die von den Gründern der Gesellschaft ausgewählte Rechtsordnung bestimmt ihrerseits die formellen und materiellen Voraussetzungen für eine erfolgreiche Gesellschaftsgründung und verlangt, je nach Regelungsart, eine Registrierung oder lediglich einen im jeweiligen Gesellschaftsvertrag festgeschriebenen Satzungssitz. Demnach bestimmt sich die nach der Gründungstheorie zur Anwendung berufene Rechtsordnung entweder nach dem Ort, an dem eine Personenvereinigung registriert wurde,145 oder nach dem Ort, der als Sitz der Personenvereinigung in deren Satzung benannt wurde.146 Auf den tatsächlichen effektiven Sitz der Hauptverwaltung kommt es nicht an. Die Gründungstheorie entstand im 18. Jahrhundert in England.147 Sie bewirkte, dass englische Gesellschaften als solche englischen Rechts ohne Statutenwechsel in den britischen Kolonien tätig sein oder errichtet werden konnten. Zudem diente die Gründung nach englischem Recht als Anknüpfungspunkt für die Gewährung von diplomatischem Schutz.148 Im Falle einer Enteignung eines transnationalen Unternehmens im Gaststaat kann der Heimatstaat des Unternehmens etwa durch Schadensersatzforderungen gegenüber dem Gaststaat diplomatischen Schutz gewähren.149 Dies ist insbesondere für kapitalexportierende Staaten von besonderem Interesse, so dass vor diesem historischen Hintergrund die Gründungstheorie auch als Schutztheorie kapitalexportierender Staaten bezeichnet werden kann. Die englischen Gerichte entwickelten die Gründungstheorie ebenfalls aus dem Domizilprinzip. So entschied der englische „High Court“ in der Rechtssache „Gasque v Inland Revenue Commissioners“: 142
Zimmer, Internationales Gesellschaftsrecht, S. 28. Vgl. Grasmann, System des internationalen Gesellschaftsrechts, S. 104. 144 Vgl. Michalski/Leible, GmbHG, Systematische Darstellung 2, Rn. 7. 145 Vgl. Staudinger/Großfeld, IntGesR Rn. 20; Michalski/Leible, GmbHG, Systematische Darstellung 2, Rn. 7. 146 So Neumayer, ZVglRWiss 83 (1984), 129, 137. 147 Vgl. Großfeld, Internationales und Europäisches Unternehmensrecht, S. 43; Richter, Die Rechtsstellung ausländischer Kapitalgesellschaften in England. 148 Großfeld, in: FS Westermann, S. 199, 203. 149 Vgl. Großfeld, Internationales und Europäisches Unternehmensrecht, S. 43, 319 ff. 143
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„A limited company is capable of having a domicil. Its domicil is the place of its registration and that domicil clings to it throughout its existence.“150
Das Domizilprinzip englischer Prägung ist jedoch vom Domizilprinzip kontinentaleuropäischer Prägung zu unterscheiden. Letztere verstehen das Domizil als Synonym zum Wohnsitz. Im Gegensatz zu diesem Domizilverständnis geht das englische Recht davon aus, dass es weder ein doppeltes „domicil“ noch eine Domizillosigkeit gibt. Die Aufgabe des „domicil“ ist, die rechtssichere Verbindung einer Person mit einem Rechtsterritorium zu begründen. Jede Person verfügt daher über ein „domicile of origin“, was im Falle natürlicher Personen der Geburtsort ist.151 Das somit begründete „domicile“ kann nur durch ein „domicile of choice“ verändert werden, was neben der Wohnsitznahme zusätzlich eine „intention of permanent or indefinite residence“ verlangt.152 Entfallen die Voraussetzungen für das „domicile of choice“, ohne dass ein neues „domicile of choice“ begründet wurde, lebt das ursprüngliche „domicile of origin“ wieder auf.153 Aufgrund seiner erstmaligen Begründung am Geburtsort einer natürlichen Person und der strengen Anforderungen an die Begründung eines neuen „domicile“ ist die „domicile“-Anknüpfung eine starre Anknüpfung vergleichbar der Staatsangehörigkeitsanknüpfung im kontinentaleuropäischen Kollisionsrecht.154 Überträgt man nun das so verstandene englische Domizilprinzip im Wege der Analogie auf juristische Personen, entspricht dem Geburtsort der natürlichen Person der Ort der Gründung der juristischen Person. Es beruft demnach diejenige Rechtsordnung zur Anwendung, die die juristische Person geschaffen hat, und damit deren Gründungsrechtsordnung.155 Eine weitere rechtshistorische Überlegung sieht den Grund für die Gründungstheorie darin, dass Gesellschaften ehemals eine „creation of the state“ in dem Sinne waren, dass die den Gesellschaftsrechtsstatus verleihende Rechtsordnung das Ansinnen der Gründer einer Gesellschaft prüfte und einem Antrag dann mit Auflagen oder Privilegien entsprach. Eine automatische Zuerkennung eines Rechtsstatus für Personenvereinigungen sei gerade nicht vorgesehen gewesen.156 Die rechtliche Anerkennung von Personenvereinigungen, die sich spontan und ohne vorherige staatliche Zulassung gründen konnten, verlangte von Rechtsordnungen, die solche Personenvereinigungen kannten, Ausschau nach anderen Anknüpfungsmerkmalen als der Gründungsanknüpfung am Registerort zu halten. 150
Gasque v. Commissioners of Inland Revenue, [1940] K.B. 80. Vgl. Dicey, Morris & Collins, The Conflict of Laws I, 6–025 ff., S. 130 ff. (Rule 9). 152 Vgl. Dicey, Morris & Collins, The Conflict of Laws I, 6–033 ff., S. 133 ff. (Rule 10). 153 Vgl. Dicey, Morris & Collins, The Conflict of Laws I, 6–074 ff., S. 151 ff. (Rule 13) 154 Vgl. Kropholler, IPR, § 37 I 2 a), S. 261; Hübner, Kollisionsrechtliche Behandlung, S. 45. 155 Vgl. Dicey, Morris & Collins, The Conflict of Laws II, 30–002, S. 1336 f. (Rule 160). 156 Vgl. Vagts, 83 Harv. L. Rev. (1970), 739, 741 in Fn. 7. 151
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Die Gründungstheorie ist insbesondere in den anglo-amerikanischen Rechtsordnungen vorherrschend, wurde aber in Kontinentaleuropa auch in der Schweiz,157 in Dänemark, in den Niederlanden158 und in Liechtenstein angewendet. Der Haupteinwand, der der Gründungstheorie entgegengehalten wird, ist der Anreiz, der von der ihr innewohnenden Rechtswahlfreiheit für die Gründer einer Gesellschaft gesetzt wird, reine Briefkastenfirmen in Gesellschaftsrechtsordnungen zu errichten, die die geringsten Schutzrechte Dritter vorsehen, und hierdurch Regeln des Tätigkeitsstaats der Gesellschaft zu umgehen.159 Dieser Anreiz führt zu einem Druck auf die Gesetzgeber im Wettbewerb der Gesellschaftsrechtsordnungen, der einem „race to the bottom“160 gleichkommt. 5. Statutenwechsel durch Gesellschaftsmobilität Betrachtet man beide Theorien über das Anwendungsmoment zur Bestimmung des Gesellschaftsstatuts näher, so wird deutlich, dass sie sich in der Wandelbarkeit der Anknüpfung unterscheiden. Während die Sitztheorie wandelbar ist,161 ist die Gründungstheorie unwandelbar. Das hat Folgen für die grenzüberschreitende Unternehmensmobilität im europäischen Binnenmarkt. Verlegt nämlich eine Gesellschaft im kollisionsrechtlichen Sinne ihren tatsächlichen Verwaltungssitz in einen anderen EU-Mitgliedstaat, ändert sich aus der Perspektive der Sitztheorie eine Anknüpfungstatsache, die nunmehr zur Anwendbarkeit der Rechtsordnung dieses und damit eines anderen Mitgliedstaates
157
Art. 154 des schweizerischen IPRG. Vgl. Kramer, IPRax 2007, 54, 57. 159 Sog. „pseudo foreign companies“-Problematik, vgl. hierzu MünchKommBGB/Kindler, IntGesR Rn. 368 ff. 160 Das „race to the bottom“ wurde vom Obersten Bundesrichter Brandeis in seiner dissenting opinion zum Urteil des US Supreme Court in der Rechtssache „Louis K Liggett Co. v. Lee“ (288 U.S. 517, 557 ff. (1933)) zutreffend wie folgt beschrieben: „The removal by the leading industrial states of the limitations upon the size and powers of business corporations appears to have been due not to their conviction that maintenance of the restrictions was undesirable in itself, but to the conviction that it was futile to insist upon them, because local restriction would be circumvented by foreign incorporation. Indeed, local restriction seemed worse than futile. Lesser states, eager for the revenue derived from the traffic in charters, had removed safeguards from their own incorporation laws. Companies were early formed to provide charters for corporations in states where the cost was lowest and the laws least restrictive. The states joined in advertising their wares. The race was one not of diligence, but of laxity. Incorporation under such laws was possible, and the great industrial states yielded in order not to lose wholly the prospect of the revenue and the control incident to domestic incorporation.“ Später schrieb er noch: „Such is the Frankenstein monster which states have created by their corporation laws.“ (288 U.S. 517, 567 (1933)). 161 Vgl. nur MünchKommBGB/Kindler, IntGesR Rn. 465 m.w.N. 158
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führt.162 Es entsteht mithin ein „conflit mobile“163 aufgrund eines Statutenwechsels. Ob sich ein solcher Statutenwechsel tatsächlich vollzogen hat, ist in zwei Schritten zu prüfen.164 Zunächst ist die vor der Sitzverlegung anwendbare Rechtsordnung danach zu befragen, ob sie einen identitätswahrenden Wegzug zulässt, also einen solchen, der weder eine vorherige Auflösung der Gesellschaft verlangt noch die Sitzverlegung in einen Auflösungsbeschluss umdeutet. Danach muss in einem zweiten Schritt die nach der Sitzverlegung anwendbare Rechtsordnung den identitätswahrenden Zuzug erlauben, also einen solchen, der keine Neugründung der Gesellschaft erfordert. In Anwendung der traditionellen Sitztheorie nach deutschem Recht wäre bei einer Hinausverlegung des effektiven Verwaltungssitzes einer deutschen Gesellschaft in das Ausland aufgrund des vorherigen in Deutschland gelegenen Verwaltungssitzes das deutsche Sachrecht anwendbar, das vor dem Inkrafttreten des MoMiG165 in der Hinausverlegung des Verwaltungssitzes einen Auflösungsbeschluss der Gesellschaft erkannte.166 Somit sah das deutsche Recht als Wegzugsrechtsordnung den identitätswahrenden Wegzug einer deutschen Gesellschaft nicht vor. Bei einer Hineinverlegung des effektiven Verwaltungssitzes einer Gesellschaft aus dem Ausland würde das deutsche Recht als Zuzugsrechtsordnung kollisionsrechtlich nach der Sitztheorie seine Anwendbarkeit beanspruchen. Aufgrund des deutschen „numerus clausus“ der Gesellschaftsformen würden ausländische Gesellschaften grundsätzlich nicht anerkannt. Ausländische Kapitalgesellschaften wären zudem mangels Eintragung in das deutsche Handelsregister entweder ein „Nullum“ oder würden in eine Personenhandelsgesellschaft umgedeutet.167 Die Sitztheorie und das von ihr berufene deutsche Sachrecht stellen sich also bei beiden Schritten als mobilitätshemmend heraus.168 Auch die Gründungstheorie kann gemeinsam mit dem von ihr berufenen Sachrecht mobilitätshemmend wirken. Will nämlich eine bislang ausländische Gesellschaft als künftig inländische Gesellschaft zwar identitätswahrend, jedoch rechtsformwechselnd zuziehen, so verweist die Gründungstheorie im Zuzugsstaat zunächst auf das inländische Sachrecht als dem Gründungsrecht im 162 Aus der Perspektive des deutschen Rechts beinhaltet dies einen Verweis auf die Kollisionsrechtsordnung, die zunächst darüber entscheidet, ob die jeweilige Rechtsordnung den Verweis auch annimmt oder weiterverweist (Art. 4 EGBGB). 163 Vgl. Mayer/Heuzé, Droit international privé, S. 181 ff. Rn. 259 ff. 164 Vgl. Weller, Rechtsformwahlfreiheit, S. 17 f.; Kropholler, IPR, § 55 I b), S. 572. 165 Gesetz zur Modernisierung des GmbH-Rechts und zur Bekämpfung von Missbräuchen (MoMiG), BGBl. I, 2008, Nr. 48, S. 2026. 166 Siehe etwa BayObLGZ 1992, 113. 167 BGHZ 151, 204; BGHZ 178, 192 (Trabrennbahn). 168 K. Schmidt, Gesellschaftsrecht, § 1 II 8, S. 27; Weller, Rechtsformwahlfreiheit, S. 18; MünchKommGmbHG/Weller, Einl. Rn. 325.
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Zuzugsstaat. Eröffnet dieses Sachrecht jedoch lediglich die Möglichkeit einer Erstgründung, nicht jedoch die erneute Gründung einer bereits nach einem ausländischen Recht gegründeten Gesellschaft, verwehrt die Gründungstheorie gemeinsam mit dem von ihr berufenen Sachrecht den Zuzug der ausländischen Gesellschaft.169 Aus dem Dargestellten wird deutlich, dass sowohl der rechtlich verlangte als auch der von der Gesellschaft selbst gewollte Statutenwechsel zu einem Hemmnis für den freien Verkehr der Unternehmen im Binnenmarkt werden können.170 Der Hauptgrund dafür kann zwar in den unterschiedlichen, nicht aufeinander abgestimmten mitgliedstaatlichen Gesellschaftsrechtsordnungen und mithin im Sachrecht gesehen werden. Bei einem grenzüberschreitenden Sachverhalt entscheidet jedoch das anwendbare Kollisionsrecht zunächst, welche mitgliedstaatliche Gesellschaftsrechtsordnung zur Anwendung gelangt. Mithin ist es die Gesamtnorm aus Kollisionsnorm und Sachnorm, die eine Behinderung der Niederlassungsfreiheit der Gesellschaften begründen kann. II. Die Rechtsprechung des EuGH zu rechtlich konfigurierten Marktakteuren Nach Art. 54 AEUV stehen „die nach den Rechtsvorschriften eines Mitgliedstaats gegründeten Gesellschaften, die ihren satzungsmäßigen Sitz, ihre Hauptverwaltung oder ihre Hauptniederlassung innerhalb der Union haben“, für die Anwendung der Niederlassungsfreiheit den natürlichen Personen gleich. Die bei natürlichen Personen von der Niederlassungsfreiheit in Art. 49 AEUV selbst vorgenommene Unterscheidung zwischen primärer Niederlassungsfreiheit, die die Verlagerung des wirtschaftlichen Schwerpunktes der eigenen Tätigkeit in einen anderen Mitgliedstaat schützt, und sekundärer Niederlassungsfreiheit, die bei Beibehaltung des Schwerpunkts die Aufnahme einer wirtschaftlichen Tätigkeit in anderen Mitgliedstaaten erfasst, findet entsprechende Anwendung auf Gesellschaften im Sinne des Art. 54 AEUV.171 Von größerem Mehrwert als die Unterscheidung zwischen primärer und sekundärer Niederlassungsfreiheit ist diejenige zwischen Wegzugs- und Zuzugskonstellation. Der aus der Sicht der Niederlassungsfreiheit relevante und in seinen freizügigkeitshemmenden Wirkungen näher zu untersuchende Statutenwechsel verlangt, wie oben dargelegt,172 zunächst eine Prüfung der Herkunftsrechtsordnung der Gesellschaft (Wegzugskonstellation) und anschließend eine
169 So der Sachverhalt in EuGH, Rs. C-378/10, VALE, EU:C:2012:440. Vgl. auch zur deutschen Rechtslage OLG Nürnberg, NZG 2012, 468. 170 Ebenso Leifeld, Anerkennungsprinzip, S. 78, 87 (hier unter dem Phänomen der „hinkenden Gesellschaft“). 171 Vgl. nur Müller-Graff, in: Streinz, Art. 54 AEUV Rn. 14 ff., 23 ff. 172 Siehe S. 337.
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Prüfung der Aufnahmerechtsordnung, in der die Gesellschaft ihre wirtschaftliche Tätigkeit aufnehmen möchte (Zuzugskonstellation). Diese dem Statutenwechsel entnommene Prüfungsreihenfolge soll bei der nachfolgenden Untersuchung der Rechtsprechung des EuGH nachvollzogen werden, indem zunächst die Rechtsprechung in den Wegzugskonstellationen (2.) betrachtet werden soll, bevor die Urteile zur Zuzugskonstellation (3.) behandelt werden sollen. Zuvor soll jedoch noch der Begriff des „rechtlich konfigurierten Marktakteurs“ näher beleuchtet werden, der vorliegend die Gesamtheit der von Art. 54 AEUV erfassten Schutzberechtigten der Niederlassungsfreiheit beschreibt (1.). 1. Der Begriff des rechtlich konfigurierten Marktakteurs Der Begriff des „rechtlich konfigurierten Marktakteurs“ wurde von MüllerGraff zur besseren Benennung der von Art. 54 AEUV erfassten „Gesellschaften“ eingeführt.173 Art. 54 AEUV betrifft nämlich nicht nur „Gesellschaften“ im wörtlichen Sinne. Der Begriff ist nicht deckungsgleich mit dem jeweiligen Gesellschaftsbegriff, den die nationalen Gesellschaftsrechtsordnungen verwenden. Scheinbar über den Wortlaut des Art. 54 Abs. 2 AEUV hinausgehend, der anzudeuten scheint, dass der Gesellschaftsbegriff auf (sonstige) juristische Personen beschränkt ist, ist der Gesellschaftsbegriff in Art. 54 AEUV final im Hinblick auf die Niederlassungsfreiheit auszulegen. Hiernach sollen sich all jene Marktakteure, die sich in einem anderen Mitgliedstaat niederzulassen beabsichtigen und die keine natürlichen Personen sind, auf die Niederlassungsfreiheit berufen können. Somit ist das Gemeinsame der natürlichen Personen und der Gesellschaften im Sinne des Art. 54 AEUV im Hinblick auf die Niederlassungsfreiheit die Eigenschaft des Marktakteurs. Die Gesellschaften sind aber nicht schon kraft biologischer Existenz und Staatsangehörigkeit eines EUMitgliedstaates befähigt, am Wirtschaftsleben teilzunehmen. Sie beziehen vielmehr ihre Existenz aus ihrer rechtlichen Konfiguration. Eine Gesellschaft benötigt mithin immer ein rechtliches Rahmenwerk, um existieren und handeln zu können.174 Sie grenzen sich damit von den natürlichen Personen durch ihre rechtliche Konfiguration ab. Unter den Begriff der rechtlichen Konfiguration können nunmehr – entsprechend dem deutschen Verständnis – sowohl die Handelsgesellschaften mit juristischer Persönlichkeit als auch teilrechtsfähige Gesellschaften subsumiert werden.175 Anknüpfungspunkt für die Fähigkeit einer Gesellschaft im Sinne des Art. 54 AEUV, sich auf die Niederlassungsfreiheit zu berufen, ist demnach die rechtliche Konfiguration.176 Damit ist zugleich die Grundlage für die nachfolgende
173
Begriff nach Müller-Graff, in: Streinz, Art. 54 AEUV Rn. 2; ders., EWS 2009, 489. Teichmann, ZIP 2009, 393, 297. 175 Müller-Graff, in: Streinz, Art. 54 AEUV Rn. 4. 176 Teichmann, ZIP 2009, 393, 297. 174
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Analyse der Rechtsprechung des EuGH gelegt. Ohne eine rechtliche Konfiguration könnte sich eine Gesellschaft im Sinne des Art. 54 AEUV nicht auf die Niederlassungsfreiheit berufen. Mangels eines unionalen Rechtsrahmens, der einer Gesellschaft ihre rechtliche Konfiguration verleihen könnte,177 bedarf es mithin immer eines mitgliedstaatlichen Rechtsrahmens für die rechtliche Konfiguration der Gesellschaft. Ein eindeutig anwendbares Recht ist damit bereits eine zwingende Voraussetzung dafür, dass sich eine Gesellschaft im Sinne des Art. 54 AEUV überhaupt auf die Niederlassungsfreiheit berufen kann. Führt nun eine grenzüberschreitende Mobilität einer solchen Gesellschaft zu einem Statutenwechsel oder ist ein Statutenwechsel von einer solchen Gesellschaft beabsichtigt, stellt sich aus der Sicht der Niederlassungsfreiheit die Folgefrage, inwieweit der Statutenwechsel oder dessen Verweigerung eine Behinderung der Freizügigkeit dieser Gesellschaft begründet. Die Besonderheiten der Gesellschaften im Sinne des Art. 54 AEUV werden demnach besser durch den Begriff des „rechtlich konfigurierten Marktakteurs“ abgebildet. Er soll daher im Folgenden für den Träger der Niederlassungsfreiheit in den für das Internationale Gesellschaftsecht relevanten Urteilen des EuGH verwendet werden. 2. Wegzugskonstellation Die Wegzugskonstellation ist dadurch gekennzeichnet, dass ein rechtlich konfigurierter Marktakteur den Schwerpunkt seiner wirtschaftlichen Tätigkeit aus dem Hoheitsgebiet des Mitgliedstaates hinausverlegen möchte, in dem er zum Zeitpunkt des Wegzugs wirtschaftlich tätig ist. Da regelmäßig am Ort des Schwerpunkts der wirtschaftlichen Tätigkeit auch der effektive Sitz der Hauptverwaltung liegt, bedeutet ein Wegzug aus der Sicht der Sitztheorie eine Änderung der Anknüpfungstatsachen, die sich kollisionsrechtlich durch eine Verweisung auf eine andere als die bisher anwendbare Rechtsordnung ausdrückt. Aus der Perspektive der Gründungstheorie ändert sich bei der Verlegung des Schwerpunkts der wirtschaftlichen Tätigkeit eines rechtlich konfigurierten Marktakteurs erst einmal nichts. Erst wenn neben der tatsächlichen Verlegung der wirtschaftlichen Tätigkeit auch eine Neugründung des Marktakteurs nach dem Recht des Aufnahmestaates oder ein grenzüberschreitender Rechtsformwechsel in eine andere Rechtsordnung als der Gründungsrechtsordnung angestrebt wird, entsteht für die Gründungstheorie eine Wegzugskonstellation. 177
Zwar gibt es die supranationalen Rechtsformen der EWIV (Verordnung (EWG) Nr. 2137/85, ABl. 1985 L 199/1), der SE (Verordnung (EG) Nr. 2157/2001, ABl. 2001 L 294/1) und der SCE (Verordnung (EG) Nr. 1435/2003, ABl. 2003 L 207/1); aufgrund der Lückenhaftigkeit der jeweiligen Verordnung ist jedoch subsidiär das jeweilige mitgliedstaatliche Sachrecht anwendbar, so dass es sich bei den supranationalen Rechtsformen weniger um unionale als weiterhin um nationalen Rechtsformen handelt. Vgl. MünchKommBGB/Kindler, IntGesR, Rn. 78.
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a) Der Ausgangsfall: „Daily Mail“178 In der Rechtssache „Daily Mail“ hatte der EuGH erstmals über eine Wegzugskonstellation zu entscheiden. Es ging dabei um ein Genehmigungserfordernis für die Verlegung des effektiven Sitzes der Geschäftsleitung („central management and control“) einer englischen public limited company (im Fall: die Daily Mail and General Trust plc) außerhalb des Vereinigten Königreichs (im Fall in die Niederlande). Zwar verliert eine englische PLC durch Verlegung ihrer Geschäftsleitung in das Ausland nicht ihre Eigenschaft, eine englische Gesellschaftsform zu sein. Schließlich folgt das englische Gesellschaftskollisionsrecht der Gründungstheorie und die Eintragung in das englische Handelsregister ist von der Verlegung der Geschäftsleitung unberührt. Jedoch knüpft die Steuerpflicht einer englischen PLC an ihren Steuersitz an, der sich gemäß dem englischen Internationalen Steuerrecht nach dem Ort der Geschäftsleitung bestimmt. Will eine der englischen Steuerhoheit unterliegende Gesellschaft der Steuerpflicht durch Verlegung der Geschäftsleitung entgehen, bedurfte es einer vorherigen Genehmigung durch das britische Finanzministerium. Der EuGH hatte mithin darüber zu entscheiden, ob die Niederlassungsfreiheit den Wegzug eines rechtlich konfigurierten Marktakteurs unter Beibehaltung der rechtlichen Konfiguration des Herkunftsstaates erfasst und ob der Herkunftsstaat einen solchen Wegzug untersagen darf.179 aa) Entscheidungsgründe des EuGH: Keine Anwendbarkeit der Niederlassungsfreiheit auf den Wegzug rechtlich konfigurierter Marktakteure Der EuGH akzeptierte im Gegensatz zum Generalanwalt180 das Genehmigungserfordernis und damit die Möglichkeit des Herkunftsstaats, den Wegzug zu verhindern. Mangels Einschlägigkeit der Niederlassungsfreiheit wurde die Grundfreiheitenkonformität des Genehmigungserfordernisses gar nicht erst geprüft. Der Wegzug eines rechtlich konfigurierten Marktakteurs unter Beibehaltung der rechtlichen Konfiguration des Herkunftsstaates ist nicht von der Niederlassungsfreiheit erfasst. Grundsätzlich kann sich ein Marktakteur auch gegenüber seinem Herkunftsstaat auf die Niederlassungsfreiheit berufen. Andernfalls wäre diese „sinnentleert“.181 Der Herkunftsstaat darf mithin die Aufnahme einer wirtschaftlichen Tätigkeit in einem anderen Mitgliedstaat nicht untersagen. Allerdings machen die Gesellschaften von dem Niederlassungsrecht „im allgemeinen durch die Gründung von Agenturen, Zweigniederlassungen und Tochtergesellschaften“ sowie durch Beteiligung am Kapital EU178
EuGH, Rs. 81/87, Daily Mail, Slg. 1988, 5483. Brödermann, in: Brödermann/Iversen, Europäisches Gemeinschaftsrecht und IPR, Rn. 207. 180 GA Darmon, SchlA Rs. 81/87, Daily Mail, Slg. 1988, 5483, Nr. 15. 181 EuGH, Rs. 81/87, Daily Mail, Slg. 1988, 5483 Rn. 16. 179
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ausländischer Gesellschaften Gebrauch,182 also ohne Verlegung des Schwerpunkts ihrer wirtschaftlichen Tätigkeit und somit ohne dass eine Wegzugskonstellation vorliegt. Dennoch darf der Herkunftsstaat auch die „Auswanderung“ der eigenen Marktakteure nicht untersagen.183 Hier unterscheidet der EuGH aber zwischen einem Wegzug unter Beibehaltung der rechtlichen Konfiguration der Herkunftsrechtsordnung und einem Wegzug in eine andere rechtliche Konfiguration. Nach dem EuGH gewährt die Niederlassungsfreiheit nämlich „kein Recht [der Gesellschaften nationalen Rechts], den Sitz ihrer Geschäftsleitung unter Bewahrung ihrer Eigenschaft als Gesellschaften des Mitgliedstaats ihrer Gründung in einen anderen Mitgliedstaat zu verlegen.“184 Die Grundlage für die Argumentation des EuGH bildet die als „Geschöpftheorie“185 bezeichnete Aussage, wonach „Gesellschaften aufgrund einer […] nationalen Rechtsordnung, gegründet [werden]. Jenseits der jeweiligen nationalen Rechtsordnung, die ihre Gründung und ihre Existenz regelt, haben sie keine Realität.“186 Liest man die missverständliche deutsche Fassung, wonach der Eindruck aufkommen könnte, ein rechtlich konfigurierter Marktakteur habe keine Existenz außerhalb seiner Gründungsrechtsordnung („jenseits der jeweiligen Rechtsordnung“), im Kontext der englischen („They only exist by virtue of the varying law […]“) und der französischen („Elles n’ont pas d’existence qu’à travers les différentes législations nationales […]“) Fassung, wird deutlich, dass diese „Geschöpftheorie“ so zu verstehen ist, dass rechtlich konfigurierte Marktakteure zwar nur kraft einer nationalen Rechtsordnung, sehr wohl aber auch außerhalb ihrer Gründungsrechtsordnung existieren können.187 Will nun ein rechtlich konfigurierter Marktakteur mit seiner von der Gründungsrechtsordnung abhängenden rechtlichen Konfiguration das Hoheitsgebiet der Gründungsrechtsordnung verlassen, stellt sich aus kollisionsrechtlicher Sicht die Folgefrage, ob die Niederlassungsfreiheit, die die „Auswanderung“ des Marktakteurs schützt, auf die Wahl der Anknüpfungsmomente für die Anwendbarkeit der Gründungsrechtsordnung einwirkt. Knüpft das Kollisionsrecht der Gründungsrechtsordnung nämlich an den effektiven Sitz der Hauptverwaltung im Inland an, so käme es beim Wegzug zu einem Statutenwechsel, den der Marktakteur, der die rechtliche Konfiguration der Gründungsrechtsordnung mitnehmen will, zum einen gerade nicht möchte.
182
EuGH, Rs. 81/87, Daily Mail, Slg. 1988, 5483 Rn. 17. EuGH, Rs. 81/87, Daily Mail, Slg. 1988, 5483 Rn. 16. 184 EuGH, Rs. 81/87, Daily Mail, Slg. 1988, 5483 Rn. 24. 185 Vgl. Rehm, in: Eidenmüller, Ausländische Kapitalgesellschaften, § 2 Rn. 61; Eidenmüller, in: Eidenmüller, Ausländische Kapitalgesellschaften, § 4 Rn. 86; Eidenmüller/Rehm, ZGR 2004, 159, 176; Bayer/Schmidt, ZHR 173 (2009), 735, 742. 186 EuGH, Rs. 81/87, Daily Mail, Slg. 1988, 5483, 5511 Rn. 19. 187 Brödermann, in: Brödermann/Iversen, Europäisches Gemeinschaftsrecht und IPR, Rn. 215 ff. 183
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Zum anderen könnte sogar das berufene Sachrecht der Gründungsrechtsordnung einem Wegzug entgegenstehen, indem es die Verlegung des effektiven Sitzes der Hauptverwaltung in einen Auflösungsbeschluss umdeutet und der rechtlich konfigurierte Marktakteur den „mort civil“ sterben muss.188 Mangels einer Unionsregelung sind die Mitgliedstaaten zunächst frei darin, festzulegen, welche Tatsachen eine hinreichende Bindung eines rechtlich konfigurierten Marktakteurs mit der jeweiligen mitgliedstaatlichen Rechtsordnung begründen können. Dies hat sowohl eine kollisionsrechtliche als auch eine sachrechtliche Dimension. Dieselbe Tatsache kann nämlich als Anknüpfungstatsache unter ein Anknüpfungsmoment im Tatbestand einer Kollisionsnorm als auch unter ein Tatbestandsmerkmal einer Sachnorm subsumiert werden. Bei der Auswahl der kollisionsrechtlichen Anknüpfungsmomente wie der sachrechtlichen Tatbestandsmerkmale stellt der EuGH „erhebliche Unterschiede im Recht der Mitgliedstaaten“ fest und zwar sowohl im Hinblick auf die Gründung einer Gesellschaft als auch im Hinblick auf die Möglichkeiten der nachträglichen Änderung der Gründungsvoraussetzungen.189 Das Unionsrecht selbst erkennt in Art. 54 AEUV nach dem Verständnis des EuGH diese Unterschiede im nationalen Recht an, indem bei „der Definition der Gesellschaften, denen die Niederlassungsfreiheit zugutekommt […] der satzungsmäßige Sitz, die Hauptverwaltung und die Hauptniederlassung einer Gesellschaft als Anknüpfung gleich geachtet“ werden.190 Somit können die Probleme, die durch diese vom Primärrecht anerkannten Unterschiede der Rechtsordnungen entstehen, nicht über die Niederlassungsfreiheit gelöst werden, sondern bedürfen der Lösung im Wege des Sekundärrechts.191 Wenn aufgrund dieser Annahmen des Gerichtshofs nun die Gründungsrechtsordnung eines rechtlich konfigurierten Marktakteurs zulässigerweise soweit gehen kann, wie es im deutschen Gesellschaftsrecht zur Zeit des „Daily Mail“-Urteils der Fall war, dass der Wegzug eines Marktakteurs unter Beibehaltung der rechtlichen Konfiguration des Gründungsrechts als Auflösungsbeschluss mit daraus folgender Liquidation des Marktakteurs umgedeutet werden kann, dann kann a maiore ad minus ein Genehmigungserfordernis zur Sitzverlegung aus steuerrechtlichen Gründen ebenfalls nicht von der Niederlassungsfreiheit erfasst sein.
188 So etwa das frühere deutsche Recht, vgl. BGHZ 97, 269, 271 f. Dies ist allerdings keine zwingende sachrechtliche Anordnung einer Gesellschaftsrechtsordnung, deren Kollisionsrecht der Sitztheorie folgt, siehe Baehrens, RIW 1986, 590, 591 f. 189 EuGH, Rs. 81/87, Daily Mail, Slg. 1988, 5483, 5511 Rn. 20. Vgl. auch die detaillierte Analyse bei Brödermann, in: Brödermann/Iversen, Europäisches Gemeinschaftsrecht und IPR, Rn. 225 ff., 227. 190 EuGH, Rs. 81/87, Daily Mail, Slg. 1988, 5483, 5512 Rn. 21. 191 EuGH, Rs. 81/87, Daily Mail, Slg. 1988, 5483, 5512 Rn. 23.
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bb) Bewertung: Keine Anwendbarkeit der Niederlassungsfreiheit auf den Wegzug unter Beibehaltung der rechtlichen Konfiguration des Gründungsrechts Für eine Beurteilung der Entscheidung des EuGH in der Rechtssache „Daily Mail“ ist es wichtig, sich vorab nochmals vor Augen zu führen, worüber der EuGH entschieden hat und worüber er nicht entschieden hat. Der EuGH entschied über die Verlegung des effektiven Sitzes der Hauptverwaltung eines rechtlich konfigurierten Marktakteurs unter Beibehaltung seiner rechtlichen Konfiguration des Gründungsrechts. Das Kollisionsrecht der Gründungsrechtsordnung folgte der Gründungstheorie und knüpfte damit die gesellschaftsrechtliche Existenz des Marktakteurs an das Recht des Ortes an, in dem der Marktakteur in das Handelsregister eingetragen wurde. Damit ändert die Verlegung der Hauptverwaltung nichts an der auf den Marktakteur anwendbaren Rechtsordnung. Er könnte seine Hauptverwaltung identitätswahrend verlegen. Das steuerrechtliche Genehmigungserfordernis berührt damit nicht die Existenz des Marktakteurs, sondern lediglich seine Tätigkeit. Der Wegzug wird durch die Verweigerung der Genehmigung zwar vereitelt, nicht jedoch die Aufnahme einer wirtschaftlichen Tätigkeit in einem anderen Mitgliedstaat unter Inanspruchnahme der sekundären Niederlassungsfreiheit. Dies scheint darauf hinzudeuten, dass der EuGH nicht über Kollisionsrecht, sondern über eine steuerrechtliche Wegzugsbehinderung geurteilt hat.192 Dennoch finden sich in den Entscheidungsgründen verallgemeinerungsfähige, auf das Kollisionsrecht übertragbare Aussagen.193 Der mitgliedstaatliche Gesetzgeber ist frei darin, dasjenige Anknüpfungsmoment zu wählen, das er für am geeignetsten hält, um eine hinreichend enge Verbindung zwischen dem Marktakteur und der Rechtsordnung auszudrücken, auf deren Grundlage dieser rechtlich konfiguriert ist.194 Das bezieht sich dabei nicht nur auf die Verbindung des Marktakteurs zur Gründungsrechtsordnung zum Zeitpunkt der erstmaligen Gründung, sondern umfasst ebenfalls das Recht des Gesetzgebers, die Konsequenzen für die rechtliche Konfiguration zu regeln, die eintreten, wenn der Marktakteur die relevante Anknüpfungstatsache später durch Verlagerung ändert. Der Herkunftsstaat kann damit erstens das Kollisionsrecht für die Gründung und das Fortbestehen eines rechtlich konfigurierten Marktakteurs sowie zweitens die materiellen Bedingungen für das Entstehen und Fortbestehen der rechtlichen Konfiguration frei gestalten. Der EuGH traf damit in „Daily Mail“ rechtliche Aussagen über die erstmalige Gründung eines rechtlich konfigurierten Marktakteurs und den Zugang zum Gründungsrecht bei erstmaliger Grün-
192
Vgl. etwa Knobbe-Keuk, ZHR 154 (1990), 325, 331 ff. Vgl. Ebenroth/Auer, GmbHR 1994, 16, 19 f. 194 Ähnlich Wouters, EBOR 2 (2001), 101, 120. 193
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dung sowie über die Herausverlegung des effektiven Sitzes der Hauptverwaltung unter Beibehaltung der rechtlichen Konfiguration der Gründungsrechtsordnung. Der Entscheidung in der Rechtssache „Daily Mail“ sind im Gegenzug keine Aussagen zu entnehmen über die erneute Gründung eines rechtlich konfigurierten Marktakteurs, der bereits zuvor unter einer anderen Rechtsordnung gegründet wurde, und über die Herausverlegung des effektiven Sitzes der Hauptverwaltung unter Aufgabe der Gründungsrechtsordnung, die mit einem Wechsel der auf die rechtliche Konfiguration anwendbaren Rechtsordnung verbunden ist. Ebenso wenig kann aus der Entscheidung eine Stellungnahme zu Gunsten oder zu Ungunsten einer der Theorien zur Bestimmung des Gesellschaftsstatuts herausgelesen werden. Die eigentliche Beschränkung ging in „Daily Mail“ von einer steuerrechtlichen Vorschrift, also einer Sachnorm, aus, die vom englischen Internationalen Steuerrecht, also einer Kollisionsnorm, entsprechend der Sitztheorie zur Anwendung berufen worden ist. Die Sitztheorie als Kollisionsnorm wäre jedoch nur dann als „niederlassungsfreiheitsresistent“195 zu betrachten, wenn sämtliche von ihr zur Anwendung berufenen Sachnormen nicht in den Anwendungsbereich der Niederlassungsfreiheit fielen. Dies ist bereits deshalb zweifelhaft, weil der EuGH nur über den Fall der Herausverlegung des effektiven Verwaltungssitzes unter Beibehaltung der rechtlichen Konfiguration der Gründungsrechtsordnung entschieden hat. Unklar blieb jedoch die Reichweite der Grundfreiheitenimmunität des Herkunftsstaates bei der Regelung der Hinausverlegung des Verwaltungssitzes eines rechtlich konfigurierten Marktakteurs unter Beibehaltung der rechtlichen Konfiguration des Gründungsrechts. Die Herkunftsstaaten sollten frei über die Schaffung und die Fortexistenz der rechtlichen Konfiguration disponieren können,196 was darauf hindeutet, dass die Grundfreiheitenimmunität lediglich die „existenziellen Fragen“ der Gesellschaft betrifft, nicht jedoch die an die Verlegung des Verwaltungssitzes knüpfenden Beschränkungen der wirtschaftlichen Tätigkeit, ohne dass dadurch die Existenz der Gesellschaft infrage gestellt wird. Dagegen sprach jedoch der streitgegenständliche Sachverhalt. Die Verweigerung der Genehmigung zur Sitzverlegung durch das britische Finanzministerium hätte nämlich rechtlich die Sitzverlegung nicht verhindert, sondern nach Section 482 (5) und (6) des „Income and Corporation Taxes Act“ von 1970 nur zu einer Geld- oder Freiheitsstrafe der Vorstandsmitglieder der wegziehenden Gesellschaft geführt. Daher schienen nach der „Daily Mail“-Entscheidung nicht nur die Gründung und Fortexistenz „grundfreiheitenimmun“, sondern sämtliche mit der Hinausverlegung des Verwaltungssitzes unter Beibehaltung der Rechtsform des Herkunftsstaats verbundenen Benachteiligungen. Eine derart weit reichende „Grundfreiheitenimmunität“ stellt jedoch einen 195 196
So aber Klinke, ZGR 22 (1993), 1, 7; Ebenroth/Auer, GmbHR 1994, 16, 22. Vgl. EuGH, Rs. 81/87, Daily Mail, Slg. 1988, 5483, 5512 Rn. 20.
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Fremdkörper in der Dogmatik der Grundfreiheiten dar und lässt sich nur schwer mit dem wirkungsbezogenen Ansatz des EuGH in Einklang bringen, mit dem dieser die Behinderung einer Grundfreiheit feststellt. b) Cartesio197 Erst zwanzig Jahre nach der „Daily Mail“-Entscheidung konnte der Gerichtshof ein weiteres Mal über eine Wegzugskonstellation entscheiden. Die Rechtssache eröffnete ihm die Möglichkeit, seine in „Daily Mail“ vorgenommenen Aussagen zur Wegzugskonstellation entweder zu revidieren198 oder zu präzisieren. Entgegen dem Sachverhalt, der der Rechtssache „Daily Mail“ zugrunde lag, behandelte die Rechtssache „Cartesio“ gesellschaftsrechtliche Bestimmungen und keine steuerrechtlichen Regelungen. Die Cartesio Oktató és Szolgáltató bt ist eine „betéti társaság“, eine Kommanditgesellschaft ungarischen Rechts, die im ungarischen Handelsregister in Baja eingetragen ist. Diese Gesellschaft wollte den Sitz ihrer Hauptverwaltung nach Italien verlegen und beantragte hierzu eine Änderung ihres Eintrags im ungarischen Handelsregister, wonach eine italienische Adresse als Sitz der Hauptverwaltung eingetragen werden sollte. Dies lehnte das ungarische Handelsregistergericht jedoch ab. Die Cartesio bt könne nicht als Gesellschaft im ungarischen Handelsregister geführt werden und gleichzeitig den Sitz ihrer Hauptverwaltung außerhalb Ungarns haben. Sie müsse sich dann vielmehr als ungarische Gesellschaft auflösen und nach italienischem Recht neu gründen. Eine Gesellschaft ungarischen Rechts liegt vor, wenn das Gesetz CXLIV/1997 über die Handelsgesellschaften („a gazdasági társaságokról szóló 1997. évi CXLIV. törvény“) Anwendung findet. Art. 1 Abs. 1 dieses Gesetzes verlangt für die Eröffnung seines Anwendungsbereichs einen Sitz der Handelsgesellschaft in Ungarn. Der Sitz einer Handelsgesellschaft wird von Art. 16 des Gesetzes CXLV/1997 über das Handelsregister als „der Ort, an dem sich die Hauptverwaltung befindet“ definiert. Hierbei handelt es sich um Regeln des materiellen Gesellschaftsrechts. Das ungarische IPR beruft das ungarische Sachrecht nach Art. 18 der Gesetzesverordnung Nr. 13/1979 zur Anwendung. Nach Art. 18 Abs. 1 bestimmt sich das auf juristische Personen anwendbare Sachrecht nach dem Personalstatut. Das Personalstatut der juristischen Personen ist nach Art. 18 Abs. 2 grundsätzlich „das Recht des Staates, in dem sie eingetragen sind.“ Insoweit folgt Ungarn der kollisionsrechtlichen Gründungstheorie. Dadurch dass Cartesio im ungarischen Handelsregister eingetragen ist, findet das ungarische Sachrecht Anwendung.
197
EuGH, Rs. C-210/06, Cartesio, Slg. 2008, I-9641. So die Anregung von GA Maduro, SchlA Rs. C-210/06, Cartesio, Slg. 2008, I-9641 Nr. 31, 34. 198
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aa) Entscheidungsgründe des EuGH: Anwendbarkeit der Niederlassungsfreiheit auf den Wegzug bei einem Wechsel des auf die rechtliche Konfiguration anwendbaren Rechts Der EuGH befand in seiner Entscheidung, dass das Unionsrecht den ungarischen Regelungen nicht entgegensteht. Er stellte hierbei auf die aus „Daily Mail“ bekannte Freiheit der Mitgliedstaaten bei der Bestimmung des Anknüpfungsmomentes ab, anhand dessen das auf eine Gesellschaft anwendbare Recht bestimmt wird. Art. 54 AEUV achtet die Anknüpfungsmomente des satzungsmäßigen Sitzes, der Hauptverwaltung oder der Hauptniederlassung gleich. Die konkrete Auswahl des für eine Gesellschaft einer bestimmten Rechtsordnung relevanten Anknüpfungsmomentes obliegt demnach der jeweiligen nationalen Rechtsordnung selbst. Die Auswahl des relevanten Anknüpfungsmomentes kann auch keine Beschränkung der Niederlassungsfreiheit begründen, da erst das Anknüpfungsmoment die klare Zuordnung einer Gesellschaft zu einer Rechtsordnung vornimmt, ohne die die Gesellschaft als Trägerin der Niederlassungsfreiheit gar nicht existieren würde. Sie ist mithin eine der Niederlassungsfreiheit entzogene „Vorfrage“.199 Da sich diese Anknüpfungsfreiheit auf die „Realität“ der Gesellschaft bezieht200, erfasst sie sowohl die Anknüpfung hinsichtlich der Gründung einer Gesellschaft als auch die Anknüpfung hinsichtlich der Fortexistenz als Gesellschaft dieser Rechtsordnung. Anders ist der Fall aber zu beurteilen, und das war nach der Wiederholung der Argumentation des Gerichtshofs aus dem „Daily Mail“-Urteil die Neuerung in „Cartesio“, wenn eine Gesellschaft ihr Rechtskleid wechseln möchte. Während die Mitgliedstaaten frei darin sind zu bestimmen, ob und wie eine Gesellschaft ihre Gründungsrechtsordnung mitnimmt, dürfen sie einen angestrebten Wechsel der auf eine Gesellschaft anwendbaren Rechtsordnung nicht behindern.201 Der Gerichtshof macht deutlich, dass die aus Art. 54 AEUV folgende Anknüpfungsfreiheit der Mitgliedstaaten keine allumfassende Grundfreiheitenimmunität für jedwede nationale Regelung über die Gründung und Auflösung von Gesellschaften bedeutet. Soweit das Recht eines anderen Mitgliedstaats eine grenzüberschreitende Umwandlung in eine Gesellschaftsrechtsform des eigenen Rechts zulässt, ist eine von der Gründungsrechtsordnung angeordnete Auflösung und Liquidation der Gesellschaft im Falle eines Wechsels der auf sie anwendbaren Rechtsordnung von der Niederlassungsfreiheit erfasst und somit rechtfertigungsbedürftig.202
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EuGH, Rs. C-210/06, Cartesio, Slg. 2008, I-9641 Rn. 109 f. EuGH, Rs. C-210/06, Cartesio, Slg. 2008, I-9641 Rn. 104. 201 EuGH, Rs. C-210/06, Cartesio, Slg. 2008, I-9641 Rn. 111 ff. 202 EuGH, Rs. C-210/06, Cartesio, Slg. 2008, I-9641 Rn. 112 f. 200
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bb) Bewertung: Teilabkehr von „Daily Mail“ Entgegen den Schlussanträgen des Generalanwalts203 und den Erwartungen im Schrifttum204 revidierte der EuGH seine Aussagen aus der „Daily Mail“-Entscheidung nicht, sondern präzisierte sie. Er bestätigte die Aussage aus „Daily Mail“, wonach die Mitnahme der rechtlichen Konfiguration aus der Gründungsrechtsordnung bei der Hinausverlegung derjenigen Tatsache, deren Inlandsbelegenheit entweder die Kollisionsnorm, die die Gründungsrechtsordnung zur Anwendung beruft, oder das Tatbestandsmerkmal der Sachnorm, die der Begründung der rechtlichen Konfiguration zugrunde liegt, verlangt, nicht von der Niederlassungsfreiheit geschützt ist. Im Gegenzug ist jedoch der Wegzug eines Marktakteurs unter Änderung des auf seine rechtliche Konfiguration anwendbaren Rechts von der Niederlassungsfreiheit erfasst, soweit ein Zuzug in die neue Rechtsordnung rechtlich möglich ist. Erneut sollte vor einer Beurteilung abgeschichtet werden, worüber der EuGH in „Cartesio“ entschieden hat und worüber nicht. Die zentrale Frage ist, ob sich der rechtlich konfigurierte Marktakteur Cartesio bt gegenüber seinem Gründungsstaat auf die Niederlassungsfreiheit berufen kann, wenn ihm dieser für den Fall des Wegzugs aus der Gründungsrechtsordnung seine rechtliche Konfiguration wegnimmt. Dabei muss zunächst die Frage beantwortet werden, ob der persönliche Anwendungsbereich der Niederlassungsfreiheit eröffnet ist. Nach Art. 54 AEUV werden Gesellschaften den natürlichen Personen, die Angehörige der Mitgliedstaaten sind, gleichgestellt. Im Gegensatz zu einer natürlichen Person existiert aber ein rechtlich konfigurierter Marktakteur nur aufgrund seiner rechtlichen Konfiguration.205 Diese rechtliche Konfiguration muss zum Zeitpunkt der Verletzung des Freizügigkeitsrechts des Marktakteurs entstanden und noch bestehen, d.h. nicht untergegangen sein. Die rechtliche Konfiguration wird von der Gründungsrechtsordnung bereitgestellt, die nicht nur die Voraussetzungen für ihre Entstehung, sondern auch die Gründe für ihren Untergang enthält. Existiert eine Gesellschaft im Sinne des Art. 54 AEUV daher nicht mehr, kann sie sich auch nicht mehr auf die Niederlassungsfreiheit in Art. 49 AEUV berufen. Es handelt sich somit bei der vom EuGH entschiedenen Frage in „Cartesio“ zunächst einmal um eine „Vorfrage“.206 Anders könnte man es nur dann sehen, wenn der persönliche Anwendungsbereich der Niederlassungsfreiheit bereits mit der Gründung eines rechtlich konfigurierten Marktakteurs eröffnet ist, ohne dass es auf die Einschlägigkeit
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GA Maduro, SchlA Rs. C-210/06, Cartesio, Slg. 2008, I-9641 Nr. 31, 34. Weng, EWS 2008, 264; Campus Nave, BB 2008, 2410; Behme/Nohlen, NZG 2008, 496, 497; Teichmann, EWiR 2008, 397, 398. 205 Vgl. auch Zimmer, NJW 2009, 545, 546 f. 206 So die Formulierung in EuGH, Rs. C-210/06, Cartesio, Slg. 2008, I-9641 Rn. 109. Diese Deutung des „Daily Mail“-Urteils hatte bereits Roth, RabelsZ 55 (1991), 623, 631. 204
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möglicher Auflösungsgründe nach dem Gründungsrecht ankommt.207 Dafür spricht der Wortlaut von Art. 54 AEUV, der lediglich auf die „nach den Rechtsvorschriften eines Mitgliedstaats gegründeten Gesellschaften“ verweist. Dafür spricht zudem, dass das Exportverbot des Gründungsstaates, das dieser mit dem Entzug der rechtlichen Konfiguration im Falle des Wegzugs ausspricht, daraufhin zu überprüfen ist, ob es zwingenden Erfordernissen des Allgemeininteresses entspricht.208 Der hierfür in Stellung gebrachte Arbeitnehmerschutz, Gläubigerschutz oder Aktionärsschutz ist jedenfalls stärker durch den Wegzug bei einem Wechsel der anwendbaren Rechtsordnung betroffen, den der EuGH als von der Niederlassungsfreiheit geschützt bezeichnet, als durch den Wegzug unter Beibehaltung der rechtlichen Konfiguration des Gründungsstaates.209 So berechtigt diese Argumente auch sein mögen, so wenig dürfen sie aber die Konsequenzen ignorieren, die einträten, wäre der persönliche Anwendungsbereich der Niederlassungsfreiheit bereits mit der Gründung des rechtlich konfigurierten Marktakteurs eröffnet, ohne dass es auf die Regeln des Gründungsrechts bezüglich seines Fortbestands ankommt. Dies würde nämlich die allgemein anerkannte,210 aus Art. 54 AEUV fließende Befugnis der Mitgliedstaaten, das Anknüpfungsmoment für die Feststellung der hinreichend engen Verbindung eines Marktakteurs mit der eigenen Rechtsordnung aus den von Art. 54 Abs. 1 AEUV als gleichrangig anerkannten Anknüpfungsmomenten zu bestimmen, aushöhlen.211 So könnte eine Hauptverwaltung einer Gesellschaft in Gründung ohne größere Schwierigkeiten in einem Mitgliedstaat, der der Sitztheorie folgt, eingerichtet werden, nur um anschließend diese Hauptverwaltung und mit ihr den Schwerpunkt der wirtschaftlichen Tätigkeit in einen anderen Mitgliedstaat zu verlegen. Dies liefe auf eine kaum einschränkbare Rechtswahlfreiheit im internationalen Gesellschaftsrecht hinaus,212 die die Verträge in dieser Form gerade nicht vorsehen. Daher lässt sich das existenzbegründende und zugleich existenzerhaltende Anknüpfungsmoment nicht über die Niederlassungsfreiheit aufspalten. Dies führt zu der Folgefrage, ob nunmehr der Gründungsstaat mit seinen rechtlich konfigurierten Marktakteuren verfahren kann, wie es ihm beliebt. Hierzu ist die Antwort des EuGH in „Cartesio“ eindeutig: Ist der persönliche Anwendungsbereich der Niederlassungsfreiheit eröffnet, dann unterliegen die Auflösung und Liquidation des rechtlich konfigurierten Marktakteurs der Niederlassungsfreiheit und müssen sich als Beschränkungen der Wegzugsfreiheit 207 Dafür Müller-Graff, in: FS Hellwig, S. 251, 265; Mörsdorf, EuZW 2009, 97, 99 f.; Leible/Hoffmann, BB 2009, 58, 59 f.; Forsthoff, in: Grabitz/Hilf/Nettesheim, Art. 54 AEUV Rn. 11. 208 Mörsdorf, EuZW 2009, 97, 99. 209 Forsthoff, in: Grabitz/Hilf/Nettesheim, Art. 54 AEUV Rn. 11. 210 Schall/Barth, NZG 2012, 414, 418. 211 Vgl. treffend Teichmann, ZIP 2009, 393, 400. 212 Teichmann, ZIP 2009, 393, 400.
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dieses Marktakteurs gegenüber der Niederlassungsfreiheit rechtfertigen.213 Diese Fallkonstellation war jedoch nicht Grundlage des Sachverhalts, der dem EuGH in „Cartesio“ vorgelegt wurde. In diesem Fall war nämlich der persönliche Anwendungsbereich der Niederlassungsfreiheit bereits schon nicht eröffnet. Spiegelt man diese Erkenntnis aus den Urteilsgründen des EuGH in „Cartesio“ gegen die Argumentation in „Daily Mail“, so erkennt man, dass „Cartesio“ letzteres Urteil in einem Teilbereich nicht nur präzisierte, sondern sogar von ihm abkehrte. In „Daily Mail“ war schließlich eine steuerrechtliche Genehmigung streitgegenständlich, deren Nichtbeachtung nicht mit der Auflösung und Liquidation der wegziehenden Gesellschaft geahndet war. Das englische Gesellschaftsrecht ließ vielmehr den rechtsformwahrenden Wegzug zu. Somit ließ „Daily Mail“ den Rückschluss zu, dass jedwede Wegzugsbeschränkung „grundfreiheitenimmun“ sein könnte. Dies wurde durch „Cartesio“ entkräftet. Ist der Anwendungsbereich der Niederlassungsfreiheit eröffnet, weil die Gründungsrechtsordnung den rechtsformwahrenden Wegzug aus sachrechtlichen Gründen zulässt214 oder weil die wegziehende Gesellschaft einen Rechtsformwechsel in eine andere Rechtsordnung als der Gründungsrechtsordnung anstrebt, dann unterliegen sämtliche Behinderungen des Wegzugs gesellschaftsrechtlicher oder steuerrechtlicher Art der Niederlassungsfreiheit und sind rechtfertigungsbedürftig.215 Betrachtet man das „Cartesio“-Urteil mithin als eine Bestätigung von „Daily Mail“ im Hinblick auf den persönlichen Anwendungsbereich der Niederlassungsfreiheit bei rechtlich konfigurierten Marktakteuren und als Abkehr von der scheinbar prinzipiellen Herausnahme jedweder Beschränkung des Wegzugs eines rechtlich konfigurierten Marktakteurs, dann führt der EuGH die Niederlassungsfreiheit der rechtlich konfigurierten Marktakteure in der Rechtssache „Cartesio“ wieder auf den gewohnten Pfad der Grundfreiheitendogmatik zurück.216
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EuGH, Rs. C-210/06, Cartesio, Slg. 2008, I-9641 Rn. 112 f. Dies war gerade der Unterschied in „Cartesio“: Ungarn folgt kollisionsrechtlich der Gründungstheorie. Es war jedoch eine Sachnorm, die den Sitz der Hauptverwaltung im Inland verlangte. 215 Siehe auch Tiedje, in: von der Groeben/Schwarze/Hatje, Art. 54 AEUV Rn. 45 ff. 216 Anders Müller-Graff, in: FS Hellwig, S. 251, 265 ff., der „Cartesio“ auf der Grundlage seiner Grundannahme, wonach der persönliche Anwendungsbereich der Niederlassungsfreiheit der rechtlich konfigurierten Marktakteure mit deren Gründung bereits eröffnet ist, in sich schlüssig lediglich als „Etappenstation“ bezeichnet und darin nicht „das letzte judikative Wort zu Wegzugsbeschränkungen“ erkennt. 214
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4. Kapitel: Einwirkungen des Primärrechts in das autonome IPR
c) Die Bestätigung: „National Grid Indus“217 In der Rechtssache „National Grid Indus“ bestätigte der EuGH seine in „Cartesio“ gefundene Auslegung und stellte klar, dass die Beschränkung des Wegzugs eines Marktakteurs durch den Herkunftsstaat immer dann, wenn die Gründungsrechtsordnung eines rechtlich konfigurierten Marktakteurs den Fortbestand der rechtlichen Konfiguration nicht an die Anknüpfungstatsache knüpft, die der Marktakteur aus der Gründungsrechtsordnung hinausverlegt (im konkreten Fall: der Verwaltungssitz), der Niederlassungsfreiheit unterliegt. Im streitgegenständlichen Sachverhalt ging es um die niederländische Wegzugsbesteuerung. Aufgrund des britisch-niederländischen Doppelbesteuerungsabkommens gilt „eine andere als eine natürliche Person“ als ausschließlich in dem jeweiligen Abkommensstaat ansässig mit der Folge der Besteuerungsbefugnis des Staates für das Welteinkommen dieser (juristischen) Person, in dem diese Person ihren tatsächlichen Verwaltungssitz hat. Dies bedeutete für englische oder niederländische Gesellschaften, deren Gründungsrechtsordnungen beide der Gründungstheorie folgen, dass sie aus international-gesellschaftsrechtlicher Perspektive bei einer Verlegung des tatsächlichen Verwaltungssitzes Gesellschaften ihrer jeweiligen Gründungsrechtsordnung bleiben, jedoch aus international-steuerrechtlicher Perspektive dem Steuerrecht des jeweils anderen Mitgliedstaates unterworfen werden. Unterliegt ein Unternehmen nicht mehr der niederländischen Besteuerung, muss es eine Schlussrechnung über die stillen Reserven erstellen, die dann der sofortigen Besteuerung unterliegen. Unter den stillen Reserven befand sich in dem der Entscheidung „National Grid Indus“ zugrunde liegenden Sachverhalt der Kursgewinn einer in Pfund Sterling lautenden Darlehensforderung der National Grid Indus BV gegen eine englische Gesellschaft. Der Sachverhalt macht bereits deutlich, dass eine mit „Daily Mail“ vergleichbare Konstellation vorliegt, in der die gesellschaftsrechtliche Existenz nicht infrage gestellt ist, sondern vielmehr der Wegzug des Unternehmens aus steuerrechtlichen Gründen weniger attraktiv gemacht wird. Unter Zugrundelegung der Argumentation des EuGH in „Daily Mail“ hätte der EuGH in „National Grid Indus“ den Anwendungsbereich der Niederlassungsfreiheit für die niederländische Steuerregel als schlichte Wegzugsbeschränkung des Gründungsstaats des Unternehmens nicht eröffnen dürfen.218 Stattdessen hielt der EuGH den Anwendungsbereich der Niederlassungsfreiheit für eröffnet: „Die Regelung beschränkt sich vielmehr darauf, für die nach nationalem Recht gegründeten Gesellschaften steuerliche Folgen an eine Sitzverlegung zwischen Mitgliedstaaten zu knüpfen, ohne dass diese Sitzverlegung ihre Eigenschaft als
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EuGH, Rs. C-371/10, National Grid Indus, Slg. 2011, I-12273. So auch die Argumentation diverserer Regierung im Verfahren, vgl. EuGH, Rs. C-371/10, National Grid Indus, Slg. 2011, I-12273 Rn. 23 f., 29. 218
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Gesellschaften des fraglichen Mitgliedstaats berührt.“219 Hierin kann man eine Aufgabe von „Daily Mail“220 und eine Bestätigung der Auslegung in „Cartesio“ erkennen. Liegt ein rechtlich konfigurierter Marktakteur vor, der nach den Bestimmungen seiner Gründungsrechtsordnung geschaffen wurde und der fortbesteht, kann er sich bei Beschränkungen seiner Wegzugsfreiheit auf die Niederlassungsfreiheit berufen. d) Zusammenfassung Die Rechtsprechung des EuGH zur Wegzugskonstellation lässt sich dahingehend zusammenfassen, dass grundsätzlich auch Wegzugsbeschränkungen rechtlich konfigurierter Marktakteure der Niederlassungsfreiheit unterliegen und eventuell aufgrund zwingender Erfordernisse des Allgemeininteresses gerechtfertigt werden können. Hierunter fallen auch die Gründung und der Fortbestand rechtlich konfigurierter Marktakteure. Die Niederlassungsfreiheit steht jedoch Regeln über die Gründung und die Existenz eines rechtlich konfigurierten Marktakteurs nicht entgegen, deren Tatbestand eines der in Art. 54 Abs. 1 AEUV genannten Anknüpfungsmomente enthält. Zwar können solche Regeln, wenn sie die Ausübung der Niederlassungsfreiheit unterbinden, behindern oder weniger attraktiv machen, eine tatbestandliche Beschränkung der Niederlassungsfreiheit begründen. Aufgrund der besonderen Eigenart rechtlich konfigurierter Marktakteure, der zufolge die Anwendung der Regeln über die Gründung und Existenz zum Verlust der rechtlichen Konfiguration führen können, ist der persönliche Anwendungsbereich der Niederlassungsfreiheit jedoch in diesen Fällen mangels rechtlicher Existenz des Marktakteurs nicht eröffnet. Somit ergeben sich aus der Rechtsprechung des EuGH zu den Wegzugskonstellationen rechtlich konfigurierter Marktakteure keine Besonderheiten im Vergleich zu der allgemeinen Dogmatik der Grundfreiheiten. Lediglich die Bestimmung des persönlichen Anwendungsbereichs hat für rechtlich konfigurierte Marktakteure eine eigene Regelung in Art. 54 AEUV gefunden. Diese Regelung eröffnet den Mitgliedstaaten eine Wahlfreiheit zwischen den darin genannten Anknüpfungsmomenten.221 Diese Anknüpfungsfreiheit ist dabei nicht nur formell zu verstehen. Die Anknüpfungsfreiheit bei der Gründung eines rechtlich konfigurierten Marktakteurs wäre im Ergebnis bedeutungslos, wenn sie sich nicht auch auf die Existenz der rechtlichen Konfiguration erstreckt.222 Daher ist es nur folgerichtig mit dem EuGH bei den rechtlich konfigurierten Marktakteuren danach zu unterscheiden, ob und in welchem Umfang die Gründungsrechtsordnung den Export seiner rechtlichen Konfigurationen zulässt. Möchte der Marktakteur gemeinsam mit seinem Wegzug auch 219
EuGH, Rs. C-371/10, National Grid Indus, Slg. 2011, I-12273 Rn. 31. Vgl. Mörsdorf, EuZW 2012, 296, 298. 221 Wouters, EBOR 2001, 101, 120. 222 Teichmann, ZIP 2009, 393, 400 f. 220
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die rechtliche Konfiguration der Aufnahmerechtsordnung unterstellen, ist der persönliche Anwendungsbereich der Niederlassungsfreiheit eröffnet, soweit die Aufnahmerechtsordnung dem zuziehenden Marktakteur eine rechtliche Konfiguration zur Verfügung stellt. Somit schützt die Niederlassungsfreiheit die Identität des Marktakteurs, jedoch nicht seine rechtliche Konfiguration innerhalb des regulativen Spielraums, den Art. 54 AEUV den Mitgliedstaaten schafft. Dies bedeutet daher im Umkehrschluss auch, dass Regeln über die Gründung und Existenz der rechtlichen Konfiguration eines Marktakteurs, die Beschränkungen aufgrund anderer Tatbestandsmerkmale begründen, vollumfänglich der Niederlassungsfreiheit unterliegen. Deshalb wäre auch eine Vorschrift, die die Gründung einer Gesellschaft davon abhängig macht, dass mindestens einer der Gesellschafter die Staatsangehörigkeit des Gründungsstaates hat, trotz dass es sich hierbei um eine Gründungsvorschrift handelt, eine Verletzung des Diskriminierungsverbots der Niederlassungsfreiheit.223 3. Zuzugskonstellation Die Zuzugskonstellation ist dadurch gekennzeichnet, dass ein Marktakteur, dessen rechtliche Konfiguration durch die Rechtsordnung eines anderen Mitgliedstaats verliehen wurde, eine wirtschaftliche Tätigkeit im Zuzugsstaat aufnimmt. Dabei kann die Aufnahme der wirtschaftlichen Tätigkeit in zweierlei Weise erfolgen; entweder in Form einer sekundären Niederlassung durch Gründung von Agenturen, Zweigniederlassungen oder Tochtergesellschaften oder im Wege der primären Niederlassung durch Verlegung des Schwerpunkts der wirtschaftlichen Tätigkeit in den Zuzugsstaat. Da regelmäßig am Ort des Schwerpunkts der wirtschaftlichen Tätigkeit auch der effektive Sitz der Hauptverwaltung liegt, bedeutet ein Zuzug aus der Sicht der Sitztheorie eine Änderung der Anknüpfungstatsachen, die sich kollisionsrechtlich durch eine Verweisung auf die eigene Rechtsordnung und damit auf eine andere als die bisher auf die rechtliche Konfiguration des zuziehenden Marktakteurs anwendbare Rechtsordnung ausdrückt. Die Zuzugskonstellation aus der Sicht der Sitztheorie unterscheidet sich von der Wegzugskonstellation darin, dass die aufgrund des Statutenwechsels anwendbare Rechtsordnung, soweit ihre Sachnormen von denen der bestehenden rechtlichen Konfiguration des zuziehenden Marktakteurs abweichen, entscheiden muss, ob sie ihre Sachnormen an die der bestehenden rechtlichen Konfiguration des Marktakteurs anpasst oder von dem zuziehenden Marktakteur eine Änderung seiner rechtlichen Konfiguration verlangt. In der Wegzugskonstellation stellt sich dagegen die Frage, ob die Gründungsrechtsordnung den „Export“ der rechtlichen Konfiguration des wegziehenden Marktakteurs zulässt.
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Teichmann, ZIP 2009, 393, 399.
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Aus der Perspektive der Gründungstheorie ändert sich bei der Verlegung des Schwerpunkts der wirtschaftlichen Tätigkeit eines rechtlich konfigurierten Marktakteurs zunächst nichts. Erst wenn neben der tatsächlichen Verlegung der wirtschaftlichen Tätigkeit auch eine Neugründung des Marktakteurs nach dem Recht des Zuzugsstaates oder ein grenzüberschreitender Rechtsformwechsel in die Rechtsordnung des Zuzugsstaates angestrebt wird, entsteht für die Gründungstheorie ein Zuzugssachverhalt. Die Rechtsprechung des EuGH soll im Folgenden lediglich bezüglich des Tatbestands der Niederlassungsfreiheit betrachtet werden, während die Ausführungen zur Rechtfertigung ausgeblendet werden. Dies hat insbesondere damit zu tun, dass die Rechtfertigungsprüfung auf die Besonderheiten des jeweiligen Einzelfalls eingeht und ihr daher im Hinblick auf die Frage nach der Einwirkung der Grundfreiheiten in das nationale Kollisionsrecht keine verallgemeinerungsfähigen Aussagen zu entnehmen sind. a) Trennung von Gründung und Tätigkeit eines rechtlich konfigurierten Marktakteurs: „Centros“224 In der Entscheidung des EuGH in der Rechtssache „Centros“ widmete sich der EuGH erstmals nach dem Urteil in der Rechtssache „Daily Mail“ der Zuzugskonstellation. Die Centros Ltd. ist eine englische „private limited company“, die im Jahr 1992 von den Eheleuten Bryde, die beide dänische Staatsangehörige waren und ihren Wohnsitz in Dänemark hatten, gegründet wurde. Diese Gesellschaft hatte jedoch seit ihrer Gründung im Vereinigten Königreich keinerlei Geschäftstätigkeit entfaltet. Entsprechend der englischen Vorschriften über Gesellschaften mit beschränkter Haftung, wonach ein Mindestgesellschaftskapital nicht erforderlich ist, wurde das Gesellschaftskapital der Centros in Höhe von 100 britischen Pfund auch nie einbezahlt oder zu deren Verwendung individualisiert. Kurz nach der Gründung der Centros Ltd. sollte in Dänemark eine Zweigniederlassung in das dänische Register eingetragen werden. Das dänische GmbH-Gesetz sah vor, dass sowohl dänische als auch ausländische Gesellschaften gleicher Rechtsform das Recht zur Gründung einer Zweigniederlassung haben. Die Eintragung der Zweigniederlassung der Centros Ltd. wurde von den dänischen Behörden jedoch mit der Begründung verweigert, es handele sich bei der Gründung der Zweigniederlassung um eine Umgehung des dänischen Gesellschaftsrechts, insbesondere der Vorschriften zum Mindestgesellschaftskapital. Eigentlich gehe es nicht um die Errichtung einer Zweigniederlassung, sondern um die eines Hauptsitzes, da die Centros Ltd. ihre gesamte Geschäftstätigkeit am Ort ihrer Zweigniederlassung ausüben wolle und keinerlei Geschäftstätigkeit in ihrem Satzungssitzstaat ausübe. Die Verweigerung war nach Ansicht der dänischen Behörden erforderlich, „um die 224
EuGH, Rs. C-212/97, Centros, Slg. 1999, I-1459.
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öffentlichen und privaten Gläubiger und die Vertragspartner zu schützen und den betrügerischen Bankrott zu bekämpfen.“225 Der EuGH sah in der Verweigerung der Eintragung der Zweigniederlassung in das dänische Register einen Verstoß gegen die Niederlassungsfreiheit der Centros Ltd. Ohne Eintragung der Zweigniederlassung ist es der Centros Ltd. als Gesellschaft ausländischen Rechts unmöglich, eine wirtschaftliche Tätigkeit in Dänemark aufzunehmen. Das Recht darauf verleiht ihr jedoch die Niederlassungsfreiheit, auf die sie sich gemäß Art. 54 AEUV ungeachtet des Ortes ihrer Satzungssitzes oder Verwaltungssitzes berufen kann. Schutzgut der Niederlassungsfreiheit ist die Aufnahme und Ausübung von Erwerbstätigkeiten einer Gesellschaft. Aus diesem Verständnis folgt auch, dass die Errichtung einer Gesellschaft in einem anderen Mitgliedstaat mit einem weniger restriktiven Gesellschaftsrecht keinen Grund darstellen kann, weshalb ein Marktakteur die Niederlassungsfreiheit in missbräuchlicher Weise ausnutzt. Die Errichtung einer Gesellschaft ist nämlich von der Erwerbstätigkeit zu trennen, die eine einmal errichtete Gesellschaft in einem anderen Mitgliedstaat auszuüben sucht.226 Der Mitgliedstaat hat die beschränkungsfreie Aufnahme und Ausübung der Erwerbstätigkeit zu garantieren, und zwar ungeachtet der rechtlichen Konfiguration des EU-ausländischen Marktakteurs, der über eine Zweigniederlassung eine Erwerbstätigkeit in diesem Mitgliedstaat aufnehmen möchte. Vor einer Bewertung des Urteils des EuGH muss man sich vergegenwärtigen, dass beide streitgegenständlichen Rechtsordnungen der Gründungstheorie folgen. Mithin war der Ort der wirtschaftlichen Tätigkeit für die Anknüpfung des auf die rechtliche Konfiguration des Marktakteurs anwendbaren Rechts irrelevant. Somit erlaubten sowohl die Herkunfts- als auch die Zuzugsrechtsordnung der Centros Ltd. die Aufnahme und Ausübung einer wirtschaftlichen Tätigkeit einschließlich der Sitznahme der Hauptverwaltung im Zuzugsstaat, ohne dass hierdurch der Fortbestand der Centros Ltd. als Gesellschaft englischen Rechts infrage gestellt gewesen wäre. Vor diesem Hintergrund ging es in „Centros“ nicht um die rechtliche Konfiguration des englischen Marktakteurs, sondern um seine wirtschaftliche Tätigkeit in Dänemark mittels sekundärer Niederlassung. Versucht man nun die Ausführungen des EuGH vor diesem Hintergrund zusammenzuführen, ergibt sich das folgende Bild: Der Zuzugsstaat muss rechtlich konfigurierten Marktakteuren, die nach dem Recht eines EU-Mitgliedstaates gegründet sind, die Aufnahme und Ausübung wirtschaftlicher Tätigkeiten mittels einer sekundären Niederlassung im Zuzugsstaat gewähren und zwar ungeachtet der wirtschaftlichen Tätigkeit im Herkunftsstaat.227 Die Aufnahme und Ausübung einer wirtschaftlichen Tätigkeit durch eine EU-ausländische 225
EuGH, Rs. C-212/97, Centros, Slg. 1999, I-1459 Rn. 12. EuGH, Rs. C-212/97, Centros, Slg. 1999, I-1459 Rn. 26 f. 227 Vgl. von Halen, Gesellschaftsstatut nach Centros, S. 81 ff. 226
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Gesellschaft ist versperrt, wenn ihr die Errichtung einer sekundären Niederlassung verwehrt wird. Als von der Aufnahme und Ausübung seiner wirtschaftlichen Tätigkeit losgelöst muss die Gründung des rechtlich konfigurierten Marktakteurs betrachtet werden. Abweichende rechtliche Vorgaben für die Gründung eines rechtlich konfigurierten Marktakteurs in den unterschiedlichen Rechtsordnungen der Mitgliedstaaten führen nicht zu einer Zugangssperre zu anderen mitgliedstaatlichen Teilmärkten im Binnenmarkt. Die Gründung betrifft nämlich nicht die Niederlassungsfreiheit des hiermit gegründeten rechtlich konfigurierten Marktakteurs, sondern die Niederlassungsfreiheit der Gründer.228 Mithin können Beschränkungen in Bezug auf die Gründung eines rechtlich konfigurierten Marktakteurs die Reichweite seiner Niederlassungsfreiheit nicht verkürzen. Vor diesem Hintergrund wird deutlich, dass die Inanspruchnahme einer anderen als der inländischen Gesellschaftsrechtsordnung zur Gründung eines rechtlich konfigurierten Marktakteurs auch nicht „für sich allein“229 eine missbräuchliche Ausnutzung der Niederlassungsfreiheit der Gründer sein kann. Das Urteil in der Rechtssache „Centros“ stellt damit klar, dass einem EUausländischen rechtlich konfigurierten Marktakteur der Zugang zu einem Markt mittels sekundärer Niederlassung nicht versperrt werden darf. Eine Marktzugangssperre kann nicht damit gerechtfertigt werden, dass die Vorschriften der Heimatrechtsordnung des rechtlich konfigurierten Marktakteurs geringere Anforderungen an seine Gründung stellen als die Zuzugsrechtsordnung, in dem eine wirtschaftliche Tätigkeit aufgenommen werden soll. Die Gründung eines rechtlich konfigurierten Marktakteurs nach dem subjektiv günstigsten mitgliedstaatlichen Recht ist integraler Bestandteil der Niederlassungsfreiheit der Gründer. Was mit dem Urteil nicht entschieden wurde, war, ob dies auch für die Aufnahme und Ausübung einer wirtschaftlichen Tätigkeit mittels primärer Niederlassung, also unter Beteiligung einer Rechtsordnung, die der Sitztheorie folgt, gilt und ob Beschränkungen der Aufnahme und Ausübung einer wirtschaftlichen Tätigkeit des ausländischen rechtlich konfigurierten Marktakteurs unterhalb der Marktzugangssperre auch von der Niederlassungsfreiheit erfasst sind. Ersterer Frage wendete sich der EuGH in der Rechtssache „Überseering“ zu, während er die letztere Frage in der Rechtssache „Inspire Art“ behandelte.
228 Schön, ECFR 2006, 122, 135; Eidenmüller, in: Eidenmüller, Ausländische Kapitalgesellschaften, § 4 Rn. 84. 229 EuGH, Rs. C-212/97, Centros, Slg. 1999, I-1459 Rn. 27.
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b) Regelungen des Zuzugsstaats, die die rechtliche Konfiguration betreffen, begründen eine Beschränkung der sekundären Niederlassungsfreiheit: „Inspire Art“230 Die Inspire Art Ltd. ist eine englische „private limited company“, deren Geschäftstätigkeit (Verkauf von Kunstgegenständen) ausschließlich über eine Zweigniederlassung in den Niederlanden stattfand. Die niederländische Handelskammer („Kamer van Koophandel en Fabrieken“) verlangte die Eintragung des Zusatzes „formal ausländische Gesellschaft“ im niederländischen Handelsregister. Eine formal ausländische Gesellschaft ist nach Art. 1 des „Wet op de formeel buitenlandse vennootschappen“ vom 17. Dezember 1997 (WFBV) „eine nach einem anderen als dem niederländischen Recht gegründete Kapitalgesellschaft mit eigener Rechtspersönlichkeit, die ihre Tätigkeit vollständig oder nahezu vollständig in den Niederlanden ausübt und daneben keine tatsächliche Bindung an den Staat hat, in dem das Recht gilt, nach dem sie gegründet wurde.“231 Eine formal ausländische Gesellschaft unterliegt besonderen Pflichten hinsichtlich ihrer Eintragung in das Handelsregister, der zu hinterlegenden Dokumente, des Mindestkapitals und des Jahresabschlusses. Insbesondere haftet der Geschäftsführer einer formal ausländischen Gesellschaft persönlich als Gesamtschuldner neben der Gesellschaft, solange die Verpflichtung zur Eintragung der Gesellschaft und die Zeichnung des Mindestkapitals als Eintragungsvoraussetzung nicht erfüllt sind. Die persönliche Haftung lebt nach Zeichnung des Mindestkapitals wieder auf, wenn das eingezahlte Kapital unter den Mindestbetrag sinkt (Art. 4 Abs. 4 WFBV). Der Sachverhalt der Rechtssache „Inspire Art“ unterscheidet sich von „Centros“ dadurch, dass der Inspire Art Ltd. die Errichtung einer Zweigniederlassung im Land ihrer (ausschließlichen) wirtschaftlichen Tätigkeit nicht verweigert, sondern an Bedingungen geknüpft wurde. Der EuGH hielt auch diese Bedingungen für unvereinbar mit der Niederlassungsfreiheit. Nach dem Urteil in der Rechtssache „Centros“ war es wenig überraschend, dass die (nahezu) vollständige Geschäftstätigkeit einer Gesellschaft über eine Zweigniederlassung in einem anderen als dem Gründungsstaat der Anwendbarkeit der Niederlassungsfreiheit nicht entgegensteht. Zwar lassen die niederländischen Regelungen die Aufnahme und Ausübung einer wirtschaftlichen Tätigkeit mittels sekundärer Niederlassung grundsätzlich zu, sie unterwerfen jedoch die „Gründung einer Zweigniederlassung in den Niederlanden durch eine derartige Gesellschaft […] Vorschriften, die in diesem Staat für die Gründung einer Gesellschaft mit beschränkter Haftung gelten.“232 Damit steht die Gründung der Zweigniederlassung einer formal ausländischen Gesellschaft effektiv einer Neugründung der Gesellschaft nach niederländischem Recht gleich. Mithin 230
EuGH, Rs. C-167/01, Inspire Art, Slg. 2003, I-10155. Zitiert nach EuGH, Rs. C-167/01, Inspire Art, Slg. 2003, I-10155 Rn. 22. 232 EuGH, Rs. C-167/01, Inspire Art, Slg. 2003, I-10155 Rn. 101. 231
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kommen die niederländischen Regelungen einer Marktzugangssperre für den rechtlich konfigurierten Marktakteur als solchen gleich.233 Mit der Verpflichtung, ein Mindestkapital zu zeichnen, und mit der hieran anknüpfenden persönlichen Haftung der Geschäftsführer werden dem Marktakteur die Vorteile der ausländischen rechtlichen Konfiguration genommen. Es ist „gerade Ziel der Vertragsvorschriften über die Niederlassungsfreiheit“, die Inanspruchnahme einer Gesellschaftsrechtsordnung zu ermöglichen, die von den Gründern als weniger streng als die im konkreten Fall heimische Rechtsordnung der Gründer eingeschätzt wird.234 Da nunmehr nicht nur formale Marktzugangssperren für die Aufnahme und Ausübung einer wirtschaftlichen Tätigkeit eines EU-ausländischen rechtlich konfigurierten Marktakteurs vom Tatbestand der Niederlassungsfreiheit erfasst werden, stellt sich die Folgefrage, ob jede nachteilige Abweichung im Gesellschaftsrecht des Zuzugsstaates im Vergleich zu der Gründungsrechtsordnung in ihrer Wirkung einer materiellen Marktzugangssperre für ausländische rechtlich konfigurierte Marktakteure gleichkommt. Der EuGH argumentiert in „Inspire Art“, dass die Firmierung einer formal ausländischen Gesellschaft als ausländische ausreicht, um potenzielle Gläubiger einer solchen Gesellschaft darüber aufzuklären, „dass sie anderen Rechtsvorschriften als denen unterliegt, die in den Niederlanden die Gründung von Gesellschaften mit beschränkter Haftung regeln, u. a., was die Vorschriften über das Mindestkapital und die Haftung der Geschäftsführer betrifft.“235 Hieraus wurde geschlussfolgert, sämtliche gesellschaftsrechtlichen Fragen unterlägen der Gründungsrechtsordnung und könnten durch funktionsäquivalente, jedoch nachteilhaftere Sachnormen der Zuzugsrechtsordnung nicht ersetzt werden.236 Dies findet jedoch in dem Urteil keine Stütze. Soweit der EuGH auf die „Haftung der Geschäftsführer“ verweist, umfasst dies zwar nach seinem Wortlaut auch die Haftung der Geschäftsführer bei Ausübung der wirtschaftlichen Tätigkeit der Gesellschaft, jedoch wird vor dem Hintergrund des streitgegenständlichen Art. 4 Abs. 4 WFBV deutlich, dass es hierbei um die Haftung der Geschäftsführer in Bezug auf die Gründungsvoraussetzungen einer Zweigniederlassung geht.237 Mithin schreibt der EuGH im „Inspire Art“-Urteil die Unterscheidung zwischen der Gründung eines rechtlich konfigurierten Marktakteurs und der Ausübung seiner späteren wirtschaftlichen Tätigkeit fort, die er in „Centros“ bereits angedeutet hat. Deutlich wird dies im zweiten Leitsatz der Entscheidung, in dem der EuGH als Verletzung der Niederlassungsfreiheit 233
Vgl. Weller, Rechtsformwahlfreiheit, S. 89 Fn. 425. EuGH, Rs. C-167/01, Inspire Art, Slg. 2003, I-10155 Rn. 137. 235 EuGH, Rs. C-167/01, Inspire Art, Slg. 2003, I-10155 Rn. 135. 236 Vgl. etwa Spindler/Berner, RIW 2003, 949, 953. 237 Teichmann, Binnenmarktkonformes Gesellschaftsrecht, S. 426; Altmeppen, NJW 2004, 97, 99 Fn. 19; Leifeld, Anerkennungsprinzip, S. 90 ff.; Weller, Rechtsformwahlfreiheit, S. 66. 234
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rügt, dass die Errichtung einer Zweigniederlassung „von bestimmten Voraussetzungen abhängig [gemacht wurde], die im innerstaatlichen Recht für die Gründung von Gesellschaften bezüglich des Mindestkapitals und der Haftung der Geschäftsführer vorgesehen sind“. Die Grenze zwischen den Vorschriften, die wie eine Marktzugangssperre wirken, und denen, die lediglich die nachgelagerte Tätigkeit regeln, ist nach „Inspire Art“ dort zu ziehen, wo die rechtliche Konfiguration des Marktakteurs betroffen ist. So waren in „Inspire Art“ die geringen Mindestkapitalbestimmungen des englischen Rechts Teil der rechtlichen Konfiguration des Marktakteurs Inspire Art Ltd. Jede Regelung, die bewirkte, dass unmittelbar oder mittelbar die höheren Mindestkapitalstandards des Zuzugsstaates durchgesetzt werden, oder die in einem sinnlogischen Zusammenhang damit stand wie die Haftungsvorschriften für Geschäftsführer, unterlag der Niederlassungsfreiheit.238 Kurz: Jede Regelung, die die rechtliche Konfiguration auf das Regelungsniveau des Zuzugsstaats ziehen möchte, ist gegenüber der Niederlassungsfreiheit rechtfertigungsbedürftig. Das aufgezeigte Verständnis der Unterscheidung von solchen gesellschaftsrechtlichen Vorschriften, die zu einer formalen Marktzugangssperre führen oder deren Wirkung einer materiellen Marktzugangssperre entspricht, und solchen, die den Zugang des rechtlich konfigurierten Marktakteurs zum Markt des Zuzugsstaates unberührt lassen und lediglich dessen dem Marktzugang nachgelagerte Tätigkeit regeln, folgt der allgemeinen Dogmatik der Grundfreiheiten.239 Es findet darin auch seine entscheidende Stütze.240 c) Regelungen des Zuzugsstaats, die die rechtliche Konfiguration betreffen, begründen eine Beschränkung der primären Niederlassungsfreiheit: „Überseering“241 Die Rechtssache „Centros“ behandelte die Frage, ob die (ausschließliche) Ausübung der wirtschaftlichen Tätigkeit eines rechtlich konfigurierten Marktakteurs in einem anderen Mitgliedstaat als demjenigen, nach dessen Recht er gegründet wurde, durch Beschränkungen seiner sekundären Niederlassung in niederlassungsfreiheitsrelevanter Weise beschränkt ist, obwohl diese Beschränkungen seine rechtliche Konfiguration unberührt ließen, da die beteiligten Rechtsordnungen der Gründungstheorie folgen. Die Rechtssache „Überseering“ wandte sich nunmehr der Frage zu, ob die Grundfreiheiten ein vergleichbares Ergebnis wie in der Rechtssache „Centros“ bei Beschränkungen der primären Niederlassung verlangen, wenn eine der beteiligten Rechtsordnungen
238
Weller, Rechtsformwahlfreiheit, S. 84; Schanze/Jüttner, AG 2003, 30, 34 f.; Großerichter, DStR 2003, 159, 166. 239 Siehe dazu oben S. 192 ff. (entwickelt im Kontext der Warenverkehrsfreiheit), 247. 240 Leifeld, Anerkennungsprinzip, S. 93 f. 241 EuGH, Rs. C-208/00, Überseering, Slg. 2002, I-9919.
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der Sitztheorie folgt. Die Besonderheit dieser Fallkonstellation liegt darin begründet, dass aufgrund der Aufnahme und Ausübung der schwerpunktmäßigen wirtschaftlichen Tätigkeit in dem Mitgliedstaat, in dem die Sitztheorie gilt, ein Statutenwechsel erfolgt und sich mithin die rechtliche Konfiguration des Marktakteurs mit dem Grenzübertritt ändert. Die Überseering ist eine niederländische „Besloten Vennootschap met beperkte aansprakelijkheid“ (BV) und damit eine Kapitalgesellschaft mit beschränkter Haftung. Sie ist Eigentümerin eines in Deutschland belegenen Grundstückes und der darauf errichteten Gebäude. Sie schloss mit der NCC Nordic Construction Company Baumanagement GmbH einen Vertrag über die Sanierung dieser Gebäude. Vor dem Landgericht Düsseldorf kam es zu einer Klage der Überseering BV gegen die NCC GmbH auf Zahlung der Kosten der Mängelbeseitigung zuzüglich Zinsen. Zuvor erwarben zwei deutsche Staatsangehörige, die beide in Deutschland wohnhaft waren, sämtliche Gesellschaftsanteile an der Überseering BV. Die Klage wurde mit der Begründung der fehlenden Rechts- und Parteifähigkeit der Überseering als unzulässig abgewiesen. Nach § 50 Abs. 1 ZPO ist nur parteifähig, wer rechtsfähig ist. Die Rechtsfähigkeit einer Gesellschaft richtete sich entsprechend der Sitztheorie des deutschen Internationalen Gesellschaftsrechts nach derjenigen Rechtsordnung, in der sich der Ort des tatsächlichen Verwaltungssitzes befindet. Durch die Übernahme sämtlicher Gesellschaftsanteile durch in Deutschland ansässige Personen hat sich der tatsächliche Verwaltungssitz der Überseering BV nach Deutschland verlegt. Deswegen konnte sie nicht mehr als Gesellschaft niederländischen Rechts klagen, sondern war als eine solche deutschen Rechts zu beurteilen. Um somit Rechtsfähigkeit zu erlangen, hätte sich die Überseering nach deutschem Recht neu gründen müssen, was jedoch nicht erfolgt war. Der EuGH hält die Aberkennung der Rechtsfähigkeit und damit der Parteifähigkeit einer nach dem Recht eines anderen Mitgliedstaats gegründeten Gesellschaft nach Verlegung ihres tatsächlichen Verwaltungssitzes in den aberkennenden Mitgliedstaat, ohne dass die Gesellschaft hierdurch ihre Rechtsfähigkeit nach den Regeln der Gründungsrechtsordnung verliert, für mit der Niederlassungsfreiheit unvereinbar. Der EuGH leitet dieses Ergebnis aus der bereits im Urteil in der Rechtssache „Daily Mail“ begründeten „Geschöpftheorie“ ab. Eine Gesellschaft als Trägerin der Niederlassungsfreiheit hat keine Realität „jenseits der nationalen Rechtsordnung, die ihre Gründung und ihre Existenz regelt“.242 Solange die Gründungsrechtsordnung die rechtliche Existenz der Gesellschaft nicht in Frage stellt,243 haben die Zuzugsstaaten nicht das Recht,
242 243
EuGH, Rs. C-208/00, Überseering, Slg. 2002, I-9919 Rn. 67. EuGH, Rs. C-208/00, Überseering, Slg. 2002, I-9919 Rn. 63; vgl. ebenso Rn. 80.
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4. Kapitel: Einwirkungen des Primärrechts in das autonome IPR
die Fortexistenz der Gesellschaft „von der Beachtung ihres nationalen Gesellschaftsrechts abhängig zu machen“244. Die Trägerschaft der Niederlassungsfreiheit ist dann nämlich eindeutig durch den Gründungsstaat geregelt, so dass der Zuzugsstaat die „Ausübung der Unternehmertätigkeit nach den Bestimmungen, die im Niederlassungsstaat für dessen eigene Angehörige gelten“ zu garantieren hat.245 Die Inanspruchnahme der Niederlassungsfreiheit verlangt daher „die Anerkennung dieser Gesellschaften durch alle Mitgliedstaaten […], in denen sie sich niederlassen wollen.“246 In seiner Urteilsbegründung grenzt der EuGH hierfür die Rechtssache „Überseering“ von der Rechtssache „Daily Mail“ ab. Letztere behandelte das Verhältnis einer Gesellschaft als Trägerin der Niederlassungsfreiheit zu dem Mitgliedstaat, nach dessen Recht sie gegründet wurde: mithin die Wegzugssituation. Darüber hinaus behandelte „Daily Mail“ eine Wegzugssituation, in der die wegziehende Gesellschaft die ihr vom Gründungsstaat verliehene Rechtspersönlichkeit behalten möchte: mithin den rechtsformwahrenden Wegzug.247 Die Rechtssache „Überseering“ hingegen behandelt die Frage, „wie ein Mitgliedstaat eine in einem anderen Mitgliedstaat wirksam gegründete Gesellschaft zu behandeln hat, die im ersten Mitgliedstaat von ihrer Niederlassungsfreiheit Gebrauch macht“248: mithin die Zuzugssituation. In der Zuzugssituation ist, anders als in der Wegzugssituation, die Trägerschaft der Niederlassungsfreiheit geklärt: Solange der Wegzugsstaat seiner Gesellschaftsrechtsform die rechtliche Existenz nicht nimmt, ist sie Gesellschaft nach Art. 54 AEUV und damit Trägerin der Niederlassungsfreiheit. Die eigentliche Beschränkung der Niederlassungsfreiheit besteht in der Marktzugangssperre für die niederländische BV als Gesellschaft niederländischen Rechts: „In einer Situation wie im Ausgangsverfahren hat eine Gesellschaft, die nach dem Recht eines anderen Mitgliedstaats als der Bundesrepublik Deutschland wirksam gegründet worden ist und in diesem anderen Mitgliedstaat ihren satzungsmäßigen Sitz hat, nach deutschem Recht keine andere Wahl, als sich in Deutschland neu zu gründen. […] Das Erfordernis, dieselbe Gesellschaft in Deutschland neu zu gründen, kommt […] der Negierung der Niederlassungsfreiheit gleich.“249 Deshalb verstößt es nach Ansicht des EuGH gegen die Niederlassungsfreiheit, „wenn einer Gesellschaft, die nach dem Recht des Mitgliedstaats, in dessen Hoheitsgebiet sie ihren satzungsmäßigen Sitz hat, gegründet worden ist und von der nach dem Recht eines anderen Mitgliedstaats angenommen wird, dass sie ihren tatsächlichen Verwaltungssitz 244
EuGH, Rs. C-208/00, Überseering, Slg. 2002, I-9919 Rn. 72. EuGH, Rs. C-208/00, Überseering, Slg. 2002, I-9919 Rn. 56. 246 EuGH, Rs. C-208/00, Überseering, Slg. 2002, I-9919 Rn. 59. 247 Vgl. EuGH, Rs. C-208/00, Überseering, Slg. 2002, I-9919 Rn. 62, 65. 248 EuGH, Rs. C-208/00, Überseering, Slg. 2002, I-9919 Rn. 66. 249 EuGH, Rs. C-208/00, Überseering, Slg. 2002, I-9919 Rn. 79, 81. 245
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dorthin verlegt hat, in diesem Mitgliedstaat die Rechtsfähigkeit […] abgesprochen wird.“250 Noch weitergehend bestimmt der EuGH als Rechtsfolge des Verstoßes, dass „dieser andere Mitgliedstaat nach den Artikeln [49 AEUV] und [54 AEUV] verpflichtet [ist], die Rechtsfähigkeit und damit die Parteifähigkeit zu achten,251 die diese Gesellschaft nach dem Recht ihres Gründungstaats besitzt.“252 Damit überträgt der EuGH seine Rechtsprechung zur sekundären Niederlassungsfreiheit auf die primäre Niederlassungsfreiheit. Die Verlegung des Sitzes der Hauptverwaltung aus einer Rechtsordnung, die kollisionsrechtlich der Gründungstheorie folgt, in eine Rechtsordnung, die der Sitztheorie folgt, ist für ihn lediglich eine „Zweit-Niederlassung“, wenn die Gründungsrechtsordnung das Fortbestehen der rechtlichen Konfiguration anordnet.253 Mithin ist durch das Urteil in der Rechtssache „Überseering“ erneut deutlich gemacht worden, dass in der Konzeption des EuGH zwischen der Begründung einer rechtlichen Konfiguration einerseits und der anschließenden Tätigkeit andererseits zu unterscheiden ist. Die Gründungsrechtsordnung ist frei darin, die Anknüpfungspunkte für ihre Anwendbarkeit und die Bedingungen für die Schaffung und das Fortbestehen einer rechtlichen Konfiguration zu setzen („Daily Mail“ und „Cartesio“). Alle anderen Rechtsordnungen müssen die Existenz des Marktakteurs in der Form dieser rechtliche Konfiguration achten. Beschränkungen der rechtlichen Konfiguration durch diese Rechtsordnungen sind, ungeachtet dessen ob sie die primäre („Überseering“) oder sekundäre Niederlassung („Centros“, „Inspire Art“) betreffen, rechtfertigungsbedürftige Behinderungen der Niederlassungsfreiheit.254 4. Die Freiheit, eine rechtliche Konfiguration zu gründen Folgt man der Auslegung der Niederlassungsfreiheit rechtlich konfigurierter Marktakteure durch den EuGH, entscheidet die Gründungsrechtsordnung der rechtlichen Konfiguration über die Vorfrage der Existenz und Fortexistenz einer Gesellschaft im Sinne des Art. 54 AEUV. Die anderen Rechtsordnungen müssen die rechtliche Konfiguration des Marktakteurs achten, solange sie nach der Gründungsrechtsordnung fortbesteht. Ein Eingriff in die rechtliche Konfiguration begründet eine rechtfertigungsbedürftige Behinderung der Niederlas-
250
EuGH, Rs. C-208/00, Überseering, Slg. 2002, I-9919, 1. Tenor. In der englische Urteilsfassung wird „zu achten“ mit „to recognise“, während es in der französischen Urteilsfassung mit „de respecter“ und in der italienischen Urteilsfassung mit „di rispettare“ übersetzt wird. Vgl. dazu Roth, IPRax 2003, 117, 120; Mansel, RabelsZ 70 (2006), 651, 672 Fn. 95. 252 EuGH, Rs. C-208/00, Überseering, Slg. 2002, I-9919, Rn. 95, 2. Tenor. 253 Teichmann, Binnenmarktkonformes Gesellschaftsrechts, S. 409. 254 Vgl. Teichmann, Binnenmarktkonformes Gesellschaftsrecht, S. 409 ff. 251
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sungsfreiheit dieses Marktakteurs. Die Regelungsfreiheit der Gründungsrechtsordnung selbst ist im Hinblick auf die Fortexistenz ihr entspringender rechtlicher Konfigurationen durch die Niederlassungsfreiheit begrenzt, wenn und insoweit der Marktakteur identitätswahrend eine neue rechtliche Konfiguration nach den Bedingungen einer anderen EU-Rechtsordnung annehmen möchte. Offen ist nach dem bislang Gesagten noch die Frage nach den Anforderungen der Niederlassungsfreiheit an die Freiheit der Gründungsrechtsordnung im Hinblick auf die Schaffung rechtlicher Konfigurationen. In der Entscheidung in der Rechtssache „Centros“ wurde die Beantwortung dieser Frage bereits angedeutet: „Das Recht, eine Gesellschaft nach dem Recht eines Mitgliedstaats zu errichten […], folgt nämlich im Binnenmarkt unmittelbar aus der vom EG-Vertrag gewährleisteten Niederlassungsfreiheit.“255 Dies bedeutet im Umkehrschluss, dass die Gründungsrechtsordnung dieses Recht in diskriminierungs- und beschränkungsfreier Weise gewährleisten muss.256 In der Rechtssache „Sevic“ wurde die Frage entscheidungsrelevant. a) Diskriminierungsfreier Zugang zu bestehenden rechtlichen Konfigurationen des Zuzugsstaats: „Sevic“257 Die Security Vision Concept SA, eine Aktiengesellschaft nach luxemburgischen Recht mit Sitz in Luxemburg, sollte mit der SEVIC Systems AG, einer Aktiengesellschaft deutschen Rechts mit Sitz in Neuwied, verschmelzen. Hierzu sollte die Security Vision Concept SA ohne Abwicklung aufgelöst und ihr Vermögen als Ganzes auf die SEVIC Systems AG ohne Änderung deren Firma übertragen werden. Die Eintragung dieser Verschmelzung (§ 2 Nr. 1 UmwG) in das deutsche Handelsregister wurde vom zuständigen Amtsgericht mit der Begründung zurückgewiesen, dass der damalige § 1 Abs. 1 Nr. 1 UmwG nur die Verschmelzung von Rechtsträgern mit Sitz in Deutschland vorsieht. Nach dem EuGH steht die Niederlassungsfreiheit einer Regelung entgegen, die es zwei Gesellschaften nicht ermöglicht miteinander zu verschmelzen, wenn eine der Gesellschaften ihren Sitz im EU-Ausland hat und ansonsten alle Voraussetzungen für eine Verschmelzung erfüllt sind, die an inländische Gesellschaften gestellt werden.258 Grenzüberschreitende Verschmelzungen – „wie andere Gesellschaftsumwandlungen“ – sind „wichtige Modalitäten der Ausübung der Niederlassungsfreiheit“, da sie den „Zusammenarbeits- und Umgestaltungsbedürfnissen von Gesellschaften mit Sitz in verschiedenen Mitgliedstaaten“ entsprechen, und sind damit vom Schutzbereich der Art. 49 und 54
255
EuGH, Rs. C-212/97, Centros, Slg. 1999, I-1459 Rn. 27. Vgl. Schön, ECFR 2006, 122, 135. 257 EuGH, Rs. C-411/03, Sevic, Slg. 2005, I-10805. 258 EuGH, Rs. C-411/03, Sevic, Slg. 2005, I-10805 Rn. 31. 256
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AEUV erfasst.259 Da das deutsche Recht das Instrument der Umwandlung nur dann zur Verfügung stellt, wenn die beteiligten Rechtsträger ihren Sitz in Deutschland haben, „begründet dieses Recht eine unterschiedliche Behandlung von Gesellschaften nach Maßgabe dessen, ob es sich um eine innerstaatliche oder um eine grenzüberschreitende Verschmelzung handelt“.260 Hierbei handelt es sich um eine Diskriminierung.261 Dem hielt die niederländische Regierung, die sich an dem Vorabentscheidungsverfahren beteiligte, entgegen, dass „sich der Untergang einer Gesellschaft unmittelbar auf ihre Gründung und Existenz auswirke, also auf Aspekte, die […] gegenwärtig über den Anwendungsbereich des Gemeinschaftsrechts hinausgingen und […] ausschließlich von den einzelstaatlichen Rechtsordnungen geregelt würden.“262 Dieser Argumentation widerspricht der Generalanwalt. Er erläutert in seinen Schlussanträgen, dass aus der Sicht der übernehmenden Gesellschaft die Verschmelzung vergleichbar mit der Aufnahme einer wirtschaftlichen Tätigkeit durch Gründung einer Zweigniederlassung in dem Staat sei, in dem die übertragende Gesellschaft ihren Sitz hatte. Durch die Übernahme entstünde nämlich eine „Stätte für die Ausübung einer Tätigkeit“.263 Ist nun die Neugründung einer Zweigniederlassung von Art. 49 Abs. 2 AEUV geschützt, dann muss auch die Übernahme einer bereits bestehenden Zweigniederlassung davon geschützt sein.264 Aus der Sicht der übertragenden Gesellschaft schützt die Niederlassungsfreiheit gleichermaßen die Verschmelzung, auch wenn diese im Endergebnis zu einem „corporate suicide“ führt, also dem Erlöschen der rechtlichen Konfiguration, deren Fortbestand die Trägerschaft der Niederlassungsfreiheit begründet. Will man nicht „Ursache und Wirkung“ miteinander verwechseln,265 so muss zunächst beachtet werden, dass die Existenz der übertragenden Gesellschaft erst mit dem Abschluss der Verschmelzung aufhört.266 Somit wird der Verschmelzungsvorgang selbst, um den es in der Rechtssache „Sevic“ ging, noch von der existierenden und damit zur Ausübung der Niederlassungsfreiheit befähigten übertragenden Gesellschaft vollzogen. Entscheidend ist, dass lediglich die rechtliche Konfiguration der Gründungsrechtsordnung des 259
EuGH, Rs. C-411/03, Sevic, Slg. 2005, I-10805 Rn. 19. EuGH, Rs. C-411/03, Sevic, Slg. 2005, I-10805 Rn. 22. 261 GA Tizzano, SchlA Rs. C-411/03, Sevic, Slg. 2005, I-10805 Nr. 56; a.A. EuGH, Rs. C-411/03, Sevic, Slg. 2005, I-10805 Rn. 22 f., der die Regelung für eine Beschränkung und sie daher auch durch zwingende Gründe des Allgemeininteresses rechtfertigbar hält, vgl. Teichmann, ZIP 2006, 355, 356. 262 Zitiert bei GA Tizzano, SchlA Rs. C-411/03, Sevic, Slg. 2005, I-10805 Nr. 23. 263 GA Tizzano, SchlA Rs. C-411/03, Sevic, Slg. 2005, I-10805 Nr. 35 ff. 264 Nohlen, Binnenmarktkonformer Minderheitenschutz, S. 153; Eyles, Niederlassungsrecht der Kapitalgesellschaften, S. 117. 265 So die Entgegnung von GA Tizzano, SchlA Rs. C-411/03, Sevic, Slg. 2005, I-10805 Nr. 27 auf die Argumentation der niederländischen Regierung. 266 Nohlen, Binnenmarktkonformer Minderheitenschutz, S. 157 f. 260
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übertragenden Marktakteurs aufgegeben und die wirtschaftliche Tätigkeit dieses Marktakteurs nach vollzogener Verschmelzung mit der rechtlichen Konfiguration des übernehmenden Marktakteurs fortgeführt wird.267 Der letzte Gedankengang führt zum entscheidenden Verständnis des „Sevic“-Urteils als demjenigen Urteil, dass die diskriminierungs- und beschränkungsfreie Begründung einer rechtlichen Konfiguration als von der Niederlassungsfreiheit gewährleistet ansieht.268 Betrachtet man nämlich die Verschmelzung nicht lediglich als einen Vermögenstransfer der übertragenden Gesellschaft auf die übernehmende Gesellschaft, sondern nimmt die Perspektive der Eigner der übertragenden Gesellschaft ein, so erkennt man, dass diese mit der Verschmelzung ihrer wirtschaftlichen Tätigkeit eine neue rechtliche Konfiguration geben wollen. Verwehrt jedoch die von den Eignern gewählte künftige Gründungsrechtsordnung die Begründung der rechtlichen Konfiguration aufgrund einer niederlassungsfreiheitenrelevanten Diskriminierung wie bei § 1 Abs. 1 UmwG in der Rechtssache „Sevic“, verlangt die Niederlassungsfreiheit die diskriminierungsfreie Anwendung des entsprechenden Gründungsrechts. Mithin ist die Gründungsrechtsordnung zwar frei darin, den Anknüpfungspunkt für ihre internationale Anwendbarkeit und die materiellen Voraussetzungen für die Begründung der rechtlichen Konfiguration eines Marktakteurs zu bestimmen. Sie muss dabei aber einen diskriminierungs- und beschränkungsfreien Zugang zu den von ihr bestimmten rechtlichen Konfigurationen gewährleisten. b) Beschränkungsfreier Zugang zu einer vom Zuzugsstaat zur Verfügung gestellten rechtlichen Konfiguration: „VALE“269 Den vorläufigen Schlusspunkt hinter seine Rechtsprechungslinie zur Freizügigkeit der rechtlich konfigurierten Marktakteure setzte der EuGH in seiner Entscheidung in der Rechtssache „VALE“. Die streitgegenständliche Gesellschaft war ursprünglich eine solche mit beschränkter Haftung italienischen Rechts (VALE Costruzioni Srl). Diese wollte ihren Sitz und ihre wirtschaftliche Tätigkeit nach Ungarn verlegen. Hierzu beantragte sie die Löschung im italienischen Handelsregister, der in der Folge mit dem Eintrag „Die Gesellschaft hat ihren Sitz nach Ungarn verlegt.“ im Register unter der Überschrift „Löschung und Sitzverlegung“ auch entsprochen wurde. Nach Erfüllung sämtlicher Voraussetzungen des materiellen ungarischen Gesellschaftsrechts beantragte die nunmehrige VALE Építési kft die Eintragung in das ungarische Handelsregister und gab die VALE Costruzioni Srl als ihre Rechtsvorgängerin an.
267 Teichmann, ZIP 2006, 355, 356; Nohlen, Binnenmarktkonformer Minderheitenschutz, S. 157. 268 Ebenso Schön, ECFR 2006, 122, 141 f. 269 EuGH, Rs. C-378/10, VALE, EU:C:2012:440.
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Dadurch sollte die Vermögensnachfolge sichergestellt werden. Der Gerichtshof Budapest als zuständiges Handelsregistergericht lehnte die Eintragung mit der Begründung ab, eine in Italien gegründete und eingetragene Gesellschaft könne aufgrund der in Ungarn geltenden Rechtsvorschriften für Gesellschaften ihren Gesellschaftssitz nicht nach Ungarn verlegen und sich nicht in der beantragten Form eintragen lassen. Entsprechend der Kategorisierung in Zuzugs- und Wegzugsfälle handelt es sich um eine Zuzugskonstellation, da die ursprünglich italienische Gesellschaft eine ungarische Gesellschaft mit ausschließlicher wirtschaftlicher Tätigkeit in Ungarn werden wollte. Sachverhaltlich konnten Zweifel vorgetragen werden, ob der Marktakteur überhaupt noch Gesellschaft im Sinne des Art. 54 AEUV war.270 Schließlich wurde dem Antrag auf Löschung der italienischen Gesellschaft vom italienischen Handelsregister stattgegeben. Der EuGH geht jedoch, gestützt von seinem Generalanwalt,271 von einem zulässigen Vorabentscheidungsverfahren aus. Dies ist jedenfalls dann zutreffend, wenn man die Niederlassungsfreiheit der Gründer der VALE Építési kft von der Verweigerung der Eintragung als betroffen erachtet.272 Das Interesse der Gründer ist nämlich auf die Kontinuität der Vermögensverhältnisse der VALE Costruzioni Srl und der VALE Építési kft ausgerichtet, die nur gewährleistet ist, wenn die VALE Építési kft die privatrechtliche Gesamtrechtsnachfolge der VALE Costruzioni Srl antritt. Derartige mitgliedstaatliche privatrechtliche Regelungen legt der EuGH im Vorabentscheidungsverfahren jedoch nicht aus, sondern nimmt sie als vom vorlegenden Gericht ausgelegt an, das in Kenntnis dieser Auslegung eine Interpretation der Niederlassungsfreiheit für relevant erachtet.273 Bejaht man die Zuzugskonstellation, stellt sich die im Lichte des Urteils „Sevic“ zu beantwortende Frage nach dem beschränkungsfreien Zugang zu den rechtlichen Konfigurationen der Zuzugsrechtsordnung als neuer Gründungsrechtsordnung, die von „Cartesio“ aufgeworfen wurde. In „Cartesio“ sollte die Wegzugsfreiheit unter Wechsel des anwendbaren Rechts nämlich nur insoweit eröffnet sein, als dass die Zuzugsrechtsordnung den Wechsel in die eigene Rechtsordnung annimmt. Dies wurde vorliegend von der ungarischen Rechtsordnung jedoch gerade verweigert. Im Unterschied zu „Sevic“ existierte jedoch keine rechtliche Konfiguration der ungarischen Zuzugsrechtsordnung, auf die der zuziehende Marktakteur hätte verschmolzen werden können. Mithin bedurfte es für den ursprünglich italienischen Marktakteur einer Erstbegründung der rechtlichen Konfiguration nach dem ungarischen Zuzugsrecht, um identitätswahrend fortbestehen zu können. An diesem Punkt schließt sich der Kreis 270
Vgl. Behme, NZG 2012, 936, 937 f.; Behrens, EuZW 2012, 625; Schön, ZGR 2013, 333, 337 ff. 271 GA Jääskinen, SchlA Rs. C-378/10, VALE, EU:C:2011:841, Nr. 26 f. 272 So auch Behme, NZG 2012, 936, 937. 273 Vgl. Teichmann, DB 2012, 2085, 2087; Braun, DZWiR 2012, 411, 412 f.
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der Rechtsprechungslinie zur Zuzugskonstellation mit der derjenigen zur Wegzugskonstellation. Die aus den Grundfreiheiten fließende Pflicht der Mitgliedstaaten, einem Marktakteur einen diskriminierungs- und beschränkungsfreien Zugang zum eigenen Markt zu gewährleisten, trifft auf die Freiheit der Gründungsrechtsordnungen, den Anknüpfungspunkt und die materiellen Bestimmungen für die Schaffung und den Fortbestand einer rechtlichen Konfiguration des eigenen Rechts festzulegen. Der EuGH beantwortete die Vorlagefrage dahingehend, dass die Niederlassungsfreiheit der ungarischen Zuzugsrechtsordnung entgegensteht, die „zwar für inländische Gesellschaften die Möglichkeit einer Umwandlung vorsieht, aber die Umwandlung einer dem Recht eines anderen Mitgliedstaats unterliegenden Gesellschaft in eine inländische Gesellschaft mittels Gründung der letztgenannten Gesellschaft generell nicht zulässt.“274 Er unterscheidet zwischen der Freiheit des Mitgliedstaates, seine rechtliche Konfiguration festzulegen, und dem Zugang zu diesen rechtlichen Konfigurationen.275 Während auf der Grundlage von „Sevic“ deutlich wurde, dass der Zugang zu bestehenden inländischen rechtlichen Konfigurationen diskriminierungsfrei zu gewährleisten ist, wird durch „VALE“ deutlich, dass dieser Zugang auch beschränkungsfrei sein muss. Dies liegt darin begründet, dass grenzüberschreitende Rechtsformwechsel zumeist in rechtliche Konfigurationen erfolgt, die mit der bisherigen Konfiguration vergleichbar sind (GmbH in SARL oder srl in kft), und ein solcher Rechtsformenwechsel innerhalb derselben Rechtsordnung keinen Sinn macht.276 Hinzu tritt, dass die Verweigerung des grenzüberschreitenden Formwechsels keine Benachteiligung von ausländischen Gesellschaften ist. Vielmehr geht es um „eine unterschiedliche Behandlung von Gesellschaften in Abhängigkeit davon, ob es sich um eine innerstaatliche oder um eine grenzüberschreitende Umwandlung handelt.“277 Diese Fallgruppe stellt in der Dogmatik der Grundfreiheiten eine Beschränkung und keine Diskriminierung dar.278 Die Verweigerung des grenzüberschreitenden Rechtsformwechsels versperrt den Zugang zum ungarischen Markt für den in der VALE Costruzioni Srl verkörperten Marktakteur.
274
EuGH, Rs. C-378/10, VALE, EU:C:2012:440, 1. Leitsatz. EuGH, Rs. C-378/10, VALE, EU:C:2012:440, Rn. 30. 276 Schön, ZGR 2013, 333, 345; Bayer/Schmidt, ZIP 2012, 1481, 1488 f.; Ege/Klett, DStR 2012, 2442, 2443; Kindler, EuZW 2012, 888, 890. 277 EuGH, Rs. C-378/10, VALE, EU:C:2012:440, Rn. 36. 278 Vgl. Teichmann, DB 2012, 2085, 2089. 275
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c) Begrenzung des Marktzugangs durch das Erfordernis einer tatsächlichen wirtschaftlichen Tätigkeit Eine nach dem Recht eines Mitgliedstaates gegründete und fortbestehende Gesellschaft bzw. die Gründer einer künftigen Gesellschaft können sich gegenüber dem Zuzugsstaat, entsprechend dessen Rechtsordnung sie eine rechtliche Konfiguration begründen möchten, auf die Niederlassungsfreiheit berufen. Nach den Entscheidungen in den Rechtssachen „Sevic“ und „VALE“ erscheint der Zugang zu inländischen rechtlichen Konfigurationen vorbehaltlich einer einzelfallbezogenen Rechtfertigung aus zwingenden Erfordernissen des Allgemeinwohls unbeschränkbar. Allerdings verlangt die Niederlassungsfreiheit eine „Niederlassung“, worunter die (angestrebte oder tatsächliche) Aufnahme und Ausübung von Erwerbstätigkeiten mittels einer festen Einrichtung in einem anderen Mitgliedstaat auf unbestimmte Zeit zu verstehen ist.279 Hieraus lässt sich schließen, dass eine Zuzugsrechtsordnung die Gründung einer sog. Briefkastengesellschaft, die keinerlei wirtschaftliche Aktivität in diesem Land ausübt, verhindern darf.280 Dies bedeutet jedoch im Umkehrschluss, dass eine Gründungsrechtsordnung auch frei darin ist, dem Nichtvorhandensein einer wirtschaftlichen Tätigkeit keine Bedeutung beizumessen und mithin die Gründung von Briefkastengesellschaften zuzulassen. Nach dem Dargelegten muss eine derartige rechtliche Konfiguration von den anderen mitgliedstaatlichen Rechtsordnungen grundsätzlich geachtet werden. Auf der Grundlage derselben Überlegung muss es dem Herkunftsstaat nunmehr im Ergebnis weiterhin möglich bleiben, einen Wegzug seines eigenen rechtlich konfigurierten Marktakteurs zu beschränken, der eine rechtliche Konfiguration in einem anderen Mitgliedstaat begründen möchte, dessen Rechtsordnung der tatsächlichen Ausübung einer wirtschaftlichen Erwerbstätigkeit keine Bedeutung beimisst. Dies hat der EuGH in der Rechtssache „Cadbury Schweppes“281 klar gestellt. Hiernach ist zwar die Gründung von Tochtergesellschaften in einem anderen Mitgliedstaat, ohne dass diese einer tatsächlichen wirtschaftlichen Erwerbstätigkeit nachgehen, von dem Herkunftsstaat der Muttergesellschaft grundsätzlich zu achten.282 Jedoch darf der Herkunftsstaat die fehlende wirtschaftliche Tätigkeit auf der Ebene der einzelfallbezogenen Rechtfertigung aus zwingenden Erfordernissen des Gemeinwohls gleichwohl
279
Müller-Graff, in: Streinz, Art. 49 AEUV Rn. 12; EuGH, Rs. C-221/89, Factortame II, Slg. 1991, I-3905 Rn. 20. 280 Teichmann. ZGR 2011, 639, 670 f. 281 EuGH, Rs. C-196/04, Cadbury Schweppes, Slg. 2006, I-7995. 282 EuGH, Rs. C-196/04, Cadbury Schweppes, Slg. 2006, I-7995 Rn. 46.
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berücksichtigen.283 Die Niederlassungsfreiheit setzt „eine tatsächliche Ansiedlung der betreffenden Gesellschaft im Aufnahmemitgliedstaat und die Ausübung einer wirklichen wirtschaftlichen Tätigkeit in diesem voraus. Folglich lässt sich eine Beschränkung der Niederlassungsfreiheit nur mit Gründen der Bekämpfung missbräuchlicher Praktiken rechtfertigen, wenn das spezifische Ziel der Beschränkung darin liegt, Verhaltensweisen zu verhindern, die darin bestehen, rein künstliche, jeder wirtschaftlichen Realität bare Gestaltungen zu dem Zweck zu errichten, der Steuer zu entgehen, die normalerweise für durch Tätigkeiten im Inland erzielte Gewinne geschuldet wird.“284 Relevant wird demnach die Frage nach der tatsächlichen Ausübung einer wirtschaftlichen Tätigkeit nicht auf der Ebene des Eingriffs in die Niederlassungsfreiheit, sondern erst bei seiner Rechtfertigung. 5. Zusammenfassung: Die Freizügigkeit des rechtlich konfigurierten Marktakteurs Die Gründer eines rechtlich konfigurierten Marktakteurs können innerhalb des Binnenmarktes diejenige rechtliche Konfiguration wählen, die ihren Interessen entspricht. Die Niederlassungsfreiheit schützt die Gründungsfreiheit.285 Die Mitgliedstaaten müssen den Gründern einen diskriminierungs- und beschränkungsfreien Zugang zu ihren rechtlichen Konfigurationen gewährleisten. Dies umfasst neben der primären Niederlassung auch die sekundäre Niederlassung durch Gründung von Tochtergesellschaften oder Zweigniederlassungen.286 Die von den Gründern gewählte Rechtsordnung kann jedoch die Begründung der rechtlichen Konfiguration von dem Vorhandensein einer tatsächlichen wirtschaftlichen Tätigkeit in ihrem Hoheitsgebiet abhängig machen, ohne dass sie hierzu aus unionsrechtlichen Gründen verpflichtet wäre.287 Der rechtlich konfigurierte Marktakteur selbst unterliegt den materiellen Vorgaben der Rechtsordnung, die ihm seine rechtliche Konfiguration verliehen hat. Diese Rechtsordnung kann den Export der rechtlichen Konfiguration aus ihrem Hoheitsgebiet untersagen.288 Wegzugsbehinderungen, die wie steuerliche Regelungen den Fortbestand der rechtlichen Konfiguration unberührt las-
283
Vgl. Teichmann, ZGR 2011, 639, 671 f., der sich damit insbesondere G.H. Roth, Niederlassungsfreiheit, S. 22, entgegenstellt, der der Unterscheidung von Tatbestand, die die Anwendbarkeit der Niederlassungsfreiheit voraussetzt, und Rechtfertigung keine große Bedeutung beimisst. 284 EuGH, Rs. C-196/04, Cadbury Schweppes, Slg. 2006, I-7995 Rn. 54 f. 285 EuGH, Rs. C-212/97, Centros, Slg. 1999, I-1459 Rn. 27. 286 EuGH, Rs. C-411/03, Sevic, Slg. 2005, I-10805 Rn. 19. 287 EuGH, Rs. C-196/04, Cadbury Schweppes, Slg. 2006, I-7995 Rn. 54 f. 288 EuGH, Rs. 81/87, Daily Mail, Slg. 1988, 5483 Rn. 24; Rs. C-210/06, Cartesio, Slg. 2008, I-9641 Rn. 110.
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sen, müssen sich gegenüber der Niederlassungsfreiheit des Marktakteurs rechtfertigen.289 Möchte der Marktakteur jedoch eine neue rechtliche Konfiguration nach den Vorgaben einer anderen Rechtsordnung annehmen, so darf die Rechtsordnung der bisherigen rechtlichen Konfiguration dies nicht verhindern.290 Erlaubt die Gründungsrechtsordnung eines rechtlich konfigurierten Marktakteurs den Wegzug unter Beibehaltung der rechtlichen Konfiguration, darf der Zuzugsstaat diese rechtliche Wertung der Gründungsrechtsordnung nicht infrage stellen. Somit darf die Zuzugsrechtsordnung eine rechtliche Konfiguration der Herkunftsrechtsordnung nicht in eine vergleichbare eigene rechtliche Konfiguration umdeuten, wenn damit der Verlust der durch die Wegzugsrechtsordnung zugestandenen Fortexistenz des rechtlich konfigurierten Marktakteurs verbunden ist.291 Der Zuzugsstaat hat vielmehr die Existenz des rechtlich konfigurierten Marktakteurs trotz eines mit einem Grenzübertritt verbundenen Statutenwechsels zu achten. Im Fall einer sekundären Niederlassung des rechtlich konfigurierten Marktakteurs muss die Zuzugsrechtsordnung diesem einen diskriminierungs- und beschränkungsfreien Zugang zu den sekundären Niederlassungsformen gewährleisten.292 Davon unberührt ist das Recht des Zuzugsstaats, die wirtschaftliche Tätigkeit des rechtlich konfigurierten Marktakteurs in seinem Hoheitsbereich in diskriminierungs- und beschränkungsfreier Weise zu regulieren.293 Verweigert die Gründungsrechtsordnung eines rechtlich konfigurierten Marktakteurs den Wegzug unter Beibehaltung der rechtlichen Konfiguration, kann der Marktakteur von der Zuzugsrechtsordnung verlangen, ihm Zugang zu den rechtlichen Konfigurationen dieser Rechtsordnung zu gewähren. Dies kann durch Verschmelzung294 oder durch eine Neugründung in Form eines Rechtsformwechsels in eine Rechtsform des Zuzugsstaates295 erfolgen. III. Einwirkungen der Freizügigkeit des rechtlich konfigurierten Marktakteurs in das Internationale Gesellschaftsrecht Die Bedeutung der skizzierten Freizügigkeit der rechtlich konfigurierten Marktakteure für das Internationale Gesellschaftsrecht wird unterschiedlich
289
EuGH, Rs. C-371/10, National Grid Indus, Slg. 2011, I-12273 Rn. 31. EuGH, Rs. C-210/06, Cartesio, Slg. 2008, I-9641 Rn. 111 f. 291 EuGH, Rs. C-208/00, Überseering, Slg. 2002, I-9919 Rn. 71, 81. 292 EuGH, Rs. C-212/97, Centros, Slg. 1999, I-1459 Rn. 21. 293 EuGH, Rs. C-212/97, Centros, Slg. 1999, I-1459 Rn. 26 f. 294 EuGH, Rs. C-411/03, Sevic, Slg. 2005, I-10805 Rn. 19. 295 EuGH, Rs. C-378/10, VALE, EU:C:2012:440, Rn. 30. 290
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4. Kapitel: Einwirkungen des Primärrechts in das autonome IPR
beurteilt. Der Bogen reicht dabei von der Annahme einer versteckten Kollisionsnorm, die in Art. 54 AEUV296 oder in einer Kombination mit der Niederlassungsfreiheit (Art. 49, 54 AEUV)297 mit Vorrang gegenüber dem mitgliedstaatlichen Kollisionsrecht298 erkannt wird, bis hin zur vollständigen Ablehnung einer gesellschaftskollisionsrechtlichen Bedeutung des Freizügigkeitsrechts rechtlich konfigurierter Marktakteure.299 Im Folgenden soll zunächst die kollisionsrechtliche Bedeutung von Art. 54 Abs. 1 AEUV behandelt werden (1.), bevor die Einwirkungen der unmittelbar anwendbaren Niederlassungsfreiheit in Art. 49 AEUV in das Internationale Gesellschaftsrecht untersucht werden sollen (2.). 1. Kollisionsrechtliche Bedeutung von Art. 54 Abs. 1 AEUV Eine versteckte Kollisionsnorm ist dann anzunehmen, „wenn Tatbestand und Rechtsfolge einer […] Sachnorm eine bestimmte kollisionsrechtliche Behandlung voraussetzen“.300 Der Tatbestand des Art. 54 Abs. 1 AEUV besteht aus zwei Tatbestandselementen, nämlich eine „nach den Rechtsvorschriften eines Mitgliedstaats gegründete Gesellschaft“ und eine alternative Verknüpfung mit dem Unionsgebiet (satzungsmäßiger Sitz, Hauptverwaltung oder Hauptniederlassung). Die Rechtsfolge besteht in der Gleichstellung der tatbestandlichen Gesellschaften mit natürlichen Personen, die Angehörige der Mitgliedstaaten sind, für die Anwendung der Niederlassungsfreiheit und (gemäß Art. 62 AEUV) der Dienstleistungsfreiheit. Im Gegensatz zu natürlichen Personen hängt die Existenz eines rechtlich konfigurierten Marktakteurs von einer Rechtsordnung ab. Hierfür verweist Art. 54 Abs. 1 AEUV auf die „Rechtsvorschriften eines Mitgliedstaats“.
296 Dafür Brödermann, in: Brödermann/Iversen, Europäisches Gemeinschaftsrecht und IPR, Rn. 143, 152; Behrens, IPRax 1999, 323, 329; Forsthoff, EuR 2000, 167, 171 ff.; MünchKommBGB (2010)/Sonnenberger, Einl. IPR Rn. 140 f. 297 Dafür Eidenmüller, ZIP 2002, 2233, 2241; Weller, IPRax 2009, 202, 204 f.; ders., ZGR 2010, 679, 696 f.; Leible/Hoffmann, RIW 2002, 925, 930 ff. 298 Leible/Hoffmann, RIW 2002, 925, 930 ff.; Leible, ZGR 2004, 531, 534; Thomale, NZG 2011, 1290, 1293. 299 So insbesondere MünchKommBGB/Kindler, IntGesR Rn. 143 ff. m.w.N. 300 MünchKommBGB (2010)/Sonnenberger, Einl. IPR Rn. 466.
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a) Versteckte Kollisionsnorm in Art. 54 Abs. 1 AEUV bezüglich der Gründung einer Gesellschaft Der Regelungsgegenstand der „Rechtsvorschriften eines Mitgliedstaats“ ist ausweislich des Wortlauts von Art. 54 Abs. 1 AEUV die Gründung der Gesellschaft.301 Mangels unionaler Rechtsvorschriften, die bestimmen, wann eine Gesellschaft im Sinne des Art. 54 Abs. 1 AEUV „gegründet“ ist, muss anhand nationaler Rechtsvorschriften festgestellt werden, ob eine Gesellschaftsgründung im Sinne des Unionsrechts vorliegt. Die Gesellschaftsgründung ist ein rechtlicher Vorgang, der ein eindeutig bestimmtes räumlich anwendbares Recht für seine Klärung bedarf. Ließe man die Frage nach dem für die Zwecke des Art. 54 Abs. 1 AEUV auf die Gründung anwendbaren Rechts offen, könnten unterschiedliche Rechtsordnungen aufgrund abweichender Anknüpfungspunkte in ihrem Gesellschaftskollisionsrecht zur Anwendbarkeit divergierender Sachnormen führen. Divergierende Sachnormen können zur Folge haben, dass eine bereits gegründete Gesellschaft im Hoheitsgebiet eines anderen Mitgliedstaates als dem, in dem die Gründung erfolgte, nochmals gegründet (durch Duplizierung der Rechtspersönlichkeit)302 oder negiert wird. Mithin ist eine gesicherte Aussage darüber, ob eine gegründete Gesellschaft im Sinne des Art. 54 Abs. 1 AEUV vorliegt, nur dann möglich, wenn Art. 54 Abs. 1 AEUV die auf diese Feststellung anwendbare mitgliedstaatliche Rechtsordnung festlegt. Mithin setzt der Tatbestand von Art. 54 Abs. 1 AEUV eine bestimmte kollisionsrechtliche Behandlung voraus, soweit die Feststellung einer nach den Rechtsvorschriften eines Mitgliedstaats gegründeten Gesellschaft zur Gleichstellung mit natürlichen Personen notwendig ist, um den persönlichen Anwendungsbereich der Niederlassungsfreiheit oder (gemäß Art. 62 AEUV) der Dienstleistungsfreiheit zu eröffnen.303 Vor dem Hintergrund dieses Verständnisses der in Art. 54 Abs. 1 AEUV enthaltenen versteckten Kollisionsnorm wird deutlich, dass diese versteckte Kollisionsnorm dem nationalen Gesellschaftskollisionsrecht keine Vorgaben macht.304 Ihre Funktion ist die Berufung der anwendbaren Rechtsordnung für die Bestimmung des persönlichen Anwendungsbereichs der Niederlassungsfreiheit in Art. 49 AEUV. Darin erschöpft sich auch ihre Funktion. Art. 54 Abs. 1 AEUV enthält daher keinerlei Ergebnisvorgaben für das mitgliedstaatliche IPR. 301 Eine detaillierte Wortlautanalyse findet sich bei Brödermann, in: Brödermann/Iversen, Europäisches Gemeinschaftsrecht und IPR, Rn. 108 bis 120. 302 Vgl. Jestädt, Niederlassungsfreiheit und Gesellschaftskollisionsrecht, S. 94 f., der damit etwa die von BGHZ 151, 204 vorgenommene Umqualifizierung EU-ausländischer Kapitalgesellschaften in inländische Personenhandelsgesellschaften meinte. 303 Deutlich bei Forsthoff, in: Grabitz/Hilf/Nettesheim, Art. 54 AEUV Rn. 19 f.; ders., EuR 2000, 167, 175 f.; Roth, RabelsZ 55 (1991), 623, 631. 304 Forsthoff, EuR 2000, 167, 176; Körber, Grundfreiheiten und Privatrecht, S. 542 f.
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4. Kapitel: Einwirkungen des Primärrechts in das autonome IPR
b) Erstreckung der versteckten Kollisionsnorm in Art. 54 Abs. 1 AEUV auf den Fortbestand der Gesellschaft Nachdem nunmehr deutlich geworden ist, dass für die Zwecke der Bestimmung des persönlichen Anwendungsbereichs der Niederlassungsfreiheit Art. 54 Abs. 1 AEUV eine kollisionsrechtliche Aussage über die auf die Gesellschaftsgründung anwendbare Rechtsordnung enthält, stellt sich die Folgefrage, ob diese Verweisung nicht nur die Gründung, sondern auch den Fortbestand einer Gesellschaft mitumfasst. In dem Urteil in der Rechtssache „Cartesio“ macht der EuGH deutlich, dass für ihn Art. 54 Abs. 1 AEUV nicht nur die Frage nach einer „nach den Rechtsvorschriften eines Mitgliedstaats gegründeten Gesellschaft“ behandelt, sondern auch diejenige nach dem „Erhalt dieser Eigenschaft“.305 Die Entscheidung wurde dafür kritisiert, dass sie über den Wortlaut des Art. 54 Abs. 1 AEUV hinausgeht, obwohl die Voraussetzungen für eine Analogie nicht vorgelegen hätten.306 Die für die Annahme einer Analogie notwendige Regelungslücke liegt jedoch vor. Sie entsteht nämlich, solange die mitgliedstaatlichen Rechtsordnungen frei darin bleiben, den Export der eigenen rechtlichen Konfigurationen zu verhindern. Dann können nämlich Situationen eintreten, in denen eine Gesellschaft zwar gegründet, jedoch nicht mehr existent ist. Eine eindeutige Klärung, ob eine Gesellschaft vorliegt, die für die Zwecke der Niederlassungsfreiheit mit natürlichen Personen gleichgestellt werden kann, ist dann nicht mehr gegeben. Diese eindeutige Klärung ist jedoch die Funktion des Art. 54 Abs. 1 AEUV. Deshalb verlangt sein Tatbestand, wie dargelegt, eine eindeutige kollisionsrechtliche Bestimmung der „Rechtsvorschriften eines Mitgliedstaats“, die die Gründung einer Gesellschaft regeln. Die Notwendigkeit der eindeutigen kollisionsrechtlichen Bestimmung der auf die Gründung einer Gesellschaft anwendbaren Rechtsordnung lag in der Vermeidung der Duplizierung bzw. Negierung einer bereits gegründeten Gesellschaft aufgrund abweichenden Sachrechts, das wegen unterschiedlicher Anknüpfungsmomente in den mitgliedstaatlichen Kollisionsrechtsordnungen zur Anwendung gelangt. Diese Problematik stellt sich jedoch nicht nur bei der Gründung, sondern auch beim Fortbestand der Gesellschaft. Verweigert nämlich die Gründungsrechtsordnung den Export der eigenen rechtlichen Konfigurationen und verleiht die Zuzugsrechtsordnung dem Marktakteur mangels Erfüllung der für ihre Anwendbarkeit notwendigen Anknüpfungsvoraussetzungen keine rechtliche Konfiguration, würde erneut jene Negierung entstehen, die durch die eindeutige kollisionsrechtliche Bestimmung bei der Gründung der Gesellschaft in Art. 54 Abs. 1 AEUV verhindert werden sollte.307 Die Unionsrechtsordnung
305
EuGH, Rs. C-210/06, Cartesio, Slg. 2008, I-9641 Rn. 110. Vgl. die Kritik bei Forsthoff, in: Grabitz/Hilf/Nettesheim, Art. 54 AEUV Rn. 11. 307 Vgl. Teichmann, ZIP 2009, 393, 398. 306
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kennt mangels sekundärrechtlicher Regeln keine Sachnormen, die sie in diesem Fall zur Anwendung bringen könnte, weshalb, solange die mitgliedstaatlichen Rechtsordnungen frei darin sind, den Export der eigenen rechtlichen Konfigurationen zu verhindern, eine auf den Fortbestand der rechtlichen Konfiguration anwendbare mitgliedstaatliche Rechtsordnung eindeutig bestimmt werden muss. Diese Regelungslücke ermöglicht dem EuGH, die versteckte Kollisionsnorm in Art. 54 Abs. 1 AEUV auf die Rechtsfragen des Fortbestands der Gesellschaft zu erstrecken, um damit den persönlichen Anwendungsbereich der Niederlassungsfreiheit zu bestimmen. c) Sachnormverweisung Art. 54 Abs. 1 AEUV verweist auf „die nach den Rechtsvorschriften eines Mitgliedstaats gegründeten Gesellschaften“. Fraglich ist abschließend, ob der Verweis auf die „Rechtsvorschriften eines Mitgliedstaates“ das Kollisionsrecht dieses Mitgliedstaates mitumfasst (Gesamtverweisung)308 oder nur das Sachrecht (Sachnormverweisung)309. Für die Gesamtverweisung spricht, dass sie die kollisionsrechtlichen Wertungen des Gründungsstaates mitberücksichtigt. Bei diesem Verständnis muss nämlich zunächst geprüft werden, ob das Kollisionsrecht der Gründungsrechtsordnung die von Art. 54 Abs. 1 AEUV ausgesprochene Verweisung annimmt oder ob bereits das Kollisionsrecht des Gründungsstaates der Gesellschaft ihr Statut entzogen hat.310 Mit dem Verständnis als Gesamtverweisung soll mithin die Fallgruppe der zulässigen Wegzugssperren für Gesellschaften als solche der Gründungsrechtsordnungen, die von den Rechtssachen „Cartesio“ und „Daily Mail“ ausgesprochen wurde, von Art. 54 Abs. 1 AEUV erfasst werden. Das ist jedoch nicht zwingend, da, wie dargelegt,311 nicht der Statutenwechsel selbst den Wegzug einer Gesellschaft als eine solche der Gründungsrechtsordnung verhindert, sondern das Sachrecht der Gründungsrechtsordnung. Zudem wäre bei einer Verweisung auf das Kollisionsrecht auch die Weiter- und Rückverweisung beachtlich. Eine Rückverweisung könnte nach Art. 54 Abs. 1 AEUV gar nicht angenommen werden.312 Eine
308
Dafür Behrens, IPRax 1999, 323, 329 f.; Teichmann, Binnenmarktkonformes Gesellschaftsrecht, S. 422; Leible/Hoffmann, RIW 2002, 925, 930 f. (modifizierte Gesamtverweisung). 309 Dafür Brödermann, in: Brödermann/Iversen, Europäisches Gemeinschaftsrecht und IPR, Rn. 146 ff.; Forsthoff, in: Grabitz/Hilf/Nettesheim, Art. 54 Rn. 12 f.; ders., EuR 2000, 167, 171 ff.; von Halen, Gesellschaftsstatut nach Centros, S. 124 f.; Jung, in: Schwarze, Art. 54 AEUV Rn. 11. 310 Leible/Hoffmann, RIW 2002, 925, 931. 311 Siehe S. 345 f., 349 f. 312 Vgl. von Halen, Gesellschaftsstatut nach Centros, S. 123.
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4. Kapitel: Einwirkungen des Primärrechts in das autonome IPR
Weiterverweisung würde dazu führen, dass auch Drittstaatsgesellschaften in den Genuss der Niederlassungsfreiheit kämen.313 Im Ergebnis überzeugt die Annahme einer Sachnormverweisung. Neben den bereits dargelegten Gründen, die gegen eine Gesamtverweisung sprechen und dem Wortlaut von Art. 54 Abs. 1 AEUV, der auf „gegründete Gesellschaften“314 verweist und demnach die Gründung einer Gesellschaft dem Sachrecht der Gründungsrechtsordnung zu unterstellen scheint, 315 spricht für eine Sachnormverweisung das Verständnis von Art. 49, 54 AEUV als grenzüberschreitende Gewährleistung von Rechtswahlfreiheit.316 Bei der unmittelbaren Rechtswahl machen Art. 4 Abs. 2 EGBGB und Art. 3, 20 der Rom I-Verordnung deutlich, dass die Rechtswahl eine Sachnormverweisung ist. Der Grund dafür liegt im Ausschluss der Rück- und Weiterverweisung durch die Rechtswahl. Die Parteien wollen nämlich mit der Rechtswahl gerade ein bestimmtes Sachrecht zur Anwendung bringen. Der Einschluss von Kollisionsnormen in die Rechtswahl könnte in bestimmten Konstellationen die mit der Rechtswahl bezweckte Rechtssicherheit im Hinblick auf das anwendbare Sachrecht konterkarieren.317 Dieselben Grundsätze gelten auch bei der durch Art. 49, 54 AEUV gewährleisteten mittelbaren Rechtswahlfreiheit durch Wahl des Registerortes oder des Ortes der Hauptverwaltung bei der Gründung der Gesellschaft durch die Gründer.318 Die Gründer wählen somit auch bei der mittelbaren Rechtswahlfreiheit bewusst ein bestimmtes Sachrecht. Diese Entscheidung, die Art. 49, 54 AEUV schützen möchte, verlangt ein Verständnis von Art. 54 Abs. 1 AEUV als Sachnormverweisung. Somit besteht die kollisionsrechtliche Bedeutung von Art. 54 Abs. 1 AEUV darin, das anwendbare Sachrecht für die Feststellung der Gründung und des Fortbestands einer Gesellschaft festzulegen, um den persönlichen Anwendungsbereich der Niederlassungsfreiheit zu eröffnen. Darin erschöpft sich auch die kollisionsrechtliche Bedeutung des Art. 54 Abs. 1 AEUV. Weitergehende Ergebnisvorgaben für die mitgliedstaatlichen Gesellschaftskollisionsrechtsordnungen lassen sich der versteckten Kollisionsnorm in Art. 54 Abs. 1 AEUV nicht entnehmen.
313 Vgl. Brödermann, in: Brödermann/Iversen, Europäisches Gemeinschaftsrecht und IPR, Rn. 144. Dieser Kritik schließt sich auch Jestädt, Niederlassungsfreiheit und Gesellschaftskollisionsrecht, S. 82 an. 314 Hervorhebung durch den Verfasser. 315 Brödermann, in: Brödermann/Iversen, Europäisches Gemeinschaftsrecht und IPR, Rn. 112 ff. 316 Siehe S. 353 f. 317 Vgl. Kropholler, IPR § 24 II 5, S. 175 f. 318 Angedacht bei Weller, ZGR 2010, 679, 693.
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2. Einwirkungen der Niederlassungsfreiheit in das Internationalen Gesellschaftsrecht Die Freizügigkeitsrechte rechtlich konfigurierter Marktakteure wirken auf das nationale Gesellschaftskollisionsrecht ein, soweit die Kollisionsnormen mit der unmittelbar anwendbaren Niederlassungsfreiheit in Art. 49 AEUV konfligieren. Eine Kollision von nationaler Kollisionsnorm und Niederlassungsfreiheit liegt nach unionsrechtlicher Terminologie vor, wenn das nationale Kollisionsrecht die Niederlassungsfreiheit beschränkt. Das nationale Kollisionsrecht begründet jedoch nur dann eine Beschränkung, wenn dieses die Niederlassungsfreiheit in spezifischer Weise beschränkt.319 Andernfalls ist es die aus der Kollisionsnorm und der von ihr berufenen Sachnorm gebildete Gesamtnorm, die beschränkende Wirkungen erzeugt. Aus diesem Blickwinkel wird schnell deutlich, dass nicht die Sitztheorie und der damit verbundene Statutenwechsel die Freizügigkeit des rechtlich konfigurierten Marktakteurs beschränkt, sondern die von der Sitztheorie zur Anwendung berufene Sachnorm der Rechtsordnung, in der sich nunmehr der Verwaltungssitz befindet, die die Rechtsfähigkeit der rechtlichen Konfiguration des Marktakteurs aberkennt.320 Bei genauer Betrachtung der Rechtslage, die der Rechtssache „Überseering“ zugrunde lag, wird dies deutlich. Der Überseering wurde nach § 50 Abs. 1 ZPO mangels Rechtsfähigkeit die Parteifähigkeit im nationalen Zivilprozess abgesprochen. Die Rechtsfähigkeit fehlte der Überseering BV, weil ihr die Eintragung in das deutsche Handelsregister fehlte, die nach § 11 Abs. 1 GmbHG konstitutiv für das Entstehen der deutschen GmbH ist. Dass die Überseering BV eine GmbH deutschen Rechts sein musste, lag in dem Statutenwechsel begründet, der aufgrund der Sitztheorie eintrat. Wäre nun aber die nach § 11 Abs. 1 GmbHG erforderliche Eintragung in das deutsche Handelsregister im Wege der Substitution durch die für die Überseering BV bestehende Eintragung im niederländischen Handelsregister ersetzt worden, hätte die Überseering BV auch unter Anwendung der Sitztheorie sowohl Rechts- als auch Parteifähigkeit nach deutschem Recht erhalten.321 Alternativ wäre auch denkbar, dass das aufgrund der Sitztheorie anwendbare deutsche Sachrecht eine andere Regelung für die Partei- und Rechtsfähigkeit getroffen hätte. Mithin war die eigentliche Beschränkung der Überseering die konstitutive Eintragung in das deutsche Handelsregister nach § 11 Abs. 1 GmbHG und nicht die zu dessen
319
Siehe S. 296 ff. Teichmann, Binnenmarktkonformes Gesellschaftsrechts, S. 428 f.; Leible/Hoffmann, RIW 2002, 925, 929; W.-H. Roth, ZIP 2000, 1597, 1599. 321 Vgl. etwa Bartels, ZHR 176 (2012), 412, 424. 320
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4. Kapitel: Einwirkungen des Primärrechts in das autonome IPR
Anwendbarkeit führende Sitztheorie. Somit entschied der EuGH streitgegenständlich auch nicht für oder gegen die Sitztheorie.322 Die Sitztheorie begründete keine spezifisch kollisionsrechtliche Beschränkung der Niederlassungsfreiheit. a) Keine versteckte Kollisionsnorm in Art. 49 AEUV Aus dieser Erkenntnis folgt zunächst, dass in der Niederlassungsfreiheit keine versteckte Kollisionsnorm in Form der Gründungstheorie erkannt werden kann, die sich kraft Anwendungsvorrangs an die Stelle der nationalen Kollisionsnormen in Form der Sitztheorie setzt. Eine solche versteckte Kollisionsnorm kann der Grundfreiheit nämlich nur entnommen werden, wenn sie „eine inhaltlich bestimmte kollisionsrechtliche Wirkung besitzt und sachrechtliche Erklärungen ausscheiden.“323 Dies wäre nur dann der Fall, wenn der durch die nationale Kollisionsnorm mitverursachte Verstoß gegen die Grundfreiheit nur mit kollisionsrechtlichen und nicht auch mit sachrechtlichen Mitteln abgestellt werden könnte. Hierzu müsste aber die Sitztheorie eine spezifisch kollisionsrechtliche Beschränkung der Niederlassungsfreiheit begründen, die, wie dargestellt, der Rechtsprechung des EuGH zur Freizügigkeit der rechtlich konfigurierten Marktakteure nicht entnommen werden kann.324 b) Niederlassungsfreiheit als Marktzugangsfreiheit für rechtlich konfigurierte Marktakteure Genauso wenig kann eine kollisionsrechtliche Bedeutung der Niederlassungsfreiheit darin erkannt werden, dass der EuGH in seiner Urteilsbegründung in der Rechtssache „Überseering“ der betroffenen Gesellschaft die Berechtigung, sich auf die Niederlassungsfreiheit zu berufen, „als Gesellschaft niederländischen Rechts“325 zusprach.326 Dieser Verweis ist nämlich in erster Linie vor dem Hintergrund des streitgegenständlichen Sachverhalts zu verstehen. Der vom deutschen Kollisionsrecht angeordnete Statutenwechsel und die fehlende Erfüllung der deutschen sachrechtlichen Gründungsvoraussetzungen für eine Gesellschaft deutschen Rechts haben die Überseering BV ihrer Trägerschaft der Niederlassungsfreiheit beraubt. Sie konnte nur „als Gesellschaft niederländischen Rechts“ gemäß Art. 54 Abs. 1 AEUV den natürlichen Personen für die Zwecke der Niederlassungsfreiheit gleichgestellt werden. „Als Gesellschaft deutschen Rechts“ existierte sie nicht. Um mithin die deutschen Kollisionsund Sachnormen an der Niederlassungsfreiheit messen zu können, musste die 322 Schanze/Jüttner, AG 2003, 661, 665 f.; Teichmann, Binnenmarktkonformes Gesellschaftsrecht, S. 423 f. 323 Eidenmüller, RabelsZ 70 (2006), 474, 479. 324 Ebenso Jestädt, Niederlassungsfreiheit, S. 83 ff.; Teichmann, ZGR 2011, 639, 677 ff. 325 EuGH, Rs. C-208/00, Überseering, Slg. 2002, I-9919 Rn. 80. 326 Vgl. Eidenmüller, ZIP 2002, 2233, 2241.
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Gesellschaft „als Gesellschaft niederländischen Rechts“ existent gewesen sein.327 Darüber konnte aus der Sicht der Niederlassungsfreiheit die deutsche Zuzugsrechtsordnung gar nicht entscheiden. Als Marktzugangsrechte prüfen die Grundfreiheiten gerade diejenigen Maßnahmen, die den Zugang zu einem anderen mitgliedstaatlichen Teilmarkt des Binnenmarktes versperren. Die marktversperrende Maßnahme in der Rechtssache „Überseering“ war die mit dem Statutenwechsel verbundene Negierung der Existenz der Gesellschaft. Diese Marktsperre verwehrte es der Gesellschaft vor dem Grenzübertritt und mithin vor dem Statutenwechsel, also „als Gesellschaft niederländischen Rechts“, den deutschen Markt zu betreten. Denklogischerweise verlangt die Niederlassungsfreiheit die Prüfung dieser Marktzugangssperre aus der Sicht der Gesellschaft „als Gesellschaft niederländischen Rechts“ vor dem Eintritt des marktversperrenden Ereignisses, nämlich den mit dem Grenzübertritt verbundenen Statutenwechsel. Eine kollisionsrechtliche Aussage hatte der EuGH damit nicht getroffen. c) Anwendungsvorrang mit der Rechtsfolge der Unanwendbarkeit entgegenstehenden nationalen Rechts bei verweigerter Rechtsfähigkeit Die Niederlassungsfreiheit beinhaltet als Grundfreiheit im Falle ihrer Verletzung die Rechtsfolge der Unanwendbarkeit entgegenstehenden mitgliedstaatlichen Rechts. Das Loyalitätsgebot aus Art. 4 Abs. 3 UAbs. 1 EUV verpflichtet die Mitgliedstaaten zugleich, einen unionsrechtskonformen Zustand herzustellen. Wie sie diesen unionsrechtskonformen Zustand erreichen, ist den Mitgliedstaaten überlassen. Ein Verstoß einer mitgliedstaatlichen Norm gegen die Niederlassungsfreiheit liegt vor, wenn die Norm nicht mehr unionsrechtskonform ausgelegt (ohne dass es eine unionsrechtliche Pflicht zur unionsrechtskonformen Auslegung gebe) oder nach den Regeln der nationalen Methodenlehre fortgebildet werden kann.328 Stellt der EuGH in diesen Fällen in einem Vorlageverfahren einen Verstoß gegen die Niederlassungsfreiheit fest, kann das vorlegende Gericht dem Urteil nur durch die Unanwendbarkeit der verstoßenden mitgliedstaatlichen Norm Folge leisten. Diese Unanwendbarkeit reißt eine Lücke in die mitgliedstaatliche Rechtsordnung, die das Gericht unionsrechtskonform füllen muss. An diesem Punkt werden die Besonderheiten rechtlich konfigurierter Marktakteure relevant. Im Gegensatz zu natürlichen Personen oder Waren, die bei der Unanwendbarkeit inländischer marktzugangsversperrender Vorschriften jedenfalls physisch den Markt betreten können, sind rechtlich konfigurierte Marktakteure von einer anwendbaren Rechtsordnung abhängig.329 Daher kann einem rechtlich konfigurierten Marktakteur, sofern durch die konfligierende 327
Teichmann, Binnenmarktkonformes Gesellschaftsrecht, S. 424 f. Siehe S. 43 ff. 329 Teichmann, ZGR 2011, 639, 679. 328
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mitgliedstaatliche Norm seine rechtliche Konfiguration betroffen ist, der Marktzugang nicht alleine durch die Unanwendbarkeit dieser Norm gewährleistet werden. Zugleich muss klargestellt sein, wie die durch die Unanwendbarkeit dieser Norm gerissene Lücke gefüllt wird oder, mit anderen Worten, welche Regelung an die Stelle der unanwendbaren Rechtsnorm tritt. Hier kommt die Besonderheit der rechtlich konfigurierten Marktakteure, ohne klar bestimmte, auf sie anwendbare Rechtsnormen nicht funktionieren zu können, ein weiteres Mal zum Tragen. Maßstab für das grundfreiheitenkonforme Ergebnis kann dann nämlich nur die Gründungsrechtsordnung des rechtlich konfigurierten Marktakteurs als einzige zur Verfügung stehende Rechtsordnung sein. Damit steht der Richter bei der Lückenfüllung letztlich vor der Wahl, entweder kollisionsrechtlich die Norm der Gründungsrechtsordnung der rechtlichen Konfiguration zur Anwendung zu bestimmen, oder sachrechtlich die vom eigentlich anwendbaren Kollisionsrecht berufene Sachnorm derart zu modifizieren, dass sie der Gründungsrechtsordnung entspricht. Vor diesem Hintergrund erklärt sich der zweite Tenor des EuGH-Urteils in der Rechtssache „Überseering“. Nachdem der EuGH feststellte, dass die Aberkennung der Rechts- und Parteifähigkeit der Überseering BV gegen die Niederlassungsfreiheit verstößt, erklärte er anschließend, dass der betroffene Mitgliedstaat dazu „verpflichtet [ist], die Rechtsfähigkeit und damit die Parteifähigkeit zu achten, die diese Gesellschaft nach dem Recht ihres Gründungstaats besitzt.“330 Der EuGH stellt hier eine Achtungspflicht der Rechts- und Parteifähigkeit auf und keine Anerkennungspflicht.331 Mithin geht es nicht um die Anerkennung der rechtlichen Konfiguration, sondern um die Achtung der Identität des Marktakteurs. Der EuGH verlangt somit als Mindestanforderung für die Grundfreiheitenkonformität des deutschen Rechts lediglich, dass die Rechts- und Parteifähigkeit des Marktakteurs, der vor dem Grenzübertritt die rechtliche Konfiguration der niederländischen BV hat, derjenigen Rechts- und Parteifähigkeit entspricht, die der rechtlichen Konfiguration nach deren Gründungsrechtsordnung verliehen wurde. Dass eine Befolgung der Achtungspflicht auch unter Fortgeltung der Sitztheorie möglich ist, zeigt etwa ein Blick in das portugiesische Recht, wo die Identität des Marktakteurs ohne Neugründung geachtet und seine rechtliche Konfiguration im Wege der Anpassung an die Vorgaben der portugiesischen Rechtsordnung adaptiert wird.332 Der BGH kam in seinem Schlussurteil zur Vorlagesache „Überseering“333 zu dem Ergebnis, dass er der Ergebnisvorgabe des EuGH nicht mehr auf der 330 EuGH, Rs. C-208/00, Überseering, Slg. 2002, I-9919 Rn. 95. Hervorhebung durch Verfasser. 331 Vgl. Leible/Hoffmann, RIW 2002, 925, 929; Großerichter, DStR 2003, 159, 166; Mansel, RabelsZ 70 (2006), 651, 672 ff. 332 Siehe den Verweis bei Leible/Hoffmann, RIW 2002, 925, 929 und Fn. 36. 333 BGHZ 154, 185.
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Sachrechtsebene, sondern nur noch auf der Kollisionsrechtsebene durch Anwendung der Gründungstheorie entsprechen kann. Aufgrund des vorher Gesagten ist aber deutlich geworden, dass es sich hierbei um eine mitgliedstaatlich-autonom festgelegte Folge der Unanwendbarkeit bestimmter sachrechtlicher Bestimmungen aufgrund des Anwendungsvorrangs der Niederlassungsfreiheit handelt und nicht um eine kollisionsrechtliche Vorgabe des Art. 49 AEUV. Tritt man einen Schritt weiter zurück und betrachtet die dargestellte Mechanik des Unionsrechts, drängt sich einem ein Bild auf, das einer kollisionsrechtlichen Wirkung im Sinne der Gründungstheorie nahekommt: Aufgrund von Art. 54 Abs. 1 AEUV kann sich jede nach dem Recht eines Mitgliedstaats gegründete (und fortbestehende) Gesellschaft auf die Niederlassungsfreiheit berufen, die einer Marktzugangssperre gegenübersteht, die die Rechtsfähigkeit dieser Gesellschaft aberkennt, weil aufgrund der Veränderung einer für die Zuzugsrechtsordnung relevanten Anknüpfungstatsache ein Statutenwechsel eingetreten ist und mindestens einer der Existenzvoraussetzungen für eine Gesellschaft der Zuzugsrechtsordnung durch die zuziehende Gesellschaft nicht erfüllt ist. Weil sich die zuziehende Gesellschaft nach Art. 54 Abs. 1 AEUV als eine Gesellschaft ihrer Gründungsrechtsordnung auf die Niederlassungsfreiheit berufen darf, bildet auch die Gründungsrechtsordnung den Maßstab dafür, ob die Zuzugsrechtsordnung die Freizügigkeit dieser Gesellschaft beschränkt. Die Herstellung eines unionsrechtskonformen Rechtszustandes eines danach festgestellten Verstoßes gegen die Niederlassungsfreiheit zwingt zwar nicht zu einer kollisionsrechtlichen oder einer sachrechtlichen Lösung, sie muss aber dem durch die Gründungsrechtsordnung ausgefüllten Maßstab entsprechen. Im Ergebnis kommt die Anwendung dieses grundfreiheitlichen Prüfungsmaßstabes auf den konkreten Fall einer Anwendung der Gründungsrechtsordnung gleich. Diese Mechanik des Unionsrechts lässt sich auch negativ beschreiben. Könnte sich nicht bereits jede nach den Rechtsvorschriften eines Mitgliedstaats gegründete Gesellschaft aufgrund der versteckten Kollisionsnorm in Art. 54 Abs. 1 AEUV auf die Niederlassungsfreiheit berufen, bestünde auch kein grundfreiheitlich vermittelter Zwang, bestimmte, durch den Anwendungsvorrang der Niederlassungsfreiheit geschaffene Regelungslücken im nationalen Recht entsprechend der Gründungsrechtsordnung einer Gesellschaft zu schließen. Diese Mechanik wurde als „europarechtliche Gründungstheorie“ bezeichnet.334 Diese Bezeichnung ist jedoch nicht sehr glücklich gewählt, da sie eine kollisionsrechtliche Aussage der Niederlassungsfreiheit impliziert, obwohl es sich bei der dargestellten Mechanik schlicht um eine Wirkungsweise des Anwendungsvorrangs handelt. Auf der Grundlage der Dogmatik der Niederlassungsfreiheit als Grundfreiheit wird schließlich deutlich, warum die „europarechtliche Gründungstheorie“ 334
Leible/Hoffmann, RIW 2002, 925, 930; auch bei Teichmann, ZGR 2011, 639, 679.
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4. Kapitel: Einwirkungen des Primärrechts in das autonome IPR
insbesondere bei Fragen der Rechts- und Parteifähigkeit greift und nicht bei Fragen, die nicht die rechtliche Konfiguration betreffen.335 Liegt nämlich eine nichtdiskriminierende Maßnahme vor, verstößt sie gegen die Grundfreiheit, wenn es sich um eine Marktzugangssperre handelt. Bei rechtlich konfigurierten Marktakteuren ist immer dann von einer Marktzugangssperre auszugehen, wenn sie den mitgliedstaatlichen Teilmarkt des Binnenmarktes nicht in der rechtlichen Konfiguration betreten können, die sie sich in ihrer Gründungsrechtsordnung gewählt haben. Der Verlust der Rechtsfähigkeit kommt einer Marktzugangssperre gleich („Negierung der den Gesellschaften […] zuerkannten Niederlassungsfreiheit“336). Eine mögliche Rechtfertigung aus zwingenden Erfordernissen des Allgemeininteresses scheitert an der Unverhältnismäßigkeit der Aberkennung der Rechtsfähigkeit.337 In Anlehnung an das „Cassis de Dijon“-Urteil aus der Warenverkehrsfreiheit wird die Offenlegung der ausländischen Herkunft und der damit verbundene Hinweis auf möglicherweise abweichende rechtliche Vorschriften ausreichen, um die Verwirklichung eines möglichen zwingenden Erfordernisses zu erreichen. Aus dem Gesagten lässt sich nunmehr schlussfolgern, dass ein rechtlich konfigurierter Marktakteur einen aus der Niederlassungsfreiheit fließenden Anspruch darauf hat, dass seine rechtliche Konfiguration von der Zuzugsrechtsordnung dergestalt zu achten ist, dass diejenigen Sachnormen, deren Rechtsfolgen Konsequenzen für die Existenz der rechtlichen Konfiguration haben, denjenigen der Gründungsrechtsordnung entsprechen müssen.338 Dies kann im nationalen Recht durch einen hierauf begrenzten Umstieg auf die kollisionsrechtliche Gründungstheorie erfolgen. Hierauf ist die Einwirkung der Niederlassungsfreiheit in das Kollisionsrecht beschränkt. Dieses Ergebnis kann alternativ auch durch eine entsprechende Anpassung des eigentlich anwendbaren Sachrechts erfolgen. d) Keine aus der Niederlassungsfreiheit folgende Erstreckung auf andere Rechtsfragen Die dargelegte Einwirkung der Niederlassungsfreiheit auf das Internationale Gesellschaftsrecht ist auf Regelungen beschränkt, die die rechtliche Konfiguration eines Marktakteurs betreffen. Andere Regelungen, die dem Gläubigerschutz, dem Schutz der Arbeitnehmer oder der Gesellschafter dienen und die keine Auswirkungen auf die rechtliche Konfiguration haben, werden zwar nach 335
Siehe zu dieser Unterscheidung bereits Brödermann, in: Brödermann/Iversen, Europäisches Gemeinschaftsrecht und IPR, Rn. 103; Altmeppen, NJW 2004, 97, 99 f.; Teichmann, Binnenmarktkonformes Gesellschaftsrecht, S. 423, 433 ff.; ders., ZGR 2011, 639, 679 ff. 336 EuGH, Rs. C-208/00, Überseering, Slg. 2002, I-9919 Rn. 93. 337 EuGH, Rs. C-208/00, Überseering, Slg. 2002, I-9919 Rn. 93. 338 In diesem Sinne Altmeppen, NJW 2004, 97, 99 f.
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dem deutschen Kollisionsrecht aufgrund der Theorie der Einheit des Gesellschaftsstatuts gesellschaftsrechtlich qualifiziert. Die Anknüpfung dieser Sachnormen unterliegt demnach wie die Regelungen betreffend die rechtliche Konfiguration der Sitztheorie. Es stellt sich jedoch die Frage nach der Erstreckung der „europarechtlichen Gründungstheorie“ auf andere Regelungsgegenstände, die nach der Theorie der Einheit des Gesellschaftsstatuts gesellschaftsrechtlich qualifiziert werden.339 Hierfür spricht, dass Sachnormen, die dem Gläubigerschutz, dem Schutz der Arbeitnehmer oder der Gesellschafter dienen und die nicht unmittelbar die rechtliche Konfiguration eines Marktakteurs betreffen, dennoch derart auf die gesellschaftsrechtlichen Regeln über die rechtliche Konfiguration abgestimmt und miteinander verwoben sind, dass ihre Trennung nicht sinnvoll erscheint. Während dies für die Einheit des Gesellschaftsstatuts spricht, findet diese Argumentation jedoch keine Stütze im Unionsrecht. Einer solchen Grundannahme steht bereits entgegen, dass der EuGH bislang lediglich über die Rechtsfähigkeit, also die Fähigkeit, selbstständig Träger von Rechten und Pflichten zu sein, rechtlich konfigurierter Marktakteure entschieden hat.340 Der Verweis auf eine anderslautende Passage im Urteil in der Rechtssache „Inspire Art“ greift nicht durch, da diese, wie oben dargelegt,341 sich auf die Haftung in Bezug auf die Gründungsvoraussetzungen und nicht auf die Haftungsregeln im Allgemeinen bezieht. Die Rechtsprechung des EuGH legt es sogar nahe, Beschränkungen der Rechtsfähigkeit von anderen gesellschaftsrechtlichen Fragen zu trennen.342 Es folgt daher nicht zwingend aus der Rechtsprechung des EuGH, sämtliche gesellschaftsrechtlichen Rechtsfragen entsprechend der „europarechtlichen Gründungstheorie“ an die Gründungsrechtsordnung zu verweisen. Entscheidend für die Ablehnung einer Erstreckung der kollisionsrechtlichen Wirkung des Anwendungsvorrangs der Niederlassungsfreiheit auf andere Rechtsfragen als solche betreffend die rechtliche Konfiguration eines Marktakteurs ist die fehlende kollisionsrechtliche Struktur der Niederlassungsfreiheit als Grundfreiheit. Eine Kollisionsnorm spricht für sämtliche ihrem Tatbestand unterliegende Sachverhalte ungeachtet der konkreten Umstände des Einzelfalls eine Verweisung auf eine anwendbare Rechtsordnung aus. Die Beschränkung der Grundfreiheit steht immer unter dem Vorbehalt ihrer einzelfallbezogenen Rechtfertigung. Damit lässt sich aus einer Grundfreiheit gerade nicht für sämtliche ihr unterfallende Sachverhalte dieselbe Rechtsfolge ableiten. Dieses Argument steht bereits der Annahme einer kollisionsrechtlich verstandenen „europarechtlichen Gründungstheorie“ auch bei Sachverhalten, die die rechtliche 339 Dafür Weller, ZGR 2010, 679, 697 f.; MünchKommBGB (2010)/Sonnenberger, Einl. IPR Rn. 140. 340 Teichmann, Binnenmarktkonformes Gesellschaftsrecht, S. 432. 341 Siehe oben S. 359. 342 Teichmann, Binnenmarktkonformes Gesellschaftsrecht, S. 433 ff.; Ego, Niederlassungsfreiheit, S. 135 ff.; G.H. Roth, ZIP 1999, 861, 862 f.; Forsthoff, DB 2000, 1109, 1113.
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4. Kapitel: Einwirkungen des Primärrechts in das autonome IPR
Konfiguration eines Marktakteurs betreffen, entgegen. In diesen Fällen führt allerdings die von den beschränkenden Normen verlangte Modifikation der rechtlichen Konfiguration dazu, dass der Marktakteur ohne eine Änderung seiner rechtlichen Konfiguration den Markt überhaupt nicht betreten kann, was einer Negierung seiner Niederlassungsfreiheit entspricht, die wegen ihrer Unverhältnismäßigkeit nicht gerechtfertigt werden kann. Diese Negierung erlaubt die Annahme, dass sich die Sachnorm der Zuzugsrechtsordnung in den Fällen, in denen die rechtliche Konfiguration des Marktakteurs betroffen ist, mangels Rechtfertigbarkeit nicht gegenüber der Sachnorm der Gründungsrechtsordnung, von der sich die rechtliche Konfiguration ableitet, durchsetzt. Somit besitzt der Anwendungsvorrang der Niederlassungsfreiheit eine Wirkung, die von den Gerichten der betroffenen Mitgliedstaaten kollisionsrechtlich umgesetzt werden kann. Eine Negierung der Niederlassungsfreiheit ist bei Regelungen, die dem Gläubigerschutz, dem Schutz der Arbeitnehmer oder der Gesellschafter dienen und die keine Auswirkungen auf die rechtliche Konfiguration haben, hingegen nicht anzunehmen. Solche Regelungen erlauben dem rechtlich konfigurierten Marktakteur den Marktzugang und regeln erst seine spätere Tätigkeit. Dies kann zwar die Ausübung der Niederlassungsfreiheit für diesen Marktakteur weniger attraktiv machen, weshalb eine Beschränkung der Niederlassungsfreiheit vorliegt, jedoch keine Negierung. Mithin ist es eine Frage des Einzelfalls, ob die konkrete Verhältnismäßigkeitsprüfung gelingt. Eine solche Berücksichtigung des Einzelfalls widerspricht jedoch der Funktion einer Kollisionsnorm. Mithin gebieten weder die Niederlassungsfreiheit noch der Anwendungsvorrang aus unionsrechtlichen Gründen sämtliche, nach dem deutschen Verständnis von der Einheit des Gesellschaftsstatuts erfassten Regelungsbereiche einer „europarechtlichen Gründungstheorie“ zu unterwerfen.343 Vielmehr lässt sich der Rechtsprechung des EuGH eine differenzierende Behandlung von Regelungen, die die rechtliche Konfiguration betreffen, und solchen, die die spätere Tätigkeit des Marktakteurs regeln, entnehmen.344 Eine Erstreckung der für die Fragen der Rechtsfähigkeit vom BGH so erkannten kollisionsrechtlich verstandenen „europarechtlichen Gründungstheorie“345 auf andere, nach deutschem Verständnis vom Gesellschaftsstatut erfasste Regelungsbereiche mag damit aus guten Gründen, die sich im mitgliedstaatlichen Recht finden lassen, wie denjenigen, die bereits für die Einheit des Gesellschaftsstatuts sprachen,346 möglich sein. Diese Erstreckung erfolgt aber 343 Ebenso Teichmann, ZGR 2011, 639, 680 ff.; ders. Binnenmarktkonformes Gesellschaftsrecht, S. 427 f.; MünchKommAktG/Altmeppen/Ego, Europäische Niederlassungsfreiheit, Rn. 225 ff.; Ego, Niederlassungsfreiheit, S. 135 ff. 344 Siehe oben S. 359 f. 345 BGHZ 154, 185. 346 Siehe oben S. 332 f.
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ausschließlich aus Gründen, die im nationalen Recht und nicht im Unionsrecht zu finden sind. IV. Das Grundprinzip hinter der Freizügigkeit der rechtlich konfigurierten Marktakteure: Grenzüberschreitende Rechtswahlfreiheit Tritt man nun einen weiteren347 Schritt zurück und sucht nach einem die Rechtsprechung des EuGH zusammenführenden Grundprinzip, wird man schnell erkennen, dass die Niederlassungsfreiheit die grenzüberschreitende Wahrnehmung von Rechtswahlfreiheit gewährleistet.348 Versteht man zudem die Gründungstheorie als eine Theorie der Rechtswahlfreiheit, die es den Gründern einer Gesellschaft ermöglicht, durch Wahl des Registerorts mittelbar diejenige rechtliche Konfiguration zu wählen, die ihren Interessen entspricht,349 so lässt sich die als „europarechtliche Gründungstheorie“ beschriebene Wirkung der Niederlassungsfreiheit auch als Gewährleistung von Rechtswahlfreiheit verstehen.350 Mit diesem Verständnis lassen sich die scheinbar widersprüchlichen Rechtsprechungslinien des EuGH zur Freizügigkeit rechtlich konfigurierter Marktakteure zusammenführen. Ausgangspunkt ist die Rechtswahlfreiheit der Gründer einer Gesellschaft. Ihnen müssen die Mitgliedstaaten aus der Niederlassungsfreiheit heraus einen diskriminierungs- und beschränkungsfreien Zugang zu den eigenen rechtlichen Konfigurationen gewährleisten. Die auf der Grundlage dieser Rechtswahlfreiheit von den Gründern ausgewählte rechtliche Konfiguration darf von anderen Rechtsordnungen als der Gründungsrechtsordnung nicht diskriminiert oder in seiner Freizügigkeit beschränkt werden. Der rechtlich konfigurierte Marktakteur verfügt über ein eigenes, der Niederlassungsfreiheit inhärentes Recht, innerhalb des Binnenmarktes eine wirtschaftliche Tätigkeit aufzunehmen und auszuüben. Damit verhilft die Niederlassungsfreiheit der Rechtswahl der Gründer binnenmarktweite Geltung. Der rechtlich konfigurierte Marktakteur verfügt mit seiner Gründung selbst über die Freiheit, eine neue rechtliche Konfiguration, die einer anderen mitgliedstaatlichen Rechtsordnung entstammt, zu wählen. Den hiermit verbundenen Wechsel der auf die rechtliche Konfiguration anwendbaren Rechtsordnung 347
Siehe oben S. 370 f. Teichmann, ZGR 2011, 639, 676; ders., ZIP 2009, 393, 400 f.; Schön, ECFR 2006, 122, 135; ders., ZGR 2013, 333, 350 f.; Bachmann, AcP 210 (2010), 424, 461 f.; Kieninger, ZGR 1999, 724, 731 f., 745; Leible, RabelsZ 76 (2012), 374, 394; Borg-Barthet, ICLQ 62 (2013), 503, 504; GA La Pergola, SchlA Rs. C-212/97, Centros, Slg. 1999, I-1459 Nr. 20: Bei dem Niederlassungsrecht geht es „um den Schutz der Gelegenheit einer wirtschaftlichen Initiative und zugleich der geschäftlichen Freiheit, sich der in den Rechtsordnungen der Mitgliedstaaten angebotenen Mittel zu bedienen.“ 349 Michalski/Leible, GmbHG, Systematische Darstellung 2, Rn. 7; Weller, ZGR 2010, 679, 692. 350 Teichmann, ZGR 2011, 639, 676. 348
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darf die Gründungsrechtsordnung nicht verhindern. Die vom Marktakteur ausgewählte Rechtsordnung muss ihrerseits einen diskriminierungs- und beschränkungsfreien Zugang zu den eigenen rechtlichen Konfigurationen gewährleisten. Gegenstand einer Rechtswahl ist die gesamte Rechtsordnung. Damit sind auch solche Normen mitgewählt, die Bedingungen an den Export der rechtlichen Konfiguration stellen. Daher ist es bei einem Verständnis, wonach die Niederlassungsfreiheit der grenzüberschreitenden Gewährleistung von Rechtswahlfreiheit dient, nur konsequent, dass die Niederlassungsfreiheit solchen „Wegzugshindernissen“ nicht entgegensteht. Die Niederlassungsfreiheit kann bei einem solchen Verständnis nicht weitergehen als eine Rechtswahlfreiheit ginge. Wollte man „unangenehmen“ Vorschriften einer gewählten Rechtsordnung entgehen, müsste man für ihre Regelungsgegenstände eine abweichende Rechtswahl treffen. Eine derartige Abtrennung einer Teilfrage (dépeçage) mit einer von der Hauptfrage abweichenden Teilrechtswahl kennt etwa Art. 3 Abs. 1 S. 3 der Rom I-VO und könnte auch entsprechend für eine mittelbare Teilrechtswahl angedacht werden.351 Doch schon unter Art. 3 Abs. 1 S. 3 der Rom I-VO ist die Teilrechtswahl nur wirksam, „soweit sich Teilfragen eines einheitlichen Vertrages sinnvollerweise unterschiedlichen Rechten unterstellen lassen und dadurch nicht unauflösliche Widersprüche entstehen.“352 Gerade dies lässt sich bei Vorschriften bezweifeln, die den Export von rechtlichen Konfigurationen verhindern. Sie sind Teil der rechtlichen Konfiguration, wie sie die Gründungsrechtsordnung anbietet, und können nicht, ohne Widersprüche zu erzeugen, von den anderen „angenehmen“ Vorschriften, die die rechtliche Konfiguration bilden, getrennt werden. Eine derart weit reichende Rechtswahlfreiheit, die lediglich die Vorschriften über die Gründung einer rechtlichen Konfiguration erfasst, jedoch diejenigen über den Fortbestand ausklammert, ist damit weder auf der Grundlage der Rechtswahlfreiheit selbst noch auf Grundlage der Niederlassungsfreiheit gewollt.353 Dies wird auch durch die Folgeüberlegung deutlich, dass andernfalls die Niederlassungsfreiheit, wenn die Gründungsrechtsordnung den Wegzug der eigenen Gesellschaften untersagt, eine Zuzugsrechtsordnung dazu verpflichten könnte, eine nach ihrem Gründungsrecht nicht mehr existente Gesellschaft als Gesellschaft der Gründungsrechtsordnung anzuerkennen und aufzunehmen.354 Bereits dieses Gedankenspiel zeigt die Widersprüchlichkeit auf, die entstehen würde, wenn man der Niederlassungsfreiheit die Aufspaltung der rechtlichen Konfiguration in
351
In Form der richterrechtlichen dépeçage etwa angedacht bei MünchKommGmbHG/Weller, Einl. Rn. 455 ff.; ders., Rechtsformwahlfreiheit, S. 306 ff. 352 Staudinger/Magnus, Art. 3 Rom I-VO Rn. 109. 353 Teichmann, ZIP 2009, 393, 400 f. 354 Teichmann, ZIP 2009, 393, 398.
C. Internationales Namensrecht
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Rechtsvorschriften über ihre Gründung und in Rechtsvorschriften über ihren Fortbestand entnehmen könnte. Mithin wird deutlich, dass das Grundprinzip, das den Artikeln 49, 54 AEUV unterliegt, die grenzüberschreitende Gewährleistung von Rechtswahlfreiheit im Sinne einer Rechtsformwahlfreiheit ist. Sie öffnet den binnenmarktweiten Zugang zu den rechtlichen Konfigurationen der Mitgliedstaaten. Sie verleiht ihnen binnenmarktweite Mobilität. Mangels eigener positivrechtlicher Vorgaben für die Ausgestaltung der rechtlichen Konfigurationen, belässt die Niederlassungsfreiheit dies vollständig den mitgliedstaatlichen Rechtsordnungen.
C. Internationales Namensrecht C. Internationales Namensrecht
Das zweite Teilrechtsgebiet des Kollisionsrechts, in dem das europäische Primärrecht relevant wurde, ist das Internationale Namensrecht. So wenig es überraschend war, dass das Internationale Gesellschaftsrecht das erste kollisionsrechtliche Teilrechtsgebiet war, das grundfreiheitenrelevant wurde, so wenig verwundert es, dass auch das Internationale Namensrecht in den Fokus der Grundfreiheiten geriet. Ähnlich dem Gesellschaftskollisionsrecht konkurrieren auch im Namenskollisionsrecht zwei Anknüpfungsmodelle zur Bestimmung des anwendbaren Rechts:355 Das Staatsangehörigkeitsprinzip356 und das Wohnsitz- oder Aufenthaltsprinzip.357 Vor dem Hintergrund der wachsenden grenzüberschreitenden Mobilität von Unionsbürgern kann es aufgrund dieser divergierenden Anknüpfungsmomente zu ungewollten Statutenwechseln kommen, wenn ein Unionsbürger seinen gewöhnlichen Aufenthalt in eine Rechtsordnung verlegt, dessen Kollisionsrecht einem anderen Anknüpfungsmoment folgt als die Herkunftsrechtsordnung. Bei mobilen grenzüberschreitenden Familien kann es zu auseinanderfallenden Anknüpfungstatsachen für die Bestimmung des Namens des Kindes und des Familiennamens der Eltern kommen, wenn etwa die Eltern in einem anderen Land geheiratet haben oder die Staatsangehörigkeit eines anderen Landes haben als desjenigen, in dem das Kind auf die Welt gekommen ist. Hinzu treten die Besonderheiten bei Doppel- und Mehrfachstaatsangehörigen, wenn zur Bestimmung des anwendbaren Namensrechts auf die Staatsangehörigkeit abgestellt wird.
355
Vgl. Staudinger/Hepting/Hausmann, Vorbem zu Art. 10 EGBGB Rn. 182 ff. In der EU folgen dem Staatsangehörigkeitsprinzip zur Bestimmung des anwendbaren Namensrechts die folgenden Staaten: Deutschland, Österreich, Griechenland, Belgien, Frankreich, Italien, Luxemburg, Niederlande, Portugal, Spanien, Bulgarien, Polen, Rumänien, Tschechische Republik, Ungarn, Slowenien, Estland. 357 In der EU folgen dem Wohnsitz- oder Aufenthaltsprinzip zur Bestimmung des anwendbaren Namensrechts die folgenden Staaten: Dänemark, Finnland, Lettland, Schweden sowie im Hinblick auf das Kindesnamensrecht Rumänien. 356
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4. Kapitel: Einwirkungen des Primärrechts in das autonome IPR
Der Name hat eine besondere Bedeutung für den Menschen.358 Er identifiziert den Menschen und der Mensch identifiziert sich mit ihm. Er begleitet den Menschen in der Regel sein ganzes Leben lang. Und wenn er ihn ändert, bringt er damit etwas für ihn und sein Leben besonderes zum Ausdruck. Ändert sich daher sein Name gegen oder ohne seinen Willen, empfindet der Namensträger dies als einen Eingriff in seine Persönlichkeit, gegen den er sich wehrt. So hat der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) deutlich gemacht, dass ein vom Staat aufgezwungener Namenswechsel die Menschenrechte der betroffenen Person verletzt.359 Damit wird deutlich, wieso die divergierenden Anknüpfungsmomente und Sachrechte in den nationalen Namensrechtsordnungen zu einer Herausforderung für die unionalen Freizügigkeitsrechte geworden sind. Die Divergenz der nationalen Rechtsordnungen berührt mit dem Namen etwas, das die Identität eines Unionsbürgers ausmacht. I. Das autonome Namenskollisionsrecht Die Aufgabe des autonomen Namenskollisionsrechts ist die Bestimmung des auf einen Namen (Vorname, Ehe- und Familienname) anwendbaren Rechts. Der Name ist die sprachliche Kennzeichnung einer Person. Er hat im Wesentlichen drei Funktionen: Er dient der Identifizierung, ist Symbol der Persönlichkeit und kennzeichnet die Familienzugehörigkeit.360 Neben diese drei Funktionen tritt auch noch die kulturelle Dimension des Namens. Jede Kultur spricht der Individualität einer Person und damit den Individualitätsmerkmalen eine eigene Bedeutung zu.361 Diese Bedeutung spiegelt sich rechtlich im Namensrecht wider. Genauso ist das Namensrecht Spiegel gesellschaftlicher Entwicklungen, die sich rund um die Stellung des Individuums in der Gesellschaft abspielen. Rechtlich finden die Funktionen des Namens ihren Ausdruck im Grundsatz der Namenseinheit362, der der sozialen Zuordnungsfunktion dienen soll, und dem Grundsatz der Namenskontinuität, der dem Persönlichkeitsrecht
358 Dazu und im Folgenden Repasi, in: Baldus/Müller-Graff, Europäisches Privatrecht in Vielfalt geeint, S. 35 ff. 359 EGMR, Urt. v. 1.7.2008, Daróczy, Nr. 44378/05 Rn. 32. Allerdings verletzt die Nichtermöglichung einer Namenswahlfreiheit nicht die EMRK, vgl. EGMR, Urt. v. 25.11.1994, Stjerna, Nr. 18131/91 Rn. 38 ff. 360 Vgl. Gernhuber/Coester-Waltjen, Familienrecht, § 54 Rn. 1; BVerfGE 78, 38, 49; BVerfGE 109, 256, 266; MünchKommBGB/von Sachsen Gessaphe, Vor § 1616 BGB Rn. 8; Staudinger/Coester, Vorbem zu §§ 1616–1625 BGB Rn. 7. 361 Ausführlich rechtsvergleichend Staudinger/Hepting, Vorbem zu Art. 10 EGBGB Rn. 4 ff. 362 Hierzu Rauscher, Familienrecht, § 14 Rn. 255 f.; MünchKommBGB/von Sachsen Gessaphe, Vor § 1616 BGB Rn. 9.
C. Internationales Namensrecht
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des Einzelnen an seinem Namen dienen soll.363 Berührt der Erwerb, die Änderung und der Verlust des Namens einen Auslandssachverhalt, ist das Namenskollisionsrechts dazu berufen, das hierauf anwendbare Namensrecht zu bestimmen. Das Namensstatut umfasst mithin den Erwerb, die Änderung und den Verlust des Namens. Dabei ist es im deutschen IPR nach Art. 10 Abs. 1 EGBGB unbedeutend, aus welchem privatrechtlichen Anlass364 heraus eine Namensänderung erfolgte. Es bleibt bei der namensrechtlichen Qualifikation mit der Folge der Anwendbarkeit von Art. 10 EGBGB für die Bestimmung des anwendbaren Rechts.365 Das deutsche Kollisionsrecht bestimmt in Art. 10 Abs. 1 EGBGB den Grundsatz, wonach der Name einer Person dem Recht des Staates unterliegt, dem sie angehört. Für den Ehenamen eröffnet das deutsche Kollisionsrecht eine Rechtswahlmöglichkeit, sobald einer der Ehegatten eine andere als die deutsche Staatsangehörigkeit besitzt (Art. 10 Abs. 2 EGBGB). Die Rechtswahl ist allerdings beschränkt. Sie erlaubt die Auswahl zwischen den Heimatrechten der Ehegatten sowie dem deutschen Recht, wenn einer von ihnen in Deutschland seinen gewöhnlichen Aufenthaltsort hat. Die Wahl des Rechts eines gewöhnlichen Aufenthaltsorts, der außerhalb Deutschlands liegt, und nicht einer Staatsangehörigkeit der Ehegatten entspricht, ist allerdings aufgrund der fehlenden Allseitigkeit in der Formulierung von Art. 10 Abs. 2 Nr. 2 EGBGB nicht möglich. Der Geburtsname unterliegt nach dem Regelungskonzept des deutschen Kollisionsrechts dann zwingend dem deutschen Sachrecht, wenn das Kind ausschließlich die deutsche Staatsangehörigkeit hat – ungeachtet des konkreten Geburtsortes.366 Im deutschen Recht, das dem „ius sanguinis“ folgt, bestimmt sich die Staatsangehörigkeit des Kindes nach derjenigen seiner Eltern.367 Haben diese unterschiedliche Staatsangehörigkeiten, eröffnet das deutsche IPR
363 Vgl. MünchKommBGB/von Sachsen Gessaphe, Vor § 1616 BGB Rn. 8; Hepting, StAZ 1998, 1 ff. 364 Die Bestimmung des internationalen Anwendungsbereichs der öffentlich-rechtlichen Namensänderung (§ 1 NamÄndG) folgt den Grundsätzen des Internationalen Verwaltungsrechts, wonach die deutschen Behörden für öffentlich-rechtliche Namensänderungen deutscher Staatsangehöriger ausschließlich zuständig sind (OLG Hamm, StAZ 1999, 40, 41). Für die Vertragsparteien des Istanbuler CIEC-Übereinkommens über die Änderung von Namen und Vornamen vom 4. September 1958 (BGBl. II, 1961, Nr. 40, S. 1055, 1076) folgt dies aus Art. 2 des Abkommens. 365 Staudinger/Hepting/Hausmann, Art. 10 EGBGB Rn. 64 f. 366 Vgl. MünchKommBGB (2010)/Birk, Art. 10 EGBGB Rn. 109. 367 Dies ergibt sich aus § 3 Nr. 1 i.V.m. § 4 StAG, wonach die deutsche Staatsangehörigkeit eines Elternteils für den Erwerb der deutschen Staatsangehörigkeit durch Geburt grundsätzlich ausreichend ist. Sind die Eltern unverheiratet und hat lediglich der Vater die deutsche Staatsangehörigkeit, so muss nach § 4 Abs. 1 S. 2 StAG eine nach deutschem Recht wirksame Anerkennung oder Vaterschaftsfeststellung vorliegen.
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4. Kapitel: Einwirkungen des Primärrechts in das autonome IPR
den Eltern als den Inhabern der Sorge368 eine Rechtswahlmöglichkeit zwischen ihren Heimatrechten bzw. dem deutschen Recht, wenn ein Elternteil dort seinen gewöhnlichen Aufenthalt hat (Art. 10 Abs. 3 EGBGB). Keine Rechtswahl ist nach dem Regelungsmodel des Art. 10 Abs. 3 EGBGB möglich, wenn die weitere Staatsangehörigkeit des Kindes sich nicht von den Eltern, sondern iure soli vom Recht des Geburtsortes ableitet. II. Bestimmung des Namensstatuts (Wahl des Anknüpfungsmoments) Die Regelung in Art. 10 EGBGB kennt die Staatsangehörigkeit als Anknüpfungsmoment der Regelanknüpfung. Innerhalb der EU knüpfen die Kollisionsnormen zur Bestimmung des anwendbaren Namensrechts in Dänemark,369 Finnland,370 Lettland,371 Rumänien in Bezug auf den Ehe- und Kindesnamen372 und Schweden373 am Wohnsitz bzw. gewöhnlichen Aufenthalt an. Schließlich kennen Art. 10 Abs. 2 und Abs. 3 EGBGB sowie das Namenskollisionsrecht in Bulgarien374 und Finnland375 eingeschränkte Rechtswahlmöglichkeiten und damit eine Anknüpfung am Parteiwillen. 368
Wer Inhaber der Sorge ist, bestimmt sich nach Art. 21 EGBGB bzw. nach dem Haager Kinderschutzübereinkommen. 369 Vgl. Giesen, in: Bergmann/Ferid/Henrich, Internationales Ehe- und Kindschaftsrecht, Dänemark, 206. Lfg., S. 33 370 § 26 Abs. 1 des finnischen Namensgesetzes vom 9. August 1985, vgl. Arends, in: Bergmann/Ferid/Henrich, Internationales Ehe- und Kindschaftsrecht, Finnland, 197. Lfg., S. 26. 371 Vgl. Schulze, in: Bergmann/Ferid/Henrich, Internationales Ehe- und Kindschaftsrecht, Lettland, 213. Lfg., S. 40. 372 Dies folgt bezüglich des Ehenamens und des Familiennamens des ehelichen Kindes daraus, dass es sich hierbei um Ehewirkungen handelt, die nach der lex matrimonii angeknüpft werden; bezüglich anderer Namen eines Kindes bestimmt Art. 2.576 Abs. 2 des rumänischen Noul Cod Civil (NCC), dass entweder das gemeinsame Staatsangehörigkeitsrecht der Eltern oder das Recht des Geburts- und anschließenden Wohnortes gilt; vgl. Bormann, in: Bergmann/Ferid/Henrich, Internationales Ehe- und Kindschaftsrecht, Rumänien, 207. Lfg., S. 21. 373 Vgl. Giesen, in: in: Bergmann/Ferid/Henrich, Internationales Ehe- und Kindschaftsrecht, Schweden, 211. Lfg., S. 21; Hepting, StAZ 2012, 257, 259. 374 Art. 53 Abs. 4 des bulgarischen Gesetzbuches über das Internationale Privatrecht vom 4. Mai 2005 erlaubt abweichend von der grundsätzlichen Staatsangehörigkeitsanknüpfung in Art. 53 Abs. 1 die Wahl bulgarischen Rechts, wenn ausländische Staatsangehörige ihren gewöhnlichen Aufenthaltsort in Bulgarien haben; vgl. Jessel-Holst, in: Bergmann/Ferid/Henrich, Internationales Ehe- und Kindschaftsrecht, Bulgarien, 199. Lfg., S. 21 f. 375 Nach § 26 Abs. 1 S. 2 des finnischen Namensgesetzes vom 9. August 1985 kann ein isländischer Staatsangehöriger mit Wohnort in Finnland abweichend von der Wohnortanknüpfung verlangen, dass seine Namensbildung isländischem Namensrecht unterliegt. Nach § 26 Abs. 3 kann ein finnischer Staatsangehöriger, dessen Wohnort sich nicht in Finnland, Norwegen, Schweden oder Dänemark befindet, verlangen, dass auf die Bestimmung seines Familiennamens finnisches Namensrecht angewandt wird; vgl. Übersetzung von § 26
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1. Staatsangehörigkeit Die Anknüpfung privatrechtlicher Vorschriften an die Staatsangehörigkeit einer Person in einem internationalen Sachverhalt wurde in das deutsche Kollisionsrecht mit der Kodifikation des Bürgerlichen Gesetzbuchs zum 1. Januar 1900 eingeführt.376 Sie folgte ideengeschichtlich dem italienischen Juristen und späteren Staatsmann Pasquale Stanislao Mancini (1817–1888).377 Dieser grenzte Rechtsordnungen räumlich auf der Grundlage der Prinzipien der „nazionalità“, der „libertà“ und der „sovranità ed indipendenza politica“ voneinander ab.378 Der „nazionalitá“ unterliegen die persönlichen Rechtsverhältnisse379 und der „libertà“ die schuld- und sachenrechtlichen Verhältnisse380. Das öffentliche Recht folgt dem Prinzip der „sovranità ed indipendenza politica“ und ist territorial zwingend anwendbar.381 „Nazionalità“ bedeutet für Mancini eine Gesamtschau von geographischen und kulturellen Faktoren, die eine Gruppe von Menschen in Abgrenzung zu einer anderen Gruppe prägen. Diese Prägung begleitet einen Menschen sein Leben lang, weshalb auch die persönlichen Rechtsverhältnisse überall der prägenden Heimatrechtsordnung folgen sollen.382 Die rechtliche Verbindung zwischen einem Menschen und der ihn prägenden Gruppe von Menschen, der „nazione“, wird durch die Staatsangehörigkeit hergestellt. Im Gegensatz zu der einseitigen Anknüpfung an die Staatsangehörigkeit, die bereits 1804 in Art. 3 Abs. 3 des französischen Code civil383 eingeführt wurde und die zwar an die Staatsangehörigkeit anknüpft, allerdings ausschließlich an die französische, versteht Mancini die Anknüpfung an die Staatsangehörigkeit als allseitig. Durch die Allseitigkeit der Anknüpfung folgt Mancini dem Grundgedanken des Kollisionsrechts, die Gleichheit der Rechtsordnungen zu respektieren. Die allseitige Anknüpfung an die Staatsangehörigkeit setzte sich im auslaufenden 19. Jahrhundert in Europa gegen das vormalig des finnischen Namensgesetzes vom 9. August 1985 in: Bergmann/Ferid/Henrich, Internationales Ehe- und Kindschaftsrecht, Finnland, 197. Lfg., S. 133. 376 Art. 7 bis Art. 31 EGBGB, RGBl. 1896, 604. 377 Vgl. zu Mancini im Detail die Aufsatzsammlung von Jayme, in: ders., Internationales Privatrecht. Ideengeschichte von Mancini und Ehrenzweig zum Europäischen Kollisionsrecht, 2009, S. 5 ff. 378 Vgl. hierzu und zum folgenden Mancini, Clunet 1 (1874), 285, 294 ff. 379 Hierbei soll es sich um „les lois qui régissent l’état personnel, l’ordre et les rapports de famille“ handeln, vgl. Mancini, Clunet 1 (1874), 285, 294. Mancini bezeichnete diesen Teil des Privatrechts als „partie nécessaire“. 380 Hierunter sind „les biens et leur jouissance, la formation des contrats, les obligations et choses semblables“ zu verstehen, vgl. Mancini, Clunet 1 (1874), 285, 295. Mancini bezeichnete diesen Teil des Privatrechts als „partie volontaire“. 381 Dies sind die Vorschriften des Prozessrechts, das zwingende Recht und der ordre public, vgl. Mancini, Clunet 1 (1874), 285, 302. 382 Vgl. Mancini, Clunet 1 (1874), 285, 293 ff. 383 „Les lois concernant l’état et la capacité des personnes régissent les Français, même résidant en pays étrangers.“
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4. Kapitel: Einwirkungen des Primärrechts in das autonome IPR
vorherrschende Domizilprinzip, wonach an den Wohnsitz einer Person anzuknüpfen ist, durch, um diejenige Rechtsordnung zu bestimmen, zu der ein Lebenssachverhalt die engste Verbindung aufweist.384 a) Bestimmung der Staatsangehörigkeit Die Staatsangehörigkeit bestimmt sich nach dem Recht desjenigen Staates, der der betroffenen Person die Staatsangehörigkeit verliehen hat. Dies folgt aus der Personalhoheit souveräner Staaten über seine Staatsbürger.385 Als öffentlichrechtliche Vorfrage wird deshalb für das Vorliegen der Staatsangehörigkeit unselbstständig und nicht nach der lex fori wie sonst im IPR angeknüpft.386 Über Erwerb und Verlust der Staatsangehörigkeit entscheiden die Sachnormen dieses Rechts. Für die deutsche Staatsangehörigkeit gilt unmittelbar das StAG. b) Mehrstaatigkeit, Art. 5 Abs. 1 EGBGB Im Falle von mehreren Staatsangehörigkeiten führt die Anknüpfung an die Staatsangehörigkeit nicht zu eindeutigen Ergebnissen. Hierzu trifft das autonome deutsche IPR in Art. 5 Abs. 1 EGBGB eine Entscheidung. Die Regelung unterscheidet zunächst danach, ob zumindest eine der Staatsangehörigkeiten die deutsche ist. Ist dies nicht der Fall, so ist nach Art. 5 Abs. 1 S. 1 EGBGB auf diejenige Staatsangehörigkeit abzustellen, zu der die Person die engste Verbindung hat: die sog. effektive Staatsangehörigkeit. Als Anhaltspunkte nennt das Gesetz in nicht abschließender Weise den gewöhnlichen Aufenthalt oder den Lebensverlauf des Mehrstaaters. Zur Ermittlung der effektiven Staatsangehörigkeit ist auf objektive Merkmale abzustellen, da Art. 5 Abs. 1 EGBGB die kollisionsrechtlich relevante Staatsangehörigkeit feststellen will, ohne der betroffenen Person eine Rechtswahlmöglichkeit einzuräumen.387 Relevante objektive Merkmale können hierbei Familienbindungen, wirtschaftliche und berufliche Beziehungen, die Ausübung politischer Rechte, die sprachliche, kulturelle und religiöse Zugehörigkeit sein.388 Ist eine der Staatsangehörigkeiten die deutsche, so hat diese auch ohne sonstige tatsächliche Berührungspunkte mit Deutschland immer den Vorrang (Art. 5 Abs. 1 S. 2 EGBGB). Diese Regelung wurde 1986 mit der IPR-Reform in Abweichung von der Rechtsprechung des BGH eingeführt. Der BGH ermittelte auch bei Vorliegen einer deutschen Staatsangehörigkeit die effektive
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Vgl. von Savigny, System des heutigen römischen Rechts, Bd. 8, S. 96, 100 f. Vgl. Staudinger/Blumenwitz, Anh. I zu Art. 5 EGBGB Rn. 13. 386 Vgl. Kienle, IPR, Rn. 260; MünchKommBGB (2010)/Sonnenberger, Einl. IPR Rn. 699 ff. 387 Vgl. MünchKommBGB (2010)/Sonnenberger, Art. 5 EGBGB Rn. 6. 388 Vgl. MünchKommBGB (2010)/Sonnenberger, Art. 5 EGBGB Rn. 5; Staudinger/Blumenwitz, Art. 5 EGBGB Rn. 15. 385
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Staatsangehörigkeit, stellte aber nur dann auf die ausländische Staatsangehörigkeit ab, wenn „die Beziehung des Mehrstaaters zu seinem ausländischen Heimatstaat wesentlich enger ist“, so dass ihr „ein derartiges Übergewicht zukommt, dass sie für das anzuwendende Recht bestimmend ist“.389 Die stete Bevorzugung der deutschen Staatsangehörigkeit gegenüber den ausländischen Staatsangehörigkeiten wird als Rückschritt gegenüber der Rechtsprechung des BGH angesehen.390 Sie widerspricht dem Verständnis von IPR, diejenige Rechtsordnung entscheiden zu lassen, die mit dem Sachverhalt die engste Verbindung aufweist.391 c) Staatenlosigkeit, Art. 5 Abs. 2 EGBGB Das autonome deutsche Kollisionsrecht knüpft nach Art. 5 Abs. 2 EGBGB bei Staatenlosen an den gewöhnlichen Aufenthalt an und, sollte ein solcher nicht feststellbar sein, an den schlichten Aufenthalt. Die Regelung hat nur eine geringe Bedeutung, da die New Yorker Staatenlosenkonvention392 vorrangig anzuwenden ist (Art. 3 Abs. 2 EGBGB). Art. 12 der Staatenlosenkonvention legt den Wohnsitz als Anknüpfungsmoment für das Personalstatut eines Staatenlosen fest und, sollte ein Wohnsitz nicht vorliegen, den Aufenthaltsort. Die Staatenlosenkonvention bestimmt nicht, was unter einem Wohnsitz und einem Aufenthalt zu verstehen ist. Die Vertragsstaaten sind daher frei in der Interpretation der Begriffe, müssen diese aber konventionsautonom, also im Lichte der Ziele der Konvention, auslegen. Dadurch dass das Hauptziel der Staatenlosenkonvention die einheitliche Rechtsanwendung ist, ist es überzeugend, den Wohnsitz im Sinne der Konvention als gewöhnlichen Aufenthalt auszulegen.393 Nach dem Wortlaut wäre eine Auslegung im Sinne des materiellrechtlichen Wohnsitzbegriff des § 7 BGB bevorzugenswert.394 Aufgrund der stark divergierenden Wohnsitzbegriffe in den nationalen Rechtsordnungen würde eine solche Auslegung aber zu mehr Rechtsunsicherheit als die von der Konvention angestrebte einheitliche Rechtsanwendung erreichen. Der Begriff des Aufenthalts in Art. 5 Abs. 2 EGBGB wie auch der Begriff des Aufenthalts in der Staatenlosenkonvention entsprechen dem schlichten
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BGHZ 75, 32. So Kropholler, IPR, § 37 II 1, S. 266; Kegel/Schurig, IPR, § 13 II 5; von Bar/Mankowski, IPR I, Rn. 7119; MünchKommBGB (2010)/Sonnenberger, Art. 5 EGBGB Rn. 12. 391 Kropholler, IPR, § 37 II 1, S. 266. 392 New Yorker Übereinkommen über die Rechtsstellung der Staatenlosen vom 28. September 1954 (BGBl. II, 1976, Nr. 22, S. 474). 393 Vgl. MünchKommBGB (2010)/Sonnenberger, Einl. IPR Rn. 718; Staudinger/Blumenwitz, Art. 5 EGBGB Rn. 65 f.; Palandt/Thorn, Anh. Art. 5 EGBGB Rn. 27; Kropholler, IPR, § 37 II 2, S. 269. 394 Daher auch für eine entsprechende Auslegung Kegel/Schurig, IPR, § 13 III 2. 390
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4. Kapitel: Einwirkungen des Primärrechts in das autonome IPR
Aufenthalt. Zu dessen Begründung genügt eine gewisse Verweildauer an einem bestimmten Ort ohne eine weitergehende Integration.395 d) Flüchtlinge Die Anknüpfung des Personalstatuts der Flüchtlinge macht erneut deutlich, dass die Staatsangehörigkeitsanknüpfung Ausdruck der engsten Verbindung zwischen einer Person und einer Rechtsordnung ist. Die engste Verbindung ist bei einem Flüchtling nicht mehr mit der Staatsangehörigkeit beschreibbar, da sich die flüchtige Person gerade vom dem Staat, dessen Angehörigkeit sie hat, abwendet. Deswegen bestimmt auch die Genfer Flüchtlingskonvention (GFK)396 in Art. 12, dass sich das Personalstatut des Flüchtlings nach dem Wohnsitz und hilfsweise nach dem Aufenthalt bestimmt. Wohnsitz im Sinne der Flüchtlingskonvention ist aus denselben Gründen wie bei der Staatenlosenkonvention der gewöhnliche Aufenthalt. Der Aufenthalt im Sinne der Konvention meint den schlichten Aufenthalt einer Person.397 Flüchtling im Sinne der Konvention ist, wer „aus der begründeten Furcht vor Verfolgung wegen ihrer Rasse, Religion, Nationalität, Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe oder wegen ihrer politischen Überzeugung sich außerhalb des Landes befindet, dessen Staatsangehörigkeit sie besitzt, und den Schutz dieses Landes nicht in Anspruch nehmen kann oder wegen dieser Befürchtungen nicht in Anspruch nehmen will.“398 Daneben fallen Personen, die nach bestimmten Abkommen oder der Verfassung der früheren Internationalen Flüchtlingsorganisation als Flüchtlinge gelten, sowie staatenlose Personen unter die GFK, sofern sie sich „außerhalb des Landes befinde[n], in welchem sie ihren gewöhnlichen
395 Vgl. Staudinger/Blumenwitz, Art. 5 EGBGB Rn. 67, 47; MünchKommBGB (2010)/Sonnenberger, Einl. IPR Rn. 726. 396 Genfer UN-Abkommen über die Rechtsstellung der Flüchtlinge vom 28. Juli 1951 (BGBl. II, 1953, Nr. 19, S. 560), ratifiziert durch Gesetz vom 1. September 1953 (BGBl. II, 1953, Nr. 19, S. 559) innerstaatlich in Kraft getreten am 24. Dezember 1953; Genfer Protokoll über die Rechtsstellung der Flüchtlinge vom 31. Januar 1967 (BGBl. II, 1969, Nr. 46, S. 1294). 397 Vgl. Staudinger/Blumenwitz, Anh. IV zu Art. 5 EGBGB Rn. 67; Andrae, Internationales Familienrecht, § 1 Rn. 19, S. 35. 398 Vgl. Art. 1 A Nr. 2 GFK i.V.m. Art. I Abs. 2 des Genfer Protokolls; für die EU ist der Begriff des Flüchtlings in Art. 2 lit. c) der Richtlinie 2004/83/EG über Mindestnormen für die Anerkennung und den Status von Drittstaatsangehörigen oder Staatenlosen als Flüchtlinge oder als Personen, die anderweitig internationalen Schutz benötigen, und über den Inhalt des zu gewährenden Schutzes (ABl. 2004 L 304/12) vereinheitlicht, der seit dem 22. Dezember 2013 durch Art. 2 lit. d) der Richtlinie 2011/95/EU über Normen für die Anerkennung von Drittstaatsangehörigen oder Staatenlosen als Personen mit Anspruch auf internationalen Schutz, für einen einheitlichen Status für Flüchtlinge oder für Personen mit Anrecht auf subsidiären Schutz und für den Inhalt des zu gewährenden Schutzes (ABl. 2011 L 337/9) abgelöst wird.
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Aufenthalt hatte[n], und nicht dorthin zurückkehren [können] oder wegen der erwähnten Befürchtungen nicht dorthin zurückkehren [wollen].“399 2. Domizilprinzip (Wohnsitz und gewöhnlicher Aufenthalt) Das alternative Anknüpfungsmoment besteht im „Domizil“, hier verstanden als Überbegriff für die kontinentaleuropäischen Anknüpfungsmomente des „Wohnsitzes“ und des „gewöhnlichen Aufenthalts“.400 Dieses Anknüpfungsmoment bildet den Gegensatz zur Staatsangehörigkeit, bei der auf ein nur schwer zu lösendes rechtliches Band mit einem Hoheitsgebiet abgestellt wird. Die Begründung eines neuen Wohnsitzes ist dagegen durch die schlichte Ausübung des Freizügigkeitsrechts möglich. Der Vorteil des Domizilprinzips gegenüber dem Staatsangehörigkeitsprinzip ist die hierdurch bewirkte häufigere Anwendung der lex fori.401 Die größte Schwäche des Domizilprinzips liegt in der uneinheitlichen Bestimmung, wann ein „Wohnsitz“ begründet ist. So ist bei einem Wohnsitzverständnis nach § 7 BGB etwa ein mehrfacher Wohnsitz möglich, was für eine eindeutige Bestimmung des räumlich anwendbaren Rechts hinderlich sein kann.402 Daher ist man im deutschen Kollisionsrecht dazu übergegangen, das Domizilprinzip durch eine Anknüpfung an den „gewöhnlichen Aufenthalt“ zu verwirklichen. Das dänische, finnische, schwedische und lettische Namenskollisionsrecht knüpfen nach dem Wortlaut noch an den „Wohnsitz“ statt an den „gewöhnlichen Aufenthalt“ an. Allerdings wird der „Wohnsitz“ in diesen Kollisionsrechtsordnungen wie der „gewöhnliche Aufenthalt“ verstanden.403 Der schwedische Wohnsitzbegriff „hemvist“ entspricht nach allgemeiner Meinung dem „gewöhnlichen Aufenthalt“.404 Der dänische Wohnsitzbegriff ähnelt „bis auf Nuancen“ dem Begriff des „gewöhnlichen Aufenthalts“.405 Im lettischen IPR ist der Wohnsitz legal definiert als „der Ort, an dem eine Person sich freiwillig niedergelassen hat mit der ausdrücklich oder stillschweigend erklärten Absicht,
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Nach dem deutschen Recht erhalten Asylberechtigte den Rechtsstatus eines Flüchtlings im Sinne der GFK gemäß § 2 Abs. 1 AsylVfG und Verschleppte, die nicht zugleich Flüchtlinge im Sinne der GFK sind, verleiht Art. 1, 2 AHKG 23 i.V.m. § 8 HeimatlAuslG den Flüchtlingsstatus. 400 Ebenfalls synonym verwendend Kropholler, IPR, § 39 I, S. 278. 401 Vgl. Kropholler, IPR, § 39 I 1, S. 279. 402 Vgl. Kropholler, IPR, § 39 I 2b, S. 280. 403 Vgl. zu den nordischen Rechtsordnungen Giesen, Die Anknüpfung des Personalstatuts im norwegischen und deutschen internationalen Privatrecht, S. 107 ff. 404 Vgl. Bogdan, Swedish Legal System, S. 512 f. 405 Vgl. Philip, Dansk international privat- og procesret, S. 141, zitiert bei Giesen, Die Anknüpfung des Personalstatuts im norwegischen und deutschen internationalen Privatrecht, S. 109.
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4. Kapitel: Einwirkungen des Primärrechts in das autonome IPR
dort ständig zu leben oder sich zu betätigen.“406 Aufgrund des ähnlichen Begriffsverständnisses von Wohnsitzanknüpfung und Anknüpfung an den „gewöhnlichen Aufenthalt“ soll daher im Folgenden zur Darlegung des Bedeutungsgehalts des Domizilprinzips als Anknüpfungsmoment auf das deutsche kollisionsrechtliche Verständnis des Begriffs des „gewöhnlichen Aufenthalts“ abgestellt werden. Das Anknüpfungsmoment des „gewöhnlichen Aufenthalts“ entstand in den internationalen Konventionen der Haager Konferenz.407 Hierbei sind insbesondere das Haager Minderjährigenschutzabkommen408 und das Haager Kindesschutzübereinkommen409 sowie die Haager Unterhaltsübereinkommen410 von Bedeutung. Nach dem zweiten Weltkrieg wurde der gewöhnliche Aufenthalt auch für das autonome deutsche Kollisionsrecht als Ersatzanknüpfung für diejenigen Fälle bedeutsam, in denen die Staatsangehörigkeitsanknüpfung keine befriedigenden Ergebnisse hervorbrachte, was insbesondere aufgrund der durch den Weltkrieg verursachten Bevölkerungsverschiebungen immer häufiger der Fall war.411 Entsprechend dem Zweck des Kollisionsrechts, einen Sachverhalt derjenigen Rechtsordnung zuzuweisen, zu der dieser die engste Verbindung aufweist, folgt der gewöhnliche Aufenthalt der Prämisse, wonach eine Person, die sich an einem bestimmen Ort sozial integriert hat, auch eine engere Beziehung zu der Rechtsordnung dieses Ortes aufweist.412 Der gewöhnliche Aufenthalt beschreibt vor diesem Hintergrund denjenigen räumlichen Bereich,413 in dem eine Person ihren tatsächlichen Lebensmittelpunkt hat.414 406 Art. 7 Abs. 1 ZGB, zitiert bei Staudinger/Hausmann, Anhang zu Art. 4 EGBGB Rn. 404. 407 Vgl. Baetge, Der gewöhnliche Aufenthalt im IPR, S. 5 ff., 33 ff. 408 Haager Übereinkommen über die Zuständigkeit der Behörden und das anzuwendende Recht auf dem Gebiet des Schutzes von Minderjährigen vom 5. Oktober 1961 (BGBl. II, 1971, Nr. 20, S. 219). 409 Übereinkommen über die Zuständigkeit, das anzuwendende Recht, die Anerkennung, Vollstreckung und Zusammenarbeit auf dem Gebiet der elterlichen Verantwortung und die Maßnahmen zum Schutz von Kindern vom 19. Oktober 1996 (BGBl.. II, 2009, S. 602). 410 Haager Übereinkommen über das auf Unterhaltsverpflichtungen gegenüber Kindern anzuwendende Recht vom 24. Oktober 1956 (BGBl. II, 1961, Nr. 36, S. 1013); Haager Übereinkommen über das auf Unterhaltspflichten anwendbare Recht vom 2. Oktober 1973 (BGBl. II, 1986, Nr. 26, S. 837). 411 Vgl. im Detail zur historischen Entwicklung des Anknüpfungsmoments des „gewöhnlichen Aufenthalts“ Baetge, Der gewöhnliche Aufenthalt im IPR, S. 10 ff. 412 Vgl. etwa Kropholler, IPR, § 39 II 5; Baetge, Der gewöhnliche Aufenthalt im IPR, S. 79 ff. 413 Da die Zuordnung im IPR zu einem Staatsgebiet erfolgt ist nicht erforderlich, dass die Personen ihren gewöhnlichen Aufenthalt an einem bestimmten Ort hat, aber innerhalb des betreffenden Staatsgebiets, MünchKommBGB (2010)/Sonnenberger, Einl. IPR Rn. 722. 414 Vgl. MünchKommBGB (2010)/Sonnenberger, Einl. IPR Rn. 722; BGH, NJW 1975, 1068; NJW 1981, 520.
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Es handelt sich dabei um den faktischen Wohnsitz, der den Daseinsmittelpunkt der Person bildet. Unerheblich ist, ob die betroffene Person ihren Aufenthaltsort ursprünglich auch zu ihrem Daseinsmittelpunkt machen wollte.415 Der positive Wille, sich an einem bestimmten Ort niederzulassen und zu bleiben („animus manendi“), kann jedoch ein Indiz dafür sein, diesen Ort als gewöhnlichen Aufenthaltsort anzusehen. Die Rechtmäßigkeit der Aufenthaltsbegründung416 oder die Erfüllung bestimmter Formalia wie die polizeiliche Meldung sind nicht relevant.417 Die Person muss tatsächlich an diesem Wohnsitz anwesend gewesen sein, wobei eine bestimmte bereits abgelegte Mindestaufenthaltsdauer nicht verlangt ist.418 Die in der Rechtsprechung häufig genannten sechs Monate419 sind lediglich eine Faustregel, um einen gewöhnlichen Aufenthalt in zeitlicher Hinsicht anzunehmen. In zeitlicher Hinsicht ist es ausreichend, dass der Aufenthalt in dem relevanten räumlichen Gebiet auf Dauer angelegt ist. Hinzutreten müssen jedoch noch „weitere Beziehungen zu dem Aufenthaltsort […], speziell in familiärer oder beruflicher Hinsicht, in denen – im Vergleich zu einem sonst in Betracht kommenden Aufenthaltsort – der Schwerpunkt der Bindungen der betreffenden Person zu sehen ist.“420 Daher stehen auch längere zeitliche Unterbrechungen der Annahme eines gewöhnlichen Aufenthaltsorts nicht entgegen, solange der Daseinsmittelpunkt aufrechterhalten bleibt.421 Eine Person kann nur über einen einzigen gewöhnlichen Aufenthaltsort verfügen.422 Zwar kann eine Person unbestrittenermaßen mehrere Aufenthaltsorte, insbesondere Wohnsitze (§ 7 Abs. 2 BGB), haben. Jedoch handelt es sich hierbei um einfache bzw. schlichte Aufenthaltsorte. Nur einer von ihnen kann eine solche Intensität an sozialer Integration vermitteln, dass er als gewöhnlicher Aufenthaltsort angesehen werden kann. Mehrere Aufenthaltsorte zu haben, an 415
BGH, NJW 1981, 520; Staudinger/Kropholler, Vorbem. zu Art 19. EGBGB Rn. 141. Ebenso OLG Nürnberg, FamRZ 2002, 324, Baetge, in: FS Kropholler, S. 77, 83 m.w.N.; a.A. OLG Bremen, FamRZ 1992, 962. 417 Vgl. Staudinger/Spellenberg, IntVerfREhe, Art. 3 EheGVO Rn. 80 ff. (zur Legalität des Aufenthalts), Rn. 57 (zur polizeilichen Meldung). 418 Ebenso Staudinger/Kropholler, Vorbem. zu Art 19. EGBGB Rn. 136; Baetge, FS Kropholler, S. 77, 81 f. A.A. die Schweiz in Art. 20 IPRG, dazu Baetge, in: FS Kropholler, S. 77, 79 f., 85. 419 Vgl. etwa OLG Celle, NJW-RR 2011, 1157; OLG Karlsruhe, FamRZ 2010, 1577; BGHZ 78, 293, 300 f.; BGH, FamRZ 1997, 1070. 420 BGH, NJW 1975, 1068. 421 Vgl. Staudinger/Kropholler, Vorbem. zu Art 19. EGBGB Rn. 151. 422 Ebenso MünchKommBGB (2010)/Sonnenberger, Einl. IPR Rn. 724; Staudinger/Kropholler, Vorbem. zu Art. 19 EGBGB Rn. 152; Henrich, Internationales Familienrecht, S. 62 f.; a.A. Spickhoff, IPRax 1995, 185, 189; Staudinger/Blumenwitz, Art. 5 EGBGB Rn. 48; Soergel/Kegel, Art. 5 EGBGB Rn. 49. Die Möglichkeit eines mehrfachen gewöhnlichen Aufenthaltsorts abwägend und zumindest prüfend OLG Oldenburg, NJW-RR 2010, 1592, 1593. 416
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denen eine Person in exakt derselben Weise sozial integriert ist, ist eine zwar theoretisch denkbare, aber real nicht vorkommende Situation.423 Hinzu tritt, dass der Sinn und Zweck des gewöhnlichen Aufenthalts als Anknüpfungsmoment in Kollisionsnormen die eindeutige Zuordnung eines Lebenssachverhalts zu einer bestimmten nationalen Rechtsordnung ist. Dem würde eine Auslegung des Begriffs des gewöhnlichen Aufenthalts, wonach mehrfache gewöhnliche Aufenthaltsorte möglich sind, gerade entgegenstehen.424 Die Gegenansicht, die im Falle mehrerer gewöhnlicher Aufenthalte die Regelung des Art. 5 Abs. 1 S. 1 EGBGB in analoger Weise anwenden und auf den „effektiven gewöhnlichen Aufenthaltsort“425 abstellen möchte, kommt zu demselben Ergebnis, da die Feststellung der effektiven Staatsangehörigkeit bei Doppelstaatsangehörigen ohne deutsche Staatsangehörigkeit nach denselben Kriterien erfolgt wie die Feststellung des Daseinsmittelpunkts.426 3. Parteiwille Neben den objektiven Anknüpfungsmomenten der Staatsangehörigkeit, des gewöhnlichen Aufenthaltes und des Wohnsitzes wird im internationalen Namensrecht auch noch das subjektive Anknüpfungsmoment des Parteiwillens verwendet (vgl. etwa Art. 10 Abs. 2 und Abs. 3 EGBGB). Hiernach wird die anwendbare Rechtsordnung durch eine Willensäußerung festgelegt, die von den Gerichten im Wege der Auslegung festzustellen ist. Die Wahl der Rechtsordnung erfolgt unmittelbar durch die Willensäußerung. Auf das gewählte Recht wird direkt verwiesen. Hiervon zu unterscheiden ist die willentliche Änderung objektiver Anknüpfungsmomente, etwa durch Verlegung des gewöhnlichen Aufenthalts oder Wechsel der Staatsangehörigkeit. Es handelt sich hierbei um eine indirekte Verweisung. Der Parteiwille als Anknüpfungsmoment ist Ausdruck der Parteiautonomie. Die Parteiautonomie ist die kollisionsrechtliche Freiheit der Rechtswahl.427 Sie entspringt wie die materiellrechtliche Privatautonomie der „autonomie de la volonté“.428 Sie ist aber von der materiellrechtlichen Privatautonomie zu unterscheiden. Die materiellrechtliche Privatautonomie erlaubt dem Einzelnen die 423
Ebenso Stoll, RabelsZ 22 (1957), 190. Vgl. MünchKommBGB (2010)/Sonnenberger, Einl. IPR Rn. 724. 425 So Staudinger/Blumenwitz, Art. 5 EGBGB Rn. 48; Soergel/Kegel, Art. 5 EGBGB Rn. 75. Sehr weitgehend Spickhoff, IPRax 1995, 185, 189, der auch Art. 5 Abs. 1 S. 2 EGBGB in analoger Weise anwenden und bei einem deutschen gewöhnlichen Aufenthaltsort diesem den Vorrang einräumen möchte. Dagegen auch Staudinger/Blumenwitz, Art. 5 EGBGB Rn. 48. 426 Art. 5 Abs. 1 S. 1 EGBGB anwendend, aber mit dem Ergebnis, dass dies zum selben Ergebnis führt OLG Oldenburg, NJW-RR 2010, 1592, 1593. 427 Kropholler, IPR, § 40 I, S. 293; Leible, in: FS Jayme, S. 485. 428 Vgl. zum französischen Konzept der „autonomie de la volonté“ Ranouil, L’autonomie de la volonté. Naissance et évolution d’un concept, S. 17 ff. 424
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Gestaltung seiner Rechtsverhältnisse im Rahmen zwingender Vorschriften, von denen er nicht abweichen kann. In diesem Rahmen kann er auch fremdes Sachrecht wählen. In einem solchen Fall spricht man von einer „materiellrechtlichen Verweisung“429. Die kollisionsrechtliche Rechtswahlfreiheit reicht weiter. Mit ihr wird eine Rechtsordnung einschließlich ihrer zwingenden Vorschriften zur Anwendung berufen, weshalb durch kollisionsrechtliche Rechtswahl von einer Rechtsordnung im Ganzen abgewichen werden kann. Im Falle des deutschen Namenskollisionsrechts sind die wählbaren Rechtsordnungen jedoch beschränkt. In Betracht kommen bei der Wahl des Familiennamens die Heimatrechte der Ehegatten (Art. 10 Abs. 2 S. 1 Nr. 1 EGBGB) und die deutsche Rechtsordnung, wenn einer der Ehegatten zum Zeitpunkt der Erklärung seinen gewöhnlichen Aufenthalt im deutschen Inland hat (Art. 10 Abs. 2 S. 1 Nr. 2 EGBGB). Bei der Wahl des Kindesnamens sind die wählbaren Sachrechtsordnungen beschränkt auf die Heimatrechte der Elternteile (Art. 10 Abs. 3 S. 1 Nr. 1 EGBGB) oder eines Namenserteilenden (Art. 10 Abs. 3 S. 1 Nr. 3 EGBGB) sowie das deutsche Recht, wenn ein Elternteil zum Zeitpunkt der Erklärung seinen gewöhnlichen Aufenthalt im deutschen Inland hat (Art. 10 Abs. 3 S. 1 Nr. 2 EGBGB). Die kollisionsrechtliche Rechtswahlfreiheit unterscheidet sich im deutschen autonomen Kollisionsrecht ferner von der Verweisung auf Grundlage objektiver Anknüpfungsmomente dadurch, dass letztere auf eine Rechtsordnung einschließlich ihres Kollisionsrechts verweist (vgl. Art. 4 Abs. 1 EGBGB), während die durch Ausübung der Rechtswahlfreiheit bestimmte Rechtsordnung lediglich das Sachrecht erfasst (vgl. Art. 4 Abs. 2 EGBGB), weshalb ein renvoi ausgeschlossen ist.430 Die Ausübung der Rechtswahl ist ein kollisionsrechtliches Rechtsgeschäft. Im Falle des Art. 10 Abs. 2 EGBGB handelt es sich dabei nicht um einen Vertrag, aber um zwei „parallele, inhaltlich übereinstimmende Erklärungen der Ehegatten“,431 die gegenüber einem deutschen bzw. einem funktional äquivalenten ausländischen Standesbeamten abzugeben sind. Adressat der Rechtswahlerklärung ist nämlich der Standesbeamte und nicht der andere Ehegatte.432 Das auf die Wirksamkeit der Erklärungen, ihre Auslegung und die Folgen ihrer Fehlerhaftigkeit anwendbare Recht ist das dasjenige Recht, das die Rechtswahlmöglichkeit eröffnet.433 Im Fall einer Rechtswahlerklärung auf Grundlage von Art. 10 Abs. 2 EGBGB handelt es sich also um das deutsche Recht. Aus diesem Grund ist auch eine konkludente Rechtswahl möglich. Erforderlich ist 429
Vgl. zur materiellrechtlichen Verweisung Gutzwiller, Internationalprivatrecht, S. 1605; Neumeyer, IPR, S. 6; Zitelmann, IPR II, S. 375. 430 Vgl. Kropholler, IPR, § 40 I, S. 293. 431 Staudinger/Hepting/Hausmann, Art. 10 EGBGB Rn. 256. 432 MünchKommBGB (2010)/Birk, Art. 10 EGBGB Rn. 78. 433 Staudinger/Hepting/Hausmann, Art. 10 EGBGB Rn. 256; OLG Düsseldorf, IPRspr. 2009, Nr. 4, 9.
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demnach, dass sich der Rechtswahlwille eindeutig aus den Erklärungen oder den Umständen ergibt. Im Namensrecht kann dies etwa durch Eintragung eines nach ausländischem Namensrecht bestimmten Ehenamens in das Eheregister geschehen.434 Zu beachten ist allerdings, dass die Rechtswahlerklärungen nach Abschluss des Rechtsverhältnisses, das die Namensänderung begründet, nach Art. 10 Abs. 2 S. 2 und Abs. 3 S. 2 EGBGB formbedürftig sind. Die anfängliche Rechtswahl ist zwar demnach grundsätzlich formfrei. Sie ist jedoch von den Formvorschriften für das die Namensänderung auslösende Rechtsgeschäft (bei Eheschließung die §§ §§ 1310, 1311 BGB) miterfasst.435 Bei der Rechtswahl bezüglich des Kindesnamens folgt die Form der Rechtswahlerklärung der Form der Anzeige der Geburt (§ 17 Abs. 2 PStG).436 4. Divergierende Namensführung durch Unionsbürgermobilität Betrachtet man sich die Anknüpfungsmomente, die die europäischen Kollisionsrechtsordnungen kennen, näher, wird auch437 hier deutlich, dass man sie hinsichtlich ihrer Wandelbarkeit unterscheiden kann. Die Staatsangehörigkeitsanknüpfung ist praktisch unwandelbar, da an die Änderung der Staatsangehörigkeit hohe rechtliche Hürden in den mitgliedstaatlichen Rechtsordnungen angelegt sind, während der gewöhnliche Aufenthalt und der Wohnsitz durch Umzug und der Parteiwille durch Willensänderung wandelbar sind. Zieht daher ein Unionsbürger von einem Mitgliedstaat in einen anderen Mitgliedstaat, deren materielle Namensrechte divergieren, so kann ein „conflit mobile“438 aufgrund eines Statutenwechsels eintreten. Hierzu ist die Zuzugsrechtsordnung danach zu befragen, ob ein Statutenwechsel stattfindet und ob damit eine Namensänderung verbunden ist (a)).439 Kommt die Zuzugsrechtsordnung zu dem Ergebnis, dass kein Statutenwechsel eintritt, so kann es dennoch zu auseinanderfallenden Namensführungen innerhalb der EU-Mitgliedstaaten kommen, die Hindernisse für die Ausübung der Freizügigkeit darstellen (b)) und c)). a) Statutenwechsel Betrachtet man den Zuzug aus der Perspektive einer Kollisionsrechtsordnung, die das anwendbare Namensrecht nach dem gewöhnlichen Aufenthalt bestimmt, so tritt mit dem Zuzug ein Statutenwechsel ein. Ob in einem zweiten 434 So im Fall der Eintragung eines polnischen Ehenamens eines deutsch-polnischen Ehepaars in das polnische Personenstandsregister, vgl. OLG Düsseldorf, IPRspr. 2009, Nr 4, 9; NK-BGB/Mankowski, Art. 10 EGBGB Rn. 105. 435 Staudinger/Hepting/Hausmann, Art. 10 EGBGB Rn. 262. 436 NK-BGB/Mankowski, Art. 10 EGBGB Rn. 155. 437 Siehe zum Gesellschaftskollisionsrecht: S. 333 ff. 438 Vgl. Mayer/Heuzé, Droit international privé, S. 181 ff. Rn. 259 ff. 439 Staudinger/Hepting/Hausmann, Art. 10 EGBGB Rn. 154; BGHZ 63, 107.
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Schritt damit auch eine Änderung des Namens einhergeht, bestimmt sich danach, ob die Zuzugsrechtsordnung vergleichbar der deutschen Rechtsordnung dem Grundsatz der Namenskontinuität folgt. Nimmt nämlich ein nichtdeutscher Staatsangehöriger die deutsche Staatsangehörigkeit an, würde dies eigentlich zu einem Wechsel des anwendbaren materiellen Namensrechts führen. Um die damit verbundene Diskontinuität des Namens als Identitätsmerkmal und als Identifikationsmerkmal der Person zu vermeiden, ändert sich der Name der Person trotz des Statutenwechsels nicht. Er wird vielmehr in der Weise übernommen, wie er von dem ursprünglichen Namensstatut verliehen wurde.440 Die Grenze ist dort erreicht, wo ein nach dem ausländischen Recht verliehener Name keine aufgrund des Statutenwechsels durch das deutsche Recht bestimmte Namensfunktion mehr erfüllt. Dies ist etwa bei geschlechtsspezifischen Namensformen der Fall, da die hierdurch bewirkte Anzeige des Geschlechts des Namensträgers dem deutschen Namensrecht fremd ist.441 Mithin kommt es zu einem Statutenwechsel mit divergierenden Namen in den Fällen, in denen entweder die Zuzugsrechtsordnung nicht dem Grundsatz der Namenskontinuität folgt oder der von der Wegzugsordnung verliehene Namen keine der Namensfunktionen nach dem materiellen Namensrecht der Zuzugsrechtsordnung erfüllt. b) Hinkende Namensführung ohne Statutenwechsel Betrachtet man den Zuzug aus dem Blickwinkel einer Kollisionsrechtsordnung wie der deutschen, die in Art. 10 Abs. 1 EGBGB praktisch unwandelbar an die Staatsangehörigkeit anknüpft, führt der Zuzug gar nicht erst zu einem Statutenwechsel.442 Zieht ein deutscher Staatsangehöriger zu, gilt für ihn der Name, den das deutsche materielle Namensrecht dem eigenen Staatsangehörigen zugewiesen hat. Der mögliche nach einem ausländischen Kollisionsrecht bestimmte, hiervon abweichende Name ist irrelevant, weshalb aus der Sicht des deutschen IPR auch keine Änderung des Namens eintritt.443 Hieraus kann jedoch eine Divergenz zwischen dem im Wegzugsstaat registrierten Namen und dem im Zuzugsstaat zu führenden Namen und mithin eine „hinkende Namensführung“ entstehen, die nicht auf einen Statutenwechsel zurückzuführen ist. 440 Vgl. BGHZ 63, 107, 110 ff.; BGHZ 121, 395; Staudinger/Hepting/Hausmann, Art. 10 EGBGB; NK-BGB/Mankowski, Art. 10 EGBGB Rn. 21; jurisPK-BGB/Janal, Art. 10 EGBGB Rn. 41; BT-Drs. 10/504, S. 47. 441 Vgl. BayObLG, StAZ 1978, 100; Staudinger/Hepting/Hausmann, Art. 10 EGBGB Rn. 159. 442 Bei der Betrachtung der deutschen Rechtslage wird im Folgenden vorläufig Art. 48 EGBGB außer Acht gelassen. Hierauf soll später nach Darstellung der Rechtsprechung des EuGH, die vor der Einfügung von Art. 48 EGBGB erging, eingegangen werden, siehe unten S. 451 ff. 443 Staudinger/Hepting/Hausmann, Art. 10 EGBGB Rn. 148 f.; jurisPK-BGB/Janal, Art. 10 EGBGB Rn. 43.
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Das hat zur Folge, dass der Grundsatz der Namenskontinuität, der zu einer Weiterführung des von der Wegzugsrechtsordnung verliehenen Namens führt, nicht zur Anwendung gelangt.444 Diese Problematik kann zum einen beim Namenserwerb eines deutschen Staatsangehörigen bei Geburt oder gewöhnlichem Aufenthalt in einer Rechtsordnung entstehen, deren Kollisionsrecht diese Tatsachen als Anknüpfungsmomente verwendet. Dieselbe Problemkonstellation tritt bei einer ausländischen Person ein, deren Name aufgrund des Geburtsorts oder des gewöhnlichen Aufenthalts von einer anderen Rechtsordnung verliehen worden ist als derjenigen ihrer Staatsangehörigkeit. Zum anderen entsteht die Problematik bei Doppel- und Mehrfachstaatsangehörigen, bei denen eine der Staatsangehörigkeiten die deutsche ist und bei denen der Namenserwerb unter eine Kollisionsrechtsordnung fiel, die zwar auch an die Staatsangehörigkeit anknüpft, jedoch zur Bestimmung der relevanten Staatsangehörigkeit auf eine andere als die deutsche abstellt.445 c) Vorfragenanknüpfung Zu einer unterschiedlichen Namensführung kann es zudem kommen, wenn eine Namensänderung aus der Sicht der einen Rechtsordnung wirksam und aus der Sicht der anderen Rechtsordnung unwirksam ist. Eine Namensänderung tritt neben der öffentlich-rechtlichen Namensänderung durch eine Änderung des familienrechtlichen Status ein, also etwa bei einer Adoption, einer Eheschließung oder einer Ehescheidung. Ist die familienrechtliche Statusänderung unwirksam, so ist als Folge hiervon auch die Namensänderung unwirksam. Somit muss aus kollisionsrechtlicher Sicht die Wirksamkeit der Änderung des familienrechtlichen Statuts als Vorfrage geklärt werden. Dabei verlängern sich das Problem des Statutenwechsels im internationalen Familienrecht und die Problematik der hinkenden Statusverhältnisse in das Namensrecht hinein.446 Dieses Problem wird nicht durch eine selbstständige oder eine unselbstständige Anknüpfung der Vorfragen gelöst. Bei der selbstständigen Anknüpfung der Vorfrage wird die hierauf anwendbare Rechtsordnung durch die Kollisionsnormen der lex fori bestimmt. Dies dient der internen Entscheidungsgleichheit, wonach die anwendbare Rechtsordnung zur Beantwortung der Vorfrage
444 Staudinger/Hepting/Hausmann, Art. 10 EGBGB Rn. 154; jurisPK-BGB/Janal, Art. 10 EGBGB Rn. 43 445 Vgl. Sommer, Einfluss der Freizügigkeit auf Namen und Status von Unionsbürgern, S. 115 f. 446 Ähnlich Sommer, Einfluss der Freizügigkeit auf Namen und Status von Unionsbürgern, S. 116 f.
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und der Hauptfrage dieselbe ist.447 Folgen nun das Namensstatut und das familienrechtliche Statut unterschiedlichen Anknüpfungsmerkmalen, kommt es zu einem Auseinanderfallen der Rechtsordnungen, die über die Namensänderung einerseits und über Wirksamkeit der familienrechtlichen Änderungsgründe für die Namensänderung andererseits entscheiden. Dies erhöht die Wahrscheinlichkeit hinkender Namensverhältnisse.448 Stellt man alternativ auf eine unselbstständige Anknüpfung der Vorfrage ab, wird die auf die Klärung der Vorfrage anwendbare Rechtsordnung durch die Kollisionsnormen des Namenstatuts (lex causae) bestimmt.449 Dies dient dem internationalen Entscheidungseinklang, weil damit sowohl die Namensänderung als auch die Wirkung der familienrechtlichen Statusänderung, die der Namensänderung zugrunde liegt, nach derselben Rechtsordnung beurteilt werden. Letztere scheint die Problematik der Vorfragenanknüpfung für die Entstehung hinkender Namensführung zu lösen. Dies trifft bei näherem Hinsehen jedoch nur auf diejenigen Fälle zu, in denen die lex fori für die Bestimmung der anwendbaren Rechtsordnung auf die Hauptfrage (Namensführung) dasselbe Anknüpfungsmerkmal verwendet wie die lex causae oder in denen beide Kollisionsnormen zumindest zur Anwendbarkeit derselben materiellen Rechtsordnung führen. Die unselbstständige Vorfragenanknüpfung folgt nämlich der Anknüpfung der lex fori für die Hauptfrage.450 Führt das Anknüpfungsmoment der lex fori für die Hauptfrage nun zur Anwendbarkeit einer anderen Rechtsordnung als derjenigen, die die ursprüngliche Namensänderung herbeiführte, kann diese Rechtsordnung sogar in namensrechtlicher Hinsicht zu demselben Namen führen wie die ursprüngliche Rechtsordnung. In familienrechtlicher Hinsicht kann sie als lex causae, jedoch eine andere sachrechtliche Beurteilung des Bestehens oder der Wirkungen des familienrechtlichen Statusverhältnisses beinhalten, welches den Grund für die Namensänderung bildete, und damit ein hinkendes Statusverhältnis begründen, welches das Entfallen der Wirksamkeit der Namensänderung nach der ursprünglichen Rechtsordnung zur Folge hat. Zugegebenermaßen ist dieser Fall reichlich hypothetisch. Er macht jedoch deutlich, dass mit der Entscheidung für eine unselbstständige Vorfragenanknüpfung die Verlängerung des Hinkens eines familienrechtlichen Statusverhältnisses in ein Hinken der Namensführung nicht völlig verhindert werden kann.451 447
Vgl. nur Kropholler, IPR, § 32 IV 2, S. 226 f. Dafür im deutschen Namenskollisionsrecht: Staudinger/Hepting/Hausmann, Art. 10 EGBGB Rn. 130 f.; NK-BGB/Mankowski, Art. 10 EGBGB Rn. 17 f. 448 Vgl. Wall, StAZ 2011, 37, 41. 449 Dafür im deutschen Namenskollisionsrecht: MünchKommBGB (2010)/Birk, Art. 10 EGBGB 26; Wall, StAZ 2011, 37, 41 f.; BGHZ 90, 129, 140. 450 Auf dieses Problem verweisen Schmidt, ScanStudL 1968, 91, 106; ders. RdC 233 (1992), 304, 369; van Hoogstraten, in: FS Kollewijn/Offerhaus, S. 209, 217. 451 Ein Fall, in dem die unselbstständige Vorfragenanknüpfung einer unionsrechtlichen Freizügigkeitsbehinderung abhalf, liegt dem Urteil des OLG Düsseldorf, IPRspr. 2009, Nr.
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Somit kann neben einem Statutenwechsel ohne Anwendbarkeit des Grundsatzes der Namenskontinuität und einer hinkenden Namensführung auch die familienrechtliche Vorfragenanknüpfung zu einem Verlust eines ursprünglich verliehenen Namens und damit zu einer divergierenden Namensführung führen. 5. Vergleich mit den Kollisionsnormen des Internationalen Gesellschaftsrechts In der Folge soll die Rechtsprechung des EuGH zur Freizügigkeit von Namen näher betrachtet werden. Um die hieraus zu ziehenden Ergebnisse im Hinblick auf ihre kollisionsrechtlichen Aussagen verallgemeinerungsfähig machen zu können, sollen zunächst erst die Kollisionsnormen des Internationalen Namensrechts mit denjenigen des Internationalen Gesellschaftsrechts, deren unionsrechtliche Beurteilung im vorhergehenden Kapitel dargelegt wurde, verglichen werden. Dabei fällt als erstes auf, dass sich die Kollisionsnormen des deutschen Internationalen Namensrechts und des deutschen Internationalen Gesellschaftsrechts in der Wandelbarkeit ihrer Anknüpfung unterscheiden. Während die Sitztheorie im Gesellschaftskollisionsrecht eine wandelbare Anknüpfung enthält, ist die Staatsangehörigkeitsanknüpfung in Art. 10 Abs. 1 EGBGB praktisch unwandelbar. Dieser Unterschied wird deutlich, wenn man die Rechtslage des nach Deutschland zuwandernden rechtlich konfigurierten Marktakteurs mit derjenigen des Namens eines zuwandernden Marktakteurs bzw. Unionsbürgers vergleicht. Im Gesellschaftskollisionsrecht ging es um Fälle, in denen ein ausländischer Marktakteur seine in der Herkunftsrechtsordnung begründete rechtliche Konfiguration nicht grenzüberschreitend mitnehmen konnte, da das deutsche Gesellschaftskollisionsrecht aufgrund der Sitztheorie und des von ihm berufenen deutschen Sachrechts von Marktakteuren, die auf deutschem Hoheitsgebiet wirtschaftlich tätig sein wollen, eine inländische rechtliche Konfiguration verlangt. Dies folgte aus dem Statutenwechsel, der aufgrund der wandelbaren Anknüpfung der Sitztheorie eintrat. Im deutschen Namenskollisionsrecht tritt diese Fallkonstellation praktisch nicht auf. Aufgrund der unwandelbaren Staatsangehörigkeitsanknüpfung bringt ein ausländischer Marktakteur bzw. Unionsbürger den Namen, den ihm seine Herkunftsrechtsordnung verliehen hat, mit. Die Staatsangehörigkeitsanknüpfung wirkt daher wie die Gründungstheorie für rechtlich konfigurierte Marktakteure im Gesellschaftskollisionsrecht. Eine Ausnahme davon bildet die 4, 9 zugrunde, in der eine polnische Namensänderung nach dem polnischen Sachrecht beurteilt wurde, dessen Anwendbarkeit auf die Vorfrage der Namensführung sich gemäß Art. 10 Abs. 2 EGBGB aus dem stillschweigend auf die Hauptfrage gewählten polnischen Recht ergab. Hierauf verweist insb. Wall, StAZ 2011, 39, 40, der zugleich deutlich macht, dass das OLG Düsseldorf die Vorfragenproblematik überhaupt nicht angesprochen hat.
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Fallgruppe, in der ein ausländischer Unionsbürger seinen Namen von einer Rechtsordnung verliehen bekommen hat, die aufgrund einer Anknüpfung an den Geburtsort oder den gewöhnlichen Aufenthalt anwendbar war, ohne dass diese Rechtsordnung derjenigen seiner Staatsangehörigkeit entspricht. Dann entsteht eine hinkende Namensführung wie bei einem inländischen Staatsangehörigen, dessen Name von einer ausländischen Rechtsordnung bestimmt wurde, die aufgrund des Geburtsorts oder des gewöhnlichen Aufenthalts anwendbar war. Diese letztgenannte Fallkonstellation findet im Internationalen Gesellschaftsrecht ihre Entsprechung, wenn man auf die Gründer einer rechtlichen Konfiguration abstellt. Hier kann nämlich ein inländischer Gründer in einer ausländischen Gesellschaftsrechtsordnung, die der Gründungstheorie folgt, eine rechtliche Konfiguration gründen, die dann im Inland aufgrund Statutenwechsels den zusätzlichen Anforderungen der inländischen Sachrechtsordnung entsprechen muss. Würden die Grundsätze, die vom EuGH in seiner Rechtsprechung zur Freizügigkeit rechtlich konfigurierter Marktakteure entwickelt wurden,452 auf die Freizügigkeit von Namen sinngemäß übertragen werden, so würde sich folgendes Bild ergeben: Einem Unionsbürger muss ein diskriminierungs- und beschränkungsfreier Zugang zum Namensrecht seines Aufenthaltsstaats gewährleistet werden. Dabei kann die jeweilige Rechtsordnung den Zugang zu ihrem Namensrecht von einer tatsächlichen Verbindung mit dem Hoheitsgebiet, in dem sie gilt, abhängig machen, ohne dass sie dazu aus unionsrechtlichen Gründen verpflichtet wäre. Möchte der Unionsbürger nach einem Wegzug seinen Namen entsprechend der Rechtsordnung seines neuen Aufenthaltsstaates ändern, darf die Rechtsordnung, die den ursprünglichen Namen verliehen hat, dies nicht verhindern. Der Zuzugsstaat muss einem Unionsbürger mit dem Namen, der ihm von einer anderen Rechtsordnung verliehen wurde, einen diskriminierungs- und beschränkungsfreien Zugang zum eigenen Hoheitsgebiet erlauben. Dabei wirkt eine Zugangssperre für den Namen des Unionsbürgers wie eine Zugangssperre für den Unionsbürger. Die Zuzugsrechtsordnung hat den Namen des Unionsbürgers als solchen zu achten. Davon unberührt bleibt das Recht des Zuzugsstaates, den Gebrauch des Namens auf seinem Hoheitsgebiet in diskriminierungs- und beschränkungsfreier Weise zu regulieren. III. Die Rechtsprechung des EuGH zur Freizügigkeit von Namen Der EuGH behandelte erstmalig eine Frage des Namensrechts in der Rechtssache „Konstantinidis“,453 in der es um die Transliteration eines griechischen Nachnamens in die lateinische Schrift ging. Durch die vom Standesamt der 452 453
Siehe oben S. 370. EuGH, Rs. C-168/91, Konstantinidis, Slg. 1993, I-1191.
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Stadt Altensteig angewandte Transliteration wurde nach Ansicht des Namensführenden die Aussprache seine Nachnamens im Deutschen verfälscht, weshalb er eine Änderung seines transliterierten Namen „Konstadinidis“ in „Konstantinidis“, wie er auch in seinem griechischen Pass transliteriert wurde, verlangte. Dem Begehren folgte der EuGH, als er urteilte, dass die Niederlassungsfreiheit einer Transliteration entgegenstünde, die den Nachnamen in seiner Aussprache verfälscht. Über die Tatsache hinaus, dass auch das Namensrecht den Grundfreiheiten unterliegt, ist jedoch dem Urteil in der Rechtssache „Konstantinidis“ nichts weiter für die Einwirkungen des Unionsrechts auf das Kollisions- und Sachrecht der Namensführung zu entnehmen.454 Das kommt insbesondere darin zum Ausdruck, dass auf der Grundlage des Urteils sowohl vertreten werden kann, der EuGH habe der Transliteration, wie sie im griechischen Pass vorgenommen wurde, eine vom Kollisionsrecht losgelöste grenzüberschreitend anzuerkennende Wirkung beigemessen,455 als auch, der EuGH habe schlicht die Kollisionsrechtslage nach dem deutschen Internationalen Namensrecht bestätigt, wonach die auf den Namen und damit auch auf die Transliteration anwendbare Rechtsordnung diejenige der Staatsangehörigkeit des Namensträgers ist.456 Mithin ist das erste für das Namenskollisionsrecht relevante Urteil dasjenige in der Rechtssache „Garcia Avello“. 1. Garcia Avello457 In der Rechtssache „Garcia Avello“ ging es um eine von der belgischen Staatsangehörigen Isabelle Weber und dem spanischen Staatsangehörigen Carlos Garcia Avello als Eltern beantragte Änderung des Nachnamens der gemeinsamen Kinder. Diese kamen in den Jahren 1988 und 1992 in Belgien, dem gewöhnlichen Aufenthaltsort der Eltern, auf die Welt. Die belgischen Geburtsurkunden der Kinder wiesen als Nachnamen „Garcia Avello“ und damit den Nachnamen des Vaters aus. Dies folgte aus Art. 335 des zum Geburtszeitpunkt der Kinder geltenden belgischen Code Civil, wonach „[e]in Kind, dessen väterliche Abstammung allein feststeht oder dessen väterliche und mütterliche Abstammung zugleich feststehen, […] den Namen seines Vaters [führt], außer wenn dieser verheiratet ist und ein Kind anerkennt, das eine andere Frau als seine Ehefrau während der Ehe empfangen hat.“ Das belgische Sachrecht kam zur Anwendung, weil Art. 3 Abs. 3 des belgischen Code Civil „[d]ie Gesetze über den Personenstand sowie die Rechts- und die Geschäftsfähigkeit“ an die belgische Staatsangehörigkeit anknüpft. Die beiden Kinder besaßen die von ihrer Mutter abgeleitete belgische und von ihrem Vater abgeleitete spanische
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Ebenso Funken, Anerkennungsprinzip, S. 138. So etwa Mörsdorf-Schulte, IPRax 2004, 315, 320. 456 Dafür W.-H. Roth, IPRax 2006, 338, 342. 457 EuGH, Rs. C-148/02, Garcia Avello, Slg. 2003, I-11613. 455
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Staatsangehörigkeit. Für den Fall einer doppelten oder mehrfachen Staatsangehörigkeit räumten die belgischen Behörden der belgischen Staatsangehörigkeit den Vorrang ein „nach der in Artikel 3 des Haager Übereinkommens vom 12. April 1930 über einzelne Fragen beim Konflikt von Staatsangehörigkeitsgesetzen (League of Nations Treaty Series, Bd. 179, S. 89, im Folgenden: Haager Übereinkommen) kodifizierten gewohnheitsrechtlichen Regel, dass ‚eine Person, die zwei oder mehr Staatsangehörigkeiten besitzt, von allen Staaten, deren Staatsangehörigkeit sie besitzt, als eigener Staatsangehöriger angesehen werden [kann]‘“.458 Die Eltern beantragten nun eine Änderung des Nachnamens der Kinder in „Garcia Weber“. Dieser Nachname wurde vom spanischen Konsulatsdienst in Anwendung des spanischen Namensrechts (Art. 108 f. Código Civil) aus dem ersten Bestandteil des Nachnamens des Vaters („Garcia“) und des Geburtsnamens der Mutter („Weber“) zusammengesetzt. Aus spanischer Sicht kommt das spanische Sachrecht zur Anwendung, weil auch das spanische Kollisionsrecht an die Staatsangehörigkeit anknüpft und im Falle einer doppelten oder mehrfachen Staatsangehörigkeit der eigenen den Vorrang einräumt.459 Die beantragte Namensänderung wurde jedoch vom belgischen Justizminister abgelehnt mit der Begründung, dass „jeder Antrag, bei einem Kind dem Namen des Vaters denjenigen der Mutter hinzuzufügen, […] gewöhnlich mit der Begründung abgelehnt [wird], dass in Belgien die Kinder den Namen ihres Vaters führen.“460 a) Entscheidungsgründe des EuGH Der EuGH hielt die Ablehnung der Namensänderung eines Doppelstaatsangehörigen in die Form der Rechtsordnung der anderen Staatsangehörigkeit für unvereinbar mit dem Diskriminierungsverbot aus Art. 18 AEUV in Verbindung mit der Unionsbürgerschaft aus Art. 20 AEUV. Die Diskriminierung erkennt der EuGH kurioserweise in der Gleichbehandlung belgischer Kinder und belgisch-spanischer Kinder durch den belgischen Staat, indem dieser es beiden verwehrt, einen anderen als den Namen ihres Vaters zu führen.461 Bei belgischen Kindern und belgisch-spanischen Kindern handelt es sich aber um ungleiche Sachverhalte: „Im Gegensatz zu den Personen, die allein die belgische Staatsangehörigkeit besitzen, führen diejenigen belgischen Staatsangehörigen, die daneben noch die spanische Staatsangehörigkeit haben, nach den beiden betreffenden Rechtssystemen unterschiedliche Familiennamen.“462 Die für die Annahme einer Diskriminierung notwendige
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Zitiert nach EuGH, Rs. C-148/02, Garcia Avello, Slg. 2003, I-11613 Rn. 8. Vgl. Adam/Perona Feu, in: Rieck, Ausländisches Familienrecht, Spanien, Rn. 45. 460 Zitiert nach EuGH, Rs. C-148/02, Garcia Avello, Slg. 2003, I-11613 Rn. 18. 461 EuGH, Rs. C-148/02, Garcia Avello, Slg. 2003, I-11613 Rn. 31 f. 462 EuGH, Rs. C-148/02, Garcia Avello, Slg. 2003, I-11613 Rn. 35. 459
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Benachteiligung von Doppelstaatsangehörigen erkennt der EuGH in „schwerwiegenden Nachteilen beruflicher wie auch privater Art“, die daraus entstehen können, dass Urkunden und Schriftstücke, die auf einen Namen ausgestellt sind, der gemäß der Rechtsordnung des Mitgliedstaats der einen Staatsangehörigkeit gebildet wurde in dem Mitgliedstaat der anderen Staatsangehörigkeit nicht anerkannt werden.463 Auf derartige Schwierigkeiten stoßen belgische Staatsangehörige ohne weitere Staatsangehörigkeit nicht. Die von Belgien vorgetragenen Rechtfertigungsgründe überzeugen den EuGH nicht. Die aus dem belgischen Recht fließende Unveränderlichkeit von Familiennamen soll der Gefahr von Verwechslungen hinsichtlich der Identität und Abstammung einer Person vorbeugen. Allerdings lässt das belgische Recht selbst durch die Möglichkeit der Namensänderung eine Durchbrechung dieser Unveränderlichkeit zu. Dadurch wird die Erforderlichkeit einer grundsätzlichen Verweigerung der Namensänderung bei Doppelstaatsangehörigen von Belgien selbst infrage gestellt. Hinzu tritt, dass aufgrund der steigenden grenzüberschreitenden Mobilität innerhalb Europas der Nachname als Identifizierungsmerkmal für eine Abstammung ohnehin an Bedeutung verliert. Zudem lässt sich anhand des nach spanischem Recht zusammengesetzten Namens sogar der doppelte Bezug zu Vater und Mutter herstellen. Somit scheitert die Rechtfertigung an der Geeignetheit des Namensrechts, das Ziel der Abwendung einer Verwechselungsgefahr zu erreichen, und an der Erforderlichkeit der Unveränderlichkeit.464 Damit die festgestellte Diskriminierung jedoch einen Unionsrechtsverstoß begründen kann, muss die Diskriminierung innerhalb des Anwendungsbereichs der Verträge stattgefunden haben. Für den EuGH eröffnet die Unionsbürgerschaft in Art. 20 AEUV den Anwendungsbereich der Verträge. Zwar bezweckt die Unionsbürgerschaft nicht, „den sachlichen Anwendungsbereich des Vertrages auf interne Sachverhalte auszudehnen, die keinerlei Bezug zum Gemeinschaftsrecht aufweisen.“465 Jedoch reicht es aus, dass Unionsbürger „Angehörige eines Mitgliedstaats sind und sich rechtmäßig im Hoheitsgebiet eines anderen Mitgliedstaats aufhalten.“466 Diese Voraussetzung sei bei doppelstaatsangehörigen Kindern gegeben, ohne dass zusätzlich auf die Freizügigkeitsausübung des Vaters abgestellt werden müsste,467 selbst wenn diese die aus der Unionsbürgerschaft fließende Freizügigkeit (Art. 21 AEUV) noch nicht ausgeübt haben.
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EuGH, Rs. C-148/02, Garcia Avello, Slg. 2003, I-11613 Rn. 36 mit Verweis GA Jacobs, SchlA Rs. C-148/02, Garcia Avello, Slg. 2003, I-11613 Nr. 56. 464 EuGH, Rs. C-148/02, Garcia Avello, Slg. 2003, I-11613 Rn. 42. 465 EuGH, Rs. C-148/02, Garcia Avello, Slg. 2003, I-11613 Rn. 26. 466 EuGH, Rs. C-148/02, Garcia Avello, Slg. 2003, I-11613 Rn. 27. 467 Darauf stellte jedoch GA Jacobs, SchlA Rs. C-148/02, Garcia Avello, Slg. 2003, I-11613 Nr. 50 ab.
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b) Bewertung Ausgangspunkt der kollisionsrechtlichen Bewertung des Urteils468 ist zunächst die Feststellung, dass es eigentlich keinen kollisionsrechtlichen Streitgegenstand hatte. Mit dem Unionsrecht unvereinbar ist die Verweigerung einer öffentlich-rechtlichen Namensänderung. Dementsprechend setzte Belgien das Urteil auch durch ein ministerielles Rundschreiben um, wonach die Standesbeamten angewiesen wurden, bei Doppelstaatsangehörigen, die die Änderung ihres Namens in einen solchen beantragen, den sie nach dem Recht und der Tradition des anderen Mitgliedstaates tragen, eine Namensänderung zu gewähren.469 Der ein Jahr nach dem Urteil erlassene belgische „Code de droit international privé“470 knüpft weiterhin das anwendbare Namensrecht an die Staatsangehörigkeit an (Art. 37) und räumt im Falle einer doppelten oder mehrfachen Staatsangehörigkeit der belgischen den Vorrang ein, sofern diese eine der Staatsangehörigkeiten ist (Art. 3 Abs. 2 Nr. 1). Hieraus wird zweierlei deutlich: Die belgische Umsetzung bestätigt zum einen die bereits zuvor getroffene Aussage,471 dass eine ausschließlich kollisionsrechtliche Umsetzung eines EuGH-Urteils nur bei einer spezifisch kollisionsrechtlichen Diskriminierung und Beschränkung zwingend erforderlich ist. Andernfalls kann auch eine sachrechtliche Lösung gefunden werden, sofern diese einen unionsrechtskonformen Rechtszustand herstellt. Im vorliegenden Fall liegt die Benachteiligung der Kinder darin, dass das belgische Sachrecht einen Nachnamen für die Kinder nicht vorsieht, der sich aus den jeweils ersten Familiennamen der beiden Elternteile zusammensetzt. Sähe das belgische Sachrecht eine solche Möglichkeit vor, wäre auch die Anknüpfung an die belgische Staatsangehörigkeit durch das belgische Namenskollisionsrecht unproblematisch gewesen. Zum anderen entspricht die belgische Lösung faktisch einer Rechtswahlfreiheit zwischen den Namensrechtsordnungen, zu denen eine rechtliche Verbindung qua Staatsangehörigkeit besteht.472 Praktisch erhalten 468
Zur unionsrechtlichen Bewertung des Urteils siehe oben S. 120 ff. Circulaire relative aux aspects de la loi du 16 juillet 2004 portant le Code de droit international privé concernant le statut personnel, Moniteur belge vom 28. 9. 2004: „La jurisprudence ‚Garcia Avello‘ sera applicable en cas de changement volontaire de nom d’une personne qui aurait à la fois la nationalité belge et la nationalité d’un autre Etat membre de l’Union européenne, la personne concernée y trouvant le droit d'obtenir, par changement de nom administratif, le nom dont elle serait titulaire en vertu du droit et de la tradition du second Etat membre.“ 470 Loi du 16 juillet 2004 portant le Code de droit international privé, Moniteur belge vom 27.Juli 2004. 471 Siehe oben S. 296 ff. 472 Vgl. De Groot, 11 MJ (2004), 115, 117 ff.; Mansel, RabelsZ 70 (2006), 651, 692 f.; W.-H. Roth, IPRax 2006, 338, 344; Wollenschläger, Grundfreiheit ohne Markt, S. 250; Bogdan, in: Meeusen/Pertegás/Straetmans/Swennen, International Family Law for the European Union, S. 303, 313 f. 469
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4. Kapitel: Einwirkungen des Primärrechts in das autonome IPR
doppelstaatsangehörige Kinder mit belgischem Pass den Nachnamen ihres Vaters aufgrund des von der vorrangigen belgischen Staatsangehörigkeitsanknüpfung berufenen belgischen Namensrechts. Hiervon kann nunmehr auf Antrag des Betroffenen abgewichen werden, wenn dieser einen „nach dem Recht und der Tradition des anderen Mitgliedstaates“ bestimmten Nachnamen führen möchte, der von dem nach belgischem Recht bestimmten Namen abweicht. Die einzige Vorrausetzung, die das ministerielle Rundschreiben aufstellt, ist die Namensbildung „nach dem Recht und der Tradition des anderen Mitgliedstaates“. Verlangt wird mithin ein nach den Vorschriften der Sachrechtsordnung des Mitgliedstaats der anderen Staatsangehörigkeit des Namensführenden begründeter Name. Weitere Voraussetzungen wie etwa eine bestehende Registrierung des Namens in dem anderen Mitgliedstaat werden nicht verlangt.473 Kollisionsrechtlich gewendet bedeutet die belgische Lösung nichts anderes als die Aufgabe der ausnahmslosen Bevorzugung der eigenen Staatsangehörigkeit zur Bestimmung des auf die Namensführung anwendbaren Rechts bei Doppel- und Mehrfachstaatern. Denn eine Anwendung belgischen Sachrechts auf die Namensführung von Doppel- und Mehrfachstaatern ohne Abweichungsmöglichkeit zu Gunsten der Namensrechte der anderen Staatsangehörigkeiten ist nach dem EuGH mit dem Unionsrecht nicht zu vereinbaren. Ausgangspunkt und Grundlage hierfür ist die Gleichrangigkeit sämtlicher EUStaatsangehörigkeiten.474 Dies wird deutlich bei der Vergleichsgruppenbildung zur Feststellung einer Diskriminierung nach Art. 18 AEUV. Für den EuGH sind belgische Staatsangehörige und belgisch-spanische Staatsangehörige unterschiedliche Sachverhalte, die nicht gleichbehandelt werden dürfen.475 Zu diesem Ergebnis kommt man nur, wenn lediglich die weitere Staatsangehörigkeit die Unterschiedlichkeit der Sachverhalte ausmacht. Dies verlangt aber eine Gleichrangigkeit der zusätzlichen Staatsangehörigkeit mit der belgischen Staatsangehörigkeit. Das Argument wird durch folgende Parallelüberlegung deutlicher: Eine Vergleichbarkeit der Sachverhalte mit der Folge der unionsrechtlichen Zulässigkeit der Gleichbehandlung beider Sachverhalte hätte man nämlich entgegen dem EuGH annehmen können, wenn man darauf abstellen würde, dass sowohl die belgische als auch die belgisch-spanische Personengruppe ihren gewöhnlichen Aufenthalt in Belgien hat.476 Der gewöhnliche Aufenthalt führt jedoch zu einem Vorrang derjenigen Staatsangehörigkeit, in dessen Mitgliedstaat der gewöhnliche Aufenthalt liegt. Dies war aber durch die 473 Ob die Möglichkeit einer nachträglichen öffentlich-rechtlichen Namensänderung ausreicht, um einen Einklang mit dem Unionsrecht herzustellen, kann vor dem Hintergrund der mit dem behördlichen Verfahren verbundenen Kosten bezweifelt werden, vgl. De Groot, 11 MJ (2004), 115, 117; Verlinden, 11 Colum. J. Eur. L. (2004/2005), 705, 715; Kruger/Verhellen, 7 J. Priv. Int. L. (2011), 601, 624. 474 Vgl. Kruger/Verhellen, 7 J. Priv. Int. L. (2011), 601, 609 ff. 475 EuGH, Rs. C-148/02, Garcia Avello, Slg. 2003, I-11613 Rn. 34 f. 476 Hierauf stellt etwa Lagarde, RCDIP 2004, 192, 198 f. ab.
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Vergleichsgruppenbildung des EuGH unter Ausblendung des gewöhnlichen Aufenthalts gerade nicht gewollt. Die Gleichrangigkeit der Staatsangehörigkeiten entspricht zudem der früheren Rechtsprechung des EuGH. In der Rechtssache „Micheletti“477 entschied der EuGH, dass ein Mitgliedstaat die Inanspruchnahme von EU-Freizügigkeitsrechten bei einem Doppelstaatsangehörigen mit einer Staatsangehörigkeit eines EU-Mitgliedstaats und eines Drittstaats nicht davon abhängig machen darf, dass dieser Doppelstaatsangehörige seinen gewöhnlichen Aufenthalt in der EU hat (im streitgegenständlichen Sachverhalt zog der Doppelstaatsangehörige nämlich aus Südamerika nach Spanien). Dabei berief sich der spanische Staat auf die Vorschrift des spanischen Kollisionsrechts, wonach bei einer doppelten oder mehrfachen Staatsangehörigkeit derjenigen Staatsangehörigkeit der Vorrang zukommt, die dem gewöhnlichen Aufenthalt der Person vor der Einreise nach Spanien entspricht. Vor diesem Hintergrund wird auch deutlich, dass es nicht weiter relevant ist, ob bei einer doppelten oder mehrfachen Staatsangehörigkeit auf die des Forumsstaates (Art. 5 Abs. 1 S. 2 EGBGB) oder die des gewöhnlichen Aufenthalts (Art. 5 Abs. 1 S. 1 EGBGB) abgestellt wird.478 Beinhaltet die Rechtsordnung des Forumsstaates keinen diskriminierungs- und behinderungsfreien Mechanismus, der es dem Betroffenen ermöglicht, entgegen dem von der Forumsrechtsordnung gebildeten Namen den nach der Rechtsordnung seiner anderen Staatsangehörigkeit gebildeten Namen zu führen, dann begründet dies, wenn der Betroffenen den anderen Namen zu führen wünscht, eine Behinderung der Unionsbürgerfreizügigkeit.479 Kernelement der vom Forumsstaat zu schaffenden Abweichungsmöglichkeit ist die Verwirklichung des Willens des Betroffenen, eine andere Namensrechtsordnung zur Anwendung zu bringen, als es die objektive Anknüpfung der lex fori verlangt.480 Dies kann im Wege einer korrektiven Möglichkeit wie im belgischen Sachrecht oder im Wege einer präventiven Möglichkeit durch Einräumung einer kollisionsrechtlichen Rechtswahl erfolgen. c) Geringe Auswirkungen auf das deutsche Namenskollisionsrecht Zwar kennt Art. 5 Abs. 1 EGBGB sowohl den Vorrang der deutschen (S. 2) als auch den Vorrang der effektiven Staatsangehörigkeit (S. 1) bei doppelten oder
477
Vgl. EuGH, Rs. C-369/90, Micheletti, Slg. 1992, I-4239 Rn. 10. So aber zu Art. 5 Abs. 1 EGBGB: BGH, NJW 2014, 1383 (Rn. 14). Kritisch dazu BeckOK-BGB/Lorenz, Art. 5 EGBGB Rn. 8.; MünchKommBGB (2010)/Sonnenberger, Einl. IPR Rn. 162; Mansel, RabelsZ 70 (2006), 651, 692. 479 Zur Bestimmung der effektiven Staatsangehörigkeit nach Art. 5 Abs. 1 S. 2 EGBGB, vgl. von Hoffmann/Thorn, IPR, § 7 Rn. 12–13; im Allgemeinen, vgl. Funken, Anerkennungsprinzip, S. 149 ff. m.w.N. 480 Mansel, RabelsZ 70 (2006), 651, 692 f.; Funken, Anerkennungsprinzip, S. 150. 478
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4. Kapitel: Einwirkungen des Primärrechts in das autonome IPR
mehrfachen Staatsangehörigkeiten.481 Jedoch durchbrechen Art. 10 Abs. 2 und Abs. 3 EGBGB dies und schaffen eine Rechtswahlmöglichkeit des Betroffenen zwischen den möglichen Heimatrechtsordnungen beim Namenswechsel aufgrund Eheschließung (und durch Verweis von Art. 17b Abs. 2 EGBGB aufgrund Abschlusses einer eingetragenen Lebenspartnerschaft) sowie bei der Familiennamensbestimmung des Kindes. Zwei Sonderkonstellationen wären von Art. 10 Abs. 3 EGBGB jedoch nicht erfasst.482 Zum einen können sich volljährige Kinder nicht mehr auf Art. 10 Abs. 3 EGBGB berufen. Zum anderen umfasst Art. 10 Abs. 3 EGBGB als wählbare Rechtsordnungen nur die Heimatrechtsordnungen der Eltern. Ist das Kind aber im Hoheitsgebiet eines Mitgliedstaates zur Welt gekommen, der dem „ius soli“ folgt, so erhält es eine von den elterlichen Staatsangehörigkeiten unabhängige Staatsangehörigkeit, die nicht wählbar wäre. Außerhalb von Art. 10 Abs. 2 und Abs. 3 EGBGB sind die in der Praxis eher selten vorkommenden Fälle einer privaten Namensänderung, wie sie nach englischem oder US-amerikanischem Recht möglich ist,483 sowie die Fälle der Vornamensänderung484 von Art. 10 Abs. 1 EGBGB und damit von der Problematik des Vorrangs der effektiven Staatsangehörigkeit in Art. 5 Abs. 1 EGBGB erfasst. Wenig überraschend ist es daher, dass vor dem Hintergrund der Grundsätze, die den EuGH in der Entscheidung „Garcia Avello“ leiteten, dieser – vorbehaltlich einer Rechtfertigung aus Gründen der öffentlichen Ordnung – die Verwehrung der Anpassung des im deutschen Namensregister eingetragenen Namens eines britisch-deutschen Doppelstaatsangehörigen an dessen in einer englischen „deed poll“ veröffentlichten Namen Peter Mark Emanuel Graf von Wolffersdorff Freiherr von Bogendorff als grundsätzlich unionsrechtswidrig einstufte.485 Während das deutsche Namensstatut eine derartige private Namensänderung nicht kennt, erlaubt das alternative englische Namensstatut eine solche Änderung.
481 482
Siehe auch oben S. 392. Vgl. dazu Funken, Anerkennungsprinzip, S. 152; Mörsdorf-Schulte, IPRax 2004, 315,
316. 483
MünchKommBGB/Lipp, Art. 10 EGBGB Rn. 72 f. Bei der Vornamensgebung des Kindes sprechen jedoch gute Gründe für eine analoge Anwendung von Art. 10 Abs. 3 EGBGB und deren Rechtswahlmöglichkeiten, vgl. MünchKommBGB/Lipp, Art. 10 EGBGB Rn. 59. Dagegen Staudinger/Hepting/Hausmann, Art. 10 EGBGB Rn. 464. 485 EuGH, Rs. C-438/14, Bogendorff von Wolffersdorff, EU:C:2016:401. Es ist allerdings anzumerken, dass die Anwendung des deutschen Namensstatuts in dieser Rechtssache nicht streitig war und der Antragsteller nicht die kollisionsrechtliche Bestimmung englischen Rechts begehrte. Er versuchte vielmehr über Art. 48 EGBGB eine Anerkennung seines nach englischem Recht geänderten Namens zu erreichen. Siehe dazu unten S. 451 ff. 484
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Da jedoch das deutsche Sachrecht das öffentlich-rechtliche Namenänderungsverfahren nach § 3 NamÄndG kennt, könnten die genannten Sonderkonstellationen durch eine korrektive Namensänderung aufgefangen werden. Daher scheint das deutsche Namensrecht nicht im Widerspruch zu dem Unionsrecht zu stehen, sofern dieses eine derartige nachlaufende korrektive Lösung akzeptiert.486 2. Grunkin-Paul487 Die soeben besprochene Rechtssache „Garcia Avello“ behandelte die Frage nach dem Umgang mit inhaltlich kollidierenden Namensrechtsordnungen, die bei einem Doppelstaatsangehörigen aufgrund der Staatsangehörigkeitsanknüpfung zugleich zur Anwendung berufen wurden. Ausgangspunkt war hier die Staatsangehörigkeitsanknüpfung der lex fori, die den Kollisionsfall auslöste. Der Kollisionsfall entstand durch die Berufung der forumeigenen Staatsangehörigkeit, da diese zugleich aufgrund des gewöhnlichen Aufenthalts des betroffenen Doppelstaatsangehörigen die effektive Staatsangehörigkeit war, was jedoch mit der Unionsbürgerschaft unvereinbar war. Offen ist damit die Frage, wie eine Kollision von inhaltlich unterschiedlichen Namensrechtsordnungen zu beurteilen ist, die aufgrund unterschiedlicher Anknüpfungsmomente zur Anwendung gelangen und deren Verhältnis zueinander von der nationalen Kollisionsrechtsordnung ungeregelt ist, weil sich aus der Sicht der nationalen Rechtsordnung die Unterschiedlichkeit der Namensrechtsordnungen nicht zu einer Kollision verdichtet. Diese Konstellation lag der Rechtssache „Grunkin-Paul“ zugrunde, der ein zulässigkeitsrechtliches „Vorspiel“ bezüglich der Vorlageberechtigung eines Amtsgerichts in seiner Funktion als Standesamt als Rechtssache „Standesamt Niebüll“488 vorausging. Streitgegenständlich war die Ablehnung des zuständigen deutschen Standesamts, den Geburtsnamen „Grunkin-Paul“ für das gemeinsame Kind von Dorothee Paul und Stefan Grunkin in das deutsche Familienbuch einzutragen. Diesen Namen erhielt das Kind in seinem Geburtsland Dänemark, wo es bei seiner ebenfalls in Dänemark wohnhaften Mutter lebte. Das dänische Namenskollisionsrecht knüpft an den Wohnsitz an (§ 24 NamG 2005),489 weshalb dänisches Namensrecht zur Anwendung gelangte. Nach dä-
486 Zur Unionsrechtskonformität des nachlaufenden öffentlich-rechtlichen Namensänderungsverfahrens siehe vertieft unten S. 449 ff. 487 EuGH, Rs. C-353/06, Grunkin-Paul, Slg. 2008, I-7639. 488 EuGH, Rs. C-96/04, Standesamt Niebüll, Slg. 2006, I-3561 mit über die Zulässigkeitsfrage hinausgehenden Schlussanträgen des GA Jacobs, SchlA Rs. C-96/04, Standesamt Niebüll, Slg. 2006, I-3561. 489 Vgl. Giesen, in: Bergmann/Ferid/Henrich, Internationales Ehe- und Kindschaftsrecht, Dänemark (2014), Rn. 33.
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nischem Namensrecht kann einem Kind ein Doppelname, der sich aus den jeweiligen Familiennamen der Elternteile zusammensetzt, als Geburtsname verliehen werden, so dass der Name „Grunkin-Paul“ sowohl in der dänischen Namensurkunde als auch in der dänischen Geburtsurkunde ausgestellt wurde. Der Antrag auf Eintragung des vom dänischen Recht verliehenen Geburtsnamens in das deutsche Familienbuch wurde gestellt, weil das Kind ausschließlich die deutsche Staatsangehörigkeit hatte, da beide Elternteile selbst ausschließlich deutsche Staatsangehörige waren. Das deutsche Standesamt wandte daher zur Bestimmung des Namensstatuts die Staatsangehörigkeitsanknüpfung des Art. 10 Abs. 1 EGBGB an, weshalb mit § 1617 BGB deutsches Sachrecht zur Anwendung gelangte. Nach § 1617 BGB ist die Bestimmung eines Doppelnamens als Geburtsname eines Kindes unzulässig, wenn die Eltern diesen Namen nicht als gemeinsamen Ehenamen führten oder keiner der Elternteile diesen Namen als seinen Familiennamen führte.490 Konsequenterweise lehnte das deutsche zuständige Standesamt die Eintragung eines nach deutschem Sachrecht unzulässigen Geburtsnamens ab. Daraufhin beantragten die Eltern nach § 45 PStG a.F. (= § 49 PStG n.F.) beim zuständigen AG Flensburg das Standesamt anzuweisen, den nach dänischem Recht gebildeten Geburtsnamen „Grunkin-Paul“ anzuerkennen und in das deutsche Familienbuch einzutragen. Das Amtsgericht wollte nunmehr vom EuGH wissen, ob die Staatsangehörigkeitsanknüpfung in Art. 10 Abs. 1 EGBGB, die zu der Anwendung des vom dänischen Namensrecht abweichenden deutschen Namensrecht führt, einen Verstoß gegen das Diskriminierungsverbot in Art. 18 AEUV oder die Unionsbürgerfreizügigkeit in Art. 21 AEUV begründet. a) Entscheidungsgründe des EuGH Der EuGH beantwortet die Vorlagefrage nicht, sondern formuliert sie dahingehend um, dass mit der Nichtanerkennung des nach dänischem Kollisionsund Sachrecht verliehenen Nachnamens durch die deutschen Behörden die konkrete Rechtsanwendung der vom deutschen Kollisions- und Sachrecht gebildeten Gesamtnorm in den Fokus gerückt und nicht abstrakt über die unionsrechtliche Vereinbarkeit der kollisionsrechtlichen Staatsangehörigkeitsanknüpfung geurteilt wird.491 Eine Diskriminierung aus Gründen der Staatsangehörigkeit lehnt der EuGH damit ab, dass „das Kind und seine Eltern nämlich nur die deutsche Staatsangehörigkeit besitzen und die deutsche Kollisionsnorm, die im Ausgangsverfahren in Frage steht, für die Erteilung des Nachnamens auf das deutsche Sachrecht zur Regelung der Namen verweist, [so] dass der Name dieses Kindes in Deutschland nach deutschem Recht bestimmt 490 Zu den Sonderkonstellationen, in denen auch nach deutschem Namensrecht ein Doppelname Ehename und damit Geburtsname werden kann, vgl. Repasi, in: Baldus/MüllerGraff, Europäisches Privatrecht in Vielfalt geeint, S. 35, 42 f.; Gaaz, StAZ 2006, 157, 161. 491 Kubicki, EuZW 2009, 366, 367.
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wird […].“492 Aus den unklaren Ausführungen geht nicht deutlich hervor, ob der EuGH die Diskriminierung ablehnt, weil er darin eine zulässige Inländerdiskriminierung erkennt oder weil er in der Nichtanerkennung des nach dänischem Kollisions- und Sachrecht gebildeten Nachnamens keine Ungleichbehandlung erkennt.493 Zur Staatsangehörigkeitsanknüpfung in Art. 10 Abs. 1 EGBGB nimmt er jedenfalls aufgrund der umformulierten Vorlagefrage keine Stellung.494 Der EuGH sieht allerdings in der Nichtanerkennung des nach dänischem Kollisions- und Sachrecht gebildeten Nachnamens eine Beschränkung des Rechts auf Freizügigkeit des Kindes in Art. 21 AEUV. Diese Beschränkung erkennt der EuGH in der „Verpflichtung, in dem Mitgliedstaat, dessen Staatsangehörigkeit der Betroffene besitzt, einen anderen Namen als den zu führen, der bereits im Geburts- und Wohnsitzmitgliedstaat erteilt und eingetragen wurde“.495 Dabei knüpft er an jene Benachteiligung an, die er in der unterschiedlichen Namensführung in der Rechtssache „Garcia Avello“ bereits erkannt hat, und führt aus, dass es „nicht darauf [ankommt], ob die Unterschiedlichkeit der Nachnamen aus der doppelten Staatsangehörigkeit der Betroffenen oder aus dem Umstand folgt, dass die Namensbestimmung im Geburts- und Wohnsitzstaat an den Wohnsitz geknüpft ist, während sie in dem Staat, dessen Staatsangehörigkeit die Betroffenen besitzen, an die Staatsangehörigkeit geknüpft ist.“496 Insbesondere das Auseinanderfallen von dem nach deutschem Kollisions- und Sachrecht gebildeten, im deutschen Reisepass eingetragenen Namen und dem im dänischen Geburtenregister und auf der dänischen Geburtsurkunde nach dänischem Kollisions- und Sachrecht gebildeten Namen begründet „schwerwiegende Nachteile“ für den Betroffenen, der aufgrund dieser Divergenz regelmäßig „Zweifel an [seiner] Identität und den Verdacht von Falschangaben ausräumen“ muss.497 Eine Rechtfertigung der Freizügigkeitsbeeinträchtigung gelingt nicht. Die vorgetragenen Rechtfertigungsgründe können bereits aufgrund der vom EuGH umformulierten Vorlagefrage nicht verfangen. Die Gewährleistung von Kontinuität und Stabilität der Namensführung wurde ursprünglich vorgetragen, um die Staatsangehörigkeitsanknüpfung zu rechtfertigen. Diese stand aber nach der Umformulierung der Vorlagefrage nicht mehr im Fokus des EuGH. Es ging vielmehr um die rechtliche Unmöglichkeit für einen deutschen Staatsangehörigen, in einem Sonderfall, wie er der Rechtssache „Grunkin-Paul“ zugrunde lag, die Führung eines Nachnamens durchzusetzen, der von dem durch das deutsche Kollisions- und Sachrecht gebildeten 492
EuGH, Rs. C-353/06, Grunkin-Paul, Slg. 2008, I-7639 Rn. 20. Vgl. Troge, Staatsangehörigkeitsprinzip, S. 142. 494 Martiny, DNotZ 2009, 449, 455. 495 EuGH, Rs. C-353/06, Grunkin-Paul, Slg. 2008, I-7639 Rn. 22. 496 EuGH, Rs. C-353/06, Grunkin-Paul, Slg. 2008, I-7639 Rn. 24. 497 EuGH, Rs. C-353/06, Grunkin-Paul, Slg. 2008, I-7639 Rn. 26, 29. 493
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Nachnamen abweicht.498 Der im Hinblick auf das deutsche Sachrecht, das die Führung von Doppelnamen untersagt, vorgetragene Rechtfertigungsgrund, überlange zusammengesetzte Familiennamen zu verhindern, scheitert an der mangelnden Kohärenz im deutschen Recht. Schließlich sieht das deutsche Namensrecht Fälle vor, in denen ein Doppelname Familienname werden kann. b) Bewertung: Gleichrangigkeit der Anknüpfungsmomente In der Rechtssache „Garcia Avello“ behandelte der EuGH die Konstellation, in der sich ein Doppelstaatsangehöriger gegenüber einer Rechtsordnung, die an die Staatsangehörigkeit anknüpft, auf die Berücksichtigung der anderen als der inländischen bzw. effektiven Staatsangehörigkeit zur Bestimmung des anwendbaren Rechts beruft. Der EuGH musste sich also in Bezug auf das Anknüpfungsmoment der Staatsangehörigkeit mit der Frage nach einer unionsrechtlich gebilligten Bevorzugung einer bestimmten Staatsangehörigkeit beschäftigen. Das macht deutlich, dass sich der EuGH nicht mit der Konkurrenz von Anknüpfungsmomenten auseinandersetzen und entscheiden musste, ob einem der Anknüpfungsmomente der Vorrang bei der Bestimmung einer anwendbaren Rechtsordnung zukommt. Deshalb lassen sich die Aussagen in der Rechtssache „Garcia Avello“ auch nicht auf eine Konstellation übertragen, in der sich ein ausländischer Unionsbürger mit einer Staatsangehörigkeit gegenüber einer Rechtsordnung, die an den gewöhnlichen Aufenthalt bzw. den Wohnsitz anknüpft, auf die Berücksichtigung der Rechtsordnung seiner Staatsangehörigkeit beruft.499 Die Frage nach der Konkurrenz von Anknüpfungsmomenten stellte sich in der Rechtssache „Grunkin-Paul“, in der sich ein inländischer Unionsbürger ohne weitere Staatsangehörigkeit gegenüber dem Staat, dem angehört, auf die Rechtsordnung seines bisherigen gewöhnlichen Aufenthalts bzw. Wohnsitzes beruft. Die Konstellation, in der das Sachrecht, das durch eine unwandelbare Anknüpfung bestimmt wurde, mit dem Sachrecht, das durch eine wandelbare Anknüpfung bestimmt wurde, kollidiert, ist dem Unionsrecht nicht unbekannt. Im Internationalen Gesellschaftsrecht kennt man die Kollision von Gründungstheorie, einer unwandelbaren Anknüpfung, und Sitztheorie, einer wandelbaren Anknüpfung. Der EuGH hat seine Rechtsprechung in Bezug auf das Gesellschaftskollisionsrecht dabei auf der Grundlage der Gleichrangigkeit der Anknüpfungsmomente aufgebaut, die er Art. 54 Abs. 1 AEUV entnehmen konnte. Eine vergleichbare Primärrechtsnorm gibt es für das Namenskollisionsrecht
498 499
Vgl. Kubicki, EuZW 2009, 366, 368. So jedoch Mörsdorf-Schulte, IPRax 2004, 315, 318; Helms, GPR 2005, 36, 38.
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nicht. Die Generalanwältin hat aber in ihren Schlussanträgen in der Rechtssache „Grunkin-Paul“ die Gleichrangigkeit der Anknüpfungsmomente500 zur Grundlage ihrer eigenen Prüfung erhoben: „Daher ist die Frage gerechtfertigt, ob nicht der Grundsatz der Gleichbehandlung verlangt, dass dem im dänischen Recht verwendeten Kriterium des gewöhnlichen Aufenthalts und dem im deutschen Recht verwendeten Kriterium der Staatsangehörigkeit gleiches Gewicht beigemessen wird. Meines Erachtens ist diese Frage zu bejahen. Andernfalls würde man Stellung dazu beziehen, welches Kriterium ‚besser‘ ist und größeres Gewicht erhalten sollte. Das ist eine Aufgabe, die, wenn überhaupt, vom Gemeinschaftsgesetzgeber und nicht vom Gerichtshof zu erfüllen ist. Solange es keine einheitliche Regel gibt, ist es Sache der Mitgliedstaaten, zu entscheiden, welchen Anknüpfungspunkt sie verwenden wollen, um das auf Personennamen anwendbare Recht zu bestimmen, sofern sie bei der Ausübung dieser Zuständigkeit im Einklang mit dem Gemeinschaftsrecht handeln.“501
Überträgt man nun die Erkenntnisse aus der Rechtsprechung des EuGH zur Freizügigkeit rechtlich konfigurierter Marktakteure auf das Namensrecht, so ergäbe sich auf der Grundlage der Gleichrangigkeit der Anknüpfungsmomente die folgende Lösung: Die Zuzugsrechtsordnung darf die rechtlichen Wertungen der Rechtsordnung, die den Namen verliehen hat, nicht infrage stellen. Sie hat vielmehr den verliehenen Namen als solchen zu achten.502 Der „Achtung“ des unter dem Recht einer andern Rechtsordnung gegründeten rechtlich konfigurierten Marktakteurs entspricht die „Anerkennung“ des Namens, der von einer anderen Rechtsordnung verliehen wurde. Diese Lösung hat der EuGH in „Grunkin-Paul“ gewählt, wenn man berücksichtigt, dass er die Vorlagefrage auf die Nichtanerkennung des dänischen Namens durch das deutsche Standesamt umformulierte. Mithin postuliert das Urteil in der Rechtssache „GrunkinPaul“ die Gleichrangigkeit der Anknüpfungsmomente im Namenskollisionsrecht der Mitgliedstaaten und die hieraus folgende Pflicht, Namen einer Person, die nach einem Sachrecht gebildet wurden, das aufgrund abweichender Anknüpfungsmomente gebildet wurde, zu achten. c) Bedeutung der Achtungspflicht nach „Grunkin-Paul“ im deutschen Recht Um die Bedeutung der in der Rechtssache „Grunkin-Paul“ aufgestellten Achtungspflicht ermessen zu können, muss in einem ersten Schritt klargestellt werden, worüber der EuGH streitgegenständlich entschieden hat und wozu er sich nicht äußert. Der EuGH hat über eine Fallkonstellation entschieden, in der ein Unionsbürger von einer auf ihn kollisionsrechtlich anwendbaren Rechtsord-
500
Ebenso Wall, StAZ 2009, 261, 263; Staudinger/Hepting/Hausmann, Art. 10 EGBGB Rn. 519. 501 GA Sharpston, SchlA Rs. C-353/06, Grunkin-Paul, Slg. 2008, I-7639 Nr. 65 f. 502 Siehe zur Achtungspflicht im Kontext des Internationalen Gesellschaftsrechts oben S. 380 f.
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nung die Anerkennung eines Namens verlangt, der ihm zuvor von einer in einem anderen Mitgliedstaat auf ihn anwendbaren Rechtsordnung zuerkannt wurde. Es handelt sich dabei um die weiter oben gebildete Fallgruppe der Beschränkung durch Berufung von Sachnormen einer anderen Rechtsordnung als derjenigen des Herkunftsstaates.503 Er entschied nicht über die Fallkonstellation, in der derselbe Unionsbürger von der Rechtsordnung, die als erste auf seine Namensbildung kollisionsrechtlich anwendbar war, die Anerkennung des Namens verlangt, der ihm danach von einer in einem anderen Mitgliedstaat auf ihn anwendbaren Rechtsordnung zuerkannt wurde. Es ging also nur um das Verhältnis der (aus dem Blickwinkel der Geburt betrachteten) ersten anwendbaren Rechtsordnung zur zweiten anwendbaren Rechtsordnung, nicht jedoch um das umgekehrte Verhältnis. Inwieweit Schlussfolgerungen, die aus der Rechtssache „Grunkin-Paul“ für das eine Verhältnis folgen, auch auf das umgekehrte Verhältnis Anwendung finden, ist in einem zweiten Schritt näher zu betrachten.504 Im Folgenden soll nunmehr geklärt werden, wie das deutsche Recht zum Zeitpunkt der Verkündung des Urteils in der Rechtssache „Grunkin-Paul“ (14. Oktober 2012) de lege lata die Vorgaben der Unionsbürgerfreizügigkeit im nationalen Recht umsetzen konnte. Aus der Perspektive des deutschen Rechts verlangt der Unionsbürger die Kontinuität des ihm von einer anderen Rechtsordnung verliehenen Namens. Die Verweigerung der Namenskontinuität begründet die Beschränkung der Unionsbürgerfreizügigkeit. Im Hinblick auf die Fallgruppe der Beschränkung durch Berufung von Sachnormen einer anderen Rechtsordnung als derjenigen des Herkunftsstaates505 ist bereits ausgeführt worden, dass bei ihr nur dann von einer spezifisch kollisionsrechtlichen Beschränkung mit der Folge, dass die Unionsrechtskonformität nur auf der Ebene des Kollisionsrechts hergestellt werden kann, auszugehen ist, wenn die kollisionsrechtliche Verweisung auf ein anderes als das Herkunftssachrecht „in einem hohen Prozentsatz von Fällen und somit quasi ‚generell‘“506 eine Beschränkung begründet. Dies ist jedoch bei der europaweiten Heterogenität der Namensrechte und des Umgangs mit zusammengesetzten Doppelnamen in den unterschiedlichen Namensrechtsordnungen nicht anzunehmen. Somit handelt es sich bei der vorliegenden Beschränkung, die ihren Grund in der aus § 1617 Abs. 1 BGB folgenden Unmöglichkeit hat, einem Kind einen zusammengesetzten Geburtsnamen zu geben, der nicht zugleich ein Nachname eines der Elternteile ist, um eine sich in das Kollisionsrecht verlängernde sachrechtliche Beschränkung.507 503 Wohl gemerkt: des Herkunftsstaates der Rechtslage, nicht des Herkunftsstaates der betroffenen natürlichen Person; siehe oben S. 303 ff. 504 Siehe unten S. 428. 505 Siehe oben S. 303 ff. 506 Lurger, IPRax 2001, 346, 351. 507 Siehe dazu oben S. 312 ff.
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Mithin sind die Vorgaben der Unionsbürgerfreizügigkeit, die sich aus der Verweigerung der Namenskontinuität ergeben, sowohl auf der Ebene des Sachrechts als auch auf der Ebene des Kollisionsrechts zu berücksichtigen. Scheitert eine unionsrechtskonforme Auslegung und Fortbildung sowohl des Sachrechts als auch des Kollisionsrechts, greift der Anwendungsvorrang der Unionsbürgerfreizügigkeit gegenüber der Gesamtnorm, von der die Beschränkung ausgeht. Das kann dabei sowohl die Sachnorm als auch die Kollisionsnorm betreffen. Im Folgenden sind daher zunächst die unionsrechtskonforme Auslegung und Fortbildung des Sachrechts und anschließend des Kollisionsrechts zu untersuchen. aa) Vorab: Irrelevanz einer Namensregistrierung im deutschen Recht Das Vorliegen einer Geburtsurkunde und einer Namensurkunde, auf welcher der Name „Grunkin-Paul“ eingetragen war, ist irrelevant. Art. 10 Abs. 1 EGBGB beruft für den Geburtsnamen des deutschen Kindes deutsches Sachrecht. Nach § 1617 Abs. 1 BGB ist die Namensbestimmung durch die Eltern zwar amtsempfangsbedürftig (Willenserklärung gegenüber dem Standesamt). Jedoch ist die Eintragung in das Geburtenregister nach § 21 Abs. 1 Nr. 1 PStG nicht konstitutiv, sondern lediglich deklaratorisch.508 Somit kann auch der Eintragung in das dänische Geburtenregister zunächst keine Bedeutung für die Umsetzung der unionsrechtlichen Achtungspflicht ausländischer Namen zukommen. bb) Unmöglichkeit der Rechtsfortbildung von § 1617 BGB Die konkrete Behinderung in der Rechtssache „Grunkin-Paul“ ging davon aus, dass es das deutsche Sachrecht dem deutschen Standesamt verwehrte, den nach dänischem Recht gebildeten Namen „Grunkin-Paul“ als Geburtsnamen des Kindes einzutragen. Nach § 1617 Abs. 1 BGB darf ein Kind nur entweder den Namen des Vaters oder der Mutter tragen, nicht jedoch einen aus beiden zusammengesetzten Namen. Die unmittelbar anwendbare Unionsbürgerfreizügigkeit aus Art. 21 AEUV verlangt aber als Rechtsanwendungsergebnis, dass der nach dänischem Recht rechtmäßig verliehene Doppelname von der deutschen Rechtsordnung geachtet wird. Eine unionsrechtskonforme Auslegung, die dazu führt, dass auf Grundlage von § 1617 Abs. 1 BGB auch ein zusammengesetzter Geburtsname möglich ist, scheitert bereits an dem eindeutigen Wortlaut der Norm, der darauf abstellt, dass durch Erklärung gegenüber dem Standesamt derjenige Name zu bestimmen ist, „den der Vater oder die Mutter zur Zeit der Erklärung führt“.509
508 509
MünchKommBGB/von Sachsen Gessaphe, § 1617 BGB Rn. 20. Ebenso OLG München, NJW-RR 2010, 660, 662; Kroll-Ludwigs, JZ 2009, 153, 154.
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4. Kapitel: Einwirkungen des Primärrechts in das autonome IPR
Da die deutsche Rechtsordnung keine entsprechende Sachnorm vorsieht, ist sie lückenhaft. Allerdings fehlt es an einer analogiefähigen Norm. Ein Doppelname entsteht nach deutschem Namensrecht nur, wenn bei der Eheschließung derjenige Ehegatte, der seinen Geburtsnamen zugunsten desjenigen des anderen Ehegatten aufgegeben hat, seinen Geburtsnamen dem neuen Ehenamen als so genannten „Begleitnamen“ anfügt (§ 1355 Abs. 4 BGB). Dann führt dieser Ehegatte zwar einen Doppelnamen, der andere Ehegatte jedoch nicht. Gemeinsame Kinder erhalten aber nur den einfachen Ehenamen als Geburtsnamen und nicht den Doppelnamen des anderen Ehegatten. Nach Verwitwung oder Scheidung kann der Ehegatte mit dem zusammengesetzten Namen diesen Doppelnamen nach § 1355 Abs. 5 S. 1 BGB weiterführen, der somit zum Namen dieses Ehegatten wird. Bekommt dieser geschiedene oder verwitwete Ehegatte nunmehr ein Kind, erhält dieses den Doppelnamen des geschiedenen oder verwitweten Ehegatten (§ 1617a Abs. 1 BGB). Alternativ kann der Doppelname des geschiedenen oder verwitweten Ehegatten bei dessen erneuter Heirat Ehename werden, weshalb er dann als Ehename auch der Geburtsname des Kindes werden kann (§ 1616 BGB). All diese Sonderkonstellationen bauen jedoch nicht auf einer Norm auf, die dem Kind einen zusammengesetzten Geburtsnamen ermöglicht. Mangels analogiefähiger Norm oder analogiefähigen Normenkomplexes ist eine gesetzesimmanente Rechtsfortbildung nicht möglich. Eine gesetzesübersteigende Rechtsfortbildung scheitert daran, dass das deutsche Kindesnamensrecht von dem Grundsatz durchzogen ist, dass sich der Geburtsname von einem Namen mindestens eines Elternteils ableiten lassen muss. Die Verleihung eines Geburtsnamen, der bei keinem der Elternteile vorkommt, kennt das deutsche Kindesnamensrecht nicht. Dies wäre jedoch der Fall, wenn das Kind einen aus den Namen der Elternteile zusammengesetzten Geburtsnamen erhält, den in dieser Form keines der Elternteile trägt. Das deutsche Kindesnamensrecht folgt dem Grundsatz der Namenseinheit in der Familie.510 Dies kommt dadurch zum Ausdruck, dass der Geburtsname des Kindes grundsätzlich der Ehename der Eltern ist (§ 1616 BGB). Sollten die Elternteile keinen gemeinsamen Ehenamen haben, dann darf der Geburtsname jedenfalls kein anderer als der Familienname eines der Elternteile sein. Es ist eine Entscheidung zwischen den beiden möglichen Familiennamen zu treffen. Diese richtet sich nach den konkreten Sorgerechtsverhältnissen. Bei originärer Alleinsorge eines Elternteils wird dessen Name der Geburtsname des Kindes (§ 1617a Abs. 1 BGB). Haben beide Elternteile das gemeinsame Sorgerecht, beispielsweise weil sie verheiratet sind, müssen die Eltern binnen Monatsfrist erklären, welcher der jeweiligen Nachnamen der Geburtsname des Kindes wird (§ 1617 BGB). Gelingt dies den Eltern nicht, so überträgt das Familiengericht einem Elternteil das Namensbestimmungsrecht und setzt eine Frist zur Na-
510
MünchKommBGB/von Sachsen Gessaphe, Vorbem §§ 1616 BGB ff. Rn. 7.
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mensbestimmung. Ist diese Frist fruchtlos abgelaufen, erhält das Kind den Namen des vom Gericht zur Namenswahl bestimmten Elternteils kraft Gesetzes. Mithin kennt das deutsche Kindesnamensrecht keinen Fall, in dem das Kind einen Geburtsnamen erhält, der in dieser Form nicht mindestens von einem Elternteil als Name geführt wird. Hinzu tritt, dass sich der deutsche Gesetzgeber bewusst gegen die Einführung von Doppelnamen entschieden hat.511 Er wollte unendliche Namensketten verhindern.512 Denn in der Tat wäre es in der nächsten Generation fraglich geworden, warum der Gesetzgeber die Zusammenführung der einfachen Geburtsnamen von Ehemann und Ehefrau erlaubt, aber die Zusammenführung von Doppelnamen des Ehemanns und der Ehefrau zu einem Vierfachnamen untersagt. Schließlich scheitert eine unionsrechtskonforme Rechtsfortbildung von § 1617 BGB an der „contra legem“-Grenze, wie sie im Verbund der Rechtsordnungen zu ziehen ist.513 Zwar lag zum Zeitpunkt des Urteils in der Rechtssache „Grunkin-Paul“ mangels Kenntnis der Auslegung des EuGH kein aktualisierter gesetzgeberischer Wille in Bezug auf die Achtung von im Ausland erteilten Doppelnamen deutscher Staatsangehöriger vor. Jedoch kann dem ausweislich der Materialien der letzten Familiennamensrechtsreform514 erkennbaren gesetzgeberischen Willen unterstellt werden, dass der deutsche Gesetzgeber selbst in positiver Kenntnis der Auslegung durch den EuGH auf Sachrechtsebene die Erteilung eines zusammengesetzten Doppelnamens als Kindsnamen weiterhin untersagen und sich damit in Widerspruch zu den Vorgaben des Unionsrechts, wie es der EuGH in „Grunkin-Paul“ auslegte, setzen würde. Das Verbot, einem Kind einen anderen Nachnamen zu geben als denjenigen eines Elternteils, gilt absolut. Die genannten Durchbrechungen sind lediglich die Folge der Möglichkeit für einen der Ehepartner, dessen bisherigen Familiennamen als Begleitnamen an den Ehenamen anzuschließen. Scheitert mithin auch eine unionsrechtskonforme Rechtsfortbildung des Sachrechts an der „contra legem“-Grenze, wie sie im Verbund der Rechtsordnungen zu ziehen ist, muss in Bezug auf die der Rechtssache „Grunkin-Paul“ zugrunde liegende Fallkonstellation eine Herstellung des unionsrechtskonformen Rechtszustandes auf der Ebene des Kollisionsrechts versucht werden. cc) Anderer Name als „wichtiger Grund“ im Namensänderungsverfahren Einer kollisionsrechtlichen Lösung könnte möglicherweise noch zuvorkommen, dass es eine beschränkungsfreie Möglichkeit gibt, vergleichbar dem Art. 39 des belgischen Code de droit international privé den nach deutschem 511
Das Verbot des Doppelnamens ist auch EMRK-konform, vgl. EGMR, Entscheidung v. 6.5.2008, Heidecker-Tiemann, Nr. 31745/02 (Unzulässigkeit der Beschwerde). 512 Vgl. BT-Drs. 12/5982, S. 17; bestätigt durch BVerfG, NJW 2002, 1256, 1258. 513 Zu den Voraussetzungen dieser „contra legem“-Grenze, siehe S. 66 ff. 514 BT-Drs. 12/5982, S. 17 f.
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4. Kapitel: Einwirkungen des Primärrechts in das autonome IPR
Recht gebildeten Namen durch den nach dänischem Recht gebildeten Namen zu ersetzen. Diese Möglichkeit sieht das deutsche Recht in dem öffentlichrechtlichen Namensänderungsverfahren nach dem NamÄndG vor.515 Um hiernach eine Namensänderung zu erreichen, muss gemäß § 3 Abs. 1 NamÄndG ein „wichtiger Grund“ für die Änderung vorliegen. In unionsrechtskonformer Auslegung soll ein solcher wichtiger Grund immer gegeben sein, wenn der inländische Unionsbürger eine Änderung seines vom deutschen Sachrecht verliehenen Namens in einen anderen, von einer EU-Rechtsordnung rechtmäßig verliehenen Namen begehrt. Die Rechtsgrundlage für die Erhebung der Gebühr, die für die Durchführung eines solchen Namensänderungsverfahrens eigentlich vorgesehen ist, ist aufgrund des Anwendungsvorrangs der Unionsbürgerfreizügigkeit unanwendbar, weshalb das Namensänderungsverfahren in diesen Fällen kostenfrei ist.516 Es war allerdings bereits im Nachgang zur belgischen Reaktion auf das Urteil in der Rechtssache „Garcia Avello“ streitig, ob ein nachlaufendes, lediglich korrigierendes Namensänderungsverfahren geeignet ist, dem Eingriff in das Freizügigkeitsrecht des Unionsbürgers seine beschränkende Qualität zu nehmen. dd) Unionsrechtskonforme Rechtsfortbildung von Art. 10 EGBGB Sollte ein nachlaufendes, lediglich korrigierendes Namensänderungsverfahren den Anforderungen der Unionsbürgerfreizügigkeit nicht gerecht werden, was an anderer Stelle diskutiert werden soll,517 muss in einer Sachverhaltskonstellation, wie sie der Rechtssache „Grunkin-Paul“ zugrunde lag, die Herstellung der Unionsrechtmäßigkeit auf der Ebene des Kollisionsrechts versucht werden, nachdem eine unionsrechtskonforme Fortbildung des materiellen Kindesnamensrechts gescheitert ist. Art. 10 EGBGB führt in dieser Sachverhaltskonstellation ausschließlich zur Anwendbarkeit deutschen Namenssachrechts. Dies folgt zum einen aus der Regelanknüpfung an die Staatsangehörigkeit des Kindes nach Art. 10 Abs. 1 EGBGB und zum anderen aus der fehlenden Rechtswahlmöglichkeit für die Eltern nach Art. 10 Abs. 3 EGBGB, die eine Abweichung von der Regelanknüpfung eröffnet, da beide Elternteile die deutsche Staatsangehörigkeit haben (Art. 10 Abs. 3 S. 1 Nr. 1 EGBGB) und eine Wahl des Aufenthaltsrechts nur möglich ist, wenn dies das deutsche Recht ist (Art. 10 Abs. 3 S. 1 Nr. 2 EGBGB). Mithin ist eine von der Regelanknüpfung abweichende Wahl des Auslandsaufenthaltsrechts eines der Elternteile, das zur Anwendung des dänischen Namensrechts in der Rechtssache „Grunkin-Paul“ 515
Dafür Kohler, in: FS Jayme I, S. 445, 455; Lipp, StAZ 2009, 1, 8; jurisPK-BGB/Janal, Art. 10 EGBGB Rn. 35 a.E. 516 jurisPK-BGB/Janal, Art. 10 EGBGB Rn. 35; Lipp, StAZ 2009, 1, 8; Benicke/Zimmermann, IPRax 1995, 141, 149 f. 517 Siehe unten S. 449 ff.
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geführt hätte, nicht von Art. 10 EGBGB vorgesehen. Dieses kollisionsrechtliche Ergebnis konfligiert mit den Vorgaben der Unionsbürgerfreizügigkeit, die der Nichtbeachtung des rechtmäßig nach dem dänischen Recht gebildeten Namens entgegensteht. Da eine unionsrechtskonforme Rechtsfortbildung des deutschen Namenssachrechts an der „contra legem“-Grenze scheitert, ist ein unionsrechtskonformes Ergebnis nur auf kollisionsrechtlicher Ebene erreichbar, indem das Auslandsrecht durch Anknüpfung an den gewöhnlichen Aufenthalt des Kindes oder eines der Elternteile zur Anwendung berufen wird. Eine entsprechende unionsrechtskonforme Auslegung von Art. 10 Abs. 1 EGBGB oder Art. 10 Abs. 3 S. 1 Nr. 2 EGBGB scheitert an dem insoweit eindeutigen Wortlaut. Somit schwenkt der Blick auf die Möglichkeit der unionsrechtskonformen Rechtsfortbildung von Art. 10 EGBGB. Die hierfür erforderliche Lücke entsteht im Verbund der Rechtsordnungen aus der Abweichung der nationalen Rechtsordnung von den unionalen Rechtspflichten.518 Vorliegend steht die Unionsbürgerfreizügigkeit aus Art. 21 Abs. 1 AEUV dem Zugangsverbot für Namen, die einem Unionsbürger im EU-Ausland erteilt wurden, entgegen. Dieses Zugangsverbot folgt aufgrund der Unmöglichkeit der unionsrechtskonformen Fortbildung des Sachrechts aus der kollisionsrechtlichen Berufung des deutschen Sachrechts, ohne dass der Unionsbürger von dieser Berufung durch Rechtswahl abweichen könnte. Das Namenskollisionsrecht ist mithin im Anwendungsbereich der Unionsbürgerfreizügigkeit lückenhaft. Der Annahme der aufgezeigten Lücke kann nicht entgegengehalten werden, es handele sich nicht um eine „planwidrige Unvollständigkeit des Gesetzes“.519 Zwar ist zutreffend, dass der deutsche Gesetzgeber sich bewusst für die Staatsangehörigkeitsanknüpfung entschieden und damit auch bewusst eine alternative Anknüpfung an den gewöhnlichen Aufenthalt abgelehnt hat. Der gewöhnliche Aufenthalt soll nur dann zum Tragen kommen, wenn er wie in Art. 10 Abs. 3 S. 1 Nr. 2 EGBGB zur Anwendung deutschen Sachrechts führt. Allerdings kommt es bei der Lückenfeststellung im Anwendungsbereich des Unionsrechts nicht mehr auf den Gesamtplan des nationalen Gesetzgebers an.520 Dies folgt bereits daraus, dass im Verbund der Rechtsordnungen, der das Einwirken des Unionsrechts auf die nationale Rechtsordnung kennzeichnet, ein (nationaler) Gesetzgeber nicht mehr über die Möglichkeit verfügt, seinen „Gesamtplan“ autonom umzusetzen. Dort, wo die Möglichkeit fehlt, den „Gesamtplan“ gesetzgeberisch umzusetzen, kann er auch nicht mehr das relevante Kriterium für die Lückenfeststellung sein.521 Stattdessen ist auf die Prinzipien der Kompatibilität der Rechtsordnungen und der loyalen Zusammenarbeit, die in Art. 4 EUV (für das Unionsrecht) und in Art. 23 Abs. 1 GG (für das deutsche 518
Siehe dazu oben S. 58 f. So Wall, IPRax 2010, 433, 435. 520 Ausführlich oben S. 70, 55 ff. 521 Siehe oben S. 56 ff. 519
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Recht) das Verhältnis der Unionsrechtsordnung und der mitgliedstaatlichen Rechtsordnungen untereinander kennzeichnen, abzustellen. Hieraus folgt, dass eine Lücke vorliegt, wo eine nationale Rechtsnorm im Verbund der Rechtsordnungen (im Anwendungsbereich des Unionsrechts) von einer Unionsrechtsnorm abweicht. Dies ist im Verhältnis von Art. 10 Abs. 1 und Art. 10 Abs. 3 S. 1 Nr. 2 EGBGB zu Art. 21 Abs. 1 AEUV, wie gezeigt, der Fall. Diese Lücke könnte nun geschlossen werden, indem man Art. 10 Abs. 3 S. 1 Nr. 2 EGBGB analog auf die Situation überträgt, in der ein Elternteil seinen gewöhnlichen Aufenthalt im Ausland hat, so dass eine Wahl des ausländischen Sachrechts eröffnet wird.522 Bei dieser Lösung würde es sich nicht um ein unzulässiges „contra legem“-Judizieren handeln.523 Um ein solches zu begründen, wird auf den Regelungszweck und den Gesamtplan des deutschen Gesetzgebers abgestellt, der in Art. 10 Abs. 3 EGBGB abweichend von der Regelanknüpfung an die Staatsangehörigkeit in Art. 10 Abs. 1 EGBGB lediglich eine Anpassung an die inländische Namensführung ermöglichen wollte, wo die Regelanknüpfung nicht zur Anwendung deutschen Rechts führt.524 Der Gesetzgeber wollte damit gerade nicht eine allseitige Kollisionsnorm schaffen, die die Wahl des Rechts des gewöhnlichen Aufenthaltsorts ermöglicht. Insoweit scheint der Gesetzgeber in Art. 10 Abs. 3 EGBGB eine eindeutige Entscheidung getroffen zu haben, wodurch die „contra legem“-Grenze für eine richterliche Rechtsfortbildung erreicht zu sein scheint, wenn man hierdurch die Wahl von ausländischem Aufenthaltsrecht eröffnen wollte. Allerdings ist die „contra legem“-Grenze bei der unionsrechtskonformen Rechtsfortbildung anders zu ziehen als nach der tradierten juristischen Methodenlehre im Hinblick auf die nationale Rechtsordnung.525 Bei der Ziehung der „contra legem“-Grenze im Anwendungsbereich des Unionsrechts kollidieren nämlich, anders als bei der Ziehung der „contra legem“-Grenze im rein nationalen Kontext, nicht nationale Judikative und nationale Legislative, sondern unionale Rechtspflichten und nationale Legislative. Dies führt dazu, dass sich der nationale Richter nur über den bewusst von der unionalen Rechtspflicht abweichenden nationalen gesetzgeberischen Willen, wie er im Wortsinn der nationalen Rechtsnorm zum Ausdruck kommt, nicht hinwegsetzen darf.526 Ein aktualisierter gesetzgeberischer Wille, der sich in Kenntnis der unionalen Rechtspflichten, wie sie sich aus der nunmehrigen Rechtsprechung zu Art. 21 Abs. 1 AEUV ergeben, dem Ausbau der Rechtswahlmöglichkeit in Art. 10 Abs. 3 S. 1 Nr. 2 EGBGB zu einer allseitigen Kollisionsnorm, die auch das 522
Dies schlägt auch Sturm, StAZ 2005, 253, 257; ders., EWS 2009, 237, 239; ders., StAZ 2010, 146, 147 f. vor; ebenso Mörsdorf-Schule, IPRax 2004, 315, 324. 523 So Kroll-Ludwigs, JZ 2009, 153, 154. 524 Staudinger/Hepting/Hausmann, Art. 10 EGBGB Rn. 373; NK-BGB/Mankowski, Art. 10 EGBGB Rn. 146. 525 Ausführlich oben S. 62 ff. 526 Siehe oben S. 66 f.
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ausländische Aufenthaltsrecht eines der Elternteile mitumfasst, entgegenstellt, ist nicht erkennbar. Die letzten Änderungen des Gesetzgebers in Art. 10 Abs. 3 EGBGB erfolgten mit dem KindRG vom 16.12.1997 und mit der Ersetzung des Wortes „Standesbeamten“ durch „Standesamt“ im PStRG vom 19.2.2007. In beiden Fällen brachte der Gesetzgeber keine, die unionsrechtlichen Rechtspflichten ausdrücklich zurückweisende Gesetzgebungsmotivation zum Ausdruck. Vielmehr ist dem Gesetzgeber zu unterstellen, dass er grundsätzlich unionsrechtskonform gesetzgeberisch tätig werden und somit in Kenntnis der Auslegung des EuGH eine Erweiterung der Rechtswahlmöglichkeiten in Betracht ziehen würde.527 Die Fiktion eines derartigen grundsätzlich unionsrechtskonformen gesetzgeberischen Willens kann jedoch widerlegt werden, wenn die Auslegung des EuGH keinerlei Einfluss auf die ursprüngliche Wertungsentscheidung des Gesetzgebers haben kann. Für die Annahme einer derartigen gesetzgeberischen Wertungsentscheidung in Bezug auf Art. 10 EGBGB spricht zunächst, dass der deutsche Kollisionsrechtsgeber sich ursprünglich bewusst für die Beschränkung der Rechtswahlmöglichkeiten auf das deutsche Aufenthaltsrecht unter Ausschluss des ausländischen Aufenthaltsrechts entschieden hat. Der Gesetzgeber wollte die Regelanknüpfung in Abs. 1 nur zur Ermöglichung einer Anpassung an das tatsächliche Lebensumfeld des Kindes durchbrechen.528 Hieraus lässt sich allerdings noch nicht schließen, dass der deutsche Kollisionsrechtsgeber in Kenntnis der Vorgaben des Unionsrechts, wonach das deutsche Recht einem Namen, der einem Unionsbürger im EU-Ausland erteilt wurde, den Zugang nicht verweigern darf, die Möglichkeit der Wahl des ausländischen Aufenthaltsrechts bewusst verweigern würde. Die Anpassung an das tatsächliche Lebensumfeld des Kindes folgt nämlich aus dem Kindeswohl, so dass die von Art. 10 Abs. 3 S. 1 Nr. 2 EGBGB vorgenommene Durchbrechung der Staatsangehörigkeitsanknüpfung in Abs. 1 der Verwirklichung des Kindeswohls von in Deutschland aufhältigen Kindern dient. Verbindet man diesen Gedanken mit der Tatsache, dass die vorliegend interessierenden Sachverhalte größtenteils in grenzüberschreitenden Familien entstehen, ergibt sich, dass das Kindeswohl gerade die Ausweitung auf andere als Aufenthaltsrechte als das deutsche verlangen kann. Ist ein Kind deutscher Staatsangehöriger nämlich im Ausland geboren und aufgewachsen, so hat sich seine Namensidentität mit dem nach dem ausländischen Aufenthaltsrecht gebildeten Namen entwickelt. Die von der Gegenansicht vorgetragenen praktischen Probleme529 führen nicht zu einem anderen Ergebnis. Zum einen treten vielen der genannten Prob-
527
Vgl. Mörsdorf-Schulte, IPRax 2004, 315, 324. Vgl. Staudinger/Hepting/Hausmann, Art. 10 EGBGB Rn. 373. 529 Staudinger/Hepting/Hoffmann, Art. 10 EGBGB Rn. 538; NK-BGB/Mankowski, Art. 10 EGBGB Rn. 174. 528
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leme realistischerweise nicht ein: Die Gefahr einer fehlenden Rechtswahlerklärung in Deutschland ist dadurch gebannt, dass mit dem Antrag auf Eintragung eines vom deutschen Recht abweichenden Nachnamens implizit eine Rechtswahlerklärung abgegeben wird. In den anderen Fällen hat der Betroffene kein Problem mit der hinkenden Namensführung ohne Rechtswahlerklärung bzw. bezweckt eine solche sogar, so dass sich die Folgefrage stellt, wie der Geburtsstaat mit der hinkenden Namensführung umgeht. Zum anderen ist in den vorliegend betreffenden Sachverhalten die Unterscheidung zwischen einer Rechtswahl vor und nach der Beurkundung der Geburt bezüglich der Rückwirkung der Rechtswahl aufzugeben.530 Es liegt nämlich in diesen Fällen keine deutsche Geburtsurkunde vor. Somit kann eine Rechtswahlerklärung vor den deutschen Behörden auch noch Jahre nach der Geburt des Kindes auf den Geburtszeitpunkt zurückwirken. Somit liegen keine Anhaltspunkte vor, die den Schluss auf das Vorliegen eines impliziten aktualisierten gesetzgeberischen Willens zulassen, wonach sich der deutsche Gesetzgeber auch in Kenntnis der Auslegung des EuGH einer Ausweitung der Rechtswahlmöglichkeiten des Art. 10 Abs. 3 S. 1 Nr. 2 EGBGB auf ausländische Aufenthaltsrechte verweigern würde.531 Art. 10 Abs. 3 S. 1 Nr. 2 EGBGB ist damit in unionsrechtskonformer Weise fortzubilden, so dass er lautet: „Der Inhaber der Sorge kann gegenüber dem Standesamt bestimmen, dass das Kind den Familiennamen erhalten soll […] 2. nach dem Recht des Staates, in dem ein Elternteil seinen gewöhnlichen Aufenthalt hat […].“532
ee) Anerkennungsprinzip Schließlich soll noch darauf eingegangen werden, ob die Achtungspflicht, die der EuGH in der Rechtssache „Grunkin-Paul“ aufgestellt hat, de lege lata durch das Anerkennungsprinzip im nationalen Kollisionsrecht umzusetzen ist. Das Anerkennungsprinzip, von dem hier die Rede ist, behandelt die Anerkennung von Rechtslagen – in Abgrenzung zur Anerkennung von Gerichtsentscheidungen – losgelöst von der Bestimmung des auf die Rechtslage anwendbaren Rechts aufgrund einer Verweisung durch das IPR der lex fori.533 Ungeachtet der Frage, ob den Grundfreiheiten oder der Unionsbürgerfreizügigkeit
530
Zu dieser Unterscheidung: Staudinger/Hepting/Hoffmann, Art. 10 EGBGB Rn. 378,
538. 531
Zu den gesetzgeberischen Maßnahmen im Anschluss an das Urteil in der Rechtssache „Grunkin-Paul“, siehe unten S. 451 ff. 532 So auch Sturm, StAZ 2010, 146, 147. 533 Vgl. Jayme/Kohler, IPRax 2001, 501, 502 f.; Henrich, IPRax 2005, 424, 424 f.; Lagarde, RabelsZ 68 (2004), 225, 231; Coester-Waltjen, IPRax 2006, 392, 392 f.; dies, FS
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ein derartiges Prinzip überhaupt entnommen werden kann, ist jedenfalls erst dann von einer Pflicht zur Einführung eines unionsrechtlich determinierten Anerkennungsprinzips zu sprechen, wenn den Anforderungen des Unionsrechts auf Grundlage des Verweisungsrechts des IPR der lex fori nicht mehr entsprochen werden kann. Anders gewendet ist der Unionsbürgerfreizügigkeit nur dann eine einzige Art der Umsetzung in nationales Recht zu entnehmen, wenn der Handlungsspielraum der Mitgliedstaaten auf Null reduziert ist und jede andere Umsetzung de lege lata den Unionsrechtsverstoß nicht aufheben könnte.534 Dies ist jedoch, wie gerade gezeigt, im Hinblick auf die der Rechtssache „Grunkin-Paul“ zugrunde liegende Sachverhaltskonstellation nicht der Fall. Eine unionsrechtskonforme Fortbildung von Art. 10 Abs. 3 S. 1 Nr. 2 EGBGB ist möglich. Zugegebenermaßen könnte man auf der Grundlage des Wortlauts des Tenors des Urteils, wonach die Unionsbürgerfreizügigkeit dem entgegensteht, „dass die Behörden eines Mitgliedstaats es unter Anwendung des nationalen Rechts ablehnen, den Nachnamen eines Kindes anzuerkennen,535 der in einem anderen Mitgliedstaat bestimmt und eingetragen wurde, in dem dieses Kind – das wie seine Eltern nur die Staatsangehörigkeit des erstgenannten Mitgliedstaats besitzt – geboren wurde und seitdem wohnt“, zu der Schlussfolgerung gelangen, der EuGH habe mit seinem Urteil die Einführung eines Anerkennungsprinzips verlangt. Zur näheren Erläuterung der Bedeutung dieses Wortlauts ist jedoch auf eine Parallele zur Rechtsprechung des EuGH im Gesellschaftsrecht abzustellen. Hier wurde auch diskutiert, ob der EuGH in der Rechtssache „Überseering“ ein Prinzip aufgestellt hat, wonach die Gesellschaft „als solche“ anzuerkennen sei. In seiner Urteilsbegründung in der Rechtssache „Überseering“ hat der EuGH es aber sprachlich noch vermieden, den Begriff der „Anerkennung“ zu verwenden. Stattdessen sprach er davon, dass die ausländische Gesellschaft „zu achten“ sei.536 Im Hinblick auf die EuGH-Rechtsprechung zum Gesellschaftsrecht ist deutlich geworden, dass damit nicht die Anerkennung der ausländischen rechtlichen Konfiguration als solche gemeint war. Vielmehr verlangen die Grundfreiheiten, dem ausländischen Marktakteur den Zugang zum inländischen Markt zu gewährleisten.537 Dabei ist der Statutenwechsel als solcher unproblematisch, solange er (anders als im deutschen Gesellschaftsrecht) nicht den Zugang versperrt.
Jayme, S. 121, 122; Funken, Anerkennungsprinzip, S. 50; Leifeld, Anerkennungsprinzip, S. 174 ff. 534 Kubicki, EuZW 2009, 366, 368. 535 „to recognise“ (in der englischen Urteilsfassung), „de reconnaître“ (in der französischen Urteilsfassung); Hervorhebung durch den Verfasser. 536 EuGH, Rs. C-208/00, Überseering, Slg. 2002, I-9919, Rn. 95: „to recognise“ (in der englischen Urteilsfassung), „de respecter“ (in der französischen Urteilsfassung). 537 Siehe oben S. 385 f.
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Schließlich spricht die folgende Überlegung, die sich durch eine Modifikation des streitgegenständlichen Sachverhalts ergibt, dafür, dass der EuGH mit dem Urteil in der Rechtssache „Grunkin-Paul“ der Unionsbürgerfreizügigkeit keine „Anerkennungspflicht“ entnommen hat. Während in der Rechtssache „Grunkin-Paul“ der Unionsbürger die Anerkennung eines Namens begehrte, der ihm zuvor von einer Rechtsordnung eines anderen Mitgliedstaates verliehen wurde („Grunkin-Paul“ anstelle von „Grunkin“ oder „Paul“), verlangt der Unionsbürger nunmehr von dem Mitgliedstaat, der das Geburtenregister führt, die Anerkennung eines Namens, der ihm zu einem späteren Zeitpunkt von einer anderen mitgliedstaatlichen Rechtsordnung zuerkannt wurde („Grunkin“ oder „Paul“ anstelle von „Grunkin-Paul“). Eine Anerkennungspflicht, die verlangt, dass eine bereits existierende Rechtslage immer automatisch anzuerkennen ist, würde dem Begehren des Unionsbürgers in dem modifizierten Sachverhalt entgegenstehen. Das auf die Namensbildung anwendbare Recht wäre hiernach dasjenige, das hierauf als erstes anwendbar war. Betrachtet man den modifizierten Sachverhalt jedoch aus der Sicht der Unionsbürgerfreizügigkeit, verbleibt es sowohl im Ausgangssachverhalt als auch im modifizierten Sachverhalt bei einem Hindernis für die grenzüberschreitende Wahrnehmung der Freizügigkeit aufgrund divergierender Registereinträge. Im Ausgangssachverhalt sollte dieses Hindernis durch die Eintragung des in der dänischen Geburtsurkunde genannten Namens in das deutsche Familienbuch aufgelöst werden. Im modifizierten Sachverhalt soll die dänische Geburtsurkunde an das deutsche Familienbuch angepasst werden. Vorbehaltlich einer einzelfallbedingten Rechtfertigung würde der EuGH mit denselben Erwägungen wie im Urteil in der Rechtssache „Grunkin-Paul“ auch beim modifizierten Sachverhalt zu dem Ergebnis kommen, dass die dänischen Behörden – angenommen, sie würden eine entsprechende Änderung zunächst aus Gründen des nationalen Rechts ablehnen – den zeitlich später verliehenen Nachnamen „anerkennen“ müssen, damit die Namensdivergenz vermieden wird. Hieraus wird deutlich, dass die Anerkennung des zeitlich vor dem Grenzübertritt verliehenen Nachnamens in der Rechtssache „Grunkin-Paul“ mehr den Besonderheiten des Sachverhalts geschuldet ist, als dass hieraus ein „Anerkennungsprinzip“ abgeleitet werden könnte. Vor diesem Hintergrund ist auch die „Anerkennungspflicht“ im Wortlaut des Tenors des Urteils in der Rechtssache „Grunkin-Paul“ zu verstehen. Die Mitgliedstaaten dürfen einer in einem anderen Mitgliedstaat entstandenen Zivilrechtslage den Zugang zum eigenen Hoheitsgebiet nicht versperren.538 Darin erschöpft sich die Bedeutung der Anerkennungspflicht in „Grunkin-Paul“, die
538
Funken, Anerkennungsprinzip, S. 162; Großerichter, FS Sonnenberger, S. 369, 380.
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aus diesem Grund auch, wie schon im Urteil des EuGH in der Rechtssache „Überseering“, besser mit „Achtungspflicht“ bezeichnet worden wäre.539 ff) Zusammenfassung Eine Umsetzung der Vorgaben des Urteils des EuGH in der Rechtssache „Grunkin-Paul“ kann de lege lata durch eine unionsrechtskonforme Rechtsfortbildung von Art. 10 Abs. 3 S. 1 Nr. 2 EGBGB dergestalt erfolgen, dass die von dieser Kollisionsnorm vorgesehenen Rechtswahlmöglichkeiten auf das Recht des Staates, in dem ein Elternteil seinen gewöhnlichen Aufenthalt hat, ausgeweitet werden. Diese Pflicht zur unionsrechtskonformen Rechtsfortbildung der Kollisionsnorm steht unter dem Vorbehalt, dass auch eine sachrechtliche Lösung auf Grundlage eines nachlaufenden korrektiven unionsrechtkonformen Namensänderungsverfahrens ein Ergebnis erzeugt, das den Einklang mit dem Unionsrecht wiederherstellt.540 Die Herstellung des unionsrechtskonformen Zustands auf der Ebene des Kollisionsrechts erfolgt zudem nur deshalb, weil die sachrechtliche Regelung in § 1617 BGB keine methodengerechte Möglichkeit eröffnet, einem Kind einen zusammengesetzten Geburtsnamen, der nicht dem Nachnamen eines der Elternteile entspricht, zu verleihen. Hieraus wird deutlich: De lege ferenda kann der Achtungspflicht nach „Grunkin-Paul“ auch durch Sachnormen entsprochen werden, die die Wahl eines Doppelnamens ermöglichen. Alternativ können Kollisionsnormen geschaffen werden, die die Wahl desjenigen Rechts ermöglichen, das den Doppelnamen verliehen hat. Das Urteil in der Rechtssache „Grunkin-Paul“ gibt selbst keinerlei Vorgaben, ob die Achtung des ausländischen Namens auf der Ebene des Sachrechts oder des Kollisionsrechts erfolgen muss. 3. Sayn-Wittgenstein541 In den Rechtssachen „Garcia Avello“ und „Grunkin-Paul“ entstanden die „schwerwiegenden Nachteile“, die die Beschränkung der Unionsbürgerfreizügigkeit begründeten, aus der Divergenz der Namensbildung in den unterschiedlichen Rechtsordnungen in der Form, wie sie ihren Niederschlag in den jeweiligen Registereinträgen gefunden hat. Somit liefen die Divergenzen in den Registern mit den Divergenzen in den jeweiligen Namensrechtsordnungen gleich. Nach dem deutschen Recht, das eine der beteiligten Rechtsordnungen in der Rechtssache „Grunkin-Paul“ war, hat die Registereintragung eine rein dekla-
539 Ebenso beurteilen das Anerkennungsprinzip in der Rechtssache „Grunkin-Paul“: Kroll-Ludwigs, JZ 2009, 153, 155; Kubicki, EuZW 2009, 366, 368 f. 540 Siehe dazu S. 449 f. 541 EuGH, Rs. C-208/09, Sayn-Wittgenstein, Slg. 2010, I-13693.
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ratorische Bedeutung, so dass eine Divergenz der Registereintragungen zunächst einmal irrelevant ist.542 Dennoch kann sich auf Grundlage beider Urteile der Eindruck aufdrängen, wonach die von der Rechtslage des einen Mitgliedstaats abweichende Registereintragung in dem anderen Mitgliedstaat den Grund für die „schwerwiegenden Nachteile“ bildete. Auf dieser Grundlage ist die Annahme eines Anerkennungsprinzips, wonach Rechtslagen, wie sie durch mitgliedstaatliche Akte „verbrieft“ wurden, von den Mitgliedstaaten anzuerkennen sind, naheliegend. Zwingend ist diese Schlussfolgerung jedoch nicht, da, wie gezeigt, nicht nur die Registereintragungen, sondern auch die Sachrechtsordnungen divergieren. Sollte auf Registereintragungen abzustellen sein, würden sich Folgefragen stellen, wie mit einer fehlerhaften Registereintragung umzugehen ist und ob die Mitgliedstaaten ein Prüfungsrecht im Hinblick auf die Rechtmäßigkeit der Eintragung haben, sowie, ob ohne divergierende Registereintragung im Umkehrschluss auch keine „schwerwiegenden Nachteile“ angenommen werden können. Eine Antwort auf diese Fragen schien in der Rechtssache „Sayn-Wittgenstein“ angelegt. Hierbei ging es um eine Berichtigung des österreichischen Geburtenbuchs im Jahr 2007, bei der der österreichischen Staatsangehörigen Ilonka Fürstin von Sayn-Wittgenstein das Adelsprädikat „Fürstin von“ auf Grundlage des österreichischen Adelsaufhebungsgesetzes gestrichen werden sollte. Der Name mit dem Adelsprädikat wurde von den österreichischen Behörden 15 Jahre zuvor im Jahr 1992 aufgrund einer Namensänderung als Geburtsname eingetragen. Auf der Grundlage dieses Registereintrags stellte Österreich Reisepässe und andere Dokumente auf den Namen „Fürstin von SaynWittgenstein“ aus. Die Namensänderung im Jahr 1992 erfolgte aufgrund der Adoption der Ilonka Havel, geb. Kerekes, durch Lothar Fürst von Sayn-Wittgenstein im Oktober 1991. Das Kreisgericht Worbis, das die Adoption gemäß §§ 1767, 1752 BGB aussprach, erließ wenige Monate nach der Adoption einen Ergänzungsbeschluss, in dem der Geburtsname „Fürstin von Sayn-Wittgenstein“ bestimmt wurde.543 Die Namensbestimmung folgt nach dem deutschen IPR, das vom Kreisgericht Worbis als Kollisionsrecht der lex fori anzuwenden war, dem Namensstatut und nicht dem Adoptionsstatut. Letzteres stellt nach Art. 22 S. 1 EGBGB auf das Recht der Staatsangehörigkeit des Annehmenden, vorliegend also auf das deutsche Sachrecht aufgrund der deutschen Staatsangehörigkeit des Lothar Fürst von Sayn-Wittgenstein, ab. Das Namensstatut stellt nach Art. 10 Abs. 1 EGBGB auf die Staatsangehörigkeit des Angenommenen, vorliegend also auf die österreichische Staatsangehörigkeit der Ilonka Havel, geb. Kerekes, ab, die sich durch die Adoption nicht geändert hatte. Das österreichische IPR würde die Verweisung annehmen (§ 13 Abs. 1 IPRG), so 542
Vgl. oben S. 419. Vgl. Ausführungen in österr. VwGH, Beschl. v. 18.5.2009, abgedruckt in StAZ 2009, 312. Die Ausführungen im Originalurteil des Kreisgerichts Worbis sind unbekannt. 543
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dass österreichisches Sachrecht zur Anwendung gelangen würde. Nach § 183 ABGB a.F. erhält das Wahlkind den Familiennamen des Annehmenden, so dass hiernach der Name „Fürst von Sayn-Wittgenstein“ der Geburtsname geworden wäre. Eine geschlechtsbedingte Namensanpassung ließ das zum streitgegenständlichen Zeitpunkt geltende österreichische Namensrecht nicht zu.544 Damit wäre zum Zeitpunkt der Namensänderung der Name „Fürst von SaynWittgenstein“ der zutreffende Geburtsname gewesen. Im Jahr 2003 entschied zudem der österreichische Verfassungsgerichtshof, dass das österreichische Adelsaufhebungsgesetz auf jede Form von Adelsprädikat anzuwenden ist und damit auch auf nach deutschem Recht zulässige Adelsprädikate, die im Wege der Adoption an österreichische Staatsangehörige weitergegeben werden.545 Nunmehr ist für die österreichische Staatsangehörige Ilonka nur noch der Name „Sayn-Wittgenstein“ ohne Adelsprädikate der rechtmäßige Geburtsname. Das Kreisgericht Worbis hat den Geburtsnamen somit in rechtsfehlerhafter Weise bestimmt. Zum streitgegenständlichen Zeitpunkt hätte er bereits „Fürst von Sayn-Wittgenstein“ lauten müssen; ab dem Jahr 2003 nur noch „SaynWittgenstein“. Unbekannt ist jedoch, ob das Kreisgericht Worbis fälschlicherweise das Adoptionsstatut für die Namensbestimmung heranzog oder ob es etwa rechtmäßigerweise die Rechtswahlbestimmung des Art. 10 Abs. 5, Abs. 6 EGBGB a.F. analog heranzog und in der Adoptionserklärung eine konkludente Wahl deutschen Rechts durch den Annehmenden für die Namensbestimmung erkannte.546 In letzterem Fall wäre, sofern man die analoge Anwendung von Art. 10 Ab. 5, Abs. 6 EGBGB auf die Namensbestimmung bei der Erwachsenadoption für zulässig hält,547 die Namensbestimmung des Kreisgerichts Worbis rechtmäßig gewesen. Hierauf ist aber vorliegend nicht im Detail einzugehen, da der EuGH seinem Urteil die Unterscheidung nach der Rechtmäßigkeit oder Rechtsfehlerhaftigkeit des Ergänzungsbeschlusses des Kreisgerichts Worbis nicht zugrunde legte.548 Er stellte lediglich auf „die Anerkennung des Nachnamens eines Angehörigen dieses Staates [Österreich] in allen seinen Bestandteilen [ab], wie er
544 Vgl. Mansel/Thorn/Wagner, IPRax 2010, 1, 5. Zu der Rechtssache, in der eine männliche „Prinzessin“ zum „Prinzen“ werden wollte, Faber, juridikum 2004, 59. 545 ÖsterrVerfGH, B 557/03, VfSlg 17.060. 546 Diese Erwägung trifft Wall, StAZ 2010, 225, 228 f. 547 Für die analoge Anwendung der Nachfolgervorschrift des Art. 10 Abs. 3 EGBGB auf die Erwachsenenadoption: Staudinger/Hepting/Hausmann, Art. 10 EGBGB Rn. 448; NKBGB/Benicke, Art. 22 EGBGB Rn. 29. 548 Anders und daher auch überzeugender GA Sharpston, SchlA Rs. C-208/09, Sayn-Wittgenstein, Slg. 2010, I-13693 Nr. 53 ff.
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in einem zweiten Mitgliedstaat, in dem dieser Staatsangehörige wohnt, bei seiner Adoption als Erwachsener durch einen Staatsangehörigen dieses zweiten Staates bestimmt wurde […].“549 a) Entscheidungsgründe des EuGH Der EuGH kam zu dem Ergebnis, dass die Berichtigung des Geburtenbuchs eine Beschränkung der Unionsbürgerfreizügigkeit darstellt, die jedoch aus Gründen der öffentlichen Ordnung gerechtfertigt ist. Einleitend verweist der EuGH auf Art. 8 EMRK und Art. 7 GRCh, wonach „der Name einer Person Teil ihrer Identität und ihres Privatlebens ist“, die menschen- und grundrechtlich in der EU geschützt sind. Der Name ist hiernach „Mittel der persönlichen Identifizierung und der Zuordnung zu einer Familie das Privat- und Familienleben dieser Person“.550 Anschließend grenzt er den streitgegenständlichen Sachverhalt von „Garcia Avello“ und „Grunkin-Paul“ ab, da „der Name der Beschwerdeführerin nur in einem Personenstandsbuch, nämlich dem österreichischen, eingetragen ist, […] so dass eine Änderung des Eintrags ihres Namens keinen Widerspruch zu Registern, die in einem anderen Mitgliedstaat geführt werden, oder zu amtlichen Dokumenten, die dort ausgestellt werden, auslösen wird.“551 Somit besteht keine Divergenz von Registereintragungen in unterschiedlichen Mitgliedstaaten wie in den Rechtssachen „Garcia Avello“ und „Grunkin-Paul“. Trotz der fehlenden Divergenz von Registereintragungen unterschiedlicher Mitgliedstaaten betrachtet der EuGH den Geburtsnamen in der Weise, wie er vom deutschen Sachrecht gebildet wird. Es sei nämlich zu berücksichtigen, „dass nach deutschem Recht die Worte ‚Fürstin von‘ nicht als Adelsbezeichnung, sondern als Bestandteil des im Wohnsitzstaat rechtmäßig erworbenen Namens gelten. Der Name Fürstin von Sayn-Wittgenstein ist in Deutschland folglich ein einziger, aus mehreren Bestandteilen zusammengesetzter Nachname.“552 In der Folge gleicht er den Namen, wie er nach deutschem Recht geführt werden kann, und den Namen, wie er nach österreichischem Recht geführt werden soll, miteinander ab: „Ebenso wie in der mit dem Urteil Grunkin und Paul abgeschlossenen Rechtssache sich der Name Grunkin-Paul von den Namen Grunkin und Paul unterschied, sind im Ausgangsverfahren die Namen Fürstin von Sayn-Wittgenstein und Sayn-Wittgenstein nicht identisch. Ein Unterschied zwischen zwei Namen, mit denen dieselbe Person bezeichnet wird,
549
EuGH, Rs. C-208/09, Sayn-Wittgenstein, Slg. 2010, I-13693 Rn. 36. EuGH, Rs. C-208/09, Sayn-Wittgenstein, Slg. 2010, I-13693 Rn. 52 mit Verweis auf EGMR. 22.2.1994, Burghartz/Schweiz, Nr. 16213/90, Rn. 24; EGMR, 25.11.1994, Stjerna/Finnland, Nr. 18131/91 Rn. 37. 551 EuGH, Rs. C-208/09, Sayn-Wittgenstein, Slg. 2010, I-13693 Rn. 60. 552 EuGH, Rs. C-208/09, Sayn-Wittgenstein, Slg. 2010, I-13693 Rn. 64 f. 550
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kann jedoch zu Missverständnissen und Nachteilen führen.“553 Die hieran anknüpfenden „schwerwiegenden Nachteile“, die zur Annahme einer Beschränkung der Freizügigkeit führen, erkennt der EuGH in der Notwendigkeit, als Folge der Berichtigung des Geburtenbuchs „alle förmlichen Spuren, die der Name Fürstin von Sayn-Wittgenstein im öffentlichen wie auch im privaten Bereich hinterlassen hat, ändern zu müssen, da sie in ihren offiziellen Ausweispapieren derzeit mit einem anderen Namen bezeichnet wird.“554 Der EuGH hielt allerdings die Berichtigung des Geburtenbuchs für gerechtfertigt. Dabei erkannte er das österreichische Adelsaufhebungsgesetz, das den Rechtsgrund für die Berichtigung bildete, als von dem zulässigen Rechtfertigungsgrund der „öffentlichen Ordnung“ erfasst an.555 Er sah in der Wahrung des Gleichheitsgrundsatzes, der in der Gleichbehandlung aller österreichischen Staatsangehörigen im Hinblick auf die Streichung von Adelsprädikaten ungeachtet ihrer rechtlichen Herkunft besteht, ein Ziel, das mit der Unionsrechtsordnung vereinbar ist. Bei der Verwirklichung der Wahrung des Gleichheitsgrundsatzes steht den Mitgliedstaaten ein Beurteilungsspielraum zur Verfügung, der sich unter anderem dadurch auszeichnet, dass insbesondere im Vergleich zu anderen Mitgliedstaaten restriktivere Schutzregelungen nicht alleine aufgrund des höheren Schutzniveaus oder der stärkeren Schutzintensität unverhältnismäßig sind. Bevor der EuGH seine eigentliche Verhältnismäßigkeitsprüfung vornimmt, stellt er noch fest, dass das hinter der Streichung von Adelsprädikaten stehende Ziel, die republikanische Staatsform, zudem Teil der nationalen Identität Österreichs ist, die zu achten die Union gemäß Art. 4 Abs. 2 EUV verpflichtet ist.556 Anschließend kommt er zu dem Ergebnis, dass die gleichmäßige Anwendung des Adelsaufhebungsgesetzes auf alle Namen österreichischer Staatsangehöriger „nicht unverhältnismäßig erscheint“ und „nicht zu erkennen“ sei, dass die Berichtigung des Geburtenbuchs der Klägerin „über das hinausgegangen [wäre], was zur Erreichung des […] verfolgten grundlegenden verfassungsrechtlichen Ziels erforderlich ist.“557 b) Bewertung: Schutz des Vertrauens auf den tatsächlich geführten Namen aa) Vertrauensschutz auf den unrichtigen Namen in inländischen Personenstandsregistern Vor der Bewertung des Urteils des EuGH in der Rechtssache „Sayn-Wittgenstein“ sollte man sich den zugrunde liegenden Sachverhalt nochmals in Erinnerung rufen. Die zuständigen österreichischen Behörden berichtigten das von 553
EuGH, Rs. C-208/09, Sayn-Wittgenstein, Slg. 2010, I-13693 Rn. 65 f. EuGH, Rs. C-208/09, Sayn-Wittgenstein, Slg. 2010, I-13693 Rn. 67. 555 EuGH, Rs. C-208/09, Sayn-Wittgenstein, Slg. 2010, I-13693 Rn. 83, 85. 556 EuGH, Rs. C-208/09, Sayn-Wittgenstein, Slg. 2010, I-13693 Rn. 92. 557 EuGH, Rs. C-208/09, Sayn-Wittgenstein, Slg. 2010, I-13693 Rn. 93. Kritisch zu dieser Verhältnismäßigkeitsprüfung „ohne vertiefte Begründung“ Wall, StAZ 2011, 203, 210. 554
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ihnen geführte Geburtenbuch. Der im Frühjahr 1992 eingetragene Geburtsname „Fürstin von Sayn-Wittgenstein“ sollte in „Sayn-Wittgenstein“ berichtigt werden. Ungeachtet der Vorgeschichte dieser Eintragung handelt es sich bei dem streitgegenständlichen Vorgang um ein verwaltungsrechtliches Berichtigungsverfahren, mit dem gemäß § 15 Abs. 1 des österreichischen Personenstandsgesetzes eine Beurkundung zu berichtigen ist, wenn sie bereits zur Zeit der Eintragung unrichtig gewesen ist. Im deutschen Recht entspricht dies dem Berichtigungsverfahren nach §§ 47, 48 PStG. Entspricht hiernach der eingetragene Geburtsname nicht den auf die Namensführungen anwendbaren Rechtsvorschriften, so kann der Geburtsname auf Anordnung des zuständigen Gerichts berichtigt werden. Die Berichtigung bezieht sich mithin auf die bisherige Registereintragung. Wie diese Eintragung zustande gekommen ist, ist für die Berichtigung nicht weiter relevant. Entscheidend ist nur die Unrichtigkeit des Registereintrags. Wie bereits weiter oben ausgeführt, war nach österreichischem Recht, das sowohl nach Art. 10 Abs. 1 EGBGB als auch nach § 13 Abs. 1 IPRG zur Anwendung berufen wurde, der eingetragene Name „Fürstin von Sayn-Wittgenstein“ fehlerhaft. Er hätte eigentlich „Fürst von Sayn-Wittgenstein“ lauten müssen. Mit dem Urteil des österreichischen Verfassungsgerichtshof aus dem Jahr 2003 war zudem das Adelsprädikat in unrichtiger Weise in dem österreichischen Geburtenbuch eingetragen. Die Klägerin im Ausgangsverfahren wandte sich gegen die Berichtigung u.a. mit dem Argument, dass sie seit 15 Jahren den Namen „Fürstin von Sayn-Wittgenstein“ tatsächlich geführt hatte. Mithin liegt dem Sachverhalt ein Konflikt zwischen dem allgemeinen Persönlichkeitsrecht der namensführenden Person, den tatsächlich geführten Namen fortzuführen, und dem öffentlichen Interesse an der Richtigkeit der Eintragungen von Personenstandsregistern zugrunde. (1) Vertrauensschutz in der namensrechtlichen Rechtsprechung des BVerfG Dieser Konflikt ist dem deutschen Recht nicht unbekannt. Er stellte sich in einem Verfahren der nachträglichen Ehenamensbestimmung nach § 1355 Abs. 3 S. 2 BGB. In diesem Verfahren sollte der Name „Singh“ als Ehenamen bestimmt werden, was vom zuständigen Amtsgericht zunächst als nicht eintragungsfähig abgelehnt wurde. Der indische Name „Singh“ sei kein Familienname, sondern ein Namenszusatz, der bei männlichen Angehörigen der Sikh auf die Religionszugehörigkeit hinweisen soll. Tatsächlich war aber bereits zehn Jahre zuvor der Name „Singh“ als Ehename anlässlich der ersten Heirat der betroffenen Person in das deutsche Familienbuch eingetragen worden. Bei der Einbürgerung des früheren indischen Staatsangehörigen wurde der Name „Singh“ zudem als Nachname auf der Einbürgerungsurkunde und im Personalausweis vermerkt. Demnach führte der Betroffene über 10 Jahre einen Familiennamen, der im deutschen Familienbuch unrichtig eingetragen war. Die Kollision zwischen dem Interesse des Herrn Singh an der aus seinem allgemeinen
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Persönlichkeitsrecht (Art. 2 Abs. 1, Art. 1 Abs. 1 GG) fließenden Fortführung seines tatsächlich geführten Namens und dem öffentlichen Interesse an der Richtigkeit der Eintragung in Personenstandsregistern wurde vom BVerfG zu Gunsten der tatsächlichen Namensführung entschieden.558 Ausschlaggebend war das aus dem Rechtsstaatsprinzip (Art. 20 Abs. 3 GG) folgende Gebot der Beachtung des Vertrauensschutzes: „Insofern ist auch der tatsächlich geführte Name jedenfalls dann vom Schutz des allgemeinen Persönlichkeitsrechts umfasst, wenn er über einen nicht unbedeutenden Zeitraum die Persönlichkeit des Trägers tatsächlich mitbestimmt hat und ein entsprechender Vertrauenstatbestand vorliegt. Dagegen muss das öffentliche Interesse an der Richtigkeit von Eintragungen in Personenstandsurkunden abgewogen werden.“559 Deutlich subsumiert das BVerfG: „mit der Eintragung des Zusatzes ‚Singh‘ als Familienname des Beschwerdeführers zu 1 haben verschiedene Behörden zum Ausdruck gebracht, dass sie keinen Zweifel an der Berechtigung des Beschwerdeführers zu 1 zum Führen des Familiennamens ‚Singh‘ hatten. Dadurch, dass der Beschwerdeführer zu 1 diesen Namen als Familiennamen infolge dessen seit der Eintragung in das Familienbuch im Jahr 1986 und damit über den jedenfalls nicht unerheblichen Zeitraum von fast elf Jahren tatsächlich geführt hat, ist für ihn nicht nur ein rechtlich schutzwürdiger Vertrauenstatbestand entstanden, sondern es hat sich für ihn auch eine Identität mit dem Familiennamen ‚Singh‘ gebildet.“560 Der tatsächlich geführte Name ist hiernach verfassungsrechtlich geschützt, selbst wenn er auf einem unrichtigen Personenregistereintrag gründet, und kann sich gegen die Notwendigkeit der Berichtigung des Personenregisters durchsetzen.561 Betrachtet man die Rechtsprechung des BVerfG zum Schutz des Vertrauens auf den tatsächlich geführten Namen und vergleicht sie mit dem Urteil des EuGH in der Rechtssache „Sayn-Wittgenstein“, werden Parallelen deutlich.562 In beiden Fällen ging es um unrichtige Registereintragungen. In beiden Fällen führten die betroffenen Personen über einen längeren Zeitraum den unrichtig eingetragenen Namen. In beiden Fällen wurden den betroffenen Personen offizielle Dokumente auf den unrichtigen Namen ausgestellt. In beiden Fällen sollte der unrichtige Name an denjenigen angepasst werden, wie er von der anwendbaren Rechtsordnung gebildet worden wäre. Die Generalanwältin erkannte den Gedanken des Vertrauensschutzes, wenn sie in ihren Schlussanträgen ausführt, dass sich die Rechtssache „Grunkin-Paul“ von der Rechtssache „Sayn-Wittgenstein“ dahingehend unterscheidet, „dass die Bestimmung des 558
BVerfG, StAZ 2001, 207. BVerfG, StAZ 2001, 207, 208. 560 BVerfG, StAZ 2001, 207, 208. 561 Dies hat sich in der deutschen Rechtsprechung durchgesetzt: OLG Köln, StAZ 2004, 340; OLG Hamm, StAZ 2007, 175; OLG München, StAZ 2010, 76; KG Berlin, StAZ 2011, 148; OLG Nürnberg, StAZ 2011, 367. Im Detail dazu Hepting, StAZ 2013, 1 ff., 34 ff. 562 Als erstes hat dies erkannt Hepting, StAZ 2013, 1, 4, 9 ff. 559
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Familiennamens nach deutschem Recht seinerzeit rechtmäßig erschien, sich aber später als nicht rechtmäßig erwies. Geht man davon aus, dass […] die Beschwerdeführerin die Bestimmung und Eintragung gutgläubig beantragte, so muss meines Erachtens das Gleiche gelten wie im ersten Fall. Obwohl spätere gerichtliche Entscheidungen, die die Rechtslage klären, in gerechtfertigter Weise rückwirkend (ex tunc) gelten können, muss sich ein Unionsbürger in einer dem Geltungsbereich des Unionsrechts unterliegenden Situation auf den Schutz berechtigten Vertrauens verlassen können, der ein Grundprinzip dieses Rechts darstellt.“563 Der EuGH geht hierauf nicht ein. Jedoch begründen die „förmlichen Spuren, die der Name Fürstin von Sayn-Wittgenstein im öffentlichen wie auch im privaten Bereich hinterlassen hat“ und damit die von den staatlichen Behörden unbeanstandete 15jährige faktische Namensführung die schwerwiegenden Nachteile, um eine Beschränkung der Unionsbürgerfreizügigkeit anzunehmen.564 Die Argumentationsweise ähnelt sehr stark derjenigen, die das BVerfG zur Begründung des Vertrauensschutzes heranzog.565 (2) Voraussetzungen für den Vertrauensschutz im Namensrecht Im Folgenden sollen die Voraussetzungen für den verfassungsrechtlichen Schutz des Vertrauens auf den tatsächlich geführten Namen aufgestellt und daraufhin abgeglichen werden, ob der EuGH in der Rechtssache „Sayn-Wittgenstein“ nicht eigentlich ein Urteil betreffend den Vertrauensschutz als betreffend die Freizügigkeit gefällt hat. Damit sich der Einzelne auf den Vertrauensschutz berufen kann, muss ein Vertrauenstatbestand durch hoheitliches Handeln geschaffen worden sein, in dessen Kenntnis und auf dessen Grundlage der Einzelne handelt. Dabei muss sein Vertrauen auf die Existenz des Vertrauenstatbestands schutzwürdig sein.566 Im Hinblick auf den Vertrauenstatbestand, der durch hoheitliches Handeln geschaffen wurde, ist im Namensrecht zu berücksichtigen, dass die Registereintragung für den Namenserwerb lediglich deklaratorisch ist. § 54 Abs. 3 S. 1 PStG macht deutlich, dass die Unrichtigkeit des Personenstandsregisters jederzeit widerlegt werden kann. Die Registereintragung setzt jedoch einen Rechtsschein. Auf ihrer Grundlage ist die Annahme des Bestehens eines bestimmten Rechtsverhältnisses oder Rechts zulässig. Der von der Registerein-
563 GA Sharpston, SchlA Rs. C-208/09, Sayn-Wittgenstein, Slg. 2010, I-13693 Nr. 56 (Hervorhebung im Original). 564 EuGH, Rs. C-208/09, Sayn-Wittgenstein, Slg. 2010, I-13693 Rn. 67. 565 Hepting, StAZ 2013, 1, 10. 566 Hepting, StAZ 2013, 1, 4 ff. mit Verweis auf Furhmanns, Vertrauensschutz, S. 68 ff., 71 ff.
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tragung ausgehende Rechtsschein wird durch weitere, hierauf aufbauende amtliche Dokumente noch verstärkt.567 In Kenntnis und auf Grundlage dieser Registereintragung muss der Einzelne den in dem Register eingetragenen Namen führen. Entscheidend ist hier die Dauer der Namensführung bis zu dem Zeitpunkt, an dem die Behörde etwa durch Einleitung eines Berichtigungsverfahrens den Betroffenen von der Unrichtigkeit in Kenntnis setzt und damit den Rechtsschein zerstört.568 Dabei wurde in der Rechtsprechung die Dauer von sechs Jahren569 bzw. sogar zweieinhalb Jahren570 anerkannt. Eine Dauer von sechs Wochen wird jedoch nicht mehr als ausreichend anzusehen sein.571 Abschließend muss der Einzelne in seinem Vertrauen auf die Existenz und den Fortbestand des Vertrauenstatbestands schutzwürdig sein. Dies ist der Fall, wenn er auf die Existenz und den Fortbestand des eingetragenen Namens vertrauen durfte. Ein solches Vertrauendürfen ist im Namensrecht anzunehmen, sofern der Einzelne zu der fehlerhaften Namensbildung nicht schuldhaft beigetragen hat oder ihm Zweifel an der Richtigkeit ihrer Namensführung angesichts des Behördenverhaltens (d.h. der sich wiederholenden Ausstellung von amtlichen Dokumenten auf den unrichtigen Namen oder die jahrelange Nichtberichtigung des unrichtigen Namens) nicht kommen mussten.572 Mithin ist die Schutzwürdigkeit des Vertrauens bei positiver Kenntnis oder grob fahrlässiger Unkenntnis abzulehnen.573 (3) Übertragung der Voraussetzungen des Vertrauensschutzes auf die Rechtssache „Sayn-Wittgenstein“ In der Rechtssache „Sayn-Wittgenstein“ ging es um die Berichtigung einer seit 1992 unrichtigen Eintragung in das Geburtenbuch. Die Eintragung erfolgte, weil sich das österreichische Standesamt an die Namensbestimmung des Kreisgerichts Worbis gebunden fühlte. Mithin hat die Betroffene die unrichtige Namenseintragung nicht schuldhaft herbeigeführt. Zudem sind keinerlei Anhaltspunkte bekannt, die eine grob fahrlässige Unkenntnis der Unrichtigkeit des Namens begründen könnten; zumal sich die Unrichtigkeit des Namens zum Zeitpunkt seiner Eintragung lediglich auf die geschlechtsspezifische Anpassung „Fürstin“ bezogen hat. Das Vertrauen in die Richtigkeit der ursprünglichen Eintragung des Namens in das Geburtenbuch war damit schutzwürdig. In ihrem Vertrauen auf die Richtigkeit der Eintragung nutzte die Betroffene den Namen 567
Hepting, StAZ 2013, 1, 5. Hepting, StAZ 2013, 1, 6 f. 569 AG Lübeck, StAZ 2008, 346. 570 LG Paderborn, FamRZ 2008, 1179, dagegen OLG Düsseldorf, StAZ 2010, 110, 111: knapp 3 Jahre „höchst zweifelhaft“. 571 Hepting, StAZ 2013, 34, 39 f. 572 AG Lübeck, StAZ 2008, 346, 347. 573 Hepting, StAZ 2013, 1, 8. 568
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„Fürstin von Sayn-Wittgenstein“ im alltäglichen Gebrauch und bekam ihn von Seiten der Behörden mehrfach durch amtliche Dokumente bestätigt. Fraglich mag sein, ob der Rechtsschein schon im Jahr 2003 mit dem öffentlichkeitswirksamen Urteil des Verfassungsgerichtshofs zerstört war oder erst im Jahr 2007 durch die Einleitung des Berichtigungsverfahrens zerstört wurde. Darauf käme es jedoch aus deutscher Sicht nicht an, da die notwendige Dauer der Namensführung auch bereits im Jahr 2003 erreicht war. Mithin wäre Ilonka Fürstin von Sayn-Wittgenstein nach Art. 2 Abs. 1, Art. 1 Abs. 1 GG in Verbindung mit dem Grundsatz des Vertrauensschutzes aus Art. 20 Abs. 3 GG in ihrem Interesse auf Namenskontinuität schutzwürdig.574 Der Vertrauensschutz würde sich auch gegen das öffentliche Interesse an der Richtigkeit der Eintragung von Personenstandsregistern durchsetzen. Im Fall „Sayn-Wittgenstein“ stand der Vertrauensschutz jedoch nicht lediglich dem öffentlichen Interesse an der Richtigkeit der Eintragung von Personenstandsregistern entgegen, sondern auch dem verfassungsrechtlichen Verbot von Adelsprädikaten. Dieses höher zu wertende öffentliche Interesse würde, übertragen auf das deutsche Verfassungsrecht, auch in Deutschland für eine Berichtigung des unrichtig eingetragenen Namens sprechen. Dieses Gedankenspiel macht deutlich, dass die deutsche Rechtsordnung aufgrund der Rechtsprechung des BVerfG zum Schutz auf das Vertrauen auf unrichtige Personenstandsregistereintragungen bereits den Anforderungen des EuGH in der Rechtssache „Sayn-Wittgenstein“ entspricht und damit unionsrechtskonform ist. bb) Vertrauensschutz auf den unrichtigen Namen in ausländischen Personenstandsregistern Auch wenn der EuGH in der Rechtssache „Sayn-Wittgenstein“ streitgegenständlich über die Berichtigung eines unrichtigen Namens in einem inländischen Personenstandsregister urteilte, da es nicht der Ergänzungsbeschluss des deutschen Kreisgerichts Worbis war, der die Unrichtigkeit der Namenseintragung herbeiführte,575 sondern der Unterschied der österreichischen Rechtslage zur eingetragenen Rechtslage, so erstreckt sich die rechtliche Bedeutung des Vorabentscheidungsverfahrens auf den Tenor, mit dem der EuGH die Unionsnorm, vorliegend Art. 21 AEUV auslegt. In der Rechtssache „Sayn-Wittgenstein“ tenoriert der EuGH, dass „Art. 21 AEUV […] dahin auszulegen [ist], dass er es den Behörden eines Mitgliedstaats nicht verwehrt, unter Umständen wie denen des Ausgangsverfahrens die Anerkennung des Nachnamens eines 574
Ähnlich, allerdings ohne Verweis auf die Rechtssache „Sayn-Wittgenstein“ Wall, StAZ 2010, 225, 229 f. 575 A.A. Wall, StAZ 2011, 203, 205, der zum österreichischen Recht ausführt, dass dieses für gerichtliche Adoptionsentscheidungen eine Anerkennung nach Maßgabe des Internationalen Zivilprozessrechts vorgebe.
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Angehörigen dieses Staates in allen seinen Bestandteilen, wie er in einem zweiten Mitgliedstaat, in dem dieser Staatsangehörige wohnt, bei seiner Adoption als Erwachsener durch einen Staatsangehörigen dieses zweiten Staates bestimmt wurde, abzulehnen, wenn dieser Nachname einen Adelstitel enthält, der im ersten Mitgliedstaat aus verfassungsrechtlichen Gründen unzulässig ist, sofern die in diesem Zusammenhang von diesen Behörden ergriffenen Maßnahmen aus Gründen der öffentlichen Ordnung gerechtfertigt sind, d. h. zum Schutz der Belange, die sie gewährleisten sollen, erforderlich sind und in einem angemessenen Verhältnis zu dem legitimerweise verfolgten Zweck stehen.“ Mithin stellt der EuGH seine Auslegung für den Fall auf, dass der Name des Unionsbürgers von dem einen Mitgliedstaat bestimmt wurde („im Wohnsitzstaat rechtmäßig erworbenen Namen“576) und von dem anderen Mitgliedstaat nicht anerkannt wird. Dies entspricht jedoch exakt der Fallkonstellation, die der EuGH bereits in der Rechtssache „Grunkin-Paul“ entschieden hat. Der einzige Unterschied zwischen den beiden Fällen bestünde dann allenfalls darin, dass die dänische Namenserteilung in „Grunkin-Paul“ nach dem dänischen Kollisions- und Sachrecht rechtmäßig und die deutsche Namenserteilung in „Sayn-Wittgenstein“ nach dem deutschen Kollisionsrecht rechtsfehlerhaft577 war. Hieraus folgt der Schluss, dass der EuGH in „Sayn-Wittgenstein“ die Achtungspflicht, die er in „Grunkin-Paul“ aufgestellt hat, auch auf rechtsfehlerhafte Urkunden erstreckt. Kollisionsrechtlich ließe sich diese Auslegung von Art. 21 Abs. 1 AEUV nur noch mit einer Sachnormverweisung bei der Rechtswahl erklären. Dann wäre es nämlich der österreichischen Staatsangehörigen möglich gewesen, ihr deutsches Aufenthaltsrecht unter Außerachtlassung des deutschen Kollisionsrechts zu wählen, das die Namensbildung nämlich nach Art. 10 Abs. 1 EGBGB wieder an ihr österreichisches Heimatrecht zurückverwiesen hätte. Im Falle einer Rechtswahl mit Sachnormverweisung wäre der vom Kreisgericht Worbis bestimmte Name „Fürstin von Sayn-Wittgenstein“ nicht mehr rechtsfehlerhaft, sondern hätte die deutsche Sachrechtslage korrekt wiedergegeben. Es kann jedoch bezweifelt werden, dass der EuGH in der Rechtssache „Sayn-Wittgenstein“ die in „Grunkin-Paul“ vorgenommene Auslegung von Art. 21 Abs. 1 AEUV auf kollisionsrechtsfehlerhafte Urkunden erstrecken wollte mit der Folge, dass eine kollisionsrechtliche Umsetzung des Urteils nur durch eine Sachnormverweisung möglich wäre. Hierzu war die Unterschei-
576
EuGH, Rs. C-208/09, Sayn-Wittgenstein, Slg. 2010, I-13693 Rn. 64. Die Rechtsfehlerhaftigkeit kann bestritten werden, wenn man die Rechtswahlmöglichkeiten in Art. 10 Abs. 5, Abs. 6 EGBGB a.F. in analoger Weise auf Erwachsenadoptionen anwenden möchte und in der deutschen Adoption eine konkludente Rechtswahl des deutschen Sachrechts durch den Annehmenden erkennt (vgl. oben S. 431; Wall, StAZ 2011, 203, 207 f.). Dies wurde jedoch zu keinem Zeitpunkt im Verfahren behauptet. 577
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dung von rechtmäßig und rechtsfehlerhaft viel zu unbedeutend in der Urteilsbegründung. Der EuGH zitiert lediglich ein entsprechendes Vorbringen der österreichischen und der deutschen Regierung, ohne jedoch darauf einzugehen. Entscheidend dürfte vielmehr der Gedanke des Vertrauensschutzes sein. Betrachtet man die Unrichtigkeit der ausländischen Eintragung (in „Sayn-Wittgenstein“: des Ergänzungsbeschlusses des deutsche Kreisgerichts Worbis) als den entscheidenden Unterschied zwischen den Rechtssachen „Grunkin-Paul“ und „Sayn-Wittgenstein“, dann wird die Bedeutung des Grundsatzes des Vertrauensschutzes deutlich. In der Rechtssache „Grunkin-Paul“ bedurfte es des Grundsatzes nicht, da die ausländische Eintragung der Rechtslage entsprach. Vertrauensschutz wird jedoch dann erst relevant, wenn anstelle der Rechtslage auf den Rechtsschein abzustellen ist, da das in Anspruch genommene Recht nicht mit der tatsächlichen Rechtslage übereinstimmt.578 Mithin ist die Schlussfolgerung, die man aus dem Urteil in der Rechtssache „Sayn-Wittgenstein“ vor dem Hintergrund der Rechtssache „Grunkin-Paul“ ziehen kann, dass immer dann, wenn ein tatsächlich geführter Name eines Unionsbürgers nicht der Rechtslage mindestens einer auf ihn anwendbaren mitgliedstaatlichen Rechtsordnungen entspricht, zu prüfen ist, ob der tatsächlich geführte Name nicht aus Gründen des Vertrauensschutzes dergestalt zu dulden ist, dass ihm der Zugang zum Hoheitsgebiet der Mitgliedstaaten nicht versperrt werden darf.579 Im Umkehrschluss bedeutet dies, dass eine rechtsfehlerhafte Eintragung, bei der der beurkundete Name nicht den Voraussetzungen des Vertrauensschutzes entspricht, nicht dazu führen kann, dass ein Mitgliedstaat diesen Namen zu achten hätte. cc) Exkurs: Schutz des tatsächlich geführten Namens nach Art. 8 EMRK Diese Schlussfolgerung erstaunt vor dem Hintergrund der Dogmatik der Unionsbürgerfreizügigkeit als Grundfreiheit ohne Markt. Eine Grundfreiheit hat nämlich die Funktion, den diskriminierungs- und beschränkungsfreien Zugang zum Hoheitsgebiet/Markt eines Mitgliedstaats zu gewährleisten. Eine Rechtslage entsteht im Herkunftsland des Unionsbürgers und dieser Rechtslage wird der „Zugang“ zum Hoheitsgebiet des Bestimmungslandes bzw. Zuzugsstaates versperrt. Ob eine Rechtslage im Herkunftsstaat entstanden ist, ist eine der Grundfreiheitenanwendung vorgelagerte Vorfrage. Ist eine Rechtslage nach Maßgabe der Herkunftsrechtsordnung nicht entstanden, gibt es auch nichts, wofür die Grundfreiheit einen Zugang gewährleisten müsste. Eine Grundfreiheit hat somit nicht die Funktion über die Gewährleistung des Zugangs hinaus festzulegen, ob eine rechtmäßig entstandene und fortbestehende Rechtslage in bestimmten Fällen nicht von ihrem Schutzbereich erfasst ist. Genauso wenig 578
Hepting, StAZ 2013, 34, 39. In diesem Sinne Hepting, StAZ 2013, 34, 38 ff.; Staudinger/Hepting/Hausmann, Art. 10 EGBGB Rn. 544 ff. 579
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kann sie festlegen, dass eine Rechtslage, die aus Gründen, die in der Herkunftsrechtsordnung liegen, rechtlich nicht entstanden ist oder fortbesteht, aus anderen, in der Grundfreiheit selbst angelegten Gründen doch existiert. Dies hat der EuGH in seiner Rechtsprechung zum Internationalen Gesellschaftsrecht in den Rechtssachen „Daily Mail“ und „Cartesio“ deutlich gemacht. In der Rechtssache „Sayn-Wittgenstein“ verhilft er aber einer Rechtslage, die nach dem vermeintlichen deutschen Herkunftsrecht nicht rechtmäßig entstanden ist, zur Wirksamkeit aus Gründen, die inhaltlich dem Grundsatz des Schutzes des Vertrauens auf einen geführten Namen entsprechen. Vor diesem Hintergrund wird der einleitende Verweis des EuGH in seiner Urteilsbegründung auf Art. 8 EMRK und Art. 7 GRCh verständlich.580 Im Gegensatz zu den Grundfreiheiten können unionale Menschen- und Grundrechte Schutzgüter losgelöst von den mitgliedstaatlichen Rechtsordnungen schaffen, die dennoch von den Mitgliedstaaten zu schützen sind. Im deutschen Verfassungsrecht schützt das allgemeine Persönlichkeitsrecht aus Art. 2 Abs. 1, Art. 1 Abs. 1 GG den faktisch geführten, jedoch rechtsfehlerhaften Namen. Die EMRK schützt den faktisch geführten Namen als Teil der Garantie des Privatlebens nach Art. 8 EMRK.581 Deutlich geworden ist dies im Urteil des EGMR in der Rechtssache „Daróczy/Ungarn“.582 In dieser Rechtssache ging es um einen Ehenamen, den die Ehefrau seit ihrer Hochzeit im Jahr 1950 geführt hat. Sie nahm den Namen ihres Ehemannes, so wie er ihn alltäglich führte und mit dem er unterzeichnete, „Tibor Daróczy“ als Ehenamen ergänzt um einen Suffix „né“, der in der ungarischen Sprache die Ehe ausdrückte: „Tiborné Daróczy“. Dieser Ehename wurde registriert und die Ehefrau führte diesen Namen über Jahrzehnte. Allerdings entsprach dieser Name nicht dem ungarischen Recht, da der offizielle Geburtsname des Ehemanns nicht „Tibor Daróczy“, sondern „Tibor Ipoly Daróczy“ lautete, weshalb der zutreffende Ehename eigentlich „Tibor Ipolyné Daróczy“ hätte sein müssen. Im Jahr 2004 fiel den ungarischen Behörden die Unrichtigkeit des Registereintrags auf und sie berichtigten ihn entsprechend. Dagegen wandte sich die Ehefrau vor dem EGMR und bekam Recht. Der EGMR entschied: „The Court underlines that, while it is true that States enjoy a wide margin of appreciation concerning the regulation of names, they cannot disregard its importance in the lives of private individuals: names are central elements of self-identification and self-definition. Imposing a restriction on one’s right to bear or change a name without justified and relevant reasons is not compatible with the purpose of Article 8 of the Convention, which is to protect
580 Dies wurde wiederholt und damit bestätigt in EuGH, Rs. C-391/09, Runevič-Vardyn, Slg. 2011, I-3787 Rn. 66. 581 Vgl. Uerpmann-Wittzack, in: Ehlers, § 3 Rn. 3; Grabenwarter/Pabel, § 22 Rn. 39. 582 EGMR, 1.7.2008, Daróczy/Ungarn, Nr. 44378/05.
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individuals’ self-determination and personal development […]. Formal reference to a legitimate aim – like, in this case, ensuring the authenticity of the State Registry – in the absence of any actual prejudice to the rights of others cannot justify a restriction of that right.“583
In gleicher Weise wie das BVerfG verknüpfte der EGMR die faktische Namensführung mit dem Recht des Einzelnen auf Selbstbestimmung und wog dieses gegen das öffentliche Interesse an der Richtigkeit von Eintragungen in Personenstandsregistern ab. Wie das BVerfG kam der EGMR zu dem Ergebnis, dass das öffentliche Interesse gegenüber einem faktisch seit über 50 Jahren geführten Namen nicht überwiegt. In der EU-Grundrechtecharta spiegelt Art. 7 das Recht auf Achtung des Privatlebens in Art. 8 EMRK. Nach Art. 52 Abs. 3, Art. 53 GRCh entspricht dabei das Schutzniveau von Charta-Grundrechten mindestens demjenigen, das der EGMR für die entsprechenden EMRK-Menschenrechte bestimmt hat. Somit schützt auch Art. 7 GRCh im Anwendungsbereich der Charta nach Art. 51 Abs. 1 GRCh den faktisch geführten Namen eines Unionsbürgers.584 Der Gedanke des Vertrauensschutzes, mit dem sich der Schutz des faktisch geführten Namens verbündet, ist in der EU-Rechtsordnung ein allgemeiner Grundsatz des Unionsrecht nach Art. 6 Abs. 3 EUV.585 Damit verstärken Art. 7 GRCh über Art. 6 Abs. 1 EUV in Verbindung mit Art. 51 Abs. 1 GRCh und Art. 8 EMKR über Art. 6 Abs. 3 EUV den Schutzbereich der Unionsbürgerfreizügigkeit aus Art. 21 Abs. 1 AEUV in denjenigen Fällen, in denen die Rechtslage, die den Zugang zu dem Hoheitsgebiet eines anderen Mitgliedstaats begehrt, in rechtsfehlerhafter Weise zustande gekommen ist. Diese Schutzbereichsverstärkung ist notwendig, da die Unionsbürgerfreizügigkeit als Grundfreiheit ohne Markt nicht aus sich heraus eine nach den Maßstäben der beteiligten Rechtsordnungen rechtlich nicht existente Rechtslage als Schutzgut definieren kann. Hieraus wird deutlich, dass der unionsrechtliche Namensschutz auf zwei Säulen steht: Zum einen auf der Unionsbürgerfreizügigkeit, soweit es um rechtmäßig verliehene Namen einer mitgliedstaatlichen Rechtsordnung geht, und zum anderen auf Art. 7 GRCh und Art. 8 EMRK, soweit es um faktisch geführte, jedoch rechtsfehlerhaft verliehene Namen geht.586 583 584
EGMR, 1.7.2008, Daróczy/Ungarn, Nr. 44378/05 Rn. 32. Tettinger, in: Tettinger/Stern, Art. 7 GRCh Rn. 16; Jarass, in: Jarass, Art. 7 GRCh
Rn. 9. 585 Mayer, in: Grabitz/Hilf/Nettesheim, nach Art. 6 EUV Rn. 395 ff.; Lecheler, Allgemeine Grundsätze des Unionsrechts, in: HGR VI/1, § 158 Rn. 32 ff.; Blanke, Vertrauensschutz im deutschen und europäischen Verwaltungsrecht; Borchardt, Der Grundsatz des Vertrauensschutzes im europäischen Gemeinschaftsrecht; ders., EuGRZ 1988, 309; EuGH, Rs. 1/73, Westzucker, Slg. 1973, 723; Rs. C-98/91, Herbrink, Slg. 1994, I-223 Rn. 9. 586 Vgl. MünchKommBGB/Lipp, Art. 10 EGBGB Rn. 209; NK-BGB/Mankowski, Art. 10 EGBGB Rn. 163; Grünberger, in: Leible/Unberath, Alles obsolet? Anerkennungsprinzip vs. klassisches IPR, S. 81, 117 f.
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Der EuGH hat diese Auslegung von Art. 21 Abs. 1 AEUV in der Rechtssache „Runevič-Vardyn“ bestätigt.587 c) Bedeutung des unionsrechtlichen Schutzes des Vertrauens auf den tatsächlich geführten Namen im deutschen Recht Da die Maßstäbe des EuGH, wie oben dargestellt,588 den Maßstäben des BVerfG entsprechen, nach denen der tatsächlich geführte Name den Schutz des allgemeinen Persönlichkeitsrechts gemäß Art. 2 Abs. 1, Art. 1 Abs. 1 GG in Verbindung mit dem Vertrauensschutzgrundsatz aus Art. 20 Abs. 3 GG genießt,589 ist das Urteil in der Rechtssache „Sayn-Wittgenstein“ für die deutsche Rechtsordnung von geringer Bedeutung. Der Anspruch des Einzelnen auf Namenskontinuität entspricht in der deutschen Rechtsordnung bei Vorliegen eines schützenswerten Vertrauens und einer entsprechenden Dauer der tatsächlichen Namensführung, während der der Namensträger „förmliche Spuren“ hinterlassen hat, dem verfassungsrechtlich vermittelten Rechtszustand. Es kommt daher zu keiner Kollision von Unionsrechtsordnung und deutscher Rechtsordnung.590 Mithin ist für die Begründung des entsprechenden Ergebnisses in der deutschen Rechtsordnung auch nicht auf Art. 21 Abs. 1 AEUV abzustellen, sondern auf Art. 2 Abs. 1, Art. 1 Abs. 1 GG in Verbindung mit Art. 20 Abs. 3 GG.591 4. Zusammenfassung: Die Freizügigkeit von Namen Verfügt der Unionsbürger über eine doppelte oder mehrfache Staatsangehörigkeit und führt dies in einem Mitgliedstaat, dessen Kollisionsrecht zur Bestimmung des Namensstatuts an die Staatsangehörigkeit anknüpft, zu einer divergierenden Namensführung aufgrund divergierender Namensrechtsordnungen, so darf der Mitgliedstaat nicht nur der eigenen Staatsangehörigkeit keinen Vorrang einräumen („Garcia Avello“), sondern überhaupt keine Rangentscheidung treffen. Welche die auf den Unionsbürger anzuwendende Namensrechtsordnung ist, bestimmt der Unionsbürger aus dem Kreis der aufgrund seiner Staatsangehörigkeiten möglichen Rechtsordnungen. Führen weder die vom IPR verwendeten Anknüpfungsmomente (bspw. gewöhnlicher Aufenthalt anstelle von Staatsangehörigkeit) noch die tatsächlichen Umstände (bspw. nur eine Staatsangehörigkeit) dazu, dass in einem Mitgliedstaat mehrere Namensrechtsordnungen auf die Bestimmung der Namensbil-
587
EuGH, Rs. C-391/09, Runevič-Vardyn, Slg. 2011, I-3787 Rn. 66. Siehe oben S. 443 f. 589 BVerfG, StAZ 2001, 207. 590 Ebenso Wall, StAZ 2011, 203, 209. 591 Anders OLG München, NJW-RR 2010, 660, das sich auf Art. 21 AEUV stützt. 588
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dung eines Unionsbürgers Anwendung finden, so kann eine hinkende Namensführung, bei der divergierende Namen aufgrund divergierender, jedoch nicht gleichzeitig in einem Mitgliedstaat, sondern nacheinander in unterschiedlichen Mitgliedstaaten anwendbarer Namensrechtsordnungen entstehen, die Freizügigkeit des Unionsbürgers behindern („Grunkin-Paul“). Diese Konstellation ist dadurch gekennzeichnet, dass die Gesamtnorm eines Mitgliedstaats dem von der Rechtsordnung des anderen Mitgliedstaates verliehenen Namen den Zugang zum eigenen Hoheitsgebiet versperrt. Die Unionsbürgerfreizügigkeit als Grundfreiheit ohne Markt steht der Zugangssperre entgegen, so dass sie die Gleichstellung von inländischem und ausländischem Namen innerhalb der inländischen Rechtsordnung verlangt, deren Unvereinbarkeit aufgrund divergierender Namensrechtsordnungen der EuGH in der Rechtssache „Garcia Avello“ durch ein Wahlrecht des Unionsbürgers zwischen den auf seine Namensbildung anwendbaren Rechtsordnungen löst. Daher steht dem Unionsbürger auch im Fall hinkender Namensführung ein entsprechendes Wahlrecht zur Verfügung. Führt das Wahlrecht nicht dazu, dass der vom Unionsbürger in schutzwürdigem Vertrauen auf die Rechtmäßigkeit der ursprünglichen Namensbildung geführte Name durch eine anwendbare Namensrechtsordnung gebildet werden kann, weil amtliche Dokumente, in denen der vom Unionsbürger tatsächlich geführte Namen beurkundet war, in rechtsfehlerhafter Weise ausgestellt wurden, so ist der rechtsfehlerhaft geführte Namen aufgrund von Unionsgrundrechten (Art. 7 GRCh) und Art. 8 EMRK in Verbindung mit dem Grundsatz des Vertrauensschutzes unionsrechtlich geschützt („Sayn-Wittgenstein“). Der grund- und menschenrechtlich fundierte Schutz des tatsächlich geführten, jedoch rechtsfehlerhaft gebildeten Namens kann aber entfallen, wenn der Mitgliedstaat ein Ziel der öffentlichen Ordnung, insbesondere von verfassungsrechtlicher Qualität, in verhältnismäßiger Weise verfolgt. Die beschränkende Maßnahme muss dabei das geltend gemachte Ziel in kohärenter und systematischer Weise erreichen. Die untersagte Namensbildung darf also nicht in anders gelagerten Fällen von der Rechtsordnung erlaubt sein. Die mitgliedstaatlichen Rechtsordnungen müssen derartigen Namen ebenfalls den Zugang zum eigenen Hoheitsgebiet gewährleisten. Führt dies zu einer Divergenz zwischen dem nach der inländischen Rechtsordnung zu bildenden Namen und dem unionsrechtlich geschützten, jedoch rechtsfehlerhaft gebildeten Namen, darf der Mitgliedstaat entsprechend dem in der Rechtssache „Garcia Avello“ entwickelten Grundsatz diese Kollision nicht automatisch einseitig zu Gunsten einer bestimmten Art der Namensbildung auflösen. Der Unionsbürger verfügt vielmehr über ein Wahlrecht zwischen diesen Namen. Die Rechtsprechung des EuGH zur Freizügigkeit von Namen lässt sich zurückführen auf den aus der Rechtsprechung zur Freizügigkeit von rechtlich konfigurierten Marktakteuren bekannten Grundsatz der Gleichrangigkeit der Anknüpfungsmomente, mit denen die mitgliedstaatlichen Rechtsordnungen die
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engste Verbindung zwischen den Regeln über die Namensbildung und ihrem Geltungsgebiet ausdrücken. Führen divergierende Anknüpfungsmomente oder tatsächliche Umstände wie die mehrfache Staatsangehörigkeit zur Anwendbarkeit divergierender Namensrechtsordnungen, kann dem Grundsatz der Gleichrangigkeit der Anknüpfungsmomente nur entsprochen werden, wenn der von dieser Divergenz betroffene Grundfreiheitenträger die Entscheidungsfreiheit über die auf seine Namensbildung anwendbare Rechtsordnung behält. IV. Einwirkungen der unionalen Freizügigkeitsrechte in das Internationale Namensrecht Im Folgenden soll die Bedeutung der Unionsbürgerfreizügigkeit für das internationale Namensrecht näher beleuchtet werden. Dabei soll, wie bereits bei der entsprechenden Untersuchung zur Bedeutung der Freizügigkeitsrechte des rechtlich konfigurierten Marktakteurs in das Internationale Gesellschaftsrecht,592 mit der Frage begonnen werden, ob dem Unionsrecht eine versteckte Kollisionsnorm entnommen werden kann (1.). Anschließend sollen die Vorgaben der Unionsbürgerfreizügigkeit als Zugangsfreiheit für Namen und zur inländischen Namensbildung herausgearbeitet werden (2.), bevor die Frage behandelt werden soll, ob ein nachlaufendes öffentlich-rechtliches Namensänderungsverfahren geeignet ist, einer den Vorgaben der Unionsbürgerfreizügigkeit widersprechenden Gesamtnorm die Beschränkungsqualität zu nehmen (3.). Abschließend wird das deutsche Internationale Namensrecht nach der Einfügung von Art. 48 EGBGB betrachtet und daraufhin befragt, ob es nunmehr als unionsrechtskonform einzustufen ist und wie im Falle fortbestehender Unionsrechtsverstöße eine Unionsrechtskonformität hergestellt werden kann (4.). 1. Keine versteckte Kollisionsnorm in Art. 21 AEUV Eine versteckte Kollisionsnorm ist dann anzunehmen, „wenn Tatbestand und Rechtsfolge einer […] Sachnorm eine bestimmte kollisionsrechtliche Behandlung voraussetzen“.593 Art. 21 Abs. 1 AEUV verlangt den beschränkungsfreien Zugang eines Unionsbürgers zum Hoheitsgebiet eines Mitgliedstaates. Dieser Zugang ist beschränkt, wenn der Unionsbürger seinen Namen auf dem Hoheitsgebiet des betroffenen Mitgliedstaates nicht in der Weise führen darf, wie er ihn in seinem Herkunftsstaat berechtigt ist zu führen. Eine Zugangssperre für den Namen eines Unionsbürgers wirkt wie eine Zugangssperre für den namensführenden Unionsbürger. Führt nun die inländische Gesamtnorm dazu, dass der im Ausland gebildete Name nicht geführt werden kann, ließe sich das ausländische Recht über Art. 21 Abs. 1 AEUV anstelle der inländischen Gesamtnorm anwenden, wenn 592 593
Siehe oben S. 371 ff. MünchKommBGB (2010)/Sonnenberger, Einl. IPR Rn. 466.
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man in Art. 21 AEUV eine versteckte Kollisionsnorm erkennt.594 Zwingend ist dieser Schluss aber nicht.595 Für die Annahme einer versteckten Kollisionsnorm muss jedoch der Schluss zwingend sein, dass das von der Unionsnorm verfolgte Ziel nur durch eine bestimmte kollisionsrechtliche Behandlung erreicht werden kann. Weiter oben wurde dargelegt, dass im deutschen Recht etwa in dem Fall, der dem OLG München zugrunde lag,596 ein unionsrechtskonformer Zustand de lege lata durch eine analoge Anwendung von Art. 10 Abs. 3 S. 1 Nr. 2 EGBGB erreicht werden kann, ohne dass hierfür Art. 21 Abs. 1 AEUV eine kollisionsrechtliche Aussage entnommen werden müsste.597 Aus europarechtlicher Sicht lässt sich hinzufügen, dass die Unionsbürgerfreizügigkeit als Grundfreiheit ohne Markt lediglich zur Unanwendbarkeit entgegenstehenden nationalen Rechts führt, nicht jedoch vorgibt, was an die Stelle des unanwendbaren Rechts tritt. Vorgaben für die Lückenschließung können lediglich Art. 4 Abs. 3 UAbs. 2 EUV und seiner Pflicht, dass die Mitgliedstaaten alles Erforderliche tun müssen, um einen unionsrechtskonformen Zustand herzustellen, entnommen werden. Diese Pflicht zwingt jedoch nicht zu einer kollisionsrechtlichen Lösung, wenn auch eine sachrechtliche Lösung für die Herstellung des unionsrechtskonformen Zustands möglich ist. Würde man nämlich Art. 21 Abs. 1 AEUV für eine versteckte Kollisionsnorm halten, so wäre sämtlichen mitgliedstaatlichen Rechtsordnungen vorgegeben, eine bestimmte Rechtsordnung zur Anwendung zu bringen. Zugleich müssten der Unionsbürgerfreizügigkeit oder Art. 4 Abs. 3 UAbs. 2 EUV Kriterien entnehmbar sein, um rechtssicher bestimmen zu können, welche Rechtsordnung die für die Namensführung anwendbare Rechtsordnung sein soll. Die einzige Vorgabe, die dem Primärrecht im Hinblick auf die Wahl des Anknüpfungsmoments entnommen werden kann, ist das Gebot der Gleichrangigkeit von Anknüpfungsmomenten. Diesem Gebot liefe es jedoch quer, wenn dasselbe Primärrecht eine Aussage zu Gunsten eines bestimmten Anknüpfungsmoments treffen würde. Mithin handelt es sich bei Art. 21 Abs. 1 AEUV nicht um eine versteckte Kollisionsnorm.
594
So OLG München, NJW-RR 2010, 660; Wall, IPRax 2010, 433, 434 f., 436 f. Mansel/Thorn/Wagner, IPRax 2011, 1, 6 f.; MünchKommBGB/von Hein, Art. 3 EGBGB Rn. 133. 596 OLG München, NJW-RR 2010, 660. 597 Mansel/Thorn/Wagner, IPRax 2011, 1, 6; Mörsdorf-Schulte, IPRax 2004, 315, 324. Eine analoge Anwendung von Art. 10 Abs. 3 S. 1 Nr. 2 EGBGB lehnt Wall, IPRax 2010, 433, 435 mangels Regelungslücke ab. Bei der Lückenfeststellung lässt er allerdings die Besonderheiten der unionsrechtskonformen Rechtsfortbildung außer Acht, siehe dazu oben S. 55 ff., 422 ff. 595
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2. Unionsbürgerfreizügigkeit als Zugangsfreiheit für Namen und zur inländischen Namensbildung Die Unionsbürgerfreizügigkeit beinhaltet zwar keine versteckte Kollisionsnorm, verlangt jedoch von den mitgliedstaatlichen Rechtsordnungen, dass sie ein bestimmtes Rechtsanwendungsergebnis zu gewährleisten haben.598 Dieses Rechtsanwendungsergebnis besteht im Namensrecht aus zweierlei: Die mitgliedstaatlichen Rechtsordnungen dürfen einem nach ausländischem Sachrecht gebildeten Namen den Zugang zum eigenen Hoheitsgebiet nicht versperren (a)) und sie müssen den Unionsbürgern den Zugang zu nach dem eigenen Sachrecht zu bildenden Namen eröffnen (b)). a) Aufhebung der Zugangssperre für nach ausländischem Sachrecht gebildete Namen Eine Zugangssperre für einen nach ausländischem Sachrecht gebildeten Namen liegt vor, wenn der aufgrund der inländischen Gesamtnorm gebildete Name eines Unionsbürgers von seinem nach ausländischem Sachrecht gebildeten Namen abweicht und die inländische Rechtsordnung dem aufgrund der eigenen Gesamtnorm gebildeten Namen den Vorrang einräumt. Diese Zugangssperre für den nach ausländischem Sachrecht gebildeten Namen tritt in den folgenden Situationen ein: 1. Die von der inländischen Kollisionsnorm verwandte Anknüpfungstatsache wird mehrfach verwirklicht (wie bei Doppel- und Mehrfachstaatsangehörigkeiten) und die inländische Kollisionsrechtsordnung räumt der inländisch verwirklichten Anknüpfungstatsache den Vorrang ein; 2. Die inländische Kollisionsnorm verwendet ein anderes Anknüpfungsmoment als die ausländische Kollisionsnorm, die zur Anwendung des ausländischen Sachrechts führt, nach dem der Name des Unionsbürgers gebildet wurde. Dabei muss die inländische Kollisionsnorm nicht zwangsläufig auf inländisches Sachrecht verweisen. Ausreichend ist, dass das von der inländischen Kollisionsnorm verwendete Anknüpfungsmoment zu einer anderen Rechtsordnung führt als derjenigen, nach deren Sachrecht der Name des Unionsbürgers gebildet wurde. Die Unionsbürgerfreizügigkeit verlangt nunmehr, dass die Zugangssperre für den nach ausländischem Sachrecht gebildeten Namen aufzuheben ist. Dabei ist der Name in der Form, wie er aufgrund des ausländischen Sachrechts gebildet wurde, zu achten. Diese Achtungspflicht ist nicht mit einer Anerkennung des
598
Martiny, DNotZ2009, 453, 454; Lipp, StAZ 2009, 1, 8.
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Namens gleichzusetzen. Vielmehr ist es ausreichend, wenn die inländische Gesamtnorm dergestalt modifiziert wird, dass sie zu derselben Namensbildung führt wie das ausländische Sachrecht. b) Aufhebung von Diskriminierungen und Beschränkungen beim Zugang zu nach inländischem Sachrecht gebildeten Namen Neben der Gewährleistung des Zugangs für Namen eines Unionsbürgers in der Form, die ihm durch eine ausländische Sachrechtsordnung verliehen wurde, verlangt die Unionsbürgerfreizügigkeit den diskriminierungs- und beschränkungsfreien Zugang zum inländischen Namensrecht für Unionsbürger. Diese Konstellation, die bei den Marktgrundfreiheiten regelmäßig eine Rolle spielt,599 ist bislang in der Rechtsprechung des EuGH zum Namensrecht noch nicht tragend geworden. Ein möglicher Fall lässt sich jedoch einfach konstruieren. Ein Paar mit ausschließlich deutscher Staatsangehörigkeit lebt und arbeitet in Polen. Sie schließen nun in Polen die Ehe. Dabei möchten sie gerne einen Doppelnamen, der sich aus ihren bisherigen Nachnamen zusammensetzt, führen. Das polnische Kollisionsrecht knüpft in Art. 15 Abs. 1 des Gesetzes über das Internationale Privatrecht (IPRG) vom 4. Februar 2011600 für die Bestimmung des auf die Bildung eines Vor- und Nachnamens einer Person anwendbaren Rechts an die Staatsangehörigkeit an. Damit verweist das polnische IPR auf Art. 10 Abs. 1 EGBGB, der ebenfalls an die Staatsangehörigkeit anknüpft, weshalb das deutsche IPR die Verweisung des polnischen IPR annimmt. Damit kommt deutsches Sachrecht zur Anwendung. Nach § 1355 BGB ist der Doppelname nicht zulässig, so dass das polnische Standesamt die Eintragung eines Doppelnamens für das deutsche Ehepaar verweigern muss. Wären die Brautleute allerdings polnische Staatsangehörige, würde Art. 15 Abs. 1 IPRG zur Anwendung polnischen Sachrechts führen. Nach Art. 25 § 1 des polnischen Familien- und Vormundschaftsgesetzbuchs601 können die Ehegatten einen Doppelnamen aus ihren beiden bisherigen Nachnamen bilden, soweit dieser nur aus zwei Gliedern besteht.602 Es handelt sich hierbei um eine Benachteiligung der Unionsbürger deutscher Staatsangehörigkeit durch die aus der polnischen und deutschen Kollisions- und der deutschen Sachnorm zusammengesetzte Gesamtnorm, die der polnische Standesbeamte anwendet.
599
Hierbei handelt es sich dann um unmittelbare oder mittelbare Diskriminierungen, da der Zuzugsstaat sein Recht den eigenen Staatsangehörigen unmittelbar oder mittelbar vorbehält. 600 Ustawa z dnia 4 lutego 2011 r. Prawo prywatne międzynarodowe, Dz.U. 2011 nr 80 poz. 432 601 Kodeks rodzinny i opiekuńczy, Dz.U. 2012 poz. 788. 602 Vgl. Blümel, in: Rieck, Ausländisches Familienrecht, Polen, 12. Erg. 2014, Rn 10.
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Diese Konstellation wurde weiter oben unter dem Gesichtspunkt der spezifisch kollisionsrechtlichen Diskriminierung durch die Berufung von Sachnormen der Rechtsordnung des Herkunftsstaates von dem IPR des Bestimmungsbzw. Aufenthaltsstaates diskutiert.603 Dabei wurde zum einen festgestellt, dass diese Konstellation keine spezifisch kollisionsrechtliche Diskriminierung ist, weil die Benachteiligung durch die zur Anwendung berufene ausländische Sachnorm begründet wurde. Zum anderen liegt aber bei der lex fori die Verantwortung zur Herstellung eines unionsrechtskonformen Rechtszustandes, indem die Gesamtnorm entsprechend fortgebildet oder, falls hierdurch die „contra legem“-Grenze überschritten wird, die ausländische Kollisions- oder Sachnorm unanwendbar wird mit der Folge, dass der inländische Rechtsanwender zu einem Rechtsanwendungsergebnis kommt, das dem der inländischen Sachnorm entspricht.604 In dem hier gebildeten Fall müsste damit der polnische Rechtsanwender dem deutschen Paar entgegen dem nach dem polnischen IPR bestimmten deutschen Sachrecht die Wahl eines Doppelnamens als Ehenamen im Einklang mit dem polnischen Sachrecht einräumen. 3. Der beschränkende Charakter des öffentlich-rechtlichen Namensänderungsverfahrens In der Folge der Reaktion des belgischen Gesetzgebers auf das Urteil des EuGH in der Rechtssache „Garcia Avello“,605 ist vielfach die Meinung geäußert worden, dass die Beschränkungen der Unionsbürgerfreizügigkeit im Namensrecht durch ein beschränkungsfreies öffentlich-rechtliches Namensänderungsänderungsverfahren aufgelöst wären.606 Belgien änderte schlicht das öffentlich-rechtliche Namensänderungsverfahren, so dass ein Unionsbürger, dessen nach einem ausländischen Sachrecht gebildeter Name nicht dem nach der belgischen Gesamtnorm zu bildenden Namen entspricht, auf Antrag den nach der belgischen Gesamtnorm gebildeten Namen in den hiervon abweichenden, nach ausländischem Sachrecht gebildeten Namen ändern lassen kann. Das Entfallen der Beschränkungsqualität durch ein nachlaufendes öffentlich-rechtliches Namensänderungsverfahren ist allerdings zu bezweifeln. Bereits die belgische Lösung ist kritisiert worden.607 Dabei wurde insbesondere auf die Kosten abgestellt, die ein solches Verfahren nach sich zieht und die damit ein Hindernis für denjenigen begründen, der seine Unionsbürgerrechte
603
Siehe S. 309 ff. Siehe S. 323 ff. 605 Siehe S. 409 f. 606 jurisPK-BGB/Janal, Art.10 EGBGB Rn. 35; Kubicki, EuZW 2009, 366, 368 f.; Lipp, StAZ 2009, l, 8; Martiny, DNotZ 2009, 453, 457 f.; Mansel/Thom/Wagner, IPRax 2009, l, 3 f. 607 De Groot, 11 MJ (2004), 115, 117; Verlinden, 11 ColumbJEurL (2005), 705, 715. 604
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durchsetzen möchte. Naheliegend ist daher, dass das öffentlich-rechtliche Namensänderungsverfahren in solchen Fällen kostenfrei sein soll. Dabei kann die Kostenfreiheit auch dadurch entstehen, dass die Rechtsgrundlage für die Erhebung der Gebühr erst aufgrund des Anwendungsvorrangs der Unionsbürgerfreizügigkeit entfällt.608 Allerdings ist ein öffentlich-rechtliches Namensänderungsverfahren, das lediglich im Nachgang zu der in unionsrechtswidriger Weise vorgenommenen Namensbildung auf Antrag des Unionsbürgers einen unionsrechtskonformen Rechtszustand herstellt, über die Kostenfrage hinaus nicht geeignet, dem Eingriff in das Freizügigkeitsrecht des Unionsbürgers durch die unionsrechtswidrige Gesamtnorm die beschränkende Qualität zu nehmen.609 Dies liegt zum einen darin begründet, dass die Unannehmlichkeiten eines zusätzlichen Verwaltungsverfahrens nicht nur in den hierfür entstehenden Kosten liegen. Es muss ein Antrag bei der zuständigen Behörde gestellt werden. In der Zeit zwischen der Antragstellung und der Antragsbescheidung verbleibt es bei der beschränkenden Pflicht, einen anderen als den vom Unionsbürger gewünschten Namen zu führen. Entscheidend ist allerdings die fehlende Transparenz der Regelung. Der betroffene Unionsbürger muss, sofern die einzige rechtliche Möglichkeit zur Korrektur des unionsrechtswidrigen Verhaltens des Mitgliedstaates in der Einleitung eines nachlaufenden öffentlich-rechtlichen Namensänderungsverfahrens besteht, positive Kenntnis von dieser Möglichkeit haben. Ein schlichter Blick auf die unionsrechtswidrige Gesamtnorm zeigt dem Unionsbürger die Korrekturmöglichkeit nicht auf. Vielmehr erscheint der durch die Gesamtnorm hergestellte Rechtszustand für den betroffenen Unionsbürger unumstößlich, da sie weder eine sachrechtliche Namenswahl noch eine kollisionsrechtliche Rechtswahl vorsieht. Damit wird von dem betroffenen Unionsbürger verlangt, dass er sich über die Möglichkeit der öffentlich-rechtlichen Namensänderung informieren lassen muss, was seinerseits Kosten nach sich ziehen kann. Hieraus folgt zum einen, dass die schlichte Möglichkeit eines auch kostenfreien öffentlich-rechtlichen Namensänderungsverfahrens nicht ausreicht, um der eigentlich unionsrechtswidrigen Gesamtnorm ihre beschränkende Qualität 608 jurisPK-BGB/Janal, Art. 10 EGBGB Rn. 35; Lipp, StAZ 2009, 1, 8; Benicke/Zimmermann, IPRax 1995, 141, 149 f. 609 Der EuGH behandelte diese Problematik in der Rs. C-541/15, Freitag, EU:C:2017:432 Rn. 40 ff. Ohne die vorliegend dargelegten Gründe für die mangelnde Eignung eines nachlaufenden öffentlich-rechtlichen Namensänderungsverfahrens zu erörtern, scheint der EuGH aufgrund des Vorhandenseins eines derartigen Verfahrens den Wegfall der Beschränkungsqualität einer namensrechtlichen Gesamtnorm anzunehmen (Rn. 46). Der EuGH diskutiert allerdings nur die von der deutschen Bundesregierung vorgetragene Argumentation, wonach besondere Sachverhaltskonstellationen bei Doppelstaatsangehörigen als „wichtiger Grund“ im Sinne des § 3 NamÄndG anzusehen sind und das behördliche Ermessen in diesen Fällen auf Null reduziert ist. Die weiteren Nachteile des nachlaufenden öffentlich-rechtlichen Namensänderungsverfahrens wurden in dem Verfahren nicht behandelt.
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zu nehmen, und zum anderen, dass eine mitgliedstaatliche Rechtsordnung nur dann als unionsrechtskonform angesehen werden kann, wenn die Möglichkeit einer sachrechtlichen Namenswahl oder einer kollisionsrechtlichen Rechtswahl vorgesehen ist. 4. Die Namenswahl nach Art. 48 EGBGB Im Hinblick auf das deutsche Internationale Namensrecht stellt sich vor dem Hintergrund der aufgezeigten Anforderungen der Unionsbürgerfreizügigkeit als Zugangsfreiheit für nach ausländischem Sachrecht gebildete Namen von Unionsbürgern und zu nach inländischem Recht bildbaren Namen610 sowie der Ungeeignetheit eines nachlaufenden, lediglich korrigierenden öffentlich-rechtlichen Namensänderungsverfahrens, einer unionsrechtswidrigen Gesamtnorm ihre beschränkende Qualität zu nehmen,611 die Frage, ob der deutsche Gesetzgeber mit der Einfügung des Art. 48 EGBGB durch das „Gesetz zur Anpassung der Vorschriften des Internationalen Privatrechts an die Verordnung (EU) Nr. 1259/2010 und zur Änderung anderer Vorschriften des internationalen Privatrechts vom 23.1.2013“612 als Reaktion auf das Urteil des EuGH in der Rechtssache „Grunkin-Paul“ einen unionsrechtskonformen Rechtszustand hergestellt hat.613 610
Siehe S. 447 f. Siehe S. 449 f. 612 BGBl. I, 2013, Nr. 3, S. 101. 613 Auf Art. 47 EGBGB wird vorliegend nicht näher eingegangen. Art. 47 Abs. 1 EGBGB unterscheidet sich von Art. 48 EGBGB dahingehend, dass für dessen Anwendbarkeit erforderlich ist, dass ein Name einer Person nach deren ursprünglichen ausländischen Namensstatut rechtmäßig verliehen wurde und es anschließend zu einem Statutenwechsel zum deutschen Recht kommt (bspw. durch einen Wechsel zur deutschen Staatsangehörigkeit). Nach dem Grundsatz der Namenskontinuität besteht in diesem Fall der nach ausländischem Recht gebildete Name grundsätzlich fort, vgl. BGH, NJW 2014, 1383, 1385. Änderungen des nach dem ausländischen Recht gebildeten Namens im Hinblick auf das nach dem Statutenwechsel anwendbare deutsche Namensrecht werden der betroffenen Person durch Art. 47 Abs. 1 EGBGB ermöglicht, nicht jedoch von ihr verlangt, vgl. MünchKommBGB/Lipp, Art. 47 EGBGB Rn. 3, 11. Somit tritt bei Art. 47 Abs. 1 EGBGB die vorliegend interessierende Konstellation, in der das deutsche Recht die Führung eines in einem EU-Mitgliedstaat rechtmäßig erworbenen Namens verweigert oder das deutsche Recht einem Unionsbürger den Zugang zu deutschem Namenssachrecht versperrt, grundsätzlich nicht auf, vgl. auch Staudinger/Hepting/Hausmann, Art. 47 EGBGB Rn. 23. Denkbar wäre dies allenfalls gewesen, wenn ein nach dem deutschen Namenssachrecht unbekannter Namensbestandteil (wie bspw. der Vatersname nach dem bulgarischen Recht als Zwischenname) im Falle einer Nichtausübung des Wahlrechts aus Art. 47 Abs. 1 EGBGB von einem deutschen Standesamt in ein deutsches Personenstandsregister nicht eingetragen werden dürfte. Dann nämlich ginge ein nach ausländischem Recht rechtmäßig erworbener Name gegen den Willen des betroffenen Unionsbürgers verloren. Dies hat der BGH jedoch in seinem Beschluss vom 19. Februar 2014 mit Verweis auf Art. 2 Abs. 1 i.V.m. Art. 1 Abs. 1 GG verneint, ohne zusätzlich auf Unionsrecht einzugehen, vgl. BGH NJW 2014, 1383, 1385 f. 611
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4. Kapitel: Einwirkungen des Primärrechts in das autonome IPR
Nach Art. 48 EGBGB kann eine Person, die dem deutschen Namensstatut unterliegt, in Abweichung von dem Namen, der entsprechend dem nach Art. 10 EGBGB bestimmten Namenssachrecht gebildet wurde, einen Namen wählen, den diese Person während eines gewöhnlichen Aufenthalts in einem anderen EU-Mitgliedstaat erworben hat und der in das dortige Personenstandsregister eingetragen wurde. Es handelt sich bei Art. 48 EGBGB trotz seiner Stellung im EGBGB um eine Sachnorm.614 Sie verlangt zu ihrer Anwendbarkeit, dass kollisionsrechtlich deutsches Namensrecht anwendbar ist. Damit hat sich der deutsche Gesetzgeber gegen eine kollisionsrechtliche Umsetzung des EuGHUrteils in Form der Einräumung von Rechtswahlmöglichkeiten, sondern für eine sachrechtliche Umsetzung in Form einer Namenswahl entschieden.615 Die sachrechtliche Umsetzung mit der Möglichkeit einer abweichenden Namenswahl bei deutschem Namensstatut macht zudem deutlich, dass der deutsche Gesetzgeber die vom materiellen deutschen Namensrecht getroffenen Entscheidungen im Hinblick auf die Zusammensetzung des Namens für abschließend hält und damit kein Raum für eine gesetzesübersteigende oder unionsrechtskonforme Rechtsfortbildung des deutschen Namenssachrechts besteht, um hiervon abweichende Namenskonstellationen sachrechtlich zu erfassen. Die sachrechtliche Umsetzung der EuGH-Rechtsprechung vermag jedoch nicht sämtliche durch die Unionsbürgerfreizügigkeit aufgeworfenen Rechtsprobleme zu lösen,616 wie sogleich zu zeigen sein wird. a) Vorweg: Die neu definierte „contra legem“-Grenze bei der unionsrechtskonformen Rechtsfortbildung des Art. 10 EGBGB Mit dem Gesetz zur Einführung von Art. 48 EGBGB hat der deutsche Gesetzgeber seinen Willen bezüglich den Grenzen des Art. 10 EGBGB in Kenntnis der Auslegung der Unionsbürgerfreizügigkeit durch den EuGH erneuert.617 Ausweislich der Begründung für dieses Gesetz618 führt der Gesetzgeber in Bezug auf die Rechtswahlmöglichkeiten in Art. 10 Abs. 2 und Abs. 3 EGBGB aus, dass in Kenntnis der Rechtsprechung des EuGH „[e]ine Erweiterung der im internationalen Vergleich ohnehin schon großzügigen Rechtswahlmöglichkeiten für das Namensrecht […] bewusst nicht vorgeschlagen [wird].“619 Hie614
Staudinger/Hepting/Hausmann, Art. 48 EGBGB Rn. 2; MünchKommBGB/Lipp, Art. 48 EGBGB Rn. 2. 615 Staudinger/Hepting/Hausmann, Art. 48 EGBGB Rn. 3. 616 Mankowski, StAZ 2014, 97 ff.; Freitag, StAZ 2013, 69, 75 ff.; Wall, StAZ 2014, 294, 296 f. 617 Zum Verständnis der „contra legem“-Grenze bei der unionsrechtskonformen Rechtsfortbildung von Art. 10 EGBGB vor der Annahme des Gesetzes, mit dem Art. 48 EGBGB eingeführt wurde, siehe oben S. 424 ff. 618 BT-Drs. 17/11049. 619 BT-Drs. 17/11049, S. 12.
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raus lässt sich ein aktualisierter gesetzgeberischer Willen ableiten, der im Rahmen einer unionsrechtskonformen Rechtsfortbildung einer analogen Anwendung von Art. 10 Abs. 3 S. 1 Nr. 2 EGBGB auf Fälle, in denen ein Elternteil seinen gewöhnlichen Aufenthalt nicht in Deutschland hat, entgegen steht. Damit schwenkt der Blick auf den neu eingefügten Art. 48 EGBGB und auf dessen Tauglichkeit, Beschränkungen der Unionsbürgerfreizügigkeit aufzuheben, sowie, soweit auch bei Anwendung des Art. 48 EGBGB Beschränkungen verbleiben, auf die Möglichkeiten, diesen Artikel unionsrechtskonform auszulegen oder fortzubilden, um einen möglichen Unionsrechtsverstoß zu beheben. Andernfalls kommt die Suspensivwirkung des Anwendungsvorrangs des Unionsrechts zum Tragen, aufgrund dessen jenes Element der Gesamtnorm unangewendet bleibt, das gegen die Unionsbürgerfreizügigkeit verstößt. Dabei steht es dann im Ermessen des Gerichts der lex fori, ob dies die Kollisionsnorm des Art. 10 EGBGB oder die Sachnorm des Art. 48 EGBGB betrifft. b) Fortbestehende Beschränkung bei ausländischem Namensstatut Als Sachnorm verlangt Art. 48 EGBGB die kollisionsrechtliche Anwendbarkeit deutschen Sachrechts. Art. 10 EGBGB kann jedoch bei Unionsbürgern nichtdeutscher Staatsangehörigkeit zu einer Anwendbarkeit ausländischen Sachrechts führen, wenn die ausländische Kollisionsnorm die deutsche Verweisung annimmt und es damit nicht zu einer Rückverweisung auf das deutsche Recht kommt. Sieht nunmehr das ausländische Kollisions- und Sachrecht keine Namens- oder Rechtswahlmöglichkeit vor, mit der der betroffene Unionsbürger den hiervon abweichenden, nach ausländischem Sachrecht gebildeten Namen wählen kann, verletzt die Gesamtnorm, die ein deutsches Gericht in einem solchen Fall anzuwenden hätte, die Unionsbürgerfreizügigkeit. Die Namenswahlmöglichkeit in Art. 48 EGBGB hilft mangels Anwendbarkeit deutschen Sachrechts nicht weiter.620 Allenfalls die Rechtswahlmöglichkeiten des Art. 10 Abs. 2 und Abs. 3 EGBGB könnten Abhilfe leisten. Allerdings decken auch die Rechtswahlmöglichkeiten nicht alle denkbaren Konstellationen ab. Kommt beispielsweise ein nichtdeutsches Kind in einem EU-Mitgliedstaat zur Welt kommen, ohne dass die Eltern die Staatsangehörigkeit dieses EU-Mitgliedstaates haben, stünde den Eltern die Rechtswahlmöglichkeiten des Art. 10 Abs. 3 EGBGB trotz eines gewöhnlichen Aufenthalts in Deutschland nicht zur Verfügung.621 In dieser zugegebenermaßen nur selten praktisch vorkommenden Fallgruppe können die Eltern mangels deutschem Namensstatut auch nicht von der Namenswahlmöglichkeit in Art. 48 EGBGB Gebrauch machen.
620 MünchKommBGB/Lipp, Art. 48 EGBGB Rn. 34; Freitag, StAZ 2013, 69, 75 f.; Kohler/Pintens, FamRZ 2013, 1437, 1440 („Achillesferse“ des Art. 48 EGBGB). 621 Vgl. Freitag, StAZ 2013, 69, 76.
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4. Kapitel: Einwirkungen des Primärrechts in das autonome IPR
c) Fortbestehende Beschränkung bei Namensänderung ohne gleichzeitigen gewöhnlichen Aufenthalt in dem EU-Mitgliedstaat Eine weitere Schwäche des Art. 48 EGBGB wurde in einem Urteil des OLG München aufgedeckt.622 In diesem Fall ging es um die Namensänderung einer deutsch-österreichischen Doppelstaatsangehörigen, die in Deutschland geboren und weiterhin wohnhaft war, in ihren ursprünglichen Geburtsnamen aufgrund der Scheidung ihrer Eltern und der Änderung des Nachnamens ihrer Mutter. Die Betroffene wollte diese Änderung des Nachnamens ihrer Mutter nachvollziehen und ihren bei der Geburt verliehenen Nachnamen, der der ehemalige Ehename der Eltern war, in den Geburtsnamen ihrer Mutter ändern. Diese Namensänderung erfolgte durch Erklärung gegenüber dem österreichischen Standesamt, das einen entsprechenden „Staatsbürgerschaftsnachweis“ ausstellte, in dem der neue Familienname der Betroffenen eingetragen wurde.623 Die Eintragung dieser Änderung in das deutsche Geburtenbuch hatte das deutsche Standesamt abgelehnt und wurde vom OLG München bestätigt. Die Namenswahlmöglichkeit in Art. 48 EGBGB blieb der Betroffenen verschlossen, weil sie die Namensänderung in Österreich vornahm, ohne dort ihren gewöhnlichen Aufenthalt zu haben. Das OLG München verwies die Betroffene daher auf das öffentlich-rechtliche Namensänderungsverfahren. Dieses wurde vorliegend bereits als geeignete Maßnahme zur Abwendung einer Behinderung der Unionsbürgerfreizügigkeit abgelehnt.624 Damit beschränkt in diesem Fall die Gesamtnorm, die der deutsche Richter anwenden muss, die Unionsbürgerfreizügigkeit.625 Eine hiermit vergleichbare Fallgruppe, deren namensrechtliche Probleme durch die Namenswahlmöglichkeit des Art. 48 EGBGB mangels gewöhnlichen 622 OLG München, StAZ 2014, 179. Eine vergleichbare Konstellation lag dem Urteil des EuGH in der Rs. C-541/15, Freitag, EU:C:2017:432 zugrunde. Hier ging es um einen deutsch-rumänischen Doppelstaatsangehörigen, der ohne gewöhnlichen Aufenthalt in Rumänien seinen Nachnamen nach rumänischem Recht änderte und eintragen ließ. 623 Nach § 13 Abs. 1 i.V.m. § 9 Abs. 1 des österreichischen IPRG bestimmt sich das Namensstatut nach der Staatsangehörigkeit; bei Doppelstaatsangehörigen geht die österreichische Staatsangehörigkeit vor, ohne dass es zugleich auf einen gewöhnlichen Aufenthalt in Österreich ankäme. Gemäß § 157 Abs. 2 S. 1 des österreichischen ABGB kann der Familienname des Kindes neu bestimmt werden, wenn sich der Familienname eines Elternteils ändert. Dies verlangt nach § 93c i.V.m. § 157 Abs. 3 ABGB eine entsprechende Erklärung gegenüber dem Standesbeamten. Die Namensänderung der Mutter, die ausschließlich die deutsche Staatsangehörigkeit hat, unterliegt als Vorfrage nach österreichischem Kollisionsrecht dem deutschen Recht, das nach Art. 10 EGBGB die Verweisung aufgrund der deutschen Staatsangehörigkeit annimmt. Die Namensänderung der Mutter erfolgte auf Grundlage von § 1355 Abs. 5 S. 2 BGB. Die Voraussetzungen für eine rechtmäßige Namensänderung der Betroffenen nach österreichischem Recht waren damit erfüllt. Vgl. Wall, StAZ 2014, 294, 297. 624 Siehe S. 449 f.; ebenso Wall, StAZ 2014, 294, 298. 625 Zu demselben (vorläufigen) Ergebnis kommt auch Wall, StAZ 2014, 294, 298.
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Aufenthalts bei der Namenserteilung nicht gelöst werden können, erkennt man bei einer leichten Modifikation des Sachverhalts, der der Rechtssache „Grunkin-Paul“ zugrunde lag.626 Ähnlich wie in „Grunkin-Paul“ wären die beiden Eltern ausschließlich deutsche Staatsangehörige, deren Kind in Dänemark zur Welt kommt. Nunmehr leben die Eltern jedoch nicht in Dänemark, sondern in Spanien. Die dänische Kollisionsnorm knüpft an den Wohnsitz der Eltern an, weshalb das spanische Recht zur Anwendung berufen wird, das die Erteilung eines Doppelnamens ohne Bindestrich vorsieht. Es kommt dabei nicht darauf an, dass das spanische Kollisionsrecht selber zur Bestimmung des anwendbaren Namensrechts an die Staatsangehörigkeit anknüpft. Die dänische Kollisionsnorm ist nämlich eine Sachnormverweisung, so dass unmittelbar spanisches Sachrecht zur Anwendung gelangt.627 Im deutschen Hoheitsgebiet ergäbe sich nun dieselbe Rechtslage, die das Rechtsproblem in der Rechtssache „Grunkin-Paul“ schuf, ohne dass die Namenswahlmöglichkeit in Art. 48 EGBGB Abhilfe leisten könnte, da die Namenserteilung in Dänemark ohne gleichzeitigen gewöhnlichen Aufenthalt in Dänemark erfolgte. Somit beschränkt auch in diesem Fall die vom deutschen Richter anzuwendende Gesamtnorm die Unionsbürgerfreizügigkeit.628 d) Unionsrechtskonforme Rechtsfortbildung von Art. 48 EGBGB Soweit weder die Rechtswahlmöglichkeiten des Art. 10 Abs. 2 und 3 EGBGB noch die Namenswahlmöglichkeit des Art. 48 S. 1 EGBGB die durch die Gesamtnorm begründeten Beschränkungen der Unionsbürgerfreizügigkeit beseitigen, entsteht ein Konflikt zwischen der Gesamtnorm und der Unionsbürgerfreizügigkeit. Dieser wäre durch den Anwendungsvorrang der Unionsbürgerfreizügigkeit aufzulösen, sofern weder Art. 10 EGBGB noch Art. 48 EGBGB unionsrechtskonform dergestalt ausgelegt oder fortgebildet werden können, dass hierdurch die aufgezeigten fortbestehenden Beschränkungen der Unionsbürgerfreizügigkeit aufgelöst werden könnten. Bezüglich Art. 10 EGBGB sind weder einer unionsrechtskonforme Auslegung noch – zumindest seit der Annahme des Gesetzes, mit dem Art. 48 EGBGB eingeführt wurde,629 – eine unionsrechtskonforme Rechtsfortbildung dergestalt möglich, dass die Rechtswahlmöglichkeiten des Art. 10 Abs. 3 EGBGB derart ausgeweitet werden könnten, dass EU-Auslandsrechte wählbar wären. Im Hinblick auf Art. 48 S. 1 EGBGB scheitert eine unionsrechtskonforme Auslegung am eindeutigen Wortlaut der Norm. Es müssten nämlich entweder die Formulierungen „unterliegt der Name einer Person deutschem Recht“ oder „während eines gewöhnlichen Aufenthalts“ uminterpretiert werden, so dass es 626
Beispielsfall gebildet von Wall, StAZ 2013, 237, 244 f. Vgl. Wall, StAZ 2013, 237, 245 Fn. 105 m.w.N. 628 Wall, StAZ 2013, 237, 245. 629 Siehe oben S. 423. 627
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4. Kapitel: Einwirkungen des Primärrechts in das autonome IPR
auf das deutsche Namensstatut als Anwendungsvoraussetzung nicht ankommt bzw. die Namenserteilung auch ohne gleichzeitigen gewöhnlichen Aufenthalt von Art. 48 EGBGB erfasst ist. Somit stellt sich die Frage nach einer unionsrechtskonformen Rechtsfortbildung des Art. 48 S. 1 EGBGB. Die hierfür erforderliche Lücke entsteht im Verbund der Rechtsordnungen durch die Abweichung von Art. 48 EGBGB von den Vorgaben der Unionsbürgerfreizügigkeit und zwar in den Konstellationen, die soeben unter b) und c) beschrieben wurden. Die Lückenschließung kann auf zweierlei Weise erfolgen. Zum einen könnte das Tatbestandsmerkmal „während eines gewöhnlichen Aufenthalts“ derart teleologisch reduziert werden, dass es in den relevanten Fällen nicht mehr auf einen gewöhnlichen Aufenthalt ankommt (aa)). Zum anderen könnte das Tatbestandsmerkmal „deutschem Recht“ dergestalt teleologisch erweitert werden, dass es auf jedwede EU-Rechtsordnung ausgeweitet wird (bb)). In beiden Fällen ist entscheidend, ob die unionsrechtskonforme Rechtsfortbildung jeweils die „contra legem“Grenze überschreitet, wie sie im Verbund der Rechtsordnungen zu ziehen ist.630 Andernfalls greift der unionsrechtliche Anwendungsvorrang. aa) Teleologische Reduktion des Tatbestandsmerkmals „während eines gewöhnlichen Aufenthalts“ Soweit die fortbestehenden Beschränkungen der Unionsbürgerfreizügigkeit trotz Art. 48 EGBGB darauf zurückzuführen sind, dass dieser in S. 1 verlangt, dass die Namenserteilung in einem anderen EU-Mitgliedstaat während eines gewöhnlichen Aufenthalts in diesem Mitgliedstaat erfolgt sein muss, wäre eine teleologische Reduktion von S. 1 um das Tatbestandsmerkmal „während eines gewöhnlichen Aufenthalts“ denkbar. Das würde dazu führen, dass das Namenswahlrecht bei deutschem Namensstatut auch solche Namen mitumfasst, die entsprechend einer mitgliedstaatlichen Namensrechtsordnung gebildet wurden, ohne dass der Namensträger zugleich seinen gewöhnlichen Aufenthalt bei der Namenserteilung in dem Hoheitsgebiet des betreffenden Mitgliedstaates hatte. Ob hiermit die „contra legem“-Grenze überschritten wird, kann im Ergebnis offenbleiben. Greift nämlich alternativ der unionsrechtliche Anwendungsvorrang, wird das Tatbestandsmerkmal „während eines gewöhnlichen Aufenthalts“ suspendiert. An dessen Stellen träte der negative Normbefehl der Unionsbürgerfreizügigkeit, deren Vorgaben nunmehr ohne Weiteres erfüllt sind.
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Siehe dazu oben S. 64 ff.
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bb) Teleologische Extension des Tatbestandsmerkmals „Unterliegt … deutschem Recht“ Die Fallgruppe, in der die fortbestehenden Beschränkungen der Unionsbürgerfreizügigkeit darauf zurückzuführen sind, dass die Namenserteilung nicht dem deutschen Namensstatut unterliegt und eine unionsrechtskonforme Rechtsfortbildung des berufenen materiellen Namensrechts nicht möglich ist, bildet die Grundlage für einen anschaulichen Anwendungsfall der Wirkungsweise des unionsrechtlichen Anwendungsvorrangs. Die Fallgruppe zeichnet sich zunächst einmal dadurch aus, dass Art. 10 Abs. 1 EGBGB in eine ausländische Rechtsordnung verweist, um das auf sie anwendbare Recht zu bestimmen. Vorbehaltlich einer Rückverweisung ist Art. 48 EGBGB daher mangels deutschen Namensstatuts nicht anwendbar und damit auch nicht Teil der vom deutschen Richter anzuwendenden Gesamtnorm. Scheitert eine unionsrechtskonforme Fortbildung von Art. 10 Abs. 3 S. 1 Nr. 2 EGBGB an dem nunmehr aktualisierten gesetzgeberischen Willen, der einer Ausweitung der Rechtswahlmöglichkeiten entgegensteht, käme der unionsrechtliche Anwendungsvorrang zum Greifen. Es stünde dann im Ermessen des Gerichts, ob die Sachnorm oder die Kollisionsnorm dem Anwendungsvorrang unterliegt. Aufgrund der eventuell erforderlichen weitreichenden Modifikationen des ausländischen Sachrechts wurde vorliegend das Prinzip aufgestellt, den Anwendungsvorrang zunächst gegenüber der Kollisionsnorm der lex fori greifen zu lassen.631 Dies hätte die Unanwendbarkeit von Art. 10 Abs. 1 EGBGB zur Folge. Das Namenskollisionsrecht würde hierdurch lückenhaft werden, ohne dass Art. 21 Abs. 1 AEUV eine positive Regelung vorgibt, die an die Stelle dieser Kollisionsnormen treten könnte. Diese Lücke könnte in Fällen, die die Erteilung des Geburtsnamens betreffen, geschlossen werden, indem man Art. 10 Abs. 3 S. 1 Nr. 2 EGBGB analog auf die Situation überträgt, in der ein Elternteil seinen gewöhnlichen Aufenthalt im Ausland hat, so dass eine Wahl des ausländischen Sachrechts eröffnet wird.632 Alternativ zur Unanwendbarkeit von Art. 10 Abs. 1 EGBGB könnte auch im Wege einer unionsrechtskonformen Rechtsfortbildung das Erfordernis des deutschen Namensstatuts in Art. 48 S. 1 EGBGB dahingehend erweitert werden, dass bei Anwendbarkeit einer EU-Namensrechtsordnung ein Unionsbürger durch Erklärung gegenüber dem Standesamt den in einem anderen Mit-
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Siehe dazu oben S. 326 f. Siehe hierzu oben S. 422 ff.; auf den aktualisierten gesetzgeberischen Willen, wie er im Gesetz, mit dem Art. 48 EGBGB eingeführt wurde, zum Ausdruck kam, kommt es nach dem Eingreifen des Anwendungsvorrangs nicht mehr an, da dieser die „contra legem“Grenze, die für die unionsrechtskonforme Rechtsfortbildung gilt, überwindet. 632
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4. Kapitel: Einwirkungen des Primärrechts in das autonome IPR
gliedstaat der Europäischen Union erworbenen und dort in ein Personenstandsregister eingetragenen Namen wählen [kann], sofern dies nicht mit wesentlichen Grundsätzen des deutschen Rechts offensichtlich unvereinbar ist.633 Die Anwendung von Art. 48 EGBGB in Fällen, die nicht dem deutschen Namensstatut unterliegen, ist der analogen Anwendung von Art. 10 Abs. 3 S. 1 Nr. 2 EGBGB vorzuziehen. Dies folgt zum einen daraus, dass der deutsche Gesetzgeber diese Norm geschaffen hat, um in der Folge des Urteils des EuGH in der Rechtssache „Grunkin-Paul“ einen unionsrechtskonformen Rechtszustand zu schaffen.634 Da ursprünglich zur Behandlung der Sachverhalte, die demjenigen in „Grunkin-Paul“ entsprechen, auch eine analoge Anwendung von Art. 10 Abs. 3 S. 1 Nr. 2 EGBGB635 ausgereicht hätte, um einen unionsrechtskonformen Rechtszustand zu erreichen, hat sich der Gesetzgeber mit der Einfügung von Art. 48 EGBGB bewusst für eine Regelung entschieden, die von einer richterrechtlich fortgebildeten Kollisionsnorm in Art. 10 EGBGB abweicht. Diese gesetzgeberische Grundentscheidung ist auch bei der Rechtsfortbildung von Normen zur Auflösung fortbestehender Beschränkungen der Unionsbürgerfreizügigkeit zu beachten.636 Zum anderen regelt Art. 10 Abs. 3 S. 1 Nr. 2 EGBGB lediglich die Fälle der Bestimmung des Geburtsnamens eines Kindes. Die hier diskutierten Fälle fortbestehender Beschränkungen der Unionsbürgerfreizügigkeit trotz Art. 48 EGBGB gehen jedoch über die Geburtsnamensbestimmung hinaus. Daher ist Art. 48 EGBGB dem Art. 10 EGBGB für eine unionsrechtskonforme Rechtsfortbildung zur Behandlung der fortbestehenden Beschränkungen der Unionsbürgerfreizügigkeit im Namensrecht vorzuziehen. (1) Art. 48 EGBGB als versteckte Kollisionsnorm Allerdings hat der Gesetzgeber mit Art. 48 EGBGB eine Sachnorm geschaffen, deren internationaler Anwendungsbereich von Art. 10 EGBGB festgelegt wird.637 Möchte man Art. 48 EGBGB auch in den Fällen anwenden, in denen deutsches Recht eigentlich nicht anwendbar ist, müsste Art. 48 EGBGB seinen internationalen Anwendungsbereich eigenständig festlegen. Er wäre dann nicht 633 So der Vorschlag von Freitag, StAZ 2013, 69, 76 (analoge Anwendung des Art. 48 EGBGB); Wall, StAZ 2013, 237, 246 (analoge Anwendung des Art. 48 EGBGB); MünchKommBGB/Lipp, Art. 48 EGBGB Rn. 34 (analoge Anwendung des Art. 48 EGBGB). 634 Vgl. BT-Drs. 17/11049, S. 12: „Voraussetzung für eine solche Namenswahl ist jedoch, dass die Vorschriften des deutschen internationalen Privatrechts auf deutsche Sachvorschriften verweisen.“ 635 Siehe oben S. 422 ff. 636 MünchKommBGB/Lipp, Art. 48 EGBGB Rn. 3. 637 BT-Drs. 17/11049, S. 12: „Voraussetzung für eine solche Namenswahl ist jedoch, dass die Vorschriften des deutschen internationalen Privatrechts auf deutsche Sachvorschriften verweisen. Damit bleibt insbesondere die in Artikel 10 Absatz 1 EGBGB vorgesehene Anknüpfung des Namens an die Staatsangehörigkeit grundsätzlich erhalten.“
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mehr nur eine Sachnorm, sondern auch eine Kollisionsnorm,638 die als Teil der lex fori bei einem Auslandssachverhalt, in dem ein Unionsbürger seinen Namen in einem anderen EU-Mitgliedstaat erworben hat und dieser dort eingetragen wurde, anzuwenden ist. Diese versteckte Kollisionsnorm würde dann jedoch nicht Art. 10 EGBGB verdrängen, sondern vielmehr als eine Art „Abs. 4“ von Art. 10 EGBGB zur Anwendung kommen. Art. 48 EGBGB beinhaltet nämlich eine Wahlmöglichkeit zwischen dem Namen, der nach dem durch Art. 10 EGBGB zur Anwendung berufenen Namensrecht gebildet wurde, und dem hiervon abweichenden, nach der Rechtsordnung eines anderen EU-Mitgliedstaat gebildeten und dort eingetragenen Namen. Somit muss immer auch die nach Art. 10 EGBGB zu bestimmende anwendbare Namensrechtsordnung festgestellt werden, bevor ein Unionsbürger sein Wahlrecht aus Art. 48 EGBGB ausüben kann. Ob eine Sachnorm „selbstbegrenzt“ ist,639 d.h. dass sie ihren räumlich-persönlichen Anwendungsbereich selbst festlegt, ist der Sachnorm aus ihrem Wortlaut sowie aus ihrem Sinn und Zweck zu entnehmen.640 Grundsätzlich sind aufgrund der Kodifikation des IPR im EGBGB deutsche Sachnormen nicht als „versteckte“ Kollisionsnormen zu verstehen. Der Wortlaut von Art. 48 S. 1 EGBGB setzt bereits eine Grenze, da er ausdrücklich die kollisionsrechtliche Bestimmung der Anwendbarkeit deutschen Rechts voraussetzt („Unterliegt der Name einer Person deutschem Recht …“). Ist damit die Grenze der Auslegung gezogen, müsste der Wortlaut der Norm dahingehend fortgebildet werden, dass der Name einer Person dem Recht eines EU-Mitgliedstaates unterliegt.641 Eine derartige Rechtsfortbildung deckt sich mit dem Sinn und Zweck der Norm. Der Gesetzgeber wollte nämlich mit der Norm eine Lösung für die von der Rechtssache „Grunkin-Paul“ aufgeworfenen Rechtsprobleme in der deutschen Rechtsordnung schaffen.642 Vorliegend wurde nachgewiesen, dass das Urteil „Grunkin-Paul“ nicht auf die sachverhaltlichen Besonderheiten reduziert werden kann, sondern vielmehr generell eine Aussage über namensrechtliche Beschränkungen traf, die aus der parallelen Anwendbarkeit unterschiedlicher Namensrechtsordnungen entstehen, ohne
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Darauf verweist auch Mankowski, StAZ 2014, 97, 100. So die Bezeichnung bei Kropholler, IPR, § 13 IV 2., S. 108. 640 Siehr, RabelsZ 46 (1982), 357, 374. 641 Die Begrenzung auf das Recht eines EU-Mitgliedstaates ergibt sich daraus, dass die unionsrechtskonforme Rechtsfortbildung nur soweit zu erfolgen hat, wie sie von der Unionsrechtsnorm verlangt wird. Auf die Unionsbürgerfreizügigkeit aus Art. 21 Abs. 1 AEUV kann sich nur ein Unionsbürger berufen, der ein Staatsangehöriger eines EU-Mitgliedstaates sein muss. Da Art. 10 Abs. 1 EGBGB an die Staatsangehörigkeit anknüpft, bestimmt er bei einem Unionsbürger immer eine Rechtsordnung eines EU-Mitgliedstaates als anwendbare Namensrechtsordnung. 642 BT-Drs. 17/11049, S. 12. 639
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dass sich hieraus eine Diskriminierung ergibt.643 Der Gesetzgeber ging jedoch davon aus, dass die von Art. 48 EGBGB nicht erfassten Beschränkungen in ausreichendem Maße durch die Rechtswahlmöglichkeiten des Art. 10 Abs. 2 und 3 EGBGB abgedeckt sind.644 Damit besteht die Funktion des Art. 48 EGBGB darin, die nach Ausschöpfung der Rechtswahlmöglichkeiten des Art. 10 EGBGB fortbestehenden Beschränkungen der Unionsbürgerfreizügigkeit zu Gunsten eines Namenswahlrechts des Unionsbürgers abzubauen. Vorliegend wurde aufgezeigt, dass es trotz der Rechtswahlmöglichkeiten in Art. 10 EGBGB und trotz der ausdrücklichen Regelung in Art. 48 EGBGB noch Beschränkungen der Unionsbürgerfreizügigkeit gibt.645 Das mit Art. 48 EGBGB verfolgte Regelungsziel des Gesetzgebers wurde in der Fassung des ausdrücklichen Wortlauts, den der Gesetzgeber geschaffen hatte, nicht erreicht. Das von Art. 48 EGBGB zu erreichende Regelungsziel kann demnach nur durch eine Fortbildung dergestalt erreicht werden, die Sachnorm des Art. 48 EGBGB als Kollisionsnorm zu verstehen, sofern das durch Art. 10 EGBGB bestimmte Recht dasjenige eines EU-Mitgliedstaates ist.646 (2) Art. 48 EGBGB als Rechtswahl Möchte man nun das Wahlrecht aus Art. 48 EGBGB auch in denjenigen Fällen zur Anwendung bringen, in denen nach Art. 10 EGBGB auf eine ausländische EU-Rechtsordnung verwiesen wird, gibt es zwei Möglichkeiten, wie man die Art. 48 EGBGB zu entnehmende versteckte Kollisionsnorm verstehen kann: Zum einen kann es sich dabei um eine Eingriffsnorm handeln, die bei Vorliegen ihrer Voraussetzungen ohne Rücksicht auf das Namensstatut auf deutsches Sachrecht verweist, das die von Art. 48 EGBGB vorgesehene Namenswahl eröffnet. Zum anderen kann es sich um eine Rechtswahlbefugnis handeln, mit der ein Unionsbürger die auf seine Namensbildung anwendbare Rechtsordnung wählt. Nach Art. 4 Abs. 2 EGBGB ist eine Rechtswahl eine Sachnormverweisung, so dass der Name des Unionsbürgers entsprechend der gewählten Namensrechtsordnung zu bilden ist. Dabei ist die Rechtswahl auf diejenigen Rechtsordnungen beschränkt, in denen dem Unionsbürger ein Name erteilt und dieser Name eingetragen wurde. Mit der Nichtausübung der Rechtswahl unterliegt die Namensbildung der nach Art. 10 EGBGB bestimmten Namensrechtsordnung. Für das Verständnis als Eingriffsnorm spricht insbesondere die gesetzgeberische Entscheidung, Art. 48 EGBGB als Sachnorm auszugestalten, mit der lediglich ein Name, nicht aber die Rechtsordnung gewählt wird, die den Namen gebildet hat. Spätere Namensänderungen richten sich demnach weiterhin nach 643
Siehe oben S. 416 f. BT-Drs. 17/11049, S. 12. 645 Siehe oben S. 453 ff. 646 Vgl. Wall, StAZ 2013, 237, 246 f. 644
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dem nach Art. 10 EGBGB bestimmten deutschen Recht. Dagegen spricht jedoch, dass eine Eingriffsnorm abweichend von der Regelanknüpfung auf die lex fori nur im öffentlichen Interesse verweist.647 Ein derartiges öffentliches Interesse ist jedoch auf den ersten Blick in der Einräumung eines Namenswahlrechts für einen Unionsbürger nicht erkennbar. Es handelt sich hierbei vielmehr um das Interesse eines Privaten.648 Es ließe sich allenfalls argumentieren, dass das öffentliche Interesse der Eingriffsnorm in der Herstellung eines unionsrechtskonformen Rechtszustandes besteht. Diese Argumentation wirkt vor dem Hintergrund des Sinns und Zwecks von Eingriffsnormen allerdings sehr konstruiert. Überzeugender ist daher die Einordnung von Art. 48 EGBGB in Fällen, in denen Art. 10 EGBGB eine ausländische Rechtsordnung als Namensstatut bestimmt, als Rechtswahlbefugnis. Es handelt sich dabei dann, ähnlich den Rechtswahlbefugnissen in Art. 10 Abs. 2 und Abs. 3, um eine vom Kollisionsrecht der lex fori einem Unionsbürger eingeräumte Möglichkeit, von dem von Art. 10 Abs. 1 EGBGB bestimmten Namensrecht abzuweichen. Dabei wirkt die Rechtswahl ex tunc auf den Zeitpunkt der Erteilung des Namens nach den Vorschriften der gewählten Rechtsordnung zurück. Die Einräumung einer Rechtswahlbefugnis wird dem Regelungszweck des Art. 48 EGBGB in Fällen, in denen eine ausländische EU-Rechtsordnung das nach Art. 10 EGBGB anwendbare Recht ist, am ehesten gerecht. Wie die sachrechtliche Namenswahl bei deutschem Namenstatut verlangt die kollisionsrechtliche Namensrechtswahl bei EU-ausländischem Namensstatut eine Erklärung des betroffenen Unionsbürgers und keinen „Anerkennungsautomatismus“, ob der Name, der entsprechend einer anderen EU-Rechtsordnung gebildet und dort eingetragen wurde, auch tatsächlich von dem Unionsbürger geführt werden möchte und die deutsche Rechtsordnung diesen Namen daher zu achten hat. Diesem Verständnis kann nicht entgegen gehalten werden, dass man dem dergestalt fortgebildeten Art. 48 EGBGB keinen Anknüpfungspunkt entnehmen könnte.649 Das Anknüpfungsmoment ist nämlich, ähnlich den von Art. 10 Abs. 2 und Abs. 3 EGBGB geregelten Fällen, die Willenserklärung des Unionsbürgers. (3) Keine Überschreitung der „contra legem“-Grenze durch die unionsrechtskonforme Rechtsfortbildung des Art. 48 EGBGB Die vorliegend vorgeschlagene Rechtsfortbildung von Art. 48 EGBGB führt im Anwendungsbereich der Unionsbürgerfreizügigkeit zur Annahme einer ungeschriebenen Kollisionsnorm mit Rechtswahlmöglichkeiten. Eine derartige Ausweitung von Rechtswahlmöglichkeiten im Internationalen Namensrecht 647
Vgl. nur Kropholler, IPR § 3 II, S. 18 f. Mankowski, StAZ 2014, 97, 100. 649 So Mankowski, StAZ 2014, 97,100. 648
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4. Kapitel: Einwirkungen des Primärrechts in das autonome IPR
wollte der deutsche Gesetzgeber bei der Schaffung des Art. 48 EGBGB jedoch vermeiden. In der Gesetzesbegründung heißt es: „Noch weitergehende Rechtswahlmöglichkeiten könnten die Zahl hinkender Namensführungen erhöhen, da solche Rechtswahlmöglichkeiten in der Mehrzahl der anderen Staaten nicht im gleichen Umfang bestehen. Dadurch würde die für den Namen grundsätzlich sinnvolle Staatsangehörigkeitsanknüpfung ausgehöhlt. […] Eine Erweiterung der im internationalen Vergleich ohnehin schon großzügigen Rechtswahlmöglichkeiten für das Namensrecht wird daher bewusst nicht vorgeschlagen.“650 Es stellt sich somit die entscheidende Frage, ob die vorgeschlagene Rechtsfortbildung einer Sachnorm in eine Kollisionsnorm mit Rechtswahl die „contra legem“-Grenze überschreitet. Stellt man auf den Gesamtplan des deutschen Gesetzgebers, wie er in der Gesetzesbegründung zu Art. 48 EGBGB zum Ausdruck kam, zur Ziehung der „contra legem“-Grenze ab, so erscheint diese Grenze mit der Annahme zusätzlicher Rechtswahlmöglichkeiten im Internationalen Namensrecht erreicht zu sein. Allerdings ist zu berücksichtigen, dass es sich vorliegend um eine Lückenfüllung im Anwendungsbereich von Unionsrecht handelt, bei der die „contra legem“-Grenze anders zu ziehen ist als nach der tradierten juristischen Methodenlehre im Hinblick auf die nationale Rechtsordnung.651 Bei der Ziehung der „contra legem“-Grenze im Anwendungsbereich von unionalen Rechtspflichten, kollidieren, anders als bei der Ziehung der „contra legem“-Grenze im rein nationalen Kontext, nicht nationale Judikative und nationale Legislative, sondern unionale Rechtspflichten und nationale Legislative. Dies führt dazu, dass sich der nationale Richter nur über den bewusst von der unionalen Rechtspflicht abweichenden nationalen gesetzgeberischen Willen, wie er im Wortsinn der nationalen Rechtsnorm zum Ausdruck kommt, nicht hinwegsetzen darf.652 In der Gesetzesbegründung zu Art. 48 EGBGB hat sich der Gesetzgeber ausdrücklich auf die Sachverhaltskonstellationen bezogen, die der Rechtssache „Grunkin-Paul“ zugrunde gelegen sind.653 Darüber hinausgehende Sachverhaltskonstellationen, zu deren Behandlung der deutsche Richter eine Gesamtnorm anzuwenden hat, die trotz der Rechtswahlmöglichkeiten in Art. 10 EGBGB und trotz der Namenswahl in Art. 48 EGBGB weiterhin Beschränkungen der Unionsbürgerfreizügigkeit begründet, hatte der deutsche Gesetzgeber nicht im Blick, so dass es keinen hierauf bezogenen, die Umsetzung von Unionspflichten ausdrücklich ablehnenden gesetzgeberischen Willen gibt.
650
BT-Drs. 17/11049, S. 12. Ausführlich oben S. 64 ff. 652 Siehe oben S. 66 f. 653 BT-Drs- 17/11049, S. 12: „Der neue Artikel 48 EGBGB soll künftig in Fällen, die dem vom EuGH entschiedenen Sachverhalt entsprechen, im deutschen Namensrecht eine Rechtsgrundlage für die Eintragung eines im EU-Ausland erworbenen und dort in ein Personenstandsregister eingetragenen Namens bieten.“ 651
C. Internationales Namensrecht
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Zwar hat im Gesetzgebungsverfahren zu Art. 48 EGBGB der Bundesrat Fallgestaltungen vorgetragen, für die Art. 48 EGBGB nach seiner Rechtsauffassung keine Regelung enthält, die zu einem unionsrechtskonformen Rechtszustand führt.654 Diese Rechtsauffassung wurde von der Bundesregierung nicht geteilt.655 Es handelt sich bei dieser Ablehnung durch die Bundesregierung jedoch nicht um eine gesetzgeberische Willensäußerung, wonach Art. 48 EGBGB auf namensrechtliche Sachverhalte, die nicht dem deutschen Namensstatut unterliegen, nicht anwendbar sein soll, sondern um eine schlichte Zurückweisung der Bedenken des Bundesrates. Die Bundesregierung und mit ihr der Gesetzgeber gehen vielmehr davon aus, dass „die einzelnen Fragen in der Stellungnahme des Bundesrates […] durch den Wortlaut, die ausführliche Begründung und die begrenzte Zielsetzung des Regierungsentwurfs (schnelle, leicht handhabbare und bürgerfreundliche Lösung) sowie durch das geltende deutsche Recht (Artikel 5 Absatz 1 und Artikel 10 des Einführungsgesetzes zum Bürgerlichen Gesetzbuche) beantwortet werden.“656 Der Gesetzgeber geht mit anderen Worten davon aus, dass andere Fallkonstellationen wie diejenigen, die von Art. 10 EGBGB und Art. 48 EGBGB geregelt werden, keine Beschränkungen der Unionsbürgerfreizügigkeit begründen. Vorliegend wurde jedoch nachgewiesen,657 dass diese Auffassung nicht zutreffend ist. Mithin gibt es keine gesetzgeberische Willensäußerung gegen eine unionsrechtskonforme Rechtsfortbildung des Art. 48 EGBGB für den Fall, dass trotz Art. 10 EGBGB und trotz Art. 48 EGBGB Beschränkungen der Unionsbürgerfreizügigkeit fortbestehen. Somit überschreitet die vorgeschlagene unionsrechtskonforme Rechtsfortbildung von Art. 48 EGBGB nicht die „contra legem“-Grenze, wie sie im Verbund der Rechtsordnungen zu ziehen ist. (4) Zusammenfassung Um das Wahlrecht aus Art. 48 EGBGB auch in den Fallkonstellationen anzuwenden, in denen Art. 10 EGBGB nicht das deutsche Recht, sondern das Recht eines anderen EU-Mitgliedstaates als anwendbares Namensrecht bestimmt, ohne dass es zu einer Rückverweisung kommt, muss Art. 48 EGBGB im Anwendungsbereich des Art. 21 Abs. 1 AEUV unionsrechtskonform fortgebildet werden. Die hierzu erforderliche Regelungslücke entsteht daraus, dass trotz Art. 10 EGBGB und Art. 48 EGBGB Beschränkungen der Unionsbrügerfreizügikeit fortbestehen, wenn das durch Art. 10 Abs. 1 EGBB bestimmte Namensrecht keine Wahlmöglichkeiten für den Unionsbürger vorsieht und dieser einen von dieser Namensrechtsordnung nicht anerkannten Namen eintragen 654
BR-Drs. 468/12. BT-Drs. 17/11049, S. 17. 656 BT-Drs. 17/11049, S. 17. 657 Siehe oben S. 453 ff. 655
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4. Kapitel: Einwirkungen des Primärrechts in das autonome IPR
lassen möchte, der ihm von einer anderen EU-Namensrechtsordnung verliehen wurde. Im Wege der unionsrechtskonformen Rechtsfortbilung ist zur Füllung dieser Lücke die Sachnorm des Art. 48 EGBGB in eine Kollisionsnorm mit Rechtswahlmöglichkeiten umzudeuten. Der persönliche Anwendungsbereich dieser Kollisionsnorm ist im Gleichlauf mit Art. 21 Abs. 1 AEUV auf Unionsbürger zu beschränken, während die möglichen Namensstatute auf diejenigen der EU-Mitgliedstaaten auszuweiten sind. Folglich liegt eine teleologische Extension von Art. 48 EGBGB folgender Gestalt vor: „Unterliegt der Name eines Unionsbürgers dem Recht eines EU-Mitgliedstaates, so kann er durch Erklärung gegenüber dem Standesamt den [während eines gewöhnlichen Aufenthalts] in einem anderen Mitgliedstaat der Europäischen Union erworbenen und dort in ein Personenstandsregister eingetragenen Namen wählen, sofern dies nicht mit wesentlichen Grundsätzen des deutschen Rechts offensichtlich unvereinbar ist.“
V. Grundprinzip hinter der Freizügigkeit von Namen: Grenzüberschreitende Namenswahlfreiheit Betrachtet man nun in einer Gesamtschau die Anforderungen der Unionsbürgerfreizügigkeit an die mitgliedstaatlichen Namensrechtsordnungen, wird deutlich, dass sie die Freiheit des Unionsbürgers schützt, seinen Namen zu wählen und unionsweit zu führen.658 Dazu gehört der diskriminierungs- und beschränkungsfreie Zugang zum Namensrecht der Mitgliedstaaten. Das bedeutet jedoch nicht, dass der Namenserwerb voraussetzungslos sein muss. Die Mitgliedstaaten können eine besondere Verbindung des Unionsbürgers zu ihrer Rechtsordnung in Form eines gewöhnlichen Inlandsaufenthalts oder der Staatsangehörigkeit verlangen. Letzteres darf im Ergebnis nicht zu Diskriminierungen aus Gründen der Staatsangehörigkeit führen. Führt der Unionsbürger einen ihm nach den Anforderungen einer mitgliedstaatlichen Rechtsordnung verliehenen Namen, ist dieser ein untrennbarer Teil des Unionsbürgers, so dass die Mitgliedstaaten dem Unionsbürger und seinem geführten Namen den Zugang zum eigenen Hoheitsgebiet gewähren müssen. Dies äußert sich in einer Achtungspflicht des geführten Namens, nicht jedoch in einer Anerkennungspflicht, wonach der im Ausland erworbene Name entgegen der eigenen Rechtsordnung zwingend anzuerkennen ist. Die Namenswahlfreiheit des Unionsbürgers beinhaltet auch die Freiheit, einen neuen Namen zu führen, der ihm von der Rechtsordnung des Zuzugsstaates beispielsweise aufgrund eines Statutenwechsels verliehen wurde, und der nunmehr von den Rechtsordnungen der anderen EU-Mitgliedstaaten zu achten ist. Die Namenswahlfreiheit kann dabei sowohl sachrechtlich als auch kollisionsrechtlich gewährleistet werden. Eine sachrechtliche Namenswahlfreiheit in der lex fori stößt allerdings dann auf ihre Grenzen, wenn das Kollisionsrecht 658
Ebenso MünchKommBGB/Lipp, Art. 10 EGBGB Rn. 219 ff.
D. Zusammenfassung
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der lex fori zur Anwendbarkeit einer anderen Rechtsordnung führt als derjenigen der lex fori und die anwendbare Rechtsordnung keine sachrechtliche Namenswahlfreiheit oder kollisionsrechtliche Rechtswahlfreiheit in Namenssachen kennt. In diesen Fällen kann die Namenswahlfreiheit des Unionsbürgers in der lex fori nur kollisionsrechtlich durch eine Rechtswahlbefugnis gewährleistet werden. Somit ist das Grundprinzip, das der Freizügigkeit der Unionsbürger nach Art. 21 Abs. 1 AEUV im Namensrecht unterliegt, die grenzüberschreitende Gewährleistung der Namenswahlfreiheit. Sie umfasst den diskriminierungsund beschränkungsfreien Zugang zu den Namensgestaltungen der Rechtsordnungen der Mitgliedstaaten nach deren Vorgaben und verleiht einem gewählten Namen grenzüberschreitende Mobilität.
D. Zusammenfassung D. Zusammenfassung
Vor dem Hintergrund der abstrakt-theoretischen Erwägungen zu den spezifisch kollisionsrechtlichen Diskriminierungen und Beschränkungen und damit zum autonomen IPR als Gegenstand der Kontrolle durch die unionsrechtlichen Gleichheitssätze und Grundfreiheiten sowie vor dem Hintergrund der Untersuchungen der Einwirkungen des Unionsrechts in das Internationale Gesellschaftsrecht und das Internationale Namensrecht lässt sich nunmehr im Folgenden die Wirkungsweise des unionsrechtlichen Anwendungsvorrangs im autonomen IPR im Allgemeinen beschreiben (I.). Diese Wirkungsweise betrifft damit alle Rechtsgebiete des autonomen IPR und lässt sich nicht auf das vorliegend untersuchte Internationale Gesellschaftsrecht und Internationale Namensrecht beschränken (II.). Abschließend soll beispielhaft die Wirkungsweise in anderen Teilrechtsgebieten als dem Internationalen Gesellschaftsrecht und dem Internationalen Namensrecht aufgezeigt werden (III.). I. Die Wirkungsweise des unionsrechtlichen Anwendungsvorrangs im autonomen IPR Das autonome IPR der Mitgliedstaaten unterliegt dem unmittelbar anwendbaren Unionsrecht und ist damit Gegenstand der Einwirkung des unionsrechtlichen Anwendungsvorrangs. Es ist weder außerhalb des Anwendungsbereichs des Unionsrechts noch ist es der Anwendbarkeit der unionsrechtlichen Gleichheitssätze und der Grundfreiheiten vorgelagert. Die unionsrechtlichen Gleichheitssätze und die Grundfreiheiten enthalten grundsätzlich keine versteckten Kollisionsnormen. Eine versteckte Kollisionsnorm liegt vor, „wenn Tatbestand und Rechtsfolge einer […] Sachnorm
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4. Kapitel: Einwirkungen des Primärrechts in das autonome IPR
eine bestimmte kollisionsrechtliche Behandlung voraussetzen“.659 Die einschlägigen unionsrechtlichen Gleichheitssätze oder Grundfreiheiten müssten demnach „eine inhaltlich bestimmte kollisionsrechtliche Wirkung besitz[en] und sachrechtliche Erklärungen [müssten hierfür] ausscheiden.“660 Um eine derartige kollisionsrechtliche Wirkung einer primären Unionsrechtsnorm erkennen zu können, müsste demnach eine Beschränkung dieser Unionsrechtsnorm ausschließlich auf eine Kollisionsnorm des autonomen IPR zurückführbar sein, ohne dass für diese Beschränkung sachrechtliche Erklärungen tragend sein könnten. Mit anderen Worten müsste eine Kollisionsnorm des autonomen IPR die einschlägigen unionsrechtlichen Gleichheitssätze oder Grundfreiheiten in spezifischer Weise beschränken können.661 Die diskriminierende oder beschränkende Wirkung der aus Kollisionsnorm(en) und Sachnorm zusammengesetzten Gesamtnorm darf demnach nicht entfallen, wenn man die kollisionsrechtlich zur Anwendung berufene Sachnorm durch jedwede andere Sachnorm ersetzt. Transaktionskosten, die bei der Berufung fremden Rechts für den unionsrechtlich Berechtigten entstehen können, begründen an sich noch keine spezifisch kollisionsrechtliche Diskriminierung oder Beschränkung, da sie die zwingende Folge der Fortexistenz nationaler Rechtsordnungen mit ihren unterschiedlichen Rechtsfolgen im „unvollkommenen“ Binnenmarkt sind.662 Bei der Berufung einer anderen Rechtsordnung als der Herkunftsrechtsordnung kann der hiermit mögliche Wegfall von in letzterer rechtmäßig begründeten Rechtsverhältnissen oder Rechtslagen zu einer spezifisch kollisionsrechtlichen Beschränkung führen, wenn es sich bei diesen Rechtsverhältnissen oder Rechtslagen um derart gering verbreitete handelt, dass so gut wie jedwede andere anwendbare Sachrechtsordnung zum Verlust des Rechtsverhältnisses oder der Rechtslage führt. In allen anderen Fällen ist der Verlust des Rechtsverhältnisses oder der Rechtslage schlicht auf divergierendes Sachrecht zurückzuführen, ohne dass die Kollisionsnorm der lex fori zwingend bei jedem unionsrechtlich Berechtigten dasjenige Sachrecht bestimmt, das zu diesem Verlust führt.663 Bei der Berufung der Herkunftsrechtsordnung ist eine spezifisch kollisionsrechtliche Diskriminierung (wenn die lex fori die Rechtsordnung des Bestimmungs- bzw. Aufenthaltsstaates ist) oder Beschränkung (wenn die lex fori die Herkunftsrechtsordnung ist) mit Ausnahme von wenigen Sonderfällen nicht gegeben. Ein derartiger Sonderfall ist etwa die kumulative Anknüpfung, bei der sich der Ausländer gegenüber dem Inländer zusätzlich zu den Anforderungen der Inlandsrechtsordnung auch denjenigen der Herkunftsrechtsordnung 659
MünchKommBGB (2010)/Sonnenberger, Einl. IPR Rn. 466. Eidenmüller, RabelsZ 70 (2006), 474, 479. 661 Siehe dazu oben S. 296 ff. 662 Siehe dazu oben S. 164. 663 Siehe dazu oben S. 303 ff. 660
D. Zusammenfassung
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stellen muss. Darüber hinaus bildet jedoch die Berufung der Herkunftsrechtsordnung lediglich eine Teilmenge der sachrechtlichen Beschränkungen, ohne dass der Berufungsvorgang selbst eine spezifisch kollisionsrechtliche Diskriminierung oder Beschränkung begründet. Dies folgt daraus, dass die Behinderungswirkung bei der Berufung des Herkunftsrechts darin besteht, dass entweder der Herkunftsstaat den Wegzug versperrt, was dann aufgrund des Zusammenfallens von Kollisions- und Sachrechtsordnung eine sachrechtliche Wegzugssperre darstellt, oder der Bestimmungs- bzw. Aufenthaltsstaat an einen Auslandssachverhalt zwar andere Rechtsfolgen knüpft als an den Inlandssachverhalt, dem unionsrechtlich Berechtigten jedoch Zugang zum eigenen Hoheitsgebiet gewährt. Die Behinderungswirkung reduziert sich dann auf einen nachteilhaften Rechtsfolgenvergleich des anwendbaren und des inländischen Sachrechts. Sachrechtliche Behinderungen können jedoch zu spezifisch kollisionsrechtlichen werden, wenn die lex fori dem unionsrechtlich Berechtigten keinerlei kollisions- oder sachrechtliche Möglichkeiten eröffnet, den benachteiligenden Wirkungen der zur Anwendung berufenen Sachnorm zu entgehen. Zwar folgen die benachteiligenden Wirkungen der Gesamtnorm aus den Rechtsfolgen des anwendbaren Sachrechts. Wenn diese jedoch nicht modifiziert werden können, kann die Kollisionsnorm nicht hinweggedacht werden, ohne dass die Benachteiligung entfällt, so dass der Unionsrechtsverstoß nunmehr nur noch auf der Ebene der Kollisionsnorm vermeidbar ist. Die kollisions- oder sachrechtlichen Möglichkeiten zur Überwindung der benachteiligenden Wirkungen einer zur Anwendung berufenen Sachnorm können auch erst im Wege der richterlichen Rechtsfortbildung geschaffen worden sein. Ist die lex fori zugleich die Rechtsordnung des anwendbaren Sachrechts, führen die im Anwendungsbereich von unmittelbar anwendbarem Unionsrecht dem Gericht der lex fori zur Verfügung stehenden Möglichkeiten der Rechtsfortbildung und der Suspension entgegenstehenden nationalen Rechts als Folge des Anwendungsvorrangs, der spätestens bei Erreichen der „contra legem“Grenze der Rechtsfortbildung eingreift, dazu, dass das Gericht immer eine Lösung auf der Ebene des Sachrechts erreichen kann, so dass keine spezifisch kollisionsrechtliche Behinderung vorliegt. Handelt es sich bei der lex fori um eine andere Rechtsordnung als die des anwendbaren Sachrechts, hängt die Annahme einer spezifisch kollisionsrechtlichen Behinderung davon ab, ob und wie weit der inländische Richter rechtsfortbildend in das ausländische Sachrecht eingreifen kann. Vorliegend wird vertreten, dass im Anwendungsbereich des Unionsrechts die Auslegungs- und Fortbildungsbefugnisse des inländischen Richters, soweit das ausländische Sachrecht einen Unionsrechtsverstoß begründet, dieselben sind wie die des ausländischen Richters. Hierzu gehört im Anwendungsbereich des unmittelbar anwendbaren Unionsrechts auch die Suspension entgegenstehenden nationalen ausländischen Rechts bei der Durchführung des Anwendungsvorrangs. Dies
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4. Kapitel: Einwirkungen des Primärrechts in das autonome IPR
folgt daraus, dass in diesen Fällen sowohl der inländische als auch der ausländische Richter als Unionsrichter handeln und sie ihre Auslegungs- und Fortbildungsbefugnisse aus dem Unionsrecht erhalten, das die Unionsrichter dazu verpflichtet, einen unionsrechtskonformen Rechtszustand zu schaffen.664 Somit verfügt der inländische Richter im Anwendungsbereich unmittelbar anwendbaren Unionsrechts auch bei der Berufung ausländischen Sachrechts über die Möglichkeit, einen unionsrechtskonformen Rechtszustand auf der Ebene des Sachrechts bis hin zu dessen Suspension zu erreichen. Mithin sind auch in dieser Konstellation die Behinderungen keine spezifisch kollisionsrechtlichen. Liegt nunmehr der eher seltene Fall einer spezifisch kollisionsrechtlichen Diskriminierung oder Beschränkung vor, wäre zur Annahme einer versteckten Kollisionsnorm in den einschlägigen unionsrechtlichen Gleichheitssätzen oder Grundfreiheiten weiter notwendig, dass diese eine Vorgabe für die Bestimmung des anwendbaren Rechts enthalten. Die Betrachtung der Wirkung des primären Unionsrechts im Internationalen Gesellschaftsrecht und im Internationalen Namensrecht hat gezeigt, dass weder den unionsrechtlichen Gleichheitssätzen noch den Grundfreiheiten subsumtionsfähige Kriterien entnehmbar sind, wie eine anwendbare Rechtsordnung zu bestimmen wäre. Das Unionsrecht geht vielmehr vom Grundsatz der Gleichrangigkeit der Anknüpfungsmomente aus,665 so dass die nationalen Gerichte bei der Herstellung der Unionsrechtskonformität auf kollisionsrechtlicher Ebene frei darin sind, wie sie die spezifisch kollisionsrechtliche Diskriminierung oder Beschränkung abwenden. Mithin können den unionsrechtlichen Gleichheitssätzen und den Grundfreiheiten keine versteckten Kollisionsnormen entnommen werden. Der unionsrechtliche Anwendungsvorrang wirkt vor diesem Hintergrund also grundsätzlich auf die aus Kollisionsnorm(en) und Sachnorm zusammengesetzte Gesamtnorm ein. Ist ein unionsrechtskonformer Rechtszustand nicht im Wege der Auslegung der Gesamtnorm erreichbar, wird die Gesamtnorm aufgrund ihres Abweichens von den Vorgaben der einschlägigen unmittelbar anwendbaren unionsrechtlichen Gleichheitssätze oder Grundfreiheiten lückenhaft. Das Gericht der lex fori kann diese Lücke – aus Gründen des nationalen verfassungsrechtlichen „favor legis“ – mit den Mitteln der unionsrechtskonformen Rechtsfortbildung bis zur „contra legem“-Grenze schließen, die dort zu ziehen ist, wo sich der nationale Gesetzgeber in Kenntnis der Tragweite der unionsrechtlichen Vorgaben bewusst zu diesen in Widerspruch setzt. Spätestens dann greift die Suspensivwirkung des unionrechtlichen Anwendungsvorrangs, mit der die „contra legem“-Grenze im Anwendungsbereich von unmittelbar anwendbarem Unionsrecht überwunden wird. Die Durchführung des Anwendungsvorrangs kann dabei selbst die Lückenhaftigkeit der nationalen
664 665
Siehe dazu oben S. 314 f. Siehe dazu oben S. 344, 350, 416 f.
D. Zusammenfassung
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Rechtsordnung begründen, wenn sich der Normbefehl der unmittelbar anwendbaren Unionsrechtsnorm, der an die Stelle des suspendierten Teilelements der Gesamtnorm tritt, in einem Verbot erschöpft. Eine Lücke kann in zwei Konstellationen entstehen, die von den unionsrechtlichen Gleichheitssätzen und den Grundfreiheiten geschützt werden: beim Zugang zu Rechtsverhältnissen oder Rechtslagen der Zuzugsrechtsordnung oder beim Zugang bereits bestehender Rechtsverhältnisse oder Rechtslagen zum Geltungsgebiet der Zuzugsrechtsordnung. In beiden Konstellationen können sowohl der Zuzugsstaat als auch der Wegzugsstaat die Beschränkung begründen. In der ersten Konstellation ist die Zuzugsrechtsordnung der Bezugspunkt für die Prüfung der Unionsrechtskonformität, da dem unionsrechtlich Berechtigten im Gegensatz zu anderen Berechtigten im Sinne der Zuzugsrechtsordnung der Zugang verweigert wird. Die Lückenschließung erfolgt, indem die Rechtsfolgen einer Norm der Zuzugsrechtsordnung auf den bislang hiervon ausgeschlossenen unionsrechtlich Berechtigten erstreckt werden.666 In der zweiten Konstellation bilden die Rechtsfolgen der bislang auf ein Rechtsverhältnis oder eine Rechtslage anwendbaren Sachnorm den Bezugspunkt für die Prüfung der Unionsrechtskonformität. Die Divergenzen im Rechtsanwendungsergebnis der nach der Kollisionsnorm der lex fori berufenen Rechtsordnung und der bislang anwendbaren Rechtsordnung sind, soweit sie Diskriminierungen oder grundfreiheitenrelevante Beschränkungen begründen, vom Gericht der lex fori aufzuheben. Da in dieser Konstellation die bisher auf ein Rechtsverhältnis oder eine Rechtslage anwendbare Rechtsordnung den Prüfungsmaßstab bildet, zu dem die Zuzugsrechtsordnung in ein Verhältnis zu setzen ist, liegt es auf den ersten Blick nahe, von einem Anerkennungsprinzip im IPR zu sprechen.667 Ein derartiges Prinzip ginge aber von einer mechanischen Bestimmung der Anwendbarkeit einer vor dem Grenzübertritt auf ein Rechtsverhältnis oder eine Rechtslage anwendbaren Rechtsordnung aus. Die Untersuchung zum Internationalen Gesellschaftsrecht668 und zum Internationalen Namensrecht669 hat gezeigt, dass auch sachrechtliche Lösungen in der von der Kollisionsnorm der lex fori bestimmten Rechtsordnung denkbar sind. Es handelt sich bei der Wirkungsweise des unionsrechtlichen Anwendungsvorrangs um eine Achtungspflicht, die kein zwingendes kollisionsrechtliches Ergebnis, aber ein bestimmtes nichtdiskriminierendes und nichtbeschränkendes Rechtsanwendungsergebnis verlangt. 666 Siehe betreffend das Internationale Gesellschaftsrecht: S. 363 ff.; betreffend das Internationale Namensrecht: S. 448 f. 667 Leifeld, Anerkennungsprinzip, S. 129; Rieks, Anerkennung im Internationalen Privatrecht, S. 232 ff.; Baratta, RdC 348 (2010), 253, 443; ders., IPRax 2007, 4, 9. 668 Siehe dazu oben S. 379 f. 669 Siehe dazu oben S. 447.
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Hinzu tritt, dass der Grund, weshalb die unionsrechtlichen Gleichheitssätze oder die Grundfreiheiten einem Rechtsanwendungsergebnis entgegenstehen, wonach einem Rechtsverhältnis oder einer Rechtslage der Zugang zum Hoheitsgebiet eines Mitgliedstaates versperrt ist, nicht darin liegt, dass zwingend die Herkunftsrechtsordnung eines unionsrechtlich Berechtigten zur Anwendung zu berufen wäre und dieser unionsrechtlich Berechtigte seine Rechtsordnung wie eine Blase bei seiner Freizügigkeit innerhalb des Binnenmarktes mit sich trägt. Ein derartiges Verständnis stünde bereits im Widerspruch mit dem bereits angesprochenen Grundsatz der Gleichrangigkeit der Anknüpfungsmomente. Der Grund liegt vielmehr darin, dass die unionsrechtlichen Gleichheitssätze und Grundfreiheiten die individuelle Willensentscheidung des unionsrechtlich Berechtigten grenzüberschreitend gewährleisten. Dem unionsrechtlich Berechtigten steht es nämlich offen, sich der nach dem Grenzübertritt auf ihn anwendbaren Rechtsordnung und einem hiermit möglicherweise verbundenen Statutenwechsel zu unterwerfen. Eine mechanische Anwendung der Herkunftsrechtsordnung des unionsrechtlich Berechtigten würde dem entgegenstehen. In gleichem Maße schützen daher die unionsrechtlichen Gleichheitssätze und Grundfreiheiten das Rechtsverhältnis oder die Rechtslage, wie sie nach dem Willen des unionsrechtlich Berechtigten entstanden sind und die der unionsrechtlich Berechtigte bei der Ausübung seiner Freizügigkeitsrechte mitnehmen möchte. In diesem Sinne verwirklichen die unionsrechtlichen Gleichheitssätze und Grundfreiheiten die grenzüberschreitende Gewährleistung von Parteiautonomie. Handelt es sich bei einer aus Kollisionsnorm(en) und Sachnorm zusammengesetzten Gesamtnorm um eine unterschiedslos anwendbare Maßnahme, die auch nicht diskriminierend aus Gründen der Herkunft oder Staatsangehörigkeit wirkt, ist die gerade beschriebene Gewährleistung auf Zugangsfragen beschränkt. Sie dürfen nach der Dogmatik der Grundfreiheiten mithin keine Doppelbelastungen begründen, den Zugang versperren oder eine zugangsversperrende Wirkung haben.670 Derartige zugangsversperrende Wirkungen können nur Gesamtnormen haben, die den Bestand eines Rechtsverhältnisses oder einer Rechtslage infrage stellen. Aus diesem Grund wirkt die Niederlassungsfreiheit im Internationalen Gesellschaftsrecht nur auf Gesamtnormen ein, die die rechtliche Konfiguration des Marktakteurs betreffen, und nicht auf Umfeldregelungen, die keine Änderungen der rechtlichen Konfiguration verlangen.671 Aus diesem Grund wirkt die Unionsbürgerfreizügigkeit im Internationalen Namensrecht auf den Erwerb und den Fortbestand eines Namens ein, nicht jedoch auf den Gebrauch eines Namens.672
670
Siehe dazu oben S. 247. Siehe dazu oben S. 382 f. 672 Siehe dazu oben S. 447 ff. 671
D. Zusammenfassung
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Die Anwendung dieser Grundsätze im Internationalen Gesellschaftsrecht673 und im Internationalen Namensrecht674 hat gezeigt, wie man den Vorgaben des Unionsrechts mit den Mitteln der Rechtsfortbildung entsprechen kann, ohne eine andere, von der Kollisionsnorm der lex fori nicht berufene Rechtsordnung zur Anwendung zu bringen. Die Wirkungsweise des unionsrechtlichen Anwendungsvorrangs im autonomen IPR lässt sich nunmehr wie folgt zusammenfassen: Der unionsrechtliche Anwendungsvorrang begründet die Lückenhaftigkeit der Sachnorm oder der Kollisionsnorm innerhalb einer aus diesen beiden zusammengesetzten Gesamtnorm, wenn die Gesamtnorm gegen unmittelbar anwendbare Vorgaben der unionsrechtlichen Gleichheitssätze oder Grundfreiheiten, deren Schutzbereich eventuell durch Unionsgrundrechte aus der GRCh oder der EMRK verstärkt wird, verstößt. Die Lückenhaftigkeit folgt dabei grundsätzlich aus der Unanwendbarkeit desjenigen Teilelements der Gesamtnorm, das den Verstoß gegen die unionsrechtlichen Vorgaben begründete, und dem Normbefehl der anstelle zur Anwendung berufenen verletzten unionsrechtlichen Gleichheitssätze oder Grundfreiheiten, der sich in einer Untersagung von Diskriminierungen und Beschränkungen erschöpft. Die Lückenschließung erfolgt nach den Regeln der Rechtsfortbildung und darf aufgrund von Art. 4 Abs. 3 UAbs. 2 EUV nicht erneut gegen die unionsrechtlichen Gleichheitssätze und Grundfreiheiten verstoßen. Aus Gründen eines im mitgliedstaatlichen Recht begründeten „favor legis“ kann, bevor die Suspensiv- und Ersetzungswirkung des Anwendungsvorrangs greift, eine unionsrechtskonforme Rechtsfortbildung bis zur Erreichung der jeweiligen „contra legem“-Grenze, wie sie im Verbund der Rechtsordnungen zu ziehen ist, versucht werden. Es ist dann die „contra legem“Grenze, die mit der gerade beschriebenen Suspensivwirkung des Anwendungsvorrangs überwunden wird. II. Verallgemeinerungsfähigkeit der Feststellungen zum Internationalen Gesellschaftsrecht und zum Internationalen Namensrecht Abschließend muss sich die soeben abstrakt formulierte Wirkungsweise des unionsrechtlichen Anwendungsvorrangs im autonomen IPR dem Einwand stellen, dass sie auf der Untersuchung lediglich zweier Teilrechtsgebiete des IPR, nämlich des Internationalen Gesellschaftsrechts und des Internationalen Namensrechts, fußt und damit nicht für das gesamte autonome IPR verallgemeinerungsfähig ist.675 673
Siehe dazu oben S. 379 ff. Siehe dazu oben S. 422 ff. (zu Art. 10 EGBGB) und S. 455 ff. (zu Art. 48 EGBGB). 675 Gegen eine Verallgemeinerung der Rechtsprechung des EuGH zum Internationalen Gesellschaftsrecht Schmidt-Kessel, Ecolex 2006, 532, 533; gegen eine Verallgemeinerung der Rechtsprechung des EuGH zum Internationalen Namensrecht Funken, Anerkennungsprinzip, S. 178 ff. Zu einem ähnlichen Schluss kommt GA Sharpston, SchlA Rs. C-353/06, 674
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4. Kapitel: Einwirkungen des Primärrechts in das autonome IPR
Eine Verallgemeinerungsfähigkeit der Rechtsprechung zum Internationalen Namensrecht und damit ihre Übertragung auf andere familienrechtliche Statusverhältnisse wird damit abgelehnt, dass der Name eine ordnungs- und persönlichkeitsrechtliche Funktion habe, die in dieser Form nicht bei anderen familienrechtlichen Statusverhältnissen auftritt.676 Daneben stützt sich die Ablehnung der Verallgemeinerungsfähigkeit auf unionsrechtliche Argumente wie den engen Anwendungsbereich der Unionsbürgerfreizügigkeit, der den Namen als Identitätsmerkmal erfasst, nicht jedoch solche familienrechtlichen Rechtsverhältnisse, die nicht mit der Identität zusammenhingen,677 sowie die Begrenzung des Anwendungsbereichs der Unionsbürgerfreizügigkeit durch den Grundsatz der begrenzten Einzelzuständigkeit, das Subsidiaritätsprinzips und den Schutz der nationalen Identität der Mitgliedstaaten (Art. 4 Abs. 1 EUV).678 Alle drei Argumente lassen sich zusammenführen in dem Versuch, die Grenzen des Anwendungsbereichs der Unionsbürgerfreizügigkeit in einer Weise zu ziehen, dass er lediglich namensrechtliche Fälle erfasst. Zutreffend an diesem Versuch ist zunächst, dass die Teilrechtsgebiete des IPR nicht per se dem Unionsrecht unterworfen sind, sondern eine dem Teilrechtsgebiet entspringende Gesamtnorm in den Tatbestand eines unmittelbar anwendbaren unionsrechtsrechtlichen Gleichheitssatzes oder einer Grundfreiheit fallen und einen Eingriff begründen muss. Genauso zutreffend ist es aber, dass bestimmte Teilrechtsgebiete des autonomen IPR auch nicht per se nicht vom Unionsrecht erfasst werden.679 Es gibt keine Bereichsausnahme für Teilrechtsgebiete von der Kontrolle der unmittelbar anwendbaren unionsrechtlichen Gleichheitssätze und Grundfreiheiten. Daher muss unabhängig von der Zugehörigkeit einer Gesamtnorm zu einem Teilrechtsgebiet des autonomen IPR seine diskriminierende oder beschränkende Wirkung festgestellt werden. Vor diesem Hintergrund ist es ferner zutreffend, dass namensrechtliche Sachverhalte wegen der unmittelbaren Verbindung zwischen dem Namen und dem Namensträger von der Unionsbürgerfreizügigkeit erfasst sind und eine Zugangssperre für den geführten Namen eine zugangsversperrende Wirkung
Grunkin-Paul, Slg. 2008, I-7639 Nr. 93: „Schließlich möchte ich darauf hinweisen, dass die Bestimmung des Namens einer Person zwar eine Angelegenheit ist, die in den Anwendungsbereich der Gesetze über das Personalstatut fällt, dass sie aber eine eher besondere Materie in diesem Bereich darstellt. Es geht dabei auch um die Frage der Identifizierung, die sich von der des Rechtsstatus oder der Rechtsfähigkeit unterscheidet. Ich meine daher nicht, dass eine Entscheidung des Gerichtshofs im Bereich der Namen zwangsläufig auf diese anderen Angelegenheiten übertragen werden müsste.“ 676 Funken, Anerkennungsprinzip, S. 178, spricht vom Namen als „institution de police“. 677 Funken, Anerkennungsprinzip, S. 178 f. 678 Funken, Anerkennungsprinzip, S. 180. 679 Zu dieser Argumentation siehe bereits oben S. 295 f.
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für den Unionsbürger hat, was einen Eingriff in dessen Rechte aus der Unionsbürgerfreizügigkeit begründet.680 Auf dieser Grundlage kann allerdings die Argumentation, dass etwa die Nichtanerkennung einer (gleichgeschlechtlichen) Lebensgemeinschaft „trotz der damit verbundenen persönlichen Belastungen nur im Einzelfall von hinreichend schwerem Gewicht“ ist, um von der Unionsbürgerfreizügigkeit erfasst zu sein,681 nicht gelingen. Die Argumentation basiert auf dem Verständnis eines „streng freizügigkeitsorientierten“ Schutzbereichs der Unionsbürgerfreizügigkeit,682 der damit dogmatisch enger gefasst ist als bei den Marktgrundfreiheiten. Diese verengte Sichtweise auf den Schutzbereich der Unionsbürgerfreizügigkeit entspricht jedoch weder dem Sinn und Zweck der Unionsbürgerfreizügigkeit noch dem Verständnis des EuGH, wie weiter oben ausführlich dargelegt wurde.683 Die Unionsbürgerfreizügigkeit folgt vielmehr dogmatisch den Marktgrundfreiheiten und ist mit ihnen konvergent auszulegen. Daneben verweist die Formulierung „im Einzelfall von hinreichend schwerem Gewicht“ auf die aus der Rechtsprechung des EuGH bekannte Formulierung der „schwerwiegenden Nachteile“, die vorliegen müssen, um einen Eingriff in die Unionsbürgerfreizügigkeit zu begründen. Weiter oben wurde diesbezüglich dargelegt, dass die „schwerwiegenden Nachteile“ konvergent mit den Marktgrundfreiheiten dahingehend verstanden werden müssen, dass unterschiedslos anwendbare Maßnahmen Doppelbelastungen oder Zugangssperren begründen müssen, um ein Eingriff in die Marktgrundfreiheiten zu sein.684 Dabei ist im Hinblick auf den Namen argumentiert worden, dass dieser untrennbar mit der Person des freizügigkeitsberechtigten Unionsbürgers zusammenhängt, so dass eine Zugangssperre für den geführten Namen eine zugangsversperrende Wirkung für den Unionsbürger hat. Versteht man die Rechtsprechung zu den „schwerwiegenden Nachteilen“ in diesem Sinne, wird deutlich, dass Statusverhältnisse, die untrennbar mit der Person des Unionsbürgers in gleichem Maße dem Schutzbereich der Unionsbürgerfreizügigkeit unterliegen wie der Name. Das Bestehen einer Ehe oder einer eingetragenen Lebenspartnerschaft oder das Bestehen eines Adoptionsverhältnisses sind derartige Statusverhältnisse, die untrennbar mit der Person des Unionsbürgers verbunden sind. Ein physisches Zugangsrecht für den Unionsbürger zu dem Hoheitsgebiet eines Mitgliedstaates ist für diesen wertlos, wenn seine Ehe oder eingetragene Lebenspartnerschaft oder sein Adoptivkind dieses nicht ebenso betreten darf. So verstanden unterliegt das Bestehen von Statusverhältnissen ebenso wie das Bestehen des geführten Namens dem Schutzbereich der Unionsbürgerfreizügigkeit. 680 Zur zugangsversperrenden Wirkung in der Dogmatik der Unionsbürgerfreizügigkeit, siehe oben S. 278 ff. 681 Funken, Anerkennungsprinzip, S. 180. 682 Funken, Anerkennungsprinzip, S. 179. 683 Siehe oben S. 278 ff. 684 Siehe oben S. 279 f.
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4. Kapitel: Einwirkungen des Primärrechts in das autonome IPR
Die Argumente gegen eine Verallgemeinerungsfähigkeit der Feststellungen zur Einwirkung der Unionsbürgerfreizügigkeit in das Internationale Namensrecht vermögen demnach nicht zu überzeugen. Vielmehr sind die dargestellten Grundsätze auf sämtliche aus Kollisionsnorm(en) und Sachnorm zusammengesetzte Gesamtnormen übertragbar, die den Vorgaben der unionsrechtlichen Gleichheitssätze und Grundfreiheiten widersprechen.685 III. Wirkungsweise des Anwendungsvorrangs in anderen Teilrechtsgebieten des IPR Die Wirkungsweise des unionsrechtlichen Anwendungsvorrangs in anderen Teilrechtsgebieten als dem Internationalen Gesellschaftsrecht und dem Internationalen Namensrecht soll skizzenhaft mit jeweils einem Beispiel bezüglich des Zugangs des unionsrechtlich Berechtigten zu einem Rechtsverhältnis (1.) und bezüglich des Zugangs eines bestehenden Rechtsverhältnisses zum Hoheitsgebiet eines anderen Mitgliedstaates (2.) aufgezeigt werden. 1. Zugang zu einem Rechtsverhältnis: Das Internationale Adoptionsrecht Die Wirkungsweise des unionsrechtlichen Anwendungsvorrangs beim Zugang zu einem Rechtsverhältnis soll anhand des portugiesischen Internationalen Adoptionsrechts veranschaulicht werden. Nach dem Kollisionsrecht Portugals ist für die Begründung eines Adoptionsverhältnisses das Personalstatut des Annehmenden relevant (Art. 60 Abs. 1 des portugiesischen Código Civil). Wird das Adoptionsverhältnis von verheirateten Personen oder von Personen einer heterosexuellen nichtehelichen Lebensgemeinschaft („uniao de facto“) begründet, so findet das Recht der gemeinsamen Staatsangehörigkeit oder im Falle einer fehlenden gemeinsamen Staatsangehörigkeit das Recht des gemeinsamen gewöhnlichen Aufenthalts der künftigen Adoptiveltern Anwendung (Art. 60 Abs. 2 des Código Civil).686 Handelt es sich bei den künftigen Adoptiveltern um portugiesische Staatsangehörige, käme es zur Anwendung des portugiesischen Sachrechts. Nach Art. 1979 des Código Civil können Eheleute, die seit mindestens vier Jahren miteinander verheiratet und beide über 25 Jahre alt sind, einen Minderjährigen gemeinschaftlich adoptieren.687 Art. 7 des Gesetzes 7/2001 vom 11. Mai 2001 erstreckt Art. 1979 des Código Civil auf nichtverheiratete heterosexuelle Partner einer „uniao de facto“. Eine derartige nichteheliche Lebensgemeinschaft wird nach Art. 1 Abs. 2 desselben Gesetzes begründet, wenn zwei Personen länger als zwei Jahre unter den Bedingungen, die 685 Ebenso Leifeld, Anerkennungsprinzip, S. 82 ff.; Dethloff, ZEuP 2007, 992, 997; Mansel, RabelsZ 70 (2006), 651, 710 f. 686 Vgl. Albuquerque, in: Bergmann/Ferid/Henrich, Internationales Ehe- und Kindschaftsrecht, Portugal (2009), S. 20; Jayme, IPRax 2004, 269. 687 Vgl. Albuquerque, in: Bergmann/Ferid/Henrich, Internationales Ehe- und Kindschaftsrecht, Portugal (2009), S. 29 f.; Jayme, IPRax 2004, 269.
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denen von Eheleuten entsprechen, leben.688 Somit eröffnet das portugiesische Sachrecht die gemeinschaftliche Adoption sowohl für Eheleute als auch für heterosexuelle Partner einer nichtehelichen Lebensgemeinschaft. Leben nun zwei deutsche Staatsangehörige unterschiedlichen Geschlechts in einer eheähnlichen Lebensgemeinschaft seit mehreren Jahren in Portugal und wünschen sie, gemeinschaftlich ein Kind zu adoptieren, käme es nach dem portugiesischen IPR als der lex fori zur Anwendbarkeit deutschen Sachrechts. Entsprechend Art. 60 Abs. 2 des Código Civil ist an die gemeinsame Staatsangehörigkeit der Adoptiveltern anzuknüpfen, weshalb in dem gebildeten Fall deutsches Recht zur Anwendung berufen wird. Das portugiesische IPR spricht zudem nach Art. 16 des Código Civil grundsätzlich eine Sachnormverweisung aus, so dass eine Prüfung, ob das deutsche IPR die Verweisung annimmt, nicht vorgenommen werden muss.689 Nach § 1741 Abs. 2 S. 2 BGB ist eine gemeinschaftliche Adoption nur für Eheleute zulässig. Partner einer nichtehelichen Lebensgemeinschaft sind nach § 1741 Abs. 2 S. 2 BGB von einer gemeinschaftlichen Adoption ausgeschlossen.690 Somit muss der portugiesische Rechtsanwender den gemeinschaftlichen Adoptionswunsch der deutschen Partner einer nichtehelichen Lebensgemeinschaft aufgrund der fehlenden Ehe ablehnen. Würde nun derselbe Adoptionswunsch von Partnern einer nichtehelichen Lebensgemeinschaft mit ausschließlich portugiesischer Staatsangehörigkeit vorgetragen, käme der portugiesische Rechtsanwender gemäß Art. 7 des Gesetzes 7/2001 zu dem Ergebnis, dieses Begehren jedenfalls nicht an der fehlenden Ehe scheitern zu lassen. In diesem Fall wird deutlich, dass der portugiesische Rechtsanwender, der zur Entscheidung berufen ist, das gemeinschaftliche Adoptionsbegehren je nach Staatsangehörigkeit der Antragsteller unterschiedlich entscheidet. Wären die deutschen Partner in dem gebildeten Beispiel portugiesische Staatsangehörige, wäre ihr Begehren grundsätzlich erfolgreich. Die aus der portugiesischen Kollisionsnorm (Art. 60 Abs. 2 des Código Civil) und der deutschen Sachnorm (§ 1741 Abs. 2 S. 2 BGB) gebildete Gesamtnorm diskriminiert im portugiesischen Hoheitsgebiet aus Gründen der Staatsangehörigkeit und versperrt den Zugang für Unionsbürger zu einem portugiesischen Rechtsverhältnis, der gemeinschaftlichen Adoption, die portugiesischen Staatsangehörigen offensteht. Es liegt damit ein Verstoß gegen den unionsrechtlichen Gleichheitssatz in Art. 21 Abs. 1 AEUV vor, dem zufolge ein Unionsbürger, der sich im Hoheitsgebiet eines anderen Mitgliedstaates aufhält, nicht aus Gründen der Staatsangehörigkeit diskriminiert werden darf. Die Diskriminierung ist im portugiesi-
688
Siehe Schäfer, in: Rieck, Ausländisches Familienrecht, Portugal, Rn. 33. Staudinger/Hausmann, Anh. Art. 4 EGBGB Rn. 252. 690 Vgl. MünchKommBGB/Maurer, § 1741 Rn. 48; BeckOKBGB/Enders, § 1741 Rn. 30 f.; Staudinger/Frank, § 1741 Rn. 36. 689
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schen Hoheitsgebiet nicht rechtfertigbar, da das portugiesische Sachrecht jedenfalls die gemeinschaftliche Adoption durch unverheiratete heterosexuelle Partner zulässt. Auf eine mögliche Rechtfertigung von § 1741 Abs. 2 S. 2 BGB im deutschen Hoheitsgebiet kommt es nicht an, da die Diskriminierung unionsrechtlich dem portugiesischen Staat zugerechnet wird. Die festgestellte Diskriminierung ist jedoch keine spezifisch kollisionsrechtliche, da durch die Staatsangehörigkeitsanknüpfung des portugiesischen Kollisionsrechts auch eine Sachrechtsordnung berufen werden kann, die die gemeinschaftliche Adoption durch unverheiratete Partner zulässt. Die Abwendung der Diskriminierung aus Gründen der Staatsangehörigkeit gelingt nicht durch eine unionsrechtskonforme Auslegung des § 1741 Abs. 2 S. 2 BGB oder des Art. 60 Abs. 2 des Código Civil aufgrund des jeweils eindeutigen Wortlauts. Eine unionsrechtskonforme Rechtsfortbildung von § 1741 Abs. 2 S. 2 BGB scheitert an der „contra legem“-Grenze der deutschen Sachnorm, wie sie im Verbund der Rechtsordnungen zu ziehen ist.691 Zwar gibt es für den vorliegend gebildeten, bislang nur hypothetischen Sachverhalt keinen aktualisierten gesetzgeberischen Willen. Jedoch kann dem ausweislich der Materialien des Kindschaftsrechtsreformgesetzes692 erkennbaren gesetzgeberischen Willen unterstellt werden, dass der deutsche Gesetzgeber selbst in positiver Kenntnis eines Unionsrechtsverstoßes von § 1741 Abs. 2 S. 2 BGB in dem vorliegend gebildeten Sachverhalt daran festhalten würde, die gemeinschaftliche Adoption ausschließlich Eheleuten zu eröffnen.693 Somit schwenkt der Blick auf die portugiesische Kollisionsnorm. Hier stellt sich die Frage, ob die subsidiäre Aufenthaltsanknüpfung anstelle der primären Staatsangehörigkeitsanknüpfung angewandt werden kann. Es müsste demnach im Wege der Rechtsfortbildung eine neue Kollisionsnorm geschaffen werden, die bei künftigen Adoptiveltern mit Unionsbürgerschaft neben der gemeinsamen Staatsangehörigkeit entweder fakultativ (vergleichbar mit Art. 10 Abs. 3 EGBGB) oder alternativ (vergleichbar mit Art. 16 Abs. 2 EGBGB)694 an den gemeinsamen gewöhnlichen Aufenthalt in Portugal anknüpft. Während die erste Möglichkeit die Berufung portugiesischen Sachrechts in die Parteiautonomie der künftigen Adoptiveltern verweist, überträgt die zweite Möglichkeit die Verantwortung dem Gericht der lex fori, sofern das portugiesische Sachrecht im Gegensatz zum Sachrecht der gemeinsamen Staatsangehörigkeit der künftigen Eltern das Adoptionsverhältnis begründet. Entscheidend ist, ob hiermit die „contra legem“-Grenze des portugiesischen Kollisionsrechts über-
691
Zu den Voraussetzungen dieser „contra legem“-Grenze, siehe S. 66 ff. BT-Drs. 13/4899, S. 111. 693 MünchKommBGB/Maurer, § 1741 Rn. 37, 48. 694 Zur fakultativen und alternativen Anknüpfung siehe Kropholler, IPR, § 20, I 2 b, S. 140 (fakultative Anknüpfung); II, S. 141 f. (alternative Anknüpfung). 692
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schritten wird. Dies scheint nicht naheliegend, da die Wahl der Staatsangehörigkeitsanknüpfung weniger grundsätzlichen Erwägungen geschuldet ist, wie die Möglichkeit der subsidiären Anknüpfung an den gemeinsamen gewöhnlichen Aufenthaltsort zeigt, sondern mehr der rechtssicheren Bestimmung einer anwendbaren Rechtsordnung dient. Diesem Erfordernis kann auch eine alternative Anknüpfung dienen, da hierdurch klargestellt ist, dass es nur dann zur Abweichung von der gemeinsamen Staatsangehörigkeitsanknüpfung kommt, wenn das portugiesische Sachrecht ein Adoptivverhältnis zu begründen vermag. Letztlich kann die Bestimmung der „contra legem“-Grenze auch offenbleiben, da das Gericht der lex fori alternativ zur unionsrechtskonformen Rechtsfortbildung den Anwendungsvorrang durchführen kann. Dies hätte die Unanwendbarkeit der gemeinsamen Staatsangehörigkeitsanknüpfung in Art. 60 Abs. 2 des Código Civil zur Folge, was zur Anwendbarkeit der nächsten Stufe in der Anknüpfungskette in Form des gemeinsamen gewöhnlichen Aufenthalts führen würde, auf dessen Grundlage portugiesischen Sachrechts zur Anwendung berufen würde. Dieses Ergebnis wäre im Einklang mit den Vorgaben des Unionsrechts, so dass keine weitere Rechtsfortbildung des portugiesischen Kollisionsrechts notwendig wäre. Beide Wege würden zu dem Ergebnis führen, dass das Nichtbestehen einer Ehe in Portugal kein Hindernis mehr für die deutschen Staatsangehörigen darstellt, eine gemeinschaftliche Adoption erfolgreich zu beantragen. 2. Zugang eines bestehenden Rechtsverhältnis zum Hoheitsgebiet eines anderen Mitgliedstaats: Freizügigkeit rechtlich konfigurierter Lebensgemeinschaften Die Wirkungsweise des unionsrechtlichen Anwendungsvorrangs beim Zugang eines Rechtsverhältnisses, das nicht dem Internationalen Gesellschaftsrecht oder dem Internationalen Namensrecht unterliegt, soll anhand der Ehe gleichgeschlechtlicher Partner veranschaulicht werden. Die Ehe bildet wie die eingetragene Lebensgemeinschaft, wie sie das deutsche Sachrecht bis zum 30. September 2017 kannte,695 oder der französische „pacte civil de solidarité“ (PACS)696 eine rechtlich konfigurierte Lebensgemeinschaft. Die rechtlich konfigurierte Lebensgemeinschaft ist vorliegend als Oberbegriff für jede rechtsförmlich begründete Zweierbeziehung zu verstehen. Stellvertretend für die Probleme, die mit der Freizügigkeit rechtlich konfigurierter Lebensgemeinschaften auftreten, soll im Folgenden die Freizügigkeit einer gleichgeschlechtlichen Ehe näher betrachtet werden.
695 Gesetz zur Einführung des Rechts auf Eheschließung für Personen gleichen Geschlechts v. 20.7.2017 (BGBl. I, 2017, Nr. 52, S. 2787). 696 Art. 515–1 ff. des französischen Code Civil, dazu: Ferrand, FPR 2004, 335 ff.
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Ausgangspunkt bildet dabei das belgische Recht. Das belgische IPR ist in dem Code de droit international privé/Wetboek van internationaal privaatrecht (Code de DIP) kodifiziert. Nach Art. 46 des Code de DIP bestimmt sich das auf die Eheschließung anwendbare Recht nach der jeweiligen Staatsangehörigkeit der Nupturienten im Zeitpunkt der Eheschließung. Sollte das hiernach anwendbare Recht eines oder beider Nupturienten die Eheschließung gleichgeschlechtlicher Partner untersagen, so ist das auf die Eheschließung anwendbare Recht dasjenige der Staatsangehörigkeit oder des gewöhnlichen Aufenthaltes eines der Nupturienten, das die Eheschließung zulässt.697 Leben nun zwei männliche rumänische Staatsangehörige in Belgien, die dort die Ehe schließen wollen, bestimmt das belgische IPR zunächst das rumänische Heimatrecht der beiden Nupturienten zur Anwendung. Dabei kommt es nicht darauf an, ob das rumänische IPR die Verweisung annehmen würde, da das belgische IPR nach Art. 16 des belgischen Code de DIP lediglich Sachnormverweisungen ausspricht. Nach dem rumänischen Sachrecht ist eine Eheschließung nur unter verschiedengeschlechtlichen Personen möglich.698 Nach Art. 259 Abs. 1 des rumänischen Noul Cod Civil (NCC)699 ist die Ehe eine Verbindung zwischen einem Mann und einer Frau. Noch deutlicher verbietet Art. 277 Abs. 1 des rumänischen NCC die Ehe zwischen Personen gleichen Geschlechts. Somit greift Art. 46 S. 2 des belgischen Code de DIP, das aufgrund des gewöhnlichen Aufenthaltes der beiden rumänischen Nupturienten in Belgien das belgische Sachrecht zur Anwendung beruft, welches die gleichgeschlechtliche Ehe zulässt.700 Ziehen nun die nach belgischem Recht rechtmäßig verheirateten Eheleute nach Polen, ändert sich das auf ihren Zivilstand anwendbare Recht. Das polnische Kollisionsrecht beruft nämlich zur Frage nach dem Bestehen einer Ehe nach Art. 48 des polnischen Gesetzes über das Internationale Privatrecht (Prawo prywatne międzynarodowe)701 das Heimatrecht der Eheleute im Zeitpunkt der Eheschließung zur Anwendung, was im vorliegenden Fall das rumänische Recht ist. Das rumänische IPR nimmt die vom polnischen IPR ausgesprochene Gesamtverweisung (Art. 5 Abs. 1 des polnischen IPRG) an, da Art. 2586 Abs. 1 des rumänischen NCC ebenfalls an die Staatsangehörigkeit
697
Vgl. Pintens, in: Bergmann/Ferid/Henrich, Internationales Ehe- und Kindschaftsrecht, Belgien (2011), S. 37. 698 Vgl. Bormann, in: Bergmann/Ferid/Henrich, Internationales Ehe- und Kindschaftsrecht, Rumänien (2014), S. 26. 699 Gesetz Nr. 287/2009, Monitorul Oficial Nr. 511 vom 24. Juli 2009 sowie Monitorul Oficial Nr. 409 vom 10. Juni 2011 (Neuveröffentlichung). 700 Art. 143 des belgischen Code civil: „Deux personnes de sexe différent ou de même sexe peuvent contracter mariage.“ 701 Ustawa z dnia 4 lutego 2011 r. Prawo prywatne międzynarodowe, Dz.U. 2011 nr 80 poz. 432.
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anknüpft und damit auf rumänisches Sachrecht verweist.702 Dieses kennt, wie bereits ausgeführt, die Ehe unter gleichgeschlechtlichen Personen nicht. Noch weitergehend schreibt Art. 277 Abs. 2 des rumänischen NCC vor, dass Ehen zwischen Personen desselben Geschlechts, die im Ausland von rumänischen Staatsbürgern geschlossen worden sind, in Rumänien nicht anerkannt werden. Mangels einer Art. 46 S. 2 des belgischen Code de DIP vergleichbaren Sonderanknüpfung bei gleichgeschlechtlichen Ehen im polnischen IPR, ist nach dem aus der polnischen und rumänischen Kollisionsnorm sowie aus der rumänischen Sachnorm zusammengesetzten Gesamtnorm die nach belgischem Recht geschlossene Ehe der beiden rumänischen Staatsangehörigen im polnischen Hoheitsgebiet nicht existent. Ihr wird mit anderen Worten der Zugang zum polnischen Hoheitsgebiet verweigert. a) Zugangssperre für eine gleichgeschlechtliche Ehe als Verletzung der Unionsbürgerfreizügigkeit Diese Zugangssperre zum polnischen Hoheitsgebiet für die rechtlich konfigurierte Lebensgemeinschaft der gleichgeschlechtlichen Ehe nach belgischem Recht wirkt wie eine Zugangssperre zum polnischen Hoheitsgebiet für die betroffenen rumänischen Staatsangehörigen. Wie der Name ist auch die rechtliche Konfiguration der Lebensgemeinschaft eines Unionsbürgers untrennbar mit diesem verbunden. Die Zweierbeziehung einer Person ist wie ihre rechtsförmliche Anerkennung Teil der Identifikation dieser Person. Vergleichbar einem rechtlich konfigurierten Marktakteur, der sich mit seiner rechtlichen Konfiguration in einem anderen Mitgliedstaat zum Zwecke der Aufnahme einer wirtschaftlichen Tätigkeit niederlassen möchte, begehrt vorliegend die rechtliche Konfiguration der Zweierbeziehung den Zugang zum Hoheitsgebiet eines anderen Mitgliedstaates zum Zwecke der Aufenthaltsnahme. Wie beim rechtlich konfigurierten Marktakteur begründet auch bei der rechtlich konfigurierten Lebensgemeinschaft die Verweigerung des Zugangs für die rechtliche Konfiguration, wie sie vor dem Grenzübertritt besteht, zum Hoheitsgebiet eines anderen Mitgliedstaates eine Beschränkung der Grundfreiheiten. Erfolgt die Aufenthaltsnahme aus wirtschaftlichen Zwecken, liegt eine Beschränkung der Freizügigkeit der betroffenen natürlichen Person vor (Arbeitnehmerfreizügigkeit oder Niederlassungsfreiheit); erfolgt die Aufenthaltsnahme aus nichtökonomischen Zwecken, ist die Unionsbürgerfreizügigkeit einschlägig. Entscheidend ist für die unionsrechtliche Behandlung des dargelegten Falles die einzelfallbezogene Rechtfertigung. Vorliegend dürften – aus der Sicht des den Zugang verweigernden Mitgliedstaates Polen – der Schutz der Ehe, verstanden als Lebensgemeinschaft von Mann und Frau, sowie der bereits in der 702
Vgl. Bormann, in: Bergmann/Ferid/Henrich, Internationales Ehe- und Kindschaftsrecht, Rumänien (2014), S. 20.
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Rechtssache „Sayn-Wittgenstein“ zum österreichischen Adelsaufhebungsgesetz703 einschlägige Rechtfertigungsgrund der „nationalen Identität“, verstanden als „kulturelle Identität“ in dem Sinne, dass der Schutz der verschiedengeschlechtlichen Ehe zur Identität eines religiös geprägten Landes gehört, als Rechtfertigungsgründe vorgetragen werden. Auf die Einschlägigkeit dieser Rechtfertigungsgründe soll hier nicht weiter eingegangen werden. Relevanter ist, dass im Lichte der Rechtsprechung des EGMR zum Recht auf Achtung des Privat- und Familienlebens in Art. 8 Abs. 1 EMRK die unionsrechtliche Rechtfertigung einer Gesamtnorm, die zur Folge hat, dass eine rechtlich konfigurierte Lebensgemeinschaft gleichgeschlechtlicher Personen keinerlei Anerkennung im Aufenthaltsstaat hat, nicht gelingen kann und an der Verhältnismäßigkeit scheitert. b) Unverhältnismäßigkeit einer Zugangssperre wegen der Verletzung von Art. 8 EMRK/Art. 7 GRCh Weiter oben wurde bereits ausgeführt, dass die Unionsgrundrechte den Schutzbereich der Grundfreiheiten verstärken, soweit deren Gewährleistungsgehalt über denjenigen der unmittelbar anwendbaren Grundfreiheit hinausgeht.704 Vorliegend ist das Recht auf Achtung des Privat- und Familienlebens in Art. 8 Abs. 1 EMRK und in Art. 7 GRCh einschlägig. Nach der Rechtsprechung des EGMR verstößt eine Rechtsordnung eines Konventionsstaates gegen Art. 8 Abs. 1 EMRK, wenn diese keinerlei rechtsförmliche Anerkennung für gleichgeschlechtliche Zweierbeziehungen vorsieht.705 Ausgangspunkt ist das Verständnis des EGMR, wonach gleichgeschlechtliche Zweierbeziehungen als „Familienleben“ im Sinne des Art. 8 Abs. 1 EMRK zu verstehen sind.706 Hieraus schloss der EGMR, dass im Hinblick auf das Recht auf Achtung des Familienlebens „gleichgeschlechtliche Paare ebenso wie Paare mit Partnern unterschiedlichen Geschlechts stabile und engagierte Beziehungen begründen können“, weshalb sie sich, „was die Notwendigkeit der rechtlichen Anerkennung und den Schutz ihrer Beziehungen angeht, also in wesentlich gleicher Lage wie ein Paar mit Partnern unterschiedlichen Geschlechts“ befinden.707 703
EuGH, Rs. C-208/09, Sayn-Wittgenstein, Slg. 2010, I-13693. Siehe oben S. 287 ff. 705 EGMR, Urt. v. 21.7.2015, Oliari/Italien, Nr. 18766/11 und Nr. 36030/11, Rn. 185. 706 EGMR, Urt. v. 24.6.2010, Schalk und Kopf/Österreich, Nr. 30141/04 = NJW 2011, 1421 Rn. 91 ff.; zuvor hat der EGMR gleichgeschlechtliche Zweierbeziehungen unter „Privatleben“ eingeordnet, S. EGMR; Urt. v. 24.7.2003, Karner/Österreich, Nr. 40016/98, Rn. 33. 707 EGMR, Urt. v. 24.6.2010, Schalk und Kopf/Österreich, Nr. 30141/04 = NJW 2011, 1421 Rn. 99; Urt. v. 7.11.2013, Vallianatos/Griechenland, Nr. 29381/09 und Nr. 32684/09, Rn. 78, 81; Urt. v. 21.7.2015, Oliari/Italien, Nr. 18766/11 und Nr. 36030/11, Rn. 165. 704
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Auf dieser Grundlage erkannte der EGMR in der Rechtssache „Vallianatos“, dass eine nationale Rechtsordnung wie die streitgegenständliche griechische, die in Form der eingetragenen Lebenspartnerschaft eine alternative rechtliche Konfiguration für Zweierbeziehungen neben der Ehe vorsieht, einen Verstoß gegen das Verbot der Diskriminierung aus Gründen der sexuellen Orientierung in Art. 14 EMRK in Verbindung mit Art. 8 Abs. 1 EMRK begründet, wenn die alternative rechtliche Konfiguration ebenfalls nur verschiedengeschlechtlichen Personen offensteht.708 Dieses Urteil muss zusammen mit dem früheren Urteil des EGMR in der Rechtssache „Schalk und Kopf“ gelesen werden, um seine Tragweite zu erfassen. Hier entschied der EGMR, dass der Ausschluss gleichgeschlechtlicher Zweierbeziehungen von der Ehe, wie es im streitgegenständlichen österreichischen Eherecht der Fall ist, keinen Verstoß gegen das Recht auf Eheschließung in Art. 12 EMRK begründet.709 Zwar ist Art. 12 EMRK entgegen seinem Wortlaut so zu verstehen, dass er auch eine gleichgeschlechtliche Eheschließung schützen kann. Dies ergibt sich nach dem EGMR aus dem Grundsatz der Auslegung der EMRK als „lebendiges Instrument“, wonach die EMRK die jeweils aktuellen Lebensverhältnisse berücksichtigen muss,710 und aus einem Verweis auf Art. 9 GRCh, der bezüglich das Recht auf Eheschließung nicht mehr von „Männer und Frauen“ spricht. „Die Entscheidung aber, ob eine gleichgeschlechtliche Ehe zugelassen werden soll oder nicht, bleibt zum gegenwärtigen Zeitpunkt dem Recht des Konventionsstaats überlassen.“711 Wenn nun die Konventionsstaaten frei darin sind, die Ehe für gleichgeschlechtliche Zweierbeziehungen verschlossen zu halten, sich gleichzeitig jedoch aus Art. 8 Abs. 1 EMRK ein Recht auf „rechtliche Anerkennung und den Schutz der Beziehungen“ gleichgeschlechtlicher Personen ergibt, dann lässt sich dieses Dilemma nur dadurch auflösen, dass gleichgeschlechtliche Zweierbeziehung nicht auch von rechtlichen Konfigurationen ausgeschlossen sein dürfen, die eine Rechtsordnung Zweierbeziehungen alternativ zur Ehe zur Verrechtlichung ihrer Beziehung zur Verfügung stellt. In diesem Sinne urteilte der EGMR in der Rechtssache „Vallianatos“. Offen blieb bis zur Entscheidung in der Rechtssache „Oliari“,712 ob aus Art. 8 Abs. 1 EMRK neben der Pflicht der Konventionsstaaten, bestehende alternative rechtlich konfigurierte Lebensgemeinschaften in Verbindung mit dem Diskriminierungsverbot in Art. 14 EMRK auf gleichgeschlechtliche
708 EGMR, Urt. v. 7.11.2013, Vallianatos/Griechenland, Nr. 29381/09 und Nr. 32684/09, Rn. 92. 709 EGMR, Urt. v. 24.6.2010, Schalk und Kopf/Österreich, Nr. 30141/04 = NJW 2011, 1421, Rn. 58 ff., 63. 710 EGMR, Urt. v. 11.7.2002, Goodwin/Vereinigtes Königreich, Nr. 28957/95 Rn. 52. 711 EGMR, Urt. v. 24.6.2010, Schalk und Kopf/Österreich, Nr. 30141/04 = NJW 2011, 1421, Rn. 61. 712 EGMR, Urt. v. 21.7.2015, Oliari/Italien, Nr. 18766/11 und Nr. 36030/11.
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Zweierbeziehungen auszudehnen, auch eine Pflicht zur Schaffung einer derartigen rechtlich konfigurierten Lebensgemeinschaft neben der Ehe folgt. In Bezug auf Italien erkannte der EGMR eine solche Pflicht in Art. 8 Abs. 1 EMRK an.713 Die italienische Rechtsordnung kannte bis zum 5. Juni 2016714 und damit zum Zeitpunkt des streitgegenständlichen Sachverhalts keine zur Ehe alternative rechtlich konfigurierte Lebensgemeinschaft. Das Recht auf rechtliche Anerkennung und Schutz ihrer Beziehungen war gleichgeschlechtlichen Zweierbeziehungen damit in Italien verweigert. Zentral für die Argumentation des EGMR ist die Auslegung des Begriffs „Achtung“ in Art. 8 Abs. 1 EMRK. Die Verweigerung einer rechtlich konfigurierten Lebensgemeinschaft für gleichgeschlechtliche Zweierbeziehungen verletzt nämlich dann das Recht auf ein Familienleben, wenn dieses hierdurch nicht geachtet ist. Das Recht auf ein Familienleben, welches bereits seit dem Urteil in der Rechtssache „Schalk und Kopf“ gleichgeschlechtliche Zweierbeziehungen schützt, ist dann nicht geachtet, wenn es eine „Unstimmigkeit zwischen der sozialen Realität und dem Recht und der Rechts- und Verwaltungspraxis“ in einer Rechtsordnung gibt.715 Es kommt damit auf die soziale Realität der konkreten gleichgeschlechtlichen Zweierbeziehungen an, die sich nicht in der Rechtsrealität spiegelt. Ein derartiges Auseinanderfallen von sozialer und rechtlicher Realität erkennt der EGMR darin, dass die Kläger genauso wie eine verschiedengeschlechtliche Zweierbeziehung seit Jahren eine stabile Lebensgemeinschaft führen.716 Diesem Individualinteresse an rechtlicher Anerkennung der sozialen Realität müssen überwiegende Gemeinschaftsinteressen gegenüber stehen, damit der Eingriff in Art. 8 Abs. 1 EMRK gerechtfertigt werden kann. Eine Rechtfertigung misslingt in der Rechtssache „Oliari“. Dabei stellt der EGMR auf die im Prüfungszeitpunkt im Frühjahr 2015 bestehende die Mehrheit an Konventionsstaaten (24 von 47) ab,717 die in ihren Rechtsordnungen rechtlich konfigurierte Lebensgemeinschaften vorsehen, die gleichgeschlechtlichen Zweierbeziehungen offenstehen.718 Zudem stützt sich der EGMR darauf, dass nach Um713
EGMR, Urt. v. 21.7.2015, Oliari/Italien, Nr. 18766/11 und Nr. 36030/11, Rn. 185. Mit dem Gesetz Nr. 76 vom 20. Mai 2010 (Gazzetta Ufficiale Nr. 118 vom 20. Mai 2016), welches am 5. Juni 2016 in Kraft trat, wurde eine Lebenspartnerschaft für gleichgeschlechtliche Personen (l’unione civile tra persone dello stesso sesso) geschaffen, die rechtlich jedoch hinter der Ehe zurückbleibt (insbesondere im Hinblick auf das Adoptionsrecht). 715 EGMR, Urt. v. 21.7.2015, Oliari/Italien, Nr. 18766/11 und Nr. 36030/11, Rn. 161: „[…] discordance between social reality and the law, the coherence of the administrative and legal practices within the domestic system […]“; deutsche Übersetzung durch Verf. 716 EGMR, Urt. v. 21.7.2015, Oliari/Italien, Nr. 18766/11 und Nr. 36030/11, Rn. 173. 717 Andorra, Belgien, Dänemark, Deutschland, Estland (Inkrafttreten ab 1.1.2016), Finnland, Frankreich, Irland, Island, Kroatien, Liechtenstein, Luxemburg, Malta, Niederlande, Norwegen, Österreich, Portugal, Schweden, Slowenien, Spanien, Schweiz, Tschechische Republik, Ungarn, Vereinigtes Königreich. 718 EGMR, Urt. v. 21.7.2015, Oliari/Italien, Nr. 18766/11 und Nr. 36030/11, Rn. 178, 55. 714
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fragen die Mehrheit der italienischen Bevölkerung der rechtlichen Anerkennung gleichgeschlechtlicher Personen positiv gegenüber steht,719 und damit keine Gemeinschaftsinteressen vorliegen, die das Individualinteresse der gleichgeschlechtlichen Partner an einer rechtlichen Anerkennung ihrer Zweierbeziehung zu Gunsten einer Rechtfertigung des Eingriffs in Art. 8 Abs. 1 EMRK überwiegen können. Hieraus folgt, dass Art. 8 Abs. 1 EMRK ein Recht auf Einführung einer neben der Ehe stehenden rechtlich konfigurierten Lebensgemeinschaft enthält, die gleichgeschlechtlichen Zweierbeziehungen offensteht. Dieses Ergebnis stützt sich auf die im geographischen Anwendungsbereich der EMRK mittlerweile feststellbare Mehrheit der Rechtsordnungen, die eine derartige rechtlich konfigurierte Lebensgemeinschaft vorsehen. Daneben scheint der EGMR das Bestehen eines derartigen Rechts von der öffentliche Akzeptanz einer Verrechtlichung gleichgeschlechtlicher Zweierbeziehungen in der betroffenen Rechtsordnung abhängig zu machen. Dieses Argument besitzt allerdings nur eine geringe Überzeugungskraft. Vorliegend soll der Hinweis ausreichen, dass Grundrechte in ihrer Funktion als Schutzrechte von Minderheiten gegenüber Mehrheiten nicht von ihrer öffentlichen Akzeptanz abhängen dürfen. Der Verweis auf die hohe öffentliche Akzeptanz in Italien dürfte sich daher eher darauf zurückführen lassen, dass sie die vom EGMR gefundene Verhältnismäßigkeitsprüfung stützt, als dass sie tragend für das gefundene Ergebnis ist. Andernfalls würde Art. 8 EMRK einen zwischen Konventionsstaaten unterscheidenden Schutzbereich haben, der überdies mit einem außerrechtlichen Kriterium definiert wäre. Vertieft werden soll diese Diskussion an dieser Stelle jedoch nicht, da sie den Rahmen der vorliegenden Arbeit verlassen würde. Ausreichend ist die Erkenntnis, dass aus Art. 8 Abs. 1 EMRK ein Recht folgt, gleichgeschlechtlichen Zweierbeziehungen eine rechtsförmliche Anerkennung zu gewähren. Für die vorliegend behandelte Konstellation, wonach eine in Belgien begründete gleichgeschlechtliche Ehe zweier rumänischer Staatsangehöriger nach dem Grenzübertritt nach Polen aufgrund der aus polnischen und rumänischen Kollisionsnormen und rumänischen Sachnormen zusammengesetzten Gesamtnorm nicht fortbesteht, bedeutet diese Rechtsprechung, dass die Rechtfertigung für die Zugangsverweigerung der rechtlich konfigurierten Lebensgemeinschaft an ihrer Unverhältnismäßigkeit scheitert. Art. 8 Abs. 1 EMRK und damit auch Art. 7 GRCh verstärken den Schutzbereich des Unionsrechts bei Anwendungsbereichseröffnung durch eine unmittelbar anwendbare Unionsrechtsnorm wie Art. 21 Abs. 1 AEUV. Im Hinblick auf die rumänische Sachrechtsordnung ist der Rechtsprechung des EGMR zu entnehmen, dass diese eine rechtliche Konfiguration für gleichgeschlechtliche Zweierbeziehungen
719
144.
EGMR, Urt. v. 21.7.2015, Oliari/Italien, Nr. 18766/11 und Nr. 36030/11, Rn. 181,
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vorhalten muss. Das Rechtsanwendungsergebnis, das für den hier interessierenden Sachverhalt begehrt ist, verlangt jedoch nicht das Vorhandensein einer rechtlichen Konfiguration in der rumänischen Sachrechtsordnung. Begehrt wird vielmehr der Fortbestand einer bereits existierenden rechtlich konfigurierten Lebensgemeinschaft rumänischer Staatsangehöriger. Wenn nun bereits das Recht auf Einführung einer rechtlich konfigurierten Lebensgemeinschaft in einer Rechtsordnung von Art. 8 Abs. 1 EMRK/Art. 7 GRCh erfasst ist, dann erstreckt sich das erst recht auf das Recht auf Fortbestand einer bereits bestehenden rechtlich konfigurierten Lebensgemeinschaft. Hieraus folgt dementsprechend, dass eine mit dem Grenzübertritt verbundene Nichtbeachtung einer bestehenden rechtlich konfigurierten Lebensgemeinschaft gleichgeschlechtlicher Personen unverhältnismäßig ist und die Zugangsverweigerung nicht gerechtfertigt werden kann. c) Herstellung eines unionsrechtskonformen Rechtszustands Damit verstößt die aus polnischen und rumänischen Kollisionsnormen und rumänischen Sachnormen zusammengesetzte Gesamtnorm gegen das Unionsrecht. Das Gericht der polnischen lex fori ist damit dazu aufgerufen, einen unionsrechtskonformen Rechtszustand herzustellen. Eine entsprechende Auslegung der polnischen Kollisionsnorm scheitert an ihrem eindeutigen Wortlaut, der die Frage nach dem Bestehen einer Ehe an die Staatsangehörigkeit der Eheleute anknüpft. Eine unionsrechtskonforme Fortbildung von Art. 48 des polnischen IPRG dergestalt, dass auf das Recht des Ortes der Eintragung der Ehe verwiesen wird, scheitert an der „contra legem“-Grenze, wie sie im Verbund der Rechtsordnungen zu ziehen ist. Dies wird deutlich dadurch, dass Art. 48 des polnischen IPRG keine Abweichungsmöglichkeiten von der Staatsangehörigkeitsanknüpfung vorsieht, wie dies etwa bei Art. 10 EGBGB im deutschen internationalen Namensrecht der Fall ist. Während eine Auslegung der rumänischen Kollisionsnorm gleichermaßen am eindeutigen Wortlaut scheitert, ist die Ziehung der „contra legem“-Grenze bei Art. 2586 des rumänischen NCC im Hinblick auf eine unionsrechtskonforme Rechtsfortbildung, die eine Weiterverweisung in das Recht des Ortes, an dem die Ehe eingetragen wurde, ermöglichen könnte, weniger eindeutig. Art. 2586 Abs. 2 des rumänischen NCC sieht nämlich vor, dass Ehehindernisse im nach Abs. 1 bestimmten ausländischen Sachrecht, die mit der Eheschließungsfreiheit nach rumänischem Sachrecht unvereinbar sind, vom Rechtsanwender der lex fori nicht beachtet werden müssen, wenn eine Ehe im rumänischen Hoheitsgebiet eingegangen (und damit in rumänischen Registern eingetragen) wird und einer der Ehegatten ein rumänischer Staatsangehöriger ist.720 Die Regelungstechnik des Art. 2586 Abs. 2 des rumänischen NCC erinnert an 720
Vgl. Bormann, in: Bergmann/Ferid/Henrich, Internationales Ehe- und Kindschaftsrecht, Rumänien (2014), S. 20.
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den Art. 46 des belgischen Code de DIP, wonach bei Ehehindernissen im Heimatrecht der Nupturienten belgisches Sachrecht als Aufenthaltsrecht zur Anwendung gelangen kann. Die Unbeachtlichkeit von Ehehindernissen im Auslandsrecht, die nach der lex fori nicht bestehen, führt nämlich zu einem Anwendungsergebnis, als ob das Sachrecht der rumänischen lex fori angewandt wurde. Damit macht das rumänische Kollisionsrecht deutlich, in bestimmten Ausnahmefällen von der Staatsangehörigkeitsanknüpfung abzuweichen. Es wäre demnach denkbar, Art. 2586 Abs. 2 des rumänischen NCC im Wege der Analogie auszuweiten, so dass die Regelung nicht nur bei Ehehindernissen im Heimatrecht der Eheleute gilt, wenn diese nach dem rumänischen Recht als dem Recht des Ortes der Eheschließung unbeachtlich sind, sondern auch dann, wenn diese nach dem Recht irgendeiner EU-Rechtsordnung nicht zu beachten sind, sofern die Ehe in dieser Rechtsordnung geschlossen wurde. Einer derartigen Rechtsfortbildung des rumänischen Kollisionsrechts stehen jedoch die Regelungen in Art. 277 Abs. 2 und Abs. 3 des rumänischen NCC entgegen, die ausdrücklich anordnen, dass gleichgeschlechtliche Ehen oder Lebenspartnerschaften rumänischer Staatsangehöriger im rumänischen Hoheitsgebiet nicht anerkannt werden. Hieraus lässt sich auf einen gesetzgeberischen Wille schließen, der auch in Kenntnis einer möglichen Auslegung des Unionsrechts einer unionsrechtskonformen Fortbildung des rumänischen Kollisionsrechts in der beschriebenen Art und Weise entgegensteht. Damit würde auch eine unionsrechtskonforme Rechtsfortbildung der rumänischen Kollisionsnorm an der „contra legem“-Grenze, wie sie im Verbund der Rechtsordnungen zu ziehen ist, scheitern. Aus demselben Grund scheitert auch eine unionsrechtskonforme Fortbildung des rumänischen Sachrechts an der „contra legem“-Grenze, wie sie in Art. 277 des rumänischen NCC zum Ausdruck kommt. Es entsteht somit ein Konflikt zwischen der Gesamtnorm und dem Unionsrecht, der vom unionsrechtlichen Anwendungsvorrang durch die Unanwendbarkeit desjenigen Elements der Gesamtnorm, das gegen das Unionsrecht verstößt, und die gleichzeitige Anwendbarkeit der verletzten Unionsrechtsnorm zu Gunsten des Unionsrechts aufgelöst wird. Dabei greift der Anwendungsvorrang je nachdem, wo man die das Unionsrecht verletzende Wirkung verortet, auf der Ebene der polnischen Kollisionsnorm, der rumänischen Kollisionsnorm oder des rumänischen Sachrechts. Die Zugangsverweigerung der rechtlich konfigurierten Lebensgemeinschaft der beiden rumänischen Unionsbürger zum polnischen Hoheitsgebiet folgt zunächst einmal daraus, dass das rumänische Sachrecht keine rechtlich konfigurierte Lebensgemeinschaft gleichgeschlechtlicher Personen kennt. Die Anwendbarkeit dieser dem rumänischen Sachrecht entspringenden Beschränkung im polnischen Hoheitsgebiet ist jedoch auf die polnische Kollisionsnorm zurückzuführen, die die rumänische Rechtsordnung zur Anwendung beruft. Sowohl das rumänische Kollisions- und Sachrecht als auch die polnische Kollisionsnorm begründen den Unionsrechtsverstoß. Es
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liegt weder eine spezifisch kollisionsrechtliche Beschränkung noch eine spezifisch sachrechtliche Beschränkung vor, die von Unionsrechts wegen verlangen würde, auf derjenigen Rechtsebene, die die jeweils spezifische Beschränkung begründet, die Unionsrechtskonformität herzustellen. Es obliegt vielmehr dem Gericht der lex fori zu entscheiden, ob es den Unionsrechtsverstoß auf der Ebene des Kollisionsrechts oder auf der Ebene des Sachrechts abstellt. Greift der unionsrechtliche Anwendungsvorrang gegenüber der polnischen Kollisionsnorm, so führt er zur Unanwendbarkeit des Anknüpfungsmoments „Heimatrecht“, ohne dass die vom unionsrechtlichen Anwendungsvorrang zur Anwendung berufene Unionsrechtsnorm eine Vorgabe bezüglich des Anknüpfungsmoments macht. Die polnische Kollisionsrechtsordnung würde damit lückenhaft werden, so dass eine unionsrechtskonforme Rechtsfortbildung infolge unmittelbar anwendbarer Unionsrechtsnormen erforderlich ist. Bei der Lückenfüllung muss das polnische Gericht der lex fori auch die Vorgaben aus Art. 4 Abs. 3 UAbs. 2 EUV beachten, wonach die fortgebildete Kollisionsnorm nicht erneut einen Unionsrechtsverstoß begründen darf und damit zur Anwendbarkeit einer Sachrechtsordnung führen muss, die den Fortbestand der gleichgeschlechtlichen Ehe gewährleistet. Die naheliegende Lückenfüllung wäre im vorliegenden Fall ähnlich derjenigen, die weiter oben zur Lückenfüllung beim Eingreifen des unionsrechtlichen Anwendungsvorrangs gegenüber Art. 10 Abs. 1 EGBGB vorgeschlagen wurde:721 Die Einfügung einer Rechtswahlmöglichkeit in Abweichung von der Regelanknüpfung, die einem Unionsbürger die Wahl des Rechts seines vorherigen gewöhnlichen Aufenthaltsortes oder des Rechts, in dem die rechtlich konfigurierte Lebensgemeinschaft eingetragen wurde, eröffnet. Eine Ersetzung des bisherigen Anknüpfungsmoments durch ein anderes wie den Ort des Registers oder den gewöhnlichen Aufenthaltsort führt nicht zu einem unionsrechtskonformen Ergebnis, da es dem Unionsbürger den Zugang zu dem von der Regelanknüpfung bestimmten Sachrecht verwehrt. Käme der unionsrechtliche Anwendungsvorrang gegenüber der rumänischen Kollisionsnorm zur Anwendung, führte er in Art. 2586 Abs. 2 des rumänischen NCC zur Unanwendbarkeit der Tatbestandsmerkmale „fremd“ in Bezug auf das nach Abs. 1 bestimmte Recht, „rumänischem“ in Bezug auf das Recht, das Ehehindernissen des nach Abs. 1 bestimmten Rechts entgegensteht, und „die Ehe im rumänischen Hoheitsgebiet geschlossen wurde“ in Bezug auf die Bedingungen für die Unbeachtlichkeit der Ehehindernisse im nach Abs. 1 bestimmten Recht, ohne dass die zur Anwendung berufene Unionsbürgerfreizügigkeit eine positive Regelungsvorgabe enthielte, was an die Stelle dieser Merkmale tritt. Eine unionsrechtskonforme Rechtsfortbildung infolge unmittelbar anwendbarer Unionsrechtsnormen würde – vergleichbar der vorliegend für Art. 48 EGBGB vertretenen Lückenfüllung –722 dazu führen, dass „nach 721 722
Siehe oben S. 457. Siehe oben S. 458 ff.
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rumänischen Recht“ teleologisch erweitert wird auf „nach dem Recht eines EU-Mitgliedstaates, in dem die Ehe geschlossen wurde“. Die Rechtsfolge dieser Fortbildung wäre, dass Ehehindernisse im nach Abs. 1 bestimmten Recht, auch wenn dieses rumänisches Sachrecht ist, unbeachtlich sind, sofern sie der Eheschließungsfreiheit nach dem Recht eines EU-Mitgliedstaates, in dem die Ehe geschlossen wurde, widersprechen. Es bliebe damit bei der Anwendbarkeit rumänischen Sachrechts, bei dessen Anwendung auf im EU-Ausland geschlossene gleichgeschlechtliche Ehen das Ehehindernis der Gleichgeschlechtlichkeit unbeachtlich ist. Das zu erreichende Anwendungsergebnis verlangt daher noch, dass der unionsrechtliche Anwendungsvorrang zugleich die Unanwendbarkeit von Art. 277 Abs. 2 des rumänischen NCC zur Folge hat, der die Nichtanerkennung von gleichgeschlechtlichen Ehen in Rumänien anordnet. Dasselbe Anwendungsergebnis ließe sich erzielen, wenn der unionsrechtliche Anwendungsvorrang gegenüber dem rumänischen Sachrecht greift. Dies würde zur Unanwendbarkeit der Voraussetzung der Verschiedengeschlechtlichkeit in Art. 259 Abs. 1 und Abs. 2 des rumänischen NCC für die Eheschließung in einer Situation führen, in der diese Voraussetzung dem Fortbestand einer bereits begründeten Ehe entgegensteht. Damit wäre die materiellrechtliche Eheschließungsfreiheit für gleichgeschlechtliche Personen in den von der Unionsbürgerfreizügigkeit erfassten Fällen hergestellt. Die dieser Regel nachlaufende Untersagung gleichgeschlechtlicher Ehen in Art. 277 Abs. 1 des rumänischen NCC und das Verbot der Anerkennung ausländischer gleichgeschlechtlicher Ehen in Art. 277 Abs. 2 des rumänischen NCC wären in gleichem Maße aufgrund des unionsrechtlichen Anwendungsvorrangs unanwendbar. Die Unanwendbarkeit führt bereits zu einem unionsrechtskonformen Ergebnis, so dass eine Rechtsfortbildung des rumänischen Sachrechts infolge einer unmittelbar anwendbaren Unionsrechtsnorm nicht erforderlich ist. Sowohl der sachrechtliche als auch der kollisionsrechtliche Lösungsweg führen zum Ziel der Herstellung eines unionsrechtskonformen Rechtszustandes. Die konkrete Wahl obliegt dem Gericht der lex fori. Vor dem Hintergrund der oben geschilderten Rechtsprechung des EGMR zum italienischen Sachrecht erscheint die sachrechtliche Lösung naheliegend.723 Wenn man dem Verständnis der Grundfreiheiten und der Unionsbürgerfreizügigkeit als Normen, die die grenzüberschreitende Parteiautonomie ermöglichen und sichern wollen, folgt, wäre die kollisionsrechtliche Lösung, nach der der polnischen Kollisionsnorm eine Rechtswahlmöglichkeit beigefügt wird, zu bevorzugen. Diese Lösung würde zudem der vorliegend präferierten Vorgehensweise zur Herstel-
723 Die EMRK-rechtliche Beurteilung des italienischen Sach- und Kollisionsrechts bezüglich des Fortbestands einer im Ausland von italienischen Staatsangehörigen gleichen Geschlechts geschlossenen Ehe ist zurzeit von beim EGMR anhängig: Orlandi und andere/Italien, Nr. 26431/12, 26742/12, 44057/12, 60088/12.
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lung der Unionsrechtskonformität entsprechen, wonach eine unionsrechtskonforme Rechtsfortbildung der Kollisionsnorm mit der hieraus folgenden Anwendbarkeit derjenigen Sachrechtsordnung, die nicht weitergehend modifiziert werden müsste, gegenüber einer Fortbildung der Auslandssachrechts vorzuziehen ist.724 Unionsrechtlich zwingend ist die Wahl dieses Lösungswegs jedoch nicht.
724
Siehe oben S. 326 f.
Schlussbetrachtungen Die vorliegende Untersuchung hat deutlich gemacht, dass das Phänomen, welches von einigen Kollisionsrechtlern als Anerkennung von im Ausland rechtmäßig entstandenen Rechtslagen beschrieben wurde und welches in Form eines „Anerkennungsprinzips“ die Verweisungsmethode des klassischen IPR ersetzen sollte, Ausdruck der Wirkungsweise des unionsrechtlichen Anwendungsvorrangs im autonomen IPR der Mitgliedstaaten ist. Das Unionsrecht wirkt innerhalb seines Anwendungsbereichs in das Kollisionsrecht, wie in jedes andere Rechtsgebiet, dergestalt ein, dass im Fall eines Konflikts der Rechtsfolgen einer mitgliedstaatlichen Rechtsnorm mit einer Unionsrechtsnorm aufgrund des unionsrechtlichen Anwendungsvorrangs die mitgliedstaatliche Norm nicht mehr angewendet werden darf und sich der Normbefehl der Unionsrechtsnorm an die Stelle des Normbefehls der mitgliedstaatlichen Norm setzt. Besteht dieser Normbefehl in einem Verbot wie bei den Diskriminierungsverboten und den Grundfreiheiten verlangt das Unionsrecht nicht selbst die Anerkennung einer im EU-Ausland rechtmäßig entstandenen Rechtslage. Vielmehr wird die angewandte mitgliedstaatliche Rechtsordnung lückenhaft. Die entstandene Lücke muss im Wege der Rechtsfortbildung geschlossen werden. Das Loyalitätsgebot aus Art. 4 Abs. 3 UAbs. 2 EUV verlangt bei der Lückenschließung, dass das abschließende Rechtsanwendungsergebnis nicht erneut gegen die Diskriminierungsverbote oder die Grundfreiheiten verstößt. Dabei kann der Fall eintreten, dass das einzige unionsrechtskonforme Rechtsanwendungsergebnis demjenigen entspricht, welches die mitgliedstaatliche Rechtsordnung, in dem eine Rechtslage entstanden ist, vorgibt. Dieses Ergebnis ist jedoch nicht in jeder Fallkonstellation zwingend, weshalb nicht von einem Anerkennungsprinzip ausgegangen werden kann, das sämtliche von ihm erfasste Fälle der Entstehungsrechtsordnung der Rechtslage unterwirft. Der Grund dafür liegt in der Bedeutung der Diskriminierungsverbote und der Grundfreiheiten im Hinblick auf das Errichten und Funktionieren des Binnenmarktes als Raum ohne Binnengrenzen, in dem der freie Verkehr von Waren, Personen, Dienstleistungen und Kapital gewährleistet ist. Dem Einzelnen soll in diesem Raum eine Freizügigkeit ermöglicht werden, die nicht durch die Unterschiede behindert werden darf, die zwischen einer Freizügigkeit innerhalb seines Herkunftsstaates und einer grenzüberschreitenden Freizügigkeit
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bestehen. Dieser unionsrechtlichen Freizügigkeitsperspektive, die auf eine Nivellierung der Regelungsunterschiede innerhalb des Binnenmarktes ausgerichtet ist, steht die mitgliedstaatliche Perspektive gegenüber, Lebenssachverhalte im eigenen Hoheitsgebiet selbstständig regeln zu dürfen. In dem Spannungsfeld zwischen der vom Binnenmarktrecht intendierten Nivellierung der rechtlichen Unterschiede zwischen dem Binnensachverhalt und dem grenzüberschreitenden Sachverhalt einerseits und der fortbestehenden mitgliedstaatlichen Regelungshoheit andererseits stellt sich die entscheidende Frage, wer grundsätzlich darüber entscheiden soll, welches der konkurrierenden Regelungsniveaus im konkreten Einzelfall zur Anwendung gelangt. Das Unionsrecht ist in dieser Frage indifferent. Es geht von der Gleichwertigkeit der mitgliedstaatlichen Rechtsordnungen aus und trifft jenseits EU-weit einheitlichen Sekundärrechts keine Entscheidung darüber, welche mitgliedstaatliche Rechtsordnung vorzuziehen ist. Eine mechanische Lösung zu Gunsten des einen oder des anderen Rechts begründet im Einzelfall eine Behinderung der Freizügigkeit. Wird die Herkunftsrechtsordnung berufen, wird dem Unionsbürger der Zugang zur Aufnahmerechtsordnung verwehrt. Wird die Aufnahmerechtsordnung berufen, können dem Unionsbürger Nachteile entstehen, wenn er eine Rechtslage, die für ihn von entscheidender Bedeutung ist, aufgrund des Grenzübertritts verliert. In diesem Spannungsfeld ist demnach der betroffene Unionsbürger in der besten Position selbst zu entscheiden, ob er sich und seine Rechtsverhältnisse der Aufnahmerechtsordnung unterwerfen möchte oder besondere, für ihn bedeutsame Rechtsverhältnisse aus der Herkunftsrechtsordnung mitnehmen möchte. Diese Entscheidungsfreiheit wird kollisionsrechtlich von der Rechtswahlfreiheit reflektiert. Für das materielle Recht haben die Diskriminierungsverbote und die Grundfreiheiten die Bedeutung, „die möglichst ungehinderte grenzüberschreitende Wahrnehmung der Privatautonomie“1 zu sichern. Übertragen auf das Kollisionsrecht haben die Diskriminierungsverbote und die Grundfreiheiten die Bedeutung, die möglichst ungehinderte grenzüberschreitende Wahrnehmung von Parteiautonomie zu sichern. Diesem Grundgedanken steht das Anerkennungsprinzip entgegen, das ungeachtet des konkreten Willens des betroffenen Unionsbürgers eine bestimmte Rechtslage dem Recht des Herkunftsstaates der Rechtslage unterwirft.
1
Müller-Graff, in: von der Groeben/Schwarze/Hatje, Art. 34 AEUV Rn. 7.
Zusammenfassung der wesentlichen Ergebnisse in Thesenform 1. Kapitel: Theorie des unionsrechtlichen Anwendungsvorrangs 1. Der Anwendungsvorrang des Unionsrechts ist eine Kollisionsregel, die im Fall eines Widerspruchs der Rechtsfolgen einer Unionsrechtsnorm und einer mitgliedstaatlichen Rechtsnorm bei Anwendung auf denselben Sachverhalt die Normenkollision zwischen gleichgeordneten Rechtsordnungen regelt. 2. Der Anwendungsvorrang des Unionsrechts besteht aus dem von der Unionsrechtsordnung formulierten Geltungsanspruch in sämtlichen mitgliedstaatlichen Rechtsräumen, aus der Verpflichtung der Mitgliedstaaten, einen rechtlichen Mechanismus zur Anerkennung dieses Geltungsanspruchs im Konfliktfall mit der jeweiligen nationalen Rechtsordnung zu schaffen, der im Rang über dem einfachen Recht steht, und aus einer einseitigen Kollisionsnorm mit Verweisung auf das unionale Sachrecht. a) Der Anwendungsvorrang des Unionsrechts ist keine hierarchische Kollisionsnorm, die eine Normenkollision nach dem Rang der jeweiligen miteinander im Konflikt stehenden Normen löst. b) Monistisch geprägte Verfassungen entsprechen der unionsrechtlichen Verpflichtung durch autonome Einräumung eines hierarchischen Vorrangs. Dualistisch geprägte Verfassungen enthalten auf Verfassungsebene eine Verweisung auf das Unionsrecht, die im Konfliktfall einer nationalen Sachnorm mit einer unionalen Sachnorm entweder als Sachnormverweisung direkt die unionale Sachnorm zur Anwendung beruft oder als Gesamtverweisung auf den Vorrang des Unionsrechts als unionale Kollisionsnorm verweist, der seinerseits als einseitige Kollisionsnorm die unionale Sachnorm zur Anwendung beruft. c) Der unionsrechtliche Anwendungsvorrang greift ausschließlich ein, wenn und soweit eine Unionsrechtsnorm unmittelbar anwendbar ist.
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Zusammenfassung in Thesenform
2. Kapitel: Einwirkungen des Unionsrechts in die nationale Privatrechtsordnung 3. Die Wirkungsweise des Vorrangs des Unionsrechts besteht darin, die Unionsrechtsnorm zur Anwendung zu berufen und gleichzeitig die Unanwendbarkeit der konfligierenden nationalen Rechtsnorm anzuordnen. Alle weiteren Wirkungen der Unionsrechtsnorm im mitgliedstaatlichen Rechtsraum richten sich nach dem mit unmittelbarer Anwendbarkeit ausgestatteten Rechtsbefehl der Unionsrechtsnorm. 4. Die Einwirkung des Anwendungsvorrangs unmittelbar anwendbaren Unionsrechts in die nationalen Rechtsordnungen erfolgt auf dreierlei Weise: Zunächst kommt es zur Unanwendbarkeit entgegenstehenden nationalen Rechts bei gleichzeitiger Anwendbarkeit der unmittelbar anwendbaren Unionsrechtsnorm. Da es sich bei der Unionsrechtsnorm um einen Fremdkörper in der nationalen Rechtsordnung handelt, kann diese lückenhaft werden, so dass anschließend eine Lückenschließung im Wege der Rechtsfortbildung nach dem Maßstab der Methodenlehre der betroffenen nationalen Rechtsordnung notwendig werden kann. Befindet sich schließlich die Lückenschließung zusätzlich im Anwendungsbereich von Unionsrecht, kommt es zu einer unionsrechtskonformen Rechtsfortbildung, bei der die Regeln der nationalen Rechtsfortbildung modifiziert sind. 5. Die Unanwendbarkeit entgegenstehenden nationalen Rechts kann durch eine unionsrechtskonforme Auslegung oder Fortbildung des nationalen Rechts vermieden werden, ohne dass das nationale Gericht hierzu unionsrechtlich verpflichtet ist. Dem nationalen Verfassungsrecht kann eine Pflicht zur unionsrechtskonformen Auslegung und Rechtsfortbildung entnommen werden, der zufolge das nationale Gesetz als Willensäußerung des demokratisch legitimierten Gesetzgebers soweit aufrecht zu erhalten ist, wie es die rechtlichen Grenzen der Methodenregeln zulassen („favor legis“). 6. Die Grenzen der unionsrechtskonformen Auslegung werden durch die Methodenlehre der betroffenen nationalen Rechtsordnung gezogen. 7. Die unionsrechtskonforme Rechtsfortbildung modifiziert die Rechtsfortbildung nach dem Maßstab der Methodenlehre der nationalen Rechtsordnung mehrfach: a) Bezugspunkt für die Lückenfeststellung im Anwendungsbereich von Unionsrechtsnormen ist nicht mehr der nationale „Gesamtplan“ des nationalen Gesetzgebers, sondern der Verbund der (nationalen und unionalen) Rechtsordnungen. Das nationale Recht muss damit auch den Rechtsund Rechtssetzungspflichten der Unionsrechtsordnung entsprechen, so dass es im Falle einer Inkompatibilität lückenhaft wird.
Zusammenfassung in Thesenform
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b) Die „contra legem“-Grenze bei der Lückenfüllung wird nicht mehr im bipolaren Spannungsfeld zwischen nationaler Judikative und nationaler Legislative gezogen, sondern im multipolaren Spannungsfeld zwischen nationaler Judikative und unionaler wie nationaler Legislative, wobei die primärrechtlichen Rechtspflichten durch Ratifikation und entsprechende Rücknahme des nationalen Ausschließlichkeitsanspruchs eigener Hoheitsgewalt begründet und sekundärrechtliche Rechtspflichten auf der Grundlage einer Unionskompetenz vom hierzu legitimierten Unionsgesetzgeber gesetzt werden. Das nationale Gericht ersetzt damit bei der unionsrechtskonformen Lückenfüllung nicht den nationalen gesetzgeberischen Willen durch eine eigene Wertung, sondern verleiht vielmehr dem Willen des Unionsrechtsgebers Rechtswirkungen. Dies rechtfertigt eine andere „contra legem“-Grenzziehung, die nur auf denjenigen Willen des nationalen Gesetzgebers abstellt, der bewusst von den rechtlichen Vorgaben des Unionsrechts, so wie sie der EuGH gemäß Art. 19 Abs. 1 EUV ausgelegt hat, abweicht. c) Grundsätzlich ist dem nationalen Gesetzgeber dabei ein Wille zur Unionsrechtskonformität zu unterstellen, es sei denn es liegt eine aktualisierte, den Unionsrechtspflichten entgegenstehende gesetzgeberische Willensäußerung vor oder der ursprüngliche gesetzgeberische Wille ist hinreichend deutlich, so dass mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit anzunehmen ist, dass sich der nationale Gesetzgeber auch in Kenntnis der unionsrechtlichen Vorgaben in Widerspruch zum Unionsrecht setzen würde. 8. Im Hinblick auf die Einwirkung in die Privatrechtsordnungen sind die vom Anwendungsvorrang erfassten unmittelbar anwendbaren Unionsrechtsnormen zu unterscheiden in solche der negativen Integration, die nationalem Privatrecht entgegenstehen, und in solche der positiven Integration, die privatrechtsschöpfend sind. Letztere ersetzen im selben Anwendungsbereich wie eine nationale Privatrechtsnorm deren Normbefehl, während erstere lediglich eine beschränkende Privatrechtsnorm untersagen, ohne konkret vorzugeben, welcher Normbefehl an die Stelle der nationalen Privatrechtsnorm treten soll. 9. Im IPR liegen privatrechtsschöpfende unmittelbar anwendbare Unionsrechtsnormen für die Teilrechtsgebiete des Internationalen Schuldrechts (Rom I- und Rom II-Verordnung), des Internationalen Ehescheidungsrechts (Rom III-Verordnung), des Internationalen Unterhaltsrechts und des Internationalen Erbrechts sowie mit Geltung ab dem 29. Januar 2019 für das Internationale Güterrecht der Ehe und der eingetragenen Partnerschaften (Rom IV-Verordnungen) vor.
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Zusammenfassung in Thesenform
10. Für die verbleibenden Teilrechtsgebiete des autonomen IPR stellen die Unionsrechtsnormen der negativen Integration Vorgaben an das mitgliedstaatliche Recht. Dies betrifft insbesondere das Internationale Gesellschaftsrecht, das Internationale Sachenrecht, das Internationale Namensrecht und das Internationale Familienrecht.
3. Kapitel: Primärrechtliche Vorgaben für die nationalen Rechtsordnungen 11. Die Vorgaben der für das autonome mitgliedstaatliche IPR relevanten Unionsrechtsnormen der negativen Integration lassen sich in gleichheitsrechtliche und freiheitsrechtliche Vorgaben unterteilen. 12. Die gleichheitsrechtlichen Vorgaben folgen einer einheitlichen Struktur und Dogmatik, die dem allgemeinen Gleichheitssatz entlehnt ist. a) Ungleichbehandlungen vergleichbarer Sachverhalte und Gleichbehandlungen nicht vergleichbarer Sachverhalte sind vorbehaltlich einer objektiven Rechtfertigung untersagt. b) Die Vergleichbarkeitsprüfung verlangt das Vorliegen mindestens zweier verschiedener, nicht lediglich hypothetischer Sachverhalte, zu deren Regelung dasselbe Rechtssubjekt befugt ist. c) Die Vergleichsgruppen für die Vergleichbarkeitsprüfung werden in Bezug auf die Regelung gebildet, die die Anwendung des unionsrechtlichen Gleichheitssatzes auslöste. Daher sind die Aussagen des EuGH zur Vergleichbarkeit von Ehe und eingetragener Lebenspartnerschaft nicht verallgemeinerungsfähig, sondern ausschließlich in Bezug auf die jeweils streitgegenständlichen sozialrechtlichen Ansprüche zu verstehen. 13. Diskriminierungsverbote konkretisieren den allgemeinen Gleichheitssatz dahingehend, dass das von ihnen untersagte Differenzierungsmerkmal zum einen die Nichtvergleichbarkeit zweier Sachverhalte aufgrund dieses Merkmals ausschließt und zum anderen als Grund für die Ungleichbehandlung unzulässig ist. a) Zur Feststellung einer Diskriminierung ist auf die Wirkungen einer Maßnahme abzustellen, so dass eine tatbestandlich nicht nach dem untersagten Merkmal unterscheidende Maßnahme dennoch eine verbotene mittelbare Diskriminierung sein kann und eine tatbestandlich differenzierende Maßnahme, die jedoch keine Ungleichbehandlung bewirkt, objektiv rechtfertigbar ist.
Zusammenfassung in Thesenform
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b) Diskriminierungsverbote erfassen im Gegensatz zum allgemeinen Gleichheitssatz nur Ungleichbehandlungen vergleichbarer Sachverhalte und nicht Gleichbehandlungen nicht vergleichbarer Sachverhalte. Es widerspräche nämlich der ausdrücklichen Untersagung einer Unterscheidung nach einem bestimmten Merkmal, wenn das Diskriminierungsverbot zugleich eine derartige Ungleichbehandlung gebieten könnte. c) Gleichbehandlungen nicht vergleichbarer Sachverhalte sind nur vom allgemeinen Gleichheitssatz erfasst. 14. Die unionsrechtlichen Gleichheitssätze unterscheiden sich nicht in ihrer Struktur, sondern nur nach dem jeweils untersagten Differenzierungsmerkmal und nach ihrem jeweiligen sachlichen Anwendungsbereich. Dabei ist zwischen solchen unionsrechtlichen Gleichheitssätzen zu unterscheiden, die ihren Anwendungsbereich eigenständig eröffnen (eigenständige Anwendungsbereichseröffnung), und solchen, deren Anwendungsbereichseröffnung davon abhängt, dass eine andere Unionsrechtsnorm anwendbar ist (akzessorische Anwendungsbereichseröffnung). a) Eigenständige Anwendungsbereichseröffnung: Der unionsrechtliche Gleichheitssatz ist auf jede tatbestandlich erfasste Maßnahme anwendbar. Dies ist der Fall bei den Diskriminierungsverboten der Marktgrundfreiheiten (Art. 34, 45, 49, 56, 63 AEUV) und der Unionsbürgerfreizügigkeit (Art. 21 Abs. 1 AEUV) sowie bei Art. 40 Abs. 2 UAbs. 2 AEUV, Art. 110 Abs. 1 AEUV und Art. 157 Abs. 1 AEUV. Mit dem Ablauf der Umsetzungsfrist gehören dieser Kategorie auch die sekundärrechtlichen, unmittelbar anwendbaren Diskriminierungsverbote der Antidiskriminierungsrichtlinien an. b) Akzessorische Anwendungsbereichseröffnung bei Durchführung des Unionsrechts: Der Anwendungsbereich eines unionsrechtlichen Gleichheitssatzes ist erst dann eröffnet, wenn der Mitgliedstaat zugleich Unionsrecht durchführt. Die relevanteste Fallgruppe der Durchführung von Unionsrecht ist die Richtlinienumsetzung. Mit dem Ablauf der Umsetzungsfrist unterliegen auch die Nichtumsetzung und die mangelhafte Umsetzung dieser Fallgruppe. Dieser Kategorie gehören Art. 18 Abs. 1 AEUV sowie die unionsrechtlichen Gleichheitssätze der GRCh (Art. 51 Abs. 1 S. 1 GRCh) und in Form der allgemeinen Grundsätze des Unionsrechts (Art. 6 Abs. 3 EUV) an. c) Akzessorische Anwendungsbereichseröffnung bei anderweitiger Eröffnung des Anwendungsbereichs einer unmittelbar anwendbaren Unionsnorm: Als akzessorische Absicherung einer unmittelbar anwendbaren Unionsrechtsnorm ist ein unionsrechtlicher Gleichheitssatz nur anwendbar, wenn die betroffene Maßnahme zugleich in den Anwendungsbereich
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einer anderen unmittelbar anwendbaren Unionsrechtsnorm fällt. Die relevanteste Fallgruppe dieser Kategorie sind Diskriminierungen, die in ihrer Wirkung zu mittelbar und zu ungewiss sind, um geeignet zu sein, in den Tatbestand einer Marktgrundfreiheit oder der Unionsbürgerfreizügigkeit einzugreifen. Während dies nur seltene Einzelfälle bei Diskriminierungen aus Gründen der Staatsangehörigkeit betrifft, ist diese Fallgruppe bedeutsamer bei Diskriminierungen aus anderen Gründen. Dieser Kategorie gehören Art. 18 Abs. 1 AEUV sowie die unionsrechtlichen Gleichheitssätze der GRCh (Art. 51 Abs. 1 S. 1 GRCh) und in Form der allgemeinen Grundsätze des Unionsrechts (Art. 6 Abs. 3 EUV) an. d) Akzessorische Anwendungsbereichseröffnung im Sachbereich von legislativen Unionszuständigkeiten: Der Anwendungsbereich eines unionsrechtlichen Gleichheitssatzes ist in dieser Kategorie eröffnet, wenn sich die tatbestandlich erfasste Maßnahme zugleich im Sachbereich einer ausschließlichen (Art. 3 AEUV) oder geteilten (Art. 4 AEUV) Unionszuständigkeit befindet. Dabei kommt es nicht darauf an, dass die Union bereits Gebrauch von ihrer Rechtsetzungskompetenz gemacht hat. Dieser Kategorie gehört lediglich Art. 18 Abs. 1 AEUV an. e) Keine akzessorische Anwendungsbereichseröffnung in Fällen der lediglichen Anwendungsbereichsberührung einer anderen Unionsrechtsnorm. Diese Fälle treten insbesondere in Anwendung der „Keck“-Rechtsprechung auf die Marktgrundfreiheiten auf. Unionsrechtliche Gleichheitssätze, deren Anwendungsbereich die anderweitige Anwendungsbereichseröffnung des Unionsrechst verlangen, können nicht auf mitgliedstaatliche Maßnahmen anwendbar sein, die sich nach den Grundsätzen der „Keck“-Rechtsprechung nicht im Anwendungsbereich einer Grundfreiheit befinden. 15. Die Marktgrundfreiheiten dienen der Marktgleichheit, sobald ein Produkt oder ein Produktionsfaktor den nationalen Teilmarkt des Binnenmarktes betreten hat, und der Marktfreiheit, die den Produkten und Produktionsfaktoren den Marktzugang zu sämtlichen Teilmärkten des Binnenmarktes gewährleistet. 16. Die Marktgrundfreiheiten enthalten besondere unionsrechtliche Gleichheitssätze und freiheitsrechtliche Beschränkungsverbote. Die besonderen Diskriminierungsverbote der Marktgrundfreiheiten folgen dabei der Dogmatik der unionsrechtlichen Gleichheitssätze. 17. Die Beschränkungsverbote in den Marktgrundfreiheiten bestehen aus dem Verbot der Mehrfachbelastung und dem Verbot der Marktzugangssperre. a) Das Verbot der Mehrfachbelastung steht einer mehrfachen Anwendung von Regelungen entgegen, die denselben Regelungsgegenstand ha-
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ben, mithin funktionsäquivalent sind. Handelt es sich dabei um Regelungen unterschiedlicher mitgliedstaatlicher Rechtsordnungen, muss diejenige Regelung, die die Mehrfachbelastung begründet, gegenüber der Marktgrundfreiheit gerechtfertigt werden. b) Die Marktgrundfreiheiten sind nicht Ausdruck eines Herkunftslandprinzips, wonach sich die Regelungen des Bestimmungslandes immer an den Regelungen des Herkunftslandes messen lassen müssen. Relevant ist lediglich, welche Rechtsordnung die Mehrfachbelastung begründet. Dies kann sowohl die Bestimmungs- als auch die Herkunftsrechtsordnung sein. Die Marktgrundfreiheiten enthalten keine Vorgaben, welcher dieser Rechtsordnungen die Mehrfachbelastung entspringt. Vielmehr entscheidet der unionsrechtlich Berechtigte, an welche Rechtsordnung er sich in seiner wirtschaftlichen Tätigkeit ausrichtet. c) Das Verbot der Marktzugangssperre betrifft Maßnahmen, die keine Mehrfachbelastung begründen. Derartige Maßnahmen unterliegen den Grundfreiheiten, wenn sie den Marktzugang versperren oder eine marktzugangsversperrende Wirkung haben. Letztere liegt vor, wenn ein Produkt oder ein Marktakteur einen mitgliedstaatlichen Teilmarkt des Binnenmarktes zwar betreten darf, die Möglichkeiten zur Bekanntmachung des Produktes oder der eigenen wirtschaftlichen Tätigkeit sowie die an den Marktzutritt anschließende Nutzbarkeit des Produktes oder der eigenen wirtschaftlichen Tätigkeit derart gering ist, dass die entsprechende Maßnahme wie eine Marktzugangssperre wirkt. d) Das Verbot der Mehrfachbelastung und das Verbot der Marktzugangssperre gelten in gleichem Maße beim Import eines Produktes und dem Zuzug einer Person wie beim Export eines Produktes und dem Wegzug einer Person. Die Grundfreiheiten sind in der Export- bzw. Wegzugssituation nicht auf ein Diskriminierungsverbot beschränkt. Den Besonderheiten der Export- bzw. Wegzugssituation, die darin begründet sind, dass ein Inländer eine Norm der inländischen Rechtsordnung unter Berufung auf die Grundfreiheiten infrage stellt, ist durch die Begrenzung des Beschränkungsverbots auf die Fälle der Mehrfachbelastung und der Marktaustrittssperre in ausreichendem Maße Rechnung getragen. e) Das Verbot der Mehrfachbelastung und das Verbot der Marktzugangssperre führen – vorbehaltlich einer einzelfallbedingten Rechtfertigung – zur Unanwendbarkeit der betroffenen Maßnahmen. Die hierdurch in der mitgliedstaatlichen Rechtsordnung eröffnete Lücke ist nach Maßgabe der Methodenlehre der betroffenen Rechtsordnung zu schließen. Hierbei kann es zu dem Ergebnis kommen, dass keine weiteren rechtlichen Vorgaben an die EU-ausländischen Produkte oder an Personen durch die Bestim-
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mungsrechtsordnung gestellt werden und somit ausschließlich die Vorgaben der Herkunftsrechtsordnung maßgeblich sind. Diese Wirkungsweise ist die Konsequenz des Anwendungsvorrangs und nicht mit einem Herkunftslandprinzip gleichzusetzen. 18. Unterschiedslos anwendbare Maßnahmen unterliegen schließlich nur dann den Grundfreiheiten, wenn sie aus der Sicht eines optimalen Beobachters im allgemeinen und nicht nur unter besonders eigenartigen, unwahrscheinlichen und nach dem gewöhnlichen Verlauf der Dinge außer Betracht zu lassenden Umständen geeignet sind, den innerunionalen Handel zu behindern. 19. Die Unionsbürgerfreizügigkeit ist eine „Grundfreiheit ohne Markt“, die dogmatisch den Marktgrundfreiheiten folgt. Sie besteht aus einem eigenständigen Verbot von unmittelbaren und mittelbaren Diskriminierungen aus Gründen der Staatsangehörigkeit, ohne dass es hierfür auf Art. 18 Abs. 1 AEUV ankäme, und aus einem Beschränkungsverbot für unterschiedslos anwendbare Maßnahmen. a) Das Beschränkungsverbot in der Unionsbürgerfreizügigkeit besteht aus einem Verbot der Mehrfachbelastung und einem Verbot der Zugangssperre zum Hoheitsgebiet der EU-Mitgliedstaaten. b) Eine Zugangssperre ist immer dann anzunehmen, wenn es sich um Maßnahmen handelt, die „schwerwiegende Nachteile“ für den Betroffenen begründen. Diese Nachteile sind solcher Art, dass sie zwar dem physischen Zugang des Unionsbürgers nicht entgegenstehen, jedoch den Zugang von untrennbar mit dem Unionsbürger verbundenen Eigenschaften verhindern. Der Nachteil kann durch den Zweifel des Verkehrs an der Identität der Person begründet werden. Ist die Maßnahme nicht geeignet, beim Verkehr Zweifel an der Identität des Unionsbürgers hervorzurufen, unterliegt die Maßnahme nicht der Unionsbürgerfreizügigkeit. 20. Der Kernbestand der Rechte, die sich aus dem Unionsbürgerstatus ableiten, ist subsidiär zur Unionsbürgerfreizügigkeit und verleiht dem Unionsbürger subjektive Rechte insbesondere bei einem fehlenden grenzüberschreitenden Sachverhalt. Der Kernbestand dieser Rechte ist betroffen, wenn die künftige Inanspruchnahme von Unionsbürgerrechten rechtlich oder tatsächlich durch eine Maßnahme verunmöglicht wird. Dies tritt bei einem Verlust des Unionsbürgerstatus und bei einem von der Maßnahme ausgehenden Zwang ein, das Unionsgebiet als Ganzes zu verlassen. Ein derartiger Zwang entsteht bei aufenthaltsbeendenden Maßnahmen gegenüber einem Drittstaatsangehörigen, zu dem der Unionsbürger in einer rechtlichen, finanziellen oder affektiven Abhängigkeit steht.
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4. Kapitel: Einwirkungen des Primärrechts in das autonome IPR 21. Eine Kollisionsnorm des autonomen IPR der Mitgliedstaaten verletzt ohne Berücksichtigung des berufenen Sachrechts die Vorgaben des Unionsrechts der negativen Integration, wenn eine spezifisch kollisionsrechtliche Diskriminierung oder Beschränkung vorliegt. Nur in diesem Fall kann die Unionsrechtskonformität ausschließlich auf der Ebene des Kollisionsrechts hergestellt werden. a) Transaktionskosten, die mit der kollisionsrechtlichen Berufung fremden Rechts verbunden sind, begründen keine Unionsrechtsverstöße, da sie die zwingende Folge der vom Unionsrecht grundsätzlich hinzunehmenden Fortexistenz divergierender mitgliedstaatlicher Rechtsordnungen sind. b) Bei der Berufung einer anderen Rechtsordnung als der Herkunftsrechtsordnung mit der Folge, dass im Fall divergierenden Sachrechts eine im Herkunftsstaat erworbene Rechtslage im Hoheitsgebiet der lex fori nicht fortbesteht, kann eine spezifisch kollisionsrechtliche Beschränkung nur dann angenommen werden, wenn unabhängig von dem konkret zur Anwendung berufenen Sachrecht die schlichte Berufung eines anderen als des Sachrechts der Herkunftsrechtsordnung zu einem hinkenden Rechtsverhältnis führt. Dies ist allenfalls bei sehr eigenartigen und wenig verbreiteten Rechtslagen oder wenn ein anderes als das Herkunftssachrecht „in einem hohen Prozentsatz von Fällen und somit quasi ‚generell‘“ ein hinkendes Rechtsverhältnis begründet der Fall. c) Bei der Berufung von Sachnormen des Herkunftsstaates durch einen kollisionsrechtlichen Verweis der Herkunftsrechtsordnung besteht eine spezifisch kollisionsrechtliche Beschränkung nicht. Die Herkunftsrechtsordnung kennt nämlich stets kollisions- oder sachrechtliche Möglichkeiten für den unionsrechtlich Berechtigten, sich den beschränkenden Wirkungen des Sachrechts des Herkunftsstaates zu entziehen. Derartige Möglichkeiten können auch erst im Wege und in den Grenzen der unionsrechtskonformen richterlichen Rechtsfortbildung geschaffen werden. Jenseits der Grenzen der Rechtsfortbildung greift der Anwendungsvorrang gegenüber dem beschränkenden Element der Gesamtnorm. d) Bei der Berufung von Sachnormen des Herkunftsstaates durch das Kollisionsrecht des Bestimmungs- bzw. Aufenthaltsstaates ist eine spezifisch kollisionsrechtliche Diskriminierung nicht gegeben. Das Gericht der lex fori kann ein diskriminierendes Rechtsanwendungsergebnis der aus der inländischen Kollisionsnorm und der ausländischen Sachnorm zusammengesetzten Gesamtnorm stets mit den Mitteln der unionsrechtskonformen Auslegung und Rechtsfortbildung sowie, als ultima ratio, mit der Un-
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anwendbarkeit der ausländischen Sachnorm aufgrund des Anwendungsvorrangs des Unionsrechts modifizieren. Das inländische Gericht ist dabei im Anwendungsbereich des unmittelbar anwendbaren Unionsrechts in seiner Funktion als Unionsgericht zu derart weitreichenden Eingriffen in die ausländische Rechtsordnung eines EU-Mitgliedstaates befugt. 22. Ist ein Unionsrechtsverstoß nicht auf eine spezifisch kollisionsrechtliche Diskriminierung oder Beschränkung zurückzuführen, verletzt die aus Kollisionsnorm(en) und Sachnorm(en) zusammengesetzte Gesamtnorm das Unionsrecht. In diesen Fällen kann die Unionsrechtskonformität auf der Ebene des Kollisionsrechts hergestellt werden. a) Dabei ist zu berücksichtigen, dass das Gericht der lex fori – aus Gründen, die im nationalen Recht zu suchen sind („favor legis“) – nach dem Erreichen der „contra legem“-Grenze im ausländischen Sachrecht zunächst eine unionsrechtskonforme Auslegung und Fortbildung des Kollisionsrechts versuchen sollte. Erst wenn auch im Kollisionsrecht die „contra legem“-Grenze erreicht ist, führt das Gericht der lex fori den Anwendungsvorrang durch, ohne dass das Unionsrecht selbst eine derartige Reihenfolge verlangt. b) Es erscheint zudem vorzugswürdig, ohne dass das Unionsrecht eine diesbezügliche rechtliche Vorgabe enthält, den unionsrechtskonformen Rechtszustand auf der Ebene des Kollisionsrechts herzustellen, wenn die Durchführung des Anwendungsvorrangs auf dieser Ebene die Berufung eines anderen Sachrechts zur Folge hat und dadurch weitreichende Modifikationen des ausländischen Sachrechts vermieden werden können. 23. Im Hinblick auf das Internationale Gesellschaftsrecht untersagt die Niederlassungsfreiheit Diskriminierungen und Beschränkungen der Freiheit zur Gründung einer rechtlichen Konfiguration und der hieran anschließenden grenzüberschreitenden Freizügigkeit der rechtlich konfigurierten Marktakteure. a) Eine von den Gründern gewählte Rechtsordnung kann die Begründung der rechtlichen Konfiguration von dem Vorhandensein einer tatsächlichen wirtschaftlichen Tätigkeit in ihrem Hoheitsgebiet abhängig machen, ohne hierzu aus unionsrechtlichen Gründen verpflichtet zu sein. b) Die Rechtsordnung, von der eine rechtliche Konfiguration ihre Existenz ableitet, kann den Export ihrer rechtlichen Konfiguration untersagen. Möchte der Marktakteur jedoch eine neue rechtliche Konfiguration nach den Vorgaben einer anderen Rechtsordnung annehmen, so darf die Rechtsordnung der bisherigen rechtlichen Konfiguration dies nicht verhindern.
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c) Erlaubt die Gründungsrechtsordnung eines rechtlich konfigurierten Marktakteurs den Wegzug unter Beibehaltung der rechtlichen Konfiguration, darf der Zuzugsstaat diese rechtliche Wertung der Gründungsrechtsordnung nicht infrage stellen. Somit darf die Zuzugsrechtsordnung eine rechtliche Konfiguration der Herkunftsrechtsordnung nicht in eine vergleichbare eigene rechtliche Konfiguration umdeuten, wenn damit der Verlust der durch die Wegzugsrechtsordnung zugestandenen Fortexistenz des rechtlich konfigurierten Marktakteurs verbunden ist. Sie hat vielmehr die Existenz des rechtlich konfigurierten Marktakteurs trotz eines mit einem Grenzübertritt verbundenen Statutenwechsels zu achten. Davon unberührt ist das Recht des Zuzugsstaats, die wirtschaftliche Tätigkeit des rechtlich konfigurierten Marktakteurs in seinem Hoheitsbereich in diskriminierungs- und beschränkungsfreier Weise zu regulieren. d) Verweigert die Gründungsrechtsordnung eines rechtlich konfigurierten Marktakteurs den Wegzug unter Beibehaltung der rechtlichen Konfiguration, kann der Marktakteur von der Zuzugsrechtsordnung verlangen, ihm Zugang zu den rechtlichen Konfigurationen dieser Rechtsordnung zu gewähren. Dies kann durch Verschmelzung oder durch eine Neugründung in Form eines Rechtsformwechsels in eine Rechtsform des Zuzugsstaates erfolgen. e) Das Unionsrecht beinhaltet keine versteckten Kollisionsnormen für das autonome Internationale Gesellschaftsrecht. Art. 54 Abs. 1 AEUV legt die anwendbare Rechtsordnung zur Bestimmung der Existenz einer „Gesellschaft“ im Sinne dieser Vorschrift fest mit der Rechtsfolge einer Erstreckung der Niederlassungsfreiheit auf solche „Gesellschaften“. Dies umfasst sowohl die Frage nach der Gründung als auch nach dem Fortbestand einer „Gesellschaft“. Art. 49 Abs. 1 AEUV gewährleistet die Freiheit zur Gründung einer rechtlichen Konfiguration und die Marktzugangsfreiheit für rechtlich konfigurierte Marktakteure. Eingriffe in diese Freiheit sind keine spezifisch kollisionsrechtlichen Diskriminierungen oder Beschränkungen, die durch die Sitztheorie oder die Gründungstheorie begründet werden. f) Die Niederlassungsfreiheit beinhaltet den Grundsatz der Gleichrangigkeit der Anknüpfungsmomente, mit denen die mitgliedstaatlichen Rechtsordnungen die engste Verbindung zwischen ihrem Sachrecht und ihrem Geltungsgebiet ausdrücken. Hieraus folgt, dass man der Niederlassungsfreiheit keine Präferenz zu Gunsten der Gründungstheorie oder der Sitztheorie entnehmen kann. g) Eine Verletzung der Niederlassungsfreiheit führt zur Unanwendbarkeit des ihr entgegenstehenden Elements der gesellschaftsrechtlichen Ge-
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samtnorm. Hierdurch wird die betroffene Gesellschaftsrechtsordnung lückenhaft. Rechtlich konfigurierte Marktakteure sind von einer anwendbaren, lückenlosen Rechtsordnung abhängig. Daher muss die durch den Anwendungsvorrang geöffnete Lücke geschlossen werden. Den Maßstab für eine grundfreiheitenkonforme Lückenschließung bildet die Gründungsrechtsordnung des rechtlich konfigurierten Marktakteurs als einzige zur Verfügung stehende Rechtsordnung. Die Lückenschließung erfolgt damit entweder kollisionsrechtlich durch Berufung der Norm der Gründungsrechtsordnung oder sachrechtlich durch eine Modifikation der vom eigentlich anwendbaren Kollisionsrecht berufenen Sachnorm. h) Die Niederlassungsfreiheit beinhaltet eine Achtungspflicht für die Existenz eines nach einer mitgliedstaatlichen Rechtsordnung begründeten rechtlich konfigurierten Marktakteurs. Maßnahmen, die den Fortbestand der rechtlichen Konfiguration beim Grenzübertritt berühren, verstoßen gegen diese Achtungspflicht. Es handelt sich dabei nicht um eine Anerkennungspflicht, da der Fortbestand des rechtlich konfigurierten Marktakteurs auch bei einem Wechsel des anwendbaren Rechts sachrechtlich gewährleistet werden kann. i) Die niederlassungsfreiheitliche Achtungspflicht des rechtlich konfigurierten Marktakteurs bezieht sich dabei ausschließlich auf die rechtliche Konfiguration. Andere Regelungen, die etwa dem Gläubigerschutz, dem Schutz der Arbeitnehmer oder der Gesellschafter dienen und die keine Auswirkungen auf die rechtliche Konfiguration haben, werden zwar nach dem deutschen Kollisionsrecht aufgrund der Theorie der Einheit des Gesellschaftsstatuts gesellschaftsrechtlich qualifiziert, sind aber als Eingriffe in die Niederlassungsfreiheit nicht am Maßstab der Gründungsrechtsordnung eines rechtlich konfigurierten Marktakteurs zu messen. 24. Das hinter der Freizügigkeit der rechtlich konfigurierten Marktakteure, wie sie durch die Niederlassungsfreiheit gewährleistet wird, stehende Prinzip ist die Gewährleistung grenzüberschreitender Rechtsformwahlfreiheit. Die Rechtswahl wird den Gründern eröffnet, da sie innerhalb des Binnenmarktes eine rechtliche Konfiguration durch Gründung frei wählen können. Die hiernach frei gewählte rechtliche Konfiguration genießt unter den Bedingungen der gewählten Rechtsordnung binnenmarktweite Freizügigkeit. 25. Im Hinblick auf das Internationale Namensrecht untersagt die Unionsbürgerfreizügigkeit Diskriminierungen und Beschränkungen beim Zugang zu Namen einer Rechtsordnung und bei der anschließenden grenzüberschreitenden Freizügigkeit des von einer Rechtsordnung verliehenen Namens.
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a) Die gewählte Namensrechtsordnung kann die Verleihung eines Namens von dem Vorhandensein einer tatsächlichen Nähebeziehung zu ihrem Hoheitsgebiet abhängig machen, ohne hierzu aus unionsrechtlichen Gründen verpflichtet zu sein. b) Verfügt der Unionsbürger über eine doppelte oder mehrfache Staatsangehörigkeit und führt dies in einem Mitgliedstaat, dessen Kollisionsrecht zur Bestimmung des Namensstatuts an die Staatsangehörigkeit anknüpft, zu einer divergierenden Namensführung aufgrund divergierender Namensrechtsordnungen, so darf der Mitgliedstaat nicht nur der eigenen Staatsangehörigkeit keinen Vorrang einräumen, sondern überhaupt keine Rangentscheidung treffen. Welche die auf den Namen des Unionsbürgers anzuwendende Namensrechtsordnung ist, bestimmt der Unionsbürger aus dem Kreis der aufgrund seiner Staatsangehörigkeiten möglichen Rechtsordnungen. c) Eine hinkende Namensführung, die durch unterschiedliche Namen aufgrund divergierender, jedoch nicht gleichzeitig in einem Mitgliedstaat, sondern nacheinander in unterschiedlichen Mitgliedstaaten anwendbarer Namensrechtsordnungen entsteht, behindert die Unionsbürgerfreizügigkeit. Die Zugangssperre für den in einem anderen Mitgliedstaat verliehenen Namen wirkt wie eine Zugangssperre für den namensführenden Unionsbürger. Die Gleichstellung von inländischem und ausländischem Namen innerhalb der inländischen Rechtsordnung verlangt ein Wahlrecht des Unionsbürgers bezüglich des von ihm geführten Namens. d) Der tatsächlich geführte und beurkundete Name, der jedoch in rechtswidriger, weil rechtsfehlerhafter Weise verliehen und der vom Unionsbürger in schutzwürdigem Vertrauen auf die Rechtmäßigkeit der ursprünglichen Namensbildung geführt wurde, ist aufgrund von Unionsgrundrechten (Art. 7 GRCh) und Art. 8 EMRK in Verbindung mit dem Grundsatz des Vertrauensschutzes unionsrechtlich geschützt. Der grund- und menschenrechtlich fundierte Schutz kann aber entfallen, wenn der Mitgliedstaat ein Ziel der öffentlichen Ordnung insbesondere von verfassungsrechtlicher Qualität in verhältnismäßiger Weise verfolgt. Die beschränkende Maßnahme muss dabei das geltend gemachte Ziel in kohärenter und systematischer Weise erreichen. e) Die Unionsbürgerfreizügigkeit beinhaltet den Grundsatz der Gleichrangigkeit der Anknüpfungsmomente, mit denen die mitgliedstaatlichen Rechtsordnungen die engste Verbindung zwischen den Regeln über die Namensbildung und ihrem Geltungsgebiet ausdrücken. Führen divergierende Anknüpfungsmomente oder tatsächliche Umstände zur Anwendbarkeit divergierender Namensrechtsordnungen, kann dem Grundsatz der Gleichrangigkeit der Anknüpfungsmomente nur entsprochen werden,
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wenn der von dieser Divergenz betroffene Grundfreiheitenträger die Entscheidungsfreiheit über die auf seine Namensbildung anwendbare Rechtsordnung behält. f) Das Unionsrecht enthält keine versteckten Kollisionsnormen für das Internationale Namensrecht. Art. 21 Abs. 1 AEUV gewährleistet eine Zugangsfreiheit für Namen und zur inländischen Namensbildung. Eingriffe in diese Freiheit sind keine spezifisch kollisionsrechtlichen Diskriminierungen oder Beschränkungen, sondern Folge divergierenden Sachrechts. g) Eine Verletzung der Unionsbürgerfreizügigkeit führt zur Unanwendbarkeit des ihr entgegenstehenden Elements der namensrechtlichen Gesamtnorm. Hierdurch wird die betroffene Namensrechtsordnung lückenhaft. Den Maßstab für eine grundfreiheitenkonforme Lückenschließung bildet die Rechtsordnung, nach deren Regeln der Name gebildet wurde, als einzige zur Verfügung stehende Rechtsordnung. Die Lückenschließung erfolgt damit entweder kollisionsrechtlich durch Berufung der Norm der Namensrechtsordnung, die den Namen gebildet hat, oder sachrechtlich durch eine Modifikation der vom eigentlich anwendbaren Kollisionsrecht berufenen Sachnorm. h) Ein nachlaufendes öffentlich-rechtliches Namensänderungsverfahren nimmt einer zuvor anzuwendenden Gesamtnorm, die diskriminiert oder die Unionsbürgerfreizügigkeit beschränkt, nicht ihre diskriminierende oder beschränkende Wirkung, so dass sein Vorhandensein den Unionsrechtsverstoß nicht heilen kann. i) Im Hinblick auf das deutsche Kollisionsrecht vor Einfügung des Art. 48 EGBGB führte der unionsrechtliche Anwendungsvorrang bei der Verleihung eines Doppelnamens an ein Kind mit ausschließlich deutscher Staatsangehörigkeit aufgrund einer anderen als der deutschen Namenssachrechtsordnung dazu, dass die Rechtswahlmöglichkeit in Art. 10 Abs. 3 S. 1 Nr. 2 EGBGB analog im Wege der unionsrechtskonformen Rechtsfortbildung auf den ausländischen Aufenthalt eines der Elternteile angewandt werden musste. Dies folgte zum einen aus der Unmöglichkeit, das sachrechtliche Verbot der Verleihung von Doppelnamen aus § 1617 BGB innerhalb der Grenzen der unionsrechtskonformen Rechtsfortbildung zu überwinden. Zum anderen waren zu diesem Zeitpunkt bezüglich der „contra legem“-Grenze von Art. 10 Abs. 3 S. 1 Nr. 2 EGBGB keine Anhaltspunkte erkennbar, die auf das Vorliegen eines impliziten aktualisierten gesetzgeberischen Willens schließen ließen, wonach sich der deutsche Gesetzgeber einer Ausweitung der Rechtswahlmöglichkeiten auf ausländische Aufenthaltsrechte zur Erreichung eines unionsrechtskonformen Rechtszustandes verweigert hätte
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j) Die Einfügung der sachrechtlichen Namenswahlmöglichkeit bei deutschem Namensstatut in Art. 48 EGBGB löst einige der Unionsrechtsverstöße des deutschen Namensrechts auf, jedoch nur, wenn Art. 10 EGBGB zuvor das deutsche Namensrecht zur Anwendung berufen hat. In den anderen Fällen verbleibt es beim Unionsrechtsverstoß, so dass Art. 48 EGBGB im Anwendungsbereich des Art. 21 Abs. 1 AEUV unionsrechtskonform dergestalt fortgebildet werden muss, dass einem Unionsbürger eine Rechtswahl zu Gunsten des ausländischen Sachrechts, von dem sich sein Name ableitet, eröffnet wird. 26. Das hinter der Freizügigkeit des Namens eines Unionsbürger, wie sie durch die Unionsbürgerfreizügigkeit gewährleistet wird, stehende Prinzip ist die grenzüberschreitende Gewährleistung der Namenswahlfreiheit. Sie umfasst den diskriminierungs- und beschränkungsfreien Zugang zu den Namensgestaltungen der Rechtsordnungen der Mitgliedstaaten nach deren Vorgaben und verleiht einem gewählten Namen grenzüberschreitende Mobilität. 27. Im Hinblick auf das Internationale Adoptionsrecht ist im Geltungsgebiet einer Rechtsordnung, die auf Sachrechtsebene eine gemeinschaftliche Adoption für nichteheliche Lebensgemeinschaften vorsieht und die auf Kollisionsrechtsebene das anwendbare Adoptionsrecht in diesen Fällen nach der gemeinsamen Staatsangehörigkeit der künftigen Adoptiveltern anknüpft, das Adoptionsrecht auch auf solche nichtehelichen Lebensgemeinschaften zu erweitern, deren gewöhnlicher Aufenthalt in diesem Geltungsgebiet ist und bei denen das zur Anwendung berufene ausländische Adoptionssachrecht eine derartige gemeinschaftliche Adoption nicht zulässt (z.B. § 1741 Abs. 2 S. 2 BGB). Andernfalls läge eine Diskriminierung aus Gründen der Staatsangehörigkeit vor, da Inländern, deren gewöhnlicher Aufenthalt im Geltungsgebiet dieser Rechtsordnung liegt, dieses Adoptionsrecht zustünde und Ausländern nicht. 28. Im Hinblick auf gleichgeschlechtliche Ehen von Personen, deren Heimatrecht eine solche Ehe nicht zulässt, begründet die Zugangsverweigerung einer solchen rechtlich konfigurierten Lebensgemeinschaft in das Geltungsgebiet einer Rechtsordnung, deren Kollisionsrecht das Bestehen einer rechtlich konfigurierten Lebensgemeinschaft an die Staatsangehörigkeit der Eheleute anknüpft, eine zugangsversperrende Wirkung für die betroffenen Unionsbürger. Auf Grundlage der jüngsten Rechtsprechung des EGMR bezüglich der italienischen Rechtsordnung verstärken Art. 8 EMRK und Art. 7 GRCh den Schutzbereich der Unionsbürgerfreizügigkeit dergestalt, dass die Nichtbeachtung der Existenz einer rechtlich konfigurierten Lebensgemeinschaft gleichgeschlechtlicher Personen unverhältnismäßig ist. Dem Verhältnismäßigkeitsgrundsatz genügt eine Sachrechtsordnung bereits, wenn sie gleichgeschlechtlichen Partnern eine rechtlich konfigurierte Lebensgemeinschaft zugesteht, ohne dass dies die Ehe sein muss. Das zur Entscheidung berufene Gericht der lex fori kann
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einen unionsrechtskonformen Rechtszustand durch die Unanwendbarkeit des Erfordernisses der Geschlechtsverschiedenheit im Sachrecht oder durch eine Fortbildung der Kollisionsnorm, die das Gründungsrecht der rechtlich konfigurierten Lebensgemeinschaft zur Anwendung beruft, erreichen. 29. Der unionsrechtliche Anwendungsvorrang führt im autonomen IPR zur Unanwendbarkeit desjenigen Teilelements einer aus Kollisionsnorm(en) und Sachnorm(en) zusammengesetzten Gesamtnorm, das gegen unmittelbar anwendbare Vorgaben der unionsrechtlichen Gleichheitssätze oder Grundfreiheiten, deren Schutzbereich eventuell durch Unionsgrundrechte aus der GRCh oder der EMRK verstärkt wird, verstößt. Er beruft zugleich die verletzten unionsrechtlichen Gleichheitssätze oder Grundfreiheiten zur Anwendung. Deren Vorgaben an die Gesamtnorm erschöpfen sich in einer Untersagung von Diskriminierungen und Beschränkungen. Hierdurch wird die betroffene mitgliedstaatliche Rechtsordnung lückenhaft. Die Lückenschließung erfolgt nach den Regeln der Rechtsfortbildung und darf aufgrund von Art. 4 Abs. 3 UAbs. 2 EUV nicht erneut gegen die unionsrechtlichen Gleichheitssätze und Grundfreiheiten verstoßen. Aus Gründen eines im mitgliedstaatlichen Recht begründeten „favor legis“ kann, bevor die Suspensiv- und Ersetzungswirkung des Anwendungsvorrangs greift, eine unionsrechtskonforme Rechtsfortbildung bis zur Erreichung der jeweiligen „contra legem“-Grenze, wie sie im Verbund der Rechtsordnungen zu ziehen ist, versucht werden. Es ist dann die „contra legem“-Grenze, die mit der gerade beschriebenen Suspensivwirkung des Anwendungsvorrangs überwunden wird. 30. Der am häufigsten auftretende Anwendungsfall des unionsrechtlichen Anwendungsvorrangs im autonomen IPR der Mitgliedstaaten tritt aufgrund der Unmöglichkeit einer Fortbildung des zur Anwendung berufenen Sachrechts wegen des Überschreitens der „contra legem“-Grenze ein. 31. Schematische Lösungen wie ein kollisionsrechtliches Anerkennungsprinzip sind nicht geeignet, den Anforderungen des Unionsrechts zu entsprechen. Sie verwehren dem unionsrechtlich Berechtigten den Zugang zur Rechtsordnung des Zuzugsstaates. 32. Die unionsrechtlichen Gleichheitssätze und die Grundfreiheiten sind darauf ausgerichtet, die grenzüberschreitende Wahlfreiheit des Einzelnen zu gewährleisten. In den Fällen, in denen die Einräumung einer inländischen sachrechtlichen Wahlfreiheit für den Einzelnen aufgrund der Berufung einer ausländischen Rechtsordnung scheitert, verstärkt sich der Schutzgehalt der unionsrechtlichen Gleichheitssätze und Grundfreiheiten in Form einer grenzüberschreitenden Gewährleistung von Parteiautonomie.
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Entscheidungsverzeichnis1 Entscheidungen des Gerichtshofs der Europäischen Union (EuGH) EuGH, Urteil vom 5.2.1963 – Rs. 26/62, Van Gend & Loos, Slg. 1963, 1 .................. 19–21 EuGH, Urteil vom 15.7.1964 – Rs. 6/64, Costa/ENEL, Slg. 1964, 1253 ..................... 24–26 EuGH, Urteil vom 17.12.1970 – Rs. 11/70, Internationale Handelsgesellschaft, Slg. 1970, 1125................................................................................................... 86, 135 EuGH, Urteil vom 12.2.1974 – Rs. 152/73, Sotgiu, Slg. 1974, 153 ......................... 110, 112 EuGH, Urteil vom 11.7.1974 – Rs. 8/74, Dassonville, Slg. 1974, 837 ............ 179, 182, 203 EuGH, Urteil vom 9.3.1977 – Rs. 106/77, Simmenthal II, Slg. 1978, 629 ............. 21, 35, 42 EuGH, Urteil vom 19.10.1977 – verb. Rs. 117/76 und 16/77, Ruckdeschel, Slg. 1977, 1753..................................................................................................... 86, 88 EuGH, Urteil vom 8.11.1979 – Rs. 15/79, Groenveld, Slg. 1979, 3409 ............... 203 f., 233 EuGH, Urteil vom 20.2.1979 – Rs. 120/78, Rewe Zentral (Cassis de Dijon), Slg. 1979, 649 ....................................................................................... 128, 148, 180 f. EuGH, Urteil vom 14.7.1981 – Rs. 155/80, Oebel, Slg. 1981, 1993 .................... 183 f., 197 EuGH, Urteil vom 19.1.1982 – Rs. 8/81, Becker, Slg. 1982, 53 ............................. 22, 132 f. EuGH, Urteil vom 31.3.1982 – Rs. 75/81, Blesgen, Slg. 1982, 1211 ................... 183 f., 197 EuGH, Urteil vom 15.12.1982 – Rs. 286/81, Oosthoek, Slg. 1982, 4575................................................................................ 181 f., 192 f., 202 f. EuGH, Urteil vom 20.4.1983– Rs. 59/82, Schutzverband gegen Unwesen in der Wirtschaft/Weinvertriebs-GmbH, Slg. 1983, 1217 ............................ 189 f., 205 f., EuGH, Urteil vom 10.4.1984 – Rs. 14/83, von Colson und Kamann, Slg. 1984, 1891 ....... 73 EuGH, Urteil vom 13.2.1985 – Rs. 293/83, Gravier, Slg. 1985, 593 .......................... 138 f. EuGH, Urteil vom 26.2.1986 – Rs. 152/84, Marshall, Slg. 1986, 723 ........... 62, 132 f., 144 EuGH, Urteil vom 4.2.1988 – Rs. 157/86, Murphy, Slg. 1988, 673 ....................... 44 f., 324 EuGH, Urteil vom 21.6.1988 – Rs. 39/86, Lair, Slg. 1988, 3161 ................................ 138 f. EuGH, Urteil vom 27.9.1988 – Rs. 81/87, Daily Mail, Slg. 1988, 5483........................................................... 3, 342–347, 349–351, 352 f., 370 EuGH, Urteil vom 13.7.1989 – Rs. 5/88, Wachauf, Slg. 1989, 2609 ............................... 143 EuGH, Urteil vom 23.11.1989 – Rs. C-145/88, Torfaen, Slg. 1989, 3851 ............ 191 f., 196 EuGH, Urteil vom 7.3.1990 – Rs. C-69/88, Krantz, Slg. 1990, I-583.................. 184 f., 238 EuGH, Urteil vom 13.11.1990 – Rs. C-106/89, Marleasing, Slg. 1990, I-4135 ........... 40, 49 EuGH, Urteil vom 24.1.1990 – Rs. C-339/89, Alsthom Atlantique, Slg. 1991, I-107 ................................................................................................ 204, 311 EuGH, Urteil vom 18.6.1991 – Rs. C-260/89, ERT, Slg. 1991, I-2925 ................... 147, 288 1 Das Entscheidungsverzeichnis enthält aus Gründen der Übersichtlichkeit nicht sämtliche zitierte Rechtsprechung, sondern eine Auswahl. Entscheidungen, die lediglich in einer Fußnoten erscheinen, sowie solche, deren Relevanz für die Themenstellung der vorliegenden Arbeit gering ist, wurden nicht aufgenommen.
Entscheidungsverzeichnis
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EuGH, Urteil vom 9.6.1992 – Rs. C-47/90, Delhaize, Slg. 1992, I-3669 .................... 325 f. EuGH, Urteil vom 31.3.1993 – Rs. C-19/92, Kraus, Slg. 1993, I-1663 ................ 173, 217 f. EuGH, Urteil vom 13.10.1993 – Rs. C-93/92, CMC Motorradcenter, Slg. 1993, I-5009 .................................................................................................. 184 f. EuGH, Urteil vom 24.11.1993 – verb. Rs. C-267/91 und C-268/91, Keck und Mithouard, Slg. 1993, I-6097 .......................... 149 f., 192–194, 198–203, 224–227, 239–244, 283 f. EuGH, Urteil vom 14.7.1994 – Rs. C-91/92, Faccini Dori, Slg. 1994, I-3325 .................................................................................... 40, 49, 62, 132 EuGH, Urteil vom 10.5.1995 – Rs. C-384/93, Alpine Investments, Slg. 1995, I-1141 ........................................................................ 230, 232 f., 239 f., 245 EuGH, Urteil vom 30.11.1995 – Rs. C-55/94, Gebhard, Slg. 1995, I-4165 .......... 217 f., 231 EuGH, Urteil vom 15.12.1995 – Rs. C-415/93, Bosman, Slg. 1995, I-4921 .... 175, 218, 220 EuGH, Urteil vom 26.6.1997 – Rs. C-368/95, Familiapress, Slg. 1997, I-3689 .............. 288 EuGH, Urteil vom 9.7.1997 – verb. Rs. C-34/95 bis C-36/95, De Agostini, Slg. 1997, I-3843 .......................................................................... 195, 240 EuGH, Urteil vom 9.12.1997 – Rs. C-265/95, Kommission/Frankreich, Slg. 1997, I-6959 ................................................................................................ 73, 312 EuGH, Urteil vom 9.3.1999 – Rs. C-212/97, Centros, Slg. 1999, I-1459 ........................................................................ 3, 355–357, 364, 370 f. EuGH, Urteil vom 27.1.2000 – Rs. C-190/98, Graf, Slg. 2000, I-493 .. 175, 220 f., 223, 226 EuGH, Urteil vom 20.9.2001 – Rs. C-184/99, Grzelczyk, Slg. 2001, I-6193 ................................................................................... 139, 249, 255 f. EuGH, Urteil vom 11.7.2002 – Rs. C-224/98, D’Hoop, Slg. 2002, I-6191 ... 263 f., 266, 278 EuGH, Urteil vom 11.7.2002 – Rs. C-60/00, Carpenter, Slg. 2002, I-6279 ................ 287 f. EuGH, Urteil vom 17.9.2002 – Rs. C-413/99, Baumbast, Slg. 2002, I-7091 ... 252, 256, 261 EuGH, Urteil vom 5.11.2002 – Rs. C-208/00, Überseering, Slg. 2002, I-9919 .................................................... 3, 360–363, 371, 378, 380, 382, 427 EuGH, Urteil vom 21.1.2003 – Rs. C-318/00, Bacardi-Martini, Slg. 2003, I-905 ........... 326 EuGH, Urteil vom 30.9.2003 – Rs. C-167/01, Inspire Art, Slg. 2003, I-10155............ 358 f. EuGH, Urteil vom 2.10.2003 – Rs. C-148/02, Garcia Avello, Slg. 2003, I-11613 ....... 3, 99, 101, 120–123, 128, 268–271, 279 f., 406–413, 416, 449 f. EuGH, Urteil vom 11.3.2004 – Rs. C-9/02, Lasteyrie du Saillant, Slg. 2004, I-2409 ................................................................................... 175, 221 f., 266 EuGH, Urteil vom 25.3.2004 – Rs. C-71/02, Karner, Slg. 2004, I-3025 ..................... 149 f. EuGH, Urteil vom 29.4.2004 – Rs. C-387/01, Weigel, Slg. 2004, I-4981............. 226 f., 282 EuGH, Urteil vom 16.9.2004 – Rs. C-400/02, Merida, Slg. 2004, I-8471 ...... 99, 119 f., 122 EuGH, Urteil vom 5.10.2004 – verb. Rs. C-397/01 bis C-403/01, Pfeiffer, Slg. 2004, I-8835........................................................................................... 50 EuGH, Urteil vom 19.10.2004 – Rs. C-200/02, Zhu und Chen, Slg. 2004, I-9925 .............................................................................................. 268–272 EuGH, Urteil vom 8.9.2005 – verb. Rs. C-544/03 und C-545/03, Mobistar, Slg. 2005, I-7723 .............................................................................. 241–243 EuGH, Urteil vom 15.9.2005 – Rs. C-464/02, Kommission/Dänemark, Slg. 2005, I-7929 .............................................................................................. 226, 282 EuGH, Urteil vom 22.11.2005 – Rs. C-144/04, Mangold, Slg. 2005, I-9981............... 146 f. EuGH, Urteil vom 13.12.2005 –Rs. C-411/03, Sevic, Slg. 2005, I-10805 .... 364–366, 370 f. EuGH, Urteil vom 4.7.2006 – Rs. C-212/04, Adeneler, Slg. 2006, I-6057 ........................ 44 EuGH, Urteil vom 7.9.2006 – Rs. C-470/04, N, Slg. 2006, I-7409.......................... 221, 266
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Entscheidungsverzeichnis
EuGH, Urteil vom 12.9.2006 – Rs. C-196/04, Cadbury Schweppes, Slg. 2006, I-7995 .................................................................................................. 369 f. EuGH, Urteil vom 23.10.2007 – verb. Rs. C-11/06 und C-12/06, Morgan und Bucher, Slg. 2007, I-9161 ..................................................................... 278 EuGH, Urteil vom 1.4.2008 – Rs. C-267/06, Maruko, Slg. 2008, I-1757 .................... 93–95 EuGH, Urteil vom 17.4.2008 – Rs. C-404/06, Quelle, Slg. 2008, I-2685 .................... 66–68 EuGH, Urteil vom 14.10.2008 – Rs. C-353/06, Grunkin-Paul, Slg. 2008, I-7639 ................ 3, 279 f., 413–417, 418–429, 439 f., 451, 454 f., 457 f., 459 EuGH, Urteil vom 16.12.2008 – Rs. C-210/06, Cartesio, Slg. 2008, I-9641 ........................................................ 3, 347–351, 363, 367 f., 371, 374 EuGH, Urteil vom 16.12.2008 – Rs. C-205/07, Gysbrechts, Slg. 2008, I-9947 ........................................................................................ 204 f., 232 f. EuGH, Urteil vom 10.2.2009 – Rs. C-110/05, Kommission/Italien, Slg. 2009, I-519 ..............................................................................198–200, 202, 283 f. EuGH, Urteil vom 28.4.2009 – Rs. C-518/06, Kommission/Italien, Slg. 2009, I-3491 .................................................................................................. 240 f. EuGH, Urteil vom 4.6.2009 – Rs. C-142/05, Mickelsson und Roos, Slg. 2009, I-4273 ................................................................................... 198, 200, 201 f. EuGH, Urteil vom 19.1.2010 – Rs. C-555/07, Kücükdeveci, Slg. 2010, I-365................. 144 EuGH, Urteil vom 2.3.2010 – Rs. C-135/08, Rottmann, Slg. 2010, I-1449 ............. 273, 275 EuGH, Urteil vom 22.12.2010 –Rs. C-208/09, Sayn-Wittgenstein, Slg. 2010, I-13693 ........................................... 280, 429, 431–434, 437 f., 438–440, 479 EuGH, Urteil vom 8.3.2011 – Rs. C-34/09, Ruiz Zambrano, Slg. 2011, I-1177 ...... 272–275 EuGH, Urteil vom 7.4.2011 – Rs. C-291/09, Guarnieri, Slg. 2011, I-2685 ..................... 186 EuGH, Urteil vom 5.5.2011 – Rs. C-434/09, McCarthy, Slg. 2011, I-3375 ....... 269 f., 273 f. EuGH, Urteil vom 10.5.2011 – Rs. C-147/08, Römer, Slg. 2011, I-3591 ............... 95 f., 110 EuGH, Urteil vom 12.5.2011 – Rs. C-391/09, Runevič-Vardyn, Slg. 2011, I-3787 ....................................................................... 261, 266, 279–283, 442 EuGH, Urteil vom 15.11.2011 – Rs. C-256/11, Dereci, Slg. 2011, I-11315 .... 271, 274, 276 EuGH, Urteil vom 29.11.2011 – Rs. C-371/10, National Grid Indus, Slg. 2011, I-12273 ......................................................................................... 352 f., 371 EuGH, Urteil vom 12.7.2012 – Rs. C-378/10, VALE, EU:C:2012:440 ............... 366–8, 371 EuGH, Urteil vom 8.11.2012 – Rs. C-40/11, Iida, EU:C:2012:691......................... 274, 277 EuGH, Urteil vom 26.2.2013 – Rs. C-617/10, Akerberg Fransson, EU:C:2013:105 ......................................................................................... 153, 275, 287 EuGH, Urteil vom 27.2.2014 – Rs. C-172/11, Erny, EU:C:2012:399 .................... 99, 119 f. EuGH, Urteil vom 2.6.2016 – Rs. C-438/14, Bogendorff von Wolffersdorff, EU:C:2016:401 ......................................................................................................... 412 EuGH, Urteil vom 13.9.2016 – Rs. C-165/14, Rendón Marín, EU:C:2016:675 ........... 274 f. EuGH, Urteil vom 10.5.2017 – Rs. C-133/15, Chavez-Vilchez, EU:C:2017:354 ......... 274 f. EuGH, Urteil vom 8.6.2017 – Rs. C-541/15, Freitag, EU:C:2017:432 ................... 450, 453
Schlussanträge von Generalanwälten am EuGH GA Saggio, Schlussanträge vom 16.12.1999, verb. Rs. C-240/98 bis C-244/98, Océano, Slg. 2000, I-4941 ................................ 39–41 GA Léger, Schlussanträge vom 11.1.2000, Rs. C-287/98, Linster, Slg. 2000, I-6917 ............................................................... 39, 42 GA Jacobs, Schlussanträge vom 22.5.2003, Rs. C-148/02, Garcia Avello, Slg. 2003, I-11613 ...................................................... 408
Entscheidungsverzeichnis
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GA Tizzano, Schlussanträge vom 7.7.2005, Rs. C-411/03, Sevic, Slg. 2005, I-10805 . 365 f. GA Kokott, Schlussanträge vom 14.12.2006, Rs. C-142/05, Mickelsson und Roos, Slg. 2009, I-4273 .................................. 198, 200 f. GA Sharpston, Schlussanträge vom 28.6.2007, Rs. C-212/06, Gouvernement wallon, Slg. 2008, I-1683 .................................... 186, 224 GA Sharpston, Schlussanträge vom 24.4.2008, Rs. C-353/06, Grunkin-Paul, Slg. 2008, I-7639 ................................................ 417, 471 GA Maduro, Schlussanträge vom 22.5.2008, Rs. C-210/06, Cartesio, Slg. 2008, I-9641......................................................... 347, 349 GA Bot, Schlussanträge vom 7.7.2009, Rs. C-555/07, Kücükdeveci, Slg. 2010, I-365 ...... 42 GA Sharpston, Schlussanträge vom 14.10.2010, Rs. C-208/09, Sayn-Wittgenstein, Slg. 2010, I-13693 ........................................ 431, 436 GA Sharpston, Schlussanträge vom 30.9.2010, Rs. C-34/09, Ruiz Zambrano, Slg. 2011, I-1177 ........................................ 150–152, 267
Entscheidungen deutscher Gerichte BVerfG, Entscheidung vom 12.10.1993 – Az. 2 BvR 2134/92 und 2 BvR 2159/92, BVerfGE 89, 155 = NJW 1993, 3047 .......................................................................... 14 BVerfG, Beschluss vom 11.4.2001 – Az. 1 BvR 1646/97, StAZ 2001, 207 .... 434–436, 443 BGH, Urteil vom 30.4.1992 – Az. IX ZR 233/90, BGHZ 118, 151................................. 318 BGH, Urteil vom 1.7.2002 – Az. II ZR 380/00, BGHZ 151, 204 ............................ 338, 373 BGH, Vorlagebeschluss vom 16.8.2006 – Az. VIII ZR 200/05, NJW 2006, 3200 ............. 67 BGH, Urteil vom 27.10.2008 – Az. II ZR 158/06, BGHZ 178, 192 ................................ 338 BGH, Urteil vom 26.11.2008 – Az. VIII ZR 200/05, BGHZ 179, 27 ............................ 66 f. BGH, Beschluss vom 19.2.2014 – Az. XII ZB 180/12, NJW 2014, 1383 ................ 411, 451 BayObLG, Beschluss vom 7.5.1992 – Az. 3Z BR 14/92, BayObLGZ 1992, 113 = NJW-RR 1993, 43 ................................................... 333 f., 338 OLG München, Beschluss vom 19.1.2010 – Az. 31 Wx 152/09, NJW-RR 2010, 660 ........................................................................ 3 f., 419, 443, 445 f. OLG München, Beschluss vom 1.4.2014 – Az. 31 Wx 122/14, StAZ 2014, 179 ......... 453 f. OLG Nürnberg, Beschluss vom 13.2.2012 – Az. 12 W 2361/11, NZG 2012, 468 ........... 339
Entscheidungen internationaler Gerichtshöfe PCIJ, 1925, Advisory Opinion vom 21.2.1925, Exchange of Greek and Turkish Population, Series B, Nr. 10 ...................................... 31 PCIJ, 1928, Advisory Opinion vom 3.3.1928, Jurisdiction of the Courts of Danzig, Series B, Nr. 15 ................................................. 19 PCIJ, 1930, Advisory Opinion vom 31.7.1930, Greco-Bulgarian „Communities“, Series B, Nr. 17..................................................... 30 EGMR, Urteil vom 11.7.2002, Goodwin/Vereinigtes Königreich, Nr. 28957/95 = NJW-RR 2004, 286 .......................................................................... 481 EGMR, Urteil vom 24.6.2010, Schalk und Kopf/Österreich, Nr. 30141/04 = NJW 2011, 1421 .......................................................................... 480 f. EGMR, Urteil vom 7.11.2013, Vallianatos/Griechenland, Nr. 29381/09 und Nr. 32684/09 = FamRZ 2014, 189 ............................................ 480 f. EGMR, Urteil vom 21.7.2015, Oliari/Italien, Nr. 18766/11 und Nr. 36030/11 = FamRZ 2015, 1785 ...................................... 480–483
Sachregister
Achtungspflicht 380, 417, 419, 426–429, 439, 447, 464, 469 agency situation 143–47 Anerkennungsprinzip 2 f., 5, 188, 426–428, 469, 489 f. Anknüpfungsmoment – gewöhnlicher Aufenthalt 395–398 – Gleichrangigkeit der Anknüpfungsmomente 416 f., 444, 468–470 – Gründungstheorie 3, 335–342, 345, 347, 351 f., 355 f., 360, 363, 378, 381–385, 404 f., 416, 523, 527 – Parteiwille 398–400 – Sitztheorie 333 f., 337 f., 341, 344, 346, 350, 354, 357, 361, 363, 377 f., 380, 383, 404, 416, 508, 511 f., 518 f. – Staatsangehörigkeit 391–395 Anpassung 61, 76, 188, 314, 320–323, 380, 382, 412, 424, 437, 451, 518 Antidiskriminierungsrichtlinien – Bindung der Mitgliedstaaten 132 f. – Wirkung im Familienrecht 133–136 Anwendungsvorrang – Ersetzungswirkung 53 – im Internationalen Gesellschaftsrecht 379–382 – Kollisionsregel 31–39 – rechtstheoretische Einordnung 26–39 – Suspensivwirkung 53 – unmittelbare Anwendbarkeit als Voraussetzung 39–41 – Vermeidung von Normenkonflikten durch Auslegung 43–50 – Wirkungsweise 41 f.
Autonomie der Unionsrechtsordnung 13 Berufung von Sachnormen der Herkunftsrechtsordnung – Auslegungsbefugnis ausländischen Sachrechts 314–316 Bindung der Mitgliedstaaten an unionsrechtliche Gleichheitssätze 130–56 – agency situation 143–147 – akzessorische Anwendungsbereichseröffnung 136–154 – allgemeiner Gleichheitssatz 141–154 – Antidiskriminierungsrichtlinien 132 f. – Anwendungsbereichsberührung 149 f. – Diskriminierungsverbot aus Gründen der Staatsangehörigkeit 137–141 – eigenständige Anwendungsbereichseröffnung 132–136 – ERT-Situation 147–149 – EU-Grundrechtecharta 152–154 – Existenz einer sachlichen Unionszuständigkeit 150–152 – im Familienrecht 133–136 Datumtheorie 320–322 Dienstleistungsfreiheit 229–246 – Beschränkungen durch den Bestimmungsstaat 230 f. – Beschränkungen durch den Herkunftsstaat 232–237 – Übertragbarkeit der „Keck“-Rechtsprechung 239–244
Sachregister Diskriminierungsverbot aus Gründen der Staatsangehörigkeit 137–141 Diskriminierungsverbote 102–129 – absolute 124–127 – Anknüpfungsverbote 103–106 – Begründungsverbote 103–106 – Gleichbehandlung aus Gründen des verbotenen Differenzierungsmerkmals 117–123 – mittelbare Diskriminierungen 110–117 – objektive Rechtfertigung 123–129 – relative 124–127 – Ungleichbehandlung aus Gründen des verbotenen Differenzierungsmerkmals 109–117 – unmittelbare Diskriminierungen 109 f. – Vergleichbarkeit 106–109 – Ziel 102 f. Ehe – Nichtanerkennung gleichgeschlechtlicher Ehen 479 f. – Schutz gleichgeschlechtlicher Ehe durch Unionsgrundrechte 480–484 – Vergleichbarkeit mit gleichgeschlechtlicher Lebenspartnerschaft 93–96 ERT-Situation 147–149 EU-Grundrechtecharta – Bindung der Mitgliedstaaten 152–154 – Schutzbereichsverstärkung 287–289 Geltung der Unionsrechtsordnung 11 Geltungsgrund der Unionsrechtsordnung 11 Gesamtverweisung – Art. 54 Abs. 1 AEUV 375 f. – spezifisch kollisionsrechtliche Diskriminierung oder Beschränkung 298–301 gewöhnlicher Aufenthalt – Anknüpfungsmoment 395–398 – spezifisch kollisionsrechtliche Beschränkung 303–306, 312–327
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Gleichheitssatz – Diskriminierungsverbot siehe dort – unionsrechtliche siehe unionsrechtliche Gleichheitssätze Grundfreiheiten siehe Marktgrundfreiheiten Grundrechtecharta siehe EU-Grundrechtecharta Herkunftslandprinzip 187–192 Internationales Adoptionsrecht 474–477 Internationales Gesellschaftsrecht 329–387 – Anknüpfungsmoment 333–337 – Anwendungsvorrang 379–382 – Einheit des Gesellschaftsstatuts 332 – Gesellschaftsbegriff 331 – Niederlassungsfreiheit siehe dort – Rechtswahlfreiheit 385–387 – versteckte Kollisionsnorm Art. 51 Abs. 1 AEUV bezüglich der Gründung 373 – versteckte Kollisionsnorm Art. 54 Abs. 1 AEUV bezüglich Fortbestand 374 f. Internationales Namensrecht 387–465 – Anknüpfungsmoment 387–465 – grenzüberschreitende Namenswahlfreiheit 464 f. – hinkende Namensführung 400–404 – Namenswahl nach Art. 48 EGBGB 450–464 – versteckte Kollisionsnorm in Art. 21 AEUV 445 f. – Zugangsfreiheit für ausländische Namen 447 – Zugangsfreiheit zu inländischen Namen 447–449 Internationales Namensrechts – Schutz des Vertauens auf den tatsächlich geführten Namen 433–442 IPR – und Sachrecht 75–77 IPR der rechtlich konfigurierten Lebensgemeinschaften 477–488
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Sachregister
„Keck“-Rechtsprechung 195 f. – Übertragbarkeit auf die Dienstleistungsfreiheit 239–244 – Übertragbarkeit auf die Unionsbürgerfreizügigkeit 278–284 – Übertragbarkeit auf Personenverkehrsfreiheiten 224–227 Kernbestand der Rechte des Unionsbürgers 272–276 Lebenspartnerschaft – Vergleichbarkeit mit Ehe 93–96 Marktgrundfreiheiten 158–248 – als besondere Gleichheitssätze 167 f. – als freiheitsrechtliche Beschränkuingsverbote 168–178 – Arbeitnehmerfreizügigkeit siehe Personenverkehrsfreiheiten – Dienstleistungsfreiheit siehe dort – Dogmatik 246–248 – freiheitsrechtliches Verständnis 176–178 – funktionale Ausrichtung auf den Binnenmarkt 159–167 – gleichheitsrechtliches Verständnis 169–173 – Marktfreiheit 163–167, 178, 246 f. – Marktgleichheit 163–167, 178, 246 – Niederlassungsfreiheit siehe Personenverkehrsfreiheiten – Verbot der Marktzugangssperre 207, 227 f., 245–248 – Verbot der Mehrfachbelastung 207, 227 f., 245–248, 286 – Warenverkehrsfreiheit siehe dort Namensänderungsverfahren 123, 421 f., 429, 445, 449, 454 – grundfreiheitenbeschränkender Charakter 449 f. Namenswahl 450–464 – fortbestehende Beschränkung 452–455 – grenzüberschreitende Namenswahlfreiheit 464–465 – unionsrechtskonforme Fortbildung von Art. 48 EGBGB 455–464
Niederlassungsfreiheit – Dogmatik im Allgemeinen siehe Personenverkehrsfreiheiten – Gründungsfreiheit 363–370 – Rechtswahlfreiheit 385–387 – versteckte Kollisionsnorm des Internationalen Gesellschaftsrecht 373, 378 – Wegzugskonstellation 341–354 – Zuzugskonstellation 354–363 Personenverkehrsfreiheiten 208–229 – Übertragbarkeit der „Keck“-Rechtsprechung 224–227 – Wegzugsbeschränkungen 220–222 – Zuzugsbeschränkungen 211–220 rechtlich konfigurierte Lebensgemeinschaft 477 rechtlich konfigurierter Marktakteur 340 f. Rechtsformwahlfreiheit 387 Rechtsfortbildung 69–71 – Auslegungsbefugnis ausländischen Sachrechts 314–316 – „contra legem“-Grenze 62–69 – Gesamtplan 56–57 – infolge unmittelbar anwendbaren Unionsrechts 69–71 – unionsrechtskonforme siehe unionsrechtskonforme Rechtsfortbildung Rechtswahlfreiheit 337, 350, 376, 385–387, 399, 409, 490 – Anknüpfungsmoment 398–400 Sachnormverweisung – Art. 54 Abs. 1 AEUV 375 f. – spezifisch kollisionsrechtliche Diskriminierung oder Beschränkung 298–301 spezifisch kollisionsrechtliche Diskriminierungen und Beschränkungen – Berufung von Sachnormen der Herkunftsrechtsordnung siehe dort – Berufung von Sachnormen einer anderen als der Herkunftsrechtsordnung 303–306
Sachregister – Gesamt- und Sachnormverweisung 298–301 – Transaktionskosten 301–303 Staatsangehörigkeit – Anknüpfungsmoment 391–395 – Diskriminierung aus Gründen der 137–141 Substitution 76, 320 f., 323, 377, 524 Transposition 320 f., 323 Unionsbürgerfreizügigkeit 248–287 – Beschränkungsverbot 261–284 – Diskriminierungsverbot 253–261 – Dogmatik der 284–287 – grenzüberschreitende Namenswahlfreiheit 464 f. – grenzüberschreitendes Element 267–272 – hinkende Namensführung 400–404 – Kernbestand der Unionsbürgerrechte 272–276 – Nichtanerkennung gleichgeschlechtlicher Ehen 479 f. – schwerwiegende Nachteile 279 f., 286, 415 – Übertragbarkeit der „Keck“-Rechtsprechung 278–284 – versteckte Kollisionsnorm des Internationalen Namensrechts 445 f. – Zugangsfreiheit für ausländische Namen 447 – Zugangsfreiheit zu inländischen Namen 447–449 – Zusammenhang von Freizügigkeit und Diskriminierung 258–260 Unionsgrundrechte – Schutz der geschlossenen gleichgeschlechtlichen Ehe 480–484 – Schutzbereichsverstärkung 287–289 Unionsrechtliche Gleichheitssätze – Bindung der Mitgliedstaaten siehe Bindung der Mitgliedstaaten an unionsrechtliche Gleichheitssätze – Diskriminierungsverbote siehe dort – Einheitliche Dogmatik 82–130 – Gleichbehandlung nicht vergleichbarer Sachverhalter 99 f. – Gleichheit der Sachverhalte 89–96
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– Objektive Rechtfertigung 100–102 – Ungleichbehandlung vergleichbarer Sachverhalte 98 f. – Vergleichbarkeit von Ehe und gleichgeschlechtlicher Lebenspartnerschaft 93–96 unionsrechtskonforme Auslegung 43–50 – Auslegungsbefugnis ausländischen Sachrechts 314–316 – Reichweite 44 – Vorrang 44–49 unionsrechtskonforme Rechtsfortbildung 54–69 – Auslegungsbefugnis ausländischen Sachrechts 314–316 – „contra legem“-Grenze 62–69 – Gesamtplan 56 f. – Lückenfeststellung 55–59 – Lückenfüllung 59–62 – Rechtsfortbildungsinstrumente 61 f. – Verbund der Rechtsordnungen 58 f. – von Art. 10 EGBGB 422–426 – von Art. 48 EGBGB 455–464 Unionsrechtsordnung – Autonomie 13 – Geltung 11 – Geltungsgrund 11 unmittelbare Anwendbarkeit 19–22 – Reichweite 22 – Voraussetzung des Anwendungsvorrangs 39–41 Verbund – der Rechtsordnungen 14–18, 55, 58–62, 65, 67, 71, 78, 324, 423 f. – Verfassungsverbund 14, 17 Warenverkehrsfreiheit 178–208 – Absatzbehinderungen im Bestimmungsland 181 f. – absatzregulierende Handelsbehinderungen mit Produktbezug 194 f. – bestimmte Verkaufsmodalitäten 195 f. – Herkunftslandprinzip 187–192 – Kausalität 182–186 – Marktzugang 200–203
538 – Marktzugangsbehinderungen 179 f. – produktbezogene Kriterien des Bestimmungslandes 180 f. – Spürbarkeit 186
Sachregister – Verwendungsmodalitäten 198–200 – Warenausfuhrfreiheit 203–207 Zwei-Stufen-Theorie 76, 322 f.