Bundeskanzlerermessen im Verfassungsstaat.: Dissertationsschrift 9783428129539, 3428129539

"Ermessen" ist ein Rechtsbegriff, dessen Herkunft und primäres Anwendungsgebiet im Verwaltungsrecht liegt. Das

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German Pages 252 [253] Year 2009

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Bundeskanzlerermessen im Verfassungsstaat.: Dissertationsschrift
 9783428129539, 3428129539

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Schriften zum Öffentlichen Recht Band 1125

Bundeskanzlerermessen im Verfassungsstaat Von

Christian Tobias Roth

asdfghjk Duncker & Humblot · Berlin

CHRISTIAN TOBIAS ROTH

Bundeskanzlerermessen im Verfassungsstaat

Schriften zum Öffentlichen Recht Band 1125

Bundeskanzlerermessen im Verfassungsstaat

Von

Christian Tobias Roth

asdfghjk Duncker & Humblot · Berlin

Die Rechtswissenschaftliche Fakultät der Westfälischen Wilhelms-Universität zu Münster hat diese Arbeit im Jahre 2008 als Dissertation angenommen.

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

D6 Alle Rechte vorbehalten # 2009 Duncker & Humblot GmbH, Berlin Fremddatenübernahme: Werksatz, Berlin Druck: Berliner Buchdruckerei Union GmbH, Berlin Printed in Germany ISSN 0582-0200 ISBN 978-3-428-12953-9 Gedruckt auf alterungsbeständigem (säurefreiem) Papier ∞ entsprechend ISO 9706 *

Internet: http://www.duncker-humblot.de

Meinen Eltern

Vorwort Diese Abhandlung hat die Rechtswissenschaftliche Fakultät der Universität Münster im Sommersemester 2008 als Dissertation angenommen. Literatur und Rechtsprechung befinden sich auf dem Stand vom 1. Juli 2008. Spätere Beiträge konnten nur noch vereinzelt Berücksichtigung finden. Das Vorwort möchte ich zum Anlass nehmen, all jenen Dank zu sagen, die zum Gelingen dieser Schrift beigetragen haben: Meinem verehrten Lehrer, Herrn Professor Dr. Bodo Pieroth, danke ich ganz herzlich für die stets engagierte Betreuung, für die überaus zügige Erstellung des Erstgutachtens und für die vielfältige Förderung, die ich als sein Doktorand und Wissenschaftlicher Mitarbeiter erfahren durfte. Die Tätigkeit an dem von ihm geleiteten Institut für Öffentliches Recht und Politik habe ich nicht nur fachlich, sondern auch menschlich als große Bereicherung empfunden. Mein Dank gilt ferner Herrn Professor Dr. Ralf P. Schenke für das Zweitgutachten. Die wertvollen Hinweise aus den beiden Voten sind durchweg in die Druckfassung eingeflossen. Der interfakultäre Arbeitskreis Geschichte, Methodik und Dogmatik des Öffentlichen Rechts eröffnete mir im November 2006 die gute Gelegenheit, mein Promotionsvorhaben während eines frühen Stadiums einem Fachpublikum vorzustellen. Der anschließende Gedankenaustausch gab mir zusätzliche Impulse für meine weitere Arbeit. Dankbar bin ich auch meinen Kollegen und den Mitarbeitern des Instituts, die stets für eine Atmosphäre der Kollegialität und für ein angenehmes Arbeitsklima sorgten. Besonders hervorheben möchte ich Herrn Dr. Bernd J. Hartmann, LLM. (Virginia) und Herrn PD Dr. Christoph Görisch. Ihre stete Diskussionsbereitschaft und förderliche Kritik waren mir ebenso wie die vielen praktischen Ratschläge eine große Unterstützung. Eine herausragende Auszeichnung und Ehre bedeutete für mich die Aufnahme in den ausgewählten Kreis von Stipendiaten der Promotionsförderung der Westfälischen Wilhelms-Universität Münster. Nicht zuletzt deswegen fühle ich mich meiner Universität besonders verbunden und zu Dank verpflichtet. Herrn Professor Dr. Andreas Thier, M.A. danke ich dafür, dass er noch ein Gutachten für mein Promotionsstipendium verfasste, obwohl er bereits einen neuen Lehrstuhl in Zürich innehatte. Mein Dank gilt ferner dem Bundesministerium des Innern, welches die Veröffentlichung der Schrift durch einen großzügigen Druckkostenzuschuss gefördert hat.

8

Vorwort

Den Weg für diese Abhandlung bereitet haben letztlich meine Mutter und mein Vater durch ihre Liebe und ihren immer selbstlosen Einsatz. Ihrer Unterstützung kann und konnte ich mir in jeder Situation sicher sein. Sie waren mir stets Vorbilder und gaben mir die Kraft und den Ansporn zur Bewältigung meiner Vorhaben. Solche Eltern sind keine Selbstverständlichkeit. Ihnen widme ich diese Schrift voller Dankbarkeit. Münster, den 15. Juli 2008

Christian Tobias Roth

Inhaltsverzeichnis A. Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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B. Historische Einordnung und inhaltliche Abgrenzung politischen Ermessens I. Die Theorien von den Regierungsakten und politisches Ermessen aus historischer Perspektive . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . II. Faktische und prozessuale Injustiziabilitäten − Abgrenzung zum Ermessen 1. Unterlassen einer Klage aus politischen Gründen . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Verfahrensrechtliche Injustiziabilität . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) § 40 Abs. 1 S. 1 VwGO . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Art. 93 Abs. 1 GG . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . c) Gesetzliche Ausnahmen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . III. Ausschluss des Rechtswegs und Ausgestaltung der Rechtsbindung . . . . .

19 19 26 27 27 27 29 31 32

C. Gubernative Entscheidungsspielräume in der Rechtsprechung . . . . . . . . . I. Einteilung nach Sachbereichen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . II. Einteilung nach Entscheidungsspielräumen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Politisches Ermessen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Außenpolitischer Initiativbereich der Regierung . . . . . . . . . . . . . . b) Verteidigungspolitik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . c) Verfassungsrechtliche Gebote . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . d) Verfassungsrechtliche Schutzpflichten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . e) Staatsorganisationsrecht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . f) Ergebnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Gestaltungsspielraum . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Einschätzungsprärogative . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Außen- und Verteidigungspolitik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Risikoentscheidungen im innenpolitischen Bereich . . . . . . . . . . . . c) Ergebnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4. Beurteilungsspielraum . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . III. Typisierung der Entscheidungsspielräume . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . IV. Entscheidungsäquivalenz zwischen Legislative und Gubernative . . . . . . . V. Entscheidungsspielräume als objektiv-rechtliche Kompetenzgrenzen . . . VI. Kontrollmaßstäbe und Kontrolldichte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Rechtsbindung der politischen Organe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Rechtsbindung der Judikative . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Politische Kontrolle als Surrogat gerichtlicher Kontrolle . . . . . . . . . .

34 35 37 37 37 38 39 39 40 41 42 43 43 44 45 46 47 50 51 51 51 52 56

10

Inhaltsverzeichnis VII. Ergebnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

57

D. Ermessen im Allgemeinen Verwaltungsrecht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . I. Verfassungsrechtliche Fragen des Ermessens . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . II. Voraussetzungen und Inhalt des Ermessens . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . III. Rechtliche Bindungen der Ermessensentscheidung . . . . . . . . . . . . . . . . . IV. Folgerungen für die gerichtliche Nachprüfung von Ermessensentscheidungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . V. Ansätze und Kritik einer Kategorisierung administrativer Letztentscheidungsrechte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Ermessen und unbestimmter Rechtsbegriff . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Weitere Kategorisierungsansätze . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Planungsermessen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Gestaltende Verwaltung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Einheitstheorien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . VI. Zugrunde gelegte verwaltungsrechtliche Begriffsbedeutungen . . . . . . . . . 1. Beurteilungsspielraum . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Ermessen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Gestaltungsfreiheit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

58 58 59 61

E. Verwaltungsrechtliche Entscheidungskategorien im Verfassungsrecht? . . I. Übertragbarkeit des Ermessensbegriffs . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Kritik und Ablehnung einer Begriffsübertragung . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Anerkennung des Ermessens als verfassungsrechtliche Entscheidungsform . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Politisches Ermessen als Unterfall eines einheitlichen Ermessensbegriffs . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . II. Voraussetzungen und Grenzen einer Begriffsübertragung . . . . . . . . . . . . 1. Die Stufentheorie des Rechts und ihre Rezeption in der zeitgenössischen Rechtswissenschaft . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Differenzierende Konzeptionen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Freie und gebundene Staatstätigkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Diskussion unter Geltung des Grundgesetzes . . . . . . . . . . . . . . . . c) Entscheidungskategorien nach den differenzierenden Ansätzen . . F.

63 65 65 68 68 70 72 73 73 74 74 75 75 75 77 80 82 82 86 87 89 91

Systematisierung öffentlich-rechtlicher Entscheidungsspielräume am Beispiel der Regierung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 95 I. Unterscheidung zwischen Entscheidungsspielräumen und Organfunktion 95 II. Rechtsbindung der Regierung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 96 III. Die Verfassung des Grundgesetzes als Rahmenordnung . . . . . . . . . . . . . . 97 IV. Ausgestaltung der verfassungsrechtlichen Determination staatlicher Entscheidungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 101 1. Differenzierung zwischen formellen und materiellen Maßstäben . . . . 101

Inhaltsverzeichnis

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2. Materiell-rechtliche Doppelfunktion der Verfassung . . . . . . . . . . . . . 3. Folgerungen für das Verhältnis von Recht und Politik . . . . . . . . . . . . . V. Korrelation der Entscheidungsstruktur mit der Qualität der Rechtsbindung 1. Abgrenzung und Exklusivität zwischen Vollzug und Zwecksetzung . 2. Relativierung der Abgrenzung unter dem Aspekt der Allgemeinwohlverpflichtung? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Zuordnung des Ermessens nach den entwickelten Kriterien . . . . . . . . VI. Ergebnis: Abgrenzung zwischen Gestaltungsfreiheit und Ermessen . . . . VII. Voraussetzungen und Erscheinungsformen von Gestaltungsfreiheit . . . . . 1. Legislative und gubernative Gestaltungsfreiheit . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Der Vorbehalt des Gesetzes und seine Grenzen . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Grenzen des parlamentarischen Zugriffsrechts . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4. Strukturelle Äquivalenz legislativer und gubernativer Entscheidungen 5. Administrative Gestaltungsfreiheit? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

102 105 107 108 113 115 116 117 117 119 121 124 128

G. Verfassungsrechtliche Determination gubernativer Entscheidungen . . . . . I. Normspezifische Betrachtung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Art. 64 Abs. 1 GG . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Materielles Kabinettsbildungsrecht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . aa) Mitsprache des Bundespräsidenten bei der Ministerernennung? (1) Rechtliches Prüfungsrecht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (2) Politisches Prüfungsrecht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . bb) Umfang des rechtlichen Prüfungsrechts . . . . . . . . . . . . . . . . . (1) Wählbarkeits- und Inkompatibilitätsvorschriften . . . . . . . (2) Verfassungstreue des Kandidaten? . . . . . . . . . . . . . . . . . . (3) Keine Geltung des Art. 33 Abs. 2 GG . . . . . . . . . . . . . . . . cc) Politisches Ermessen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . dd) Entlassung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Organisationsgewalt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . c) Politische Grenzen bei Kabinettsbildung und Kabinettsorganisation 2. Art. 65 GG . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Richtlinienkompetenz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . aa) Tatbestandsmerkmal „Richtlinien“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . bb) Beurteilungsspielraum . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . cc) Richtlinienkompetenz und Ressortprinzip . . . . . . . . . . . . . . . . dd) Richtlinienkompetenz und Kabinettsprinzip . . . . . . . . . . . . . . ee) Politische Funktion der Richtlinienkompetenz . . . . . . . . . . . . ff) Politische Grenzen der Richtlinienkompetenz . . . . . . . . . . . . . b) Regelungsgegenstand der Richtlinienkompetenz . . . . . . . . . . . . . . aa) Politik und Staatsleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . bb) Regierungskompetenz zur Staatsleitung . . . . . . . . . . . . . . . . .

132 132 132 132 132 133 133 137 138 138 139 140 141 143 146 147 147 148 149 150 151 153 154 156 156 157

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Inhaltsverzeichnis

II.

cc) Spezielle und allgemeine Regierungskompetenz zur Staatsleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . dd) Anwendungsbereich des Art. 65 GG . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . c) Ergebnis: Entscheidungsstruktur staatsleitender Entscheidungen . aa) Richtlinienermessen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . bb) Gestaltungsfreiheit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Art. 68 GG . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Normativer Gehalt des Art. 68 Abs. 1 S. 1 GG . . . . . . . . . . . . . . . . aa) Wortlaut . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . bb) Art. 68 Abs. 1 S. 1 GG als reine Verfahrensvorschrift? . . . . . . cc) Anerkennung eines materiellen Tatbestandsmerkmals in Art. 68 Abs. 1 S. 1 GG . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (1) Entstehungsgeschichte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (2) Systematik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (3) Teleologie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts . . . . . . . . . . . . . . aa) Bindung an den Normzweck . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . bb) Anforderungen an eine materielle Auflösungslage . . . . . . . . . cc) Kontrollrechtliche Probleme und Kritik . . . . . . . . . . . . . . . . . c) Die Stellung des Bundespräsidenten im Auflösungsverfahren . . . . d) Konkretisierung der erforderlichen Krisenlage . . . . . . . . . . . . . . . e) Ergebnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Grundgesetzliche Systematik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Grundrechte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Staatsziele . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Grundrechtliche Schutzpflichten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4. Spezialfall: Auslandsschutz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5. Ergebnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

H. Politische Entscheidungsspielräume als Grenzen der Verfassungsgerichtsbarkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . I. Das Bundesverfassungsgericht als Gericht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . II. Die politischen Organe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . III. Folgerungen für das Verhältnis zwischen Judikative und Politik . . . . . . . IV. Kontrollmaßstab, Kontrolldichte und Kontrollkompetenz . . . . . . . . . . . . . V. Fehlender Kontrollmaßstab für die politische Zweckmäßigkeit . . . . . . . . VI. Die politische Funktion der Verfassungsgerichtsbarkeit . . . . . . . . . . . . . . VII. Versuch einer Kompetenzabgrenzung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Kombination materiell-rechtlicher und funktionell-rechtlicher Kriterien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Verpflichtung auf eine juristische Methode . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Konkretisierungskompetenz der politischen Organe . . . . . . . . . . . . . .

158 160 161 161 161 163 163 164 166 168 168 170 172 173 173 175 175 177 179 182 182 183 183 184 186 188 189 189 191 191 194 196 197 200 200 202 204

I.

Inhaltsverzeichnis

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4. Ergebnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . VIII. Reichweite der Nachprüfung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Formelle Rechtmäßigkeitsprüfung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Tatsachenfeststellung / Einschätzungsprärogative . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Politisches Ermessen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4. Gestaltungsfreiheit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

210 211 211 211 213 214

Schluss . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 215

Literaturverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 219 Sachwortverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 246

* Maßgebend ist Kirchner, Hildebert, Abkürzungsverzeichnis der Rechtssprache, 6. neu bearb. Aufl., Berlin 2008.

A. Einleitung Die Idee, eine Abhandlung zu dem Thema „Bundeskanzlerermessen im Verfassungsstaat“ zu verfassen, entstand in Zusammenhang mit dem Antrag des damaligen Bundeskanzlers Schröder, ihm das Vertrauen auszusprechen, und dem sich anschließenden Bundestagsauflösungsverfahren nach Art. 68 GG im Sommer 2005. Bei der Lektüre einschlägiger Urteile des Bundesverfassungsgerichts fällt auf, dass das Gericht in diesem Kontext von „Beurteilungsspielräumen“, „Einschätzungsprärogativen“ und „politischem Ermessen“ spricht. Hiermit korrespondieren jeweils verfassungsgerichtlich nur eingeschränkt nachprüfbare Spielräume des Bundeskanzlers bei der Würdigung von Tatsachenmaterial und der Entscheidung über die Vertrauensfrage. Bei „Beurteilungsspielraum“ und „Ermessen“ handelt es sich um Fachtermini, die ihre Herkunft und ihr primäres Anwendungsgebiet im Verwaltungsrecht haben. Nur wenige juristische Phänomene sind vergleichbar beliebte Forschungsobjekte der Verwaltungsrechtswissenschaft. Der Gebrauch dieser „fachfremden“ Begriffe zur Qualifizierung von Regierungsentscheidungen im politischen Bereich ist in Literatur und Rechtsprechung dagegen eher die Ausnahme. In Zusammenschau mit der zwar wenig spektakulären, weil so selbstverständlichen Feststellung, dass die „Regierung keine vollziehende Behörde, der Minister kein Landrat“ 1 ist, weist diese Begriffsübertragung auf eine wissenschaftliche Diskussion hin, in der rechtshistorische, rechtsvergleichende sowie rechtstheoretische Aspekte verschmelzen. Sie markiert zugleich eine besondere Schnittstelle zwischen Verwaltungs- und Verfassungsrecht. Dies scheint auch Smend im Blick gehabt zu haben, als er 1923 feststellte, dass es ein Irrtum sei, „die Ermessensfreiheit des Beamten und die Freiheit des politischen Gestaltungswillens“ gleichzustellen. 2 Eine solche Auffassung setzt sich bis in die zeitgenössische Rechtswissenschaft fort: Auch unter Geltung des Grundgesetzes stellen einige Staatsrechtslehrer dem herkömmlichen Ermessen eine Entscheidungskategorie „sui generis“ gegenüber, die sie als politische Gestaltungsfreiheit oder − synonym − als politischen Gestaltungsspielraum bezeichnen. 3 Es ist deshalb eine Untersuchung geboten, ob sich der Terminus „Ermessen“ überhaupt zur Erfassung von Entscheidungsspielräumen der Bundesregierung 1

Lepsius, in: FG-Hirsch, S. 47 (69). Smend, in: FG-Kahl, S. 3 (15 Fn. 1). 3 Forsthoff, in: GD-W. Jellinek, S. 221 (233 f.); ähnlich auch: Böckenförde, Der Staat 29 (1990), 1 (20 f.); Lerche, Verfassungsrecht, S. 65 f., 86 f., 92; Menger, VVDStRL 15 (1957), 3 (31); Recknagel, Ermessen, S. 70 – 73, 91; Salzwedel, VVDStRL 22 (1965), 206 (225). 2

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A. Einleitung

oder des Bundeskanzlers eignet. Wie ist z. B. die Entscheidung über die Anerkennung einer ausländischen Regierung oder über den Verlauf und die Stationen eines Staatsbesuches rechtlich zu qualifizieren? Im Einzelnen geht es maßgeblich um die Frage nach der grundsätzlichen Übertragbarkeit des Ermessensbegriffs auf das Verfassungsrecht und – im Falle eines positiven Befundes – um Voraussetzungen und Grenzen einer Begriffstransformation. Unter Umständen ist der Terminus „Gestaltungsfreiheit“ − zumindest in bestimmten Konstellationen − eher geeignet, die Strukturen dieser Entscheidungsspielräume dogmatisch zutreffend abzubilden. Die umstrittene, aber in der deutschen Staatsrechtswissenschaft mehrheitlich vorausgesetzte, Anerkennung eines eigenständigen funktionellen Regierungsbegriffs gibt ferner Anlass zu überprüfen, ob es sich bei einer möglichen Kategorisierung von Entscheidungsspielräumen um ein funktionsspezifisches Phänomen handelt. Ist politische Gestaltungsfreiheit − ihre Anerkennung als neben dem Ermessen existierende Entscheidungskategorie vorausgesetzt − dem Gesetzgeber und der Regierung im institutionellen Sinn (Gubernative) vorbehalten oder prinzipiell allen Staatsfunktionen immanent und auch in der Verwaltung (Administrative) anzutreffen? Die Arbeit beginnt mit einem Blick auf die rechtshistorischen Entwicklungslinien. Die Darstellung beschränkt sich auf eine kurze Vorstellung der wichtigsten „Vorläufer“ heutiger Entscheidungsspielräume im politischen Bereich. Daran schließt sich eine Systematisierung verschiedener Formen von Injustiziabilität gubernativer Entscheidungen an. Sie dient der Ein- und Abgrenzung des Forschungsgegenstandes. Ohne dabei einem „Bundesverfassungsgerichtspositivimus“ 4 verfallen zu wollen, beabsichtigt sodann eine Auswertung vor allem verfassungsgerichtlicher Entscheidungen, aus konkreten Urteilen verallgemeinerungsfähige inhaltliche Kriterien herauszufiltern. Sie sollen dazu beitragen, einen vom Fall losgelösten, abstrakten Bedeutungsgehalt der untersuchten Begriffe zu erschließen. Dabei gebührt besonderes Augenmerk den Sachbereichen, in denen die Rechtsprechung gubernative Beurteilungs- oder Ermessensspielräume eröffnet. Einen weiteren Schwerpunkt legt dieses Kapitel auf die Evaluation von Funktion, Struktur und Begründung der jeweiligen Spielräume. Außerdem gilt es die Argumentationslinien aufzuzeigen, anhand derer das Gericht die Grenzen des Ermessens oder Ermessensfehler bestimmt. Auf der Basis der gewonnen Erkenntnisse folgt der Versuch einer Typisierung der Begriffe anhand der genannten Kriterien. Der nächste Teil widmet sich dem verwaltungsrechtlichen Ermessensbegriff. Ob es ein gubernatives oder ein legislatives Ermessen gibt und ob sich die4

Schlink, Der Staat 28 (1990), 161 (163); vgl. Hartmann, Volksgesetzgebung und Grundrechte, S. 130.

A. Einleitung

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se von dem Verwaltungsermessen oder einer weiteren Entscheidungskategorie quantitativ oder qualitativ unterscheiden, hängt letztlich von der Bestimmung des Ermessensbegriffs im Verwaltungsrecht ab. 5 Der Fokus ist folglich auf die Erarbeitung der typischen Begriffsmerkmale gerichtet. Auf Grundlage einer gesicherten Definition lassen sich strukturelle Parallelen oder Unterschiede zu den Entscheidungsspielräumen im Regierungsbereich aufzeigen. Der darauf folgende Abschnitt beleuchtet die aufgeworfenen Fragen aus der Perspektive der Rechtswissenschaft. Ausgehend von den in der Literatur entwickelten Konzeptionen ist im Anschluss ein eigener Lösungsansatz zu entwickeln. Im Mittelpunkt steht eine Überprüfung der vorgefundenen Thesen anhand der Verfassungsstruktur des Grundgesetzes. Die Untersuchung legt dabei die übliche Terminologie zunächst nur im Sinn einer vorläufigen Arbeitshypothese zugrunde, um einer endgültigen Begriffsbildung nicht vorzugreifen. Der Terminus „Entscheidungsspielraum“ und das Synonym „Letztentscheidungsbefugnis“ dienen als neutrale Oberbegriffe zur Kennzeichnung einer eingeschränkten richterlichen Nachprüfung staatlicher Entscheidungen. Mithilfe der gewonnenen Einsichten lässt sich eventuell eine typologische Einteilung vornehmen, die auch zu einem Gewinn an terminologischer Klarheit beitragen könnte. Die dem Verfassungsorgan Regierung oder Teilen davon eingeräumten Entscheidungsspielräume betreffen in erster Linie die Kompetenzabgrenzung zu den Gerichten. Nur selten erlangen sie im Innenverhältnis der Regierung als Kollegium oder im Verhältnis zu dritten Staatsorganen Bedeutung. Die Organisationsprinzipien des Art. 65 GG − Kanzler-, Ressort-, und Kollegialprinzip − regeln die intraorganrechtlichen Beziehungen der Regierung. Für die Ausgestaltung ihrer Entscheidungsspielräume und ihr Verhältnis zur Judikative spielt die Verteilung von Intraorgankompetenzen nur eine untergeordnete Rolle. Gegenstand der Analyse sind deshalb zunächst die Strukturen interorganrechtlicher Entscheidungsspielräume des Kollegialorgans Bundesregierung, der sog. „Gubernative“ 6. Der Terminus ist abgeleitet von dem lateinischen Verb „gubernare“, was steuern, ein Ziel erreichen, bedeutet. 7 Unter „Gubernative“ versteht das Schrifttum die „politische Spitze“ 8 oder „Ressortspitze“ 9 im Gegensatz zur Verwaltung als Administrative. 10 Einige Autoren unterscheiden eine „Funktion der Gubernative“ als leitendes, richtunggebendes, führendes Regieren von dem „angeleiteten,

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Magiera, Staatsleitung, S. 81 f. m.w. N. v. Bogdandy, Gubernative Rechtsetzung, S. 115. 7 Schambeck, Die Ministerverantwortlichkeit, S. 9 f. m.w. N. 8 Dobiey, Die politische Planung, S. 67. 9 Stern, Staatsrecht II, § 31 IV 3. 10 Meyn, in: v. Münch / Kunig, GG, Art. 62 Rn. 12; vgl. v. Bogdandy, Gubernative Rechtsetzung, S. 113. 6

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A. Einleitung

ausgerichteten, geführten Verwalten“ 11. Diese Schrift geht von einem rein organisatorisch-institutionellen Begriffsverständnis im Sinn des Art. 62 GG aus. Das Substantiv „Gubernative“ sowie das zugehörige Adjektiv „gubernativ“ bringen die aufgeworfene, rechtsgebietsübergreifende Fragestellung treffender auf den Punkt, als dies der herkömmliche und überdies inhaltlich nicht gefestigte Begriff „Regierung“ leisten könnte. Am Beispiel der Art. 64, 65 und 68 GG gilt es im Anschluss, die erarbeiteten, abstrakten Erkenntnisse auf konkrete Normen und praktisch relevante Konstellationen zu übertragen und zu spezifizieren. Dabei finden auch intraorganrechtliche Aspekte Berücksichtigung. Die normspezifische Betrachtung konzentriert sich auf Kompetenzen des Bundeskanzlers. Hierdurch trägt sie seiner herausragenden Stellung innerhalb der Bundesregierung Rechnung. Die Frage nach den gubernativen Entscheidungsspielräumen ist zugleich die Frage nach den Grenzen der Verfassungsgerichtsbarkeit. Reichweite und Grenzen eines Regierungsermessens oder eines wie auch immer gearteten Spielraums bestimmt letztlich das Bundesverfassungsgericht. 12 Es sind deshalb Prüfkriterien zu entwickeln, die eine gleichmäßige Machtverteilung zwischen dem Verfassungsgericht in seiner Funktion als „Hüter der Verfassung“ 13 und den demokratisch verantwortlichen, zur Gestaltung des Gemeinwesens berufenen, Organen garantieren. 14

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Knöpfle, DVBl. 1965, 857 (861) m.w. N. Smend, in: Verfassungsgerichtsbarkeit, S. 329 (330). Vgl. Kelsen, Wer soll Hüter der Verfassung sein?, S. 14 f. H. H. Klein, in: FS-F. Klein, S. 511 (519).

B. Historische Einordnung und inhaltliche Abgrenzung politischen Ermessens Das Verhältnis von Regierung und Judikative war und ist in zahlreichen Rechtsordnungen eine bedeutsame, wenn nicht geradezu brisante Thematik. 1 Es markiert nicht nur den Übergang zwischen den Funktionsbereichen verschiedener Gewalten, sondern auch eine bedeutende Schnittstelle zwischen den Sphären der Politik und des Rechts. Kernpunkt der Problematik ist das Anliegen, einen für die Wahrnehmung der Regierungsfunktionen notwendigen Verhaltensspielraum gegenüber der Judikative zu begründen.

I. Die Theorien von den Regierungsakten und politisches Ermessen aus historischer Perspektive Auch in Deutschland haben Bestrebungen, den Regierungsbereich von einer gerichtlichen Kontrolle möglichst frei zu stellen, Tradition. Obgleich entsprechende Entwicklungslinien in Hinblick auf die qualitativ unterschiedliche Rolle der Judikative in den deutschen Verfassungsordnungen 2 vor 1933 allenfalls eingeschränkte Rückschlüsse für die Gegenwart erlauben, verdeutlichen sie dennoch die fortgesetzte Bedeutung dieses klassischen Interessen- und Kompetenzkonflikts: Tezner schlug 1924 vor, die Theorie des französischen Staatsrates für die deutschen Gerichte des öffentlichen Rechts zu übernehmen. So bliebe ihnen die peinliche Aufgabe, „Gefolgschaftsjurisprudenz“ oder durchsichtige „Regierungsadvokatie“ zu betreiben und eine „unwürdige Komödie zu spielen“, erspart. 3 Smend bemühte sich Anfang der 1920er Jahre um eine begriffliche Abgrenzung von Regierung und Verwaltung. Anlässlich eines 1931 für das Institut International de Droit Public zu erstattenden Berichts nahm er ausführlich zum Problem der actes de gouvernement Stellung. 4 Er betrachtete den Regierungsakt als den wesentlich politischen Akt und sah die Lösung in einer Einschränkung der richterlichen Prüfungskompetenz. Aber auch der deutsche Gesetzgeber hat politische Staatsakte 1 Eisenmann, JöR 2 (1953), 1 (8) (Les actes de gouvernement); Haller, Supreme Court und Politik, S. 181 ff.; Scharpf, Verantwortung, S. 15 ff.; Zuck, JZ 1974, 361 (364) (Political question doctrine). 2 Vgl. dazu am Beispiel des Staatsgerichtshofes H. Schneider, in: HbStR I (2003), § 5 Rn. 69. 3 Tezner, Das freie Ermessen der Verwaltungsbehörden, S. 131. 4 Smend, Annuaire de l’Institut International de Droit Public (1931), S. 192 ff.

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B. Historische Einordnung

teilweise besonders behandelt, so in dem „Gesetz über die Haftung des Reichs für seine Beamten“ vom 22. Mai 1910. 5 Gemäß § 5 Nr. 2 finden die Vorschriften dieses Gesetzes keine Anwendung „soweit es sich um das Verhalten eines mit Angelegenheiten des auswärtigen Dienstes befaßten Beamten handelt und dieses Verhalten nach einer amtlichen Erklärung des Reichskanzlers politischen oder internationalen Rücksichten entsprochen hat“. Beispiele sind die Unterlassung oder Verweigerung diplomatischen Schutzes sowie die Abgabe kreditschädigender Erklärungen oder Auskünfte. Trotz verfassungsrechtlicher Bedenken ist von der Weitergeltung der Norm auszugehen. 6 Besondere Beachtung verdient in dieser Arbeit eine auch in Deutschland vertretene Position, die einen spezifischen Kontext zwischen den Theorien der Regierungsakte und dem Ermessen herstellte. Ihre Bedeutung lag darin, dass sie sich nicht in vagen metajuristischen Formeln wie der politischen Natur des Aktes oder dem Wesen der Justiz verlor, sondern den Regierungsakt ausgehend von der materiell-rechtlichen Entscheidungsstruktur bestimmter Akte definierte. Namentlich v. Laun versuchte den besonderen Charakter der Regierungsakte aus rechtlicher Perspektive zu konkretisieren, indem er sie als Subkategorie der Ermessensakte qualifizierte. Charakteristisch für Regierungsakte sei ihre weitgehende Exemtion von materiell-rechtlichen Bestimmungen; sie seien unnormierte Akte des Ermessens, d. h. Zweckmäßigkeitswahl im eigentlichen Sinn. v. Laun betrachtete die Rechtsfreiheit der Zweckmäßigkeitserwägung als Wesenselement des Ermessens und gewann so ein qualitatives Kriterium des Regierungsaktes gegenüber dem Vollzugsakt. Mit dieser Konstruktion glaubte er auch eine Überprüfung der Motive des handelnden Staatsorgans durch ein von Weisungen der Regierung unabhängiges Gericht verhindern zu können. Aus dem Ermessenscharakter der Regierungsakte folgerte v. Laun aber nicht deren grundsätzliche Injustiziabilität a limine und im Ganzen. Er beschränkte die Gerichte lediglich in ihrer Nachprüfungskompetenz auf eine Überprüfung von Ermessensfehlern: So wie im Verwaltungsrecht der Richter auf die Rechtskontrolle beschränkt werde und eine Nachprüfung grundsätzlich ausgeschlossen sei, soweit die Verwaltungsbehörden nach freiem Ermessen zu befinden hätten, dürfe er auch den Regierungsakt als Ermessensakt lediglich auf Form- und Zuständigkeitsmängel überprüfen. 7 Gegen diese Gleichsetzung von Regierungsakten und Ermessensakten spricht der Umstand, dass beide Institute nach ihrer herkömmlichen Bedeutung unterschiedliche Ebenen einer möglichen Kompetenzabgrenzung zwischen Regierung 5

RGBl. 1910, S. 798. Ossenbühl, Staatshaftungsrecht, S. 97 (Fn. 114), 98: an die Stelle des Reichskanzlers tritt der Bundeskanzler; vgl. Drath, VVDStRL 8 (1950), Diskussionsbeitrag, 152 (153). 7 v. Laun, Annuaire de l’Institut International de Droit Public, S. 85 ff., 102 ff., 151 ff.; zustimmend: Roellecke, Verfassungsgerichtsbarkeit, S. 52. 6

I. Die Theorien von den Regierungsakten

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und Judikative betreffen. Durch die Anerkennung eines freien Ermessens der Regierung erzielt man zwar ein ähnliches praktisches Ergebnis wie durch die Anwendung der traditionellen Lehre vom Regierungsakt. Während aber das Vorliegen eines Regierungsaktes bereits die Unzulässigkeit einer Klage indiziert („fin de non recevoir“) 8, betrifft Ermessen die Abweisung der Klage oder Reduzierung der Kontrolldichte auf der Begründetheitsebene („rejet au fond“). Allgemein gilt der Grundsatz, dass nur Rechtsfragen – im Gegensatz zu den politischen bzw. den Zweckmäßigkeitsfragen – Gegenstand einer gerichtlichen Entscheidung sein können. Die Justizlosigkeit ganzer Akte und die Justizlosigkeit einzelner Fragen sind aber von einander zu trennen. 9 Ein Schluss von einer „Ermessensfreiheit“ auf eine Gerichtsfreiheit wäre unter dem Grundgesetz in jedem Fall unzulässig. 10 Bei Zugrundelegung des traditionellen Begriffsverständnisses des Regierungsaktes, wonach ein Akt als ganzer allein aufgrund seines politischen Charakters einer gerichtlichen Nachprüfung entzogen bleibt 11, wäre für eine Gleichsetzung von Regierungsakt und Ermessen von einem anderen Ermessensbegriff auszugehen. Es bedürfte eines weiteren Kriteriums, welches das Ermessen als eine Kategorie der Regierungsakte auszeichnet. 12 Ipsen zufolge ist „politisches Ermessen“ in diesem Sinn eine besondere „Färbung im Gegensatz zu anderen Ermessenstönungen“ (technisches, Verwaltungsermessen). Die besonders weitgehende Emanzipation politischen Ermessens von der Rechtsprechung lasse sich nur aus dem Begriff des Politischen und seiner Ausrichtung an der das Politische integrierenden Staatsgewalt rechtfertigen. 13 Das „Politische“ als Abgrenzungskriterium verbietet sich aber angesichts seiner Konturenlosigkeit: Kaum ein Begriff wurde zum Gegenstand einer vergleichbaren Fülle von Definitionen gemacht wie der Begriff des Politischen. Die bereits durch das Quantum an Definitionsversuchen belegte Vieldeutigkeit entzieht den Begriff einer abschließenden Deutung. Seiner griechischen Abstammung gemäß ist „Politisches“ auf die Polis, d. h. auf das Gemeinwesen und die öffentlichen Angelegenheiten bezogen. 14 Politik zielt besonders in den Bereichen auf Staat und Gesellschaft, wo diese noch im Werden begriffen sind, „wo nicht regulierte Situationen zur Entscheidung zwingen“. 15 Solche Entscheidungen sind häufig durch die Wahl zwischen widerstreitenden Wertvorstellungen und durch die Auseinan8

Kassimatis, Regierung, S. 162 f., 168. Eisenmann, JöR 2 (1953), 1 (3 f., 33). 10 Vgl. Bettermann, AöR 96 (1975), 528 (538). 11 Vgl. Steinberger, DVBl. 1963, 729 (730). 12 Kassimatis, Regierung, S. 74 f. m.w. N.; vgl. auch: Kelsen, Allgemeine Staatslehre, S. 245. 13 Ipsen, Politik und Justiz, S. 87. 14 Krüger, Allgemeine Staatslehre, S. 684. 15 Mannheim, Ideologie und Utopie, S. 70 ff. 9

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B. Historische Einordnung

dersetzung um die Interpretation des Gemeinwohls gekennzeichnet. 16 Dabei spielt in der Regel auch das „Streben nach Machtanteil oder nach Beeinflussung der Machtverteilung, sei es zwischen den Staaten, sei es innerhalb eines Staates zwischen den Menschengruppen, die er umschließt“ 17, eine gewichtige Rolle. Politik wird daher verstanden als die „schöpferische Entscheidung über die das staatliche Ganze berührende Ziele und die Erringung und Ausübung sozialer Macht zu ihrer Durchsetzung“. 18 Nach der Freund- / Feind-These verwandelt sich jeder „religiöse, moralische, ökonomische, ethnische oder andere Gegensatz (...) in einen politischen Gegensatz, wenn er stark genug ist, die Menschen nach Freund und Feind effektiv zu gruppieren“ 19. Das Politische bezeichnet insoweit aber keinen isolierbaren Sachbereich. 20 Es hat keinen bestimmten Inhalt und ist nicht kategorial beschränkt, sondern allumfassend, „nicht Stoff, sondern Färbung“ 21. Ein Prozess kann ebenso „politisch“ sein wie eine Theateraufführung. 22 Das Politische ist ein Bezeichnungscharakter für eine bestimmte Art und Weise staatlichen Tuns, ein „modus significandi“ 23, den jeder Sachbereich zu jeder Zeit unter gewissen Umständen anzunehmen vermag. Hierin liegt kein juristisch verwertbares Kriterium. 24 Außerdem ist der politische Bereich dem Recht nicht von vornherein wesensmäßig entgegengesetzt oder entzogen. 25 Verstößt eine Maßnahme gegen die Verfassung, so ist sie rechtswidrig. 26 Vor diesem Makel kann sie auch ihr politischer Charakter nicht bewahren. 27 Die Zuordnung der Ermessensakte zu einer rechtlich nicht fassbaren Sphäre rein politischer Gestaltung und ein entsprechender Rechtswegausschluss sind daher abzulehnen. 28 Eine Gleichsetzung liefe letztlich auf einen Rekurs auf die herkömmliche Theorie der Regierungsakte hinaus, der sich lediglich hinter dem Rechtsstaatlichkeit suggerierenden Terminus „Ermessen“ verbirgt. Anstatt die 16

Friauf, in: FS-Herrfahrdt, S. 45 (45). Weber, Politik als Beruf, S. 397. 18 Scheuner, in: FS-Smend (1952), S. 253 (272). 19 C. Schmitt, Der Begriff des Politischen, S. 37. 20 Krüger, Allgemeine Staatslehre, S. 679 m.w. N.; ferner: Böckenförde, in: Recht, S. 344 (346). 21 Ipsen, Politik und Justiz, S. 169. 22 Stern, Staatsrecht I, § 1 V 1 lit. a). 23 Kassimatis, Regierung, S. 53. 24 Achterberg, DVBl. 1967, 213 (214); Frotscher, Rechtsbegriff, S. 231; vgl. Lorenz, Rechtsschutz, S. 158. 25 Obermayer, BayVBl. 1955, 173 (173). 26 Schmelter, Rechtsschutz, S. 140 f.; Zeitler, Völkerrechtlicher Vertrag, S. 136. 27 Obermayer, in: Aus Politik und Zeitgeschichte 1964, 10 (14). 28 Ehlers, in: Schoch / Schmidt-Aßmann / Pietzner, VwGO, § 40 Rn. 123 m.w. N.; Frotscher, DÖV 1971, 259 (261); Lorenz, Rechtsschutz, S. 159. 17

I. Die Theorien von den Regierungsakten

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jeweiligen Begriffe ihrer ursprünglichen Bedeutung zu entkleiden und ihnen eine andere beilegen zu müssen, sollte man lieber auf eine Gleichsetzung verzichten und Ermessen und gerichtsfreie Hoheitsakte als unterschiedliche Kategorien auffassen. Diese Abhandlung verwendet den Begriff Regierungsakt deshalb ausschließlich deskriptiv zur Kennzeichnung einer bestimmten Kategorie von Staatsakten. Er umfasst staatsleitende Akte des Bundestags oder der Bundesregierung. 29 Als konstituierende Merkmale des Regierungsaktes erscheinen die Beteiligung eines Verfassungsorgans oder -organteils, die gegenständliche Bezogenheit auf den Verfassungsrechtskreis, den Völkerrechtsverkehr oder die Prärogativen des Staatsoberhauptes. 30 Zu den Regierungsakten gehört beispielsweise die Richtlinienbestimmung durch den Bundeskanzler nach Art. 65 S. 1 GG. 31 Eine Qualifizierung als Regierungsakt erlaubt nach diesem Begriffsverständnis keine Aussagen über das Ob und Wie einer gerichtlichen Nachprüfung des betreffenden Aktes. Die Antwort auf diese Frage ist vielmehr eine des jeweiligen positiven Rechts, die nach zwei Richtungen hin zu stellen ist. „Zum ersten: Ist eine gerichtliche Zuständigkeit festgelegt? Zum zweiten: Gibt es formelle oder materielle Vorschriften, die die Regierungstätigkeit rechtlich eingrenzen?“ 32 „Politisches Ermessen“ als Begründungsansatz für ein reduziertes Maß oder gar den Ausschluss gerichtlicher Nachprüfung gegenüber Maßnahmen von Parlament und Regierung lässt sich in der älteren deutschen Verfassungsrechtsprechung und Staatsrechtswissenschaft aber auch außerhalb der anachronistischen Theorie der Regierungsakte nachweisen: Rechtswissenschaft und Rechtsprechung entwickelten schon unter der Geltung der Weimarer Reichsverfassung Grundsätze für das Ermessen des Gesetzgebers und der Regierung respektive des Reichspräsidenten. 33 Besondere Bedeutung erlangte Ermessen im politischen Kontext bei der Ausübung des wichtigen Notverordnungsrechts des Reichspräsidenten nach Art. 48 Abs. 2 WRV. Als einen Akt „freien Ermessens“ qualifizierte Anschütz beispielsweise die Entscheidung darüber, wie lange ein eine Notverordnung nach Absatz 2 rechtfertigender Notstand vorlag. Insbesondere erklärte er die Vorschriften der Landesgesetze über die Rechtskontrolle polizeilicher Verfügungen und Verordnungen durch die Verwaltungsgerichte auf Art. 48 WRV nicht für anwendbar. Die Notwendigkeit diktatorischer Maßnahmen unterliege richterlicher Nachprüfung ebenso wenig wie die Voraussetzungen ihrer Zulässigkeit. Die Gerichte müssten sich auf die Prüfung beschränken, ob eine Verordnung vorschriftsgemäß gegengezeichnet und verkündet wurde und ob sie sich im Rahmen der durch 29 30 31 32 33

Ehlers, in: Schoch / Schmidt-Aßmann / Pietzner, VwGO, § 40 Rn. 123. Schröder, in: HbStR III (1988), § 67 Rn. 7; Stern, Staatsrecht II, § 39 II 2 lit. b). Vgl. den Katalog bei Kassimatis, Regierung, S. 100 ff. Stern, Staatsrecht II, § 39 II 6. Drath, VVDStRL 9 (1952), 17 (65 f.).

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B. Historische Einordnung

Absatz 2 gezogenen Schranken hielt. „Diktaturmaßnahmen“ darüber hinaus auf ihre Notwendigkeit oder Zweckmäßigkeit hin zu überprüfen, sei ihnen versagt. 34 Der Staatsgerichtshof prüfte bei Maßnahmen nach Art. 48 Abs. 2 WRV nicht das Vorliegen einer Bedrohung der öffentlichen Sicherheit und Ordnung, sondern nur, ob die Maßnahmen „nicht rein willkürlich“ und „nach ihrer Art überhaupt geeignet zur Wiederherstellung der öffentlichen Sicherheit und Ordnung“ waren und ließ so die Entscheidung des Reichspräsidenten im Kern unangetastet. 35 Beim landesverfassungsrechtlichen Notverordnungsrecht prüfte er zwar, ob ein ungewöhnlicher Notstand vorhanden war und ob dieser den Erlass der Notverordnung dringend erforderte. Das Vorgehen der Regierung und ihr Ermessen ließ er aber solange als berechtigt bestehen, „als sich nicht das Gegenteil aus den Verhältnissen der betreffenden Zeit heraus einwandfrei“ ergab. Diese Reduzierung der Kontrolldichte wurde mit „dem Ermessen der zu einem schnellen und entschlossenen Handeln verpflichteten Regierung“ begründet. 36 Bei der Nachprüfung des Tatbestandsmerkmals „Dringlichkeit“ in Art. 55 Preuß. Verf. beließ das Gericht dem „Ermessen der Regierung“ einen gewissen „Spielraum“. Wenn die Verfassung der Regierung eine „Freiheit des Handelns in bestimmten Grenzen“ gewähre, sei nur in ganz besonderen Fällen der Vorwurf einer Verfassungsverletzung gerechtfertigt. Der Staatsgerichtshof kam zu dem Schluss, dass „es einem später darüber befindenden Gerichte“ kaum möglich sein werde, „sich in die damalige Lage der Regierung vollständig zurückzuversetzen, den damaligen Tatbestand unter Ausschaltung alles später Geschehenen wieder herzustellen und zum Ausgangspunkte und zur alleinigen Grundlage seiner Erwägungen zu machen“. 37 Triepel qualifizierte die Interessensabschätzung bei „hochpolitischen“ Akten wie der Auflösung eines Parlaments, der Kriegserklärung oder der Erklärung des Ausnahmezustandes nicht nur in Bezug auf die Frage des Ob, sondern auch in Bezug auf die Frage des Warum als Akte eines freien Ermessens, die der Staatsgerichtshof nicht zu überprüfen habe. Dieses freie Ermessen ist Triepel zufolge aber nicht gleichbedeutend mit Willkür. Nicht nur das Ermessen der Verwaltung, sondern auch das Ermessen der Regierung und eines unter dem Rechte stehenden Gesetzgebers habe seine Grenzen. Es gelte auch hier der Grundsatz, dass Ermessensüberschreitung und Ermessensmissbrauch den Akt der Staatsgewalt fehlerhaft machten, so beispielsweise bei offensichtlich willkürlichen oder offen34

Vgl. Anschütz, Die Verfassung des Deutschen Reiches, Art. 48 Nr. 9, 18 m.w. N. Scheuner, VerwArch 8 (1928), 68 (98) m.w. N. aus der Rechtsprechung des Reichsgerichts; ders., DÖV 1952, 293 (294). 36 RGZ 134, Anhang, 27 (44). 37 RGZ 112, Anhang, 1 (8 f.); vgl. auch: RGZ 118, Anhang, 22 (31); 124, Anhang, 19 (30, 34): „Die Notverordnung verstößt aber insofern gegen die Vorschriften des Art. 55 preuß. Verf. als ihr Inhalt offensichtlich weit über dasjenige hinausgeht, was zur Beseitigung des zur Zeit ihres Erlasses bestehenden Notstandes dringend erforderlich war oder als dringend erforderlich erachtet werden konnte“. 35

I. Die Theorien von den Regierungsakten

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bar nicht erforderlichen Gesetzen. Ohne die Anerkennung der Tatsache, dass den Ländern der Schutz des Staatsgerichtshofes gegen ein „détournement de pouvoir“ der Reichsgesetzgebung und der Reichsaufsicht zur Verfügung stehe, habe der deutsche Rechtsstaat „seine Krönung nicht gefunden“. 38 Auch unter Geltung des Grundgesetzes äußerten unterschiedlichste Stimmen Bedenken gegen die richterliche Kontrolle politischer Entscheidungen. Dies erfolgte vielfach unter Rückgriff auf die hergebrachten Argumentationsmuster: Noch 1957 qualifizierte die Bundesregierung ein nach Art. 59 Abs. 2 S. 1 GG erlassenes Zustimmungsgesetz als nichtjustiziablen „Regierungsakt auf dem Gebiete der auswärtigen Gewalt“, der mit einer Verfassungsbeschwerde nicht angreifbar sei. 39 Im Schrifttum sprach sich insbesondere H. Schneider in seiner gleichnamigen Monographie für die Anerkennung gerichtsfreier Hoheitsakte aus. Der Richter könne Akte der obersten Staatsleitung nur auf Einhaltung der von der Verfassung vorgesehenen Zuständigkeiten und des von der Verfassung vorgesehenen Verfahrens hin überprüfen. Es könne keinem Zweifel unterliegen, dass der Bundeskanzler die Richtlinien der Politik unter Ausschluss jeder richterlichen Nachprüfung bestimme und dass es ihm freistehe, jede Sache zu einer Richtlinienangelegenheit zu erheben. Anderenfalls würde das Verfassungsgericht die ihm zugedachte Rolle als Hüter der Verfassung leicht verfehlen und sich an die Stelle der verfassungsgemäß zur Führung und Gestaltung des Staatslebens berufenen Regierung setzen. 40 Forsthoff meinte, es gebe hochpolitische Akte, „deren Vollzug zu hemmen ein größeres Unheil wäre als der Vollzug selbst“. Wenn ein unabhängiges Gericht ausgesprochen politische Entscheidungen fälle, liege darin ein gefährlicher Widerspruch, da das Gericht politisch nicht verantwortlich sei. Um eine politische Belastung der als unpolitisch gedachten Justiz zu vermeiden, habe der Richter in Fällen von hochpolitsicher Bedeutung eine Sachentscheidung zu verweigern. 41 H. P. Ipsen wies darauf hin, die Annahme der Justiziabilität solcher Akte „würde die international bekannte und aus Jahrhunderte alter Rechtstradition erwachsene Exemtion der politischen Exekutivgewalt von der Gerichtsbarkeit beseitigen und selbst angelsächsische Maßstäbe über die Prärogative des Politischen überwinden“. 42 38 Triepel, in: FG-Kahl, S. 3 (99 ff.); Bilfinger, ZaöR 1929, 57 (66) sprach von „politischer Ermessensfreiheit“. 39 BVerfGE 6, 290 (294). 40 Schneider, Gerichtsfreie Hoheitsakte, S. 33 f., 42 f., 47, 80. 41 Forsthoff, Verwaltungsrecht I (8. Aufl.), § 25, S. 467 f.; ähnlich: Mohrs, Der gerichtsfreie Hoheitsakt, S. 52 ff.; Oettl, Gerichtsbarkeit, S. 19, 22; Petersen, JuS 1974, 502 (503). 42 Ipsen, AöR 74 (1948), 496 (506); vgl. zu dem Vorschlag einer einschränkenden Auslegung des Art. 19 Abs. 4 GG bei Regierungshandeln: Backsmann, DÖV 1956, 269 (272); v. Husen, DVBl. 1953, 70 (71); Ipsen, DVBl. 1948/1949, 486 (489); dens., VVDStRL 8 (1950), Diskussionsbeitrag, 157 f.; Merk, VVDStRL 8 (1950), Diskussionsbeitrag, 154 (156); Steinberger, DVBl. 1963, 729 m.w. N.

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B. Historische Einordnung

II. Faktische und prozessuale Injustiziabilitäten − Abgrenzung zum Ermessen Eine Diskussion über justizfreie politische Akte ist wegen der Rechtsbindung sowohl des Bundesverfassungsgerichts als auch der Regierung grundsätzlich nur in Verbindung mit der Frage nach den materiellen Grenzen der Verfassung möglich. 43 Dies schließt nicht aus, dass ein Verhalten der Regierung zulässigerweise auch im Rechtsstaat im Einzelfall aus tatsächlichen oder verfahrensrechtlichen Gründen einer gerichtlichen Nachprüfung entzogen bleibt. Bei diesen Konstellationen handelt es sich um Fälle sog. „struktureller Unzugänglichkeit“. Sie erzeugen kontrollfreie Räume, in denen andere Staatsorgane die Möglichkeit haben, den Sinn der Verfassung selbst zu definieren. Eine ausgeprägte Möglichkeit zur Selbstdefinition der sie betreffenden Verfassungsnormen haben die obersten Staatsorgane hinsichtlich ihrer Innenbeziehungen. Dies gilt besonders für ein politisch teilweise homogen zusammengesetztes Organ wie die Bundesregierung. Soweit das Grundgesetz für ihre Willensbildung in der Richtlinienkompetenz des Bundeskanzlers (Art. 65 S. 1 GG) und im Ressortprinzip (Art. 65 S. 2 GG) verbindliche Normen aufstellt, ist deren Konkretisierung weitgehend den Akteuren selbst überlassen. 44 Ist eine gerichtliche Kontrolle aus den genannten Gründen ausnahmsweise ausgeschlossen, impliziert dieser Befund jedoch keineswegs per se eine Freistellung der Staatsorgane von rechtlichen Bindungen. 45 Die Existenz rechtlicher Bindung hängt nicht davon ab, ob und wie weit ihre Einhaltung gerichtlicher Kontrolle tatsächlich oder verfahrensrechtlich zugänglich ist. Vielmehr ist es der Rechtswissenschaft aufgegeben, die Art der Gesetzesdeterminierung und -dirigierung zu erfassen. 46 Unterschiedliche Ursachen und Formen von Injustiziabilität werden aber oft nicht deutlich genug auseinander gehalten: Sind bestimmte Regierungsakte zwar im Prinzip einer Überprüfung durch die Gerichte zugänglich, aber wegen eines den Regierungsorganen zustehenden Entscheidungsspielraums bzw. wegen des Mangels an Maßstäben nur in geringem Umfang? 47 Welcher Ebene von Injustiziabilität sind politische Entscheidungsspielräume zuzuordnen? 43

Bryde, Verfassungsentwicklung, S. 311 f. Ders., Verfassungsentwicklung, S. 190, 194. 45 Müller, in: FS-H. Huber (1981), S. 109 (122); a. A.: Engisch, ZGS 108 (1952), 385 (390 f.): „In einen partiell rechtsleeren Raum fällt der nicht rechtspflegefähige Tatbestand, bei dem bald jede Sanktion, bald die Möglichkeit, ein Gericht anzurufen oder die Vollstreckbarkeit zu vermissen ist“. 46 Schmidt-Aßmann, in: Hoffmann-Riem, Grundlagen, § 10 Rn. 69; vgl. Becker, VVDStRL 14 (1956), 96 (116); Comes, Der rechtsfreie Raum, S. 22; Lerche, Verfassungsrecht, S. 90. 47 Müller, in: FS-H. Huber (1981), S. 109 (110 f.). 44

II. Faktische und prozessuale Injustiziabilitäten

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1. Unterlassen einer Klage aus politischen Gründen Wie alle Gerichte wird auch das Bundesverfassungsgericht nur auf Antrag tätig. Dieser Antrag geht in der Regel von den Regierungsorganen (Bundestag, Bundesrat, Bundesregierung, Landesregierung) aus. Der Grundsatz „wo kein Kläger, da ist auch kein Richter“ gilt auch für das Bundesverfassungsgericht. Die Antragsberechtigten können aus parteipolitischen Gesichtspunkten die Stellung eines Antrags unterlassen. 48 Sind sich die zu abstraktem Normenkontrollantrag oder Organklage formell befugten staatlichen Akteure einig und tritt kein „Spielverderber“, etwa in Gestalt einer antragsberechtigten Landesregierung auf, können bestimmte Akte kaum vor das Bundesverfassungsgericht gelangen. 49 Sein fehlendes Initiativrecht kann somit dazu führen, dass ein Gerichtsverfahren nicht bei jeder Verfassungsverletzung eingeleitet wird und Verfassungsverletzungen der Regierung „ungesühnt“ bleiben. 2. Verfahrensrechtliche Injustiziabilität Eine „verfahrensrechtliche“ 50 oder „formale“ 51 Injustiziabilität ist anzunehmen, wenn um bestimmte Akte kein Rechtsstreit vor einem Gericht geführt wird. Sie ist zufällige oder intendierte Folge der Gerichtsorganisation. 52 Frotscher spricht auch von einer „faktischen Injustiziabilität“, soweit eine Handlung trotz ihrer Unterworfenheit unter das Recht aufgrund des Fehlens einer richterlichen Zuständigkeit oder eines legitimierten Rechtssubjektes nicht der gerichtlichen Nachprüfung unterliegt. 53 Welche Regierungsakte injustiziabel bleiben, ergibt sich bei der formalen Injustiziabilität aus der Systematik der einschlägigen verfahrensrechtlichen Vorschriften. a) § 40 Abs. 1 S. 1 VwGO Gemäß § 40 Abs. 1 S. 1 VwGO ist der Verwaltungsrechtsweg in allen öffentlichrechtlichen Streitigkeiten nichtverfassungsrechtlicher Art eröffnet. Während die Voraussetzung einer öffentlich-rechtlichen Streitigkeit bei Regierungsverhalten in der Regel unproblematisch erfüllt ist, liegt eine nichtverfassungsrechtliche Streitigkeit nur selten vor. 54 Eine den Verwaltungsrechtsweg ausschlie48

Koellreutter, Staatsrecht, S. 215. Bryde, Verfassungsentwicklung, S. 171. 50 Stern, Staatsrecht II, § 39 II 6 lit. b). 51 Kassimatis, Regierung, S. 161 (Hervorhebung im Original). 52 Eisenmann, JöR 2 (1953), 1 (2 f.). 53 Frotscher, Rechtsbegriff, S. 225 m.w. N., 227 in Anlehnung an Eisenmann, JöR 2 (1953), 1 (30). 49

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B. Historische Einordnung

ßende verfassungsrechtliche Streitigkeit ist gegeben, wenn sie kumulativ unmittelbar am Verfassungsleben Beteiligte betrifft und sich auf Rechte und Pflichten bezieht, die unmittelbar in der Verfassung geregelt sind (doppelte Verfassungsunmittelbarkeit). 55 Unmittelbar am Verfassungsleben beteiligt sind die obersten Staatsorgane. Hierzu rechnen auf Bundesebene der Bundespräsident, der Bundestag und die Bundesregierung, aber auch Teile dieser Organe, soweit ihnen die Verfassung einen eigenen Status verleiht. Ein solcher ergibt sich für die Regierungsmitglieder aus Art. 65 S. 1 GG oder S. 2 GG. 56 Konflikte zwischen Verfassungsorganen um Kompetenzen und inhaltliche Bindungen der Staatsleitung rechnen zu den verfassungsrechtlichen Streitigkeiten. 57 Maßnahmen der Regierung fallen deshalb häufig nicht unter die Generalklausel des § 40 Abs. 1 S. 1 VwGO. Etwas anderes gilt für ein Tätigwerden der Regierung als Verwaltungsbehörde im Staat-Bürger-Verhältnis. Für den verwaltungsmäßigen Vollzug der Gesetze, insbesondere für die Vornahme von nach außen hin auf die Rechtssphäre des Bürgers einwirkenden Verwaltungsakten, sind innerhalb der Behördenhierarchie regelmäßig die unteren Verwaltungsbehörden zuständig. Es steht dem Gesetzgeber aber frei, für bestimmte Maßnahmen auch mittlere, obere Verwaltungsbehörden oder sogar die Verwaltungsspitze einzuschalten. 58 Der Regierung kommt insoweit eine „Doppelfunktion“ als leitende und zugleich als oberste verwaltende Instanz zu, die besonders deutlich bei den Bundesministern hervortritt. 59 Obgleich staatsleitende Aufgaben den Großteil ihrer Tätigkeit ausmachen, bestehen daneben administrative Kompetenzen, die ihr durch Gesetz übertragen sind oder die ihrer Art nach nicht zur Regierung im funktionellen Sinn gehören. 60 Zu nennen sind hier insbesondere Beamtenernennungen, die Ausführung von Bundesgesetzen nach Art. 83 ff. GG oder Akte auf konsularischem Gebiet und der auswärtigen Verwaltung. 61 Ist der Staat als solcher beispielsweise unmittelbar Adressat erpresserischer politischer Forderungen und zieht der Bundesaußenminister die Entscheidung in besonders brisanten Fällen an sich, ändert dies grundsätzlich nichts an dem administrativen Charakter der Entscheidung im Staat-Bürger-Verhältnis. Auf dem arbeitsrechtli54

Ehlers, in: Schoch / Schmidt-Aßmann / Pietzner, VwGO, § 40 Rn. 123. BVerfGE 50, 124 (130); vgl. Hufen, Verwaltungsprozessrecht, § 11 Rn. 69; Die im Vordringen befindliche Gegenmeinung geht ausschließlich von einem materiellen Begriff der verfassungsrechtlichen Streitigkeit aus und verzichtet auf das formelle Kriterium. Maßgeblich ist, „ob das streitige Rechtsverhältnis entscheidend vom Verfassungsrecht geprägt wird“, vgl. BVerwGE 116, 234 (237). 56 Kritisch: Schenke, AöR 131 (2006), 117 (119 f. m.w. N., 125). 57 Vgl. Schröder, in: HbStR III (1988), § 67 Rn. 14. 58 Oldiges, Kollegium, S. 378. 59 Meyer, Regierung, S. 168; Meyn, in: v. Münch / Kunig, GG, Art. 62 Rn. 12, 20. 60 Klein, VVDStRL 8 (1950), 67 (107); Scheuner, in: FS-Smend (1952), S. 253 (284). 61 Kötter / Nolte, DÖV 2007, 186 (189 f.) mit Beispielen. 55

II. Faktische und prozessuale Injustiziabilitäten

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chen Sektor ist die Allgemeinverbindlichkeitserklärung des Bundesministers für Arbeit gemäß § 5 Abs. 1 TVG als gouvernementaler Verwaltungsakt 62 bzw. gebundener Regierungsakt 63 zu erwähnen. In den Bereichen, in denen sich die Tätigkeit der Regierung auf die Gesetzesvollziehung bezieht, ist sie ein Teilbereich der Verwaltung. Sie unterscheidet sich von den untergeordneten Organen nur dadurch, dass sie selbst keinen Weisungen anderer Verwaltungsorgane unterliegt. 64 Streitigkeiten im Verhältnis Bürger-Behörde bzw. Regierung sind insoweit „nichtverfassungsrechtlicher Art“ im Sinn des § 40 Abs. 1 S. 1 VwGO. 65 b) Art. 93 Abs. 1 GG Im Gegensatz zum Verwaltungsrechtsweg ist die Rechtswegeröffnung zum Bundesverfassungsgericht nicht durch eine Generalklausel geregelt. Entweder besteht eine enumerative Zuständigkeit oder ein Rechtsweg ist nicht eröffnet. Außerhalb des Verfassungsbeschwerdeverfahrens nach Art. 93 Abs. 1 Nr. 4a GG kann sich ein Bürger in einem Verfassungsrechtsstreit nur sehr eingeschränkt auf Rechte berufen. 66 Art. 1 Abs. 3 GG gilt zwar ausnahmslos für alle Hoheitsakte, aber nicht jeder Hoheitsakt berührt das Staat-Bürger-Verhältnis. 67 Regierungshandeln bleibt häufig faktisch „justizfrei“, weil es keinen individualrechtlichen Bezug aufweist, d. h. niemanden unmittelbar in seiner Rechtsstellung betrifft. Es fehlt in solchen Fällen an der Verfassungsbeschwerdebefugnis. 68 Regierungsmaßnahmen bilden vielfach nur Hintergrund, Vorbereitung oder Leitlinie grundrechtsrelevanter Maßnahmen. 69 Häufig ergehen im Regierungsbereich auch rechtlich nicht fassbare Akte tatsächlicher Art, wie ein Neujahrsempfang, das Abhalten einer Pressekonferenz oder die Erteilung eines Interviews. 70 Im Unterschied zu den Gesetzesbeschlüssen des Parlaments sind Kabinettsbeschlüsse nicht mit speziellen Wirkungen versehen. Das Kabinett kann sie jederzeit durch einen neuen, formlosen Beschluss ersetzen, ändern oder beseitigen. Sie sind nicht dazu bestimmt, Außenwirkung zu entfalten. 71 Als eine solche, rechtlich 62 Oldiges, Kollegium, S. 377; a. A.: BVerwGE 80, 355 (363): Qualifizierung als Rechtsnorm. 63 Backsmann, DÖV 1956, 269 (271). 64 Schambeck, Die Ministerverantwortlichkeit, S. 25 f.; Beispiele bei Loening, DVBl. 1951, 233 (235). 65 Frotscher, DÖV 1971, 259 (261) m.w. N. am Beispiel der Gnadenentscheidung; a. A.: BVerwGE 14, 73 (75). 66 Ehlers, in: Schoch / Schmidt-Aßmann / Pietzner, VwGO, § 40 Rn. 123, 140. 67 Krebs, Kontrolle, S. 71. 68 Frotscher, Rechtsbegriff, S. 226 m.w. N.; Schenke, AöR 131 (2006), 117 (131 f.); vgl. Hartmann, AöR 134 (2009) (im Erscheinen), 5. lit. c). 69 Ramsauer, in: AK-GG, Art. 19 Abs. 4 Rn. 51. 70 Bauer, Gerichtsschutz, S. 140 f. m.w. N.

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B. Historische Einordnung

betrachtet rein interne Maßnahme, gilt die Richtlinienbestimmung der Politik durch den Bundeskanzler. Sie entfaltet – ebenso wie die Gesetzesinitiative der Bundesregierung nach Art. 76 Abs. 1 GG 72 oder die Parlamentsauflösung nach Art. 68 GG 73 – keine unmittelbare Rechtserheblichkeit gegenüber Privatpersonen. 74 Ein Recht des einzelnen Wählers, dass der Bundestag nicht vorzeitig aufgelöst wird, lässt sich aus Art. 38 GG nicht herleiten. 75 Auch bei einseitigen völkerrechtlichen Akten, wie der Anerkennung von Regierungen und Staaten, der Kündigung von Verträgen oder Protest fehlt es meist an einer unmittelbaren Rechtswirkung zugunsten oder zu Lasten eines Individuums. 76 Wenn beispielsweise der Bundeskanzler den amerikanischen Präsidenten wegen dessen IrakPolitik kritisiert und amerikanische Investoren daraufhin Kapital aus Deutschland abziehen, dann beeinträchtigen diese mittelbaren Auswirkungen der Information die berufliche Betätigung der betroffenen Unternehmen. Diese Beeinträchtigungen dem Bundeskanzler als Grundrechtseingriffe zuzurechnen, erschiene aber höchst fraglich. 77 Auch Akte der Kommandogewalt wirken für sich gesehen noch nicht auf die subjektive Rechtsstellung von Personen ein. Von daher findet es seine Erklärung, warum die Anordnung des militärischen Bereitschaftsdienstes gemäß § 6 des Wehrpflichtgesetzes nicht unmittelbar gerichtlich angreifbar ist. 78 Die Zulässigkeit einer dagegen gerichteten Klage scheiterte nach Auffassung des Bundesverwaltungsgerichts daran, dass diese nicht zur Ausführung des die Rechtsbeziehungen des Wehrpflichtigen regelnden Wehrpflichtgesetzes ergehe und für ihn keine unmittelbare Wirkung entfalte; erst der Einberufungsbescheid enthalte die für den Einzelnen verbindliche Regelung. 79 Das Bundesverfassungsgericht wies im ersten Urteil zum Nato-Doppelbeschluss die im Wesentlichen auf Art. 2 Abs. 2 S. 1 GG gestützten Verfassungsbeschwerden gegen die Aufstellung von Raketen als unzulässig ab. Die Zustimmung der Bundesregierung entfalte keine Eingriffsqualität. Die von ihr ausgehenden mittelbaren Folgen seien verfassungsgerichtlich nicht feststellbar, da es hierfür an rechtlich maßgebenden Kriterien fehle. Selbst im Falle ihres Eintretens seien sie der Bundesrepublik grundrechtlich nicht zurechenbar. 80 Die möglicherweise noch als Anknüpfungspunkt für eine subjektive Betroffenheit in Frage kommende rechtliche Gemeinwohlbindung allen staatlichen Handelns ist einer Gruppe der „leges imperfectae“ zuzurechnen. Der Gemeinwohlverpflichtung entspricht kein subjektives Recht. 81 71 72 73 74 75 76 77 78 79 80

Zimmer, Funktion, S. 273. Sczostak, JR 1958, 445 (447). Schenke, AöR 131 (2006), 117 (132); ders., in: BK-GG, Art. 68 Rn. 248. Obermayer, Verwaltungsakt, S. 91; Schwander, Die Regierungsfunktion, S. 56. Reimer, JuS 2005, 680 (683) m.w. N. Tomuschat, DÖV 1973, 801 (806); Zeitler, JöR 25 (1976), 621 (633). Murswiek, NVwZ 2003, 1 (6). Frotscher, Rechtsbegriff, S. 226 m.w. N.; Schenke, in: BK-GG, Art. 19 Abs. 4 Rn. 230. BVerwGE 15, 63 (64 f.). Vgl. BVerfGE 66, 39 (60 f.).

II. Faktische und prozessuale Injustiziabilitäten

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Eine potentielle Injustiziabilität beruht bei den genannten Akten nicht eo ipso auf einem besonderen Prädikat des betreffenden Aktes, sondern auf dem Entscheidungs- und Wirkzusammenhang, der die Individualrechtssphäre unberührt lässt. 82 Art. 19 Abs. 4 GG erfordert eine „Automatik von Rechtsbindung und richterlicher Kontrolle“ nur im Hinblick auf solche Rechtsnormen, die Verhaltenspflichten anordnen, deren Befolgung durch den Staat der Bürger auch verlangen kann. 83 Sobald ein Eingriff in Individualrechte vorliegt, ist auch der Rechtsweg garantiert. 84 Beispiele für in subjektive Rechtspositionen eingreifende Regierungsakte sind die immer stärker an Bedeutung gewinnenden negativen Äußerungen, Warnungen und Hinweise des Staats, „sofern sie grundrechtlich geschütztes Verhalten auch nur mittelbar-faktisch ganz oder teilweise unmöglich machen“. 85 Praktische Relevanz erlangten vor allem Warnungen der Regierung vor Jugendsekten 86 oder Produkten 87. Denkbar wäre auch eine Erklärung der Bundesregierung, welche die Geschäftspraktiken eines Großunternehmers verurteilt. 88 Außerhalb dieses eng umgrenzten Bereichs besitzt die gerichtliche Nachprüfung in Verbindung mit Maßnahmen der Regierung, die sich auf Individualrechtsgüter auswirken, nur geringe Bedeutung. 89 Zu einer Überprüfung des zunächst gerichtsfrei gebliebenen Hoheitsaktes kann es gleichwohl kommen, wenn die Rechtmäßigkeit solcher Regierungshandlungen im Rahmen eines Verwaltungsprozesses als Vorfrage oder Begleitfrage entscheidungserheblich ist. 90 c) Gesetzliche Ausnahmen Der Gerichtsbarkeit schlechthin entzogen sind Handlungen der Staatsleitung nur, wenn dies ausdrücklich angeordnet ist: 91 − Art. 44 Abs. 4 S. 1 GG hat die Beschlüsse der Untersuchungsausschüsse der richterlichen Erörterung entzogen. 81

Hartmann, AöR 134 (2009) (im Erscheinen), 5. lit. c). Krebs, in: v. Münch / Kunig, GG, Art. 19 Abs. 4 Rn. 55. 83 Ders., Kontrolle, S. 70; fener: Kelsen, Allgemeine Staatslehre, S. 18. 84 Ramsauer, in: AK-GG, Art. 19 Abs. 4 Rn. 51; Schmidt-Aßmann, in: Maunz / Dürig, GG, Art. 19 Abs. 4 Rn. 78. 85 Vgl. Pieroth / Schlink, Grundrechte, Rn. 246. 86 BVerfGE 105, 279 (300 f.). 87 BVerfGE 105, 252 (273). 88 Schenke, in: BK-GG, Art. 19 Abs. 4 Rn. 228. 89 Ders., JZ 1988, 317 (320). 90 Frotscher, Rechtsbegriff, S. 226 m.w. N.; Schenke, in: BK-GG, Art. 19 Abs. 4 Rn. 230 f.; Schmidt-Aßmann, in: Maunz / Dürig, GG, Art. 19 Abs. 4 Rn. 78; Zeitler, JöR 25 (1976), 621 (633). 91 Schröder, in: HbStR III (1988), § 67 Rn. 14. 82

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B. Historische Einordnung

− Art. 10 Abs. 2 GG hat bestimmte Überwachungsmaßnahmen der richterlichen Überprüfung entzogen. 92 Dabei handelt es sich um echte Ausnahmen von der Rechtsweggarantie. Der Verfassungsgesetzgeber hat es für notwendig erachtet, diese Maßnahmen der öffentlichen Gewalt ausdrücklich als gerichtsfrei zu bestimmen. 93 Als Ausnahmeregelungen sind diese Vorschriften nicht analogiefähig. 94

III. Ausschluss des Rechtswegs und Ausgestaltung der Rechtsbindung Restriktive Sachurteilsvoraussetzungen, die im Einzelfall den Rechtsweg ausschließen, führen prozessual bedingt zu einer Divergenz zwischen der Rechtsbindung des Staats und der Zulässigkeit und damit indirekt auch dem Umfang gerichtlicher Kontrolle. 95 Von diesem Auseinanderfallen strikt zu unterscheiden ist eine materiell-rechtlich begründete Varianz respektive Reduzierung der gerichtlichen Kontrolle 96 − nämlich die Ebene, auf der allein Ermessen und sonstige gubernative Entscheidungsspielräume Bedeutung erlangen: Eine häufig mit dem Rechtsweg vermengte Frage betrifft die bei staatsleitenden Akten erreichbare Kontrolldichte oder Kontrollintensität. Sie ist die Frage nach den Grenzen gerichtlicher Kontrolle, die sich aus der „Natur“ des gerichtlichen Kontrollmaßstabes, der Rechtsordnung, ergeben. 97 Die Unzulässigkeit einer rein politisch gespeisten Theorie der Regierungsakte zwingt nicht zu dem Schluss, dass das Verfassungsgericht der Regierung nicht unter bestimmten Voraussetzungen ein „besonders hohes Maß freien Ermessens“ zubilligen könnte. 98 Der Justiziabilitätsfrage liegt dann die Frage nach den rechtlichen Grenzen des Ermessens und die daran geknüpfte Frage nach der Unterscheidung zwischen Ermessens- und Rechtsfragen zugrunde. 99 Entsprechend erachtete beispielsweise das Bundesverwaltungsgericht 92

Stern, in: Staatsrecht II, § 39 II 6 lit. a). Schomburg, Der „gerichtsfreie Hoheitsakt“, S. 48 m.w. N.; vgl. Jesch, Gesetz und Verwaltung, S. 98. 94 Schmidt-Aßmann, in: Maunz / Dürig, GG, Art. 19 Abs. 4 Rn. 77. 95 Krebs, Kontrolle, S. 82; Müller, in: FS-H. Huber (1981), S. 109 (122); vgl. Hartmann, AöR 134 (2009) (im Erscheinen), 5. lit. c). 96 Schmidt-Aßmann, in: Maunz / Dürig, GG, Art. 19 Abs. 4 Rn. 78; vgl. Hartmann, AöR 134 (2009) (im Erscheinen), 5. lit. c); Kassimatis, Regierung, S. 161 differenziert insoweit zwischen „formaler Injustiziabilität“ und „materieller Injustiziabilität“ (Hervorhebung im Original). 97 Krebs, Kontrolle, S. 71; Obermayer, BayVBl. 1955, 173 (174); Riecken, Verfassungsgerichtsbarkeit, S. 439. 98 Drath, VVDStRL 9 (1952), 17 (68). 99 Hug, Die Regierungsfunktion, S. 293; Kassimatis, Regierung, S. 165 f. m.w. N.; Meyer, Regierung, S. 125 f. 93

III. Ausschluss des Rechtswegs und Ausgestaltung der Rechtsbindung

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eine auf Gewährung von Auslandsschutz durch die Bundesregierung gerichtete Klage für zulässig, wies sie im Ergebnis jedoch unter Verweis auf das weite politische Ermessen der Bundesregierung in diesem Bereich als unbegründet ab. 100 Auch die Vorinstanz, das Oberverwaltungsgericht Münster, hatte die Einordnung der Gewährung von Auslandschutz als „justizfreien Hoheitsakt“ ausdrücklich abgelehnt. Etwaige außenpolitische Erwägungen berührten nicht die Zulässigkeit der gerichtlichen Kontrolle, sondern nur ihren Umfang. 101 Die Annahme eines justizfreien Hoheitsaktes lehnte das Bundesverwaltungsgericht auch hinsichtlich der Durchführung von Tiefflügen sowie der Einrichtung und Beibehaltung von Tieffluggebieten ab. Zur Begründung hieß es, dass Rechtsverletzungen der Kläger nicht von vornherein nach jeder Betrachtungsweise auszuschließen seien. 102 Im Rahmen der materiell-rechtlichen Prüfung erklärte es die Klage aber unter dem Aspekt eines dem zuständigen Bundesminister einzuräumenden verteidigungspolitischen Beurteilungsspielraums für unbegründet.

100 101 102

BVerwGE 62, 11 ff. OVGE 34, 131 (133). BVerwGE 97, 203 (205).

C. Gubernative Entscheidungsspielräume in der Rechtsprechung Das Eröffnen von „Spielräumen“ ist in der Verfassungsgerichtsrechtsprechung das Leitmotiv zu einer Lockerung der Kontrolldichte gegenüber anderen Verfassungsorganen. 1 Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts, die dem Gesetzgeber einen gerichtlich nicht vollständig nachprüfbaren Spielraum bei seinem Verhalten einräumen, ergehen in großer Zahl und Regelmäßigkeit. Die Wissenschaft rezipiert sie mit entsprechender Frequenz. 2 Zur Kennzeichnung dieser Spielräume verwandte das Gericht anfänglich Ausdrücke wie gesetzgeberisches Ermessen 3 oder vergleichbare Bezeichnungen wie „Ermessensfreiheit“ 4 oder gesetzgeberische Freiheit 5. In neueren Urteilen ist dagegen häufiger von einem „Gestaltungsraum“ 6 oder einer „Gestaltungsfreiheit des Gesetzgebers“ 7 die Rede. Der Übergang vom eng wirkenden Ermessensbegriff zum großzügigeren Topos der gesetzgeberischen Gestaltungsfreiheit führte allerdings nicht zu einer Zurücknahme der Kontrolldichte. 8 Auch der Bundesregierung und dem Bundeskanzler erkennt das Bundesverfassungsgericht in verschiedenen, aber vergleichsweise seltenen Urteilen Entscheidungsspielräume zu. Sie indizieren einen Bereich eingeschränkter oder gar ausgeschlossener verfassungsgerichtlicher Nachprüfung. Zum ersten Mal erwähnt hat das Gericht speziell ein „dem Bundeskanzler einzuräumendes politisches Ermessen“ in Zusammenhang mit der Abgabe einer Erklärung von bestimmtem, rechtlich erheblichem Inhalt bei der Unterzeichnung eines völkerrechtlichen Vertrages. 9 Bei den einschlägigen Urteilen handelt es sich fast durchweg um „Klassiker“ 10 der verfassungsgerichtlichen Rechtsprechung. Diese Tatsache stellt bereits einen Anhaltspunkt für die Bedeutung der Problematik dar. 1 2

Rau, Rechtsprechung, S. 191. Vgl. Meßerschmidt, Gesetzgebungsermessen; Recknagel, Gesetzgeberisches Ermes-

sen. 3

BVerfGE 1, 14 (42); 30, 250 (265); 37, 1 (21). BVerfGE 7, 305 (318). 5 BVerfGE 7, 305 (319). 6 BVerfGE 69, 150 (160); 84, 90 (126). 7 BVerfGE 50, 290 (338); 58, 68 (79); 77, 170 (215); 108, 351 (364); 110, 412 (436). 8 Meßerschmidt, Gesetzgebungsermessen, S. 256; vgl. Scheuner, AöR 95 (1970), 353 (384). 9 BVerfGE 1, 281 (282). 4

I. Einteilung nach Sachbereichen

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Die Terminologie des Gerichts ist bei der Gewährung besonderer Entscheidungsspielräumen an die Bundesregierung durch eine Begriffsvielfalt gekennzeichnet, die auf den ersten Blick eine systematische Verwendung schwerlich erkennen lässt. Die gewählten Bezeichnungen decken ein Spektrum ab, welches von spezifisch verwaltungsrechtlichen Begriffen bis hin zu Termini reicht, die dem Verwaltungsrecht eher fremd und im Bereich der Legislative beheimatet sind. Die durch die Begriffe möglicherweise gekennzeichneten Strukturen bleiben in der Regel unklar.

I. Einteilung nach Sachbereichen Die Auswertung der einschlägigen Entscheidungen erlaubt zunächst eine Einteilung nach Sachbereichen, in denen sich bestimmte Entscheidungsspielräume besonders häufig auf die Art und Weise der gerichtlichen Nachprüfung auswirken. Dabei zeigen sich Unterschiede, die primär aus der Besonderheit der zugrunde liegenden Sachmaterie resultieren. Ein Schwerpunkt der Judikatur zu politischen Entscheidungsspielräumen von Bundesregierung und Bundeskanzler betrifft den Bereich der Außenpolitik. Hierzu zählen die verfassungsgerichtlichen Urteile zum Saarabkommen 11, dem Grundlagenvertrag mit der damaligen Deutschen Demokratischen Republik 12 sowie zu den Ostverträgen mit der damaligen Sowjetunion und der früheren Volksrepublik Polen. 13 Im Einzelnen lassen sich drei verschiedene außenpolitische Aufgabenkreise untergliedern, für welche die Richter Entscheidungsspielräume der Regierung regelmäßig anerkennen. Hierzu zählen die außenpolitische Initiativkompetenz der Regierung beim Abschluss völkerrechtlicher Verträge, ferner besondere Maßnahmen auf dem Gebiet der Verteidigungspolitik sowie der Bereich verfassungsrechtlicher Pflichten und Gebote, beispielsweise beim Auslandsschutz deutscher Staatsangehöriger. Entscheidungsspielräume als Kehrseite reduzierter gerichtlicher Nachprüfung eröffnet die Rechtsprechung der Bundesregierung bzw. dem Bundeskanzler auch auf dem Gebiet der Innenpolitik. Zwei herausragende Entscheidungen im Bereich der Staatsorganisation aus den Jahren 1983 und 2005 betrafen die Auflösungen des 9. Deutschen Bundestags 14 und des 15. Deutschen Bundestags 15 durch den Bundespräsidenten, denen jeweils eine Vertrauensfrage des Bundeskanzlers

10 11 12 13 14 15

BVerfGE 36, 1 ff.; 40, 141 ff.; 46, 160 ff.; 62, 1 ff.; 66, 39 ff.; 68, 1 ff.; 114, 121 ff. BVerfGE 4, 157 ff. BVerfGE 36, 1 ff. BVerfGE 40, 141 ff. BVerfGE 62, 1 ff. BVerfGE 114, 121 ff.

36

C. Gubernative Entscheidungsspielräume in der Rechtsprechung

vorgeschaltet war. Von hoher Bedeutung waren auch zwei Entscheidungen zur Zulässigkeit staatlichen Informationshandelns aus dem Jahre 2002. 16 Aufgrund der Vielzahl souveräner Akteure, die dem Grundgesetz nicht verpflichtet sind, und des Erfordernisses besonderer Rücksichtnahme sind die faktischpolitischen Verhaltensoptionen der Bundesregierung im außenpolitischen Bereich grundsätzlich stärker eingeschränkt als in der Innenpolitik. Die innerstaatlich autonome und zwischenstaatlich heteronome Entscheidungsfindung (z. B. Staatsvertrag) spiegelt einen unterschiedlichen weiten Entscheidungsspielraum der an die Verfassung gebundenen Organe in der Innen- und Außenpolitik wieder. 17 Diesem Umstand trägt das Bundesverfassungsgericht durch große Zurückhaltung bei der Nachprüfung außenpolitischer Entscheidungen der Bundesregierung Rechnung. Es berücksichtigt beispielsweise, dass es für die Wahrung der Interessen der Bundesrepublik Deutschland von erheblicher Bedeutung ist, dass sie auf internationaler Ebene mit einheitlicher Stimme auftritt und wahrgenommen wird. 18 Ferner würdigt das Gericht bei der Prüfung völkerrechtlicher Verträge auch die politische Ausgangslange, aus der ein Vertrag erwachsen ist, und die politischen Realitäten, die zu gestalten oder zu ändern er unternimmt. 19 Es geht davon aus, dass sich bei internationalen Vertragsverhandlungen der Kreis der möglichen Verhandlungsergebnisse auf das dem Verhandlungspartner gegenüber „politisch Erreichbare verengt“. 20 Das Fehlen rechtlicher Maßstäbe im außenpolitischen Bereich, die eine Kontrollkompetenz auszulösen vermögen, führt das Gericht auch auf den Umstand zurück, dass beispielsweise Gefahrenlagen wesentlich von der politischen Willensentscheidung eines fremden souveränen Staats in Zusammenhang mit einer weltpolitischen Gesamtlage abhängen. 21 Die verfassungsrechtliche Verantwortlichkeit der an das Grundgesetz gebundenen Hoheitsgewalt und damit auch der Schutzbereich der Grundrechte ende grundsätzlich dort, „wo ein Vorgang in seinem wesentlichen Verlauf von einem fremden Staat nach seinem, von der Bundesrepublik Deutschland unabhängigen Willen gestaltet wird“. 22 Entsprechend wirke sich der breite Raum „politischen Ermessens“ im Bereich der Außenpolitik besonders auf den Gegenstand von Staatsverträgen aus, „deren Inhalt nicht einseitig bestimmt werden kann, sondern von der Übereinstimmung der Verhandlungspartner abhängt“. 23 In einem Fall nahmen die Richter sogar an, für die Verfassungsmäßigkeit eines völkerrechtlichen Vertrags genüge es, wenn der durch 16 17 18 19 20 21 22 23

BVerfGE 105, 252 ff. (Glykol-Urteil) und BVerfGE 105, 279 ff. (Osho-Urteil). Vgl. Schuppert, Kontrolle, S. 98. BVerfGE 55, 349 (368). BVerfGE 4, 157 (168). BVerfGE 40, 141 (178). BVerfGE 66, 39 (61). BVerfGE 66, 39 (62); vgl. auch: BVerfGE 55, 349 (362); 57, 9 (23 f.). BVerfGE 94, 12 (35).

II. Einteilung nach Entscheidungsspielräumen

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ihn geschaffene Zustand „näher beim Grundgesetz steht“ als der zuvor bestehende. Die verfassungsrechtlichen Grenzen überschreite die Bundesregierung erst dort, wo „unverzichtbare Grundprinzipien des Grundgesetzes klar verletzt würden, also die in Art. 79 Abs. 3 oder Art. 19 Abs. 2 GG bezeichneten Grundsätze“. Bis zu diesen Grenzen sei die Bundesregierung für die von ihr vertraglich vereinbarten Maßnahmen nur politisch verantwortlich und Einschränkungen anderer Verfassungsnormen für eine Übergangszeit hinnehmbar. 24 Bei Prüfung und Auslegung völkerrechtlicher Verträge wählt das Gericht unter mehreren Möglichkeiten in der Regel die Auslegung, nach der der Vertrag vor dem Grundgesetz bestand hat. 25

II. Einteilung nach Entscheidungsspielräumen Neben dieser ersten groben Differenzierung zwischen Innen- und Außenpolitik, die aber durchaus nicht ohne Auswirkungen auf die gerichtliche Kontrolldichte bleibt, lassen sich in der Rechtsprechung unabhängig von einem bestimmten Sachbereich verschiedene Entscheidungsspielräume nachweisen. 1. Politisches Ermessen Mit hoher Frequenz gewährt das Gericht der Bundesregierung respektive dem Bundeskanzler ein politisches Ermessen oder eine politische Entscheidungsfreiheit bei der Wahrnehmung ihrer Kompetenzen. Verwandte Termini oder Formulierungen sind ein „breiter Raum politischen Ermessens“, „politische Ermessensfreiheit“ oder „Entscheidungsfreiraum“. In einem engen inhaltlichen Kontext hiermit spricht es „Ermessenserwägungen“, die „Grenzen des politischen Ermessens“ oder „Ermessensfehler“ an. a) Außenpolitischer Initiativbereich der Regierung Die Verfassungsgerichtsrechtsprechung geht für den Bereich der Außenpolitik von einem umfassenden Initiativ- und Kompetenzbereich der Regierung aus. In Anknüpfung an die traditionelle Staatsauffassung habe das Grundgesetz der Regierung hier einen „weit bemessenen Spielraum“ zu eigenverantwortlicher Aufgabenwahrnehmung überlassen. 26 Es komme ihr „wie allen anderen zu politischem Handeln berufenen Stellen allgemein ein breiter Raum politischen Ermessens“ zu. Dies begründet sie u. a. damit, dass „den Trägern der auswärtigen Gewalt eine Bewegungsfreiheit vorbehalten bleiben muß, deren Nutzung legitimerweise vor24 25 26

BVerfGE 4, 157 (169 f.). BVerfGE 4, 157 (168); 36, 1 (14). BVerfGE 104, 151 (207).

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C. Gubernative Entscheidungsspielräume in der Rechtsprechung

wiegend von politischen Zielsetzungen und Wertungen bestimmt wird“. 27 Sowohl die Rolle des Parlaments als Gesetzgebungsorgan als auch diejenige der rechtsprechenden Gewalt seien schon aus Gründen der Funktionsgerechtigkeit in diesem Bereich beschränkt. Auch unter diesem Gesichtspunkt obliege den Gerichten „größte Zurückhaltung, etwaige völkerrechtlich fehlerhafte Rechtsauffassungen dieser Organe als Ermessensfehler zu bewerten“. 28 Außerordentlich bedeutsam sind Entscheidungsspielräume der Bundesregierung beim Abschluss völkerrechtlicher Verträge. So führt „die Bundesregierung in eigener Kompetenz die Vertragsverhandlungen, hat das Initiativrecht für ein Zustimmungsgesetz im Sinne des Art. 59 Abs. 2 S. 1 GG und bestimmt gegenüber dem Gesetzgeber den Vertragsinhalt“. „Das Zustimmungsgesetz enthält auch nur eine Ermächtigung, beläßt also der Bundesregierung die Kompetenz zu entscheiden, ob sie den völkerrechtlichen Vertrag abschließt und nach seinem Abschluss völkerrechtlich beendet oder aufrechterhält.“ 29 Bei der Auswahl der im Vertrage vorzusehenden Maßnahmen räumen die Richter den vertragsschließenden Organen der Bundesrepublik Deutschland einen breiten Bereich „politischen Ermessens“ 30 ein. Die „Entscheidungen über die Begrenzung des Inhalts und der rechtlichen Tragweite eines Vertrages“ entziehe sich „ihrer Natur nach richterlicher Beurteilung“. 31 b) Verteidigungspolitik Im Rahmen der Zielvorgaben des Grundgesetzes und des völkerrechtlich Zulässigen schließt die verfassungsrechtliche Verantwortlichkeit der Regierung für die Außen- und Verteidigungspolitik nach Aussage des Bundesverfassungsgerichts auch die Kompetenz ein, die Bundesrepublik Deutschland wirksam zu verteidigen. Welche Maßnahmen zu treffen sind, um eine funktionstüchtige Verteidigung zu gewährleisten, „obliegt ihrer pflichtgemäßen politischen Entscheidung und Verantwortung“. 32 Dies gilt auch hinsichtlich der Verpflichtungen im Rahmen bestehender Bündnisverträge. 33 Die Bundesregierung ist befugt, nach der Aufstellung von Streitkräften auch den jeweiligen Zeitpunkt ihrer Einberufung zu bestimmen. Bei der Anordnung des militärischen Bereitschaftsdienstes handelt sie nach Auffassung des Bundesverwaltungsgerichts nach politischem Ermessen.

27 28 29 30 31 32 33

BVerfGE 40, 141 (178 f.). BVerfGE 55, 349 (368). BVerfGE 90, 286 (358); vgl. BVerfGE 68, 1 (85 f.). BVerfGE 4, 157 (169). BVerfGE 40, 141 (179). BVerfGE 66, 39 (61). BVerfGE 48, 127 (160).

II. Einteilung nach Entscheidungsspielräumen

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Dieses soll mangels rechtlicher Maßstäbe einer gerichtlichen Überprüfung nicht zugänglich sein. 34 c) Verfassungsrechtliche Gebote Entscheidungsspielräume eröffnet das Bundesverfassungsgericht der Bundesregierung und dem Bundeskanzler im Bereich der Außenpolitik auch bei der Erfüllung verfassungsrechtlicher Gebote und Pflichten. Ein derartiges Gebot stellte bis zu seiner „Erledigung“ das Wiedervereinigungsgebot dar. Das Gericht stellte in seinem Urteil zum Grundlagenvertrag klar, es müsse den zu „politischem Handeln berufenen Organen der Bundesrepublik überlassen bleiben zu entscheiden, welche Wege sie zur Herbeiführung der Wiedervereinigung als politisch richtig und zweckmäßig ansehen“. 35 Die staatlichen Organe sah es wohl in der Pflicht, alle Maßnahmen zu unterlassen, die die Wiedervereinigung hätten verhindern können. Aus diesem Grund bejahte das Gericht auch eine grundsätzliche verfassungsrechtliche Überprüfbarkeit von Regierungsmaßnahmen auf ihre Vereinbarkeit mit dem Wiedervereinigungsgebot. 36 Im Einzelfall blieb aber den Verfassungsorganen die Entscheidung überlassen, „ob eine bestimmte, sonst verfassungsmäßige Maßnahme die Wiedervereinigung rechtlich hindern oder faktisch unmöglich machen würde und aus diesem Grund unterbleiben müsste“. 37 Ein Begehren nach bestimmten Handlungen zu seiner Verwirklichung wollten die Richter auf das Wiedervereinigungsgebot nicht stützen. Dies hätte ihrer Ansicht nach dem weiten Gestaltungsspielraum der politischen Organe widersprochen. 38 Als zu politischem Handeln berufenes Organ erwähnten sie ausdrücklich die Bundesregierung, die über die Realisierungsmöglichkeiten in eigener Verantwortung zu entscheiden habe. 39 d) Verfassungsrechtliche Schutzpflichten Einen gerichtlich nicht vollständig überprüfbaren Raum politischen Ermessens der Bundesregierung nimmt die Verfassungsgerichtsrechtsprechung auch bei der Erfüllung verfassungsrechtlicher Schutzpflichten an: So ist der Bundesregierung bei der Entscheidung, ob und in welcher Weise sie der Schutzpflicht des Staats 40 34

BVerwGE 15, 63 (66) spricht auch von politischem „Gutdünken“. BVerfGE 36, 1 (17); vgl. BVerfGE 94, 12 (35). 36 BVerfGE 5, 85 (128). 37 BVerfGE 36, 1 (17). 38 BVerfGE 77, 137 (149); vgl. BVerfGE 5, 85 (127 f.); 12, 45 (51). 39 BVerfGE 36, 1 (18). 40 BVerfGE 6, 290 (299); 41, 126 (182); 55, 349 (365); 77, 170 (214 f.); BVerwGE 62, 11 (14). 35

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C. Gubernative Entscheidungsspielräume in der Rechtsprechung

zum Auslandsschutz nachkommt, ein weites Ermessen eingeräumt. 41 Das Ermessen ist hinsichtlich der Frage, auf welche Weise und durch welche konkreten Mittel die Regierung Auslandsschutz gewährt, „sehr viel“ weiter als bei der Frage, ob sie überhaupt Maßnahmen ergreift. 42 Im innenpolitischen Bereich betraf das Schleyer-Urteil das Spannungsverhältnis zwischen einer adäquaten staatlichen Reaktion auf eine terroristische Bedrohung und der gegenüber dem einzelnen Individuum bestehenden Schutzpflicht aus Art. 2 Abs. 2 S. 1 GG. Das Bundesverfassungsgericht hatte über den Erlass einer einstweiligen Anordnung des durch seine Familie vertretenen Entführten gegen die Bundesregierung zu entscheiden. Die Angehörigen wollten jene verpflichtet sehen, den Forderungen der Entführer stattzugeben und auf diese Weise die Freilassung des Opfers zu ermöglichen. Die Bundesregierung hatte als Beklagte vortragen lassen, dass es in solch einer außerordentlichen Notsituation keine Entscheidung gebe, die, an den Maßstäben des Grundgesetzes gemessen, als die allein richtige bezeichnet werden könne. Vielmehr müsse den verantwortlichen staatlichen Organen ein Beurteilungs- und Entscheidungsspielraum verbleiben. 43 Die Richter schlossen sich zwar nicht ausdrücklich der Argumentation der Bundesregierung an, lehnten es aber ab, angesichts dieser verfassungsrechtlichen Lage den zuständigen staatlichen Organen eine bestimmte Entschließung vorzuschreiben. Es liege vielmehr in ihrer Entscheidung, „welche Maßnahmen zur Erfüllung der ihnen obliegenden Schutzpflichten zu ergreifen sind“. 44 e) Staatsorganisationsrecht Auch bei der Wahrnehmung staatsorganisationsrechtlicher Kompetenzen handelt die Bundesregierung bzw. der Bundeskanzler zumeist nach politischem Ermessen. Art. 21 Abs. 2 GG gibt der Bundesregierung die Möglichkeit, die freiheitlich demokratische Grundordnung gegen verfassungswidrige Parteien zu schützen. Hält sie die Voraussetzungen für den Antrag auf Feststellung der Verfassungswidrigkeit einer Partei für gegeben, ist es „eine Frage des politischen Ermessens, ob sie nach Abwägung aller Umstände dem Gebot des Verfassungsschutzes nachkommen oder die hiernach zulässige Maßnahme wegen einer Gefährdung der Wiedervereinigung zurückstellen will“. 45 Ferner setzt die Zulässigkeit eines Antrags auf einstweilige Anordnung gemäß § 32 BVerfGG durch die Bundesregierung grundsätzlich nicht voraus, dass zuvor der Bundesrat gemäß Art. 84 Abs. 4 GG eingeschaltet wurde. „Ob die Bundesregierung im übrigen zur Erhal41 42 43 44 45

BVerfGE 55, 349 (365); OVGE 34, 131 (134); vgl. BVerfGE 40, 141 (178). BVerwGE 62, 11 (15). BVerfGE 46, 160 (163). BVerfGE 46, 160 (165). BVerfGE 5, 85 (129) betraf die Vereinbarkeit mit dem Wiedervereinigungsgebot.

II. Einteilung nach Entscheidungsspielräumen

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tung der verfassungsmäßigen Ordnung die Mittel des Bundeszwangs (Art. 37 GG) anwenden oder eine Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts nach Art. 93 Abs. 1 Nr. 2 GG herbeiführen will, steht in ihrem verfassungsgerichtlich nicht überprüfbaren Ermessen.“ 46 In seiner zweiten Auflösungsentscheidung 2005 bestätigte das Verfassungsgericht die wesentlichen Aussagen der Leitentscheidung aus dem Jahre 1983 zu einem politischen Ermessen des Bundeskanzlers und des Bundespräsidenten in dem Verfahren nach Art. 68 Abs. 1 S. 1 GG. 47 f) Ergebnis Die Verfassungsgerichtsrechtsprechung beschränkt die Zuerkennung politischen Ermessens nicht auf den parlamentarischen Gesetzgeber 48, die Bundesregierung oder den Bundeskanzler, sondern erstreckt sie auch auf andere Staatsorgane. 49 Dem Bundespräsidenten gewähren die Richter beispielsweise eine „Ermessensfreiheit“ 50 bei Ausübung seines Begnadigungsrechts nach Art. 60 Abs. 2 GG. Ferner stellt seine Entscheidung über die Auflösung des Bundestags gemäß Art. 68 Abs. 1 S. 1 GG eine „politische Leitentscheidung“ nach pflichtgemäßem Ermessen dar. 51 Die Ausübung politischen Ermessens ist nicht an eine bestimmte Rechtsform gebunden. Es sind keine Unterschiede in Struktur, Funktion oder Begründung dieses Entscheidungsspielraums hinsichtlich der verschiedenen Organe oder Handlungsformen ersichtlich. „Politisches Ermessen“ ist rechtsformneutral und kompetenzträgerneutral, bleibt aber regelmäßig Verfassungsorganen oder Teilen davon vorbehalten. Gemeinsam ist allen politischen Ermessensentscheidungen auch die Bindung an einen Normzweck, der politische Erwägungen aber nicht ausschließt. Sie können auf der Grundlage von Verfassungsnormen ergehen, die ihrem Wortlaut nach Tatbestand und Rechtsfolge untergliedern. Prominentestes Beispiel hierfür ist Art. 68 Abs. 1 S. 1 GG. Sind die formellen und materiellen, auch am Normzweck des Art. 68 GG ausgerichteten, Tatbestandserfordernisse nicht erfüllt, ist ein Ermessen nicht eröffnet. 52 Das durch diese Norm eröffnete Ermessen kommt dem verwaltungsrechtlichen Begriffsverständnis von Ermessen als Wahlfreiheit zwischen verschiedenen, gleichermaßen rechtmäßigen Rechtsfolgen am nächsten. Auch bei verfassungsrechtlichen Pflichten und Geboten besteht eine Bindung an einen 46

BVerfGE 7, 367 (372); ferner: BVerfGE 11, 6 (18). BVerfGE 114, 121 ff.; a. A.: BVerfGE 114, 121 (170 ff.) Sondervotum Jentsch (170 ff.) und BVerfGE 114, 121 (182 ff.) Sondervotum Lübbe-Wolff. 48 BVerfGE 107, 218 (244). 49 BVerfGE 12, 45 (51 f.). 50 BVerfGE 25, 352 (363). 51 BVerfGE 62, 1 (50 f.); vgl. BVerfGE 114, 121 (148). 52 BVerfGE 62, 1 (35 f., 108). 47

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C. Gubernative Entscheidungsspielräume in der Rechtsprechung

Normzweck. Lediglich die Art und Weise der Zweckverwirklichung darf sich an politischen Realitäten und Erwägungen ausrichten. 53 Verfassungsrechtliche Gebote und Verbote gewähren einen Entscheidungsspielraum nicht hinsichtlich des „Ob“, sondern nur hinsichtlich des „Wie“, wobei eine Abwägung nur im Einzelfall ergeben kann, dass ein geschütztes Rechtsgut völlig zurücktreten muss. 54 Das Bundesverfassungsgericht erkennt politisches Ermessen unabhängig von einem bestimmten Sachbereich an. Es ist sachbereichsneutral. Ob eine Entscheidung im außenpolitischen oder im innenpolitischen Bereich ergeht, spielt grundsätzlich keine Rolle. Die verschiedenen Aufgabenkreise weisen lediglich einen unterschiedlich hohen Grad an rechtlicher Determination auf. Je geringer die rechtliche Determination von Entscheidungen der Bundesregierung ist, desto mehr Raum bleibt für autonome politische Erwägungen. Die Entscheidung darf hier entsprechend mehr oder weniger „legitimerweise vorwiegend von politischen Zielsetzungen und Wertungen bestimmt“ 55 sein. Die Tatsache, dass das Gericht trotz dieser Unterschiede durchgehend am Begriff des politischen Ermessens festhält, spricht für seine einheitliche Struktur. Als spezielle Erscheinungen dieses einheitlichen politischen Ermessens lassen sich unterteilen: − − − −

Gesetzgeberisches Ermessen oder legislatives Ermessen: Gesetzgeber. Regierungsermessen oder gubernatives Ermessen: Regierung. Bundeskanzlerermessen: Bundeskanzler. Bundespräsidentenermessen: Bundespräsident. 2. Gestaltungsspielraum

In einigen wenigen Entscheidungen verwendet das Bundesverfassungsgericht auch den Terminus „Gestaltungsspielraum“ oder synonyme Termini wie Entscheidungsmacht und Gestaltungsmacht. 56 Im Hinblick auf das Wiedervereinigungsgebot attestierte es eine „Gestaltungsfreiheit der Staatsorgane“ 57 und erwähnte zugleich deren Grenzen. Bei der Erfüllung von Schutzpflichten aus materiellen Grundrechten räumt das Gericht den staatlichen Organen, denen die Wahrnehmung des Grundgesetzes als Ganzes anvertraut ist, einen „Gestaltungsspielraum“ 58 ein. Auch in der auswärtigen Politik erkennt es einen „Gestaltungsspielraum“ 59 der Bundesregierung an. 53 54 55 56 57 58 59

Vgl. Gusy, Bundesverfassungsgericht, S. 70. Vgl. BVerfGE 46, 160 ff. BVerfGE 40, 141 (179). BVerfGE 62, 1 (64). BVerfGE 36, 1 (24). BVerfGE 77, 137 (149); 77, 170 (229); vgl. BVerfGE 92, 26 (46). BVerfGE 104, 151 (209).

II. Einteilung nach Entscheidungsspielräumen

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Die Überschneidungen mit den Bereichen des politischen Ermessens sprechen zunächst für ein synonymes Begriffsverständnis. Auffällig ist indes, dass den Begriffen „Gestaltungsfreiheit“ und „Gestaltungsspielraum“ praktisch keine Bedeutung zukommt, soweit es um die Wahrnehmung unmittelbar zweckgebundener Kompetenzen geht, z. B. bei Art. 68 GG. Der Begriff Gestaltungsspielraum findet sich hier jeweils lediglich im Rahmen einer Aufzählung verschiedener Entscheidungsspielräume. Ansonsten ist von Beurteilungsspielräumen, Einschätzungsspielräumen und Ermessen die Rede. Andererseits spricht das Gericht wiederholt in Zusammenhang mit der sehr allgemeinen Norm des Art. 65 GG beispielsweise von einem politischen „Gestaltungswillen“ bei der Bestimmung der Richtlinien der Politik 60 oder bezeichnet es die Regierung als politisch gestaltendes Verfassungsorgan 61. Dieser Umstand könnte als Indiz zu werten sein, dass die genannten Spielräume einen vom politischen Ermessen strukturell verschiedenen Entscheidungstypus bezeichnen. Dafür spricht auch, dass das Gericht von Gestaltungsspielräumen besonders häufig spricht, um seine Prüfungskompetenzen gegenüber den Kompetenzen des Gesetzgebers abzugrenzen. 3. Einschätzungsprärogative Vielfach garantiert das Bundesverfassungsgericht den politischen Organen bei ihrem Verhalten eine sog. „Einschätzungsprärogative“ 62. Die Termini „Einschätzungsspielraum“ 63, „politische Einschätzung“ 64 oder politische Wertung 65 verwendet die Rechtsprechung in der Regel synonym. Im Gegensatz zu Ermessen und Beurteilungsspielraum handelt es sich bei der Einschätzungsprärogative um einen primär verfassungsrechtlichen Begriff. In der Regel besteht sie für den Gesetzgeber speziell bei der Erforderlichkeits- und Geeignetheitsprüfung von Grundrechtseingriffen. 66 Einschätzungsprärogativen erlangen aber auch bei der richterlichen Nachprüfung von Maßnahmen der Regierung Bedeutung. Häufig anzutreffen sind sie im Bereich der Außenpolitik sowie im Bereich des Staatsorganisationsrechts. a) Außen- und Verteidigungspolitik Sofern im außenpolitischen Bereich nicht mehr abzuschätzende Risikobereiche verbleiben oder Prognosen einer zukünftigen politischen Entwicklung erforderlich 60 61 62 63 64 65 66

BVerfGE 114, 121 (149). BVerfGE 114, 121 (154). BVerfGE 114, 121 (160). BVerfGE 114, 121 (156 f., 159 f.). BVerfGE 114, 121 (159). BVerfGE 68, 1 (97). Vgl. Pieroth / Schlink, Grundrechte, Rn. 282, 287.

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C. Gubernative Entscheidungsspielräume in der Rechtsprechung

sind, obliegen die entsprechenden Einschätzungen und politischen Wertungen nach Auffassung des Bundesverfassungsgerichts in erster Linie der Bundesregierung. 67 Sie sind „von den verfassungsrechtlich zuständigen politischen Entscheidungsorganen des Bundes in ihre Erwägungen einzubeziehen und politisch zu verantworten“. Jenseits rechtlich normierter Vorgaben in diesem Bereich nimmt sich das Gericht davon aus, „seine Einschätzungen und Erwägungen an die Stelle der zuständigen politischen Organe zu setzen“. Dies gilt auch für die Frage, „in welcher Weise der objektivrechtlichen Schutzpflicht des Staates in Bezug auf Grundrechte im Bereich der Außen- und Verteidigungspolitik gegenüber fremden Staaten genügt wird“. 68 In der Entscheidung zum Nato-Doppelbeschluss konstatiert es, mangels rechtlich maßgebender Kriterien sei verfassungsgerichtlich nicht feststellbar, ob und welchen Einfluss das Verhalten der deutschen öffentlichen Gewalt auf die Entscheidung der Sowjetunion haben werde, einen befürchteten militärischen Präventiv- oder Gegenschlag auszulösen. Einschätzungen dieser Art oblägen den für die Außen- und Verteidigungspolitik der Bundesrepublik zuständigen Bundesorganen. 69 Das Bundesverwaltungsgericht leitet aus der Notwendigkeit einer Verteidigungsbereitschaft der Bundesrepublik die Befugnis der Bundesregierung ab, den jeweiligen Zeitpunkt der Einberufung der Wehrpflichtigen zu bestimmen. Demnach sei die Anordnung des Bereitschaftsdienstes nicht an rechtliche, der gerichtlichen Nachprüfung zugängliche Voraussetzungen geknüpft, sondern beruhe stets auf der Einschätzung einer politischen Situation. 70 Bei der Gewährung von Auslandsschutz für deutsche Staatsbürger bleibt es ihrer „außenpolitischen Einschätzung und Abwägung“ überlassen, inwieweit sie bestimmte oder andere Maßnahmen für geeignet und – gerade auch mit Rücksicht auf die Interessen des Beschwerdeführers selbst wie auch im Hinblick auf die Belange der Allgemeinheit – für angebracht hält. 71 Ferner eröffnet das Bundesverfassungsgericht der Bundesregierung eine Einschätzungsprärogative bei der Bewertung der eigenen außenpolitischen Verhandlungsposition, und zwar zuvorderst in Bezug auf die Realisierung verfassungsrechtlicher Gebote. 72 b) Risikoentscheidungen im innenpolitischen Bereich Einschätzungsprärogativen führen auch im innenpolitischen Bereich zur Reduzierung gerichtlicher Kontrolle bei bestimmten exekutiven Entscheidungen. Ähnlich wie in der Außenpolitik nimmt dabei die Beurteilung von Gefahren für 67 68 69 70 71 72

BVerfGE 68, 1 (97); vgl. BVerfGE 4, 157 (175). BVerfGE 66, 39 (61). BVerfGE 66, 39 (60). BVerwGE 15, 63 (64 ff.). BVerfGE 55, 349 (366). BVerfGE 84, 90 (118, 128); 94, 12 (35 ff.).

II. Einteilung nach Entscheidungsspielräumen

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die Allgemeinheit und Individualrechtsgüter, wie sie mit der zivilen Nutzung der Atomenergie verbunden sind, eine bedeutende Stellung ein. So stellte das Bundesverfassungsgericht klar, es werde sich beispielsweise im Fall der Kerntechnologie erst in der Zukunft erweisen, ob die Entscheidung für die Anwendung einer bestimmten Technik mehr zum Nutzen oder zum Schaden gereiche. „In dieser, notwendigerweise mit Ungewißheit belasteten Situation liegt es zuvorderst in der politischen Verantwortung des Gesetzgebers und der Regierung, im Rahmen ihrer jeweiligen Kompetenzen die von ihnen für zweckmäßig erachteten Entscheidungen zu treffen. Bei dieser Sachlage ist es nicht Aufgabe der Gerichte, mit ihrer Einschätzung an die Stelle der dazu berufenen politischen Organe zu treten. Denn insoweit ermangelt es rechtlicher Maßstäbe.“ 73 c) Ergebnis Eine Einschätzung umfasst die Beurteilung eines bestimmten Sachverhalts anhand eines bestimmten Maßstabs. Einschätzungen setzen Sachverhalte in Beziehung zu Maßstäben. Gegenstand von Einschätzungen der Bundesregierung sind Tatsachen, die dem politischen Prozess zugrunde liegen und ihre tatsächlichen Verhaltensoptionen betreffen. Maßstab der Einschätzung sind jeweils verfassungsrechtliche Verhaltensmaßstäbe in Gestalt von Verboten, Geboten oder Pflichten. Die Einschätzung besteht regelmäßig aus zwei Akten, wobei in der Rechtsprechung die Einschätzungsprärogative auf jeder Stufe relevant werden kann. Zunächst ist das vorgefundene Faktenmaterial festzustellen (Ermittlungsebene). Bereits auf dieser Stufe kann die gerichtliche Nachprüfung an Grenzen stoßen. Eine Tatsachenfeststellung kann aus prozessualen oder tatsächlichen Gründen nur eingeschränkt möglich sein. Dies ist beispielsweise der Fall, wenn die Tatsachenbasis einer Entscheidung zukünftige Kausalverläufe betrifft (Prognose) oder wenn die Ermittlung der Tatsachenbasis auf einer höchstpersönlichen Wahrnehmung oder abwägenden Lagebeurteilung beruht. 74 Auf dieser Ebene begründen die Richter Einschätzungsspielräume primär mit funktionellen Kriterien, wie der „Sachnähe“ der Einschätzung des Bundeskanzlers in Bezug auf seine politische Handlungsfähigkeit 75 oder den Grenzen prozessualer Erkenntnismöglichkeiten des Verfassungsgerichts (funktionelle Einschätzungsprärogative). 76 Entsprechend stellt das Bundesverfassungsgericht fest, dass der „politische Willensbildungsprozess mit seinen zulässigen, auch von taktischen und strategischen Motiven geprägten Verhaltensweisen und Rücksichtnahmen“ eine nach vollem Beweis strebende gerichtliche Sachverhaltsaufklärung verbietet. Eine Beurteilung sei ohne 73 74 75 76

BVerfGE 49, 89 (131). Vgl. BVerfGE 114, 121 (156). BVerfGE 114, 121 (160). Vgl. Wolff, VerwR I, § 31 Ic 4, S. 192.

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C. Gubernative Entscheidungsspielräume in der Rechtsprechung

Beschädigung des politischen Handlungssystems mit den üblichen prozessualen Erkenntnismitteln nicht möglich. Anderenfalls wäre die vom Grundgesetz gewollte Balance zwischen effektiver rechtlicher Bindung der öffentlichen Gewalt und der Ermöglichung wirksamer politischer Handlungsfreiheit verletzt. 77 In einem zweiten Schritt muss das entscheidende Organ das vorgefundene Tatsachenmaterial bewerten und die tatsächlichen Verhaltensoptionen ausloten. Dieser Stufe ist beispielsweise die Einschätzung der Verhandlungsposition seitens der Bundesregierung zuzuordnen. Die ermittelten Verhaltensoptionen sind dabei in Bezug zu einem normativen Maßstab zu setzten. Hier stellt sich die Frage, ob die vorgenommene Tatsachenbewertung und die auf deren Grundlage ergriffenen Maßnahmen den rechtlichen Anforderungen noch entsprechen (Bewertungsund Subsumtionsebene). Bei Mehrdeutigkeit dieser rechtlichen Maßstäbe kann eine materielle Einschätzungsprärogative bestehen. Sind verschiedene Lösungen rechtmäßig, muss die Auswahl den politischen Organen nach politischer Zweckmäßigkeit überlassen bleiben. 4. Beurteilungsspielraum Mit dem Terminus „Beurteilungsspielraum“ findet ein weiterer, ursprünglich im Verwaltungsrecht beheimateter Begriff, Eingang in die verfassungsrechtliche Rechtsprechung. Synonyme Bedeutung haben Ausdrücke wie „Beurteilungskompetenz des Bundeskanzlers“, „Beurteilungsmacht“ 78 oder schlicht „Beurteilungen“. Ähnlich wie im Verwaltungsrecht besteht dieser verfassungsrechtliche Beurteilungsspielraum auf der Subsumtionsebene. Von Beurteilungsspielräumen ist häufig anstelle von Einschätzungsprärogativen die Rede, was die beiden Urteile zu Art. 68 GG verdeutlichen: Im ersten Urteil erwähnt das Bundesverfassungsgericht wiederholt Beurteilungsspielräume. 79 Im zweiten Urteil ersetzt es diesen Begriff bei gleichem Sinnbezug weitgehend durch den Terminus Einschätzungsspielraum, um dann zwischendurch wieder von „politischer Beurteilung“ 80 zu sprechen. Dieser beinahe schon wahllose Austausch der Begriffe lässt sich nur als Hinweis auf einen identischen Wortsinn deuten. Dafür spricht auch die Terminologie in Urteilen, die den außenpolitischen Bereich betreffen. In der Entscheidung zum NatoDoppelbeschluss ist zunächst von Einschätzungen und politischen Wertungen 81 der Bundesregierung sowie später bei durchgehendem Sinnzusammenhang von den „verfassungsrechtlichen Grenzen dieser Beurteilungsmacht der Exekutive“ 82 77 78 79 80 81 82

Vgl. BVerfGE 114, 121 (155, 157). BVerfGE 68, 1 (97). BVerfGE 62, 1 (35, 40, 50 f.). BVerfGE 114, 121 (159); ähnlich auch: BVerfGE 62, 1 (63). BVerfGE 68, 1 (97). BVerfGE 68, 1 (103).

III. Typisierung der Entscheidungsspielräume

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die Rede. An anderer Stelle versteht das Gericht die „Einschätzung, Wertung und Beurteilung politischer Vorgänge und Verhältnisse“ als Subkategorien eines Beurteilungsspielraums für politische Entscheidungen der Exekutive von weitreichender Bedeutung. 83 Besonders deutlich wird der synonyme Gebrauch, wenn es − freilich in Bezug auf den Gesetzgeber − heißt: „Bei der Einschätzung der wirtschaftlichen und finanziellen Lage des Staates und der Gewichtung der einzelnen Staatsaufgaben kommt ihm dabei ein besonders weiter Beurteilungsspielraum zu.“ 84 Sowohl Einschätzungsprärogativen als auch Beurteilungsspielräume haben eine Tatsachenbewertung anhand eines normativen Maßstabs zum Gegenstand. Dabei stellt sich jeweils die Frage, ob das optierte Verhalten den normativen Anforderungen entspricht und eine Subsumtion hierunter noch möglich ist. Von Beurteilungsspielräumen spricht das Gericht in erster Linie in Zusammenhang mit Art. 68 GG. Dabei ist kein kategorisches Abgrenzungsmerkmal gegenüber der hier ebenfalls herangezogenen Einschätzungsprärogative ersichtlich: Die Auflösung des Bundestags nach Art. 68 Abs. 1 S. 1 GG setze in einem gestuften Verfahren jeweils „selbstständige politische Beurteilungen“ dreier oberster Verfassungsorgane, des Bundeskanzlers, des Bundestags und des Bundespräsidenten, voraus. 85 Über einen solchen Beurteilungsspielraum − wahlweise auch als Einschätzungsspielraum bezeichnet − verfügt der Bundeskanzler bei seinem Urteil über das tatsächliche Vorliegen einer politischen Lage, „die eine auflösungsgerichtete Vertrauensfrage rechtfertigt“. Letztere ist gleichfalls Voraussetzung für eine „zweckentsprechende Anwendung des Art. 68 GG“. 86 Selbst wenn eine Beweisaufnahme hier möglich wäre, bliebe dem Kanzler „ein eigener Einschätzungsspielraum in Bezug auf die festgestellten Tatsachen, insbesondere in Bezug auf deren Bedeutung für die künftige Entwicklung“. Anderenfalls werde dessen politische Handlungsfreiheit unangemessen eingeschränkt. 87

III. Typisierung der Entscheidungsspielräume Im Wesentlichen lassen sich aus der Rechtsprechung vier verschiedene Bezeichnungen für Entscheidungsspielräume der Bundesregierung herausfiltern: 1. politisches Ermessen mit den synonymen Termini politische Entscheidungsfreiheit oder Handlungsfreiheit, 2. politische Gestaltungsspielräume mit den synonymen Begriffen Gestaltungsfreiheit oder Gestaltungsentscheidung, 3. Einschätzungsprärogativen mit den Synonymen Einschätzungsspielraum, Wertungsspielraum und 83 84 85 86 87

BVerfGE 62, 1 (50) mit ausdrücklichem Verweis auf BVerfGE 50, 290 (333). BVerfGE 84, 90 (131). BVerfGE 62, 1 (35, 40). BVerfGE 114, 121 (155 f.). Vgl. BVerfGE 114, 121 (157).

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C. Gubernative Entscheidungsspielräume in der Rechtsprechung

den auf zukünftige Sachverhalte bezogenen Prognosespielräumen sowie 4. Beurteilungsspielräume mit den synonymen Begriffen Beurteilungsmacht und Beurteilungskompetenz. Teilweise nennt das Bundesverfassungsgericht verschiedene Spielräume explizit nebeneinander: So erwähnt es in einem Atemzug den „Einschätzungs-, Wertungs- und Gestaltungsspielraum“ 88 der Bundesregierung und zählt in derselben Entscheidung später Gestaltungs-, Beurteilungs- und Ermessensspielräume 89 auf. Diese jeweils selbstständigen, aber einen engen Kontext herstellenden Aufzählungen lassen sich sowohl als Resultat einer weitgehenden inhaltlichen Identität als auch als Hinweis auf jeweils eigenständige Kategorien verstehen. Strukturelle Unterschiede zwischen Ermessen und Gestaltungsfreiheit bzw. Gestaltungsspielräumen lassen sich in der Rechtsprechung nicht nachweisen. Die wiederholte Zuerkennung von Gestaltungsspielräumen speziell in Zusammenschau mit den Gesetzgebungskompetenzen liefert allein keinen ausreichenden Nachweis für einen Qualitätssprung gegenüber Ermessensentscheidungen. Der Vergleich der Sachbereiche und der Entscheidungszusammenhänge deutet vielmehr auf ein synonymes Begriffsverständnis der Termini „politisches Ermessen“ und „Gestaltungsfreiheit“ hin. Wie dargelegt, legt die Rechtsprechung auch bei Einschätzungsprärogativen und Beurteilungsspielräumen in der Regel eine synonyme Bedeutung zugrunde. Schwieriger zu beurteilen ist dagegen das Verhältnis zwischen Einschätzungsprärogativen bzw. Beurteilungsspielräumen und Ermessen. Teilweise scheint das Gericht in Anlehnung an die verwaltungsrechtliche Terminologie hier deutlicher zu differenzieren: So heißt es, dass „dem Bundespräsidenten bei seiner Prüfung, ob Art. 68 GG ihm überhaupt eine Ermessensentscheidung eröffnet, von der Sache her ein Beurteilungsspielraum“ zusteht oder „unbeschadet eines Beurteilungsspielraums des Bundespräsidenten kann das Bundesverfassungsgericht nachprüfen, ob hinreichende Anhaltspunkte für die genannten Voraussetzungen einer Ermessensentscheidung des Bundespräsidenten vorlagen“. 90 Für eine kategorische Gegenüberstellung sprechen auch die Formulierung „Einräumung von Einschätzungs- und Beurteilungsspielräumen sowie Ermessen zu politischen Leitentscheidungen“ 91 und die Differenzierung zwischen einer „Beurteilungs- und Handlungsmacht der Exekutive“. 92 Es deutet sich hier eine Zweiteilung in eine kognitive Kategorie (Einschätzungsprärogative, Beurteilungsspielraum) und eine volitive Kategorie (Ermessen, Gestaltungsspielraum) an. Beurteilungsspielräume 88 89 90 91 92

BVerfGE 77, 170 (171) LS. 2 lit. a). BVerfGE 62, 1 (51). BVerfGE 62, 1 (107, 112) Sondervotum Rinck. BVerfGE 62, 1 (51). BVerfGE 68, 1 (120).

III. Typisierung der Entscheidungsspielräume

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oder Einschätzungsprärogativen könnten die Würdigung von Tatsachen politischer Art betreffen. Politisches Ermessen könnte sich dagegen auf das daraufhin eingeleitete Verhalten erstrecken. Bei dieser Typisierung handelt es sich aber um eine oberflächliche Zuordnung, die sich außerhalb des Anwendungsbereichs von Art. 68 GG kaum nachweisen lässt. Beurteilungsspielräume und Einschätzungsprärogativen beschränken sich in der Verfassungsrechtsprechung nur auf den ersten Blick auf „Akte der Rechtsanwendung im weitesten Sinn“, auf Tatsachenermittlung und Subsumtion. Umgekehrt kann Ermessen auch die Tatsachenbewertung erfassen: So ist von einer Ausübung des „Ermessens bei der Einschätzung der Verhandlungssituation“ 93 oder „außenpolitischer Sachverhalte“ 94 und entsprechend von einer ermessensfehlerhaften Einschätzung 95 die Rede. Ermessen kann sich ferner auf die Deutung von Erklärungen und Verhandlungsunterlagen beziehen. 96 Gegen eine strikte Trennung spricht auch, dass das Gericht die Würdigung tatsächlicher Umstände vielfach nicht als Einschätzungsspielraum bezeichnet, sondern die zugrunde liegende Entscheidung zusammenfassend unter dem Aspekt des politischen Ermessens betrachtet. Begreift man Einschätzungsprärogativen als Spielräume bei der Ermittlung und Bewertung politischer Tatsachen am Maßstab rechtlicher Vorgaben, verdeutlicht dies die Überschneidungen mit dem Ermessensbegriff: Auch Ermessensentscheidungen sind an rechtlichen Zwecken ausgerichtet und stellen in deren Rahmen Zweckmäßigkeitsentscheidungen dar. Die Einschätzung oder Beurteilung der politischen Wirklichkeit anhand eines rechtlichen Maßstabs und die Bestimmung zweckmäßiger Verhaltensprogramme auf der Rechtsfolgenseite fallen − angesichts der sehr weiten Formulierung der Verfassungsnormen und der Komplexität der tatsächlichen Geschehensabläufe − häufig in einem Akt zusammen. 97 Einschätzungsprärogativen erscheinen insoweit als eine Art der Ermessensakte. Eine Differenzierung zwischen beiden als selbstständige Entscheidungstypen wäre noch subtiler als die Gegenüberstellung von Beurteilungsspielraum und Rechtsfolgeermessen im Verwaltungsrecht. Einschätzungsprärogativen werden deshalb hier als spezieller Fall eines politischen Ermessens oder politischer Gestaltungsspielräume und nicht als grundsätzlich verschiedene Entscheidungskategorie verstanden. Auch die in der Verwaltungsrechtsprechung vorgenommene Differenzierung zwischen Beurteilungsspielraum auf der Tatbestandsseite und Rechtsfolgeermes-

93

BVerfGE 94, 12 (43). BVerwGE 62, 11 (15). 95 BVerfGE 55, 349 (367). 96 BVerfGE 4, 157 (170). 97 Vgl. Herdegen, JZ 1991, 747 (747) m.w. N.; Meßerschmidt, Gesetzgebungsermessen, S. 277 m.w. N. 94

50

C. Gubernative Entscheidungsspielräume in der Rechtsprechung

sen lässt sich in der Verfassungsrechtsprechung allenfalls für den Anwendungsbereich des Art. 68 GG nachweisen.

IV. Entscheidungsäquivalenz zwischen Legislative und Gubernative Entscheidungsspielräume, die das Bundesverfassungsgericht der Bundesregierung einräumt, weisen ihrer Herleitung, Begründung oder Bezeichnung nach häufig Parallelen zu solchen des Gesetzgebers auf. Teilweise erklärt es Entscheidungsspielräume der Legislative sogar ausdrücklich auf die Regierung für übertragbar. Prämisse für diese Übertragung ist ihre Ausgestaltung als „politische“ Gewalt, die sie funktional auf eine Stufe mit dem Gesetzgeber hebt. 98 Das Gericht stellt die Bundesregierung insoweit wiederholt in eine Reihe der „zu politischem Handeln berufenen Stellen“, denen gleichermaßen ein breiter Raum politischen Ermessens eingeräumt ist. 99 Unter dem Aspekt verfassungsrechtlicher Entscheidungsspielräume spricht es zumeist ganz neutral von den „zu politischem Handeln berufenen Organen“ 100 oder Verfassungsorganen 101, ohne dabei zwischen Gesetzgeber und Regierung zu differenzieren. Unter explizitem Verweis auf den Beurteilungsspielraum des Gesetzgebers bei Entscheidungen mit Prognosecharakter eröffnet es dem Bundeskanzler unter den gleichen Voraussetzungen analoge Spielräume. 102 An anderer Stelle erklärt es, das für die Gesetzgebungsorgane hinsichtlich des Wiedervereinigungsgebotes anerkannte politische Ermessen sei auch der Bundesregierung eingeräumt. 103 Diese Parallelen setzen sich auf der Kontrollebene fort, wenn das Gericht auf die im Mitbestimmungs-Urteil 104 zur Überprüfung von Gesetzen entwickelten Nachprüfungsmaßstäbe verweist und diese auch im Bereich der Exekutive für anwendbar erklärt. 105 Schließlich soll die Regierung außerhalb des Bereichs rechtlicher Maßstäbe und gerichtlicher Überprüfung ebenso politische Verantwortung tragen wie der Gesetzgeber. 106

98

BVerfGE 49, 89 (124 ff.); 68, 1 (89). BVerfGE 40, 141 (178); vgl. BVerfGE 55, 349 (365). 100 BVerfGE 5, 85 (128); vgl. BVerfGE 40, 141 (178); 68, 1 (89). 101 BVerfGE 25, 353 (363). 102 BVerfGE 62, 1 (50). 103 BVerfGE 36, 1 (17 f.). 104 BVerfGE 50, 290 (332 f.). 105 BVerfGE 77, 170 (171) LS. 2 lit. a) und 2 lit. b). 106 BVerfGE 49, 89 (125 f., 131). 99

VI. Kontrollmaßstäbe und Kontrolldichte

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V. Entscheidungsspielräume als objektiv-rechtliche Kompetenzgrenzen Die den Verfassungsorganen eingeräumten Entscheidungsspielräume dienen auch der Abgrenzung ihrer Kompetenzbereiche untereinander, beispielsweise zwischen den Kompetenzen des Bundeskanzlers, des Bundespräsidenten sowie des Bundestags im Verfahren nach Art. 68 Abs. 1 S. 1 GG. 107 In diesem Sinn sind sie Ausdruck von „je eigenen, kompetenzrechtlich abgesteckten Verantwortungsbereichen dieser Organe“. So muss der Bundespräsident bei der Prüfung der Verfassungsmäßigkeit der Vertrauensfrage des Bundeskanzlers dessen Beurteilung als mit dem Grundgesetz vereinbar hinnehmen, wenn nicht eine andere, die Auflösung verwehrende Einschätzung der politischen Lage, der Einschätzung des Bundeskanzlers eindeutig vorgezogen werden kann. 108 Soweit es an einem Außenbezug eines staatlichen Aktes überhaupt mangelt, umschreiben politisches Ermessen oder Gestaltungsfreiheit primär eine objektiv-rechtliche Abgrenzung von Kompetenzbereichen der Staatsorgane untereinander. 109

VI. Kontrollmaßstäbe und Kontrolldichte 1. Rechtsbindung der politischen Organe Das Ausfüllen von Entscheidungsspielräumen der Regierung ist unter Geltung des Grundgesetzes keine rechtsfreie Tätigkeit. In seinen Urteilen konkretisiert das Bundesverfassungsgericht die rechtlichen Bindungen speziell bei der Ermessensausübung seitens der Regierung: So dürfen politisches Ermessen und Beurteilungsoder Einschätzungsspielräume nur innerhalb verfassungsrechtlicher Grenzen bestehen. 110 Hierzu zählen verfassungsrechtliche Gebote und Pflichten ebenso wie die verfassungsrechtliche Kompetenzordnung. 111 Es besteht eine Gemeinwohlbindung aller politischen Staatsorgane. Daraus folgt, dass sie sich von Verfassung wegen ihren Aufgaben nach besten Kräften zu stellen haben. 112 Die Ermessensausübung 113 der Bundesregierung sowie die von ihr vorgenommenen Einschätzungen 114 haben pflichtgemäß zu erfolgen. Die jeweiligen Entscheidungsträger dürfen politisches Ermessen nicht durch willkürliche Handhabung missbrauchen. 115 Das 107 108 109 110 111 112 113 114

BVerfGE 62, 1 (50); a. A.: BVerfGE 62, 1 (112) Sondervotum Rinck. BVerfGE 62, 1 (51); 114, 121 (161). Vgl. Bauer, Gerichtsschutz, S. 147 (Fn. 213). BVerfGE 4, 157 (170); 36, 1 (15, 24); 62, 1 (51, 63). Vgl. BVerfGE 68, 1 (88 f.); 90, 286 (358 f.). BVerfGE 62, 1 (43). BVerfGE 62, 1 (112). BVerfGE 84, 90 (118); 94, 12 (36).

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C. Gubernative Entscheidungsspielräume in der Rechtsprechung

staatliche Neutralitätsgebot bzw. Zurückhaltungsgebot sowie der Verhältnismäßigkeitsgrundsatz gelten auch im Bereich der Staatsleitung. 116 Das Gericht sieht seine Prüfungskompetenz und Prüfungspflicht durch die jeweils zu respektierenden Spielräume zwar eingeschränkt, aber nicht beseitigt. 117 Regierungshandeln ist insoweit wenigstens auf Ermessensfehler hin überprüfbar. 118 Auch die der Bundesregierung anvertraute auswärtige Gewalt unterliegt − wie jede Ausübung öffentlicher Gewalt − den Bindungen des Grundgesetzes. 119 Gelegentlich zieht es bei Einschätzungen der Bundesregierung im außenpolitischen Bereich als zusätzlichen Prüfungsmaßstab auch die rechtlichen Bindungen aus den Bündnisverträgen heran. 120 Das Gericht betont gleichwohl mit großer Regelmäßigkeit, dass das Grundgesetz seiner Konzeption nach nur eine Rahmenordnung darstellt. Die Verfassung gebe beispielsweise für die angemessene Ausgleichung gegensätzlicher Grundrechtspositionen nur einen Rahmen, nicht aber bestimmte Lösungen vor. Bestimmte Anforderungen an die Art und das Maß des Schutzes ließen sich dem Grundgesetz daher nicht entnehmen. 121 Wohl habe dieses die Kontrolle politischer Herrschaft gewollt, nicht aber die Verrechtlichung des politischen Prozesses. 122 2. Rechtsbindung der Judikative Die Grenze der eigenen Nachprüfungskompetenz und damit zugleich den Übergang zu den Entscheidungsspielräumen der Regierung definiert das Bundesverfassungsgericht primär anhand der Dichotomie von Recht und Politik. Nahezu alle untersuchten Urteile sind durch eine Differenzierung zwischen rechtlichen und politischen Maßstäben bezüglich des Regierungshandelns gekennzeichnet. So ist von der „hochpolitischen Natur“ 123 völkerrechtlicher Verträge, von den politischen Staatsorganen 124, von „politischen Leitentscheidungen“ 125, „politischen Einschätzungen“ 126 und natürlich von „politischem Ermessen“ 127 die Rede. Das Gericht 115

BVerfGE 25, 352 (355). BVerfGE 105, 279 (309 f.). 117 BVerfGE 114, 121 (159). 118 BVerfGE 55, 349 (365). 119 BVerfGE 4, 157 (170); 104, 151 (207). 120 BVerfGE 68, 1 (103 f.). 121 BVerfGE 92, 26 (46). 122 BVerfGE 114, 121 (160); vgl. BVerfGE 36, 1 (14 f.). 123 BVerfGE 40, 141 (164). 124 BVerfGE 36, 1 (24); vgl. BVerfGE 12, 354 (363); 40, 141 (178); 49, 89 (131); 55, 349 (365). 125 BVerfGE 62, 1 (50, 108). 126 BVerfGE 62, 1 (51). 116

VI. Kontrollmaßstäbe und Kontrolldichte

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geht bei der Überprüfung von Entscheidungen der Regierung von dem Grundsatz aus, dass gerichtliche Nachprüfbarkeit das Vorhandensein greifbarer Maßstäbe voraussetzt. 128 Folglich könne es allein dort, wo „verfassungsrechtliche Maßstäbe für politisches Verhalten“ normiert sind, ihrer Verletzung entgegentreten. 129 Nur soweit diese vorhanden seien, könne Verhalten richtig oder unrichtig sein. 130 Politisches Verhalten allein könne sich dagegen später lediglich als „falsch kalkuliert“ herausstellen. 131 Mit dem Hinweis auf das „Politische“ und die Abwesenheit von Rechtsmaßstäben begründet es eine Reduzierung der gerichtlichen Kontrolle. So nehme das Grundgesetz durch die Einräumung von Spielräumen die verfassungsgerichtlichen Überprüfungsmöglichkeiten weiter zurück als in den Bereichen von Rechtsetzung und Normenvollzug. 132 Gerade in diesen Fällen sei es nicht Aufgabe der Gerichte, mit ihrer Einschätzung an die Stelle der dazu berufenen politischen Organe zu treten. 133 Sofern rechtliche Maßstäbe für politisches Verhalten nicht ersichtlich sind, verneint das Gericht seine Nachprüfungskompetenz. 134 Es sieht sich zu „aktivem politisch gestaltendem Handeln“ nicht berufen. 135 In diesem Sinn argumentiert es auch in seiner Entscheidung zum Grundlagenvertrag und betont zugleich erstmals, dass diese Beschränkung Ausdruck einer Verpflichtung auf den Grundsatz des „judicial self-restraint“ sei. 136 Darunter versteht das Gericht keine Verkürzung oder Abschwächung seiner Kompetenzen, sondern den Verzicht „Politik zu betreiben“ und in den von der Verfassung geschaffenen und begrenzten Raum freier politischer Gestaltung nicht einzugreifen. Er ziele darauf ab, den von der Verfassung für die anderen Verfassungsorgane garantierten Raum freier politischer Gestaltung offenzuhalten. 137 Teilweise relativiert das Gericht diese Betrachtungsweise, indem es feststellt, dass die Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts auf politische Realitäten bezogen seien und dass das Gericht nicht den politischen Raum außer Acht lassen dürfe, in dem sich seine Entscheidungen auswirkten. 138 Richterliche Tätigkeit lasse sich auch nicht auf ein Erkennen und Aussprechen von Entscheidungen des Gesetzgebers reduzieren. Rechtsprechung könne vielmehr erfordern, „Wertvorstellungen, die der verfassungsmäßigen Rechtsordnung immanent, aber in den Texten der geschriebenen 127 128 129 130 131 132 133 134 135 136 137 138

BVerfGE 1, 281 (282); 5, 85 (128 f.). BVerfGE 25, 352 (363). BVerfGE 62, 1 (51) (Hervorhebung im Original); 114, 121 (160). BVerfGE 68, 1 (97). BVerfGE 36, 1 (19). BVerfGE 62, 1 (51). Vgl. BVerfGE 49, 89 (131 f.). BVerfGE 40, 141 (179). BVerfGE 89, 38 (45). BVerfGE 35, 257 (262); 36, 1 (1) LS. 2. BVerfGE 36, 1 (14 f.). BVerfGE 1, 208 (259).

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C. Gubernative Entscheidungsspielräume in der Rechtsprechung

Verfassung nicht oder nur unvollkommen zum Ausdruck gelangt sind, in einem Akt des bewertenden Erkennens, dem auch willenhafte Elemente nicht fehlen, ans Licht zu bringen und in Entscheidungen zu realisieren“. 139 In seiner Entscheidung zum Mitbestimmungsgesetz 1976 differenziert das Bundesverfassungsgericht zwischen verschiedenen Kontrollmaßstäben, die es bei der Nachprüfung speziell von Prognosen des Gesetzgebers zugrunde legt. Es unterscheidet je nach Sachbereich zwischen einer Evidenzkontrolle, einer Vertretbarkeitskontrolle und einer intensivierten inhaltlichen Kontrolle. Die unterschiedliche Kontrolldichte hängt jeweils von Faktoren verschiedener Art ab, „im besonderen von der Eigenart des in Rede stehenden Sachbereichs, den Möglichkeiten, sich ein hinreichend sicheres Urteil zu bilden, und der Bedeutung der auf dem Spiel stehenden Rechtsgüter“. 140 An anderer Stelle erklärt es diese Stufung von Kontrolldichten auf die Kontrolle von Entscheidungen der Exekutive für anwendbar. 141 Regelmäßig unterzieht das Gericht das Verhalten der Bundesregierung lediglich einer Evidenz- und Willkürkontrolle, wenn dem in Frage stehenden Akt politisches Ermessen, Gestaltungsfreiheit oder eine Einschätzungsprärogative zugrunde liegt. Ermessensentscheidungen erklärt es nur dann für verfassungswidrig, wenn im Einzelfall eine evidente Verfassungsverletzung feststellbar und diese „unter keinem Gesichtspunkt“ mehr zu rechtfertigen ist 142 oder wenn die betreffende Entscheidung die verfassungsrechtlichen Grenzen des politischen Ermessens „offensichtlich“ 143 überschritten hat. Im Bereich der Außenpolitik beschränkt sich die Kontrolle inhaltlich auf eine Ergebniskontrolle anhand eines Evidenzmaßstabs. 144 Die Umsetzung verfassungsrechtlicher Schutzpflichten und Gebote beanstandet das Bundesverfassungsgericht in der Regel nur, wenn das betreffende Organ überhaupt nicht tätig geworden ist oder die getroffenen Maßnahmen „gänzlich ungeeignet oder völlig unzulänglich“ sind, das gebotene (Schutz-)ziel zu erreichen oder erheblich dahinter zurückbleiben. 145 In einigen Fällen des Auslandsschutzes deutscher Staatsbürger erfolgt durch die Verwaltungsgerichte eine quasi verwaltungsrechtliche Ermessensprüfung des Regierungshandelns. Das Bundesverwaltungsgericht und das Oberverwaltungsgericht Münster legen in ihren Urteilen jeweils den Verwaltungsaktsbegriff zugrunde und wenden die Ermessenfehlerlehre an. Danach unterliegt die Ablehnung oder 139

BVerfGE 34, 269 (287). BVerfGE 50, 290 (332 f.). 141 BVerfGE 62, 1 (50); 77, 170 (215); vgl. Schlaich / Korioth, BVerfG, Rn. 532. 142 BVerfGE 5, 85 (128). 143 BVerfGE 12, 45 (52); 36, 1 (17). 144 Schneider, NJW 1980, 2103 (2106, 2108) differenziert u. a. zwischen Verfahrensund Ergebniskontrolle. 145 BVerfGE 92, 26 (46); vgl. BVerfGE 55, 349 (366); 77, 170 (214 f.) m.w. N.; 88, 203 (251 ff., 254 f.). 140

VI. Kontrollmaßstäbe und Kontrolldichte

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Gewährung von Auslandsschutz einer Überprüfung hinsichtlich der Richtigkeit und Vollständigkeit der Sachverhaltsermittlung sowie auf Ermessensüberschreitung, Ermessensmissbrauch und Ermessensausfall. 146 Ein vergleichbar genaues Prüfungsprogramm findet sich ausnahmsweise auch in den einschlägigen Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts. 147 In den Entscheidungen zu Art. 68 GG beschränkt sich das Bundesverfassungsgericht nicht auf eine Ergebniskontrolle, sondern wendet ein mehrstufiges Prüfungsverfahren an und führt eine Verfahrenskontrolle durch, die weitgehend der verwaltungsgerichtlichen Ermessensprüfung entspricht. Es prüft zunächst das Vorliegen der Tatbestandsvoraussetzungen der Ermessensnorm. 148 Sind die Voraussetzungen erfüllt, untersucht es, ob der Bundeskanzler Ermessenserwägungen auch tatsächlich angestellt hat. 149 Das bedeutet, dass ähnlich wie im Verwaltungsrecht ein Ermessensausfall als Ermessensfehler denkbar ist. Inhaltliche Leitlinie der Ermessensüberprüfung ist das Erfordernis einer am Normzweck des Art. 68 GG orientierten Anwendung der Norm. 150 Soweit eine Verfahrenskontrolle erfolgt, fällt diese vergleichsweise streng aus. 151 Sie erstreckt sich im Bereich der Bundesregierung beispielsweise beim Umgang mit den Bundesländern sogar auf den Stil der Verhandlungen und das Procedere, welches unter dem Gebot des bundesfreundlichen Verhaltens steht. 152 Politische Einschätzungen sind ebenso wie Ermessensentscheidungen pflichtgemäß vorzunehmen. 153 Ähnlich wie bei der Ermessensprüfung beschränkt sich das Gericht hier aber auf eine Evidenz- und Willkürkontrolle. Den eigentlichen Einschätzungs- und Bewertungsvorgang verwirft es nur dann als verfassungswidrig, wenn er „offensichtlich völkerrechtswidrig“ 154 erfolgte oder wenn evident falsch gewertet wurde. 155 Ob auch andere Einschätzungen möglich sind, darüber habe das Bundesverfassungsgericht nicht zu befinden, jedenfalls dann nicht, wenn ein gegenteiliges Ergebnis der Einschätzung „nicht dringend und offenkundig“ nahe liege. 156 Die Einschätzung einer internationalen Verhandlungslage seitens der Bundesregierung könne nur beanstandet werden, wenn sich ihr bei den Verhandlun146 147 148 149 150 151 152 153 154 155 156

BVerwGE 62, 11 ff.; OVGE 34, 131 (135 f.). BVerfGE 55, 349 (367 f.). BVerfGE 62, 1 (35 f.). BVerfGE 62, 1 (63). BVerfGE 114, 121 (155). Vgl. dazu Schneider, NJW 1980, 2103 (2107). BVerfGE 12, 305 (257 ff.). BVerfGE 84, 90 (118, 128); 94, 12 (35, 43). BVerfGE 77, 137 (167); vgl. BVerfGE 55, 349 (367). BVerfGE 62, 1 (64). BVerfGE 68, 1 (107).

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C. Gubernative Entscheidungsspielräume in der Rechtsprechung

gen „aufdrängen“ musste, dass sie von falschen Voraussetzungen ausging. Allein in diesem Fall werde die Grenze zur Pflichtwidrigkeit und Verfassungswidrigkeit überschritten. 157 Auch in Fragen des Auslandsschutzes sei es nicht Sache der Gerichte, ihre Einschätzung möglicher Wirkungen bestimmter Schritte auf internationaler Ebene an die Stelle der Einschätzung durch die Organe der auswärtigen Gewalt zu setzen. Etwas anderes gelte allenfalls, wenn eine Einschätzung auch angesichts der für den Beschwerdeführer auf dem Spiel stehenden Verfassungsgüter unter keinem vernünftigen Gesichtspunkt mehr verständlich erschiene. 158 Ferner, wenn die Haltung der Bundesregierung auf einem offensichtlichen Rechtsirrtum oder einer willkürlichen Einschätzung der politischen Wirkung rechtlicher Argumente beruhe. 159 Im Rahmen des Art. 68 GG prüft das Bundesverfassungsgericht, ob der Bundeskanzler die Grenzen seines Einschätzungsspielraums nicht überschritten hat. Der Bundeskanzler muss seine Entscheidung auf Tatsachen stützen: „Die allgemeine politische Lage sowie einzelne Umstände müssen dabei allerdings nicht zwingend zur Einschätzung des Kanzlers führen, sondern sie lediglich plausibel erscheinen lassen.“ „Tatsachen, die auch andere Einschätzungen als die des Kanzlers zu stützen vermögen, sind nur dann geeignet, die Einschätzung des Bundeskanzlers zu widerlegen, wenn sie keinen anderen Schluss zulassen als den, dass die Einschätzung des Verlusts politischer Handlungsfähigkeit im Parlament falsch ist.“ 160 Neben dem Gegensatzpaar Recht-Politik zieht das Gericht in Einzelfällen auch die Funktionsgerechtigkeit 161 einer bestimmten Kompetenzordnung, den „Mechanismus der Gewaltenteilung“ 162 und die durch das Grundgesetz kompetenzrechtlich abgesteckten Verantwortungsbereiche der Staatsorgane zur Ablehnung einer uneingeschränkten Nachprüfungskompetenz heran. 163 Politisches Ermessen erscheint demnach als spezifischer Entscheidungsmodus, besonders des politischen Initiativbereichs, der auch unter funktionell-rechtlichen Gesichtspunkten nur einer eingeschränkten gerichtlichen Nachprüfung unterliegt. 3. Politische Kontrolle als Surrogat gerichtlicher Kontrolle Mit der durch das Gericht vorgenommenen Differenzierung zwischen verfassungsrechtlicher und politischer Betrachtung 164 korrespondiert ein Wechsel des 157 158 159 160 161 162 163 164

BVerfGE 94, 12 (35); vgl. BVerfGE 40, 141 (178); 66, 39 (61); 84, 90 (128). BVerfGE 55, 349 (368); BVerwGE 62, 1 (18). BVerfGE 55, 349 (367); 68, 1 (97); vgl. BVerwGE 62, 11 (17 f.). BVerfGE 114, 121 (160 f.); vgl. BVerfGE 62, 1 (52, 61 f.); 105, 279 (309 f.). Vgl. BVerfGE 55, 349 (368); 114, 121 (150). BVerfGE 114, 121 (159). BVerfGE 62, 1 (51); vgl. BVerfGE 36, 1 (14 f.); 114, 121 (160). Vgl. Laufer, Verfassungsgerichtsbarkeit, S. 430.

VII. Ergebnis

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Kontroll- und Sanktionsmodus. Während im Bereich des Rechts die gerichtliche Nachprüfung das maßgebliche Kontrollparadigma darstellt, tritt jenseits dieser Grenze, im Bereich der rechtlich nicht näher definierten Politik, die politische Verantwortung an deren Stelle. 165 Sie liegt allein bei den politischen Instanzen 166 oder den Verfassungsorganen 167, was der Wortlaut des Art. 65 GG bereits andeutet. Die parlamentarische Kontrolle legt diese „politische Verantwortlichkeit zugrunde und beurteilt die Richtigkeit nach der Zweckmäßigkeit und dem Erfolg“. 168 An die Stelle der gerichtlichen Überprüfung kann auch ein „System der gegenseitigen politischen Kontrolle und des politischen Ausgleichs zwischen den beteiligten politischen Verfassungsorganen“ treten. 169

VII. Ergebnis Insgesamt belegen die untersuchten Urteile, dass das Bundesverfassungsgericht der Gubernative ebenso wie dem Gesetzgeber Ermessensspielräume und Einschätzungsprärogativen zuerkennt, deren Ausfüllung es nur auf ein Mindestmaß an rationaler Nachvollziehbarkeit hin überprüft. Ansonsten wacht das Gericht primär über die Einhaltung der äußeren Schranken dieser Spielräume, insbesondere über ihre wechselseitige Respektierung im Verhältnis der politischen Verfassungsorgane untereinander. 170

165 166 167 168 169 170

BVerfGE 68, 1 (97); vgl. BVerfGE 114, 121 (148, 154). BVerfGE 36, 1 (18); 49, 89 (131 f.); 68, 1 (97). BVerfGE 25, 352 (363). BVerwGE 15, 63 (66). BVerfGE 62, 1 (51); vgl. BVerfGE 114, 121 (160). Lorz, Interorganrespekt, S. 463 f. m.w. N.

D. Ermessen im Allgemeinen Verwaltungsrecht I. Verfassungsrechtliche Fragen des Ermessens Gemäß Art. 20 Abs. 3 GG ist die vollziehende Gewalt an Gesetz und Recht gebunden. Diesem Grundsatz ist in umfassender Weise entsprochen, wenn das Gesetz in Tatbestand und Rechtsfolgen Voraussetzungen und Inhalt des behördlichen Handelns abschließend festlegt. 1 Man spricht in diesen Fällen von strenger Gesetzesbindung oder gesetzlich bestimmt gebundener Verwaltung. 2 Es ist zumindest idealtypisch nur eine Entscheidung, nur ein ganz bestimmtes Verhalten der Behörde zulässig; für eine Ermessensausübung bleibt kein Raum. 3 Gewisse Lebenssachverhalte lassen sich jedoch nur beschränkt vorausbestimmen. Deshalb verleiht der Gesetzgeber der Verwaltung hier eine stärker bestimmende Kompetenz. 4 In diesen Fällen kann Ermessen zu mehr Einzelfallgerechtigkeit beitragen, indem es die Behörde in die Lage versetzt, unter Berücksichtigung der gesetzlichen Zielvorstellungen (ratio legis) einerseits und der konkreten Umstände andererseits, eine dem Einzelfall angemessene und sachgerechte Lösung zu finden. 5 Der Gesetzgeber ist bei der Einräumung von Ermessen gehalten, eine möglichst klare und präzise Entscheidung zu treffen. Verfassungsrechtlich tragbar ist die Freistellung der Entscheidung, ob eine gesetzlich vorgesehene Rechtsfolge eintreten soll, nur dann, wenn dem Gesetz ein genau ermittelbarer Zweck zugrunde liegt, den die Verwaltung zur Grundlage ihrer Entscheidung machen kann. 6 Als rechtsstaatswidrig ist eine Ermächtigung hingegen anzusehen, wenn sie die Verwaltung zum Erlass belastender Verwaltungsakte ohne Einschränkung nach Inhalt, Gegenstand, Zweck und Ausmaß berechtigt; der Eingriff für den Staatsbürger also nicht mehr vorhersehbar und berechenbar ist. 7

1

Sachs, in: Stelkens / Bonk / Sachs, VwVfG, § 40 Rn. 12. Wolff / Bachof / Stober, VerwR I, § 31 Rn. 1, 5. 3 Sachs, in: Stelkens / Bonk / Sachs, VwVfG, § 40 Rn. 12; Ule, in: Ule / Laubinger, VwVfG, § 55 II Rn. 2. 4 Starck, in: FS-Sendler, S. 167 (172); Stern, Ermessen, S. 22 f.; vgl. Bauer, Gerichtsschutz, S. 120. 5 Maurer, Allg VerwR, § 7 Rn. 13; Starck, in: FS-Sendler, S. 167 (170 f.). 6 Erichsen, DVBl. 1985, 22 (26 f.); Meyn, JA 1980, 327 (327). 7 BVerfGE 8, 274 (325); 9, 83 (87); 13, 153 (160); 20, 150 (158). 2

II. Voraussetzungen und Inhalt des Ermessens

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II. Voraussetzungen und Inhalt des Ermessens Ermessen ist der Verwaltung eröffnet, wenn die Behörde bei Verwirklichung eines gesetzlichen Tatbestandes zwischen verschiedenen Verhaltensweisen wählen kann. Das Gesetz knüpft an den Tatbestand nicht eine Rechtsfolge, sondern ermächtigt die Verwaltung, aus Zweckmäßigkeitsgründen die Rechtsfolge selbst zu bestimmen. Es bietet ihr entweder zwei oder mehrere Verhaltensmöglichkeiten an oder weist ihr einen gewissen Verhaltensbereich zu. 8 Die Wahl der Verwaltung setzt erst ein, wenn der gesetzliche Tatbestand erfüllt ist. Ein Mangel am Gesetzestatbestand bedeutet eine Ermessenssperre. Eine Ermessensentscheidung setzt deshalb eine vorhergehende Subsumtion voraus, die sich ihrerseits als Akt der Rechtsanwendung darstellt. 9 Verhaltensoptionen der Verwaltung können sich in Ausnahmefällen aber auch im Umkehrschluss daraus ergeben, dass das Recht sie zur Erfüllung einer Aufgabe berechtigt oder verpflichtet, ohne abschließende Bindungen festzulegen (etwa bloße Zielvorgaben). Dann stellt sich die weitere Frage, ob sie trotz fehlender oder begrenzter Programmierung handeln darf – dies ist die Frage nach dem Gesetzesvorbehalt und seiner Ausfüllung. 10 Die Qualifizierung des Ermessens und sein Verhältnis zur einfachen Rechtsanwendung beurteilt die Rechtswissenschaft unterschiedlich: Aufgrund einer verfassungsrechtlichen Analyse kommen einige Autoren zu dem Schluss, dass vor allem die rechtsstaatlichen Grundsätze des Gesetzesvorbehalts und Gesetzesvorrangs eine strikte heteronome Determination des Ermessens verlangen und die Einführung autonomer Maßstäbe verbieten. 11 Sie qualifizieren das Verwaltungsermessen ebenso wie die Anwendung unbestimmter Rechtsbegriffe als Rechtsanwendung. 12 Auf Kritik stößt die der Verselbstständigung des Ermessens zugrunde liegende „scharfe Zäsur“ von Rechtmäßigkeit und Zweckmäßigkeit, welche mit dem materiell-rechtlichen Gesetzmäßigkeitsprinzip unvereinbar sei. Es gäbe keine Frage der Zweckmäßigkeit, die nicht zugleich eine Rechtsfrage wäre. 13 Rupp bezeichnet die Verortung des Ermessens als unter dem Gesetz liegende und durch das Gesetz bewirkte Dispensierung vom Gesetzeswillen als „rechtstechnischen Kunstgriff“. Es sei eine nicht nachvollziehbare Vorstellung 8

Maurer, Allg VerwR, § 7 Rn. 7 (Hervorhebung im Original); vgl. Merkl, Allgemeines Verwaltungsrecht, S. 151; Obermayer, BayVBl. 1975, 257 (257); Sachs, in: Stelkens / Bonk / Sachs, VwVfG, § 40 Rn. 13. 9 Ossenbühl, in: Erichsen / Ehlers, Allg VerwR (12. Aufl.), § 10 Rn. 6, 11. 10 Schmidt-Aßmann, in: Hoffmann-Riem, Grundlagen, § 10 Rn. 57. 11 Lohmann, Zweckmäßigkeit, S. 59 ff.; vgl. Krebs, Kontrolle, S. 74 ff. 12 So Rupp, Verwaltungsrechtslehre, S. 212. 13 Soell, Eingriffsverwaltung, S. 72, 74.

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D. Ermessen im Allgemeinen Verwaltungsrecht

anzunehmen, das Recht könne sich kraft seiner rechtlichen Geltung „in der Manier Münchhauses“ seiner Rechtsqualität entäußern und zum Betreten „rechtsleerer Räume“ ermächtigen. 14 Kaum zu überzeugen vermag jedoch der Lösungsvorschlag Rupps, der eine richterliche Korrektur „zur Vermeidung richterlicher Besserwisserei“ bereits durch die „Formung des Persönlichkeitsbildes des Richters“ garantiert wissen will. Letztlich reduziert er das Problem des Ermessens auf „Erziehungsmethoden, von denen allein eine Bewältigung des Problems einer taktvollen und behutsamen Rechtskontrolle einschließlich der Ermessenskontrolle“ 15 zu erwarten sei. Damit begibt er sich aus dem Rechtsraum heraus, den er andererseits so streng gewahrt wissen möchte. Er gibt dem Richter zugleich eine Macht an die Hand, die weder Art. 20 Abs. 3 GG noch seiner demokratischen Legitimation entspricht. 16 Die Elimination eines gerichtlich nur beschränkt kontrollierbaren Verwaltungsermessens greift außerdem in den Kernbereich des in Art. 20 Abs. 2 S. 2 GG verankerten Gewaltenteilungsprinzips ein. 17 Die überwiegende Lehre geht deshalb zutreffend von einem Aliud-Verhältnis zwischen Ermessen und rechtssatzmäßiger Bindung der Verwaltung aus. Ermessensausübung versteht sie als Gegensatz zur Subsumtion und begründet dies damit, dass das Gesetz, anders als beim Ermessen mit seiner typischen Wahlmöglichkeit, im Falle der Rechtsanwendung objektiv betrachtet einen bestimmten Sinn vorgebe und deshalb nur eine Entscheidung rechtlich richtig sein könne. 18 Historisch lässt sich diese Einordnung auf die ältere Literatur zurückführen, die generell im Gesetz nur die Schranke, nicht aber die notwendige Voraussetzung hoheitlicher Tätigkeit sah. So konnte das Ermessen als ein Bereich gelten, innerhalb dessen die Verwaltung außerhalb des Gesetzes handelte. Die Anerkennung des Prinzips des Gesetzesvorbehalts auf dem Gebiet hoheitlicher Freiheitseingriffe war mit dieser Deutung des Ermessens als jenseits des Gesetzes befindlichen, autonom auszufüllenden Spielraums allerdings nicht mehr vereinbar. Man behalf sich deshalb mit der Figur des vom Gesetz gedeckten Freiheitsspielraums. Ermessensausübung ist danach zwar nicht mehr „gesetzesfreies“, sondern „ge14 Rupp, Verwaltungsrechtslehre, S. 182. Ähnlich auch: v. Arnim, Gemeinwohl, S. 227 f. m.w. N.; Ibler, in: Berliner Kommentar, Art. 19 Abs. 4 Rn. 264 plädiert für eine gerichtliche Zweckmäßigkeitsprüfung; Lohmann, Zweckmäßigkeit, S. 59 ff.; Obermayer, BayVBl. 1975, 257 (260): Die immer noch verbreitete These, auch eine unzweckmäßige Entscheidung könne rechtmäßig sein, sei im demokratischen Rechtsstaat des Bonner Grundgesetzes nicht mehr akzeptabel; Soell, Eingriffsverwaltung, S. 65 ff.; vgl. bereits Kelsen, Allgemeine Staatslehre, S. 236 f. 15 Rupp, Verwaltungsrechtslehre, S. 212 (Hervorhebung im Original). 16 Bauer, Gerichtsschutz, S. 124. 17 Schenke, JZ 1988, 317 (323). 18 Vgl. Ossenbühl, DÖV 1968, 618 (619); kritisch: Jestaedt, in: Erichsen / Ehlers, Allg VerwR, § 10 Rn. 21.

III. Rechtliche Bindungen der Ermessensentscheidung

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setzesakzessorisches“ Handeln, „weil die Zulässigkeit der Wahl auf dem Gesetz beruht, mithin die schließlich getroffene Entscheidung vom Gesetzesinhalt mit umfasst ist.“ 19 Dieses Verständnis impliziert aber noch keine Gleichsetzung von Ermessen und Rechtsanwendung: Flume nannte es eine „grundsätzliche Verkennung dessen, was Recht ist“, das Handeln kraft eigener Entscheidung soweit der Entscheidungsspielraum reiche, hinsichtlich des „Wie“ des Handelns als dem Recht unterstellt zu behaupten. Damit könne allenfalls gesagt sein, dass die Legitimation und der Spielraum für das Handeln vom Recht konstituiert würden. Anders als beim Ermessen sei bei der Rechtsanwendung hinsichtlich der Rechtsfeststellung keine Willensäußerung mehr nötig. Dort, wo das Recht wirke, könne es „keine eigene Entscheidung mehr“ geben, da „das Recht“ hier entscheide. 20 Die Entgegensetzung von Ermessen und Rechtsanwendung basiert letztlich auf dem Grundgedanken, dass der Gesetzeszweck nicht zu einer völligen rechtlichen Determination der Ermessensentscheidung führt. Indem die Vorstellung juristischer Prädeterminiertheit staatlicher Entscheidungen sektoral aufgegeben und die Relevanz nichtjuristischer Kriterien anerkannt wird, fungiert Ermessen als partielle Durchbrechung der dem Recht eigenen Geschlossenheit. 21 In dem „final und modal heteronom determinierten Ermessensspielraum“ darf die Behörde „metajuristische (...) Maßstäbe“ als autonome Determinanten berücksichtigen. 22 Ermessen bildet auf diese Weise das „Einfallstor für das Schöpferische“, „die Pforte im Rechtsgebäude“ 23, durch die politische, wirtschaftliche, kulturelle und dienstherrschaftliche Belange oder Gesichtspunkte der Zweckmäßigkeit, kurz „Verwaltungszwecke“, in eine Entscheidung einfließen können. 24 Eine Verrechtlichung des Zweckmäßigen dergestalt, dass die Verwaltung mit der Folge rechtlicher Kontrolle zur Wahl des vergleichsweise zweckmäßigsten Mittels verpflichtet ist, findet nicht statt. 25

III. Rechtliche Bindungen der Ermessensentscheidung Dem Wortlaut nach geht Ermessen auf den Wortstamm Maß zurück. Ermessen bedeutet, Dinge nach einem Maß zu bemessen. Wer nach Ermessen handeln soll, 19

Vgl. die Darstellung bei Müller, DÖV 1969, 119 (122). Flume, in FS-Smend (1952), S. 59 (77). 21 Meßerschmidt, Gesetzgebungsermessen, S. 307 f. 22 Ossenbühl, Verwaltungsvorschriften, S. 321; vgl. Rhinow, Methodik, S. 58 f.; Stern, Ermessen, S. 26. 23 Merkl, Allgemeines Verwaltungsrecht, S. 152; vgl. Stern, Ermessen, S. 22. 24 Jesch, AöR 82 (1971), 163 (208 ff.); vgl. Engisch, ZGS 108 (1952), 385 (401); Mayer, Opportunitätsprinzip, S. 17 f.; Meßerschmidt, Gesetzgebungsermessen, S. 306. 25 Vgl. Lohmann, Zweckmäßigkeit, S. 20 m.w. N., 48. 20

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D. Ermessen im Allgemeinen Verwaltungsrecht

bedarf eines Bewertungsmaßstabs, der maßgebend ist und die Ermessenshandlung bindet. „Ermessen ist dadurch ein absolut verbindliches, qualitätsbezogenes Richtmaß eingestiftet.“ 26 Der Gesetzgeber bestimmt in mehreren Vorschriften, wie in § 40 VwVfG, 114 Abs. 1 S. 1 VwGO, 54 Abs. 2 S. 2 SGG, § 5 AO oder in § 28 Abs. 3 EGGVG, dass die Verwaltungsbehörde von ihrem Ermessen in einer dem Zweck der Ermessensermächtigung entsprechenden Weise Gebrauch zu machen hat. 27 Die Staatstätigkeit ist durch eine Kette von Werturteilen auf diese Zwecke gerichtet und sachlich gebunden. 28 Die gesetzliche Bindung der Ermessensentscheidung ergibt Anknüpfungspunkte der rechtlichen Disziplinierung nicht nur zur Bestimmung der Grenzen des Entscheidungskorridors, sondern auch zur Gewinnung von Maßstabskriterien. 29 Ermessen vermittelt weder Freiheit noch Beliebigkeit der Verwaltung. Auch das noch so freie Ermessen bleibt immer pflichtmäßiges Ermessen und darf nur in strenger Bindung an die Ziele des Gesetzes betätigt werden, in dessen Vollzug die Verwaltung handelt. 30 Der jeweilige Normzweck steht nicht zur Disposition. Die Normen des Gesetzes sind für das Ermessen unübersteigbar. Die Frage nach den Grenzen des Ermessensraums ist deshalb keine Ermessens-, sondern eine Rechtsfrage. 31 Sinn der Zweckbindung ist es, den Einfluss der Verwaltung auf die Normsetzung und Normgestaltung zu beschränken. Die durch die Ermessensermächtigung gewährte Wahlfreiheit soll lediglich den gesetzgeberischen Willen ergänzen, ihn aber nicht ersetzen. 32 Eine Ausübung der Wahlfreiheit zu Zwecken, die durch das Gesetz nicht gedeckt sind, wäre nicht Vollendung, sondern bereits Umgestaltung des gesetzgeberischen Willens und damit eine funktionswidrige Verwendung der eingeräumten Wahlfreiheit. Die Beteiligung der Verwaltung an der Normgestaltung ist gesetzesakzessorisch im Sinn einer Vollendung der von dem betreffenden Gesetzgeber vorgezeichneten Regelung. Die Aufnahme von Ermessensermächtigungen in gesetzliche Vorschriften bedeutet daher keineswegs die Anerkennung der Verwaltung als Gesetzgebungsorgan. Sie tritt nicht an die Stelle des Gesetzgebers, sondern ist lediglich „Nutznießerin“ einer aus übergeordneten Gesichtspunkten getroffenen Entscheidung. 33 Die Verwaltung ist allein zur „Maßstabsergänzung“ 34 26

Stern, Ermessen, S. 16 f. Jesch, AöR 82 (1971), 163 (210) mit Beispiel. 28 Maurer, Allg VerwR, § 7 Rn. 17; Kopp / Ramsauer, VwVfG, § 40 Rn. 48. 29 Schmidt-Aßmann, in: Hoffmann-Riem, Grundlagen, § 10 Rn. 69. 30 BVerfGE 14, 105 (114); 18, 353 (363); 49, 89 (147); Bettermann, AöR 96 (1975), 528 (539); Maunz, DÖV 1981, 497 (498); Menger, DVBl. 1957, 683 (684); Peine, Allg VerwR, § 4 I Rn. 214. 31 Jesch, AöR 82 (1971), 163 (211); vgl. Poscher, in: Hoffmann-Riem, Grundlagen, § 8 Rn. 61. 32 Höger, Zweckbestimmungen, S. 63; vgl. Di Fabio, in: FS-Hoppe, S. 75 (81); Schenke, JZ 1988, 317 (323). 33 Schmidt-Salzer, VerwArch 60 (1969), 261 (277). 27

IV. Folgerungen für die Nachprüfung von Ermessensentscheidungen

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berufen, die als rechtlicher Auftrag in rechtlichen Bahnen und unter Berücksichtigung des Zwecks der Ermächtigung erfolgt. 35 Es handelt sich bei Ermessen zwar um eigenverantwortliche, aber gesetzlich gelenkte Zweckmäßigkeitsentscheidungen der Verwaltung. 36

IV. Folgerungen für die gerichtliche Nachprüfung von Ermessensentscheidungen Auch die Gerichte sind gemäß Art. 20 Abs. 3 GG an die „Gesetze“ gebunden und auf eine Prüfung am Maßstab dieser Gesetze beschränkt. 37 Zur Überprüfung der nicht im Recht enthaltenen Vorgaben sind sie dagegen nicht ermächtigt. 38 Soweit der Gesetzgeber der Verwaltung in Grenzen zu bestimmen erlaubt, welche der gleichermaßen rechtmäßigen Entscheidungen für den betreffenden Einzelfall verbindlich sein soll, ist der Behörde ein Spielraum zu letztverbindlicher Wahl und Entscheidung im Rahmen der durch die normative Handlungsermächtigung vorgegebenen Zweckbestimmung eingeräumt. 39 Lässt das Gesetz mehrere rechtlich „richtige“ Entscheidungen zu, muss das Gericht jede dieser Entscheidungen als rechtmäßig anerkennen. 40 Der Ermessensspielraum der Verwaltungsbehörde beschränkt die Reichweite der gerichtlichen Nachprüfungsbefugnis: 41 „Wer bloße Rechtskontrolle ausüben darf, ist auf die Überprüfung der Grenzen verwiesen, die den Ermessensspielraum umgeben.“ Was innerhalb dieser Schranken geschehen ist, darf nicht interessieren. Der Rechtskontrolleur hat sich nicht in die „vertretbaren“, vom gegebenen Rechtsganzen als indifferent beurteilten, Entscheidungen der Vorinstanz einzumischen. 42 Andernfalls würde das durch den Ermessensspielraum der Verwaltungsbehörde eingeräumte Recht der eigenverantwortlichen Entscheidungsauswahl verletzt. 43 Aus der Bindung der Verwaltungsorgane an die Grenzen des Ermessens − insbesondere an den Zweck des Gesetzes − ergeben sich die verwaltungsgerichtlich nachprüfbaren Ermessensfehler. Jede Überschreitung der Ermessensgrenzen 34

Schmidt-Aßmann, in: Hoffmann-Riem, Grundlagen, § 10 Rn. 45. Bettermann, Der Staat 1 (1961), 79 (85). 36 Fleiner, Institutionen, S. 143 f. 37 Bauer, Gerichtsschutz, S. 120, 123. 38 Schmidt-Aßmann, in: Hoffmann-Riem, Grundlagen, § 10 Rn. 88. 39 Starck, in: FS-Sendler, S. 167 (167); vgl. v. Mutius, Jura 1997, 92 (97); SchmidtSalzer, Beurteilungsspielraum, S. 8 f.; Smeddinck, DÖV 1998, 370 (373); Stern, Ermessen, S. 19 f. 40 Rhinow, Methodik, S. 58 f. m.w. N.; vgl. Di Fabio, in: FS-Hoppe, S. 75 (77). 41 Schmidt-Salzer, Beurteilungsspielraum, S. 8 f. 42 Rhinow, Methodik, S. 179; vgl. BVerwGE 15, 63 (66). 43 Rhinow, Methodik, S. 58 f. m.w. N.; Di Fabio, in: FS-Hoppe, S. 75 (77). 35

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D. Ermessen im Allgemeinen Verwaltungsrecht

ist ein Rechtsverstoß. 44 Die Ermessensfehlerlehre vollbringt gewissermaßen „das Kunststück“, den zuvor freigegebenen und als rechtsfrei erscheinenden Bereich teilweise für die Rechtskontrolle zurückzugewinnen. 45 Für die Systematisierung von Ermessensfehlern gibt es eine Reihe von Modellen. 46 Eingebürgert hat sich eine Dreiteilung, die zwischen Ermessensausfall, Ermessensüberschreitung und Ermessensmissbrauch unterscheidet. Abgrenzung und Terminologie sind aber nicht immer einheitlich. 47 Ein Ermessensausfall liegt vor, wenn die Behörde ein gesetzlich eingeräumtes Ermessen − auch nur teilweise − nicht betätigt. 48 Eine Ermessensüberschreitung ist gegeben, wenn sie den äußeren Rahmen der Ermächtigungsnorm überschreitet, indem sie beispielsweise eine nicht mehr im Rahmen der Ermessensvorschrift liegende Rechtsfolge wählt. 49 Der Gesetzeszweck begrenzt den Kreis zulässiger sachlicher Ermessenserwägungen. 50 Die Behörde darf die Ermessensentscheidung nicht auf sachfremde Erwägungen stützen, die nach Sinn und Zweck des Gesetzes oder aufgrund allgemeiner Rechtsgrundsätze bei der Entscheidung keine Rolle spielen dürfen 51 (§ 114 S. 1 VwGO). Macht die Verwaltung von ihrem Ermessen einen sachwidrigen oder willkürlichen Gebrauch oder übt sie ihr Ermessen nicht im Sinn des Gesetzes aus, so liegt Ermessensmissbrauch vor. 52 Die Polizei darf etwa Bußgelder nur zur Erreichung polizeilicher Zwecke verhängen und nicht zur Sanierung des Staatshaushalts. 53 Ermessensentscheidungen sind auch rechtswidrig, wenn sie zur Erreichung des gesetzlich zulässigen Ziels ungeeignet sind, sich nicht als erforderlich erweisen (Prinzip des Interventionsminimums) oder im Verhältnis zu dem angestrebten Zweck den Adressaten unangemessen belasten (Grundsatz der Verhältnismäßigkeit im engeren Sinn). 54 Keinen Ermessensfehler stellen unzweckmäßige Entscheidungen dar. Eine Entscheidung ist nicht deshalb rechtswidrig, weil ein anderes Ergebnis sinnvoller oder besser gewesen wäre. Unzweckmäßige oder „schlechte“ behördliche Entscheidungen sind zwar „verwaltungswidrig“ 55, aber rechtlich zulässig. 56 44

Sachs, in: Stelkens / Bonk / Sachs, VwVfG, § 40 Rn. 53, 55. Meßerschmidt, Gesetzgebungsermessen, S. 307 f. 46 Vgl. auch: Alexy, JZ 1986, 701 ff.; Bleckmann, Ermessensfehlerlehre, S. 206 ff. 47 Ossenbühl, in: Erichsen / Ehlers, Allg VerwR (12. Aufl.), § 10 Rn. 15. 48 Sachs, in: Stelkens / Bonk / Sachs, VwVfG, § 40 Rn. 77 f.; vgl. Maurer, Allg Verw, § 7 Rn. 21. 49 Maurer, Allg VerwR, § 7 Rn. 20; Sachs, in: Stelkens / Bonk / Sachs, VwVfG, § 40 Rn. 75. 50 Ossenbühl, in: Erichsen / Ehlers, Allg VerwR (12. Aufl.), § 10 Rn. 18. 51 Kopp / Ramsauer, VwVfG, § 40 Rn. 63; Wolff / Bachof / Stober, VerwR I, § 31 Rn. 62. 52 Held, in: FS-Kraus, S. 123 (130). 53 Vgl. Fleiner, Institutionen, S. 146 (Fn. 11). 54 v. Mutius, Jura 1997, 92 (100); Sachs, in: Stelkens / Bonk / Sachs, VwVfG, § 40 Rn. 85. 55 Held, in: FS-Kraus, S. 123 (135) (Hervorhebung im Orignial). 56 Merkl, Allgemeines Verwaltungsrecht, S. 156. 45

V. Kategorisierung administrativer Letztentscheidungsrechte

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Eine Kontraktion des Verhaltensspielraums kann sich ausnahmsweise im Falle der Ermessensreduzierung auf Null (exogener Faktor) oder einer Selbstbindung der Verwaltung (endogener Faktor) ergeben. 57

V. Ansätze und Kritik einer Kategorisierung administrativer Letztentscheidungsrechte 1. Ermessen und unbestimmter Rechtsbegriff Bis heute ist umstritten, ob nur das auf der Rechtsfolgenseite einer Norm auftauchende und deshalb als „Rechtsfolgeermessen“ (Verhaltensermessen, volitives Ermessen) bezeichnete Ermessen diesen Namen verdient oder ob auch unbestimmte Rechtsbegriffe im Tatbestand einer Norm Gegenstand von Ermessensentscheidungen sein können und ein kognitives Beurteilungs- oder Erkenntnisermessen anzuerkennen ist. 58 In Anlehnung an Bachhof 59, der das Verwaltungsermessen als „Willensentscheidung“ allein auf der Rechtsfolgenseite der Norm ansiedeln will, lehnt die herrschende Lehre ein kognitives Tatbestandsermessen traditionell ab. 60 Es liege zwar in der Natur der unbestimmten Rechtsbegriffe, dass ihr Sinngehalt nicht offenkundig sei und durch Auslegung ermittelt werden müsse. 61 Da die Behörde bei ihrer Entscheidung an durch unbestimmte Rechtsbegriffe normierte, tatbestandliche Voraussetzungen gebunden sei, müsse sie aber unter diese Begriffe subsumieren. Dabei handele es sich um eine andere gedankliche Prozedur als beim echten (Rechtsfolge-) Ermessen. 62 Während beim Ermessen mehrere rechtlich zulässige Verhaltensweisen existierten und ein volitiver Vorgang, nämlich eine Auswahl zwischen den Optionen erforderlich werde, sei beim „unbestimmten Rechtsbegriff“ in der Regel nur eine Entscheidung richtig und rechtlich zulässig. Sie sei durch Rechtsanwendung, d. h. durch einen Erkenntnisakt zu ermitteln. Es gehe hier nicht um zweckmäßiges Handeln in rechtlichen Grenzen, sondern um das Finden der richtigen, vom Gesetz „gewollten“ Lösung. Die Richtigkeit der Entscheidung lasse sich im Gegensatz zur Ermessensentscheidung im Wege 57

Achterberg, DVBl. 1967, 213 (216). Bachhof, JZ 1972, 641 (642); vgl. zu den Begriffen auch: Reuss, DVBl. 1953, 585 (586). 59 Bachhof, JZ 1955, 97 ff. 60 Henneke, in: Knack, VwVfG, § 40 Rn. 26; Kellner, DÖV 1969, 309 (310); Maurer, Allg VerwR, § 7 Rn. 55; v. Mutius, Jura 1987, 92 (93); Ossenbühl, in: Erichsen / Ehlers, Allg VerwR (12. Aufl.), § 10 Rn. 46; Redeker, DÖV 1971, 757 (757); Reuss, DVBl. 1953, 585 (586 f.); Sachs, in: Stelkens / Bonk / Sachs, VwVfG, § 40 Rn. 33. 61 Henneke, in: Knack, VwVfG, § 40 Rn. 17. 62 Bachof, JZ 1972, 641 (644) (Hervorhebung im Original). 58

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D. Ermessen im Allgemeinen Verwaltungsrecht

einer nachvollziehenden Gerichtskontrolle zweifelsfrei feststellen. 63 Im Vergleich zu Ermessensermächtigungen stelle der unbestimmte Rechtsbegriff deshalb ein „aliud“ 64 dar, welches sich qualitativ vom Ermessen unterscheide. Eine wachsende Minderheit von Staatsrechtslehrern ebnet die Unterschiede zwischen unbestimmten Rechtsbegriffen auf der Tatbestandsebene und dem Ermessen hinsichtlich der Rechtsfolge ein 65 und stellt dabei auf die vergleichbare Struktur der Entscheidungsfindung sowie auf die ähnliche Fehlertypologie ab. 66 Die Kriterien „Erkenntnis“ auf der einen und „Willensentschluss“ auf der anderen Seite bzw. „kognitiv“ und „volitiv“ erwiesen sich angesichts der Lückenhaftigkeit der Rechtsordnung gerade im Bereich der unbestimmten Rechtsbegriffe für eine Grenzziehung als ungeeignet. Im Lückengebiet seien sowohl kognitive als auch volitive Denkelemente anzutreffen. 67 Die Differenzierung zwischen Beurteilungsspielraum und Tatbestandsermessen habe sich deshalb als „Scheinlösung“ 68 erwiesen. Beide Institute erfüllten weitgehend austauschbare Funktionen. Es bestehe „funktionale Äquivalenz“; die Unterschiede seien allenfalls quantitativer Natur. 69 Gegen eine Gleichsetzung von unbestimmten Rechtsbegriffen und Ermessen spricht zunächst, dass der Umgang mit Auslegungs- oder Konkretisierungsoptionen in den Rechtsbegriffen im Rechtsstaat des Grundgesetzes eine „originäre Funktion der rechtsprechenden Gewalt“ und nicht der Exekutive ist. 70 Im Auslegungsstadium einer Norm sind zwar möglicherweise mehrere Entscheidungen nebeneinander denkbar („Auslegungstoleranz“). Rechtmäßig und vom Gesetz gedeckt, ist eine Entscheidung dagegen nur, wenn dem Rechtsanwender insoweit auch ein Recht zukommt, einen unvollständigen gesetzgeberischen Akt zu ergänzen („Ergänzungsrecht“). 71 Wenig erträglich wäre die Vorstellung, wenn bei der auf die Auslegung folgenden Subsumtion eines Sachverhaltes unter einen gesetzlichen Tatbestand zwei einander ausschließende Subsumtionsergebnisse in 63 BVerwGE 12, 359 (363); 21, 184 (186); 35, 69 (73); Jesch, AöR 82 (1971), 163 (211 f.); Ossenbühl, DÖV 1968, 618 (620); Reuss, DVBl. 1953, 585 (586). 64 Schmidt-Salzer, Beurteilungsspielraum, S. 18; vgl. Reuss, DVBl. 1953, 585 (585 f.). 65 Brinktrine, Verwaltungsermessen, S. 554 f.; Bullinger, JZ 1984, 1001 (1009); Herdegen, JZ 1991, 747 (748); Schenke, JZ 1988, 317 (323); Schmidt-Aßmann, VVDStRL 34 (1976), 221 (252 f.); Scholz, VVDStRL 34 (1976), 145 (167); Starck, in: FS-Sendler, S. 167 (168 f.); Stettner, DÖV 1984, 611 (617). 66 Brenner, Gestaltungsauftrag, S. 412; Herdegen, JZ 1991, 747 (750). 67 Soell, Eingriffsverwaltung, S. 88 f. m.w. N., 94. 68 Scholz, VVDStRL 34 (1976), 145 (167). 69 Smeddinck, DÖV 1998, 370 (373); vgl. Herdegen, JZ 1991, 747 (748, 751). 70 Papier, DÖV 1986, 621 (624); vgl. Bachhof, JZ 1955, 97 (99); Ossenbühl, DÖV 1972, 401 (403); Schmidt-Aßmann, in: Maunz / Dürig, GG, Art. 19 Abs. 4 Rn. 183. 71 Ossenbühl, DÖV 1972, 401 (403) m.w. N.; vgl. Poscher, in: Hoffmann-Riem, Grundlagen, § 8 Rn. 61.

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gleicher Weise rechtmäßig sein könnten. Ein Sachverhalt ist entweder ein von einem bestimmten Tatbestand erfasster Fall oder er ist es nicht. 72 Die durch einen unbestimmten Rechtsbegriff im Gesetzestatbestand aufgeworfene, im konkreten Fall sich stellende Frage, beispielsweise nach der „Zuverlässigkeit“ eines Gewerbetreibenden, lässt sich logischerweise nur mit einem Ja oder einem Nein beantworten. 73 Ob das eine oder das andere der Fall ist, mag im Einzelfall schwierig zu bestimmen sein. Es wäre aber unzulässig, diese Entscheidung einfach nach Zweckmäßigkeitsgesichtspunkten zu treffen. Ferner ist die im Lichte eines umfassenden Rechtsschutzes zu verstehende Rechtsschutzgarantie des Art. 19 Abs. 4 GG nur dann von substantiellem Wert, wenn sich die richterliche Überprüfung auch auf die Anwendung unbestimmter Rechtsbegriffe erstreckt. Die Gesetzesbindung der Verwaltung verlangt, dass nur dort, wo der Gesetzgeber der Verwaltung einen Spielraum bei der Anwendung des Gesetzes einräumt, auch tatsächlich ein solcher besteht. 74 Allein die Verwendung unbestimmter, unvollständig determinierter Rechtsbegriffe durch den Gesetzgeber führt aber noch nicht zu dem Ergebnis, dass auf dieser Grundlage getroffene Entscheidungen gleichsam rechtmäßig und dem Zugriff einer auf Korrektur von Rechtsfehlern verpflichteten Rechtsprechung entzogen sind. 75 Der Gesetzgeber muss vielmehr in den durch Gesetzesvorbehalt und Bestimmtheitsgrundsatz gesetzten Grenzen ausdrücklich einen solchen Spielraum der Verwaltung durch normative Ermächtigung geschaffen haben („normative Ermächtigungslehre“). 76 Nicht das negative Kriterium fehlender Bestimmtheit darf zur Annahme eines Beurteilungsspielraums führen, sondern das positive, im Einzelfall nachzuweisende, Kriterium der normativen Ermächtigung. 77 Nur unter diesen Voraussetzungen darf der Verwaltung ein gerichtsfreier „Beurteilungsspielraum“ 78 bei der Subsumtion unter einen unbestimmten Rechtsbegriff eingeräumt sein, der lediglich einer Überprüfung auf Einhaltung bzw. Überschreitung seiner Grenzen unterliegt. 79

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Ossenbühl, DÖV 1968, 618 (620); vgl. Obermayer, BayVBl. 1975, 257 (259). Koch, Ermessensermächtigungen; vgl. v. Laun, Das freie Ermessen, S. 60. 74 Bauer, Gerichtsschutz, S. 127 f. m.w. N., 137. 75 BVerfGE 84, 34 (49 f.); Badura, in: FS-Bachof, S. 169 (176); Kopp / Ramsauer, VwVfG, § 40 Rn. 73. 76 BVerfGE 61, 82 (111); Schmidt-Aßmann, in: Maunz / Dürig, GG, Art. 19 Abs. 4 Rn. 185; vgl. Pieroth / Kemm, JuS 1995, 780 (781); Schenke, JZ 1988, 317 (323 f.); Voßkuhle, JuS 2008, 117 (118). 77 Schmidt-Aßmann / Groß, NVwZ 1993, 617 (621). 78 Dieser Begriff geht auf Bachof zurück: Bachof, JZ 1955, 97 (100). 79 Zu den anerkannten Fallgruppen und Kontrollprogrammen vgl. Voßkuhle, JuS 2008, 117 (118). 73

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D. Ermessen im Allgemeinen Verwaltungsrecht

2. Weitere Kategorisierungsansätze Auch außerhalb der traditionellen Streitfrage nach der Klassifizierung von Beurteilungsspielräumen und Ermessen gibt es auf verwaltungsrechtlicher Ebene Bestrebungen, verschiedene Ermessenstypen bzw. sogar eigenständige Entscheidungsspielräume zu unterscheiden. Diese Ansätze sind aufgrund ihrer Parallelen mit der Diskussion im Regierungsbereich von Interesse. Entscheidungsvorgänge in den Bereichen der Planung und der Regierung weisen häufig vergleichbare Strukturen auf, weshalb einige Argumente möglicherweise übertragbar sind. Sie verdeutlichen auch, dass die Argumentationslinien bei der Qualifizierung von Entscheidungsspielräumen nicht nur organ- bzw. gewaltenübergreifend, sondern auch rechtsgebietsübergreifend verlaufen. a) Planungsermessen Von zentraler Bedeutung ist dabei das sog. Planungsermessen. Teile der Rechtswissenschaft bescheinigen diesem eine gegenüber dem „klassischen“ Verwaltungsermessen im engeren Sinn qualitativ eigenständige Struktur 80 und bringen dies dadurch zum Ausdruck, dass sie von „Gestaltungsfreiheit“ 81 oder von „planerischer Gestaltungsfreiheit“ 82 sprechen. Die unterschiedlichen Strukturgesetzlichkeiten seien mit dem Begriff des „Planungsermessens“ nur unzureichend beschreibbar, weshalb dieser Terminus zu vermeiden sei. 83 Während bei den herkömmlichen Verwaltungsentscheidungen der größte Teil der gesellschaftlichen Interessenkonflikte bereits durch den Gesetzgeber in der Aufstellung der Tatbestandsvoraussetzungen und der Anordnung bestimmter Rechtsfolgen entschieden werde, sei die Planung durch eine komplexe Entscheidungssituation gekennzeichnet: Planerische Entscheidungen müssten zahlreiche miteinander kollidierende öffentliche und private Interessen berücksichtigen und zum Ausgleich bringen (Interdependenz aller Planungselemente). Zugleich fehlten allgemein anerkannte Maßstäbe und ein geschlossenes Maßstabssystem für die Planungstätigkeit. Für die mannigfachen Notwendigkeiten und Bedürfnisse, die die Planung bewältigen müsse, gebe es keine allgemein als gültig anzusehende Rangordnung. Innerhalb dieses Geflechts von Interessen und Planungselementen beruhe deshalb das Planungser80

Hoppe, in: FS-v. Unruh, S. 555 (558); ders., DVBl. 1974, 641 (644); Ossenbühl, Verwaltungsvorschriften, S. 199; Wolff / Bachof / Stober, VerwR I, § 31 Rn. 71; Voßkuhle, JuS 2008, 117 (119). 81 BVerwGE 34, 301 (304); 62, 86 (93); 84, 123 (131); Hoppe, in: FS-Scupin (1973), S. 121 (124). 82 BVerwGE 34, 301 (304); 48, 56 (59); 55, 220 (226); differenzierend: Jarass, DVBl. 1998, 1202 (1203). 83 BVerwGE 55, 220 (225 f.): „Planung ohne Planungsfreiheit“ wäre „ein Widerspruch in sich“; vgl. Badura, Staatsrecht, D Rn. 62; Hoppe, in: FS-v. Unruh, S. 555 (558); dens., DVBl. 1974, 641 (644).

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gebnis maßgeblich auf der gestaltenden, auch von außerrechtlichen Erwägungen bestimmten, Rationalität des Planers. 84 Das Projekt des Planes „ist in erster Linie eine Frage des politischen Wollens und Wertens“. 85 Der Unterschied zwischen planerischer Gestaltungsfreiheit und Verwaltungsermessen soll zudem auf der unterschiedlichen Programmierung in Form einer finalen anstelle der sonst üblichen konditionalen Normstruktur beruhen. Final strukturierte Planungsnormen eröffneten eine wesentlich größere Anzahl von zulässigen Entscheidungsmöglichkeiten mit anderer Qualität der Gestaltung in die Zukunft, als Rechtsnormen mit Konditionalcharakter. 86 Da vielfach nur Leitbilder in den Zielprogrammen angegeben seien, sei die Planung durch Zielfindungs- und Zielrevisionsprozesse bestimmt. 87 Planerische Entscheidungen seien nicht durch subsumtionären Nachvollzug vorgegebener abstrakter Entscheidungen, sondern nur durch gestaltende, wenn auch rechtlich dirigierte, Initiative, Dezision und Abwägung zu realisieren. Die Planungsentscheidung bedeute folglich maßstabsetzende und -anwendende Zweckverwirklichung im Rahmen gesetzlicher Ziel- und Mitteldirektiven. 88 Diese strukturgesetzlichen Besonderheiten von Planungsnormen und Planungsentscheidungen wirkten sich auch auf die Kontrolldichte, nämlich den Umfang und die Intensität der gerichtlichen Nachprüfungsbefugnis, aus. 89 Auch Analogien zum gesetzgeberischen Ermessen schließen einige Autoren nicht aus. 90 Das Bundesverwaltungsgericht versteht Planungsentscheidungen als besondere Abwägungsentscheidungen, die einer gerichtlichen Kontrolle nur eingeschränkt zugänglich sind. Dementsprechend zieht es ein spezifisches Prüfungsprogramm heran, welches sich von der herkömmlichen verwaltungsrechtlichen Ermessensfehlerlehre unterscheidet. Innerhalb eines Rahmens ist insbesondere das „Vorziehen und Zurücksetzen bestimmter Belange überhaupt kein nachvollziehbarer Vorgang der Abwägung, sondern eine geradezu elementare planerische Entschließung, die

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Brohm, Öffentliches Baurecht, § 11 Rn. 2; Hoppe, in: FS-Scupin (1973), S. 121 (123, 126 f.); ders., in: FS-v. Unruh, S. 555 (558); Weyreuther, DÖV 1977, 419 (419, 421). 85 BVerwGE 98, 339 (346); vgl. Di Fabio, in: FS-Hoppe, S. 75 (85). 86 Brohm, DVBl. 1986, 321 (327); Hoppe, in: FS-Menger, S. 747 (774); ders. DVBl. 1974, 641 (643); Kopp / Ramsauer, VwVfG, § 40 Rn. 102; v. Mutius, Jura 1997, 92 (101); vgl. v. Danwitz, Gestaltungsfreiheit, S. 174; Schulze-Fielitz, Jura 1992, 201 (208); a. A.: Di Fabio, in: FS-Hoppe, S. 75 (95): „Weder die Unterscheidung von Final- und Konditionalrechtssätzen, noch diejenige von Regeln und Prinzipien läßt sich über deskriptive Gewinne hinaus normativ zu einer eigenständigen Lehre von der Struktur planungsrechtlicher Vorschriften weiterentwickeln.“; differenzierend: Papier, NJW 1977, 1714 (1715). 87 Hoppe, DVBl. 1974, 641 (644); ähnlich: Weyreuther, DÖV 1977, 419 (421). 88 Hoppe, DVBl. 1974, 641 (644 f.); Meßerschmidt, Gesetzgebungsermessen, S. 290; v. Mutius, Jura 1987 92 (101); Ossenbühl, in: FS-Redeker, S. 55 (60); Pache, Abwägung, S. 31; vgl. Maurer, Allg VerwR, § 7 Rn. 63. 89 Ossenbühl, in: Erichsen / Ehlers, Allg VerwR (12. Aufl.), § 10 Rn. 43 f. 90 Schröder, DÖV 1975, 308 (310); a. A.: Schenke, in: BK-GG, Art. 19 Abs. 4 Rn. 333.

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D. Ermessen im Allgemeinen Verwaltungsrecht

zum Ausdruck bringt, wie und in welcher Richtung sich eine Gemeinde städtebaulich geordnet fortentwickeln will.“ 91 Der dem Planungsermessen zugrunde liegende Abwägungsvorgang ist herkömmlich nur auf Abwägungsausfall, -defizit, -fehlgebrauch, -fehleinschätzung sowie auf Abwägungsdisproportionalität hin überprüfbar. 92 Insoweit bestehen zwar durchaus Parallelen zum richterlichen Kontrollprogramm beim Verwaltungsermessen. Eine Ermessensreduzierung auf Null kommt − im Gegensatz zum „klassischen Ermessensbereich“ − beim Planungsermessen aufgrund der finalen Programmierung jedoch kaum in Betracht. 93 b) Gestaltende Verwaltung Vor allem Ule möchte einen als „frei gestaltende Verwaltung“ 94 bezeichneten Bereich als eigenständige Entscheidungskategorie von dem verwaltungsrechtlichen Ermessensbegriff unterscheiden. Es handelt sich um Verhaltensweisen, die nicht dem Vorbehalt des Gesetzes unterfallen, für die es also an gesetzlichen Maßstäben und Direktiven fehlt. Die Verwaltungsbehörde leitet hier ihre Entscheidungen nur aus dem allgemeinen Auftrag der öffentlichen Verwaltung ab. 95 Solches Verwaltungshandeln kann sich beziehen auf die Art der Teilhabe an der Gestaltung der Sozialordnung, z. B. durch Versorgungen, Verteilungen oder Dienstleistungen und Koordinierungen 96, auf den Bereich begünstigender Verwaltungsmaßnahmen 97 sowie auf die Teilhabe an der Gestaltung der Infrastruktur des Gemeinwesens. 98 In diesem Raum bewegen sich die Verwaltungsbehörden etwa bei der Errichtung von Denkmälern, beim Ausbau von Parkanlagen, bei der freigestellten Bezuschussung von kulturellen oder wirtschaftlichen Unternehmungen der Bürger und dergleichen. 99 Die Bindungen der Verwaltungsbehörden im gesetzesfreien Raum beruhen deshalb nicht auf den Grenzen spezialgesetzlicher Ermächtigungen, sondern unmittelbar auf verfassungsrechtlichen Grundlagen. 100 91

BVerwGE 34, 301 (309). Nach der Änderung des BauGB 2004 durch das EAG-Bau sollen Abwägungsausfall, Abwägungsdefizit und Abwägungsfehleinschätzung aus der klassischen materiellen Abwägungslehre herausfallen, vgl. Pieper, Jura 2006, 817 (818 f.). 93 Schenke, in: BK-GG, Art. 19 Abs. 4 Rn. 333, Voßkuhle, JuS 2008, 117 (119). 94 Badura, in: FS-BayVerfGH, S. 157 (171 f.); Ule, in: Ule / Laubinger, VwVfG, § 55 II Rn. 2. 95 Zippelius / Würtenberger, Deutsches Staatsrecht, § 46 I; vgl. Peters, in: FS-H. Huber (1961), S. 206 (208). 96 Wolff, VerwR I, § 31 III, S. 203. 97 BVerwGE 62, 86 (93); vgl. Ule, in: Ule / Laubinger, VwVfG, § 55 II Rn. 2. 98 Wolff / Bachof / Stober, VerwR I, § 31 Rn. 70. 99 Mayer, Opportunitätsprinzip, S. 17; Zippelius / Würtenberger, Deutsches Staatsrecht, § 46 I. 92

V. Kategorisierung administrativer Letztentscheidungsrechte

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Wird die Verwaltung in einem ansonsten gesetzlich nicht geregelten Bereich tätig, hat sie nur die folgenden rechtlichen Bindungen zu beachten, die aber einer verwaltungsgerichtlichen Prüfung unterliegen: 101 − Zuständigkeitsvorschriften und Verwaltungsverfahrensgesetze. − Grundsatz der Gesetzmäßigkeit der Verwaltung (Vorrang und Vorbehalt des Gesetzes). − Grundrechte sowie die in ihnen getroffenen Wertentscheidungen. 102 − Allgemeine verfassungs- und verwaltungsrechtliche Grundsätze, z. B. Grundsatz der Verhältnismäßigkeit, Grundsatz des Vertrauensschutzes, Kopplungsverbot. 103 Daneben ist die Verwaltung keinen unmittelbar bestimmten gesetzlichen Zwecken oder Mitteln verpflichtet. Vielmehr setzt sie die konkreten Zwecke und Mittel des Handelns nach Zweckmäßigkeitsüberlegungen „autonom“. Sie programmiert sich laufend selbst und setzt Tatbestände. 104 Die Befürworter eines Instituts der „gestaltenden Verwaltung“ wollen diese freie Entscheidung über das „Ob“ und „Wie“ ihres Verhaltens nicht als Ermessen qualifizieren: Ermessen der Verwaltungsbehörden gebe es nur im gesetzlich geordneten und nur im potentiell weisungsgebundenen Raum. 105 Die frei gestaltende Tätigkeit der Verwaltung stelle ein Aliud zur Ermessensausübung dar. 106 Deshalb sei bei solchen Entscheidungen − ähnlich wie bei der umfassenden Handlungsfreiheit des Gesetzgebers, die grundsätzlich ebenfalls nur die Kompetenzordnung und die Grundrechte zu wahren habe − von einer „Gestaltungsfreiheit“ der Verwaltung zu sprechen. 107 Mit diesem Terminus lasse sich beispielsweise der Beschluss einer Gemeindevertretung, ein Krankenhaus und nicht ein Hallenschwimmbad zu errichten, angemessen erfassen. 108 Auch der Grundsatz der Verfassungsgemäßheit aller Verwaltungstätigkeit lasse nicht jegliche gewährende Verwaltung als Ermessensverwaltung erscheinen. „Gestalten“ wandele sich hier zum „Ermessen“ erst mit dem Einströmen der Figuren des Übermaßverbots und sonstiger stetig bindender Direktiven. 109 Selbst 100

Henneke, in: Knack, VwVfG, § 40 Rn. 14. Dazu auch: Mayer, Opportunitätsprinzip, S. 18 f., 23, 25. 102 Vgl. BVerwGE 47, 247 (253 f.). 103 Nagel, Rechtskonkretisierungsbefugnis, S. 177 m.w. N. 104 BVerwGE 62, 86 (93); Nagel, Rechtskonkretisierungsbefugnis, S. 176; Forsthoff, Verwaltungsrecht I, § 1, S. 15 mit Beispielen; Kellner, DÖV 1969, 309 (311); Wolff / Bachof / Stober, VerwR I, § 31 Rn. 69. 105 Becker, VVDStRL 14 (1956), 96 (125) m.w. N. 106 Vgl. BVerwGE 62, 86 (93); Ossenbühl, Verwaltungsvorschriften, S. 315; Rieger, Ermessen, S. 20 f.; Stern, Ermessen, S. 14; differenzierend: Sachs, in: Stelkens / Bonk / Sachs, VwVfG, § 40 Rn. 31. 107 Bleckmann, Ermessensfehlerlehre, S. 8, 207 f.; vgl. Badura, in: FS-BayVerfGH, S. 157 (171 f.); Ossenbühl, Verwaltungsvorschriften, S. 315. 108 Ule, in: Ule / Laubinger, VwVfG, § 55 II Rn. 2. 101

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D. Ermessen im Allgemeinen Verwaltungsrecht

Rupp, der Ermessen als Rechtsanwendung qualifizieren will, spricht für diesen Bereich zwar von Ermessen, aber „im Sinne der Entfaltung eigener Initiative und Gestaltungskraft“, kurzum als ein Gebiet, „das nicht so sehr der Verwaltungsrechtslehre, sondern der Verwaltungslehre und der Verwaltungspolitik offen steht“. Ausnahmsweise soll hier sogar eine verwaltungsgerichtliche Kontrolle ausscheiden. 110 Auch in der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts ist anerkannt, dass im Bereich der gestaltenden Verwaltung von anderen Grundsätzen auszugehen ist, als bei der gesetzesakzessorischen Verwaltung. Komme der Verwaltung entweder als Träger staatlicher Gewalt oder im Rahmen der kommunalen Selbstverwaltung eine daraus folgende Gestaltungsgewalt zu oder sei ihr durch spezielle gesetzliche Regelungen eine Gestaltungsbefugnis eingeräumt, korrespondiere damit ein besonderes „Gestaltungsermessen“ 111 bzw. eine Gestaltungsfreiheit. 112 3. Einheitstheorien Nach einem auch als „Einheitstheorie“ 113 qualifizierten Ansatz sind administrative Entscheidungsspielräume dagegen eine in der ganzen Rechtsordnung durchgängige Erscheinung, bei der in den einzelnen Bereichen sachlich mehr oder weniger große Unterschiede bestehen. 114 Sachbereichsspezifische Funktionen von Entscheidungsspielräumen seien lediglich als Subkategorien oder funktionale Differenzierungen 115 eines allgemeinen Ermessensbegriffs zu verstehen. 116 Eine einheitliche Struktur folgert diese Betrachtungsweise aus entscheidungsstrukturellen Parallelen 117, aus normtheoretischen 118 sowie aus kontrolltheoretischen Argumenten 119, wobei sich die einzelnen Argumentationslinien überschneiden. Zentrales 109

Lerche, Verfassungsrecht, S. 91. Rupp, Verwaltungsrechtslehre, S. 209 (Hervorhebung im Original). 111 BVerwGE 62, 86 (93). 112 BVerwGE 34, 301 (304); 45, 309 (323, 326); 48, 56 (59); 62, 86 (93). 113 Vgl. Begriff und ausführliche Darstellung bei Pache, Abwägung, S. 108 ff. 114 Jestaedt, in: Erichsen / Ehlers, Allg VerwR, § 10 Rn. 16 ff.; Merkl, Allgemeines Verwaltungsrecht, S. 142 f. 115 So beispielweise bei Bullinger, JZ 1984, 1001 (1007); vgl. auch: Klein, AöR 82 (1971), S. 75 (88, 96). 116 v. Bogdandy, Gubernative Rechtsetzung, S. 353 f.; Brenner, Gestaltungsauftrag, S. 412; Brinktrine, Verwaltungsermessen, S. 556; Herdegen, JZ 1991, 747 (751); Kopp / Ramsauer, VwVfG, § 40 Rn. 104; Krebs, Kontrolle, S. 94 ff.; Schenke, in: BK-GG, Art. 19 Abs. 4 Rn. 332; Schmidt-Aßmann, VVDStRL 34 (1976), 221 (251). 117 Börger, Planungsentscheidungen, S. 97 f.; Herdegen, JZ 1991, 747 (748). 118 Ehmke, Ermessen, S. 28; Koch, Ermessensermächtigungen, S. 102 ff.; vgl. Nagel, Rechtskonkretisierungsbefugnis, S. 77, 87 f.; Sachs, in: Stelkens / Bonk / Sachs, VwVfG, § 40 Rn. 42. 110

VI. Zugrunde gelegte verwaltungsrechtliche Begriffsbedeutungen

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sachliches und gemeinsames Charakteristikum eines umfassend verstandenen und einheitlich als Ermessen bezeichneten Entscheidungsspielraums ist nach Scholz die Befugnis der Verwaltung zu letztverbindlicher Konkretisierung außerrechtlicher, metajuristischer Verwaltungszwecke. Diese Befugnis könne je nach der Art der gesetzlichen Vorgaben im Tatbestand einer Norm, auf deren Rechtsfolgenseite oder durch ihre finale Struktur begründet werden. 120 Jestaedt fasst das allgemeine Verwaltungsermessen als Ermächtigung zur „Tatbestandsergänzung“ und das Planungsermessen als Ermächtigung zur „Tatbestandsbildung“ unter dem Oberbegriff der Normzweckbindung zusammen. 121 Schmidt-Aßmann qualifiziert das Erfordernis einer Abwägung als verbindendes Element zwischen Ermessen, Beurteilungsspielraum und Planungsermessen. 122 Quantitativer Differenzierungsmaßstab sei jeweils die Intensität der Steuerung der Normkonkretisierung durch gesetzgeberische Direktiven. Die Skala der graduell unterschiedlichen Bindungsintensität reiche − unabhängig von der Ausgestaltung als Konditional- oder Finalprogramm − von strikter Bindung bis hin zur schwächsten Form administrativer Determiniertheit, der sog. gesetzesfreien bzw. frei gestaltenden Verwaltung. 123 Um die quantitativen Unterschieden zu berücksichtigen, soll es ausreichen, die Figur des einheitlichen Verwaltungsermessens lediglich typologisch in Tatbestandsermessen, Rechtsfolgeermessen und Planungsermessen zu untergliedern und auf andere Bezeichnungen zu verzichten. 124

VI. Zugrunde gelegte verwaltungsrechtliche Begriffsbedeutungen Für das Verwaltungsrecht als Ausgangspunkt der Untersuchung des Regierungsbereichs ist von folgender Terminologie und Begriffsbedeutung auszugehen: 1. Beurteilungsspielraum Beurteilungsspielräume beziehen sich auf den Subsumtionsvorgang bei unbestimmten Rechtsbegriffen im Tatbestand oder auf der Rechtsfolgenseite einer 119 Brinktrine, Verwaltungsermessen, S. 150 f.; Ramsauer, in: AK-GG, Art. 19 Abs. 4 Rn. 112 f. 120 Scholz, VVDStRL 34 (1976), 145 (163 ff.); vgl. Nagel, Rechtskonkretisierungsbefugnis, S. 146 f. 121 Jestaedt, in: Erichsen / Ehlers, Allg VerwR, § 10 Rn. 18 (teilweise Hervorhebung im Original). 122 Schmidt-Aßmann, VVDStRL 34 (1976), 221 (251); vgl. auch: Alexy, JZ 1986, 701 (711 Fn. 115); Kloepfer, DVBl. 1995, 441 (444); Pache, Abwägung, S. 483 f. 123 Herdegen, JZ 1991, 747 (749); Nagel, Rechtskonkretisierungsbefugnis, S. 103, 167; vgl. Jestaedt, in: Erichsen / Ehlers, Allg VerwR, § 10 Rn. 16. 124 Brinktrine, Verwaltungsermessen, S. 556 f.; Scholz, VVDStRL 34 (1976), 145 (167).

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D. Ermessen im Allgemeinen Verwaltungsrecht

Rechtsnorm. Sie betreffen weder die Feststellung des Sachverhalts noch die Auslegung unbestimmter Rechtsbegriffe. Den Beurteilungsspielräumen liegen Normen zugrunde, die Beurteilungsermächtigungen, die − ohne zu Handeln nach Ermessen zu ermächtigen − behördliche Entscheidungen ganz oder teilweise von einer nachvollziehenden Kontrolle durch die Gerichte freistellen. 125 Der Terminus Beurteilungsermächtigung verdeutlicht dabei den besonderen Bezug zum materiellen Recht als Grundlage administrativer Letztentscheidung nach dem Verständnis der normativen Ermächtigungslehre. 126 2. Ermessen Ermessen umschreibt nach dem hier zugrunde gelegten Verständnis einen gesetzlich begründeten, gerichtlich nur beschränkt nachvollziehbaren Entscheidungsspielraum auf der Rechtsfolgenseite. Zwischen Ermessen und Beurteilungsspielräumen besteht Strukturähnlichkeit, aber keine Identität. Danach existiert Ermessen nur bei der Wahl einer Rechtsfolge. Trotz der eher theoretischen Abgrenzungsprobleme ist mit der Unterscheidung ein Rationalitätsgewinn verbunden. 127 Es wäre ein Rückschritt, die für das „klassische Ermessen“ als wohldefinierten Teilbereich diskretionären Verwaltungshandelns etablierten rechtlichen Maßstäbe zugunsten einer umfassenden „Entscheidungsfreiheit“ aufzugeben. 128 3. Gestaltungsfreiheit Der Begriff Gestaltungsfreiheit bzw. der synonyme gebrauchte Terminus Gestaltungsspielraum bezeichnet einen umfassenden Entscheidungsspielraum, der lediglich durch die Bindung an die Kompetenzordnung und die Grundrechte gekennzeichnet ist. Ein „Gestaltungsfreiraum“ der Verwaltung liegt vor, wenn das Gesetz nur die Zuständigkeit und gewisse äußerste rechtliche Grenzen staatlichen Handelns festlegt. 129

125

Gerhardt, in: Schoch / Schmidt-Aßmann / Klein, VwGO, § 114 Rn. 55. Vgl. Sachs, in: Stelkens / Bonk / Sachs, VwVfG, § 40 Rn. 162. 127 Bleckmann, Ermessensfehlerlehre, S. 8. 128 Gerhardt, in: Schoch / Schmidt-Aßmann / Klein, VwGO, § 114 Rn. 55. 129 Bleckmann, Ermessensfehlerlehre, S. 207 f. Hiervon abweichend wird der Terminus Gestaltungsfreiheit auch als Oberbegriff eines einheitlich zu verstehenden Instituts administrativer Letztentscheidungsbefugnis verstanden. Vgl. Brenner, Der Gestaltungsauftrag, S. 412 f.; Schmidt-Salzer, Beurteilungsspielraum, S. 8. 126

E. Verwaltungsrechtliche Entscheidungskategorien im Verfassungsrecht? I. Übertragbarkeit des Ermessensbegriffs Die Analyse der Gerichtsentscheidungen kommt zu dem Ergebnis, dass die Rechtsprechung der Regierung und dem Bundeskanzler − sowie anderen Verfassungsorganen − regelmäßig Entscheidungsspielräume verwaltungsdogmatischer Herkunft einräumt. Auch die Staatsrechtslehre setzt beispielsweise die Anwendbarkeit und die Ausübung von Ermessen auf der Ebene der staatsleitenden Exekutive mehrheitlich voraus. 1 Verwaltungsrechtliche Termini zieht sie in der Regel wie selbstverständlich zur Darstellung der Tätigkeit von Verfassungsorganen heran, ohne dass Zulässigkeit und Konsequenzen einer solchen Begriffsübertragung kritisch reflektiert würden. Einzelne Stimmen äußern – zumeist unter dem Aspekt einer nicht auszuschließenden Verwechslungsgefahr – dagegen auch Kritik an einer undifferenzierten Transformation hergebrachter verwaltungsrechtlicher Termini auf Entscheidungen in Parlament und Regierung. Die Untersuchung geht deshalb in einem ersten Schritt der Frage nach, ob Ermessen als primär verwaltungsrechtlicher Entscheidungsmodus auf das Verfassungsrecht dem Grunde nach übertragbar ist. 1. Kritik und Ablehnung einer Begriffsübertragung Bachof warnt in Zusammenhang mit einer Begriffsübertragung vor scheinbaren, in Wirklichkeit jedoch schiefen, Parallelen. Ermessen und Ermessensmissbrauch seien Begriffe, die im Verwaltungsrecht entwickelt und dort in einem ganz konkreten Sinn umrissen worden seien. Der Ermessensbegriff diene hier der Kontrolle von Verwaltungsakten. Deshalb verbiete sich eine unbedenkliche Übertragung dieser Maßstäbe „auf die Prüfung eines ganz anderen „Ermessens“, nämlich des politischen Ermessens“. 2 Es existiere praktisch gar kein einheitlicher Ermessens1 So etwa: Karehnke, DVBl. 1965, 101 (111) (für den Bundeskanzler); Herzog, in: FS-G. Müller, S. 117 (133) (für den Bundespräsidenten); bereits v. Bieberstein, in: HbStR I (1930), § 45, S. 532 (für den Reichspräsidenten). 2 Bachof, VVDStRL 9 (1952), Diskussionsbeitrag, 118 (für das legislative Ermessen); Kratzer, DVBl. 1950, 396 (397); ferner: Schenke, in: BK-GG, Art. 68 Rn. 232: „... daß das politische Ermessen des Bundeskanzlers mit den Kategorien des Verwaltungsermessens nicht in adäquater Weise erfasst werden kann, da der Bundespräsident in Verbindung mit

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E. Verwaltungsrechtliche Entscheidungskategorien im Verfassungsrecht?

begriff, der sich ohne weitere Differenzierung auch für den Regierungsbereich brauchbar machen lasse. 3 Apelt weißt darauf hin, die Literatur habe nachgewiesen, dass „die Nachprüfung von Ermessen im Staatsrecht von anderen Voraussetzungen auszugehen habe als im Verwaltungsrecht, dass den Regierungsstellen im Staatsrecht ein weiteres Ermessen gewährt werden müsse“. 4 Durch die Übernahme verändere sich jedenfalls die Qualität des Begriffs. Da nur sein Kerngehalt transformiert werde, löse er sich aus der verwaltungsrechtlichen Dogmatik und werde zu einem Bestandteil des Verfassungsrechts. 5 Einige Autoren lehnen deshalb eine Übertragung auch kategorisch ab und betonen die Notwendigkeit einer Unterscheidung zwischen dem verwaltungsrechtlichen Ermessen und den Entscheidungskategorien im Verfassungsrecht. 6 Ipsen erblickt in der Überprüfung der Bundestagsauflösungsentscheidung nach den Regeln der verwaltungsgerichtlichen Ermessenskontrolle bzw. in deren Transferierung auf das Verfassungsrecht gar die Gefahr einer „Verrechtlichung“ des politischen Prozesses. 7 Simons argumentiert aus der Kontrollperspektive. Er kommt zu dem Ergebnis, verfassungs- und verwaltungsrechtliche Argumentationstopoi („Ermessensfreiheit“, „Gestaltungsspielraum“) seien kaum analogiefähig. 8 Frotscher hält die Ausübung von Ermessen auf verfassungsrechtlicher Ebene zwar nicht für ausgeschlossen, möchte aber speziell den Ausdruck „Regierungsermessen“ ebenfalls vermeiden. Seine Vorbehalte ergeben sich allerdings aus diametral entgegen gesetzter Perspektive zu jenen Ansätzen, die die besondere Bedeutung legislativer oder gubernativer Tätigkeit mit „Ermessen“ nicht in adäquater Form gekennzeichnet sehen. Er hält den Begriff im Gegenteil für „irreführend“, da er gerade nicht eine einheitliche Struktur allen Ermessens, sondern zu Unrecht einen prinzipiellen Unterschied gegenüber einem anders gearteten „Verwaltungsermessen“ impliziere. Die Ablehnung einer wie auch immer bezeichneten eigenständigen Entscheidungskategorie für den Bereich der Regierung ist zuvorderst im Kontext seiner Kritik an einer materiellen Regierungsfunktion als einer „4. Gewalt“ − sei es neben Gesetzgebung, Vollziehung und Rechtsprechung oder auch innerhalb einer dieser Funktionen 9 – zu verstehen. Leisner lehnt zumindest den Gebrauch „anderer Regeln“ ab, bestehe doch der Sinn der Anerkeneinem staatsleitenden Regierungsakt wie der Auflösung aus funktionellrechtlichen Gründen freier gestellt sein muß als die Verwaltungsermessen ausübende Exekutive“. 3 Krüger, DÖV 1950, 536 (539); vgl. Smend, in: FG-Kahl, S. 3 (15 Fn. 1). 4 Apelt, VVDStRL 9 (1952), Diskussionsbeitrag, 119 (120). 5 Recknagel, Ermessen, S. 34. 6 Drath, VVDStRL 9 (1952), Diskussionsbeitrag, 130 (131); Fuss, JZ 1959, 329 (331); Leisner, in: FS-Berber, S. 273 (275); Ossenbühl, in: FS-H. Huber (1981), S. 283 (287); Scheuner, DÖV 1960, 601 (610). 7 Ipsen, NVwZ 2005, 1147 (1150). 8 Simons, Gestaltungsspielraum, S. 359. 9 Frotscher, Rechtsbegriff, S. 222 f., 224; ähnlich: Lenz, Prüfungsbefugnis, S. 95 ff.

I. Übertragbarkeit des Ermessensbegriffs

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nung eines gubernativen oder legislativen Ermessens gerade darin, die Grundsätze eines Bereichs des öffentlichen Rechts (des Verwaltungsrechts) auf einen anderen (das Staatsrecht) zu übertragen. Das einzig wirklich Fassbare, die Verbindung des Politischen mit einem gewissen „ausstrahlenden, direktiven Ermessen“, werde entscheidend durch die Einschränkung relativiert, dass dessen Begrenzungen „evident“ sein müssten, damit die Verfassungskontrolle eingreifen kann. 10 Magiera weist schließlich auf die Schwierigkeiten hin, die daraus resultieren, dass die aus dem Bereich des Verwaltungsrechts stammenden Begriffe ihrerseits umstritten sind und ihre Übertragung auf den Bereich des Verfassungsrechts zusätzliche Unsicherheiten heraufbeschwöre. Nicht selten bleibe deswegen die Diskussion dem Begrifflichen verhaftet und dringe nicht zum Sachlichen vor. 11 2. Anerkennung des Ermessens als verfassungsrechtliche Entscheidungsform Das Verwaltungsrecht ist das „Ursprungsland des Ermessens“. Das hindert aber nicht, Ermessen – ebenso wie andere verwaltungsrechtliche Begriffe – auf das Verfassungsrecht zu „transformieren“. 12 Dafür spricht die Vergleichbarkeit von Entscheidungsstrukturen und -typen, unabhängig von einem bestimmten Rechtsgebiet oder dem agierenden Akteur: Ermessen bedeutet die „Zuständigkeit zur Rechtskonkretisierung im Rahmen einer vorgegebenen Zweckbestimmung“. 13 Es handelt sich um einen zweckgerichteten Entscheidungsprozess. 14 Stets liegt die Eigenart des Ermessens darin, dass die Rechtsordnung dem staatlichen Organ einen freieren Umgang mit dem Entscheidungszweck zubilligt als beim gebundenen Normvollzug. Hiermit korrespondiert die Zulässigkeit von Zweckmäßigkeitserwägungen in Bezug auf die Verwirklichung eben dieses Zwecks − und zwar unabhängig davon, ob die Entscheidung in Ausübung des „Verwaltungs- oder Regierungsermessens“ ergeht. 15 Jedes Ermessen ist „doppelfunktionell“ 16 im Sinn einer Synthese von Handlungsfreiheit und Rechtsbindung durch vorgegebene rechtliche Maßstäbe. Diese tritt zwar besonders deutlich in der Verwaltung hervor, ist aber keine spezifische Eigenschaft des Verwaltungsermessens. 17

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Leisner, in: Staat, S. 303 (307 f., 313 m.w. N., 315). Magiera, Staatsleitung, S. 81. 12 Recknagel, Ermessen, S. 30 ff. 13 Starck, in: FS-Sendler, S. 167 (167, 168 f.); vgl. Ramsauer, in: AK-GG, Art. 19 Abs. 4 Rn. 113. 14 Vgl. Luhmann, Verfahren, S. 208. 15 Scheuner, VerwArch 8 (1928), 68 (84); Schneider, NJW 1980, 2103 (2109). 16 Stern, Ermessen, S. 24; vgl. Korinek, VVDStRL 39 (1980), 7 (13); Recknagel, Ermessen, S. 58. 17 Richter, Grundsätze der Ermessensausübung, S. 48. 11

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E. Verwaltungsrechtliche Entscheidungskategorien im Verfassungsrecht?

Die Frage nach der Rechtsbindung und der rechtlichen Kontrollierbarkeit staatlichen Handelns bei abnehmender Regelungsdichte präfixierter Rechtsmaßstäbe sowie das Problem der rechtlichen Zuordnung von Handlungs- oder Entscheidungsbefugnissen lassen sich auf rechtstheoretischer Ebene abstrakt auch für den Verfassungsprozess diskutieren. 18 Die zentrale, strukturelle Parallele liegt jeweils in der Behauptung und Begründung einer materiellen Injustiziabilität staatlichen Verhaltens. So wie das Verwaltungsermessen an der Grenze zwischen Verwaltung und Judikative liegt, betrifft das Ermessen auf der Ebene des Verfassungsrechts die Kompetenzabgrenzung zwischen den Verfassungsorganen und der Verfassungsgerichtsbarkeit. In beiden Fällen stellen sich die Fragen nach einer Unterscheidung zwischen Rechts- und Ermessensangelegenheiten sowie nach den Grenzen und den Folgen der Ermessensüberschreitung. 19 Ermessensspielräume der Regierung ergeben sich in der Regel nicht ausdrücklich aus einfachen Gesetzen, sondern ohne explizite Anhaltspunkte unmittelbar aus der Verfassung. 20 Gegen eine Übertragung des Ermessensbegriffs auf die Verfassungsebene ließe sich daher einwenden, es fehle hier an ausdrücklichen Ermessensermächtigungen, wie sie für das Verwaltungsrecht in Gestalt von Kannoder Soll-Vorschriften bekannt und zumeist erforderlich sind. 21 Dagegen spricht, dass Ermessen außerhalb eines zwingenden Bereichs des Gesetzesvorbehalts nicht notwendig einer ausdrücklichen Ermächtigung bedarf. Es kann sich auch aus dem Schweigen des Gesetzes, aus dem beabsichtigten oder notgedrungenen Verzicht auf eine nähere Determination ergeben. 22 Die verfassungsrechtliche Begründung der Staatsgewalt und damit auch der Staatsleitung bedeutet unter dem Grundgesetz Rückbindung allen staatlichen Tätigwerdens an die Verfassung oder − negativ gewendet − Ausschluss jeglicher staatlicher Betätigung ohne verfassungsrechtliche Ermächtigung. Das Erfordernis verfassungsrechtlicher Begründung erschöpft sich aber grundsätzlich in einer allgemeinen Organkonstituierung und Funktionslegitimierung. 23 Das Grundgesetz geht von der generellen Befugnis des Staats zum Handeln im Gemeinwohlinteresse aus und legt ihm dabei sowohl formell als auch materiell bestimmte Beschränkungen auf. 24 Von Ermessen ist folglich auch dort zu sprechen, wo eine Kompetenz eröffnet wird, dem Recht aber keine 18 Vgl. Krebs, Kontrolle, S. 74: „Grundproblem des öffentlichen Rechts“; Meßerschmidt, Gesetzgebungsermessen, S. 280 ff., 299; Richter, Grundsätze der Ermessensausübung, S. 4 f.; Stern, Ermessen, S. 11. 19 Dechsling, Das Verhältnismäßigkeitsgebot, S. 37. 20 Leisner, in: Staat, S. 303 (312) m.w. N. 21 Meßerschmidt, Gesetzgebungsermessen, S. 273; kritisch: Zeitler, Völkerrechtlicher Vertrag, S. 136. 22 Held, in: FS-Kraus, S. 123 (125); Merkl, Allgemeines Verwaltungsrecht, S. 140; Meyer, Regierung, S. 122 ff. 23 Magiera, Staatsleitung, S. 78. 24 BVerfGE 98, 218 (246).

I. Übertragbarkeit des Ermessensbegriffs

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weitergehenden inhaltlichen Verhaltensanforderungen zu entnehmen sind. Wenn selbst für den Bereich der Verwaltung ein gesetzesfreies Ermessen anerkannt ist, muss man dies erst recht auch für den Bereich der Staatsleitung annehmen dürfen. 25 Für eine Übertragung verwaltungsrechtlicher Entscheidungskategorien auf das Verfassungsrecht spricht schließlich auch die ausnahmslose Rechtsbindung aller staatsleitenden Verfassungsorgane. Regierung im Verfassungsstaat erlaubt kein Handeln im rechtsfreien Raum und zwar auch dann nicht, wenn ihr Verhalten als „politisch“ zu qualifizieren ist. 26 Der Begriff des Politischen setzt jedoch mit seinem so unfassbaren, ja unbestimmbaren Inhalt den modernen Bestrebungen zu einer Verrechtlichung des Verfassungsbereichs einen besonders ernst zu nehmenden Widerstand entgegen: den einer Elastizität, die, wie es scheint, wesentlich „unjuristisch“ ist. 27 Vor diesem Hintergrund kann die Figur der „politischen Ermessensfreiheit“ zu einer „Reduzierung des justizmäßig unnachprüfbaren politischen Elements auf einen Ausschnitt aus dem jeweils vom positiven Recht bestimmten Bereich“ beitragen − im Gegensatz zu einem Verständnis des Politischen als a priori unjuristische, nicht fassbare Kategorie, wo sich Rechtliches und Politisches wie „Feuer und Wasser“ verhalten. 28 Sie leistet einen Beitrag zu der Entwicklung eines Systems von rechtlichen Begrenzungen, zur „Juridifizierung von außen“. Eine derartige Bestimmung nach dem Ziel genügt zwar nicht allein, um dem Politischen eine juristische Prägung zu verleihen. In dem Maße, in welchem die Intensität der Beschränkung des Politischen durch das Recht ansteigt, erhöht sich auch die Kommensurabalität von politischem Handeln und Rechtsbegriffen. Insofern „bedeutet es schon etwas“, wenn das Bundesverfassungsgericht exekutive oder legislative Tätigkeit als „Ausnutzung eines Ermessensspielraums“ bezeichnet, obwohl sie doch ihrem Wesen nach „politisch“ ist und bleibt. 29 Das politische Element der Regierungstätigkeit lässt sich mithilfe des Ermessensbegriffs nach einer Art „Einkesselungstaktik“ 30 quasi rechtlich „domestizieren“. 31 Versteht man etwa die Bestimmung der Richtlinien der Politik als Ermessensentscheidung, so erübrigt sich auch die Figur des Regierungsaktes. 32 Es bedarf keines „politischen Vorbehaltes“ 33. Mit der Verbindung von Ermessen und Politik ist dargetan, dass sich mit dem Begriff Politik keineswegs unbeschränkte Willkür verbinden muss, 25 Held, in: FS-Kraus, S. 123 (124 f.): „gesetzesfreiem Ermessen“ (Hervorhebung im Original). 26 Scheuner, in: FS-Smend (1952), S. 253 (279). 27 Leisner, in: Staat, S. 303 (303). 28 Wengler, Recht und Staat 189/190 (1956), S. 12. 29 Leisner, in: Staat, S. 303 (308 f., 317, 320 f.). 30 Klecatsky, JBl. 1957, 333 (333 f.); Wengler, Recht und Staat 189/190 (1956), S. 49. 31 Rumpf, Regierungsakte, S. 70. 32 Lorenz, Rechtsschutz, S. 159; Rumpf, VVDStRL 14 (1956), 136 (170). 33 Wengler, Recht und Staat 189/190 (1956), S. 49.

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E. Verwaltungsrechtliche Entscheidungskategorien im Verfassungsrecht?

dass aber zugleich innerhalb von Schranken dem Träger einer Politik keine Regeln über den Inhalt seiner Maßnahmen zu machen sind. Die Ermessensentscheidung, die nachprüfbaren rechtlichen Schranken unterliegt, deren Kern aber nur vom Inhaber des Ermessens zu würdigen ist, stellt sozusagen „ein Diminutiv“ der politischen Entscheidung dar. 34 Sie fungiert als Surrogat des früheren Bereichs der gerichtsfreien Hoheitsakte. Der entscheidende Unterschied besteht darin, dass nicht mehr ein Akt als ganzer der richterlichen Nachprüfung entzogen bleibt, sondern nach Maßgabe des materiellen Rechts nur die Ermessenselemente. 35 Ermessen und andere verwaltungsrechtliche Entscheidungsspielräume sind auf das Verfassungsrecht im Allgemeinen und auf die Regierung im Besonderen übertragbar. 36 Im Verfassungsrecht trägt Ermessen dem Erfordernis eines juristisch zugänglichen Entscheidungsmodus Rechnung, der Rechtsbindung und gerichtliche Kontrolle gewährleistet, gleichermaßen aber auch die von der Verfassung vorgesehenen Verhaltensspielräume der Verfassungsorgane respektiert. 37 Ein möglicher Gegensatz zwischen Verfassung und einfachem Recht lässt sich nicht in dem Begriff des Ermessens austragen und rechtfertigt ebenso wenig eine Beschränkung auf seinen Stammbereich. 38 Man spricht daher zu Recht von legislativem, gubernativem und administrativem Ermessen. 39 3. Politisches Ermessen als Unterfall eines einheitlichen Ermessensbegriffs „Trotz aller Unterschiede“ rechtfertigen es die strukturellen Gemeinsamkeiten sowie die rechtspolitischen Argumente, verschiedene Formen von Ermessen − etwa das Ermessen im Verfassungsrecht − unter einem Oberbegriff „Ermessen“ zusammenzufassen. 40 Die besondere Bezeichnung beispielsweise als „gubernatives Ermessen“ indiziert dabei keinen strukturellen Unterschied gegenüber dem verwaltungsrechtlichen Ermessensbegriff. Sie kennzeichnet lediglich eine besondere Erscheinung von Ermessen, nämlich das Ermessen der institutionellen Regierung. Ein Unterfall dieses nach der hier vorausgesetzten Definition einheitlich zu verstehenden Ermessens ist das „politische Ermessen“, welches seinerseits – je nach Entscheidungsträger – in ein legislatives oder gubernatives „politisches Ermessen“ unterfällt. Nicht jedes Ermessens ist ein politisches Ermessen. 41 Letzteres 34

Münch, Die Bundesregierung, S. 9 f. Vgl. Steinberger, DVBl. 1963, 729 (729 f.). 36 Meyer, Regierung, S. 122 f. 37 Schneider, in: AK-GG, Art. 68 Rn. 6 am Beispiel des Art. 68 Abs. 1 S. 1 GG. 38 Recknagel, Ermessen, S. 35. 39 Stern, Ermessen, S. 11. 40 Meßerschmidt, Gesetzgebungsermessen, S. 303 f.; Wolff, VVDStRL 9 (1952), Disskussionsbeitrag, 121. 35

I. Übertragbarkeit des Ermessensbegriffs

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ist im Regierungsbereich von großer Bedeutung und in erster Linie dort eröffnet, wo die Verfassung positive inhaltliche Vorgaben enthält, die Art und Weise ihrer Verwirklichung aber dem politischen Prozess überlässt. Politisches Ermessen kann auch auf Grundlage einer einfach-gesetzlichen Norm bestehen, wenn sich aus deren Sinn und Zweck die Zulässigkeit politischer Erwägungen ergibt, so bei bestimmten Entscheidungen nach dem Konsulargesetz. „Politisch“ ist dieses Ermessen unter drei Gesichtspunkten: Bei den maßgeblichen Akteuren handelt es sich um politische Organe, deren Entscheidungsträger der Souverän unmittelbar oder mittelbar durch demokratische Wahlen in ihr Amt berufen hat und kontrolliert. Der quantitativ gesteigerte Entscheidungsspielraum resultiert aus der Zulässigkeit politischer Erwägungen in Einklang mit dem Sinn und Zweck der Ermessensnorm. 42 Bei Ermessen „in politischen Angelegenheiten“ können vielfach Motive eine Rolle spielen, die sich rechtlich kaum qualifizieren lassen. 43 In politischen Fragen ist zudem in besonders starkem Maße das öffentliche Wohl zu berücksichtigen, weshalb Individualinteressen im Einzelfall eher zurücktreten müssen. 44 Politische Ermessensentscheidungen sind schließlich nicht nur rechtlich, sondern auch politisch zu verantworten. Diese doppelte Sanktionierbarkeit ergibt sich aus dem Grundsatz, dass die Zulässigkeit politischer oder staatsleitender Erwägungen mit dem Maß demokratischer Legitimation und Verantwortung korrespondiert. 45 Zu weit gehen dürfte dagegen die Feststellung, politisches Ermessen erleide, anders als das verwaltungsrechtliche Ermessen, keine Einschränkungen allgemeiner Herkunft, sondern nur solche aus dem konkreten Rechtsverhältnis. 46 Allgemeine Ermessensgrenzen, wie das Willkürverbot, gelten prinzipiell auch für politische Ermessensentscheidungen. Nur im Einzelfall ist eine „Modifizierung“ der allgemeinen Ermessensgrenzen denkbar. So etwa in Zusammenhang mit der Geltung der Grundrechte im Verhältnis zwischen Bundeskanzler und Bundesministern als politischen Amtsträgern bei der Ministerernennung und -entlassung nach Art. 64 Abs. 1 GG.

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Wengler, Recht und Staat 189/190 (1956), S. 12; a. A. wohl: Frotscher, Rechtsbegriff, S. 224. 42 Vgl. Meßerschmidt, Gesetzgebungsermessen, S. 276 m.w. N. 43 Drath, VVDStRL 9 (1952), 17 (32). 44 Doehring, in: FS-Stern, S. 1059 (1062); Meßerschmidt, Gesetzgebungsermessen, S. 274 f. m.w. N. 45 Vgl. Depenheuer, VVDStRL 55 (1996), 90 (113); Pieroth, EuGRZ 2006, 330 (334). 46 Meyn, in: v. Münch / Kunig, GG, Art. 64 Rn. 13.

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II. Voraussetzungen und Grenzen einer Begriffsübertragung Die Frage nach dem prinzipiellen „Ob“ einer Übertragbarkeit des Ermessensbegriffs auf die verfassungsrechtliche Ebene ist damit positiv entschieden. Die These, wonach Ermessen die „einzig mögliche“ und allein „gewollte“ Rechtfertigung materieller Injustiziabilität von „politischen Entscheidungen“ im Rechtsstaat sein darf 47, bedarf dagegen noch einer Überprüfung. Deshalb geht die Untersuchung in einem zweiten Schritt den Voraussetzungen und Grenzen, d. h. dem „Wie“, der Begriffsübertragung nach. Entscheidend kommt es darauf an, ob im Bereich von Legislative und Gubernative jede nicht abschließend gebundene Entscheidung, also jeder Entscheidungsspielraum, notwendig immer oder nur in bestimmten materiell-rechtlichen Konstellationen als Ermessensentscheidung zu qualifizieren ist. Unter dem Grundgesetz herrscht zwar Einvernehmen darüber, dass alle Staatsgewalt einschließlich der Staatsleitung an das Recht gebunden ist. 48 Auch der Bundeskanzler muss sich bei der Bestimmung der Richtlinien der Politik gemäß Art. 65 S. 1 GG an die Grundrechte und die Grundprinzipien der Verfassung sowie an die bestehenden Gesetze halten. 49 Es lassen sich in der Staatsrechtswissenschaft aber zwei unterschiedliche Argumentationsansätze aufzeigen, welche die genaue Ausgestaltung der Rechtsbindung im Einzelfall und die hiermit korrespondierenden Entscheidungsspielräume unterschiedlich beurteilen. Sie stellen zugleich den vorläufigen Endpunkt jeweils eigener rechtshistorischer Entwicklungslinien dar. 1. Die Stufentheorie des Rechts und ihre Rezeption in der zeitgenössischen Rechtswissenschaft Die Begründung einer einheitlichen Struktur aller öffentlich-rechtlichen und somit auch der verfassungsrechtlichen Entscheidungsspielräume basiert maßgeblich auf den rechtstheoretischen Erkenntnissen der Wiener Schule. Nach der von Kelsen und Merkl entwickelten Stufentheorie des Rechts ist im öffentlichen Recht lediglich eine relativ ungebundene Entscheidungskategorie in Gestalt des Ermessens anzuerkennen. Es ist auf allen Ebenen staatlicher Tätigkeit existent und weist auf jeder Stufe immer dieselbe Struktur auf. Je nach konkreter Ausgestaltung der rechtlichen Bindungen zeichnet sich Ermessen allenfalls durch quantitative Unterschiede aus, bedingt durch die jeweilige inhaltliche Differenz zwischen höherer und niedrigerer Stufe der Rechtskonkretisation. 47 So Hug, Die Regierungsfunktion, S. 293; Kassimatis, Regierung, S. 165 f.; Meyer, Regierung, S. 125 f. 48 Magiera, Staatsleitung, S. 74; Stern, Staatsrecht II, § 39 II 5 lit. a). 49 Frotscher, Rechtsbegriff, S. 224.

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Kelsen identifiziert den Staat mit dem Recht und versteht „die gesamte Rechtsordnung als logisch-geschlossenes System“ 50. Jede Tätigkeit des Staats kann nur als Inhalt von Rechtsnormen oder Rechtsakten auftreten. Die drei herkömmlichen Funktionen Gesetzgebung, Rechtsprechung und Verwaltung sind nach seiner Konzeption nicht wesensverschieden, sondern in jedem Fall „Rechtsfunktionen“, die jeweils ein Moment der Rechtsschöpfung und der Rechtsanwendung enthalten. Die Einheit des Rechtserzeugungsprozesses ergibt sich nach Kelsen aus der notwendigen Unterordnung jeder niederen unter die nächst höhere Stufe. Die „Grundnorm“ stellt den Geltungsgrund aller zu einer Rechtsordnung gehörenden Normen dar. Die Norm der höheren Stufe, die abstrakte Norm, bestimmt die Norm der niederen Stufe, die konkretere Norm mehr oder weniger inhaltlich. Der ganze Rechtserzeugungsprozess erscheint somit als Abfolge stufenweise zunehmender Individualisierung und Konkretisierung des Rechts. Die Bestimmung durch die höhere Norm ist aber niemals vollständig, ähnlich wie zwischen abstraktem Begriff und konkreter Vorstellung notwendig eine inhaltliche Differenz bestehen muss. Auf der niederen Stufe treten inhaltliche Momente hinzu, die in der oberen Stufe noch fehlen. Die zu vollziehende Norm bildet nur einen Rahmen, innerhalb dessen mehrere Möglichkeiten der Vollziehung gegeben sind. Dabei ist jeder Akt normgemäß, der sich innerhalb dieses Rahmens hält. 51 Die notwendige Differenz zwischen höherer und niederer Stufe der Rechtskonkretisation bezeichnet Kelsen als das „freie Ermessen“. Freies Ermessen identifiziert er insofern als Merkmal von Rechtsprechung und Verwaltung, als beide nur mehr oder weniger, niemals aber ganz von der Gesetzgebung determiniert seien. Die Gesetzgebung wiederum erklärt er für mehr oder weniger durch die Verfassung bestimmt. Sie verfüge daher ebenfalls über einen Spielraum freien Ermessens. Zwischen den verschiedenen Formen des Ermessens seien qualitative Differenzen jedoch nicht feststellbar. Sicherlich sei die Freiheit des Gesetzgebers in der Regel eine größere als die des Strafrichters und stehe die der Verwaltungsbehörde meist in der Mitte zwischen beiden. 52 Den Gegensatz von Rechtserzeugung und Rechtsanwendung versteht Kelsen aber stets als relativen und quantitativen, mit der Folge, dass er die meisten Rechtsakte als gebunden und frei auffasst. 53 Ähnlich wie Kelsen erklärt Merkl die Rechtsordnung als Stufenfolge über- und untergeordneter Rechtserscheinungen und Rechtssatzformen. Ein relativ abstrakter Akt, der als Erzeugungsregel eines relativ konkreten Aktes dient, kann diesen nicht zur Gänze determinieren, sondern muss dem Ermessen des zum Konkretisierungsakt zuständigen Organs Raum geben. Merkl nennt das präformierte 50

Kelsen, Reine Rechtslehre (1. Aufl.), S. 84. Ders., Allgemeine Staatslehre, S. 234, 237, 242 f. 52 Ders., Allgemeine Staatslehre, S. 243; vgl. Contiades, Staatsstrukturbestimmungen, S. 118; W. Jellinek, VVDStRL 5 (1929), Diskussionsbeitrag, 94 (101, 104); Merkl, Allgemeines Verwaltungsrecht, S. 171. 53 Kelsen, Allgemeine Staatslehre, S. 243 f.; ders., Reine Rechtslehre (1. Aufl.), S. 98. 51

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objektive Recht, das in den Rechtserzeugungs- oder Rechtsanwendungsprozess eingeht, die heteronome Determinante. Das freie Ermessen identifiziert er als die komplementäre autonome Determinante. Dabei weise die Gesetzgebung als „die dem Ursprunge des Rechtssystems nächste Staatsfunktion“ die größten Ermessensmöglichkeiten auf. Die Verfassung erschöpfe sich häufig in Zuständigkeitsund Verfahrensbestimmungen für die Gesetzgebung, während der Gesetzgeber freischöpferisch den Gesetzesinhalt bestimme. Der Gesetzesvollziehung stünden dagegen nur mehr jene Möglichkeiten zur Verfügung, die die Gesetzgebung offen gelassen habe. Gesetzgebung und die Gesetzesvollziehung stellen aber auch nach Merkl nur den Gegensatz zwischen einem Bereich relativ größeren Ermessens und relativ größerer Bindung dar. 54 Die Regierungsakte qualifiziert er ebenso wie Legislativakte als Akte der Rechtsanwendung und Rechtsetzung. Häufig als „Regierung“ ausgegebene staatliche Akte wie die auswärtige Politik, das Kriegswesen, die Ernennung von Beamten, Begnadigungen und Ordensverleihungen stellten keineswegs rechtsfreie Tätigkeiten, sondern nur Fälle eines rechtlich gebundenen, wenn auch relativ freien Ermessens dar. Auch die als Regierungstätigkeit auszuübende Gesetzesinitiative sei eine durch „Rechtsnormen bestimmte Funktion“. 55 Merkl nennt als Beispiel eines Ermessensaktes im Bereich der Regierung die Kriegserklärung des Kaisers. Sie beruhe auf einer verfassungsrechtlichen Kompetenznorm. Dabei stehe der gesetzlichen Bindung, die in der Bestimmung der Zuständigkeit liege, die Freiheit des Organhandelns in Bezug auf das Ob, Wann und Wie gegenüber. Die Einsicht in die Relativität des Richtunggebens und Richtungnehmens, das sich vielfältig in den verschiedenen Formen der drei als Staatsgewalten bezeichneten Funktionsbereiche abspiele, mache es unmöglich, just die Regierung als Oberleitung schlechthin, als vermeintlich absolutes Richtunggeben zu beurteilen und ihr eine Sonderstellung außerhalb und oberhalb der anderen Staatstätigkeit vorzubehalten. Der einzig juristisch feststellbare Unterschied zwischen verschiedenen Ermessensformen liege in dem jeweils zur Ermessenausübung zuständigen Organ. 56 Wesentliche Elemente der Stufenlehre des Rechts hat die jüngere Rechtswissenschaft rezipiert und für die Bestimmung von Entscheidungsspielräumen fruchtbar gemacht. Dabei ist das Postulat von der „Relativität des Gegensatzes von Rechtsetzung und Vollziehung“ 57 bzw. der Relativität von „Rechtserzeugung“ und „Rechtsanwendung“ 58 von zentraler Bedeutung. Es fungiert in Zusammenwirken mit dem Hinweis auf die Bindung der Staatsorgane an einen einheitlichen verfassungs54 55 56 57 58

Merkl, Allgemeines Verwaltungsrecht, S. 15, 37, 46 f., 71, 142 ff., 153. Kelsen, Allgemeine Staatslehre, S. 245. Merkl, Allgemeines Verwaltungsrecht, S. 143. Ders., Allgemeines Verwaltungsrecht, S. 15. Kelsen, Allgemeine Staatslehre, S. 243 f.

II. Voraussetzungen und Grenzen einer Begriffsübertragung

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rechtlichen Rahmen als zentrales Argument für die Annahme einer Kontinuität aller öffentlich-rechtlichen Entscheidungsspielräume. Die Maßstabslehre fasse die rechtlichen Anforderungen zusammen, die für alle Formen hoheitlichen Handelns gelten: die Grundrechte, die Staatsfundamentalnormen sowie die Grundsätze der Ermessenslehre. 59 Angesichts dieser gewaltenübergreifenden Verfassungs- und Zweckbindung falle der wohl größere, weil regelmäßig nicht noch durch einfache Gesetze und sonstige subkonstitutionelle Vorschriften begrenzte, Entscheidungsspielraum im Bereich der Staatsleitung 60 nicht entscheidend ins Gewicht. 61 In ähnlicher Form geht Korinek in Anlehnung an Kelsen davon aus, dass das Verhältnis von Gebundenheit und Freiheit bei einer Entscheidung je und je verschieden sein kann. In aller Regel sei die politische Gestaltungsfreiheit des Gesetzgebers eine größere als die autonome Gestaltungsfreiheit des Richters oder eines behördlichen Verwaltungsorgans. Die „prinzipielle Gleichartigkeit der so genannten Rechtsetzung und der so genannten Vollziehung“ sei aber nicht zu übersehen. 62 Magiera zufolge bedeutet Staatsleitung zugleich eine verfassungsbestimmte und verfassungsbestimmende Staatsaufgabe. 63 Bei Vorliegen unabgeschlossener Normprogramme sei die Struktur des Entscheidungsprozesses sowohl von der Art der Entscheidung als auch von dem Träger der Entscheidung unabhängig. Gleichgültig, ob es sich um legislatorische Entscheidungen oder administrative Einzelfallentscheidungen handele, „zerfalle“ sie in einen Akt des Normvollzugs und in einen Akt der Gestaltung. Soweit den staatlichen Organen im Rahmen der jeweiligen Entscheidung ein Freiraum eigener Gestaltung zustehe, sei dieser jeweils strukturell gleichartig. 64 Kassimatis fasst analog alle gubernativen Entscheidungsspielräume einheitlich als Ermessensspielräume zusammen und lehnt weitergehende, prinzipielle Differenzierungen ab: Regieren bedeute stets ein dauerndes Entscheiden darüber, was der allgemeine Wille (der Gesetzgeber) a priori nicht entscheiden und in Rechtsnormen niederlegen könne. Es sei deshalb mit der Ermessensverwaltung vergleichbar. Die Behauptung, das Regierungsermessen sei von der Verfassung, das Verwaltungsermessen dagegen vom Gesetz bestimmt, betreffe allein die verfahrensrechtliche, nicht aber die materiell-rechtliche Seite. Das Regieren als Ermessenstätigkeit unterliege den gleichen rechtlichen Grenzen wie jedes Ermessen, den inneren und äußeren Ermessensgrenzen. Diese Ermes-

59 Vgl. v. Bogdandy, Gubernative Rechtsetzung, S. 224 m.w. N.; Hamann, NJW 1955, 969 (971); Kloepfer, ZG 1988, 289 (301); Spanner, Richterliches Prüfungsrecht, S. 65. 60 Bettermann, Der Staat 1 (1962), 79 (87). 61 Vgl. Börger, Planungsentscheidungen, S. 97; Breuer, Der Staat 16 (1977), 21 (23); Frotscher, Rechtsbegriff, S. 224 f. m.w. N., 227, 231 f.; Herrnritt, Grundlehren, S. 293 ff., 297 f. m.w. N.; Klein, AöR 82 (1971), 75 (88); Krawietz, Der Staat 11 (1972), 349 (350). 62 Korinek, VVDStRL 39 (1980), 7 (13); vgl. Behrend, Stufenbaulehre, S. 30 ff. 63 Magiera, Staatsleitung, S. 80 f., 82; Roellecke, Politik, S. 169. 64 Börger, Planungsentscheidungen, S. 69, 97 f.; ähnlich: Stüer, DVBl. 1974, 314 (317 f.).

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E. Verwaltungsrechtliche Entscheidungskategorien im Verfassungsrecht?

sensgrenzen unterschieden sich von jenen im Bereich der Verwaltung lediglich hinsichtlich der Reichweite der von der Rechtsordnung gesetzten Grenzen. 65 2. Differenzierende Konzeptionen Die einheitliche Qualifizierung aller staatlichen Entscheidungsspielräume als Ermessen stellen Teile der Literatur sowohl für den Gesetzgeber als auch für die Regierung im institutionellen Sinn in Frage. Sie lehnen das Postulat einer Relativität von Rechtsetzung und Rechtsanwendung bzw. von Zwecksetzung und Vollzug ab. Der von den Einheitstheorien aufgezeigte Strukturvergleich reduziere sich letztlich auf die Plattitüde, dass im Recht Freiheit nicht ohne Bindung vorkomme. Er sei „juristisch steril“ und deshalb unergiebig, zumal verkannt werde, dass an einem gewissen Punkt „Quantität in Qualität“ umschlage. 66 Kernelement der Gegenkonzeption ist die Anerkennung von Zwecksetzungstätigkeit als selbstständige Entscheidungskategorie, die sich qualitativ von vollziehender Tätigkeit unterscheidet. Hiermit korrespondiert eine terminologische Differenzierung zwischen Ermessen und einer weiteren Kategorie legislativer, gubernativer und administrativer Entscheidungsspielräume − einer sog. politischen „Gestaltungsfreiheit“ 67. Der gelegentlich anklingende Vergleich mit dem Ermessen der Verwaltung, die in voller Bindung an ihren speziellen Gesetzesauftrag, dessen Zweckrichtung und an ergänzende gesetzliche Weisungen handele, werde der echten schöpferischen Freiheit des Gesetzgebers 68 oder dem der Staatsleitung allgemein offen stehenden „Gestaltungsspielraum“ nicht gerecht. Der Gegensatz lasse sich auch nicht wegdiskutieren, indem man ihn ideengeschichtlich als Relikt der konstitutionellmonarchistischen Staatsrechtslehre zu diskreditieren versuche. 69 Rechtshistorisch rekurrieren die Ursprünge dieser Unterscheidung auf die „Schrankentheorie“ 70, die sich als deren Vorläufer begreifen lässt. Im Wesentlichen geht es bei dieser Lehre um die Differenzierung zwischen Rechtsetzung und Rechtsanwendung bzw. zwischen Zweckmäßigkeit und Rechtmäßigkeit. 65 Kassimatis, Regierung, S. 45 f., 154 ff.; ähnlich: Frotscher, Rechtsbegriff, S. 224 f., 227; Hug, Die Regierungsfunktion, S. 200, 313, 327; Schwander, Die Regierungsfunktion, S. 52 f. 66 Ossenbühl, in: FS-H. Huber (1981), S. 283 (287); vgl. v. Danwitz, Gestaltungsfreiheit, S. 36; Eichenberger, Unabhängigkeit, S. 184: Eine graduelle Differenz kann sich zu einem qualitativen Unterschied „auswachsen“. 67 Badura, in: FS-Fröhler, S. 321 (321); Pieroth, ZParl 1995, 525 (525 f.) (für den Landesgesetzgeber). Synonyme Verwendung findet der Terminus „Gestaltungsspielraum“, vgl. Schenke, in: BK-GG, Art. 19 Abs. 4 Rn. 225. 68 Scheuner, DVBl. 1958, 845 (849). 69 Schenke, in: BK-GG, Art. 19 Abs. 4 Rn. 225; a. A.: Frotscher, Rechtsbegriff, S. 193 ff. 70 Sie geht auf F. J. Stahl zurück, der sie zum ersten Mal 1833 in seiner „Philosophie des Rechtes nach geschichtlicher Ansicht“, Bd. II/2, S. 588 für die Polizei entwickelt hat.

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a) Freie und gebundene Staatstätigkeit F.J. Stahl, der als Erfinder der Schrankentheorie gilt, geht von der Prämisse aus, dass Recht und Gesetz für die Verwaltung nur Grenzen des Dürfens bedeuten, aber nicht Richtung und Ziel ihres Handelns bestimmen. Die „Regierung im engeren Sinne“, die er auch Verwaltung oder Administration nennt, versteht er als durch das Gesetz „nur negativ begränzt“. 71 Indem er dem Recht für die staatliche Tätigkeit keine materiell-inhaltliche, sondern nur eine formal-beschränkende Wirkung zuspricht, klammert er die Exekutive „substantiell“ aus der Rechtsordnung aus. 72 Beispielhaft für diese Denkart sind auch die Äußerungen Bährs in seiner berühmten Abhandlung über den Rechtsstaat von 1864: „Richterliche Gewalt und Regierungsgewalt sind beide dem Gesetz unterthan, aber in ganz verschiedenem Sinne. Die Gerichte haben Recht und Gesetz zu realisieren. Die Regierungsgewalt hat innerhalb solcher zu walten. Für die Gerichte bilden Recht und Gesetz das positive, innere, ausschließliche Prinzip ihrer Thätigkeit. Für die Regierungsgewalt bilden Recht und Gesetz nur die äußere Schranke einer mehr oder weniger freien Thätigkeit, welche ihr positives Prinzip in etwas ganz Anderem, in den ihrer Obsorge anheimgestellten Interessen, man kann sagen dem Gemeinwohl, findet.“ 73 v. Ihering erklärt den inneren „Gegensatz“ zwischen der Rechtspflege und der Verwaltung (Regierung) als Folge eines Gegensatzes „der ihrer Natur nach gebundenen Gerechtigkeit und der ihrer Natur nach freien Zweckmässigkeit“. 74 Auswirkungen der Schrankentheorie lassen sich auch in der Staatslehre G. Jellineks nachweisen: Er versucht den Regierungsbegriff innerhalb eines älteren, umfassenden Verwaltungsbegriffs funktionell abzugrenzen und differenziert zwischen freier und gebundener bzw. vollziehender Staatstätigkeit. Während er rechtlich gebundene Tätigkeit einer rechtlichen Beurteilung für zugänglich erklärt, möchte er die freien Akte hiervon ausgenommen wissen. Als Kennzeichen der freien Tätigkeit identifiziert G. Jellinek deren ausschließliche Verpflichtung auf das Gemeininteresse, ohne daneben durch eine „spezielle Rechtsregel“ bestimmt zu sein. Rechtlich versteht er sie im Sinn der Schrankentheorie lediglich durch formelle Regelungen beschränkt. Die wichtigsten Sätze über die staatlichen Zuständigkeiten könnten „nur in Form von Machtbefugnissen, nicht von Pflichten definiert werden.“ Ihrer Bedeutung nach sei diese freie Tätigkeit deshalb die „erste, logisch primäre, aller übrigen Tätigkeit zugrunde liegende“. Durch sie setze der Staat sein eigenes Dasein, von ihr empfange er Richtung und Ziel seiner historischen Bewegung; aller Wandel und Fortschritt in seinem Leben gehe von ihr aus. Die gebundene Staatstätigkeit erklärt G. Jellinek demgegenüber stets 71 72 73 74

Ders., Philosophie des Rechtes nach geschichtlicher Ansicht, Bd. II/2, S. 194. Vgl. auch die Darstellung bei Soell, Eingriffsverwaltung, S. 69 m.w. N. Bähr, Rechtsstaat, S. 52. v. Ihering, Der Zweck im Recht, S. 388.

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als durch die Erfüllung einer Rechtspflicht bestimmt. Ein Staat, dessen ganze Tätigkeit gebunden wäre, sei aber eine „unvollziehbare Vorstellung“ und eine freie Tätigkeit deshalb allen historisch geschiedenen materiellen Staatsfunktionen immanent. Ihr Spielraum sei zwar auf dem Gebiete der Gesetzgebung am weitesten. Sie müsse ihrer Natur gemäß die größte Freiheit genießen. Aber auch die Verwaltung besitze „einen Raum freien Ermessens, der von Rechtsregeln begrenzt, aber inhaltlich nicht bestimmt ist“. Diesen Bezirk eines vom Gesetz nicht erfassten, freien Handelns innerhalb der Verwaltung qualifiziert G. Jellinek als die Regierung. Ein Staat mit einer nur nach Gesetzen handelnden Regierung wäre ein politisches Unding. Über die Richtung der von der Regierung ausgehenden Staatstätigkeit könne niemals eine Rechtsregel entscheiden. 75 Als Beispiele für Regierungstätigkeit nennt er an erster Stelle die Außenpolitik: „Vorallem zeigt sich das in der äußeren Politik, die fast die gleiche Freiheit zeigt wie die gesetzgeberische Tätigkeit, da völker- und staatsrechtliche Normen ihr den weitesten Spielraum lassen und lassen müssen. Aber auch nach innen ist die ganze richtunggebende Tätigkeit der Regierung Rechtsregeln notwendig entrückt.“ Zu dieser allgemeinen „in der Regierung ruhenden Initiative“ treten die Regierungsbefugnisse „bezüglich der parlamentarischen Kollegien, die Ernennung der Minister und Beamten, der Oberbefehl und die Verfügung über die bewaffnete Macht, das Begnadigungsrecht, die Verleihung staatlicher Ehren“. 76 Als zentrale Erkenntnis der Lehre G. Jellineks ist die Differenzierung zwischen freier und gebundener Staatstätigkeit hervorzuheben. Dabei liegt das maßgebliche Abgrenzungskriterium in der Art der Determination des Staatshandelns durch rechtliche Vorgaben. Besondere Beachtung verdient die Tatsache, dass diese Abgrenzung unabhängig von einer bestimmten Staatsfunktion ist. Die freie Tätigkeit fällt mit einem nicht durch Gesetze bestimmten Bereich zusammen, der heute vielfach die Bezeichnung „Gestaltungsfreiheit“ trägt. Die Unterscheidung zwischen freier und gebundener Staatstätigkeit findet sich speziell auch in der älteren Ermessenslehre, namentlich bei v. Laun. Er differenziert unter dem Oberbegriff „Ermessen“ ein freies Ermessen und ein gebundenes Ermessen. Gebundenes Ermessen zeichne sich dadurch aus, dass der individuellen 75 G. Jellinek, Allgemeine Staatslehre, (3. Aufl.), S. 616 ff.; kritisch: Kelsen, Allgemeine Staatslehre, S. 236 f.: So werde der Anschein geweckt, als ob der verwaltende Staat eigentlich unabhängig vom Recht begriffen werden könne, das Wesen der Verwaltung mit dem Recht nichts zu tun habe, wenn sich auch das Recht irgendwie auf die Verwaltung beziehe; ferner: Merkl, Allgemeines Verwaltungsrecht, S. 46 f.: Die „Umschreibung dieser der Verwaltung vermeintlich transzendenten Sphäre der Staatstätigkeit ergibt ein so nebelhaftes Bild, daß diese Sphäre für die Unterbringung jeglicher Verwaltungs- und überhaupt Staatstätigkeit Raum zu bieten scheint, von der das politische Bedürfnis eine solche metarechtliche, vom Recht emanzipierte Stellung wünscht ... Wenn man aber den Schleier dieses politisch verwurzelten Regierungsbegriffs zerreißt, weichen die jenseits der Verwaltung lokalisierten Akte alle in den Rechtsbereich der Verwaltung zurück“. 76 G. Jellinek, Allgemeine Staatslehre, (3. Aufl.), S. 617.

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Beurteilung durch das handelnde Organ ein Spielraum gelassen sei, aber dennoch eine Bindung an einen gesetzlichen Willen bestehe, das Organ lediglich „den gesetzlichen Willen zu vollführen“ habe. Das freie Ermessen versteht v. Laun dagegen als qualitativ selbstständige Größe. „Freies Ermessen“ beinhalte die Ermächtigung, bei der Wahl zwischen zwei oder mehreren Arten des Verhaltens den Zweck, zu welchem diese Wahl ausgeübt werden soll, autonom zu bestimmen. Die Verwaltung habe hier keine Rechtsregeln, an die sie sich halten könne, sondern müsse sich nach anderen Maximen des Handelns umsehen. Sie sei ermächtigt, unbeeinflusst vom Gesetz, selbst zu bestimmen, was öffentliches Interesse sein solle. Die Grenze des freien Ermessens erblickt v. Laun allein in den höchsten und allgemeinsten Staatszwecken, nämlich der Selbsterhaltung und Selbstbehauptung des Staats, der Wahrung der Staatsform und der bestehenden Gesellschaftsund Eigentumsordnung. Dieser Rahmen sei als gegebene und unabänderliche Richtschnur einzuhalten. 77 b) Diskussion unter Geltung des Grundgesetzes Auch unter Geltung des Grundgesetzes unterscheiden Teile des Schrifttums verschiedene Entscheidungskategorien anhand der normativen Determinationsstruktur und ordnen Ermessen entsprechend zu. Die einschlägigen Ansätze stellen die Rechtsunterworfenheit staatlichen Verhaltens nicht in Frage, treten aber für ein differenziertes Verständnis der Rechtsbindung im Sinn des Art. 20 Abs. 3 GG ein. Je nach konkreter Ausgestaltung erlaubt die Rechtsordnung danach materiell primäres oder lediglich materiell sekundäres Verhalten. 78 Bei materiell primären Entscheidungen handelt es sich um synthetische Werturteile. Sie sind selbstständig und materiell nicht vorgezeichnet und zeichnen ihrerseits die übrigen Staatsfunktionen vor. Aus ihnen ist jede weitere Tätigkeit in logischen Schlüssen zu folgern. Primäre Entscheidungen, auch „Grundentscheidungen“ 79 genannt, ergehen in erster Linie in Rechtsetzung und Regierung, seltener dagegen in der Verwaltung. 80 Die Vertreter dieses differenzierenden Standpunktes qualifizieren Ermessen mehrheitlich als materiell sekundäre Entscheidung oder als Vollzugsakt. 81 Krüger geht davon aus, dass dem Ermessen zwar „gesetzlich gewollte Mehrdeutigkeit“ zu77 v. Laun, Das freie Ermessen, S. 50, 55, 60 –71, 77, 258 –260; Tezner, Theorien, S. 229 f.; ablehnend dagegen: Merkl, Allgemeines Verwaltungsrecht, S. 144. 78 Ähnlich: Seuffert, AöR 108 (1983), 403 (403 f., 409); vgl. dens., in: FS-G. Müller, S. 491 (496 f.). 79 Hug, Die Regierungsfunktion, S. 281: Dagegen dienen die einfachen Entscheidungen der „Vorbereitung, Ergänzung und Vollziehung“ der Grundentscheidungen. 80 Eichenberger, Die oberste Gewalt, S. 24 f. m.w. N., 106 f. 81 A.A.: Kassimatis, Regierung, S. 43 (Fn. 4); vgl. Hug, Die Regierungsfunktion, S. 281.

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grunde liege. Bei genauerem Zusehen werde aber klar, dass diese Wahlmöglichkeit zwischen mehreren gleich richtigen Entscheidungen ihrerseits auf einer Entscheidung beruhe, die Zahl und Art der zur Wahl stehenden Möglichkeiten begrenze. Krüger versteht Ermessen deshalb stets als durch eine materiell primäre Entscheidung des Gesetzgebers begrenzt. Die Komplexität bestimmter Entscheidungen im Bereich von Legislative und Regierung lasse sich mit dem Ermessensbegriff nicht erfassen. In der Regel werde hier weniger zwischen verschiedenen Möglichkeiten, die innerhalb einer bestimmten Materie gegeben sind, zu wählen sein. Es sei vielmehr eine Abwägungsentscheidung erforderlich, die rechtliche und politische Aspekte gleichermaßen zu berücksichtigen habe. 82 Dem klassischen Ermessen stellt er die materiell primären, grundlegenden Regierungsakte gegenüber. Hierzu zählt er neben der Gesetzgebung beispielsweise auch die Bestimmung der Richtlinien der Politik. Es gebe in diesem Bereich eine unendliche Zahl von Möglichkeiten, die dem äußeren und inneren staatlichen Handeln offen stünden. Dabei sei es die vornehmste Aufgabe des pouvoir constituant und dann der Staatsführung, unter diesen Möglichkeiten eine Wahl zu treffen, dadurch alle anderen Möglichkeiten auszuschließen und eine unter ihnen zur allein maßgebenden zu erheben. Diese Eigenschaft teile der Regierungsakt nur scheinbar mit dem Ermessensakt. In eine ähnliche Richtung zielt die Feststellung Böckenfördes, wonach die Erreichung von Vereinbarkeit, Ausgleich und angemessener Zuordnung mehrerer, teilweise gegenläufiger normativer Prinzipien eher eine „Aufgabe der Gestaltung“ als die (interpretative) Anwendung einer Rechtsordnung darstelle. 83 Forsthoff konkretisiert die Qualifizierung von Ermessen als materiell sekundäre Tätigkeit: Als typisches Merkmal von Ermessen identifiziert auch er die notwendige Ausrichtung auf eine primär vorgegebene Grenze in Form eines Ziels oder eines Zwecks. Ermessen gebe es nur dort, wo das Inhaltliche des Verwaltungshandelns im Allgemeinen rechtssatzmäßig festgelegt sei, also in Zusammenhang mit einer mindestens als möglich zu denkenden Gebundenheit. Eine solche spezifische Grenze existiere aber nicht bei allen denkbaren Verhaltensweisen. 84 Wo beispielsweise die Gesetzgebung durch konstituierende Gesetze ordne, sei sie zwar auch an die Schranken der Verfassung gebunden. Ob im Bürgerlichen Gesetzbuch der Vertrag zugunsten Dritter so oder anders geregelt oder bei der Anfechtung von Willenserklärungen der Ersatz des Vertrauensschadens vorgesehen werde, sei aber 82

Krüger, DÖV 1950, 536 (540). Böckenförde, Der Staat 29 (1990), 1 (20 f.). 84 Ähnlich: Lerche, Verfassungsrecht, S. 65 f., 86 f., 92: Das bloße Vorhandensein einer allseits zu beachtenden Ausgrenzung, eines verbotenen Bezirks, wandle die freie Formung noch nicht zur Ermessenshandlung. Solche Ausgrenzungen würden „gewahrt“, „eingehalten“, „beachtet“, aber nicht „vollzogen“. Sie ragten zwar als Klippen in den Raum der „freien“ Gesetzgebung hinein, begrenzten sie aber nicht im Sinne eines stetigen Mitgehens; Stern, Ermessen, S. 16: „Wo nach Ermessen gehandelt wird, ist ein Maßstab vorhanden, der die Ermessenshandlung bindet“. 83

II. Voraussetzungen und Grenzen einer Begriffsübertragung

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keine Frage des Ermessens. Der Begriff des Ermessens scheide hier aus, weil er mit dem konstituierenden Charakter des Gesetzes unvereinbar sei. 85 Im Gegensatz zu Krüger, der die Existenz einer als „Regierungsakt“ bezeichneten besonderen Entscheidungskategorie auf die staatsleitenden Organe Parlament und Regierung begrenzt wissen will, beschränkt Forsthoff die Abgrenzung des Ermessens von einer primären, gestaltenden Tätigkeit nicht auf einen bestimmten Bereich. Da er weniger auf den staatsleitenden Charakter einer Entscheidung, sondern allein auf die materiell-rechtliche Determination als maßgebliches Kriterium abstellt, lässt sich seine Konzeption auch auf den Bereich der Verwaltung übertragen und an Beispielen veranschaulichen: Beschließe beispielsweise eine Stadt, einen Platz mit dem Denkmal eines Operettenkomponisten zu schmücken, so könnten Musikfreunde, die einem Mozart-Denkmal den Vorzug geben, der Stadtverwaltung zwar mangelnden Musikgeschmack, nicht aber fehlerhafte Betätigung des Ermessens zum Vorwurf machen. Die Rechtsordnung interessiere sich nämlich nicht für die Errichtung von Denkmälern – von äußersten Grenzen abgesehen, wie sie durch das polizeiliche Schutzgut der öffentlichen Ordnung bezeichnet seien. Spielraum oder Handlungsrahmen fehlten. 86 c) Entscheidungskategorien nach den differenzierenden Ansätzen Aus dieser differenzierenden Perspektive lässt sich „Politik“ auch im Verfassungsstaat nicht auf bloßen Verfassungsvollzug reduzieren: Der Gesetzgeber erlasse ein Gesetz nicht in „Vollzug“ der Verfassung, der Bundeskanzler bestimme die Richtlinien nicht in „Ausführung“ des Art. 65 S. 1 GG, die Bundesregierung lege einen Gesetzentwurf nicht zur „Vollziehung“ des Art. 76 Abs. 1 GG vor. Vielmehr gehe es bei diesen Tätigkeiten um die Verwirklichung zugewiesener Kompetenzen und um die „Erreichung eigengesetzter Ziele“. 87 Der Vorrang der Verfassung bedeute für den Gesetzgeber lediglich, dass sich einerseits die politische Gestaltung im Rahmen der Verfassung halten müsse und andererseits Verfassungsentscheidungen und bindende Verfassungsaufträge ohne Rücksicht auf die jeweiligen politischen Vorstellungen der Mehrheit zu realisieren seien. Ansonsten sei ihm bei der Setzung und Verwirklichung politischer Ziele durch das Grundgesetz eine „legislatorische Qualifikationskompetenz“ 88 oder „Zwecksetzungsprärogative“ 89 zugewiesen. Am freisten sei der Gesetzgeber dort, 85 Forsthoff, in: GD-W. Jellinek, S. 221 (233 f.); ähnlich auch: Menger, VVDStRL 15 (1957), 3 (31); Recknagel, Ermessen, S. 70 – 73, 91; Salzwedel, VVDStRL 22 (1965), 206 (225). 86 Forsthoff, Verwaltungsrecht I, § 5, S. 84. 87 Stern, Staatsrecht II, § 39 II 5 lit. b); ders., Ermessen, S. 11. 88 Martens, Öffentlich als Rechtsbegriff, S. 186; nach Sachbereichen differenzierend: Grabitz, Freiheit, S. 69 ff.

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E. Verwaltungsrechtliche Entscheidungskategorien im Verfassungsrecht?

wo er die ihm als zweckmäßig erscheinenden politischen Ziele in den Rang öffentlicher Interessen erheben könne. 90 Legitimerweise dürfe der Gesetzgeber jeden Zweck verfolgen, der nicht durch das Grundgesetz verboten sei. 91 Seine spezifische Denkmethode stelle sich zumindest bei der Zielbestimmung selten als Subsumtionsvorgang dar. 92 Auch die Regierung sei zwar „weithin verfassungsrechtlich begrenzt“, aber „nicht gebunden“. 93 Ihre aktuelle politische Entscheidung, die zwangsläufig nur in Freiheit von enger inhaltlich-sachlicher 94 Bindung ergehen könne, dürfe man deshalb nicht allein als Verwirklichung normativ vorgegebener Gebote auffassen. Vielmehr sei auch gubernative Tätigkeit als Betätigung politischer Richtsetzung innerhalb des durch das Grundgesetz vorgezeichneten Rahmens zu verstehen. 95 So wie die Verfassung die künftige Rechtsordnung nicht schon inhaltlich bestimme und die folgende Gesetzgebung auch freie, ungebundene Werturteile zu fällen habe, bleibe ein weiter Bestand notwendiger staatlicher Tätigkeit übrig, der weder Rechtsetzung noch Rechtsvollzug sei, der Bereich der Regierung. 96 Entsprechend stellt Krüger die Regierung als Führung der „Durchführung“ diametral gegenüber − vor allem jener Ausführung, die lediglich Anwendung des Gesetzes sei wie die Rechtspflege. 97 Als vielzitiertes Beispiel fungiert „pars pro toto“ für Entscheidungen im Regierungsbereich die Kompetenz des Bundeskanzlers nach Art. 65 S. 1 GG, die Richtlinien der Politik zu bestimmen. Hier stecke das Recht nur die äußeren Grenzen ab, deren inhaltliche Gestaltung dann in unterschiedlicher Weise denkbar sei, ohne dass die eine oder andere Lösung, am Recht gemessen, „richtig“ oder „unrichtig“ wäre. 98 Unter diesem Blickwinkel gehe die Richtlinienbestimmung durch den Bundeskanzler über den Begriff der Vollziehung im engeren Sinn hinaus. 99 89

Pieroth / Aubel, JZ 2003, 504 (509); Schlink, Abwägung, S. 217. Grabitz, Freiheit, S. 69. 91 Badura, in: FS-Fröhler, S. 321 (322 f.); Merten, DVBl. 1980, 773 (777); Schlink, Abwägung, S. 192. 92 Badura, AöR 92 (1967), 382 (391); Brenner, Gestaltungsauftrag, S. 372; Fuss, JZ 1959, 329 (330); Herdegen, AöR 114 (1989), 607 (611); Krüger, in: FG-Smend (1962), S. 151 (157); Leisner, in: FS-Berber, S. 273 (275); Mössle, Regierungsfunktionen, S. 104; Scheuner, in: FG-Smend (1962), S. 225 (260). 93 Ders., in: FS-Smend (1952), S. 253 (282). 94 Lorenz, Rechtsschutz, S. 157 f. m.w. N. (Hervorhebung im Original). 95 Scheuner, in: FS-Forsthoff, S. 325 (326); vgl. Bull, Staatsaufgaben, S. 143 f.; Eichenberger, Die oberste Gewalt, S. 24 f. m.w. N.; Hug, Die Regierungsfunktion, S. 44 f., 157 m.w. N.; Kassimatis, Regierung, S. 38, 89; Lepsius, in: FG-Hirsch, S. 47 (69); Mössle, Regierungsfunktionen, S. 205 f. 96 Hesse, Verfassungsrecht, § 14 Rn. 536; vgl. Badura, in: FS-Fröhler, S. 321 (321); Meyn, in: v. Münch / Kunig, GG, Art. 62 Rn. 1; Schmidt-Preuß, in: FS-Leisner, S. 467 (474 f.). 97 Krüger, Allgemeine Staatslehre, S. 690. 90

II. Voraussetzungen und Grenzen einer Begriffsübertragung

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Zur Veranschaulichung ziehen einige Autoren gerne die Parallele zu Entscheidungen einer Polizeibehörde: Wenn die Polizei nach pflichtgemäßem Ermessen die notwendigen Maßnahmen zur Beseitigung von Störungen der öffentlichen Sicherheit und Ordnung treffe, müssten dabei bestimmte Erwägungen von vornherein als sachfremd ausscheiden. Was für die Polizei sachfremd ist, könne auch ein Außenstehender, insbesondere ein neutraler Dritter – wie der Richter – beurteilen. Bei der Festlegung der Richtlinien der Politik durch den Bundeskanzler existierten dagegen keine a priori sachfremden Gesichtspunkte. Vielmehr könne der Bundeskanzler jeden erdenklichen auf das Staatsleben bezogenen Gesichtspunkt zur Motivierung seiner Entscheidung heranziehen. Die durchgehende Rechtsbindung allen staatlichen Verhaltens schließt danach Unterschiede in der Struktur dieser Bindung nicht aus. Mit ihrer differenzierten Ausprägung im Einzelfall korrespondieren jeweils verschiedene Entscheidungsspielräume des entscheidenden Organs. Von Legislativ- und Regierungsermessen möchte diese Betrachtungsweise deshalb nur sprechen, wenn die Tätigkeit im Einzelfall wirklich aufgrund oder in Vollzug von Rechtsnormen erfolgt, die einen inhaltlich − wenngleich auch nicht im Detail − festgelegten Handlungsspielraum gewähren. 100 Der Terminus „politische Gestaltungsfreiheit“ kennzeichne dagegen die weithin nur lockere rechtliche Eingrenzung des Regierungshandelns zutreffender als der Terminus „Ermessen“. 101 Der Ermessensbegriff ist nach diesem differenzierenden Verständnis auf verfassungsrechtlicher Ebene in der Regel auf Grundziele der Rechtsordnung bezogen, die auf dem Weg über eine politische Entscheidung zu verwirklichen sind. 102 Politische Gestaltungsfreiheit soll dagegen inhaltlich nicht vorgeformt sein. 103 Sie unterscheidet sich „nicht nur quantitativ, sondern qualitativ von dem an den sachlichen Auftrag und Maßstab des Gesetzes gebundenen Ermessen“. 104 Gestaltungsfreiheit bedeutet die freie Bewertung der bestehenden Ordnung und Gestaltungsmöglichkeiten, die nur an die Kompetenzordnung und die Grundrechte sowie durch den Rahmen des tatsächlich Möglichen gebunden ist. 105 Im Gegensatz 98 Arndt, DVBl. 1959, 269 (270) versteht die Richtlinienbestimmung sogar als justizfreien Hoheitsakt. 99 Magiera, Staatsleitung, S. 245; vgl. Oldiges, Kollegium, S. 154. 100 Stern, Staatsrecht II, § 39 II 5 lit. b); ders., Ermessen, S. 11. 101 Meyn, in: v. Münch / Kunig, GG, Art. 62 Rn. 1; Schneider, NJW 1980, 2103 (2109) beschränkt den Terminus „Gestaltungsfreiheit“ auf die Legislative; Stern, Staatsrecht II, § 39 II 5 lit. b); ders., Ermessen, S. 11; vgl. Badura, in: GD-Martens, S. 25 (29) (für den Gesetzgeber). 102 Vgl. Leisner, in: Staat, S. 303 (320). 103 Roellecke, Politik, S. 147. 104 Scheuner, in: FS-Smend (1952), S. 253 (281 f.); vgl. Mössle, Regierungsfunktionen, S. 104; Schenke, in: BK-GG, Art. 19 Abs. 4 Rn. 225; Scheuner, DVBl. 1958, 845 (849); Schmelter, Rechtsschutz, S. 140.

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E. Verwaltungsrechtliche Entscheidungskategorien im Verfassungsrecht?

zu Ermessen umfasst sie auch die grundsätzliche Entscheidung über das „Ob“ einer Maßnahme. 106 Allein die Mittel des Handelns sind aufgrund der Grundrechtsbindung in ihrer Art und Wirkungsintensität verfassungsrechtlich in einem bestimmten Maße (Verhältnismäßigkeit) vorgezeichnet. 107 Während Ermessen durch den Gesetzgeber präformiert ist, ist die „Gestaltungsfreiheit (...) Gegenstand und Bestandteil des demokratisch-politischen Prozesses“. 108 Sie umfasst in dieser Funktion „Regierung und Parlament“ und ist von diesen vor dem Wähler zu verantworten. 109

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Roellecke, Politik, S. 148 f.; vgl. Herdegen, AöR 114 (1989), 607 (610 f.). Vgl. Meßerschmidt, Gesetzgebungsermessen, S. 24 f. 107 Vgl. Badura, AöR 92 (1967), 382 (386); Kirchhof, in: HbStR III (1988), § 59 Rn. 26. 108 Mössle, Regierungsfunktionen, S. 104. 109 Scheuner, in: FG-Smend (1962), S. 225 (259 f.); ferner: Grimm, JZ 1976, 697 (701 m.w. N.). 106

F. Systematisierung öffentlich-rechtlicher Entscheidungsspielräume am Beispiel der Regierung I. Unterscheidung zwischen Entscheidungsspielräumen und Organfunktion Die umstrittene Einordnung des Planungsermessens bzw. einer planerischen Gestaltungsfreiheit verdeutlicht, dass die Problematik der Anerkennung einer vom Ermessen verselbstständigten Entscheidungskategorie Verwaltung, Regierung und den Gesetzgeber gleichermaßen betrifft. Es ist daher abzulehnen, Antworten auf die Frage nach den Entscheidungsspielräumen im Bereich der Regierung in pauschaler Parallele zu der Frage nach einer eigenständigen Regierungsfunktion zu suchen. Der Akt direkter Kreation durch das volksgewählte Parlament und die fortbestehende Nähe zu ihm − insbesondere die politische Abhängigkeit, die Rechenschaftspflicht und der damit verbundene direkte Dialog − bedingen wohl eine Besonderheit der Regierung, die es rechtfertigt, sie als „Gubernative“ von der Administrative zu unterscheiden. 1 Nach der hier vertretenen Auffassung sind konkrete Entscheidungsspielräume der Regierung – unabhängig von ihrer einheitlichen oder unterschiedlichen Qualifizierung – jedoch allein aus der Struktur und Qualität der materiell-rechtlichen Vorgaben abzuleiten, die die Rechtsordnung für deren Entscheidungen im Einzelfall vorgibt. Es verbietet sich unter Hinweis auf eine abstrakte Systematisierung der staatlichen Funktionenordnung sowohl die Herleitung 2 als auch die Negation 3 eigenständiger Entscheidungskategorien. Der Entscheidungsmodus eines bestimmten Verhaltens lässt sich nicht allein deshalb als Gestaltungsfreiheit qualifizieren, weil ein bestimmtes Organ – etwa die Bundesregierung − entschieden hat. Umgekehrt zwingt die Beschränkung des Grundgesetzes auf eine institutionelle Definition des Regierungsbegriffs 4 nicht zu dem Schluss, dass analog das materielle Recht keine besonderen gubernativen Entscheidungsspielräume vorsieht. Ein zu sehr auf die Funktion abhebender Ansatz läuft Gefahr, mithilfe eines abstrakten Funktionsbegriffs ein konkretes materiell-rechtliches Normprogramm zu überspielen 1

Schmidt-Aßmann, in: Hoffmann-Riem, Grundlagen, § 10 Rn. 47. Badura, in: FS-Fröhler, S. 321 (321); Fuss, JZ 1959, 329 (331); Meßerschmidt, Gesetzgebungsermessen, S. 274. 3 So aber offenbar Kassimatis, Regierung, S. 36 f. 4 Meyn, in: v. Münch / Kunig, GG, Art. 62 Rn. 1; vgl. Frotscher, Rechtsbegriff, S. 173. 2

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F. Systematisierung öffentlich-rechtlicher Entscheidungsspielräume

und setzt sich dem Vorwurf unzulässiger Verallgemeinerung aus. Diese Abhandlung lenkt den Blick deshalb vor allem auf die materiell-rechtlich vorgegebenen Strukturen bestimmter Entscheidungen und fragt, ob und in welcher Form sie in der gesamten Rechtsordnung durchgängig existent sind. Dabei geht es ihr nicht primär um eine Abgrenzung der Gewalten anhand ihrer Entscheidungsspielräume, sondern − umgekehrt − um eine möglichst gewaltentranszendente Kategorisierung von Entscheidungsspielräumen. Erst in einem hypothetischen, zweiten Schritt wäre zu prüfen, ob und wie sich eine besondere Entscheidungskategorie gerade aufgrund ihres Bezugs zum Regierungsbereich von entsprechenden Spielräumen der Verwaltung unterscheidet.

II. Rechtsbindung der Regierung Die Bestimmung von Entscheidungsspielräumen im öffentlichen Recht und damit auch der Regierung kann im Verfassungsstaat nur aus der Perspektive des materiellen Rechts und der Grundstruktur der Verfassung erfolgen. Die Rechtsstellung der Regierung beruht allein auf einem zeitlich begrenzten, vom Verfassungsrecht inhaltlich geregelten, „Auftrag“. 5 Im Gegensatz zu den einfachen Gesetzen, deren Regelungsbereiche nicht jedes Regierungshandeln erfassen, etwa weil der Vorbehalt des Gesetzes nicht greift oder bestimmte Sachbereiche schlichtweg nicht normiert wurden, hält das Grundgesetz als die Summe der obersten Rechtsnormen in der Normenhierarchie schon deshalb immer Aussagen für die Regierungstätigkeit bereit, weil sie jene überhaupt erst konstituiert. Als Positivierung der grundlegenden Entscheidungen über die rechtliche und politische Gestalt des Gemeinwesens ist die Verfassung nicht Bestandteil, sondern Grundlage und Rahmen der Regierungsfunktion und liegt der verfassungsstaatlichen Regierung voraus. 6 Die Interdependenz zwischen der Funktion der Verfassung und den materiellen Entscheidungsspielräumen im Bereich der Regierung ist evident: Bewegt sich die Verfassung dem allgemeinen Verständnis nach von einer rechtlichen Rahmenordnung hin zu einer ganzheitlichen Ordnung, verlieren umgekehrt Gesetzgebung und Regierung ihre politischen Entscheidungs- und Gestaltungsmöglichkeiten und stellen bloße Verfassungsvollzugsfunktionen dar, während das einfache Recht als Verfassungskonkretisierung erscheint. 7 Auch die Reichweite verfassungsgerichtlicher Überprüfung hängt von der Funktion der Verfassung ab. Ist das Grundgesetz ein gesellschaftspolitisches Programm, das Parlament und Regierung umzusetzen haben, dann muss das Bundesverfassungsgericht den Verfassungsvollzug überwachen. Legt die Verfassung dagegen bewusst lediglich die Spielregeln und Schranken der politischen Gestaltung fest, dürfen die Richter die Einhaltung recht5 6 7

Friauf, in: FS-Herrfahrdt, S. 45 (46); Scheuner, in: FS-Smend (1952), S. 253 (281 f.). Mössle, Regierungsfunktionen, S. 205. Isensee, in: HbStR VII (1992), § 162 Rn. 46; vgl. Hesse, AöR 96 (1971), 137 (139).

III. Die Verfassung des Grundgesetzes als Rahmenordnung

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licher Mindeststandards nachhalten, nicht aber bestimmte Entscheidungsinhalte durchsetzen. 8 Das Dogma von der „einzig richtigen Entscheidung“ lässt sich für diese normativen Bereiche nicht ohne weiteres aufrechterhalten.

III. Die Verfassung des Grundgesetzes als Rahmenordnung Als Rahmenordnung organisiert die Verfassung das staatlich-politische Leben und regelt das Grundverhältnis Bürger-Staat. Sie erscheint als Gewährleistung eines freien politischen Lebensprozesses und als Rationalisierung und Beschränkung der Macht. 9 Die Verfassung ist nach diesem Verständnis weder „Ordnung der Totalität gebietsgesellschaftlichen Zusammenwirkens“ noch eine bereits abgeschlossene – logisch axiomatische oder werthierarchische – systematische Einheit. 10 Sie enthält nicht das Material, das zu einer Harmonisierung verschiedener Rechtspositionen untereinander führt, sondern schlägt nur bestimmte fundamentale Pflöcke ein, insbesondere Abwehrpositionen und spezifische Richtpunkte. 11 Da die Verfassung grundsätzlich auf eine Vervollständigung des Normensystems angelegt ist, handelt es sich bei den offen gelassenen Fragen auch nicht um planwidrige „Lücken“. 12 Bei der Erfüllung von Aufgaben und der Konkretisierung von Zielen lässt sie Spielräume, welche die verschiedenen politischen Kräfte je nach ihrem Programm in dieser oder jener Weise nutzen können. 13 Die eröffneten Spielräume erlauben eine weitgehende Veränderung und Gestaltung des politischen Systems, der gesellschaftlichen Verhältnisse und der Rechtsordnung. Sie sind Gegenstand der politischen Auseinandersetzung und des Gestaltungswillens der politischen Kräfte. „Insoweit beruht die Selbst- und Wesensbestimmung des Staates auf der unmittelbaren Verantwortung der staatsleitenden Organe.“ 14 Auch die zahlreiche Existenz und textliche Genauigkeit von Verfahrensnormen steht dem Rahmencharakter der Verfassung nicht entgegen. Sie betreffen in erster Linie die formelle Ebene. 15 8

Gusy, JöR 33 (1984), 105 (109); differenzierend: Grimm, JZ 1976, 697 (701). Scheuner, AöR 95 (1970), 353 (368 f.). 10 Hesse, Verfassungsrecht, § 1 Rn. 20; a. A.: Häberle, Die Wesensgehaltsgarantie, S. 31 f.; Smend, Verfassung und Verfassungsrecht, S. 45, 47; dazu kritisch: Schlink, Abwägung, S. 130 ff. 11 Böckenförde, Der Staat 29 (1990), 1 (30 f.). 12 Hesse, Verfassungsrecht, § 1 Rn. 21; Zippelius / Würtenberger, Deutsches Staatsrecht, § 7 I 3. 13 Vgl. Grimm, JZ 1976, 697 (701); Isensee, in: FS-Leisner, S. 359 (398). 14 Mössle, Regierungsfunktionen, S. 205 f. m.w. N. 15 Heun, AöR 109 (1984), 13 (27) m.w. N.; vgl. Pieroth, in: Wechselwirkung, S. 11 (25). 9

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F. Systematisierung öffentlich-rechtlicher Entscheidungsspielräume

Vor allem Böckenförde warnt davor, die Verfassung nicht mehr als Beschränkung der staatlichen Gewalt und als Organisation der politischen Willensbildung und Herrschaftsausübung, sondern als rechtliche Positivierung der „Grundwerte“ des gesamten sozialen Lebens aufzufassen. Ein solcher Versuch einer VorabFestlegung der geistigen und politischen Willensbildung und Entscheidung durch eine immer weitere Bereiche ergreifende, rechtlich gebotene „Verfassungsverwirklichung“ bedeutet seiner Auffassung nach letztlich einen „Ausgriff in eine neue Totalität“ und läuft auf „eine Art Verfassungstotalitarismus“ hinaus. Freiheit gewähre die Verfassung nicht mehr unbedingt, im Wege rechtlich-formaler Ausgrenzungen, sondern nur innerhalb der Wertgrundlage der Verfassung. Die individuelle Freiheit werde der Herrschaft derjenigen unterstellt, die das Interpretationsmonopol für diese Werte besitzen. Das gelte bei der Berufung auf materiale Werte in besonderem Maße. Werte seien als solche einer rationalen, intersubjektiv vermittelbaren Begründung nicht fähig. Stattdessen werde persönlichem ideologischen Meinen und Dafürhalten und dem Positivismus politischer Tageswertungen Tür und Tor geöffnet. 16 Hennis kritisiert die Tendenz in der deutschen Staatsrechtslehre, die Verfassung als einen „Generalauftrag“ an Regierung und Parlament zu verstehen, verfassungsrechtliche Gebote zu „konkretisieren“ oder zu „aktualisieren“. So stellt er die Frage, ob denn eine Erhöhung der Renten zu erfolgen habe, weil Geld in der Kasse ist und Parlament und Regierung es für richtig halten oder um den „Verfassungsauftrag“ des „sozialen Rechtsstaates“ zu erfüllen? Es könne nicht wirklich Sinn der Verfassung sein, die politische Willens- und Meinungsbildung geistig vorwegzunehmen, und aus ihr die materiale Wertordnung des ganzen politischen Lebens herauszulesen. 17 Das Grundgesetz lässt offen, was es im Einzelnen unter der in Art. 1 Abs. 3, Art. 20 Abs. 3 GG angeordneten Rechtsbindung versteht. Für ein prinzipielles Verständnis des Grundgesetzes als rechtlich gesetzten Rahmen bzw. als allgemeine Richtungsbestimmung 18 der staatlichen Existenz spricht aber unter systemati16 Böckenförde, in: Recht, S. 143 (164 f., 166 f.); ders., Der Staat 9 (1970), 533 ff.; ders., Richterwahl, S. 60; Quaritsch, Der Staat 1 (1962), 175 (185): „Eine verfassungsrechtlich normierte werthafte Lebensordnung ist nicht diskutierbar, man kann sie mit rechtlicher Relevanz nicht annehmen oder ablehnen, man kann sie nur befolgen – wer das nicht will, verliert den Anspruch auf rechtliches Gehör“. 17 Hennis, Verfassung und Verfassungswirklichkeit, S. 20 f. m.w. N.; vgl. auch: Geiger, JöR 33 (1984), 41 (45); Scheuner, in: FS-Forsthoff, S. 325 (326 f.): „Auch wo in seinem Rahmen der freien politischen Gestaltung und Entscheidung Raum gelassen ist, zeigt sich oft die Neigung, auch für diesen Bereich selbstständiger Gestaltung des Gesetzgebers in der Verfassung nach Anhalt und Bindung zu suchen“. 18 Badura, Verwaltungsmonopol, S. 312 f.; Krüger, Allgemeine Staatslehre, S. 696; a. A.: Leisner, in: Staat, S. 303 (312, 313 f.), der von einer finalen Bestimmung des Regierungshandelns auch in Fällen auszugehen scheint, in denen keine spezielle Schranke vorgesehen ist, wie z. B. in der Außenpolitik.

III. Die Verfassung des Grundgesetzes als Rahmenordnung

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schem Gesichtspunkt zuvorderst das in Art. 20 Abs. 1, Abs. 2 GG neben dem Rechtsstaatsprinzip normierte Demokratieprinzip. Es überschneidet sich teilweise mit den anderen Strukturentscheidungen des Art. 20 GG. 19 Sie verlangen zu ihrer möglichst wirksamen Verwirklichung nach gegenseitiger Abstimmung („Konkordanz“). 20 Das Demokratieprinzip besagt, dass die jeweilige Mehrheit der jeweils Lebenden die Kompetenz haben soll, über den Normenbestand zu verfügen und diesen auch dem Wandel der mehrheitlichen Gerechtigkeitsvorstellungen und der politischen Anschauungen anzupassen. 21 Es wäre widersprüchlich, wenn das Grundgesetz an prominenter Stelle einerseits das Verfahren demokratischer Selbstbestimmung organisieren und andererseits den Prozess seiner eigenen Umsetzung in das Rechtsleben einer politisch zu verantwortenden Selbststeuerung weitgehend entziehen würde. 22 Wäre jede das Gemeinwohl betreffende Entscheidung bereits durch die Verfassung entschieden oder ließe sie sich aus ihr ableiten, würde der gesamte demokratische Entscheidungsprozess überflüssig und ad absurdum geführt. 23 Es bedürfte keines Parlaments, keiner Parteien und keiner Regierung, die um Mehrheiten ringen, um politische Entscheidungen zu fällen und ihre Vorstellung von Gemeinwohl zu verwirklichen. Das Grundgesetz könnte sich stattdessen auf die Einrichtung einer Verfassungskommission beschränken, die auf jede die Gemeinschaft betreffende Frage aus der Verfassung die vorgesehene Antwort zu deduzieren hätte. 24 Bezeichnet die Bindung durch Recht und Gesetz nicht Ziel und Inhalt, sondern nur Rahmen und Grenze des staatlichen Handelns, muss das „Minus“ an rechtlicher Determination im Bereich von Regierung und Parlament durch ein „Plus“ an demokratischer Legitimation und Verantwortlichkeit kompensiert werden, um die notwendige demokratische Legitimation nach der sachlich-inhaltlichen Seite zu gewährleisten. 25 Mit der Abnahme rechtlicher Bindung und der entsprechend geringeren judikativen Kontrolle tritt als Surrogat an deren Stelle die politische Kontrolle durch den Souverän. 26 In einer Demokratie ist es gerade wichtig, wer entscheidet – darum dreht sich nicht zuletzt der Wahlkampf. Ob Politiker bei Entscheidungen, die nicht rechtlich determiniert sind, verantwortungsvoll handeln und ethischen Maßstäben gerecht werden, darüber wacht die Demokratie und nicht das Recht. 27 Von besonderer Bedeutung ist deshalb in einem parlamentarischen Re19

Jarass, in: Jarass / Pieroth, GG, Art. 20 Rn. 2. Herzog, in: Maunz / Dürig, GG, Art. 20 I Rn. 36 f. 21 Zippelius / Würtenberger, Deutsches Staatsrecht, § 5 II 2 lit. a), § 7 I 2 lit. b); vgl. zu dem Verhältnis von Rechtsstaats- und Demokratieprinzip: H. A. Wolff, in: FS-Quarisch, S. 73 (85 m.w. N.). 22 Scherzberg, DVBl. 1999, 356 (363) m.w. N. 23 Böckenförde, in: Recht, S. 143 (167); Klein, DÖV 1964, 471 (473). 24 BVerfGE 59, 231 (263). 25 Böckenförde, Richterwahl, S. 79. 26 Depenheuer, VVDStRL 55 (1996), 90 (113). 20

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F. Systematisierung öffentlich-rechtlicher Entscheidungsspielräume

gierungssystem die Verantwortung der Regierung gegenüber dem Parlament. 28 Es kann die Regierung als Spitze der Verwaltung durch Sach- und Leistungskontrolle oder als politisches Führungsorgan im Wege der Richtungskontrolle kontrollieren. 29 Die Rechenschafts- und Einstandspflicht bezieht sich auch und gerade auf die zweckmäßige und wirksame Wahrnehmung des Gesamtwohls. 30 Kriterium und Antrieb parlamentarischer Exekutivkontrolle ist primär die Verfolgung „richtiger“ und „guter“ Politik und weniger die unparteiische, quasi richterliche Überprüfung von Gesetzesverletzungen. 31 Notwendige Voraussetzung und Kehrseite politischer Verantwortung sind politische Spielräume. Verantwortung kann der entscheidende Akteur nur auf der Grundlage eigener Entscheidungsmacht übernehmen. Die parlamentarische Verantwortung lässt sich insoweit als „Gegenstück zur selbstständigen Handlungsvollmacht der Regierung, des Regierungschefs und der Minister“ verstehen. 32 Auch das Bundesverfassungsgericht betont, dass die Regierung Verantwortung vor dem Deutschen Bundestag und vor den Bürgern nur übernehmen kann, „wenn sie im Rahmen der Kompetenzordnung über ausreichende eigenständige politische Handlungsspielräume verfügt“. Verantwortung ist nur denkbar, wenn derjenige, der die Verantwortung trägt, im Hinblick auf den Gegenstand seiner Verantwortung keiner Fremddetermination unterliegt. 33 Die Verfassung enthält schließlich bewusst dilatorische „Formelkompromisse“, die „die verschiedensten Möglichkeiten und Deutungen offen“ halten. 34 Der Versuch, ihr hinreichend bestimmte Entscheidungsnormen für konkrete Falllösungen entnehmen zu wollen, würde dagegen die „Leistungsgrenzen“ des Rechts 35 vielfach überschreiten. Der Interpretation würden Aufgaben zugemutet, die mit interpretativen Mitteln nicht zu bewältigen sind. 36 Ein Verständnis der Verfassung als Rahmenordnung ist somit auch angezeigt, um deren Normativität auf Dauer sicherzustellen und einer „Schwächung der Verfassung durch ihre materiale Überanstrengung“ vorzubeugen. 37 Diese Gefahr wird umso größer, je detaillierter die verfassungsrechtlichen Vorgaben an das staatliche Handeln ausfallen. Soll 27

Lepsius, in: FG-Hirsch, S. 47 (70). Schmidt-Preuß, in: FS-Leisner, S. 467 (467). 29 Eschenburg, Staat und Gesellschaft, S. 608 f. 30 Schambeck, Die Ministerverantwortlichkeit, S. 44 f.; Schröder, in: HbStR III (2005), § 65 Rn. 52. 31 Masing, Parlamentarische Untersuchung, S. 234. 32 Schröder, in: HbStR III (2005), § 65 Rn. 51, 56. 33 BVerfGE 114, 121 (154); vgl. Eichenberger, in: FS-H. Huber (1961), S. 109 (130 f.). 34 C. Schmitt, Verfassungslehre, S. 32; vgl. Hesse, Verfassungsrecht, § 5 Rn. 142. 35 Grimm, AöR 97 (1972), 489 (501). 36 Böckenförde, NJW 1976, 2089 (2099); Schlink, Abwägung, S. 134 f., 141 f., 152 f.: Verfassungswerte lassen sich beispielsweise methodisch nicht in adäquater Form in kardinale oder ordinale Werteordnungen bringen. 37 Böckenförde, Der Staat 9 (1970), 533 (535); vgl. Magiera, Staatsleitung, S. 31. 28

IV. Verfassungsrechtliche Determination staatlicher Entscheidungen

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sich die Verfassung als rechtliche Grundordnung auch im geschichtlichen Wandel dauerhaft bewähren, muss sie sich, abgesehen von den rein organisatorischtechnischen Bestimmungen, auf „wenige elementare Grundsätze“ beschränken. Ein tatsächliches, permanentes Vollzugsdefizit würde ansonsten die Geltung der Verfassung unterlaufen und häufige Änderungen könnten dazu beitragen, ihre normative Kraft zu entwerten. 38 Das Verständnis der Verfassung als Rahmenordnung sollte sich auch in einem restriktiven Grundrechtsverständnis niederschlagen. Zwar spricht gerade ein rechtsstaatliches, freiheitliches Staatsverständnis für weite Schutzbereiche und einen weiten Eingriffsbegriff. Dabei bliebe jedoch außer Betracht, dass die verfassungsrechtliche Rechtfertigung an den Grundrechten nicht die einzige Rechtfertigung des Staatshandelns ist. Es tritt daneben eine weitere, die sich auf den politischen Prozess stützt. 39

IV. Ausgestaltung der verfassungsrechtlichen Determination staatlicher Entscheidungen 1. Differenzierung zwischen formellen und materiellen Maßstäben Die Kompetenzvorschriften unterwerfen die Staatsfunktionen immer einem Amtsauftrag und einer formellen Bindung. Sie dürfen nur als „Rechtsgewalt“ handeln. 40 Die Differenzierung zwischen formellen und materiellen verfassungsrechtlichen Maßstäben ist von Bedeutung, da regelmäßig nur hinsichtlich der formellen Kompetenz- und Verfahrensregeln ein Verständnis der Regierungstätigkeit als „Verfassungsvollzug“ angemessen erscheint. 41 Diese formelle „Vollziehung“ der Verfassung durch die Regierung ist jedoch nicht mit der Gesetzesvollziehung durch die Verwaltung gleichzusetzen. 42 Vollziehung setzt nicht bloß eine Anwendung von Rechtsnormen, sondern eine konkrete sachliche Rechtsbindung voraus. 43 Für die Bestimmung des Entscheidungsmodus der Regierungstätigkeit ist deshalb maßgeblich auf die jeweiligen materiellen Vorgaben der Verfassung abzustellen. 44 38 Hesse, Die normative Kraft der Verfassung, S. 13 f. (Hervorhebung im Original); vgl. Gusy, JöR 33 (1984), 105 (112); Magiera, Staatsleitung, S. 35; Zippelius / Würtenberger, Deutsches Staatsrecht, § 5 II 2. 39 Pieroth / Schlink, Grundrechte, Rn. 228. 40 Stern, Ermessen, S. 15 f.; vgl. Roellecke, Politik, S. 169. 41 Merten, DVBl. 1980, 773 (777); vgl. Eichenberger, Die oberste Gewalt, S. 21 f. m.w. N.; Jesch, Gesetz und Verwaltung, S. 93; ferner auch: Kelsen, VVDStRL 5 (1929), 30 (32, 56); ders., Allgemeine Staatslehre, S. 234. 42 Schwander, Die Regierungsfunktion, S. 52. 43 Kassimatis, Regierung, S. 143 f. m.w. N.; vgl. Hug, Die Regierungsfunktion, S. 280. 44 Magiera, Staatsleitung, S. 76 f.

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F. Systematisierung öffentlich-rechtlicher Entscheidungsspielräume

2. Materiell-rechtliche Doppelfunktion der Verfassung Mit der Charakterisierung des Grundgesetzes als Rahmenordnung allein wäre seine materielle Funktion aber nur unzureichend erfasst. Das komplizierte Gefüge, das die Verfassung ausmacht, lässt sich nicht auf die eine oder andere Kurzformel bringen. 45 Der von den formellen Regelungen unterschiedene Bereich materiellrechtlicher Bindungen zerfällt vielmehr seinerseits in verschiedene Unterkategorien. Böckenförde unterteilt die materielle Verfassung in einen Bereich verbindlicher „Grenzfestlegung“ (klassische Ausgrenzungsfunktion) und in eine weniger justiziable Komponente, die „verbindliche Richtungsbestimmung“ für die politische Entscheidungsgewalt. Diese Richtungsbestimmung erfolgt durch Festlegung bestimmter Handlungsziele und Gestaltungsprinzipien, die in die gesetzliche Rechtsordnung und das Verwaltungshandeln einzugehen und es zu prägen haben, ohne aber dafür ein hinreichendes Normenprogramm zu enthalten. 46 In vergleichbarer Form gliedert Magiera die durch formell- und materiell-rechtliche Verfassungsnormen bewirkte Bindung der Staatsleitung in die Bereiche der äußeren verfassungsrechtlichen Begründung und Begrenzung sowie einen vermittelnden Zwischenbereich der verfassungsrechtlichen Steuerung. Da er in seine Gliederung auch formelle Aspekte einbezieht, unterteilt er drei verfassungsrechtliche Schwerpunkte: Erstens die formelle Handlungsermächtigung als allgemeine Organstatuierung und Funktionslegitimierung, zweitens eine materielle Handlungsbegrenzung als punktuelle Ausschließung einzelner Handlungen und Wirkungen und schließlich die materielle Handlungssteuerung als richtlinienartige Verdichtung besonderer Gebote, Verbote und Erlaubnisse. 47 Das Grundgesetz normiert nicht nur die Einrichtung und die Verfahrensweisen der Staatsorgane und des politischen Prozesses. Es begnügt sich nicht mit der Aufstellung von Tätigkeitsschranken, mit einem Katalog von Begrenzungen, sondern besitzt ebenso einen positiven Gehalt. 48 Anlage und Auslegung der Verfassung bringen dabei teilweise ein erhebliches Maß an Bindung der politischen Funktionen mit sich. 49 Die Formen, in denen sich das materiale Verfassungsrecht präsentiert, können dementsprechend verschieden sein. Grundrechte und verfassungsrechtliche Leitgrundsätze grenzen die Entscheidungsfreiheit der politischen Organe sachlich ein. 50 Die verfassungsrechtliche Begrenzung gilt einer durch die 45

Lerche, in: FS-Stern, S. 197 (203 f.). Böckenförde, NJW 1976, 2089 (2099) (Hervorhebung im Original). 47 Magiera, Staatsleitung, S. 82; Roellecke, Politik, S. 169. 48 Badura, in: FS-Scheuner, S. 19 (33); Grimm, JZ 1976, 697 (701). 49 Scheuner, in: FS-Forsthoff, S. 325 (327); vgl. Grimm, AöR 97 (1972), 489 (500). 50 Mössle, Regierungsfunktionen, S. 205; Scheuner, in: FS-Smend (1952), S. 253 (281); ders., DVBl. 1958, 845 (849); Schmelter, Rechtsschutz, S. 140; vgl. Huber, in: FG-Giacometti, S. 59 (65 Fn. 20). 46

IV. Verfassungsrechtliche Determination staatlicher Entscheidungen

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Verfassung begründeten, aber nur allgemein festgelegten, Staatsgewalt. 51 Verfassungsrechtliche Grenzen wirken sich auf die Zwecksetzungstätigkeit aus. Während die frühere Staatsrechtslehre davon ausging, dass der Staat „nach den Erfordernissen der jeweiligen Lage jeden Zweck“ 52 setzen dürfte, dürfen im Verfassungsstaat mit seinen Limitierungen der Staatszwecke die Ziele des Gesetzgebers und der Regierung dem Grundgesetz nicht widersprechen. 53 Es legt die Menschenwürde ebenso wie die auf sie bezogenen Staatsfundamentalnormen fest und entzieht sie der Disposition der jeweiligen Inhaber der staatlichen Ämter. „Für einen Grundtatbestand dieser Prinzipien setzt das Grundgesetz einen die Verfassung legitimierenden Konsens der politisch organisierten Gesellschaft voraus und erklärt diesen Grundtatbestand deshalb für legal unabänderbar (Art. 79 Abs. 3 GG).“ Der demokratische Verfassungsstaat ist im Hinblick auf ein Fortbestehen dieses Verfassungskonsenses nicht neutral. 54 Neben der „Ewigkeitsgarantie“ sind auch die Vorkehrungen einer „wehrhaften Demokratie“ (Art. 21 Abs. 2 GG) Ausdruck einer „Rematerialisierung“ des Grundgesetzes gegenüber dem Relativismus der Weimarer Reichsverfassung. 55 Darüber hinaus finden sich im Grundgesetz auch Vorschriften, die im Einzelfall nicht nur Ausgrenzungen normieren, sondern den politischen Prozess mit materiellen Richtlinien für das Handeln der Staatsorgane versehen. 56 Hierzu zählen neben den grundrechtlichen Schutzpflichten auch das Gebot völkerfreundlicher und friedlicher Außenpolitik (Art. 25, 26 GG), die Verweisung auf übernationale Zusammenarbeit (Art. 24 GG) oder das frühere Wiedervereinigungsgebot. 57 Normative Steuerungselemente der Verfassung bezeichnet das Schrifttum auch als „Staatszielbestimmungen“ 58, „Verfassungsdirektiven“ 59 oder Verfassungsgrundsätze 60. Das Grundgesetz schlägt einen „Mittelweg“ ein. Es hat eine materielle „Doppelfunktion“. 61 Zu Recht wurde deshalb auch der Versuch abgelehnt, die verfassungsrechtliche Bindung von grundlegenden Aufgabenbereichen wie der Staatsleitung oder der Gesetzgebung mit einem einzigen Begriff, sei es als „Ermessen“, sei 51

Magiera, Staatsleitung, S. 80. Kelsen, Allgemeine Staatslehre, S. 40; Krüger, Allgemeine Staatslehre, S. 760 f. 53 BVerfGE 4, 7 (14 f.); 50, 290 (337). 54 Badura, in: FS-Scheuner, S. 19 (23 f., 30 f.). 55 Pieroth, in: Wechselwirkung, S. 11 (14). 56 Badura, in: FS-Scheuner, S. 19 (24). 57 Scheuner, in: FS-Forsthoff, S. 325 (328). 58 Ipsen, Über das Grundgesetz, S. 14. 59 Lerche, AöR 90 (1965), 341 ff. 60 Krüger, in: FS-Forsthoff, S. 187 ff. 61 Meßerschmidt, Gesetzgebungsermessen, S. 22; Mössle, Regierungsfunktionen, S. 205 f. 52

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F. Systematisierung öffentlich-rechtlicher Entscheidungsspielräume

es als „freie Gestaltung“, zu erfassen. Es geht vielmehr um die Frage, inwieweit rechtliche Bindungen im Einzelfall bestehen. Über die Antwort entscheiden nicht abstrakte Begriffe wie Ermessen oder Gestaltungsfreiheit, sondern konkrete Verfassungsnormen. 62 Sie bestimmen, ggf. unter Berücksichtung systematischer Zusammenhänge, die jeweiligen Entscheidungsspielräume der Regierung. Insgesamt darf der Umfang der Bindung der politischen Funktionen durch Zielbestimmungen „nicht überschätzt werden“ 63. Wie Lerche am Beispiel des Gesetzgebers nachweist, stellen diese Vorgaben immer nur einzelne Punkte der Weisung gegenüber einer sehr weiten politischen „Initiativ- und Gestaltungsfreiheit“ dar. 64 Auch für die Regierung lässt sich zwar eine durchgehende Begründung und Begrenzung, nicht aber eine durchgehende inhaltliche Steuerung, nachweisen. 65 Die Verfassung schreibt nur an einigen Stellen vor, wie die Bundesregierung ihre Kompetenzen auszuüben hat und begnügt sich dabei meist mit sehr abstrakt gehaltenen Zielvorgaben. Einfachgesetzliche Entscheidungen der Legislative können diese Verfassungsvorgaben nur in allgemeiner Form konkretisieren oder Verfahrensfragen regeln. 66 Aufgrund der punktuellen Natur positiver Steuerungselemente in der Verfassung bleibt eine „finale Determinierung“ legislativen oder gubernativen Verhaltens die Ausnahme. 67 Aber auch soweit die Verfassung materiell verbindliche Entscheidungen trifft, handelt es sich meist um Grundsätze, die ihrerseits Spielräume bei ihrer Umsetzung gewähren. Die Verhaltensnormen der Verfassung sind in der Regel zur unmittelbaren Rechtsverwirklichung nicht ausreichend konkret. Im engeren Sinn vollziehbares Recht tritt deutlich zurück. 68 Es bedarf jedenfalls zahlreicher Zwischenschritte und mehr noch als bei der gewöhnlichen Gesetzesanwendung einer interpretativen Aufbereitung und Wertung, um der Verfassung bestimmte Aussagen entnehmen zu können. Der teleologische Gehalt und die dirigierende Kraft des Grundgesetzes sind nur in Ausnahmefällen so stark, dass sie konkrete Maßnahmen determinieren. 69 Die Rechtsbindung der Regierung ist daher in der Regel als Begrenzung und nicht als sachliche Vollziehung zu verstehen. 70 62

Magiera, Staatsleitung, S. 81 f. m.w. N. Scheuner, in: FS-Forsthoff, S. 325 (339). 64 Lerche, AöR 90 (1965), 341 (355 f.); vgl. Gusy, JöR 33 (1984), 105 (126 f.); Leisner, in: FS-Berber, S. 273 (275). 65 Schröder, in: HbStR III (1988), § 67 Rn. 13 m.w. N.; vgl. Junker, Die Richtlinienkompetenz, S. 52. 66 Tschentscher, Bundesauftragsverwaltung, S. 22. 67 Meßerschmidt, Gesetzgebungsermessen, S. 99, 297; vgl. Mössle, Regierungsfunktionen, S. 205. 68 Böckenförde, NJW 1976, 2089 (2091); Eichenberger, Die oberste Gewalt, S. 21 f. m.w. N. 69 Meßerschmidt, Gesetzgebungsermessen, S. 95 ff., 273; Mössle, Regierungsfunktionen, S. 205. 63

IV. Verfassungsrechtliche Determination staatlicher Entscheidungen

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3. Folgerungen für das Verhältnis von Recht und Politik Angesichts der jüngeren deutschen Geschichte ist eine vorsichtige Haltung gegenüber der politischen Sphäre angebracht. Die Perversion der Weimarer Demokratie in einen totalitären Führerstaat wurde durch ein expansives Verständnis des Politischen in der zeitgenössischen Rechtswissenschaft flankiert und argumentativ untermauert. Fraenkel stellte bezeichnend fest, dass im Dritten Reich alles „politisch ist, was die politischen Instanzen für politisch erklären“. Die Einstufung einer Handlung als politisch oder unpolitisch entscheide darüber, ob sie nach Rechtsnormen oder nach der Willkür der politischen Behörden beurteilt werde. Die rechtliche Lage sei dadurch gekennzeichnet, dass es keine Materie gebe, die sich dem Zugriff der politischen Instanzen zwecks politischer Erledigung ohne jegliche Rechtsgarantien zu entziehen vermöge. 71 Merkl hatte die mit dem Merkmal des Politischen identifizierte „vierte Staatsgewalt“ angesichts entsprechender Tendenzen in der zeitgenössischen Staatsrechtswissenschaft schon einige Jahre vorher als „die Maske des rechtsfremden Staates, das Refugium der als rechtsfrei vorgestellten Verwaltung – nichts Wirkliches, sondern die künstliche Schöpfung einer politisch orientierten Theorie“ entlarvt. 72 Im Rechtsstaat des Grundgesetzes gilt der Primat des Rechts. Wo rechtliche Normierungen bestehen, genießt das Recht Vorrang vor allen anderen, namentlich auch politischen, Maßstäben. Es bindet auch dort, wo dies unbequem ist, wo Notwendigkeit, Nützlichkeit oder Zweckmäßigkeit gegen eine Respektierung der rechtlichen Ordnung zu sprechen scheinen. 73 Das Recht, wiewohl „geronnene Politik“, bildet die Ordnung, in deren Bahnen sich Staatsführung und Rechtsetzung zu bewegen haben. Es ist Grundlage, Rahmen und Agens für die Politik zugleich. 74 Aus der Perspektive der Politik gesehen ist das Verfassungsrecht ein „Faktum“. 75 Politische Gestaltung und rechtsstaatliche Ordnung stellen keine wesensmäßigen Gegensätze mehr dar. 76 Recht und Politik sind vielmehr „Chiffren einer differenzierten Symbiose“ 77 oder letztlich „nur zwei Seiten der gleichen Medaille“ 78. Es existieren unter dem Grundgesetz deshalb keine rein „politischen Streitigkeiten“. Auch Streitigkeiten „um das Recht“ 79 sind nach dem Recht, im Rahmen 70

Kassimatis, Regierung, S. 143; vgl. Hug, Die Regierungsfunktion, S. 280. Fraenkel, Der Doppelstaat, S. 72. 72 Merkl, Allgemeines Verwaltungsrecht, S. 60; ähnlich: Kelsen, Allgemeine Staatslehre, S. 246. 73 Hesse, in: FG-Smend (1962), S. 71 (75); Vogel, Staatsorgane, S. 21. 74 Grimm, JuS 1969, 501 (502, 505). 75 Roellecke, Politik, S. 141; vgl. Grimm, JuS 1969, 501 (504). 76 Wittig, Der Staat 8 (1969), 137 (144 ); a. A.: Leibholz, JöR 6 (1957), 109 (121 f.). 77 Stern, Staatsrecht I, § 1 V 4. 78 Schneider, ZFP 2006, 123 (136); vgl. Hesse, Verfassungsrecht, § 14 Rn. 532. 79 Leibholz, JöR 6 (1957), 109 (125). 71

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F. Systematisierung öffentlich-rechtlicher Entscheidungsspielräume

der Grundentscheidungen des Verfassungsgebers, auszutragen. Die Festlegung dieses Rahmens ist eine rechtliche, nach „rational standards“ zu entscheidende, der verfassungsgerichtlichen Erkenntnis zugängliche Frage. 80 Die berechtigten Vorbehalte gegenüber der Politik dürfen nicht darüber hinwegtäuschen, dass das Demokratieprinzip neben dem Rechtsstaatsprinzip einen konstitutiven Bestandteil des Grundgesetzes ausmacht. Angesichts einer teilweise in der Literatur 81 festzustellenden „Paranoia vor der Politik“ bedarf es des schlichten Hinweises, dass das Grundgesetz keinen unpolitischen, sondern einen demokratischen Rechtsstaat hat konstituieren wollen. Politik ist in der Demokratie nicht etwas Verbotenes, sondern, ganz im Gegenteil, ihr wesentliches Medium. Recht und Politik sind nicht identisch 82 oder synonym. 83 Weder der Primat des Rechts noch die umfassende Rechtsbindung der staatlichen Gewalt erfordern eine totale rechtliche Durchnormierung und lückenlose Steuerung aller staatlichen Entscheidungen durch Rechtsnormen. 84 Dem Rechtsstaatsprinzip kann vielmehr nur ein Primat des Rechts in Gestalt von dessen „Vorrang vor ... allen anderen Maßstäben“, soweit „rechtliche Normierungen bestehen“, entnommen werden. 85 Die Rechtsordnung kann zulässigerweise in begrenzten Bereichen auf eine eigene Entscheidung verzichten und außerrechtlich bestimmte Maßstabsbildung gewährleisten. Konsequenz der Offenheit des Grundgesetzes für demokratische Entscheidungen ist das Vorhandensein (verfassungs)rechtsfreier Räume, auf welche entweder keine Vorschrift des Grundgesetzes anwendbar ist oder die von einer anwendbaren Norm zumindest nicht abschließend geregelt sind. 86 Es geht dabei nicht um die Konstruktion eines per se rechtsfreien Regierungsraums, sondern um den Grad rechtlicher Gebundenheit des politischen Prozesses. 87 Wo die objektive Normentwicklung aufhört, beginnt der Bereich eigenverantwortlicher Dezision. Hierbei handelt es sich nicht mehr um Normanwendung, sondern um Entscheidung außerhalb des Regelungsbereichs einer Norm. 88 Innerhalb des verfassungsrechtlichen Rahmens ist der politische Prozess frei und vermag sich nach seinen eigenen Regeln und Bedingungen zu entfalten. 89 Hier vollzieht sich die Richtliniengebung in der Politik, werden die 80

Wittig, Der Staat 8 (1969), 137 (145). Vgl. Bryde, Verfassungsentwicklung, S. 304; Frotscher, Rechtsbegriff, S. 225. 82 Henke, Der Staat 19 (1980), 181 (202). 83 Dolzer, Stellung des BVerfG, S. 56. 84 Vgl. Poscher, in: Hoffmann-Riem, Grundlagen, § 8 Rn. 60. 85 Lorenz, Rechtsschutz, S. 6; Eichenberger, Unabhängigkeit, S. 181; Hesse, in: FGSmend (1962), S. 71 (75). 86 Gusy, JöR 33 (1984), 105 (112, 120); vgl. Roellecke, Politik, S. 147, 169. 87 Müller, in: FS-H. Huber, S. 109 (121 f.); Stern, Staatsrecht II, § 39 II 5. 88 Rauschning, Verfassungsrecht, S. 40, 44. 89 BVerfGE 67, 256 (289); 72, 330 (390); 79, 311 (342). 81

V. Entscheidungsstruktur und Qualität der Rechtsbindung

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großen und kleinen politischen Entscheidungen vorbereitet und gefällt. 90 Jenseits der rechtlichen Schranken gibt es „keine Rechte oder sonstige rechtlich begründeten Positionen, sondern nur politische Ziele und Forderungen“. 91 Entscheidungen, die in einem unnormierten Raum ergehen, müssen und dürfen folglich Impulse aus Gesellschaft, Wissenschaft, Geschichte oder Kultur aufgreifen und berücksichtigen, und zwar unabhängig davon, ob die Entscheidung im Einzelfall in Form der Gesetzgebung (Legislative) oder in anormativer Form (Gubernative) ergeht. Auch die ausschließliche Verfassungsbindung des Parlaments nach Art. 20 Abs. 3 GG spricht dafür, dass sich politische Freiräume und Rechtsbindung nicht ausschließen. Die Offenheit der Verfassung kann sich im Verfassungsstaat allerdings immer nur von der Verfassung selbst her erschließen und darf ihrerseits nicht mit metajuristischen Argumenten zu belegen versucht oder für notwendig erklärt werden. 92 Weder der einfache Gesetzgeber und schon gar nicht die Regierung besitzt unter dem Grundgesetz eine Kompetenz-Kompetenz. 93 Ein „rechtsleerer Raum“ kann „immer nur vermöge des eigenen Willens der Rechtsordnung rechtsleer und überhaupt nicht im strengen Sinne rechtsleer, nicht ein inhaltlich ungeregeltes, sondern ein rechtlich im negativen Sinne, durch Verneinung jeder Rechtsfolge geregeltes Tatsachengebiet“ sein. Scheinbare Anarchie neben oder über einer Rechtsordnung ist in Wahrheit nur „anarchische Regelung des fraglichen Tatsachengebiets durch die Rechtsordnung, seine Auslieferung an das freie Spiel der in ihm wirkenden Kräfte“. 94 „Den rechtsfreien Raum“ gibt es folglich unter dem Grundgesetz nicht. Regelt das Recht bestimmte Sachverhalte nicht abschließend mit der Folge, dass beschränkte Entscheidungsspielräume verbleiben, kann man von „partiell rechtsfreien“ Räumen sprechen. Es besteht zumindest immer eine Bindung an die eigene Kompetenz.

V. Korrelation der Entscheidungsstruktur mit der Qualität der Rechtsbindung In Anlehnung an das einschlägige Schrifttum differenziert diese Untersuchung unter dem Oberbegriff Rechtsbindung im Sinn des Art. 20 Abs. 3 GG zwischen einem Bereich negativer verfassungsrechtlicher Begrenzung (Rahmenfunktion) und einem Bereich positiver verfassungsrechtlicher Steuerung oder Richtungsbestimmung der politischen Organe. Auf Grundlage dieser verfassungsrechtlichen 90 91 92 93 94

Obermayer, in: Aus Politik und Zeitgeschichte 1964, 10 (15). Henke, Der Staat 19 (1980), 181 (208). Gusy, JöR 33 (1984), 105 (120); a. A. wohl: Engisch, ZGS 108 (1952), 385 (386 ff.). Stern, Staatsrecht II, § 39 II 5 lit. b). Radbruch, Rechtsphilosophie, S. 191.

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F. Systematisierung öffentlich-rechtlicher Entscheidungsspielräume

Prämisse widmet sich der folgende Abschnitt der Frage, ob und welche Wechselwirkung zwischen der Art der Rechtsbindung und den Strukturen der Entscheidungsspielräume der Regierung besteht: Lässt sich die in der Rechtswissenschaft vielfach anzutreffende Gegenüberstellung von Ermessen und Gestaltungsfreiheit als Folge eines qualitativen Unterschieds der normativen Determination bestimmter Entscheidungen begründen? Lassen sich die verschiedenen materiell-rechtlichen Funktionen der Verfassung strikt trennen und vermitteln sie eine dementsprechend prinzipiell unterschiedliche Determination staatlichen Verhaltens? Wenn ja, könnte dieser Befund einer ausnahmslosen Anwendung von Ermessen im Sinn der verwaltungsrechtlichen Definition auf alle gubernativen Entscheidungsspielräume entgegenstehen. 1. Abgrenzung und Exklusivität zwischen Vollzug und Zwecksetzung Der Stufentheorie des Rechts ist darin zuzustimmen, dass Entscheidungen im Rechtsstaat regelmäßig sowohl autonome als auch heteronome Elemente enthalten. Ist eine Entscheidung heteronom determiniert, vollzieht sie einen fremden Willen. Soweit eine Entscheidung autonom determiniert ist, besteht Raum für eigene Willensbildung. Autonome Entscheidung und Zwecksetzung sowie heteronome Entscheidung und Vollzug liegen demnach jeweils auf einer Ebene. 95 Je nach Quantum der autonomen Determinante bestehen graduelle Differenzen hinsichtlich der Reichweite des möglicherweise verbleibenden Entscheidungsspielraums, den Kelsen „freies Ermessen“ nennt. Da jedes hoheitliche Verhalten stets auf einen formellen Rechtssatz rückführbar sein muss, ergehen staatliche Entscheidungen fast ausnahmslos auf der Grundlage von Kompetenznormen. Deren organisatorischer Regelungsgehalt schlägt sich entsprechend stets als heteronome Entscheidungskomponente nieder. Staatliches Verhalten hat unter der Geltung des Grundgesetzes außerdem materiellrechtliche Grenzen einzuhalten. Insoweit ist jedes Verhalten des pouvoir constitué bei oberflächlicher Betrachtung auch durch ein materiell-rechtliches, heteronomes Entscheidungselement gekennzeichnet. „Die Staatsorgane stehen, zumindest virtuell, immer in verfassungsrechtlichen Bindungen.“ 96 Gesetzgebung und Regierung lassen sich unter diesem Gesichtspunkt immer als heteronom determiniert qualifizieren. 97

95

Vgl. Lerche, Verfassungsrecht, S. 65 f., 86 f., 92. Isensee, in: HbStR VII (1992), § 162 Rn. 44. 97 Vgl. Kelsen, VVDStRL 5 (1929), 30 (31); ders., Reine Rechtslehre (1. Aufl.), S. 83; Merkl, Allgemeines Verwaltungsrecht, S. 20; in Anlehnung an Kelsen: Meyer, Regierung, S. 118 f. 96

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Indem Kelsen ausdrücklich zwischen Fremd- und Eigendetermination differenziert, erkennt er einen Qualitätsunterschied zwischen autonomer Entscheidung auf der einen Seite und heteronomer Entscheidung auf der anderen Seite an. Es ist kaum ein grundlegenderer Unterschied vorstellbar als jener zwischen eigener und fremder Willensentscheidung, weshalb ein relatives Verhältnis zwischen beiden Entscheidungsdeterminanten ausgeschlossen erscheint. Die Grenze zwischen Eigen- und Fremdbestimmung ist jedenfalls als der Punkt zu verstehen, an dem eine quantitative Differenz in einen qualitativen Unterschied umschlägt. Kelsen vermag die Relativität aller Entscheidungsspielräume deshalb auch nur auf die These zu stützen, ein heteronomes Restelement in staatlichen Entscheidungen lasse sich niemals völlig eliminieren. Danach ist jede Entscheidung notwendig in einem Mindestmaß immer fremdbestimmt. Die Existenz absolut autonomer Entscheidungen erkennt er − von engen Ausnahmen abgesehen − nicht an. Diese Konzeption ist aber nur haltbar, wenn man in Anlehnung an Kelsen an die Voraussetzungen einer Fremddetermination keine allzu hohen Anforderungen stellt. Für das Vorliegen eines heteronomen, rechtlichen Entscheidungselements kommt es maßgeblich auf die zugrunde gelegte Definition an: Unter welchen Voraussetzungen genau ist eine staatliche Entscheidung rechtlich determiniert, d. h. „bestimmt“? Man könnte insoweit allein die Existenz übergeordneter Normen ausreichen lassen, die sich potentiell auf eine Entscheidung irgendwie sachlich auswirken. Eine solch generalisierende Konzeption widerspricht aber der differenzierten materiellen Struktur der Verfassung. Die Anforderungen an eine Fremd-„bestimmung“ bedürfen vielmehr einer Konkretisierung in Einklang mit den materiellen Vorgaben des Verfassungsrechts: Ein heteronomes Entscheidungselement liegt relativ unproblematisch vor, wenn es seinen Ursprung außerhalb des Akt-Autors hat. Eine Entscheidung ist rechtlich heteronom aber nur dann auch determiniert, wenn sie zumindest teilweise unmittelbar das Resultat einer materiellen Regelung darstellt. Eine „Unmittelbarkeit“ der materiell-rechtlichen Regelungswirkung erzeugen formelle Verfahrensregeln und Kompetenzvorschriften nicht. Verfahrensregeln wirken sich auf den Inhalt einer Entscheidung allenfalls mittelbar aus. Die Rahmenfunktion der Verfassung und die dargelegten Differenzierungen beschränken sich zudem auf ihren materiellen Teil. Aus diesem Grund soll der formell-organisatorische Aspekt bei der weiteren Untersuchung außer Betracht bleiben. Dies schließt freilich nicht aus, dass im Einzelfall auch grundgesetzliche Kompetenznormen materiell-rechtliche Wirkungen entfalten können, die über die Zuweisung einer Zuständigkeit an einen Träger öffentlicher Gewalt hinausgehen. 98 98 Vgl. dazu Pieroth, AöR 114 (1989), 422 (436 f. m.w. N., 440): Bei den Gesetzgebungszuweisungen ist im Ansatz unbestritten, „daß sie grundsätzlich fakultativen Charakter besitzen“, also keine Verpflichtung zur Wahrnehmung der Kompetenz besteht. Wenn kon-

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F. Systematisierung öffentlich-rechtlicher Entscheidungsspielräume

Das Abgrenzungskriterium zwischen materieller Unmittelbarkeit und einem lediglich mittelbaren „materiellen Reflex“ rechtlicher Resultanten ergibt sich aus der Struktur der Rechtsbindung staatlichen Handelns. Ein materiell-rechtlich unmittelbares Entscheidungselement ist allein unter der Voraussetzung einer positiven Steuerung der Entscheidung wenigstens in Gestalt eines Normzwecks anzunehmen. Negative rechtliche Ausgrenzungen begründen dagegen keine materielle Unmittelbarkeit. Aus der Gesetzmäßigkeit im negativen Sinn lassen sich allgemeine Grenzen ableiten, an die Regierung und Verwaltung auch insoweit gebunden sind, als sie der Forderung positiver Gesetzmäßigkeit, also dem Erfordernis einer besonderen gesetzlichen Grundlage und Ermächtigung, nicht unterliegen. 99 Bedient sich das Recht der Form des Verbotes, scheidet es bestimmte Verhaltensweisen als unzulässig aus; darüber hinaus aber existiert keine rechtliche Regelung. 100 Allein die negative Ausgrenzung bestimmter Verhaltensweisen aus einer unendlich großen Summe denkbarer Verhaltensweisen legt staatliches Verhalten nicht auf eine bestimmte Richtung fest. Aus der permanenten rechtlichen Bindung staatlichen Handelns in Form einer negativen Begrenzung folgt kein unmittelbar bestimmendes, heteronomes Entscheidungselement. Der jeweilige Entscheidungsträger hat die negativen Grenzen sachgedanklich zu berücksichtigen und sicherzustellen, dass sich seine Entscheidung innerhalb ihres Rahmens hält. Diese negative „Ausrichtung“ ist jedoch allenfalls als mittelbarer Verhaltensreflex zu interpretieren, der staatliches Verhalten nicht auf bestimmte Zwecke verpflichtet. Dies lässt sich an einem Beispiel aus der Regierungserklärung von Bundeskanzler Brandt vom 28. Oktober 1969 verdeutlichen. Im Rahmen der hier angekündigten Initiative, „mehr Demokratie“ wagen zu wollen, stellte er einen Gesetzentwurf in Aussicht, der eine Herabsetzung des aktiven Wahlalters von 21 auf 18 sowie des passiven Wahlalters von 25 auf 21 Jahre vorsah. Zudem sollte die Volljährigkeitsgrenze überprüft werden. 101 Ab dem 1. Januar 1975 wurde schließlich das Volljährigkeitsalter von 21 auf 18 Jahre herabgesetzt. krete Festlegungen hinsichtlich der Zeit und der Modalität der Ausführung abgeleitet werden sollen, ist äußerste Zurückhaltung bei der Annahme von bindenden Auswirkungen kompetenzieller Zuweisungen zu wahren, soweit diese nicht ausdrücklich als Pflichtaufgaben normiert sind. Insbesondere dort, „wo lediglich ein Wirklichkeitsausschnitt Gegenstand der Kompetenznorm ist, stehen Art und Weise der Ausübung der Kompetenz weitgehend im Ermessen des Kompetenzträgers“. 99 Wolff / Bachof / Stober, VerwR I, § 30 II Rn. 5 f., § 31 V 1, 2 Rn. 58; vgl. Weitzel, Justitiabilität, S. 98. 100 Vgl. Engisch, ZGS 108 (1952), 385 (389). Ein weiteres Beispiel findet sich in Anlehnung an Kaufmann bei Rupp, Verwaltungsrechtslehre, S. 209: „Das rechtliche Verbot – um bei dem Beispiel Erich Kaufmanns zu bleiben – rote Westen zu tragen, impliziert die rechtliche Erlaubnis, Westen anderer Farbe nach „freiem Ermessen“ zu tragen. Der Richter prüft nur nach, ob die Weste nicht rot „im Sinne des Gesetzes“ ist; dann ist das Verhalten rechtmäßig. Dazu bedarf es keiner Erklärung durch eine Ermessenslehre, sondern dies ergibt sich einfach aus dem Verbotscharakter der normativen Pflicht“.

V. Entscheidungsstruktur und Qualität der Rechtsbindung

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Auch bei diesen Entscheidungen waren der Regierung respektive dem Bundeskanzler selbstverständlich rechtliche Grenzen gesetzt. So hätte beispielsweise eine Herabsetzung des Volljährigkeitsalters auf 2 Jahre unter dem Gesichtspunkt des Minderjährigenschutzes mit Sicherheit gegen staatliche Schutzpflichten verstoßen. Umgekehrt wäre eine Heraufsetzung des Volljährigkeitsalters oder des aktiven und passiven Wahlrechts auf 50 Jahre mit dem Demokratieprinzip unvereinbar gewesen. Eine solche Änderung hätte die Bürger bei durchschnittlicher Lebenserwartung für den größten Teil ihres Lebens von der Ausübung demokratischstaatsbürgerlicher Rechte ausgeschlossen. Die Tatsache, dass insoweit äußerste rechtliche Grenzen existierten, musste den Bundeskanzler aber weder veranlassen, überhaupt „mehr Demokratie“ zu wagen, noch eine bestimmte Entscheidung, z. B. hinsichtlich des Wahlalters, zu treffen. Aus der Verpflichtung auf die Verfassung, die lediglich bestimmte Grenzüberschreitungen verbietet, lässt sich nicht ableiten, ob das Wahlalter auf 18, 21 oder 25 Jahre festzulegen ist. Der Bundeskanzler hätte es auch bei der bisherigen Regelung belassen, ein Nachfolger hätte wiederum eine abweichende Entscheidung treffen können. Die Festlegung des Volljährigkeits- und Wahlrechtsalters ist innerhalb eines äußersten Rahmens eine politische Zwecksetzungsentscheidung, die allein dem kontrollierenden Urteil der Wähler unterliegt. Um vergleichbare Entscheidungen handelt es sich bei der Finanzierung der Rente über das Umlageprinzip, bei dem Gesetz über die Mitbestimmung der Arbeitnehmer vom 4. Mai 1976 sowie bei der Entscheidung über den Ausstieg aus der Steinkohle. 102 Während im Fall positiver Steuerung eine Entscheidung rechtmäßig überhaupt nicht ergehen kann, ohne dass bestimmte inhaltliche Vorgaben vollzogen werden, fehlt es in dem Fall negativer Begrenzung für die Wahl zwischen verschiedenen Optionen an verbindlichen rechtlichen Vorgaben. Die Entscheidung ergeht insoweit aus rechtlicher Perspektive autonom. Bleibt der Entscheidungsträger beispielsweise untätig, stellt sich die Frage nach den Verhaltensgrenzen in der Regel gar nicht. Dort, wo sich die Verfassung als Rahmenordnung darstellt, haben diese Grenzen lediglich eine Art „Reservefunktion“. Sie bedürfen der Aktualisierung, um in eine unmittelbare Determination umzuschlagen. Sie wirken sich nur auf eine Entscheidung aus, wenn ihr sachlicher Regelungsbereich betroffen ist. Tatbestände müssen erfüllt und Schutzbereiche eröffnet sein. Aber auch wo eine Verfassungsnorm ihrem Tatbestand nach „einschlägig“ ist, schreibt sie nicht für alle Konflikte eine bestimmte Lösung vor, so dass aus ihr nicht immer eine Entscheidung herzuleiten ist. 103 Erkennt man neben dem Unterschied der Rechtsbindung in der Qualität einer mittelbar determinierenden negativen Begrenzung und einer unmittelbar 101 102 103

v. Beyme, Regierungserklärungen, S. 251 (252). Vgl. Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 30. Januar 2007, Nr. 25 / 5D, S. 1. Unterscheidung nach Gusy, JöR 33 (1984), 105 (106).

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F. Systematisierung öffentlich-rechtlicher Entscheidungsspielräume

determinierenden positiven Steuerung auch die potentielle Exklusivität beider Determinationskategorien an, folgt daraus die Existenz ausschließlich autonom determinierter und ansonsten rechtlich nur negativ begrenzter Entscheidungen. 104 Die Abgrenzung lässt sich im Anschluss an Böckenförde folgendermaßen auf den Punkt bringen: „Besteht eine Anordnung um ihrer selbst willen, dient sie also keinem anderen Zweck als ihrer Selbstverwirklichung und ist darum aus sich Ordnung stiftend, oder ist sie lediglich ein Mittel, um außerhalb ihrer selbst liegende Zwecke zu verwirklichen, so daß sie von dieser Zweckbestimmung her inhaltlich geformt“ wird. 105 Für dieses Ergebnis streitet auch, dass Kelsen selbst seine Stufenlehre nicht ohne die Existenz ausschließlich autonomer Zwecksetzungsakte erklären kann und daneben auch reine Vollziehungsakte anerkennt. So versteht er die „Voraus-Setzung“ der Grundnorm als einen Akt „reiner Normsetzung“ und den Zwangsakt als einen Akt reiner Vollziehung. Nur der Bereich zwischen diesen beiden Grenzfällen sei durch ein Nebeneinander von Rechtsetzung und Rechtsvollziehung gekennzeichnet. 106 Krüger merkt aus diesem Grund zutreffend an, dass die Reine Rechtslehre mit dem Institut der „Grund oder Ursprungsnorm“ den erwähnten Endpunkt der Normsetzung „zwar so weit zurückschiebt, dass er dem Auge fast gänzlich entrückt ist, ohne jedoch verbergen zu können, daß sie jedenfalls an diesem entfernten Punkt die Normativität vollständig mit der Faktizität identifiziert“. 107 Der Hinweis auf die umfassende Rechts- und Gesetzesbindung der vollziehenden Gewalt vermag − in der häufig vorgetragenen Pauschalität − den Qualitätssprung zwischen negativer Begrenzung und positiver Steuerung und damit die Existenz verschiedener Entscheidungskategorien nicht zu relativieren. 108 Der Wortlaut des Art. 20 Abs. 3 GG steht unterschiedlichen Intensitäten der Rechtsbindung bis hin zu qualitativen Unterschieden nicht entgegen. Das Demokratieprinzip erfordert sie unter systematischen Gesichtspunkten sogar. Schließlich spricht auch die zutreffende Feststellung, wonach „die Funktion der Exekutive sich heute nicht mehr im bloßen Vollzug der gesetzgeberischen Anweisungen erschöpft“, sie kein „agent de l’assemblée“ sein soll und ihre gestaltenden Befugnisse sie überhaupt 104 A. A.: Magiera, Staatsleitung, S. 80 f., 82 nimmt für den Bereich der Staatsleitung zwischen verfassungsrechtlicher Begrenzung und Steuerung lediglich einen quantitativ abgestuften Übergang und keine qualitativ trennende Grenzlinie an. 105 Böckenförde, Gesetz und gesetzgebende Gewalt, S. 174 m.w. N. 106 Kelsen, VVDStRL 5 (1929), 30 (31); ders., Reine Rechtslehre (1. Aufl.), S. 83; Merkl, Allgemeines Verwaltungsrecht, S. 173: „Der oberste Akt in dieser Reihe ist offenbar bloß rechtsetzender Natur; der unterste Akt in dieser Reihe ist offenbar bloß vollziehender Natur; alle Akte dazwischen haben, von oben aus gesehen, den Charakter der Rechtsetzung, von unten aus gesehen, den Charakter der Vollziehung, weisen also eine Doppelnatur von Rechtsetzung und Vollziehung auf“. 107 Krüger, Allgemeine Staatslehre, S. 701 m.w. N. 108 In diese Richtung aber Roellecke, Politik, S. 147.

V. Entscheidungsstruktur und Qualität der Rechtsbindung

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erst als eigenständige „Gewalt“ ausweisen 109, für und nicht gegen eine Ausnahme bestimmter Regierungstätigkeiten aus dem Vollzugs- und Ermessensbegriff. 2. Relativierung der Abgrenzung unter dem Aspekt der Allgemeinwohlverpflichtung? Die durchgängige Gemeinwohlverpflichtung und eine rechtlich begründete Zweckmäßigkeitsverpflichtung 110 allen staatlichen Verhaltens verlangen unter Umständen nach einer Relativierung des hier befürworteten qualitativen Unterschieds zwischen Vollzug und Zwecksetzungstätigkeit und stellen auch die Anerkennung eines potentiellen Exklusivitätsverhältnisses zwischen beiden Kategorien in Frage. Bereits Bernatzik, einer der bedeutendsten Vertreter der früheren Ermessenslehre, sah die Verwaltung auch dort, wo sie scheinbar frei handelte, an eine allgemeine Rechtsnorm gebunden, die da lautete: „Tue, was Du glaubst, daß es durch das öffentliche Wohl bedingt ist.“ 111 Nach v. Bieberstein erzeugt die Förderung des Gemeinwohls beispielsweise bei einem Ministeramt innerhalb der rechtlichen Schranken „einen positiven Inhalt“, der über die Verpflichtung zu rechtmäßigem Handeln hinausweist. 112 Unbestritten stehen auch politische Führungsämter wie das des Kanzlers oder der Minister in einer unmittelbaren und unbedingten Gemeinwohlverpflichtung. Darauf deutet bereits der Amtseid hin, in dem geschworen wird, das Gemeinwohl zu fördern. 113 Aus der verfassungsrechtlichen Grundverpflichtung staatlichen Handelns lässt sich herleiten, dass alle Staatsgewalt stets am Wohl der Bürger ausgerichtet zu sein hat. 114 Bei näherer Betrachtung erweist sich allerdings die Allgemeinwohlverpflichtung als eine „so inhaltsarme Formel, daß selbst durch eine rechtsverbindliche Aufstellung dieses Leitsternes das Organhandeln nicht erkennbar beschränkt ist“. Deshalb folgerte Merkl, soweit eine Verpflichtung auf das öffentliche Interesse dem positiven Recht nicht entnommen werden könne, dieses zwar eine moralische, keinesfalls aber eine rechtliche Schranke darstelle. 115 Auch unter Geltung des Grundgesetzes bleibt die Allgemeinwohlverpflichtung eine mehr als vage Formel. Die Regierung muss ihr Handeln insgesamt als för109

Frotscher, Rechtsbegriff, S. 222 f., obgleich mit abweichendem Ergebnis. Vgl. dazu Rupp, NJW 1969, 1273 (1276 f.); ähnlich: Soell, Eingriffsverwaltung, S. 116 ff. 111 Bernatzik, Materielle Rechtskraft, S. 46. 112 v. Bieberstein, in: HbStR I (1930), § 45, S. 533. 113 Depenheuer, in: HbStR III (2005), § 36 Rn. 24, 66, 68; Hartmann, AöR 134 (2009) (im Erscheinen), 2.; Roellecke, Politik, S. 53. 114 BVerfGE 44, 125 (142); 62, 1 (43). 115 Merkl, Allgemeines Verwaltungsrecht, S. 151 f. 110

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F. Systematisierung öffentlich-rechtlicher Entscheidungsspielräume

derlich für das Wohlergehen aller ausweisen. Bezugspunkt dieser Verpflichtung auf das Allgemeinwohl ist allerdings nicht ein rechtsstaatlich vorherbestimmter und -bestimmbarer Rechtssatz, sondern eine allgemeine, in sich unbegrenzte „Grundpflicht“, das Ganze zu repräsentieren. 116 Es ist ein wesentliches Kennzeichen von Demokratie, wenn über Fragen des Gemeinwohls und damit auch über die Zweckmäßigkeit von Staatshandeln divergierende Auffassungen bestehen. Je nach seinem gesellschaftspolitischen Standpunkt beurteilt der Einzelne den Wert und Nutzen eines bestimmten Verhaltens für die Allgemeinheit durchaus diametral unterschiedlich. Es lassen sich zwar in Randbereichen bestimmte Akte als offensichtlich gemeinwohlfördernd oder gemeinwohlwidrig ausscheiden. So dürfte ein gesellschaftlicher Konsens dahingehend bestehen, dass die Einrichtung von öffentlichen Schulen im Interesse des Gemeinwohls erfolgt. Im Gegensatz dazu würde korruptes Verhalten mit dem alleinigen Ziel persönlicher Bereicherung nach überwiegender Ansicht dem Gemeinwohl offensichtlich zuwiderlaufen. Schon aus diesem Grund kommt eine Reduzierung des Gemeinwohlbegriffs auf ein rein prozedurales Verständnis nicht in Betracht. 117 Gemeinwohl ist material, da es inhaltlich bestimmt ist durch den Rekurs auf die Interessen aller. Weil dieses Kriterium aber so weit und vage ist, enthält es nur sehr schwache inhaltliche Vorgaben. 118 In einem weiten Zwischenbereich lässt sich nämlich nicht a priori festlegen, welches Verhalten dem Gemeinwohl mehr oder weniger nahe kommt. Ob in dem Schulbeispiel das Gymnasium oder die Gesamtschule als konkrete Schulform gesellschaftliche Belange am besten fördert – darauf gibt das Gemeinwohl keine eindeutige Antwort. Das Grundgesetz enthält bewusst keinen vollständigen abgeschlossenen Plan des Gemeinwohls, sondern lediglich Elemente eines solchen Plans. Die Inhalte des Gemeinwohls existieren weder als verfassungsrechtlich noch als extrakonstitutionell absolut vorgegebene Größen. 119 Dies ist auf die Tatsache zurückzuführen, dass der pluralistische Staat ein entsprechendes Definitionsmonopol nicht vorsieht. Ein solches existiert allenfalls im totalitären Staat. Das Gemeinwohl darf somit nicht in einer „Sphäre politischneutraler Sachlichkeit (...) oberhalb der politischen Auseinandersetzungen angesiedelt werden“, sondern muss in den (partei-)politischen Auseinandersetzungen gefunden und zum Tragen gebracht werden. 120

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Masing, Parlamentarische Untersuchung, S. 236 f. (Hervorhebung im Original). Hartmann, AöR 134 (2009) (im Erscheinen), 4. lit. b). 118 Ders., Volksgesetzgebung und Grundrechte, S. 164; ders., AöR 134 (2009) (im Erscheinen), 4. lit. c). 119 Isensee, in: HbStR IV (2006), § 71 Rn. 71; vgl. Badura, AöR 92 (1967), 382 (386); Grabitz, Freiheit, S. 72 unter Zugrundelegung einer anderen Terminologie: „Wenn gesetzgeberisches Ermessen den Zweck hat, dem Gesetzgeber die Kompetenz zur Formulierung von Gemeinwohlinhalten zu verschaffen, dann kann nicht umgekehrt aus diesen Inhalten ein Maßstab für den Grad gesetzgeberischen Ermessens gewonnen werden“. 120 Böckenförde, Richterwahl, S. 101. 117

V. Entscheidungsstruktur und Qualität der Rechtsbindung

115

Bei der Pluralität der Ansichten ist die Bestimmung des Gemeinwohls eher eine politische Entscheidung als ein rechtlicher Standard. 121 Jedenfalls kann die Bindung des politischen Willens an das Gemeinwohl immer nur äußerste Grenzen angeben, innerhalb derer ein sehr erheblicher Spielraum verbleibt. Die rechtlich begründete Allgemeinwohlverpflichtung ist ihrerseits der Konkretisierung durch die demokratisch legitimierten Organe zugänglich. Sie müssen regelmäßig selbst definieren, was dem Gemeinwohl am meisten dient. Subjektiv gebietet ihre Verantwortung, von allen objektiv zulässigen Wegen allein denjenigen einzuschlagen, der nach ihrer pflichtgemäßen Überzeugung als der im Gesamtinteresse beste und gerechteste erscheint. 122 Ob dies der Fall ist, entzieht sich allerdings einer rechtlichen Kontrolle. 123 „Kompensatorisch“ bedürfen sie deshalb einer demokratischen Legitimation nach den Regeln der Konkurrenzdemokratie, die periodisch zu erneuern ist und „nach deren Maßgabe das Gemeinwohl konkretisiert wird“. 124 Die Verpflichtung allen Staatshandelns auf Gemeinwohl und Zweckmäßigkeit vermag dessen Determination in eine bestimmte Richtung nicht zu leisten und den Unterschied zwischen Vollzug und Zwecksetzung nicht einzuebnen. 3. Zuordnung des Ermessens nach den entwickelten Kriterien Die Ermessensentscheidung ist trotz Vorliegens eines von der Rechtsordnung eingeräumten Entscheidungsspielraums (rechtliche Mehrdeutigkeit) per definitionem stets durch ein positives rechtliches Steuerungselement in Form eines materiellen Normzwecks mitbestimmt. 125 In dieser eigentümlichen Verbindung von Freiheit und Bindung liegt die spezifische Eigenart des Ermessens: Ergreift beispielsweise ein Polizist Maßnahmen nach § 8 Abs. 1 PolG NRW, so ist ihm hinsichtlich des „Ob“ und „Wie“ in der Regel keine bestimmte Entscheidung vorgeschrieben. Er ist aber immer an den Normzweck (Gefahrenabwehr) gebunden. 126 Dieser bestimmt unmittelbar jede Entscheidung insoweit mit, als zumindest noch ein Zusammenhang der getroffenen Maßnahme mit der Gefahrenabwehr gegeben 121

Scheuner, in: FS-G. Müller, S. 379 (392 Fn. 45 m.w. N.). Bleckmann, Ermessensfehlerlehre, S. 186; Martens, Öffentlich als Rechtsbegriff, S. 186; Schuppert, Verfassungsinterpretation, S. 26 f. 123 Friauf, in: FS-Herrfahrdt, S. 45 (63); Münch, Die Bundesregierung, S. 9 f. 124 Depenheuer, in: HbStR III (2005), § 36 Rn. 24. 125 A. A.: Lerche, AöR 90 (1965), 341 (346 ff., 354 ff., 369 ff.). Er sieht Ermessen dagegen dadurch gekennzeichnet, dass es durchgehenden formalen Richtsätzen unterliegt, die gerade von einzelnen Sachvorstellungen losgelöst sind. Ermessen sei abhängig von dem Kriterium formaler Durchgängigkeit und Permanenz, nicht aber von einer inhaltlichsachlichen Bestimmtheit der betreffenden Entscheidung. 126 Schlink, Abwägung, S. 206: „Gesetzgebung ist ungleich freier in der Wahl der zu verfolgenden Zwecke, so frei, daß gegen ein Nachschieben von Zwecken oder gegen eine Zwecksuche durch das BVerfG der Gesichtspunkt des détournement de pouvoir als Einwand nicht sticht“. 122

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F. Systematisierung öffentlich-rechtlicher Entscheidungsspielräume

sein muss. Sie darf darüber hinaus auch nicht gegen den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit, das Willkürverbot oder andere durch die Rechtsordnung gezogene Grenzen verstoßen. Die Ermessensentscheidung ist deshalb den (wenigstens partiell) heteronom determinierten Entscheidungen zuzurechen. Sie stellt stets materiell sekundäre Tätigkeit dar. Ein Verständnis des Ermessens als materiell primärer Akt ist dagegen abzulehnen. 127 Gegen eine solche Qualifizierung sprechen bereits die fragwürdigen Hilfskonstruktionen 128, derer sich einige Autoren bedienen müssen, um beispielsweise die Gesetzgebung aus dem Ermessensbegriff auszuklammern. Einem solchen Kunstgriff liegt letztlich die Erkenntnis zugrunde, dass sich materiell primäre Akte mit dem zweckgebundenen Ermessensbegriff gerade nicht erfassen lassen.

VI. Ergebnis: Abgrenzung zwischen Gestaltungsfreiheit und Ermessen Besteht keine positive, unmittelbare Verpflichtung auf vorgegebene Zwecke und Tatbestände wie bei der Ermessensentscheidung, kann der staatliche Akteur eigeninitiativ originäre Zwecke aus politischen Motiven heraus bestimmen und Zwecksetzungsentscheidungen treffen (Zwecksetzungskompetenz). 129 An die Stelle eines beschränkten Ermessens tritt die bewusste Offenhaltung der Rechtsordnung, die dem jeweiligen Organ eine Mitwirkung an der Gestaltung des Gemeinwesens ermöglicht. 130 In der Wahl des Zwecks liegt zugleich die „eigentliche politische Entscheidung“. 131 Hierbei handelt es sich – weil rechtlich nur negativ begrenzt – um materiell primäre Tätigkeit. 132 Der terminologischen Übersichtlichkeit wegen ist dieser Entscheidungstyp treffender mit dem Terminus „Gestaltungsfreiheit“ zu bezeichnen. Er umschreibt die Korrelation zwischen einer bestimmten Anatomie des Normengefüges und der hierdurch vermittelten rechtlichen Determination einer Entscheidung, die sich in 127

So jedoch Kassimatis, Regierung, S. 43 (Fn. 4). Ders., Regierung, S. 42 (Fn. 3) will die Gesetzgebung von dem Ermessensbegriff ausnehmen: Ermessen könne in Bezug auf den Gesetzgeber allenfalls zum Ausdruck bringen, dass sich auch die Gesetzgebungstätigkeit nur innerhalb der verfassungs- oder überverfassungsrechtlichen Grenzen bewegen dürfe. Den Unterschied zwischen Ermessen und Rechtsetzung versteht er darin, dass Ermessen − auch jenes der Regierung − materiell primäre, formal aber nur sekundäre Dezisionskraft ist. Als Ausdruck des „allgemeinen Willens“ stelle die Rechtsetzung dagegen auch formal primäre Dezisionskraft dar. 129 Depenheuer, in: HbStR III (2005), § 36 Rn. 24; Zimmer, Funktion, S. 231. 130 Vgl. Meßerschmidt, Gesetzgebungsermessen, S. 276 f. 131 Herzog, ZG 1987, 290 (293). 132 Magiera, Staatsleitung, S. 83: Von materiell primärer Tätigkeit kann man sprechen, da die Verfassung grundsätzlich nicht zur Disposition steht. 128

VII. Voraussetzungen von Gestaltungsfreiheit

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deren Struktur und Erwägungsbereich niederschlägt. Der hiermit zum Ausdruck gebrachte strukturelle Unterschied resultiert aus einer qualitativen Differenz der Rechtsbindung des jeweiligen Akteurs im Sinn von positiver Steuerung oder negativer Begrenzung.

VII. Voraussetzungen und Erscheinungsformen von Gestaltungsfreiheit Gestaltungsfreiheit ist nach der hier zugrunde gelegten Definition nur eröffnet, wenn weder die Verfassung – entweder in Gestalt einer speziellen Verhaltensnorm oder unter systematischen Gesichtspunkten – positive Steuerungsfunktion und damit Zweckbindung vermittelt noch ein die Verfassung konkretisierendes Gesetz staatliches Verhalten auf bestimmte Zwecke verpflichtet. Die betreffende Entscheidung muss auf Grundlage einer inhaltsneutralen Kompetenznorm ergehen und darf durch die Verfassung nur in ihrer Rahmenfunktion negativ begrenzt sein. Inhaltsneutral ist eine Kompetenznorm, die sich auf eine formelle Kompetenzzuweisung beschränkt und keine bestimmten materiellen Vorgaben macht, da sich ihr Normzweck ausschließlich und gerade in einem materiellen Gestaltungsauftrag erschöpft. Von einem Gestaltungsauftrag ist auszugehen, wenn die Auslegung der Norm ergibt, dass die sachfreie Einräumung von Entscheidungsoptionen als bewusste Offenhaltung der Rechtsordnung zugunsten des politischen Prozesses und dementsprechend als Ermächtigung zu eigener Maßstabssetzung und Gemeinwohldefinition zu verstehen ist. 1. Legislative und gubernative Gestaltungsfreiheit Aufgrund der Gesetzesbindung der Regierung setzt deren Gestaltungsfreiheit zusätzlich voraus, dass der Gesetzgeber den Verfassungsrahmen nicht bereits im Wege einer materiell primären Zwecksetzungsentscheidung konkretisiert hat. Gubernative Entscheidungsspielräume können − von engen Ausnahmen abgesehen – vermöge des Vorrangs des Gesetzes gelenkt, gebunden und beschränkt werden. 133 Die vollziehende Gewalt ist ihrer verfassungssystematischen Stellung nach „die durch das Gesetz bindbare und beschränkbare Gewalt“. 134 Unter dem Vorrang des Gesetzes versteht die Rechtswissenschaft die Derogationswirkungen aller Staatsakte in Gesetzesform gegenüber allen Akten einer niedrigeren Stufe der Normenhierarchie. O. Mayer, auf den dieses Rechtsinstitut zurückgeht, definierte 133 Böckenförde, Organisationsgewalt, S. 81 f.; Hug, Die Regierungsfunktion, S. 198 m.w. N.; Mössle, Regierungsfunktionen, S. 133; Quaritsch, Parlamentsgesetz, S. 30: „Die Gesetzgebung wird zur primären Funktion der Staatsgewalt“; vgl. Scheuner, in: FS-Smend (1952), S. 253 (284). 134 Böckenförde, Richterwahl, S. 29 f.; Böckenförde / Grawert, AöR 95 (1970), 1 (24).

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F. Systematisierung öffentlich-rechtlicher Entscheidungsspielräume

es folgendermaßen: „Das Gesetz ist unverbrüchlich. Das will sagen: der Staatswille, der auf diesem Wege zur Erscheinung gekommen ist, kann rechtlich auf keinem anderen Wege aufgehoben, abgeändert oder unwirksam gemacht werden und hebt andererseits alle bereits vorhandenen staatlichen Willensäußerungen auf, welche mit anderem Inhalte ihm entgegen stehen.“ 135 Der Gesetzgeber muss hingegen nur den Vorrang der Verfassung beachten 136 und unterliegt denklogisch nicht dem Vorrang des Gesetzes. Das Vorhandensein gesetzlicher Regelungen schließt für ihn die Möglichkeit materiell primärer Zwecksetzungstätigkeit nicht aus. Er kann seine Gesetze in dem vorgesehenen Verfahren unter Beachtung des Rückwirkungsverbots jederzeit aufheben oder ändern. Konkretisiert der Gesetzgeber die verfassungsrechtliche Rahmenordnung durch förmliches Gesetz, beschränkt sich die Regierungstätigkeit auf materiell sekundäre Entscheidungen. Sofern ihr dabei ein gewisser Entscheidungsspielraum verbleibt, handelt es sich um Ermessen. Dieses kann einen vergleichsweise großen Erwägungsbereich aufweisen, der auch politische Erwägungen gestattet. Gemeinsames Strukturmerkmal allen Ermessens bleibt aber die Eigenschaft als zweckgebundener, materiell sekundärer Akt. Der Ausschluss jeder materiell primären Tätigkeit bei Vorliegen eines einschlägigen Gesetzes ist zuvorderst eine Konsequenz des aus dem Rechtsstaatsprinzip hergeleiteten Bestimmtheitsgrundsatzes, der förmliche Gesetze im Gegensatz zu Verfassungsnormen inhaltlichen Mindestanforderungen unterwirft. Er gebietet, dass eine gesetzliche Ermächtigung hinreichend bestimmt und begrenzt ist, so dass staatliches Handeln für den Bürger vorhersehbar wird. Die Anforderungen an die Bestimmtheit steigen mit der Intensität der Folgen einer gesetzlichen Regelung. 137 Um den rechtsstaatlichen Bestimmtheitsanforderungen zu genügen, müssen förmliche Gesetze insbesondere einen hinreichend bestimmten Normzweck aufweisen, an dem sich alles weitere staatliche Verhalten auszurichten hat. Ähnlich liegt es in den Fällen des Art. 80 Abs. 1 S. 1 GG: Die Ermächtigung zum Erlass von Rechtsverordnungen bedarf gemäß Satz 2 der Form eines Gesetzes, welches Inhalt, Zweck und Ausmaß der erteilten Ermächtigung bestimmt. Dieses Erfordernis soll eine Verlagerung der gesetzgebenden Gewalt auf die vollziehende Gewalt auf dem Wege pauschaler Delegation verhindern. 138 Die wichtigste Kategorie ist auch hier der Zweck der Ermächtigung. Inhalt und Ausmaß lassen sich gut erschließen, wenn der Zweck bestimmt ist. Er muss nicht nur hinsichtlich der Modalitäten einer möglichen Regelung, sondern auch hinsichtlich des „Ob überhaupt“ hinreichend bestimmt sein. 139 In einer Verordnung im Sinn des Art. 80 GG darf „niemals origi135 136 137 138 139

91).

Mayer, Deutsches Verwaltungsrecht I, S. 72. Frotscher, Rechtsbegriff, S. 224 m.w. N.; vgl. Pieroth, JuS 1995, L 88 (L 91). Jarass, in: Jarass / Pieroth, GG, Art. 20 Rn. 54, 60 f. m.w. N. Böckenförde / Grawert, AöR 95 (1970), 1 (24). Pieroth, in: Jarass / Pieroth, GG, Art. 80 Rn. 12 m.w. N.; ders., JuS 1995, L 89 (L

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närer politischer Gestaltungswille der Exekutive zum Ausdruck kommen“. 140 Der Verordnungsgeber besitzt nur eine auf Gesetz beruhende Wahlmöglichkeit und hat „im wohlverstandenen Sinne der ihm erteilten Ermächtigung zu handeln“. 141 Die Gestaltungsfreiheit des Gesetzgebers erfasst hingegen gerade auch die Änderung des „ermächtigenden“ Gesetzes. 142 Ein der legislativen Gestaltungsfreiheit vergleichbarer Entscheidungsspielraum ist – vorbehaltlich der Anforderung des Parlamentsvorbehalts − auch dem Satzungsgeber eingeräumt. Art. 80 Abs. 1 S. 1 GG findet auf Satzungen keine (analoge) Anwendung. 143 2. Der Vorbehalt des Gesetzes und seine Grenzen Wann ein Gesetz ergehen muss, bestimmt neben verfassungsrechtlichen Spezialregelungen, wie Art. 59 Abs. 2 S. 1 GG, das Institut des Gesetzesvorbehalts. Es besagt, dass Eingriffe in verfassungsrechtlich gewährleistete Rechtspositionen des Bürgers im demokratischen Rechtsstaat nur auf Grundlage eines Gesetzes erfolgen dürfen, das vom Parlament in verfassungskonformer Weise erlassen wurde. Ihm sind aufgrund seiner besonderen demokratischen Legitimation die abstraktgenerellen Entscheidungen über die Aufgaben der Verwaltung und der Regierung im Außenrechtskreis vorbehalten. 144 Die Reichweite des Gesetzesvorbehalts bestimmt das Bundesverfassungsgericht anhand der „Wesentlichkeitstheorie“. Danach muss das Parlament „in grundlegenden normativen Bereichen alle wesentlichen Entscheidungen“ selbst treffen. 145 Der Parlamentsvorbehalt markiert den notwendigen Funktionsbereich der „gesetzgebenden Gewalt“. 146 Er stellt für die Regierung grundsätzlich eine Aktivitätssperre, für das Parlament ein „Initiativmonopol“ 147 bzw. eine „ausschließliche Kompetenz“ dar. Regelmäßig markiert er auch eine „Regelungspflicht“. 148 Mit dem Vorbehalt des Gesetzes ist automatisch eine Vorbehaltswirkung verbunden. 149 Es bedarf in seinem Anwendungsbereich 140

BVerfGE 78, 249 (273) (Hervorhebung im Original). BVerfGE 13, 248 (255). 142 Mössle, Regierungsfunktionen, S. 231; Pieroth, JuS 1995, L 89 (L 91). 143 BVerfGE 33, 125 (158); 49, 343 (362); 79, 127 (146): Satzungen beruhen auf der eigenen Rechtsetzungsgewalt des Satzungsgebers. Ihre „Privilegierung“ ist deshalb gerechtfertigt, weil die Selbstverwaltungsgarantie die stetige Entdeckung neuer Aufgabenbereiche umfasst. Ist der Selbstverwaltungsbereich gegenständlich offen, lassen sich Inhalt, Zweck und Ausmaß von Satzungsermächtigungen nicht von vornherein vorgeben. 144 Ohler, AöR 131 (2006), 337 (341); Scholz, in: FS-BVerfG (2001) II, S. 663 (673); vgl. Badura, DÖV 1968, 446 (446); Wiefelspütz, ZParl 2007, 3 ff. m.w. N. 145 BVerfGE 61, 260 (275); 98, 218 (251); 105, 279 (304); kritisch: Pieroth, in: FSK. Ipsen, S. 755 (760). 146 Böckenförde / Grawert, AöR 95 (1970), 1 (24). 147 Herzog, in: Maunz / Dürig, GG, Art. 20 II Rn. 85, Art. 20 V Rn. 86. 148 Pieroth, in: FS-K. Ipsen, S. 755 (763); vgl. Erichsen, DVBl. 1985, 22 (28). 149 Jesch, Gesetz und Verwaltung, S. 30 m.w. N. 141

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stets einer primären Zwecksetzungsentscheidung der Legislative, die Gestaltungsfreiheit für die Regierung ausschließt und allenfalls Ermessensentscheidungen delegieren kann. Trotz der großen Bedeutung des Parlamentsvorbehalts im heutigen Verfassungsrecht existieren Bereiche, die er nicht erfasst. Das Grundgesetz kennt „weder einen Totalvorbehalt des Gesetzes noch eine Kompetenzregel“, wonach „alle objektiv wesentlichen Entscheidungen vom Gesetzgeber zu treffen wären“. 150 Die Verfassung versteht die Regierung nicht als exekutiven Ausschuss des Parlaments oder als abhängige Vollzugsagentur der parlamentarischen Legislativgewalt, sondern erkennt sie als eigenständiges, politisch gestaltendes Verfassungsorgan an. 151 Dem Parlamentsvorbehalt unterfällt in der Regel kein staatliches Verhalten, das zu einer Gewährung von Begünstigungen führt oder keine unmittelbare Rechtsverletzung bewirkt. So ist die Zuweisung von Subventionen und sonstigen Leistungen ohne nähere gesetzliche Regelung zulässig, solange damit nicht ausnahmsweise ein Grundrechtseingriff für einen Drittbetroffenen verbunden ist. 152 Ferner zählen zu dem Raum gesetzesfreien Handelns viele Realmaßnahmen von Regierung und Verwaltung, die, unter dem Stichwort „informelles Staatshandeln“ zusammengefasst, zunehmend an Bedeutung gewinnen. 153 Aber auch in der Konjunktur-, Struktur-, Wirtschafts- und Kulturpolitik sind der Regierung wesentliche Freiräume nicht nur ersten, sondern allein gestaltenden Handelns zugewiesen. 154 Da es an einer Außen- und Bindungswirkung für den Bürger fehlt, unterliegt die Richtlinienbestimmung nach Art. 65 S. 1 GG nicht dem Vorbehalt des Gesetzes. 155 Wie andere gestaltende Entscheidungen der Staatsleitung bedürfen die Richtlinien als politische Richtungsvorgaben in der Regel erst der rechtlichen Umsetzung durch den Gesetzgeber. 156 An einer außenwirksamen oder grundrechtsrelevanten Regelung fehlt es ebenso bei der Entscheidung über die grundsätzliche Organisationsstruktur der Bundesregierung. Sie bleibt von einem allein an einer institutionellen Bedeutsamkeit ausgerichteten Gesetzesvorbehalt ausgenommen. 157 Das für Regelungs- und Gestal150 BVerfGE 68, 1 (109); vgl. Böckenförde / Grawert, AöR 95 (1970), 1 (25 f.). Gegen ein zu weites Verständnis des Gesetzesvorbehalts auch: Magiera, Staatsleitung, S. 304 f.; a. A.: Jesch, Gesetz und Verwaltung, S. 205. 151 BVerfGE 68, 1 (87 ff.); vgl. BVerfGE 49, 89 (124 f.); 114, 121 (154); BVerwGE 15, 63 (66); Bethge, Jura 2003, 327 (330 m.w. N.); Leibholz, Strukturprobleme, S. 156, 161 f.; Zimmer, Funktion, S. 225 f. m.w. N. 152 BVerwGE 45, 8 (11); 58, 45 (48); Jarass, in: Jarass / Pieroth, GG, Art. 20 Rn. 49; a. A.: Maurer, Allg VerwR, § 6 Rn. 14. 153 Poscher, in: Hoffmann-Riem, Grundlagen, § 7 Rn. 86. 154 Stern, Staatsrecht I, § 22 III 6 lit. b). 155 Pieroth, in: Jarass / Pieroth, GG, Art. 65 Rn. 3. 156 Schröder, in: v. Mangoldt / Klein / Starck, GG, Art. 65 Rn. 19.

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tungsbefugnisse im Staat-Bürger-Verhältnis konzipierte Wesentlichkeitsprinzip lässt sich nicht ohne die Folge der Beliebigkeit auf den staatsorganisationsrechtlichen Innenbereich übertragen. Es fehlt hier an einem der Freiheitssubstanz der Grundrechte vergleichbaren Wesentlichkeitsmaßstab. 158 Außerhalb der Grundrechte verlangen zwar viele staatsorganisatorische Normen punktuell ein Parlamentsgesetz. Hiervon zu unterscheiden ist aber „eine völlig unkonturierte Ausweitung zu einem allgemeinen organisationsrechtlichen Gesetzesvorbehalt“. 159 Rein faktische Auswirkungen von Organisationsmaßnahmen lassen sich in den meisten Fällen nicht mit hinreichender Deutlichkeit auf den einzelnen Bürger und seine grundrechtliche Rechtsstellung beziehen. Genügte eine faktische Betroffenheit, um einen Gesetzesvorbehalt auszulösen, würde die Organisationsgewalt der Exekutive rasch „auf Null reduziert“. 160 Greift der Gesetzesvorbehalt nicht ein (Vorbehaltsbereich), bleibt es dem Gesetzgeber im Rahmen einer „fakultativen Zuständigkeit“ 161 − unabhängig von besonderen rechtsstaatlichen Bestimmtheits- und Zweckerfordernissen − überlassen, detaillierte Normprogramme zu verabschieden und die Entscheidungsspielräume der Exekutive zu beschränken (Zugriffsbereich). 162 Da beispielsweise die Frage des Regierungssitzes nicht grundrechtsrelevant und damit nicht wesentlich ist, „muss das Parlament nicht handeln, darf es aber“. Umgekehrt steht der Regierung die Organisationsbefugnis zu, solange das Parlament keine Regelung trifft. 163 Gubernative Entscheidungsspielräume stehen insoweit unter einem fakultativen legislativen Vorbehalt. 3. Grenzen des parlamentarischen Zugriffsrechts Es dürfte deshalb auch der Versuch scheitern, einen allgemein zugriffsfesten „Vorbehaltsbereich“ 164 der Regierung innerhalb der vollziehenden Gewalt anzunehmen. Maurer hält eine Zusammenfassung bestimmter Zuständigkeiten als „Regierungsvorbehalte“ nicht für ausgeschlossen, verweist aber darauf, dass 157 Oldiges, in: Sachs, GG, Art. 64 Rn. 24a; Schmidt-Aßmann, in: FS-P. Ipsen, S. 333 (347) m.w. N. 158 Schröder, in: HbStR III (2005), § 66 Rn. 14; vgl. Hermes, in: Dreier, GG, Art. 64 Rn. 19; Oldiges, in: Sachs, GG, Art. 64 Rn. 24b; Pieroth, in: FS-K. Ipsen, S. 755 (761); a. A.: NW VerfGH, NJW 1999, 1243 (1245). 159 Pieroth, in: FS-K. Ipsen, S. 755 (761). 160 Ohler, AöR 131 (2006), 337 (342, 354); vgl. Schnapp, AöR 105 (1980), 243 (270). 161 Böckenförde / Grawert, AöR 95 (1970), 1 (25) (Hervorhebung im Original); vgl. Grimm AöR 97 (1972), 489 (501 f.); Schomburg, Der „gerichtsfreie Hoheitsakt“, S. 71 m.w. N. 162 Poscher, in: Hoffmann-Riem, Grundlagen, § 7 Rn. 86. 163 Baer, Der Staat 40 (2001), 525 (549). 164 In diese Richtung: Stettner, DÖV 1984, 611 (613 ff.).

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die hierdurch begründeten beachtlichen politischen „Gestaltungs- und Führungsmöglichkeiten“ fast durchweg nur im Zusammenwirken mit dem Bundestag bestehen. 165 In einem System der „Verbindung, Trennung und Koordination“ der Staatsleitung von Parlament und Regierung lassen sich allenfalls die unter dem Trennungsaspekt (unterschiedliche Ausgestaltung, Ausstattung und Arbeitsweise der beiden Organe) auftauchenden Einzelbefugnisse der Regierung als Regierungsvorbehalte bezeichnen. Für einen darüber hinaus gehenden „allgemeinen Regierungsvorbehalt“ ist dagegen kein Platz. 166 Dem Parlament ist es aber verwehrt, dort durch Beschlüsse außerhalb des Gesetzgebungsverfahrens Einfluss zu nehmen oder sich durch einfaches Gesetz ein Mitwirkungsrecht an Regierungsakten vorzubehalten, wo der Regierung durch eine spezielle Verfassungsvorschrift eine Kompetenz eindeutig zugewiesen ist. 167 Aus analogen Erwägungen unterliegen außenpolitische Initiativen jeder Art, die Anbahnung von Kontakten und Vertragsverhandlungen bis zur Paraphierung, alle einseitigen völkerrechtlichen Rechtsgeschäfte wie Notifikationen, die Anerkennung von Staaten, völkerrechtliche Proteste, die Entscheidung über Aufnahme oder Abbruch diplomatischer Beziehungen der ausschließlichen Entscheidungskompetenz der Regierung. Ihre Sanktion erfolgt prinzipiell über parlamentarische Kontrolle, Regierungs- und Ministerverantwortlichkeit. 168 Der Bundestag ist befugt, Beziehungen mit ausländischen Parlamenten und internationalen parlamentarischen Gesellschaften zu pflegen, vertritt dabei aber nicht die Bundesrepublik Deutschland; mit ausländischen Regierungen und den Vertretern fremder Staaten kann er nicht unmittelbar in Verbindung treten oder Verhandlungen aufnehmen. 169 Art. 59 Abs. 2 S. 1 GG ist nicht zwingend zu entnehmen, dass immer dann, wenn ein Verhalten der Bundesregierung im völkerrechtlichen Verkehr die politischen Beziehungen der Bundesrepublik Deutschland regelt oder Gegenstände der Bundesgesetzgebung betrifft, die Form eines der gesetzgeberischen Zustimmung bedürftigen Vertrages zwingend geboten wäre. 170

165

Maurer, VVDStRL 43 (1985), 135 (151 f.); vgl. dens., DÖV 1966, 665 (670). Ders., VVDStRL 43 (1985), 135 (153 f.); vgl. Bethge, Jura 2003, 327 (330); Busse, DÖV 1989, 45 (47); Friesenhahn, VVDStRL 16 (1958), 9 (38); Herzog, in: Maunz / Dürig, GG, Art. 65 Rn. 1; Oldiges, in: Sachs, GG, Art. 65 Rn. 8; Pieroth, in: Jarass / Pieroth, GG, Art. 65 Rn. 2 m.w. N.; Schröder, in: HbStR III (2005), § 64 Rn. 12. 167 Friesenhahn, VVDStRL 16 (1958), 9 (38); Poscher, in: Hoffmann-Riem, Grundlagen, § 8 Rn. 40. 168 Zimmer, Funktion, S. 230 m.w. N.; vgl. Meyer, Regierung, S. 144; Mosler, in: FSBilfinger, S. 243 (289 ff.) mit Beispielen; Poscher, in: Hoffmann-Riem, Grundlagen, § 8 Rn. 59; Schmidt-Preuß, in: FS-Leisner, S. 467 (471). 169 Mosler, in: FS-Bilfinger, S. 243 (297). 170 BVerfGE 1, 351 (366 ff.); 1, 372 (382, 394); 68, 1 (86); 90, 286 (357, 381 ff.); 108, 34 (44); vgl. Scholz, in: FS-BVerfG (2001) II, S. 663 (674); Zimmer, Funktion, S. 229. 166

VII. Voraussetzungen von Gestaltungsfreiheit

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Auf Grundlage seiner Richtlinienkompetenz kann der Bundeskanzler das Parlament nicht von eigener Richtlinientätigkeit ausschließen oder gar verpflichten. Sie ist nicht exklusiv. 171 Dem Parlament gegenüber können die Richtlinien allenfalls faktische Bindung entfalten, wenn sie in einem von der Legislative rechtlich nicht beeinflussbaren Zuständigkeitsbereich der Regierung ergehen und der Legislative keine Verpflichtungen entstehen können. Außerhalb dieses durch den rechtsstaatlichen und demokratischen Gesetzesvorbehalt eingeschränkten Bereichs verengt sich die Richtlinienkompetenz auf den Spielraum, den die gesetzliche Regelung der Regierungspolitik belässt. 172 Das Zugriffsrecht des Parlaments auf richtlinienrelevante Angelegenheiten erfährt aber durch das in Art. 20 Abs. 2 GG verankerte Gewaltenteilungsprinzip eine Einschränkung: 173 Regierungsinterne Richtlinienentscheidungen stehen unter „Kanzlervorbehalt“ 174. Entsprechend erkennt das Bundesverfassungsgericht einen „nicht ausforschbaren Initiativ-, Beratungsund Handlungsbereich“ der Regierung an. 175 Er umfasst die ungestörte Beratung und Willensbildung sowie den Schutz interner Abstimmungen vor Einwirkungen anderer Organe oder außen stehender Dritter. 176 Die regierungsinterne Willensbildung darf der Bundestag weder durch Richtliniengesetze vorschreiben noch ist er befugt, Akte des Bundeskanzlers aufzuheben. 177 Es ist der Legislative verwehrt, im Wege verbindlicher Weisungen Einfluss zu nehmen 178 oder Maßnahmen für die Leitung einzelner Fachministerien zu erlassen. 179 Die ihm gezogene Grenze würde der Gesetzgeber auch überschreiten, wenn er die Richtlinienkompetenz allgemein oder doch für ganze Bereiche einem allgemeinen Gesetzesvorbehalt unterstellte. 180 Das parlamentarische Zugriffsrecht erstreckt sich grundsätzlich auch auf die Regierungs- und Ministerialorganisation. 181 In Ausübung seines Zugriffsrechts ist es dem Bundestag jedoch nicht gestattet, durch organisatorische Veränderungen verfassungsbegründete Kompetenzbereiche der Exekutive praktisch aufzuheben und so die grundgesetzliche Verfassungsstruktur zu unterlaufen. Dies gilt 171

Mössle, Regierungsfunktionen, S. 215 m.w. N.; Schenke, in: BK-GG, Art. 65 Rn. 66. Mössle, Regierungsfunktionen, S. 215; vgl. Doehring, Staatsrecht, S. 203; Maunz, BayVBl. 1956, 260 (261). 173 Schenke, Jura 1982, 337 (344). 174 Schneider, in: AK-GG, Art. 65 Rn. 3. 175 BVerfGE 67, 100 (139). 176 Vgl. Poscher, in: Hoffmann-Riem, Grundlagen, § 8 Rn. 38 m.w. N. 177 Pieroth, in: Jarass / Pieroth, GG, Art. 65 Rn. 2. 178 Zimmer, Funktion, S. 225; vgl. Friauf, in: FS-Herrfahrdt, S. 45 (55). 179 Herzog, VVDStRL 24 (1966), 183 (189 f.); Kassimatis, Regierung, S. 152; Poscher, in: Hoffmann-Riem, Grundlagen, § 8 Rn. 59; Schenke, Jura 1982, 337 (344). 180 Schomburg, Der „gerichtsfreie Hoheitsakt“, S. 71 m.w. N. 181 Böckenförde, Organisationsgewalt, S. 106, 286 ff.; Schröder, in: HbStR III (2005), § 64 Rn. 13 m.w. N. 172

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besonders hinsichtlich der ausdrücklich in der Verfassung geregelten Exekutivkompetenzen. Der Gesetzgeber muss sich hier auf die Regelung von Modalitäten beschränken und darf die Kompetenz als solche nicht verlagern. 182 Deshalb sind ihm im Rahmen seines Zugriffsrechts allenfalls punktuelle Organisationsregelungen erlaubt. 183 Die Organisationsgewalt erweist sich damit in bestimmten Grenzen als zugriffsfest. 184 Das Parlament darf sie auch nicht über den „Umweg“ des Haushaltsrechts aushöhlen. 185 Eine weitere Grenze der Legislative gegenüber der Exekutive − allerdings weniger eine rechtliche als eine tatsächliche − ergibt sich aus der schwierigen Normierbarkeit des Staatshandelns sowohl auf verfassungsrechtlicher als auch auf einfachgesetzlicher Ebene. 186 Die Anforderungen an eine gesetzliche Ermächtigung werden dadurch mitbestimmt, „ob diese dazu beitragen, die im Rechtsstaats- und im Demokratieprinzip wurzelnden Anliegen des Gesetzesvorbehalts zu erfüllen. Dies hängt auch von den hierauf bezogenen Erkenntnis- und Handlungsmöglichkeiten des Gesetzgebers ab.“ Der Sachbereich muss „staatlicher Normierung zugänglich“ sein. 187 Ist eine Positivierung aus tatsächlichen Gründen ausgeschlossen, kann man in Anlehnung an Schmidt-Aßmann von einem „faktischen Regierungsvorbehalt“ sprechen. Es handelt sich dabei allerdings lediglich um einen Reflex sonstiger Bindungen anderer Staatsorgane und nicht um ein verfassungsrechtlich abgesichertes Vorbehaltsgut. 188 4. Strukturelle Äquivalenz legislativer und gubernativer Entscheidungen Im Verhältnis zwischen Gubernative und Legislative sind drei Bereiche zu unterscheiden: Der Vorbehaltsbereich der Legislative, das legislative Zugriffsrecht und die zugriffsfreien Regierungskompetenzen. 189 Greift der Vorbehalt des Gesetzes, ist für gubernative Gestaltungsfreiheit kein Raum. In dem Zugriffsbereich ist sie potentiell ausgeschlossen. Dagegen markieren die zugriffsfesten Regierungskompetenzen den für die gubernative Gestaltungsfreiheit eigentlich relevanten Bereich. 182

Böckenförde, Organisationsgewalt, S. 106; ders., Richterwahl, S. 31. Pieroth, in: Jarass / Pieroth, GG, Art. 64 Rn. 2 m.w. N. 184 Mit den Einzelheiten: Böckenförde, Organisationsgewalt, S. 294; ähnlich: Oldiges, in: Sachs, GG, Art. 64 Rn. 29; a. A.: Friesenhahn, VVDStRL 16 (1958), 9 (46 Fn. 103); Hermes, in: Dreier, GG, Art. 64 Rn. 23. 185 Vgl. dazu Kaja, AöR 89 (1964), 381 (419); Schröder, in: v. Mangoldt / Klein / Starck, GG, Art. 64 Rn. 21. 186 Grimm, JuS 1969, 501 (505); Herzog, VVDStRL 24 (1966), 183 (190). 187 BVerfGE 105, 252 (269 f.); 105, 279 (303 f.). 188 Vgl. Schmidt-Aßmann, in: Hoffmann-Riem, Grundlagen, § 10 Rn. 46: „faktischer Verwaltungsvorbehalt“. 189 Pieroth, in: FS-K. Ipsen, S. 755 (763). 183

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Die Regierung kann hier ohne Dazwischentreten eines anderen Verfassungsorgans allein entscheiden. Da der Gesetzgeber nur der Verfassung unterworfen ist, ist der sachliche Anwendungsbereich legislativer Gestaltungsfreiheit vergleichsweise weiter als jener der Gubernative. 190 Dieser Befund schließt aber eine strukturelle Äquivalenz gubernativer und legislativer Gestaltungsfreiheit nicht aus. 191 Erfordern rechtsstaatliche Gesichtspunkte nicht zwingend eine Konkretisierung der grundgesetzlichen Rahmenordnung durch ein Parlamentsgesetz und macht das Parlament von seinem Zugriffsrecht keinen Gebrauch, reduziert sich die Verfassungs- und Gesetzesbindung der Regierung praktisch auf eine dem Gesetzgeber vergleichbare Verfassungsbindung. 192 Die Gestaltungsfreiheit der Regierung, die als materiell primäre Tätigkeit allein unter diesen Voraussetzungen anzuerkennen ist, unterscheidet sich deshalb prinzipiell nicht von jener der Legislative. Es existieren zwar immer Gesetze, welche die Regierung einhalten muss, so z. B. die Strafgesetze. Diese wirken aber aufgrund ihrer engen tatbestandlichen Voraussetzungen rechtlich regelmäßig nur negativ-begrenzend und regeln nicht positiv-bestimmend jeden Sachbereich, in dem die Regierung Aktivität entfaltet. So bleibt die Tatsache der Strafbarkeit des Hausfriedensbruchs nach § 123 StGB ohne jede Relevanz für die Frage, in welchem ihrer Gästehäuser die Bundesregierung eine Konferenz abhalten will und noch weniger für ihre inhaltliche Position, die sie auf dieser Konferenz, etwa bei Beitrittsverhandlungen mit zukünftigen EUMitgliedern, einnimmt. Allein die geringere Zahl von Adressaten und eine geringere Entscheidungsfrequenz erlauben keinen Rückschluss auf eine unterschiedliche Entscheidungsstruktur: Zwecksetzung ist nicht gleichbedeutend mit Normsetzung, sondern stellt eine autonome Richtungsentscheidung dar, die sich je nach den zu Verfügung stehenden Handlungsformen des betreffenden Organs in unterschiedlicher Art und Weise realisieren lässt. Bei Regierungsverhalten handelt es sich insofern um eine „freie Tätigkeit innerhalb des Rechts, die weder Recht setzt noch ausführt“. 193 Eine Richtlinienentscheidung des Bundeskanzlers oder ein Kabinettsbeschluss der Regierung, wonach ein bestimmtes Gesetzesvorhaben zu initiieren ist, unterscheidet sich dem Entscheidungsvorgang nach strukturell nicht von dem darauf folgenden Gesetzesbeschluss. Die Regierung ist hinsichtlich der Erwägungen, die sie ihrem Verhalten zugrunde legen darf, ähnlich frei wie der Gesetzgeber.

190 Achterberg, DVBl. 1967, 213 (215); Poscher, in: Hoffmann-Riem, Grundlagen, § 7 Rn. 86. 191 Vgl. Schomburg, Der „gerichtsfreie Hoheitsakt“, S. 72 f.; Schuppert, Verfassungsinterpretation, S. 22, 56 f. 192 Vgl. Peters, in: FS-H. Huber (1961), S. 206 (213). 193 Böckenförde, Gesetz und gesetzgebende Gewalt, S. 251.

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F. Systematisierung öffentlich-rechtlicher Entscheidungsspielräume

Ein gegenteiliges Ergebnis lässt sich auch nicht unter Hinweis auf die unmittelbare demokratische Legitimation des Gesetzgebers begründen. Seine näher am Volke liegende Berufung begründet zwar eine höhere demokratische Dignität und damit eine Legitimation zu besonders weittragenden politischen Entscheidungen. 194 Die Ausgestaltung der Rechtsbindung und die Bedeutung der zu treffenden Entscheidungen korrelieren regelmäßig mit dem Quantum demokratischer Legitimation der unterschiedlichen Entscheidungsträger. 195 Der Gesetzgeber wird entsprechend häufiger eine rechtliche Konstellation antreffen, die die universalen Strukturmerkmale von Gestaltungsfreiheit aufweist. Die Art der demokratischen Legitimation enthält als solche aber keine notwendige Aussage über die Struktur bestimmter staatlicher Entscheidungen. Da beide Legitimationsformen prinzipiell gleichwertig sind 196, besteht zwischen Parlament und Regierung kein Legitimitätsgefälle oder Stufenverhältnis. Es existiert weder ein „Monopol demokratischer Legitimation“ 197 noch ein „Entscheidungsmonopol“ 198 zugunsten der Legislative. Die unmittelbare politische Verantwortlichkeit der Regierung spricht im Gegenteil für eine Gleichstellung mit dem Gesetzgeber, wenn sie sich angesichts einer geringen Dichte der normativen Vorgaben in einer rechtlich ähnlichen Situation befindet. 199 Empirische Erkenntnisse über die Stellung der Regierung im Gesetzgebungsprozess untermauern die These einer strukturellen Äquivalenz bestimmter legislativer und gubernativer Entscheidungen. In der Praxis beruhen gut 75 –80% der verabschiedeten Gesetze auf Regierungsvorlagen. Nur ungefähr 15% gehen auf Initiativen der parlamentarischen Opposition und nur 5% auf Initiativen der Parlamentsmehrheit zurück. 200 Wenig greifbar, aber in seiner Wirksamkeit kaum zu überschätzen, ist der Sacheinfluss, den die Bundesregierung in der fachlichen Begleitung der Gesetzgebung im parlamentarischen Prozess ausübt. Sie ist mehr als alle anderen Verfassungsorgane eine „informierte Gewalt“ 201 und verfügt mit ihrer Ministerialbürokratie über ausreichendes Fachpersonal zur Ausarbeitung der Entwürfe. 202 Der Einfluss der Regierung auf die Gesetzgebung erhöht sich 194

Ders., in: HbStR II (2004), § 24 Rn. 16. Vgl. Pieroth, EuGRZ 2006, 330 (334). 196 Böckenförde / Grawert, AöR 95 (1970), 1 (25 f.); Merten, DVBl. 1980, 773 (776); Schmidt-Preuß, in: FS-Leisner, S. 467 (467); vgl. auch: Stettner, DÖV 1984, 611 (612) m.w. N. 197 Schuppert, Kontrolle, S. 52 m.w. N. 198 BVerfGE 49, 89 (125). 199 Vgl. v. Bogdandy, Gubernative Rechtsetzung, S. 367 f.; Herzog, in: Maunz / Dürig, GG, Art. 65 Rn. 46. 200 Grimm, ZParl 1970, 448 (454 f.); Meyn, in: v. Münch / Kunig, GG, Art. 62 Rn. 5; Schneider, AöR 105 (1980), 4 (16 f.); ders., in: AK-GG, Art. 62 Rn. 5; vgl. Scholz, in: FS-BVerfG (2001) II, S. 663 (672 f.). 201 Schröder, in: HbStR III (2005), § 64 Rn. 14 m.w. N. 195

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zusätzlich dadurch, dass an die Stelle des Dualismus von (Gesamt-)Parlament und Regierung weitgehend der Dualismus zwischen Regierung und Opposition getreten ist. Parlamentsmehrheit und Regierung bilden ein „einheitliches Kraftfeld“. 203 Die Regierung kann so entscheidenden, tatsächlichen Einfluss auf die Änderung der Rechtsordnung nehmen. Bei der Erarbeitung von Gesetzesentwürfen besteht außerdem die Möglichkeit, die dem Gesetzgeber durch das Bundesverfassungsgericht eingeräumte Gestaltungsfreiheit zu berücksichtigen und den eigenen Entscheidungen mittelbar zugrunde zu legen. Gleichwohl lässt sich mit einem empirischen Befund die formelle, normative Kompetenzverteilung des Grundgesetzes nicht überspielen. Deshalb erscheint es auch unangemessen, von „gubernativer Hegemonie“ 204 im Rechtsetzungsverfahren zu sprechen oder das Parlament zu einem „Vollzugsorgan“ 205 der Regierung degradieren zu wollen. Grundlegende Regierungsvorlagen unterzieht das Parlament in der Regel einer gründlichen Überarbeitung und mitunter nicht unerheblichen Änderungen. 206 Seine „sachliche Letztentscheidungskompetenz“ bleibt stets unangetastet. 207 Die strukturelle Entscheidungsäquivalenz von Parlament und Regierung bei bestimmten Initiativ- und Zwecksetzungsentscheidungen spricht aber für die Anerkennung eines einheitlichen funktionellen Regierungsbegriffs, der über die Regierung im institutionellen Sinn hinaus auch den parlamentarischen Gesetzgeber erfasst. Ein solcher funktioneller Regierungsbegriff durchzieht das gesamte Verfassungsleben. 208 So unterscheidet Wittmayer zwischen einem Regierungsbegriff innerhalb der Gewaltenteilung und einem Regierungsbegriff, der „über die Funktionenteilung hinaus auf die Einheit des Staates deutet“. 209 Zippelius weist darauf hin, dass sich die Funktion der Regierung als oberste leitende Staatstätigkeit, deren vorausschauende politische Planung sich sowohl auf exekutive wie auch auf legislative Maßnahmen erstreckt, nicht in das Schema „Gesetzgebung, Rechtsprechung und vollziehende Gewalt“ einfügt. 210 Hierfür sprechen auch die 202 Grimm, ZParl 1970, 448 (454 f.); ders., AöR 97 (1972), 489 (501 f.); ders., JZ 1976, 697 (703); Schmidt-Preuß, in: FS-Leisner, S. 467 (470) m.w. N.; Scholz, in: FS-BVerfG (2001) II, S. 663 (672 f.). 203 Grimm, AöR 97 (1972), 489 (511); Meyn, in: v. Münch / Kunig, GG, Art. 62 Rn. 5. 204 v. Bogdandy, Gubernative Rechtsetzung, S. 148. 205 Schneider, AöR 105 (1980), 4 (16 f.). 206 Mössle, Regierungsfunktionen, S. 159 f.; vgl. auch: Stern, Staatsrecht I, § 22 III 4 m.w. N. 207 Schmidt-Preuß, in: FS-Leisner, S. 467 (470) (Hervorhebung im Original). 208 Schröder, in: HbStR III (2005), § 64 Rn. 10 m.w. N.; vgl. G. Jellinek, Allgemeine Staatslehre, (3. Aufl.), S. 619; Leibholz, Strukturprobleme, S. 162; Lenz, Prüfungsbefugnis, S. 69 f. 209 Wittmayer, in: HbStR II (1932), § 85, S. 330. 210 Zippelius, Allgemeine Staatslehre, § 31 III.

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F. Systematisierung öffentlich-rechtlicher Entscheidungsspielräume

in Rechtsprechung und Staatsrechtslehre anzutreffenden Charakterisierungen des Parlaments und des Regierungskollegiums als die spezifisch „politischen Organe“ oder „richtungbestimmenden Staatsorgane“ 211 in der Verfassungsordnung, sofern man sie der Administrative und der Judikative gerade in dieser Eigenschaft gegenübergestellt. 212 5. Administrative Gestaltungsfreiheit? Die in dieser Arbeit angenommene Übertragbarkeit des Ermessensbegriffs auf die Ebene des Verfassungsrechts und der parallele Befund einer Unterscheidung zwischen Ermessen und Gestaltungsfreiheit für diesen Bereich werfen die Frage auf, ob − und damit schließt sich gewissermaßen der Kreis der Untersuchung − die gewonnene Differenzierung ihrerseits auf den Bereich der Verwaltung übertragbar ist. Ist der Verwaltung also nicht nur Ermessen, sondern unter bestimmten Voraussetzungen auch Gestaltungsfreiheit eingeräumt? Die bisherigen Erkenntnisse sprechen dafür, dass es sich bei der Differenzierung um eine von dem jeweiligen institutionellen Entscheidungsträger losgelöste Einteilung handelt, die allein mit der typenhaft bestimmbaren materiell-rechtlichen Entscheidungsstruktur korreliert. Diesem Ergebnis könnte unter Umständen der unterschiedliche rechtliche Bezugsrahmen von Entscheidungen der Regierungsorgane und der Verwaltungsorgane 213 oder eine besondere „Kombinationsintensität“ 214 gubernativer Entscheidungsspielräume entgegen stehen. Materielle Verfassungssätze lassen sich aufgrund des Plan- und Programmcharakters der Verfassung regelmäßig nicht in der logischen Gestalt eines konditionalen Normbefehls fassen. Das Grundgesetz formuliert nicht etwa: Wenn die und die Voraussetzungen gegeben sind, dann hat der Bundeskanzler die und die Richtlinien zu bestimmen, sondern es sagt: Der Bundeskanzler bestimmt die Richtlinien der Politik. 215 Verfassungsrechtliche Kontrollnormen geben selten einen feststehenden Tatbestand vor, der bei Vorliegen der Voraussetzungen ein Entscheidungs- oder Auswahlermessen einräumt. 216 Das Unterscheidungskriterium zwischen Gubernative und Verwaltung erkennen einige Literaturstimmen folglich darin, dass die Regierung nicht das einfache Gesetz ausführt, sondern 211 Scheuner, in: FG-Smend (1962), S. 225 (260); vgl. Mössle, Regierungsfunktionen, S. 104. 212 Vgl. v. Bogdandy, Gubernative Rechtsetzung, S. 367 f. m.w. N. (für das Verordnungsermessen). 213 Vgl. dens., Gubernative Rechtsetzung, S. 114; Meßerschmidt, Gesetzgebungsermessen, S. 270 ff. 214 Leisner, JZ 1968, 727 ff. spricht von der „Macht kombinierten Ermessens“. 215 Krüger, in: FS-Forsthoff, S. 187 (197). 216 Zeitler, Völkerrechtlicher Vertrag, S. 136.

VII. Voraussetzungen von Gestaltungsfreiheit

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gesetzesfreie Gestaltungsentscheidungen trifft. 217 Danach wäre darauf abzustellen, ob die zugrunde liegende Kompetenznorm dem Verfassungsrecht (z. B. Art. 65 S. 1 GG) oder dem einfachen Recht (z. B. § 8 Abs. 1 PolG NRW) angehört. Gegen die Normenhierarchie oder die Normstruktur als generelles Abgrenzungskriterium spricht aber, dass zwischen Verfassungsnormen und einfach-gesetzlichen Normen kein prinzipieller Unterschied besteht. 218 Auch auf verfassungsrechtlicher Ebene existieren detaillierte Normprogramme, die der Struktur von Verwaltungsrechtsnormen entsprechen und keinen Raum für materiell primäre Tätigkeit lassen. 219 Die teilweise bemühte Differenzierung zwischen Konditionalund Zweckprogrammen stellt ebenso kein taugliches Abgrenzungskriterium dar. Sie wird aufgrund der durchgängigen Zweckorientierung der Rechts-„findung“ zumindest für juristische Diskussionszusammenhänge relativiert: Finalprogramme fixieren einen Zweck, der als Leitfaden für die Ermittlung geeigneter Mittel und für die Rechtfertigung der gewählten Mittel den Entscheidungsprozess bindet. Sie stellen keine Besonderheit des Verfassungsrechts dar und sind auch im administrativen Bereich, etwa im Planungsrecht, anzutreffen. 220 Der normstrukturelle Trennungsstrich verläuft weder zwischen Verfassungsrechtsnormen und Verwaltungsrechtsnormen noch zwischen konditionalen und finalen Normprogrammen, sondern zwischen zwingenden Normen einerseits und Ermessen oder Gestaltungsfreiheit einräumenden Normen andererseits. 221 Im Verfassungsrecht ist lediglich der Anteil unbestimmter Normen höher als im einfachen Recht. Die Gesetzesbindung stellt für die Verwaltung den Regelfall dar. 222 Ihre Aufgabe setzt regelmäßig erst dort ein, wo sich die politische Gestaltung in Gesetzen und Richtlinien bereits verfestigt hat und der Umsetzung in die Realität bedarf. 223 Darin liegt jedoch kein qualitatives Kriterium. Ist das Verhalten der Verwaltung dagegen gesetzlich nicht näher determiniert, reduziert sich ihre Rechtsbindung vergleichbar der Regierung auf den Verfassungsrahmen. Ferner ist politische Tätigkeit nicht exklusiv auf den Bereich der Regierung beschränkt. 224 Letzterer lässt sich schon aus diesem Grund eine „apolitische Verwaltung“ nicht gegenüber stellen. 225 Der staatsleitende Charakter der 217

Kaufmann, VVDStRL 9 (1952), 1 (9); Mössle, Regierungsfunktionen, S. 104. Grimm, AöR 97 (1972), 489 (504). 219 Gusy, JöR 33 (1984), 105 (105); vgl. Isensee, in: HbStR VII (1992), § 162 Rn. 45. 220 Koch / Hendler, Baurecht, § 17 Rn. 7; Rubel, Planungsermessen, S. 52, 61 f.; Weitzel, Justitiabilität, S. 101 ff. 221 Ibler, Schranken, S. 39; Sachs, in: Stelkens / Bonk / Sachs, VwVfG, § 40 Rn. 42. 222 Meßerschmidt, Gesetzgebungsermessen, S. 274 f. m.w. N. 223 Mössle, Regierungsfunktionen, S. 104 m.w. N. 224 Frotscher, Rechtsbegriff, S. 162, 229 m.w. N. 225 Kassimatis, Regierung, S. 49; Lenz, Prüfungsbefugnis, S. 58; vgl. Meyer, Regierung, S. 122 ff. 218

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F. Systematisierung öffentlich-rechtlicher Entscheidungsspielräume

Regierungstätigkeit erlaubt keine Abgrenzung zur Verwaltung in funktionaler Hinsicht, soweit ihr Handeln weder durch das Gesetz noch durch politische Vorgaben des Parlaments programmiert ist. 226 Gestaltungsentscheidungen sind in der einfachen Verwaltung nicht ausgeschlossen: 227 Der bereits erwähnte Beschluss einer Stadt, ein bestimmtes Denkmal anstelle eines anderen errichten zu lassen, unterscheidet sich prinzipiell nicht von der Entscheidung des Bundeskanzlers, einen Staatsgast an diesem oder jenem Amtssitz zu empfangen. Deshalb kommt Wolff zu dem Ergebnis, dass die Verwaltung in diesen Bereichen oft „materiell zur Regierung“ werde. 228 Umgekehrt kann auch das Verhalten der Gubernative durch einfaches Gesetz bestimmt sein (vgl. Konsulargesetz). Es zerfällt ebenso wie der administrative Bereich in freie und gebundene Tätigkeiten. 229 Ein quantitativer Unterschied besteht lediglich dergestalt, dass die „freie Tätigkeit“ einen vergleichsweise höheren Anteil an der gubernativen Arbeit ausmacht. Das Kriterium der Kombinationsintensität geht auf Leisner zurück. Seiner Auffassung nach lässt sich „Regierung“ im materiellen Sinn nicht allein durch die Kriterien „Staatsleitung“, „Gestaltung“, „Integration“ oder als die „politische Leitungs- und Führungsfunktion“ definieren, da eine einheitliche Vorstellung von diesen Begriffen bis heute nicht existiere. Diese Qualitäten seien wohl bedeutsam für das Wesen der Regierung, aber nicht mit ihr identisch. Ausgehend von einem herkömmlichen Begriffsverständnis des Ermessens als „Möglichkeit der Wahl unter mehreren Verhaltensweisen, ohne dazu verpflichtet zu sein“, diagnostiziert er die Besonderheit der Regierung in deren Fähigkeit, auf verschiedenen Sektoren „zugleich“ unter mehreren rechtlich zulässigen Verhaltensweisen auszuwählen und entsprechend zu planen, zu koordinieren und in ihnen einheitliche Gesichtspunkte zum Tragen zu bringen. Ihr Wesen als „pouvoir composé“ erblickt er darin, dass sie verschiedenste Fraktionen der Staatsmacht und unterschiedliche Kompetenzen in einer Hand zusammenführt. Die „Kompetenz der Regierung“ sei deshalb nicht deckungsgleich mit der Summe der Ermessensspielräume, welche ihr zur Verfügung stünden. Vielmehr „verstärke“ die Kombinationsmöglichkeit die Gestaltungsmöglichkeiten der Regierung und verändere sie so qualitativ. Eine derartige „Macht kombinierten Ermessens“ sei in keiner anderen Gewalt in dieser Form anzutreffen. Sie rechtfertige eine Abgrenzung gegenüber der Verwaltung als „Macht isolierten Ermessens“. 230 226 Schmidt-Aßmann, in: Hoffmann-Riem, Grundlagen, § 10 Rn. 49; vgl. Obermayer, BayVBl. 1955, 173 (173). 227 Schmidt-Aßmann, in: Hoffmann-Riem, Grundlagen, § 10 Rn. 49; vgl. Leisner, JZ 1968, 727 (728 f.). 228 Wolff, VerwR I, § 31 III, S. 203. 229 Eschenburg, Staat und Gesellschaft, S. 657; Junker, Die Richtlinienkompetenz, S. 61. 230 Leisner, JZ 1968, 727 (728 f. 730, 731): In der Person des Bundeskanzlers kulminiere die Koordinierung des deutschen Exekutivermessens. Die Richtlinien der Politik seien – soweit sie normähnlichen Charakter trügen – die Institutionalisierung koordinierten Ermessens (teilweise Hervorhebung im Original).

VII. Voraussetzungen von Gestaltungsfreiheit

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Leisner geht dabei von der Prämisse aus, dass es sich, „isoliert“ betrachtet, bei den Ermessensspielräumen der Regierung um „herkömmliche“ handelt. Der Befund eines einzigartigen Quantums kombinierbarer, einfacher Ermessensspielräume beantwortet nicht die hier interessierende Frage, ob im Bereich der Regierung Entscheidungskategorien existieren, die sich auch bei isolierter Betrachtung qualitativ von solchen der Verwaltung abheben und ihre Übertragung auf diesen Bereich deshalb ausgeschlossen erscheint. Die Fragestellung Leisners, der sich um ein funktionelles Kriterium zur Bestimmung des Regierungsbereichs bemüht, ist eine andere. Das Kriterium der Kombinationsintensität gestattet Rückschlüsse auf das handelnde Organ und seine Funktion, nicht aber auf den der Kombination zugrunde liegenden Entscheidungstyp. Die Untersuchung kommt zu dem Ergebnis, dass die Entscheidungsstruktur einer Kategorisierung nach Typen zugänglich ist, die jeweils einem einheitlichen Rechtsbindungsregime unterliegen. Die Strukturmerkmale existieren unabhängig von Entscheidungsfrequenz, Rechtsform der Entscheidung, institutioneller Stellung oder Art der Legitimation des Entscheidungsträgers und den Folgen, die im Einzelfall aus der Entscheidung resultieren dürfen. Für die Einordnung kommt es nur darauf an, ob der Akt seinem Wesen nach frei und als solcher gewollt ist und keine „Rechte“ in Bezug auf sich duldet, wenn er nicht seinen Sinn verlieren soll. 231 Ermessen und politische Gestaltungsfreiheit bzw. politische Gestaltungsspielräume kennzeichnen in diesem Sinn zwei Entscheidungstypen, die sich im gesamten öffentlichen Recht nachweisen lassen. Es handelt sich um funktionsneutrale Entscheidungskategorien. Maßgeblich für das Vorliegen des einen oder des anderen Typs ist allein die qualitative Ausgestaltung der rechtlichen Bindung der betreffenden Entscheidung im Einzelfall: Von „administrativer“, „gubernativer“ oder „legislativer Gestaltungsfreiheit“ kann man beispielsweise sprechen, wenn das betreffende Organ auf Grundlage einer inhaltsneutralen Kompetenznorm und nur durch den Rahmen der Verfassung begrenzt gestaltende Entscheidungen trifft; die Entscheidung also nicht durch materielle Zwecke a priori determiniert ist.

231

Seuffert, AöR 108 (1983), 403 (403 f., 409); vgl. dens., in: FS-G. Müller, S. 491 (492, 496 f.).

G. Verfassungsrechtliche Determination gubernativer Entscheidungen Ob die Verfassung das Verhalten von Regierung und Bundeskanzler nur negativ begrenzt und politische Gestaltungsfreiheit einräumt oder ob unter der Voraussetzung positiver Steuerung politisches Ermessen vorliegt, hängt von der Struktur der normativen Bindung einer Entscheidung im Einzelfall ab. Gegenstand einer exemplarischen Analyse sind deshalb zentrale Verfassungsnormen aus dem Regierungsbereich. Der besonderen Stellung des Bundeskanzlers innerhalb der Bundesregierung trägt sie durch eine Beschränkung der normspezifischen Betrachtung auf die Art. 64, 65 und 68 GG Rechnung. Sie soll klären, welche Art von Entscheidungsspielraum die genannten Normen nach der hier zugrunde gelegten Differenzierung einräumen. Außerdem ist auf spezielle Einzelfragen einzugehen, die in Zusammenschau mit den jeweiligen Entscheidungsspielräumen praktische Relevanz erlangen können.

I. Normspezifische Betrachtung 1. Art. 64 Abs. 1 GG a) Materielles Kabinettsbildungsrecht Gemäß Art. 64 Abs. 1 GG werden die Bundesminister auf Vorschlag des Bundeskanzlers ernannt und entlassen. Aus den Vorschriften der Art. 63, 64 und 67 GG leitet die Literatur das „materielle Kabinettsbildungsrecht“ des Bundeskanzlers ab, welches sie auch als „Personalgewalt“ oder „Personalkompetenz“ bezeichnet. Danach bestimmt der Bundeskanzler, wer Bundesminister wird und bleibt. Das dem Bundespräsidenten gegenüber auszuübende Vorschlagsrecht des Bundeskanzlers erstreckt sich auf Zahl und Eignung der Ministerkandidaten. 1 aa) Mitsprache des Bundespräsidenten bei der Ministerernennung? Schon der erste Bundespräsident nahm zweimal das Recht für sich in Anspruch, bei der Bestellung der Minister seinen Einfluss geltend zu machen; in einem Fall nahm der Bundeskanzler seinen Vorschlag daraufhin zurück. 2 Unbestritten ist 1 2

Böckenförde, Organisationsgewalt, S. 139 f.; Lehnguth, DBVl. 1985, 1359 (1362). Kaja, AöR 89 (1964), 381 (417) m.w. N.

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das Recht des Bundespräsidenten, unverbindliche Einwendungen jeder Art gegen einen zur Ernennung vorgeschlagenen Ministerkandidaten zu erheben. Durch Gegenvorstellung darf er beispielsweise auf eine Korrektur der Ministerliste hinwirken und den Bundeskanzler zu überzeugen versuchen. Der Bundeskanzler ist zur Überprüfung und Erörterung der Bedenken mit dem Bundespräsidenten selbst dann verpflichtet, wenn er ihnen im Ergebnis keine Rechnung tragen will. 3 (1) Rechtliches Prüfungsrecht Ebenso ist anerkannt, dass der Bundespräsident zur Prüfung der rechtlichen Voraussetzungen einer Ministerernennung nicht nur berechtigt, sondern sogar verpflichtet ist. Dies folgt aus Art. 20 Abs. 3 GG. Kein Staatsorgan ist verpflichtet, „sehenden Auges eine rechts- oder gar verfassungswidrige Handlung vorzunehmen oder sich an ihr auch nur zu beteiligen“. 4 (2) Politisches Prüfungsrecht Ein weitergehendes politisches Prüfungsrecht 5 des Bundespräsidenten bei der Ministerernennung stützen diverse Stimmen auf den Wortlaut des Art. 64 Abs. 1 GG, der – isoliert betrachtet – mehr gegen als für die Verbindlichkeit des Ernennungsvorschlags des Bundeskanzlers spricht. Das Wort „Vorschlag“ hat als solches keinen Befehlscharakter. Es eröffnet dem Adressaten vielmehr die Wahl, dem Vorschlag zu folgen oder dies nicht zu tun. Zu dieser Auslegung kann auch ein Gegenschluss aus den unterschiedlichen Fassungen des Art. 64 Abs. 1 GG sowie der Art. 63 Abs. 2 S. 2, Abs. 4 S. 2 und Art. 67 Abs. 1 S. 2 GG führen. Die genannten Bestimmungen bringen durch den Gebrauch der Befehlsform im Unterschied zu Art. 64 Abs. 1 GG eindeutig zum Ausdruck, dass der Bundespräsident bei Vorliegen der grundgesetzlichen Tatbestandsmerkmale eine Ernennung aussprechen muss. 6 Unter systematischen Gesichtspunkten begründen einige Autoren ein sachliches Prüfungsrecht mit dem Argument, dass das Ernennungsrecht des Präsidenten in Art. 64 Abs. 1 GG ansonsten praktisch leer liefe. Wenn bei der Ernennung allein der Wille des Kanzler maßgeblich sein solle, wäre es folgerichtig gewesen, ihm nicht nur ein Vorschlagsrecht, sondern gleich die Ernennung selbst zu überlassen. Als bloßen Urkundsbeamten brauche man das Staatsoberhaupt nicht 3

Hermes, in: Dreier, GG, Art. 64 Rn. 27; Herzog, in: Maunz / Dürig, GG, Art. 64 Rn. 15; Maurer, DÖV 1966, 665 (671 f.); Oldiges, in: Sachs, GG, Art. 64 Rn. 16; Schenke, in: BK-GG, Art. 64 Rn. 26. 4 Hall, JZ 1965, 305 (307); Herzog, in: Maunz / Dürig, GG, Art. 64 Rn. 13. 5 Eschenburg, DÖV 1954, 193 (198, 200); Kaja, AöR 89 (1964), 381 (418); Nawiasky, DÖV 1950, 161 (162). 6 Kaltefleiter, Staatsoberhaupt, S. 224 f.; vgl. Rein, JZ 1969, 573 (575); Schneider, NJW 1953, 1330 (1332).

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zu bemühen. 7 Auch die Stellung des Bundespräsidenten als „pouvoir neutre“ oder die „Würde eines Staatsoberhauptes“, mit der ein verbindlicher Kanzlervorschlag unvereinbar wäre, sollen ein politisches Prüfungsrecht rechtfertigen. 8 Die überzeugenderen grammatischen, systematischen, historisch-genetischen und teleologischen Argumente sprechen dagegen für eine Begrenzung auf ein formelles Prüfungsrecht. 9 Die Formulierungen „Vorschlag“ bzw. „werden (...) ernannt“ bringen zwar eine Verpflichtung des Bundespräsidenten nicht ganz eindeutig zum Ausdruck. Ähnliche Formulierungen in Form eines Verbs in der Präsensform finden sich aber in diversen grundgesetzlichen Vorschriften. Diese Sätze haben nicht den Sinn, ein gegenwärtiges Geschehen zu beschreiben oder gar ein zukünftiges Geschehen vorauszusagen. Ihr Sinn ist es, das dem Anschein nach beschriebene Tun anzuordnen. Die Anordnungen sind im imperativen Präsens gefasst. Sie erscheinen zwar weniger anordnend als der grammatikalische Imperativ. Radbruch hält diese sprachliche Form des Befehlens aber sogar für die intensivste. 10 Der Umkehrschluss aus Art. 64 Abs. 1, Art. 63 Abs. 2 S. 2, Abs. 4 S. 2 und Art. 67 Abs. 1 S. 2 GG lässt sich mit dem Hinweis entkräften, dass der Wortlaut des Grundgesetzes „nicht so exakt durchgearbeitet“ ist und nicht allein aus der unterschiedlichen Formulierung ein politisches Mitspracherecht folgt. 11 Das Grundgesetz bringt auch an anderer Stelle die Verpflichtung des Bundespräsidenten zur Vornahme eines Amtsaktes nicht immer explizit zum Ausdruck. Die Parallele zu Art. 63 Abs. 1 GG ist ebenfalls ohne großen Aussagewert: Es ergibt sich bereits außerhalb der Interpretation des Begriffs „Vorschlag“ aus der hier vorgesehenen Wahl des Bundeskanzlers eindeutig, dass der Vorschlag des Bundespräsidenten für den Bundestag keine Bindungswirkung entfaltet. 12 Auch die Krisenbefugnisse der Art. 63, 68 und 81 GG verleihen kein politisches Prüfungsrecht. Der politische Charakter dieser allein auf die Vermeidung von Missbrauch verfassungsmäßiger Institutionen gerichteten Befugnisse ist eine „unvermeidliche Nebenwirkung“ 13. Politisches Ermessen des Bundespräsidenten ist als Ausnahmetatbestand stets expressis verbis vorzusehen. Art. 64 Abs. 1 GG 7

Ders., ebd.; vgl. Kaltefleiter, Staatsoberhaupt, S. 225 f. Rein, JZ 1969, 573 (575). 9 Vgl. Hermes, in: Dreier, GG, Art. 64 Rn. 27; Herzog, in: Maunz / Dürig, GG, Art. 64 Rn. 14; Oldiges, in: Sachs, GG, Art. 64 Rn. 15; Pieroth, in: Jarass / Pieroth, GG, Art. 64 Rn. 1; Stern, Staatsrecht II, § 31 III 3 lit. a). 10 Radbruch, Rechtsphilosophie, S. 136. 11 Friesenhahn, VVDStRL 16 (1958), 9 (47 Fn. 107); vgl. Erichsen, Jura 1985, 373 (376). 12 Schenke, in: BK-GG, Art. 64 Rn. 11, 12: Beispiele sind Art. 82 Abs. 1 GG und Art. 59 Abs. 1 GG. 13 Eschenburg, DÖV 1954, 193 (200). 8

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spricht aber nur von „werden (...) ernannt und entlassen“. Deshalb deutet nicht zuletzt der Wortlaut des Art. 64 Abs. 1 GG, im Umkehrschluss z. B. zum politischen Ermessen („so kann“) in Art. 68 Abs. 1 S. 1 GG, auf eine Ernennungsund Entlassungspflicht hin. 14 Gegen ein Mitspracherecht spricht ferner die Gegenzeichnungsbedürftigkeit aller politisch relevanten Akte des Bundespräsidenten gemäß Art. 58 S. 1 GG. Es kann daher nicht überzeugen, aus dem mangelnden Gegenzeichnungserfordernis der präsidialen Ablehnung einer Ernennung auf eine freie Entscheidung zu schließen. 15 Wenn schließlich nach Art. 63 Abs. 3, Abs. 4 GG das Parlament dem Bundespräsidenten sogar den Bundeskanzler aufzwingen kann, darf es dem Staatsoberhaupt nicht gestattet sein, die Regierungsbildung auf dem Umweg über die Bundesminister unmöglich zu machen oder zu erschweren. 16 Aus einer historisch-genetischen Betrachtung ergibt sich ebenfalls eine Beschränkung des Bundespräsidenten auf eine Rechtsprüfung in ministeriellen Personalfragen. Nach der Weimarer Verfassung sollte der Reichspräsident einer der beiden tragenden Pfeiler des politischen Lebens sein. Sie eröffnete ihm verschiedene eindeutige und positive Kompetenzen, welche die Entfaltung eigener politischer Aktivität beinhalteten. Die Literatur räumte dem Reichspräsidenten bei der Ministerernennung nach Art. 53 WRV ein umfassendes Prüfungsrecht ein, das sowohl die formelle als auch die sachliche Seite umfasste. 17 Art. 53 WRV wurde dem Wortlaut nach identisch in das Grundgesetz übernommen. Die Übernahme der Formulierung bedeutete aber nicht notwendig auch die Übernahme der Auslegung der Norm. Eine gleichgerichtete Auslegung der Nachfolgevorschrift in Art. 64 Abs. 1 GG verbietet bereits die Entstehungsgeschichte. 18 Art. 64 Abs. 1 GG ging aus der Vorschrift des Art. 89 Abs. 1 HChE hervor, demzufolge der Bundespräsident die Ernennung und Entlassung der Bundesminister auf Vorschlag des Bundeskanzlers „vollzieht“, also an den Vorschlag des Bundeskanzlers gebunden sein sollte. Hätte der Parlamentarische Rat hiervon abweichen wollen, hätte er dies sicherlich zum Ausdruck gebracht. Seine veröffentlichten Verhandlungen zeigen jedoch ganz im Gegenteil, dass dessen Mitglieder davon ausgingen, der Bundespräsident werde durch einen Ernennungsvorschlag des Bundeskanzlers verpflichtet. 19 14 Schneider, in: AK-GG, Art. 64 Rn. 4; vgl. auch: Laforet, VVDStRL 8 (1950), Diskussionsbeitrag, 55 (56). 15 Erichsen, Jura 1985, 373 (375) zu Art. 60 Abs. 1 GG; Schenke, in: BK-GG, Art. 64 Rn. 21. 16 Hall, JZ 1965, 305 (307); W. Jellinek, VVDStRL 8 (1950), 3 (10 f.); Schenke, in: BK-GG, Art. 64 Rn. 15; a. A.: Menzel, DÖV 1965, 581 (583); Schneider, NJW 1953, 1330 (1332). 17 Meißner, Das Staatsrecht des Reichs, S. 87; Thoma, in: HbStR I (1930), § 43, S. 506. 18 Erichsen, Jura 1985, 373 (377) m.w. N.; kritisch: Schneider, NJW 1953, 1330 (1332). 19 Schenke, Jura 1982, 57 (65); Schröder, in: v. Mangoldt / Klein / Starck, GG, Art. 64 Rn. 4 f.

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G. Verfassungsrechtliche Determination gubernativer Entscheidungen

Das Grundgesetz ist auf historische Diskontinuität angelegt. Es hat das Präsidialsystem der Weimarer Reichsverfassung aufgrund der negativen Erfahrungen, insbesondere in der Spätphase der Republik, bewusst nicht übernommen und stattdessen das parlamentarisch-demokratische Prinzip verwirklicht. Als das zentrale Verfassungsorgan weist es den Bundestag dadurch aus, dass nur er im Sinn des Art. 38 Abs. 1 S. 1 GG unmittelbar vom Volk gewählt wird. Der nicht unmittelbar vom Volke, sondern gemäß Art. 54 Abs. 1 S. 1 GG von der Bundesversammlung gewählte Bundespräsident besitzt keine dem Bundestag gleichwertige Legitimation. Das Grundgesetz räumt ihm weder eine dem Art. 25 Abs. 1 WRV entsprechende Kompetenz zur Parlamentsauflösung aus eigener Initiative noch ein dem Art. 48 Abs. 2 WRV äquivalentes Notverordnungsrecht ein. Der Bundespräsident steht außerhalb des verfassungsrechtlichen Kräftefeldes und kann politisch keine entscheidende Rolle spielen. 20 Die Stellung als Staatsoberhaupt, als „pouvoir neutre“, seine Aufgabe der Wahrung der „auctoritas des Staates“ 21 oder ähnliche Umschreibungen vermögen ein politisches Mitspracherecht auch nicht zu begründen. 22 Das Grundgesetz hat den „pouvoir neutre“ bzw. den „Hüter der Verfassung“ 23 weitgehend durch die Bindung der politischen Machtträger an verfassungsrechtliche Kompetenzvorschriften, Grundrechte und sonstige materiell-rechtliche Konstitutionsprinzipien ersetzt. Deren Einhaltung kann und muss das Bundesverfassungsgericht kontrollieren. Überdies ist der Begriff „Hüter der Verfassung“ zu sehr mit der Terminologie und Konzeption C. Schmitts verknüpft, die sich nicht in das System des Grundgesetzes einfügen lässt. 24 Die Reduzierung der Prüfungskompetenz des Bundespräsidenten auf eine Rechtskontrolle ergibt sich auch bei teleologischer Betrachtung. Eine politische Mitsprache hätte „eine Doppelgleisigkeit im Prozess der Willensbildung und Entscheidungsfindung“ 25 zur Folge, die in Widerspruch zu den Art. 65 S. 1 und 67 Abs. 1 S. 1 GG stünde: Die ausschließliche Zuweisung der Richtlinienkompetenz an den Bundeskanzler darf nicht durch ein „Veto bei der Ministerernennung“ ausgehöhlt und damit zugleich ein politisches Mitspracherecht durch den Bundespräsidenten usurpiert werden. 26 Rein persönliche und sachliche Fragen lassen sich 20 Busse, in: Berliner Kommentar, Art. 64 Rn. 18; Erichsen, Jura 1985, 373 (377); (668 f., 670, 673); Frotscher / Pieroth, Verfassungsgeschichte, § 21 Rn. 761; Rein, JZ 1969, 573 (576); Weber-Fas, in: FS-Duden, S. 685 (698); vgl. Pieroth, in: Wechselwirkung, S. 11 (14). 21 So aber zugleich Eschenburg, DÖV 1954, 193 (200). 22 Schenke, Jura 1982, 57 (65). 23 C. Schmitt, Hüter, S. 132 zur Stellung des Reichspräsidenten. 24 Heun, AöR 109 (1984), 13 (17 f.) m.w. N. 25 Kaltefleiter, Staatsoberhaupt, S. 227. 26 Schenke, in: BK-GG, Art. 64 Rn. 17, 20.

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bei der Besetzung eines „politischen Spitzenamtes“ durch eine bestimmte Person nicht trennen. Sie kann zugleich ein vorgreifliches Votum für ein politisches Programm darstellen. 27 In dem Vorschlagsrecht nach Art. 64 Abs. 1 GG liegt vielfach der eigentliche politische Entscheidungsfaktor. 28 Außerdem verbietet die politische Haftung des Bundeskanzlers, der allein dem Misstrauensvotum unterliegt, eine politische Mitsprache des Bundespräsidenten. Es wäre schwerlich verfassungskonsistent, wenn er dem Kanzler solche Personen als Minister aufdrängen könnte, die nicht sein volles Vertrauen besitzen. Der Bundespräsident ist dem Parlament nicht verantwortlich. Seine politischen Erwägungen wären parlamentarischer Kontrolle entzogen. Ein politisches Ingerenzrecht bei der Ministerernennung würde insoweit gegen „tragende Prinzipien des parlamentarischen Regierungssystems“ verstoßen. 29 Die Ablehnung einer politischen Mitsprache lässt das Ernennungsrecht des Bundespräsidenten auch nicht „leer laufen“, da ihm ein rechtliches Prüfungsrecht eingeräumt ist und er Bedenken bezüglich der Person des Vorgeschlagenen geltend machen darf. Sind die Einwände berechtigt, wird sich der Kanzler nicht ohne politischen Ansehensverlust darüber hinwegsetzen können. Die in Art. 64 Abs. 1 GG vorgesehene Ernennung des Vorgeschlagenen durch den Bundespräsidenten fügt sich zudem in jene Repräsentativfunktion ein, die dem Bundespräsidenten als Staatsoberhaupt bei der formellen Vornahme staatsleitender Regierungsakte zukommt. Es ist eine alte Staatspraxis in vielen Staaten, dass das Staatsoberhaupt die Minister auch dann ernennt, wenn es auf deren Auswahl keinen Einfluss hat. 30 bb) Umfang des rechtlichen Prüfungsrechts Der Bundeskanzler kann bei der Kabinettsbildung ohne politisch verbindliche Mitsprache anderer Staatsorgane entscheiden. Der Bundespräsident ist darauf beschränkt, Rechtsverstöße festzustellen und bei deren Vorliegen die Ernennung zu verweigern. Enthält die Rechtsordnung keine Vorgaben für die Ernennung, endet notwendig auch das Verweigerungsrecht des Bundespräsidenten. Ihm ist kein weitergehendes, politisches Ermessen eingeräumt. 31 Er ist aber verpflichtet, die Ernennung auf die Einhaltung folgender Vorschriften zu überprüfen:

27

Maurer, DÖV 1966, 665 (665); vgl. Kassimatis, Regierung, S. 118 m.w. N.; Schenke, Jura 1982, 57 (64). 28 Kaja, AöR 89 (1964), 381 (399). 29 Hall, JZ 1965, 305 (307); Rein, JZ 1969, 573 (576 f.); Schenke, Jura 1982, 57 (64); ders., in: BK-GG, Art. 64 Rn. 22; Schneider, in: AK-GG, Art. 64 Rn. 4; Weber-Fas, in: FS-Duden, S. 685 (697). 30 Schenke, in: BK-GG, Art. 64 Rn. 13, 25 f., 27 m.w. N.; Schneider, in: AK-GG, Art. 64 Rn. 4. 31 Schenke, Jura 1982, 57 (63 ff.); vgl. Badura, in: FS-Quaritsch, S. 295 (297).

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(1) Wählbarkeits- und Inkompatibilitätsvorschriften Die Bundesminister stehen zum Bund in einem besonderen öffentlich-rechtlichen Amtsverhältnis, sind aber keine Beamten. 32 Die beamtenrechtlichen Vorschriften finden keine Anwendung. Aus dem Grundgesetz und den entsprechenden Verweisen ergeben sich aber Wählbarkeits- und Inkompatibilitätsvorschriften, deren Vorliegen der Bundespräsident bei der Ministerernennung nachprüfen muss: − − − −

Einverständnis des Kandidaten. Art. 38 Abs. 2, 2.HS. GG: Volljährigkeit. Art. 38 Abs. 3 GG i.V. m. § 15 BWG: Wählbarkeitsvorschriften. Art. 66 GG i.V. m. § 5 BMinG (Verbot einer anderen Berufsausübung). Vereinbar bleiben mit Kanzler- und Ministeramt alle politischen Tätigkeiten – nicht nur das Abgeordnetenmandat, sondern auch leitende Stellungen in einer Partei. 33 − § 4 BMinG (Unzulässigkeit der Mitgliedschaft in einer Landesregierung). In sachlicher Hinsicht muss der Bundespräsident auch die Einhaltung der Zuständigkeitsordnung zwischen Bund und Ländern nachprüfen. Er könnte deshalb gegen den Vorschlag, einen Bundeskultusminister zu ernennen, einwenden, dass dadurch in unzulässiger Weise in den Kompetenzbereich der Länder eingegriffen würde. 34 (2) Verfassungstreue des Kandidaten? Ob zu den rechtlichen Ernennungsvoraussetzungen, die der Bundespräsident nachzuprüfen berechtigt ist, auch das Erfordernis der Verfassungstreue gehört, ist umstritten. Oldiges leitet aus dem Wesen des öffentlich-rechtlichen Amtsverhältnisses das Erfordernis der Verfassungstreue oder wenigstens des Respekts der freiheitlich-demokratischen Grundordnung ab. Es handele sich dabei nicht um eine politische, sondern um eine Rechtsfrage, die der Bundespräsident zu prüfen habe. 35 Dagegen könnte sprechen, dass in der Praxis häufig Grenzfälle denkbar und deshalb eine allgemein gültige Feststellung über die Verfassungstreue eines Kandidaten kaum möglich ist. 36 Die Verfassungstreue als verfassungsrechtliche Ernennungsvoraussetzung ist aber aus systematischen Gründen anzuerkennen. Das Grundgesetz hat in verschiedenen Bestimmungen (Art. 18 S. 1, Art. 21 Abs. 2 S. 1, Art. 79 Abs. 3 und Art. 20 Abs. 3) eine bewusste Abkehr vom Weimarer Relativismus hin zu einer „streitbaren Demokratie“ gerade im politischen Bereich 32

Ders., in: FS-Quaritsch, S. 295 (296); Schenke, in: BK-GG, Art. 64 Rn. 36. Münch, Die Bundesregierung, S. 218. 34 Kaja, AöR 89 (1964), 381 (417 f.). 35 Oldiges, in: Sachs, GG, Art. 64 Rn. 13, 15; vgl. Menzel, DÖV 1965, 581 (595). 36 Busse, in: Berliner Kommentar, Art. 64 Rn. 19; im Ergebnis auch: Hermes, in: Dreier, GG, Art. 64 Rn. 25. 33

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vollzogen. Loyalität gegenüber der Verfassungsordnung setzt es sogar seitens privater Grundrechtsträger (arg. ex Art. 18 S. 1 GG) voraus. 37 Dies kann natürlich nur soweit gelten, wie das Grundgesetz selbst eine Verfassungsänderung verbietet. Die Schwelle zur Verfassungsfeindlichkeit dürfte somit anhand des Art. 79 Abs. 3 GG zu ziehen sein. Es geht bei der Weigerung einer Ernennung zum Minister schließlich nicht um eine strafrechtliche Sanktion, sondern um die Vorenthaltung eines öffentlichen Amts. Erforderlich ist aber, dass der Kandidat die freiheitliche demokratische Grundordnung (Art. 21 Abs. 2 S. 1 GG) nicht nur in Einzelpunkten und in Einzelfällen kritisiert, sondern wiederholt als solche öffentlich in Frage gestellt hat. Eine im Rahmen einer hitzigen politischen Debatte gefallene verfassungsfeindliche Äußerung rechtfertigt − quasi als „Ausreißer“ − noch keinen Rückschluss auf eine allgemein verfassungsfeindliche Gesinnung. Von der Frage der Verfassungsfeindlichkeit zu unterscheiden ist die Problematik, inwieweit die Ernennung eines bestimmten Kandidaten dem Wohl und Ansehen der Bundesrepublik Schaden zufügen und daher nach der Staatsraison „nicht tragbar“ sein könnte. Dies wäre möglicherweise der Fall bei einem Außenministerkandidaten, der in der Vergangenheit Straftaten im Ausland begangen hat. Die Kategorien „Staatswohl“ oder „allgemein tragbar“ sind aber praktisch kaum handhabbare, da nicht definierbare, Begriffe. Ein abschließender Kriterienkatalog lässt sich hierfür nicht aufzählen. Einzelfragen, die in einer bestimmten historischen Situation einem Tabu gleichkommen, können unter anderen politischen und sozialen Bedingungen nahezu irrelevant erscheinen. 38 Die Staatswohltauglichkeit ist nicht als rechtliche Kategorie zu qualifizieren und ein Mitspracherecht unter Hinweis auf die Staatsraison abzulehnen. 39 (3) Keine Geltung des Art. 33 Abs. 2 GG Der Anwendungsbereich des Art. 33 Abs. 2 GG erfährt für das Ministervorschlagsrecht eine wichtige Einschränkung durch das demokratische Prinzip: Von der Zugangs-Gleichheit streng zu unterscheiden ist die Wählbarkeitsgleichheit, die der politischen Führungsauslese in der parlamentarischen Demokratie zugrunde liegt. Die politische Wahl kennt nur das schematisch gleiche Wahlrecht. Die Wahlentscheidung ist eine existenzielle Bekundung politischen Vertrauens. Sie entspringt der Souveränität des Volkes, die sich nicht auf rechtliche Maßstäbe 37

Hierzu: Frotscher / Pieroth, Verfassungsgeschichte, Rn. 759. Kaltefleiter, Staatsoberhaupt, S. 230 für die Annahme eines Prüfungsrechts in bestimmten Situationen, S. 229 ff.; ähnlich: Schröder, in: v. Mangoldt / Klein / Starck, GG, Art. 64 Rn. 29. 39 Busse, in: Berliner Kommentar, Art. 64 Rn. 4; a. A.: Kaja, AöR 89 (1964), 381 (417 f.); Menzel, DÖV 1965, 581 (595 f.); Schröder, in: HbStR III (2005), § 65 Rn. 34. 38

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wie intellektuelle und ethische Eignungserfordernisse festlegen lässt. Politische Qualitäten liegen außerhalb des fachspezifischen, rationalen Eignungsregulativs. Die parteipolitische Bindung, die bei der durch Art. 33 Abs. 2 GG gesteuerten Ämterbesetzung ein unzulässiges Zugangskriterium darstellt, ist im Geltungsbereich der Wählbarkeitsgleichheit legitimes Richtmaß. Die verfassungsrechtlich vorgegebene Unterscheidung des Zugangs zu den Ämtern in Parlament und Regierung einerseits und zu denen in Verwaltung und Rechtsprechung andererseits ist das Fundament der personalen Gewaltenteilung, die „quer durch das klassische Dreierschema hindurch die politische Führungsgewalt von der ausführenden Gewalt absetzt. Vereinfachend lässt sich die politische Wahl als die demokratische, die rechtsgebundene Personalentscheidung als die rechtsstaatliche Form der Ämterbesetzung werten.“ Wahlen von Abgeordneten im Bund und in den Ländern sowie die Regierungsbildungen vollziehen sich außerhalb des Anwendungsbereichs von Art. 33 Abs. 2 GG. 40 cc) Politisches Ermessen Art. 64 Abs. 1 GG bindet den Ernennungsvorschlag nicht an weitere rechtliche Voraussetzungen. 41 Wo ein Amt gegenüber allen Qualifikationsarten „qua definitione“ indifferent ist, weil es rein politisch besetzt werden soll, fehlt jeder Bezugspunkt für Eignung, Befähigung und fachliche Leistung. 42 Die an die Ministerkandidaten anzulegenden Auswahlkriterien und die Entscheidung über die persönliche Eignung unterliegen daher allein der politischen Einschätzung des Bundeskanzlers. Er hat zu beurteilen, ob die Regierungspolitik mit einem bestimmten Kabinettsmitglied zu verwirklichen ist. 43 Es ist ihm erlaubt, „sein Kabinett“ nach den vielfältigen Aspekten auszubalancieren, denen er Rechnung tragen will. Dies können politische Schwerpunkte, die regionale Herkunft, Alter, Geschlecht oder die Konfession der Kabinettsmitglieder sein. 44 Zusicherungen, die der Bundeskanzler vor seiner Wahl hinsichtlich der Zusammensetzung seines Kabinetts den ihn tragenden politischen Parteien gegeben hat, gehören in den Bereich der politischen Tatsächlichkeiten und nicht den Bereich des Verfassungsrechts. 45 Da er die Auswahlkriterien bestimmen darf, bleibt die Auswahlentscheidung eine Frage politischer Zweckmäßigkeit. Dem Bundeskanzler steht ein „rechtlich uneingeschränktes materielles Entscheidungsrecht“ 46 zu. Mangels entsprechen40 Isensee, in: FG-BVerwG (1978), S. 337 (338); vgl. Herzog, in: Maunz / Dürig, GG, Art. 33 Rn. 14; Höfling, in: BK-GG, Art. 33 Rn. 109 f. 41 Schröder, in: v. Mangoldt / Klein / Starck, GG, Art. 64 Rn. 26. 42 Tschentscher, Legitimation, S. 222 (Hervorhebung im Original). 43 Hermes, in: Dreier, GG, Art. 64 Rn. 25; Schneider, in: AK-GG, Art. 62 Rn. 17. 44 Busse, in: Berliner Kommentar, Art. 64 Rn. 3. 45 Rein, JZ 1969, 573 (575). 46 Vgl. NW VerfGH, NJW 1999, 1243 (1244) für den NRW-Ministerpräsidenten.

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der Tatbestandsmerkmale handelt sich in diesem Kontext aber nicht um einen „Beurteilungsspielraum“ 47 oder um eine Einschätzungsprärogative, sondern um „politisches Ermessen“. Dieses ergibt sich bei der Auswahl der Minister, da er personelle Entscheidungen rechtlich weitgehend unabhängig treffen und damit auf politische, mit einer bestimmten Person verknüpfte, Forderungen Rücksicht nehmen kann. 48 Auch die Entscheidung über den Zeitpunkt der eigentlichen Kabinettsbildung liegt in seinem Ermessen. 49 Gestaltungsfreiheit eröffnet Art. 64 Abs. 1 GG dagegen weder im Hinblick auf das materielle Kabinettsbildungsrecht noch hinsichtlich der Organisationsgewalt. Bei der Vorschrift handelt es sich trotz der wenigen rechtlich verbindlichen Maßstäbe um eine sachlich auf einzelne Personal- und Organisationsentscheidungen begrenzte Kompetenz. Zweck des Art. 64 Abs. 1 GG ist die Gewährleistung eines funktionsfähigen Bundeskabinetts. Gestalterische, zwecksetzende Entscheidungen lassen sich auf seiner Grundlage allenfalls mittelbar treffen, indem der Regierungschef eine Person vorschlägt, die für ein bestimmtes „Programm“ steht, oder die organisatorischen Voraussetzungen schafft, um eine bestimmte Politik möglichst effektiv umsetzen zu können. dd) Entlassung Politisch mindestens so brisant wie die Ministerernennung kann die Ministerentlassung sein. Auch bei der Entlassung, die den actus contrarius der Ernennung darstellt, besitzt der Bundespräsident aus analogen Gründen keinerlei politisches Prüfungsrecht. Der Entlassungsvorschlag ist nicht an besondere formelle oder materielle Voraussetzungen gebunden. Die Wählbarkeitsvoraussetzungen und die Verfassungstreue spielen bei der Entlassung keine Rolle. Die Tatsache, dass ein Minister treu zur Verfassung steht, ist auch kein Rechtsgrund gegen seine Entlassung aus dem Ministeramt. Sie wird nicht deshalb rechtswidrig, weil der Bundeskanzler mit einem Bundesminister aus persönlichen Gründen nicht mehr zusammenarbeiten will oder weil er ihm nicht mehr vertraut, ohne dafür wirklich faktische Anhaltspunkte angeben zu können. Der Entlassungsvorschlag bedarf keiner Begründung. Auch hier trifft der Bundeskanzler die eigentliche „politische“ Entscheidung allein nach seinem Ermessen. 50 Das Vorschlagsrecht zur Entlassung stellt sich aus Sicht des Bundeskanzlers vor allem dort als effektives Mittel dar, wo seiner Richtlinienkompetenz Gren47

So aber Stern, Staatsrecht II, § 31 III 3 lit. a): „Beurteilungsprärogative“. Herzog, in: Maunz / Dürig, GG, Art. 64 Rn. 9; vgl. Erichsen, Jura 1985, 373 (376), der aber von einem weiten Spielraum „bei der Beurteilung der Fähigkeiten eines Ministerkandidaten“ spricht. 49 Herzog, in: Maunz / Dürig, GG, Art. 64 Rn. 9. 50 Stern, Staatsrecht II, § 31 III 3 lit. c); vgl. Hermes, in: Dreier, GG, Art. 64 Rn. 29; Herzog, in: Maunz / Dürig, GG, Art. 64 Rn. 49 f., 54; Meyn, in: v. Münch / Kunig, GG, Art. 64 Rn. 10; Oldiges, in: Sachs, GG, Art. 64 Rn. 19; Schenke, in: BK-GG, Art. 64 Rn. 37; Schröder, in: HbStR III (2005), § 65 Rn. 34, § 66 Rn. 13. 48

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zen gesetzt sind. Verweigert beispielsweise ein Minister die Ausführung einer Richtlinie, bleibt dem Bundeskanzler noch die Möglichkeit, dem Bundespräsidenten die Entlassung des nicht mehr genehmen Ministers vorzuschlagen. In einer solchen Konstellation könnte der Bundespräsident geneigt sein, die Rechtmäßigkeit der Richtlinie inzidenter zu überprüfen. Er hat jedoch dem Kanzlergesuch ohne eigene Sachprüfung zu entsprechen. Hält er die Richtlinie für rechtswidrig oder sinnwidrig, ist es zwar ein „nobile officium“, den Bundeskanzler darauf hinzuweisen. Über ein Entlassungsverweigerungsrecht unter Hinweis auf eine für rechtswidrig gehaltene Richtlinie verfügt er dagegen nicht. Die Rechtmäßigkeit des Entlassungsvorschlags knüpft nicht an ein rechtliches Fehlverhalten des Bundesministers an. Zwischen der Rechtmäßigkeit einer Richtlinie und der Rechtmäßigkeit der Entlassung besteht kein rechtlich relevanter Zusammenhang. Über jedem Minister schwebt das „Damoklesschwert der Entlassung“ 51, sollte er eine Kanzlerrichtlinie nicht befolgen. Verfassungsmäßige Kompetenzen dürfen aber nicht zu verfassungswidrigen Zwecken missbraucht werden. Der Bundeskanzler darf deshalb sein Recht, dem Bundespräsidenten die Entlassung eines Ministers vorzuschlagen, nicht ausüben, um die Entscheidung eines Bundesministers auch dort, wo das Grundgesetz sie für allein maßgeblich erklärt, zu beeinflussen oder umzustoßen. 52 Bei gleicher Grundposition meint Herzog, dass dem Bundespräsidenten bei der vom Kanzler vorgeschlagenen Entlassung ein Verweigerungsrecht zustehe, wenn der Entlassungsgrund einerseits vollkommen eindeutig und andererseits als solcher verfassungswidrig sei. Hierfür nennt er Beispiele aus dem Bereich der speziellen Gleichheitssätze, etwa einen Religions- oder Konfessionswechsel des betreffenden Ministers oder seine rassische Zugehörigkeit. 53 Solche Gründe lassen sich aber immer auch als politische Gründe darstellen. Außerdem ist zweifelhaft, ob und mit welcher Konstruktion Herzog derart grundrechtlich gespeiste Rechtsgründe auf das Verhältnis zwischen Bundeskanzler und Bundesminister für anwendbar erklären kann. Unmittelbar gelten die Grundrechte im Verhältnis von Amtsträgern nicht. Da ein Bundesminister – anders als im Rechtsverhältnis zwischen Beamten und Staat – keinen Anspruch auf sein Amt hat, ist die Grundlage des Rechtsverhältnisses die jederzeitige Entlassungsbefugnis nach dem politischen Ermessen des Bundeskanzlers. 54 Auch eine Willkürkontrolle muss hier ausscheiden. Ernennung und Entlassung gemäß Art. 64 Abs. 1 GG sind ihrem Sinn nach einer solchen Überprüfung nicht zugänglich. 55 Ferner sprechen die Erwägungen, 51

Ders., in: HbStR III (2005), § 66 Rn. 5, 23; vgl. Helms, ZParl 1996, 697 (703 f.). Friauf, in: FS-Herrfahrdt, S. 45 (52 f.) m.w. N. 53 Herzog, in: Maunz / Dürig, GG, Art. 64 Rn. 54. 54 Meyn, in: v. Münch / Kunig, GG, Art. 64 Rn. 13; Schröder, in: v. Mangoldt / Klein / Starck, GG, Art. 64 Rn. 31. 55 Vgl. Seuffert, in: FS-G. Müller, S. 491 (494). 52

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die auch die Ausnahme der Ministerernennung aus dem Anwendungsbereich des Art. 33 Abs. 2 GG rechtfertigen, für eine Begrenzung des sachlichen Schutzbereichs der speziellen Diskriminierungsverbote: So wird man es einem Kanzler, der einer religiösen Partei angehört und deshalb von einer bestimmten Mehrheit gewählt wurde, nicht verwehren können, einen Minister aufgrund eines Konfessionswechsels zu entlassen. Voraussetzung ist allerdings, dass der Entlassungsgrund in sachlichem Zusammenhang mit dem demokratischen Wählerauftrag steht und ohne die Entlassung die politische Glaubwürdigkeit in Frage gestellt wäre. Deshalb dürfte beispielsweise die Hautfarbe bei einer religiösen Partei keine Rolle spielen. Eine solche inhaltliche Beziehung ist in der Regel bereits zu verneinen, wenn der betreffende Minister einer anderen Partei angehört (Koalitionspartner). Auch bei einem „Rücktrittsangebot“ eines Bundesministers ist der Bundeskanzler frei in seiner Entscheidung. Es liegt allein in seinem Ermessen, ob er auf das Gesuch hin dem Bundespräsidenten die Entlassung des Bundesministers vorschlägt oder ob er diesen Vorschlag unterlässt. 56 Bei einem Entlassungsverlangen gemäß § 9 Abs. 2 S. 2 BMinG lehnen dagegen Teile des Schrifttums ein „Recht auf Entlassung“ des Bundesministers als Eingriff in das materielle Kabinettsbildungsrecht ab. Der Bundeskanzler könne nicht von einer einzelnen Person gegen seinen Willen und möglicherweise zur Unzeit in eine Kabinettsumbildung hineingezwungen werden. Da ihm gegenüber dem zurücktretenden Minister Art. 69 Abs. 3 GG als Zwangsinstrument zur Verfügung stehe, müsse dieser letztlich sein Amt ohnehin weiter verwalten. Dem Bundeskanzler müsse die Möglichkeit erhalten bleiben, auch über das bei Personalentscheidungen dieser Art politisch oft besonders wichtige „Timing“ zu entscheiden. Dagegen spricht aber, dass niemand gegen den eigenen Willen zum Minister ernannt und konsequenterweise auch nicht gegen seinen Willen zur Ausübung eines politischen Amts gezwungen werden darf. § 9 Abs. 2 S. 2 BMinG stellt somit eine verfassungskonforme Konkretisierung der Ermessensentscheidung des Bundeskanzlers dar. Die „jederzeitigen“ Rechte des Bundesministers sind allerdings in einen sachlichen Ausgleich mit den Erfordernissen effektiver Regierungsarbeit zu bringen. Dies kann durch Ausnutzung begrenzter zeitlicher Spielräume erfolgen. 57 b) Organisationsgewalt Weder in Art. 64 noch sonst im Grundgesetz ist die „gouvernementale oder gubernative Organisationsgewalt“ 58 geregelt. Dem Verfassungszusammenhang 56

Herzog, in: Maunz / Dürig, GG, Art. 64 Rn. 51. Busse, in: Berliner Kommentar, Art. 64 Rn. 22; Meyn, in: v. Münch / Kunig, GG, Art. 64 Rn. 10; Schenke, in: BK-GG, Art. 64 Rn. 37; Schneider, in: AK-GG, Art. 64 Rn. 6; Stern, Staatsrecht II, § 31 III 3 lit. c). 58 Pieroth, in: FS-K. Ipsen, S. 755 (758) zur Organisationsgewalt des NRW-Ministerpräsidenten. 57

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lässt sich aber entnehmen, dass diese Kompetenz dem Bundeskanzler zusteht. Ihre rechtliche Grundlage bildet wegen des engen Sachzusammenhangs mit der Personalkompetenz Art. 64 Abs. 1 GG, im Übrigen die Geschäftsleitungs- und die Richtlinienkompetenz. 59 Die Errichtung der Ministerien und Abgrenzung ihrer Kompetenzen, die Verteilung der Aufgaben innerhalb der Regierung, die Bildung von Schwerpunkten in der Regierungsarbeit und die Beteiligung einer größeren oder kleineren Anzahl von Politikern daran sind selbst Teil und Mittel der Regierungspolitik und der Verwirklichung ihrer Richtlinien. Die Organisationsgewalt stellt somit eine notwendige organisatorische Ergänzung dar, ohne die das materielle Kabinettsbildungsrecht und die Richtlinienkompetenz lückenhaft wären. 60 Das Grundgesetz beschränkt sich in Art. 62 GG durch die Nennung der Bundesminister ohne ausdrückliche Bezeichnung auf die Gewährleistung eines bestimmten Organisationstypus, nämlich den der Bundesministerien. Deren Zahl und die Abgrenzung ihrer Geschäftsbereiche bestimmt die Norm nicht. Ein auf Herrenchiemsee unterbreiteter Vorschlag, ein Verzeichnis sämtlicher Bundesbehörden einschließlich der Ministerien in das Grundgesetz aufzunehmen, fand im Parlamentarischen Rat keinen Beifall. 61 Dem Bundeskanzler ist deshalb ein weites politisches Ermessen dahingehend eingeräumt, wie viele und welche Ministerien er bilden möchte. 62 Es bleibt ihm unbenommen, Minister ohne Geschäftsbereich und Minister für Sonderaufgaben zu benennen. 63 Er darf die Aufgaben eines Ministers zumindest vorübergehend auch selbst übernehmen und insoweit als Chef eines Bundesministeriums agieren. 64 Den Zuschnitt der einzelnen Bundesministerien und die Festlegung der Geschäftsbereiche kann der Bundeskanzler ebenfalls − ohne an das traditionelle, sachlich-gegenständliche Einteilungsprinzip gebunden zu sein 65 − kraft seiner Organisationsgewalt bestimmen. Er darf sie sowohl aus politischen als auch aus praktischen Erwägungen verändern. 66 Er kann einen Bundesminister mit der Lei59 Busse, in: Berliner Kommentar, Art. 64 Rn. 4; Kölble, DÖV 1973, 1 (10): arg. ex Art. 65 GG; Oldiges, in: Sachs, GG, Art. 64 Rn. 24, Art. 65 Rn. 11; Schröder, in: HbStR III (2005), § 65 Rn. 27, § 66 Rn. 14. 60 Böckenförde, Organisationsgewalt, S. 140 f.; vgl. Kaja, AöR 89 (1964), 381 (401 f.). 61 Ders., AöR 89 (1964), 381 (387 f., 392 m.w. N.). 62 Herzog, in: Maunz / Dürig, GG, Art. 64 Rn. 4, 6; Schröder, in: HbStR III (2005), § 66 Rn. 14. 63 Kölble, DÖV 1973, 1 (8); Koellreutter, Staatsrecht, S. 204; Oldiges, in: Sachs, GG, Art. 64 Rn. 13. 64 Busse, in: Berliner Kommentar, Art. 64 Rn. 6, 7; Pieroth, in: Jarass / Pieroth, GG, Art. 64 Rn. 2. 65 Herzog, in: Maunz / Dürig, GG, Art. 64 Rn. 4; Schenke, in: BK-GG, Art. 64 Rn. 51. 66 Busse, in: Berliner Kommentar, Art. 64 Rn. 4; Meyn, in: v. Münch / Kunig, GG, Art. 62 Rn. 19.

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tung mehrerer Ministerien betrauen („Superminister“) 67 oder einzelne Ministerien auflösen. 68 Mit dem Amt seines Stellvertreters muss er einen Bundesminister betrauen. Welchen Bundesminister er für dieses Amt aussucht, steht nach dem Grundgesetz als politische Entscheidung in seinem Ermessen. 69 Dem Bundeskanzler kommt ferner die Befugnis zur Errichtung und inneren Organisation eigener, ihm unmittelbar unterstellter, Ämter zu, deren er sich für die Wahrnehmung seiner Richtlinienkompetenz bedient. 70 Die Organisationsgewalt umfasst auch die Entscheidung über die Einsetzung und Zusammensetzung von Beratungsgremien. Im politischen Ermessen der Bundesregierung und ihrer Mitglieder liegt es weiterhin, ob sie bei einzelnen Sachverständigen oder externen Sachverständigengremien Rat einholen. 71 Wie Art. 62 und 64 GG zu entnehmen ist, besteht eine verfassungsrechtliche Verpflichtung des Bundeskanzlers zur Kabinettsbildung. Er darf ausnahmsweise ein Ministerium, nicht aber die Fülle der Regierungsaufgaben, für sich behalten. Weitere Beschränkungen des Organisationsermessens ergeben sich aus zwingenden Vorgaben des Grundgesetzes: Art. 69 Abs. 1 GG setzt die Ernennung eines Stellvertreters voraus. Art. 108 Abs. 3 S. 2, Art. 112 und Art. 114 Abs. 1 GG erwähnen ausdrücklich den Bundesminister der Finanzen. Art. 65a i.V. m. Art. 115b GG unterwirft die Befehls- und Kommandogewalt über die Streitkräfte − außer im Verteidigungsfall − dem Bundesminister der Verteidigung. Art. 96 Abs. 2 S. 4 GG nennt den Geschäftsbereich des Bundesjustizministers. Bei jeder Regierungsbildung ist diesen verfassungsrechtlichen Mindesterfordernissen durch Einrichtung entsprechender Ressorts Rechnung zu tragen. Die genannten Ministerien können ohne eine Verfassungsänderung nicht abgeschafft werden. Insoweit bleibt dem Bundeskanzler nur die kompetenzielle Feinabgrenzung zu anderen Ministerien. 72 Aus Art. 65 GG folgt, dass ministerielle Planungs- und Koordinationsaufgaben nur begrenzt zulässig sind und „Koordinationsministerien“ im Verhältnis zu anderen Ministerien nicht über Weisungs- und Entscheidungsbefugnisse verfügen dürfen. 73 Besonders bei der organisatorischen Ausgestaltung des Bundeskanzleramts ist dem Kanzler insoweit eine Grenze gesetzt, als sich dieses 67

Schenke, in: BK-GG, Art. 64 Rn. 56; kritisch: Leisner, ZRP 2002, 501 (502). Schröder, in: HbStR III (2005), § 66 Rn. 14, 26. 69 Plaum, DBVl. 1958, 452 (452). 70 Böckenförde, Organisationsgewalt, S. 143, 234. 71 Brohm, in: FS-Forsthoff, S. 37 (57); Schröder, in: HbStR III (2005), § 66 Rn. 63 f.; differenzierend: Böckenförde, Organisationsgewalt, S. 187 f., 190 f.: „Bildung unverantwortlicher Nebenregierungen“. 72 Hermes, in: Dreier, GG, Art. 64 Rn. 33; Herzog, in: Maunz / Dürig, GG, Art. 64 Rn. 8; Lehnguth, DBVl. 1985, 1359 (1361); Schenke, Jura 1982, 57 (62); Schröder, in: HbStR III (2005), § 65 Rn. 26, 28, § 66 Rn. 14; vgl. zu Inkompatibilitäten: Oldiges, in: Sachs, GG, Art. 64 Rn. 26 mit Beispielen. 73 Hermes, in: Dreier, GG, Art. 64 Rn. 13. 68

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nicht zu einer Art Oberministerium entwickeln darf. Das Ressortprinzip würde verletzt, wenn es zur Einrichtung eines sachlich nicht limitierten Planungsbüros käme und das Verhältnis von Bundeskanzler und Ressortministern in ein reines Über-Unterordnungsverhältnis umzuschlagen drohte. 74 Die Einzelfestlegung von Zuständigkeiten, beispielsweise die Erstellung von Organisations- oder Geschäftsverteilungsplänen, ist von Verfassung wegen den einzelnen Ressortleitern vorbehalten. 75 Bei organisatorischen Entscheidungen des Bundeskanzlers ist außerdem das aus dem Wesen des parlamentarischen Regierungsprinzips abgeleitete Gebot einer prinzipiell „lückenlosen und flächendeckenden Ressortverteilung“ zu beachten. Danach sind grundsätzlich alle Regierungsaufgaben auf Ministerien aufzuteilen. Entsprechendes folgt auch aus dienst- und haushaltsrechtlichen Gründen. 76 Mangels eines Hinweises auf eine quantitative Begrenzung der Zahl der Bundesminister ist die äußerste Grenze des Bundeskanzlerermessens in dieser Frage nicht in einer absoluten Zahl zu suchen. Sie ergibt sich vielmehr aus dem Erfordernis einer verantwortlichen und effektiven Kabinettsarbeit, also der Funktionsfähigkeit der Bundesregierung. 77 c) Politische Grenzen bei Kabinettsbildung und Kabinettsorganisation Politische Grenzen des Kabinettsbildungsrechts und der Kabinettsorganisation ergeben sich aus der Tatsache, dass der Bundeskanzler bzw. der Kanzlerkandidat vor seiner Wahl der eigenen Partei respektive den Koalitionspartnern, sein künftiges Kabinett zumindest in Umrissen vorstellen und auf deren personelle Erwartungen Rücksicht nehmen muss. 78 Die Selbstverständlichkeit, mit der Juniorpartner in Koalitionsregierungen von ihrem „Recht“ Gebrauch machen, die Kandidaten für die ihnen zugestandenen Ministerposten zu ermitteln, bevor sie vom Kanzler formal zu Ernennung vorgeschlagen werden, hat über die Jahrzehnte zugenommen. 79 Rechtlich vermögen Koalitionsvereinbarungen das Vorschlagsrecht des Kanzlers aber nicht einzuschränken. 80

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Schenke, in: BK-GG, Art. 65 Rn. 71. Busse, in: Berliner Kommentar, Art. 64 Rn. 8; Hermes, in: Dreier, GG, Art. 64 Rn. 17. 76 BVerfGE 9, 268 (282); Busse, DÖV 2003, 407 (411); Pieroth, EuGRZ 2006, 330 (334); Schenke, in: BK-GG, Art. 64 Rn. 49; a. A.: Hermes, in: Dreier, GG, Art. 64 Rn. 17; Schröder, in: v. Mangoldt / Klein / Starck, GG, Art. 64 Rn. 13. 77 Busse, in: Berliner Kommentar, Art. 64 Rn. 6; Oldiges, in: Sachs, GG, Art. 64 Rn. 26; Pieroth, in: Jarass / Pieroth, GG, Art. 64 Rn. 2; Schröder, in: HbStR III (2005), § 65 Rn. 29. 78 Badura, in: FS-Quaritsch, S. 295 (297); Lehnguth, DBVl. 1985, 1359 (1361). 79 Helms, ZParl 1996, 697 (701); vgl. Meyn, in: v. Münch / Kunig, GG, Art. 64 Rn. 1. 80 Schenke, in: BK-GG, Art. 64 Rn. 6. 75

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2. Art. 65 GG Mit der „Richtlinienkompetenz“ legt Art. 65 S. 1 GG eine verfassungsrechtliche Kompetenz fest, die nach juristischen Maßstäben zu beurteilen ist. 81 Die Norm definiert die Regierungsfunktionen nicht als solche, sondern knüpft an deren anderweitige Begründung an. 82 Sie selbst ist Rechtsgrundlage der „inneren Regierungsverfassung“ 83. Kompetenzen der Regierung gegenüber anderen Bundesund Verfassungsorganen oder außenstehenden Dritten können sich aus Art. 65 GG nur in Verbindung mit anderen grundgesetzlichen Vorschriften ergeben. 84 Für die interne Kompetenzabgrenzung sind der Bedeutungsgehalt des Tatbestandsmerkmals Richtlinie sowie das Verhältnis von Richtlinienkompetenz und Ressortbzw. Kollegialprinzip von zentraler Bedeutung. a) Richtlinienkompetenz In der Literatur findet sich eine große Fülle von Definitionen der Richtlinienkompetenz. Einige Bezeichnungen erschöpfen sich in allgemeinen Beschreibungen von Stellung und Funktion des Bundeskanzlers innerhalb der Bundesregierung, die sich maßgeblich auf die Richtlinienkompetenz stützt. Hierzu zählen Umschreibungen wie „Prärogative des Bundeskanzlers“ 85, „Richtlinienprärogative“ 86 oder „Kanzlerprärogative“ 87. Sie charakterisieren aber auch eine Organisationsform, deren Wurzeln bis in die Zeit der alten Reichsverfassung unter Bismarck zurückreichen. Deren Spezifikum liegt darin, dass sie nicht vom Kollegium her, etwa im Sinn der englischen Kabinettsregierung, konstruiert ist, sondern auf einer Verbindung verwaltungsmäßiger Selbstständigkeit oberster Behördenleiter mit einer dadurch eingeschränkten „monokratischen Gesamtleitung“ des Kanzlers beruht. 88 Es kommt damit ganz allgemein zum Ausdruck, dass es der Bundeskanzler ist, der als der leitende und führende Staatsmann die politische Gesamtlinie festzulegen und für deren Durchsetzung Sorge zu tragen hat. 89 Die für die Weimarer Zeit gültige Formel, der Kanzler sei nur „primus inter pares“, beansprucht heute keine Geltung mehr. 90 81

Vgl. Maurer, in: FS-Thieme, S. 123 (127) m.w. N. Schenke, in: BK-GG, Art. 65 Rn. 44. 83 Achterberg, in: HbStR II (1987), § 52 Rn. 1. 84 Böckenförde, Organisationsgewalt, S. 179; Herzog, in: Maunz / Dürig, GG, Art. 20 II Rn. 104; Pieroth, in: Jarass / Pieroth, GG, Art. 65 Rn. 1, 3; Schröder, in: HbStR III (2005), § 64 Rn. 12, § 66 Rn. 7; vgl. auch: Friauf, in: FS-Herrfahrdt, S. 45 (70 f.) m.w. N.; Hug, Die Regierungsfunktion, S. 244 f. m.w. N. 85 Eschenburg, DÖV 1954, 193 (199); vgl. Junker, Die Richtlinienkompetenz, S. 56. 86 Knöpfle, DVBl. 1965, 925 (929); Oldiges, Kollegium, S. 151 f., 452 f. 87 Böckenförde, Organisationsgewalt, S. 175; Karehnke, DVBl. 1974, 101 (108). 88 Böckenförde, Organisationsgewalt, S. 170; vgl. Mosler, in: FS-Bilfinger, S. 243 (269). 89 Maurer, DÖV 1966, 665 (670); Rein, JZ 1969, 573 (576). 82

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aa) Tatbestandsmerkmal „Richtlinien“ Den genannten Umschreibungen lässt sich kaum eine Aussage über den genauen Begriffsinhalt der „Richtlinien“ entnehmen. Es handelt sich bei dem Terminus um eine Art „Generalklausel“ 91 bzw. um einen „unbestimmten Rechtsbegriff“ 92, der sich tatbestandlich nur wenig eingrenzen lässt. 93 Unbestritten gehören die Richtlinien zu den grundlegenden politischen Leitentscheidungen. Sie legen „Ziel, Richtung oder Weg der Politik“ 94 fest. Ihr besonderes Charakteristikum liegt in ihrem Bezug auf das Staatsganze, sei es, dass sie die innere Ordnung des Staats prägen oder ihn als Einheit, z. B. in der Außenpolitik, ins Spiel bringen. Er kommt zum Ausdruck in dem Begriff „Politik“, der auf die Staatsleitung und Staatsführung hinweist. 95 „Die Richtlinie ist zwar wesenhaft nicht auf Details bezogen, sondern auf das Prinzipielle, Grundsätzliche und Allgemeine.“ 96 Eine Ausgrenzung von Einzelfällen würde allerdings dem Zweck des Art. 65 S. 1 GG, dem Bundeskanzler für politisch besonders bedeutsame Fragen ein maßgebliches Entscheidungsrecht einzuräumen, nicht gerecht. Häufig hat „das Prinzipielle seinen Sitz in der konkreten Sachfrage selbst“. 97 So kommt etwa einer Bürgschaft für einen vor dem Konkurs stehenden Großkonzern mit Tausenden von existenzbedrohten Zulieferfirmen und Arbeitnehmern zweifellos höheres Gewicht zu als mancher Durchführungsverordnung zum Lastenausgleichsgesetz. Der Bundeskanzler, der die Folgen einer Fehleinschätzung verfassungsrechtlich als Erster zu tragen hat, muss in so einem Einzelfall die Entscheidung an sich ziehen können. 98 Auch eine Einzelfallregelung kann den Ressortministern noch ausreichenden Entscheidungsspielraum lassen, wenn z. B. der Bundeskanzler bestimmt, dass ein Entwicklungsland wirtschaftlich zu fördern ist. Sie stellt deshalb nicht notwendig einen Eingriff in die Ressortkompetenz dar. Schließlich bewegt sich der Terminus Richtlinie auf einer anderen Bedeutungsebene, als sie das Gegensatzpaar „abstraktgenerell“ auf der einen und „konkret-individuell“ auf der anderen Seite umschreibt. Bei Richtlinien handelt es sich um eine eigenständige Form politischer Führungsentscheidung, um Regierungsakte „sui generis“ 99. Sie orientieren sich eher an den Kategorien „staatspolitisch bedeutsam“ und „ohne politische Auswirkungen“. 90 Menzel, in: FS-Leibholz, S. 877 (884); vgl. Herzog, in: Maunz / Dürig, GG, Art. 65 Rn. 40. 91 Badura, Staatsrecht, E Rn. 96; Hennis, Richtlinienkompetenz, S. 41 (Anm. S. 9): „politische Formel“. 92 Herzog, in: Maunz / Dürig, GG, Art. 65 Rn. 5; Maurer in: FS-Thieme, S. 123 (128). 93 Herzog, in: Maunz / Dürig, GG, Art. 65 Rn. 12. 94 Hug, Die Regierungsfunktion, S. 244 m.w. N.; Schmidt-Preuß, in: FS-Leisner, S. 467 (476); Schneider, in: AK-GG, Art. 65 Rn. 3. 95 Bleckmann, Staatsrecht, Rn. 1961; Junker, Die Richtlinienkompetenz, S. 54, 60. 96 Stern, Staatsrecht II, § 31 IV 2 lit. a). 97 Böckenförde, Organisationsgewalt, S. 207. 98 Herzog, in: Maunz / Dürig, GG, Art. 65 Rn. 7; vgl. Knöpfle, DVBl. 1965, 925 (926 f.).

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Richtlinie im Sinn des Art. 65 S. 1 GG kann daher auch eine Einzelfalldirektive sein, wenn dem Einzelfall eine nicht nur untergeordnete politische Bedeutung zukommt. Die Richtlinienkompetenz als Maßnahmebefugnis lebt immer dort auf, wo eine politische Führungsentscheidung erforderlich ist. 100 Der Bundeskanzler hat insoweit ein „Evokationsrecht“ 101 in eminent wichtigen Einzelfragen. bb) Beurteilungsspielraum Aufgrund der Unbestimmtheit des Richtlinienbegriffs lässt sich nicht jeder Sachverhalt eindeutig als richtlinienfähig einordnen. In einem Grenzbereich steht dem Bundeskanzler ein Beurteilungsspielraum 102 zu. Eine Enumeration der richtlinienfähigen Sachverhalte erscheint dagegen zu wenig flexibel und unpraktikabel. 103 Der Kanzler kann innerhalb der Grenzen evidenter Fehleinschätzung in Zweifelsfällen entscheiden, ob eine Sachmaterie politisch von erheblicher Bedeutung und einer Richtlinienentscheidung zugänglich ist. Dabei ist zu berücksichtigen, dass sich eine zunächst nebensächliche Frage durch die Diskussion in den Medien und die Erregung in der Öffentlichkeit zum Politikum entwickeln kann. 104 Da es sich bei dem Begriff „Richtlinie“ um ein Tatbestandsmerkmal handelt, erscheint die Bezeichnung „Einschätzungsprärogative“ 105 dogmatisch ungenau. Ferner darf dieses Tatbestandsmerkmal nicht Gegenstand einer Ermessensentscheidung des Kanzlers sein. 106 Unzutreffend ist auch der Terminus „Definitionskompetenz“ 107. Dem Bundeskanzler ist weder eine der verfassungsgebenden Gewalt vorbehaltene 99 Schröder, in: HbStR III (2005), § 66 Rn. 15; vgl. Maurer, in: FS-Thieme, S. 123 (132); Meyn, in: v. Münch / Kunig, GG, Art. 65 Rn. 10; Schneider, in: AK-GG, Art. 65 Rn. 4. 100 Busse, in: Berliner Kommentar, Art. 65 Rn. 6; Knöpfle, DVBl. 1965, 857 (861); Maurer, in: FS-Thieme, S. 123 (128) m.w. N.; Oldiges, in: Sachs, GG, Art. 65 Rn. 15; Schenke, in: BK-GG, Art. 65 Rn. 24, 29; Schneider, in: AK-GG, Art. 65 Rn. 3; Stern, Staatsrecht II, § 31 IV 2 lit. a); a. A.: Eschenburg, DÖV 1954, 193 (195); Friauf, in: FS-Herrfahrdt, S. 45 (50); Maunz, BayVBl. 1956, 260 (261). 101 Karehnke, DVBl. 1974, 101 (107 Fn. 60); Knöpfle, DVBl. 1965, 925 (927); Oldiges, in: Sachs, GG, Art. 65 Rn. 25. 102 Maurer, in: FS-Thieme, S. 123 (129); Oldiges, in: Sachs, GG, Art. 65 Rn. 16; Pieroth, in: Jarass / Pieroth, GG, Art. 65 Rn. 3; Schmidt-Preuß, in: FS-Leisner, S. 467 (476): „Beurteilungsermächtigung“. 103 So aber Karehnke, DVBl. 1974, 101 (103, 113). 104 Schröder, in: HbStR III (2005), § 66 Rn. 15, 32; Schneider, in: AK-GG, Art. 65 Rn. 4. 105 In der Terminologie uneinheitlich: Maurer, in: FS-Thieme, S. 123 (129). 106 Junker, Die Richtlinienkompetenz, S. 59 spricht hier unglücklich von „Ermessen“. Eine strikte Unterscheidung zwischen Ermessen und Beurteilungsspielraum nimmt Achterberg, in: HbStR II (1987), § 52 Rn. 21 vor, da eine Verwechslungsgefahr mit einer Kompetenz-Kompetenz bestehe. 107 So Hermes, in: Dreier, GG, Art. 65 Rn. 21; Schröder, in: v. Mangoldt / Klein / Starck, GG, Art. 65, Rn. 13.

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Kompetenz-Kompetenz 108 noch eine Kompetenz zur Definition oder authentischen Interpretation verfassungsrechtlicher Tatbestandsmerkmale eingeräumt. 109 Die Richtlinienkompetenz beruht auf dem Grundgesetz, sie steht aber nicht über ihm. 110 Von der unzulässigen Kompetenz-Kompetenz ist die zulässige Kompetenz zur authentischen Interpretation („Interpretationskompetenz“) der vom Kanzler selbst bestimmten Richtlinien zu unterscheiden, die aber den Geltungsbereich einer Richtlinie nicht über die im Grundgesetz gezogenen Grenzen hinaus zu erweitern vermag. 111 Sie setzt vielmehr das Vorliegen einer wirksamen, der Auslegung fähigen Richtlinie voraus. cc) Richtlinienkompetenz und Ressortprinzip Soweit die Bundesminister ein Ressort innehaben, verfügen sie über die Ressortkompetenz (Art. 65 S. 2 GG). 112 Sie umfasst die Erstzuständigkeit und die inhaltliche Gestaltung der Politik einschließlich der Informationskompetenz sowie die Personalhoheit und Organisationsgewalt im jeweiligen Geschäftsbereich. Den Ressortministern steht hier ein breiter politischer Ermessensspielraum zu. 113 Schon aus dem Wortlaut („innerhalb der Richtlinien“) folgt die Nachrangigkeit der Ressortkompetenz gegenüber der Richtlinienkompetenz und der Organisationsgewalt des Bundeskanzlers. 114 Er muss dem betreffenden Ressortminister aber nach Möglichkeit einen Ausführungsspielraum zur selbstständigen, gestaltenden Verwirklichung des Richtlinienauftrags belassen. Eine Richtlinienbestimmung, die ohne sachlichen Grund seinen eigenverantwortlichen Entscheidungsspielraum im Übermaß verengt, ist verfassungsrechtlich unzulässig. Art. 65 S. 1 GG verleiht weder ein Selbsteintrittsrecht noch darf der Bundeskanzler am Minister vorbei in ein Ressort „hineinregieren“. Die Kompetenzgrenze zwischen Kanzler und Minister verläuft dabei weniger entlang sachlicher Zuständigkeiten. Es handelt sich vielmehr um eine modale Unterscheidung je nach der Entscheidungsstufe bei der politischen Willensbildung. 115 Soweit eine verfassungsgemäß ergangene Richtlinie 108

A. A.: Eschenburg, Staat und Gesellschaft, S. 732; ders., DÖV 1954, 193 (195). Achterberg, in: HbStR II (1987), § 52 Rn. 21; Oldiges, in: Sachs, GG, Art. 65 Rn. 16. 110 Böckenförde, Organisationsgewalt, S. 106; Friauf, in: FS-Herrfahrdt, S. 45 (49); Junker, Richtlinienkompetenz, S. 59; Oldiges, Kollegium, S. 454; Stern, Staatsrecht II, § 31 IV 2 lit. a). 111 Achterberg, in: HbStR II (1987), § 52 Rn. 21 m.w. N.; Friauf, in: FS-Herrfahrdt, S. 45 (49 f.); Koellreutter, Staatsrecht, S. 205 f. 112 Kölble, DÖV 1973, 1 (1). 113 Busse, in: Berliner Kommentar, Art. 65 Rn. 9; Pieroth, in: Jarass / Pieroth, GG, Art. 65 Rn. 5. 114 Schröder, in: HbStR III (2005), § 64 Rn. 21. 115 Oldiges, Kollegium, S. 457 f. m.w. N.; vgl. Maurer, in: FS-Thieme, S. 123 (129). 109

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reicht, ist den Ministern eigene politische Initiative verwehrt. Interpretations- und Konkretisierungsspielräume dürfen sie aber ausfüllen, solange der Bundeskanzler nicht von seiner Interpretationskompetenz Gebrauch macht. 116 Dem Bundeskanzler steht ein Anspruch auf Durchführung und Verwirklichung der Richtlinien zu, und zwar auch dann, wenn die Fachminister mit seiner Auffassung nicht übereinstimmen. Ausnahmsweise ist eine Richtlinie für die Minister nicht verbindlich, wenn sie verfassungswidrige Ziele verfolgt. Die Umsetzung rechtswidriger Vorgaben ist ihnen von Verfassung wegen untersagt. Der Befund der Verfassungswidrigkeit bedarf aber einer besonders sorgfältigen, vorherigen Prüfung. 117 Die in Art. 65 GG festgelegte Organisationsstruktur der Regierung kennt grundsätzlich keine „Vorzugsrechte einzelner Minister“. Die Richtlinienkompetenz erstreckt sich deshalb nicht nur auf allgemeine Ressortangelegenheiten der Minister nach Art. 65 S. 2 GG, sondern auch auf Angelegenheiten, die ihnen das Grundgesetz in besonderen Vorschriften zuweist. 118 Hierzu zählen die ministerielle Verordnungskompetenz nach Art. 80 Abs. 1 S. 1 GG 119, die Weisungskompetenz gemäß Art. 85 Abs. 3 S. 1 GG sowie die Notbewilligungskompetenz des Bundesfinanzministers nach Art. 112 GG. Auch der Verteidigungsminister unterliegt nicht nur allgemeinen verteidigungspolitischen Zielvorgaben des Bundeskanzlers, sondern auch den einzelfallbezogenen Kanzlerrichtlinien. 120 dd) Richtlinienkompetenz und Kabinettsprinzip Eine ganze Reihe grundgesetzlicher Regelungen erklärt die Bundesregierung auch außerhalb des Art. 65 S. 3 GG als Kollegium für zuständig, z. B. bei Gesetzesentwürfen. 121 Speziell Schenke plädiert dafür, die Richtlinienkompetenz auch auf Kollegialkompetenzen zu erstrecken. Er begründet dies in erster Linie damit, dass gerade politisch wichtige Angelegenheiten der kollegialen Beschlussfassung unterliegen. Angesichts einer fortschreitenden Ausdehnung des Gesetzesvorbehalts, die die Möglichkeiten einer „paragesetzlichen Aktivität der Regierung“ ständig reduziere, gelte heute einmal mehr: „Gouverner, c’est légiférer“. 122 Eine Ausklammerung des Gesetzesinitiativrechts in Art. 76 Abs. 1 GG aus der Richtlinienkompetenz liefe deshalb auf eine „Aushöhlung des Kanzlerprinzips“ 123 hinaus. 116

Hermes, in: Dreier, GG, Art. 65 Rn. 25. Friauf, in: FS-Herrfahrdt, S. 45 (65 f.); vgl. Eschenburg, DÖV 1954, 193 (201). 118 Böckenförde, Organisationsgewalt, S. 179 ff.; Schröder, in: HbStR III (2005), § 66 Rn. 41; a. A.: Achterberg, in: HbStR II (1987), § 52 Rn. 44; Oldiges, in: Sachs, GG, Art. 65 Rn. 24a; Stern, Staatsrecht II, § 31 IV 2 lit. a). 119 Vgl. Schröder, in: HbStR III (2005), § 66 Rn. 35 ff. 120 BVerfGE 45, 1 (47); Badura, in: FS-Quaritsch, S. 295 (300 f.); Schröder, in: HbStR III (2005), § 64 Rn. 23. 121 Vgl. die Übersicht bei Maurer, in: FS-Thieme, S. 123 (137). 122 Schenke, in: BK-GG, Art. 65 Rn. 45, 47. 117

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Von der Richtlinienkompetenz bliebe nichts übrig als ein „zahnloser Tiger“ 124. Die für die Vorbereitung der Gesetzesentwürfe zuständigen Ressortminister unterlägen ohnehin der Richtlinienkompetenz. Es verbleibe für Art. 65 S. 1 GG neben Art. 65 S. 2 GG zudem kein selbstständiger Regelungsbereich, wenn sich die Richtlinienkompetenz des Bundeskanzlers nur auf die Ressortminister bezöge. Deren Bindung ergebe sich allein schon aus Art. 65 S. 2 GG. Auch die parlamentarische Verantwortlichkeit des Bundeskanzlers gemäß Art. 67 Abs. 1 S. 1 GG verlange eine gesteigerte Einflussmöglichkeit bei der Gestaltung der Regierungspolitik. 125 Die Zuweisung der Gesetzesinitiative an das Kollegium behalte schließlich trotz Unterwerfung unter die Richtlinienkompetenz eigenständige Bedeutung, da nicht jede Kollegialentscheidung grundlegender Natur sei. Sie stelle sicher, dass der Kanzler nicht durch „einsame Entschlüsse“ über die Köpfe der Bundesminister hinweg vollendete Tatsachen zu schaffen in der Lage sei. 126 Gegen die Einbeziehung von Kollegialentscheidungen in die Richtlinienkompetenz spricht bereits der Wortlaut der einzelnen Zuständigkeitsregelungen, die – anders als Art. 65 S. 2 GG – keine Vorbehalte zugunsten der Richtlinien des Bundeskanzlers enthalten. Eine analoge Anwendung scheidet im Hinblick auf die unterschiedlichen Verhältnisse aus. Auch die Regelungen über die parlamentarische Verantwortlichkeit sind unergiebig, da die Bundesminister dem Parlament selbst verantwortlich sind und Unterschiede lediglich hinsichtlich der möglichen Sanktionen bestehen. Ebenso sprechen der Sinn und Zweck gegen eine Bindung von Kollegialentscheidungen an die Richtlinien des Bundeskanzlers. Gremienentscheidungen beruhen auf dem besonderen materiellen und politischen Sachverstand der einzelnen Gremienmitglieder und ergehen aufgrund des Mehrheitserfordernisses auf breiterer demokratischer Basis als Einpersonenentscheidungen. Die Einschaltung der Bundesregierung als Kollegium dient der Information und Koordination im regierungsinternen Bereich und der Geschlossenheit der Regierung nach außen. Es wäre zudem eine wenig sinnvolle „Förmelei“, wenn die Verfassung zwar Kabinettsbeschlüsse vorsehen, zugleich aber den Kanzler ermächtigen würde, deren Ergebnis durch Ausübung seiner Richtlinienkompetenz ganz oder teilweise vorweg zu nehmen. Eine gleichwohl bestehende Weisungsgebundenheit grundgesetzlicher Entscheidungsgremien müsste daher im Grundgesetz in besonderer Weise zum Ausdruck gelangt sein. 127 Die „Führungspräponderanz“ des Kanzlers gegenüber dem Kabinett ist somit nicht materiell-rechtlicher, sondern 123

Karehnke, DVBl. 1974, 101 (110 Fn. 75). Meyn, in: v. Münch / Kunig, GG, Art. 65 Rn. 11; vgl. Knöpfle, DVBl. 1965, 925 (929). 125 Schenke, in: BK-GG, Art. 65 Rn. 45, 47. 126 Ders., Jura 1982, 337 (343 f.); ders., in: BK-GG, Art. 65 Rn. 42 ff.; vgl. Karehnke, DVBl. 1974, 101 (107, 110 Fn. 75); Knöpfle, DVBl. 1965, 925 (929). 127 Busse, in: Berliner Kommentar, Art. 65 Rn. 8, 10; Friauf, in: FS-Herrfahrdt, S. 45 (52); Hermes, in: Dreier, GG, Art. 65 Rn. 26; Maurer, in: FS-Thieme, S. 123 (130, 136); Schröder, in: HbStR III (2005), § 66 Rn. 53. 124

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verfahrensrechtlicher Natur. Er bestimmt kraft seiner Geschäftsleitungskompetenz die Tagesordnung der Kabinettssitzungen und kann Angelegenheiten, die ihm eine unliebe Wendung zu nehmen drohen, vertagen. Erst wenn er die Kabinettsentscheidung zulässt, ist er an deren Ergebnis wie jedes andere Kabinettsmitglied gebunden. 128 ee) Politische Funktion der Richtlinienkompetenz In der Staatspraxis ist die Bedeutung der Richtlinienkompetenz des Bundeskanzlers sehr gering. Der Bundeskanzler wird in der Regel darauf verzichten, die Richtlinien als rechtliches Instrument einzusetzen, da dies insbesondere die Öffentlichkeit als Zeichen von Führungsschwäche deuten könnte. Die Richtlinienkompetenz erfüllt eher eine Art ultima-ratio-Funktion. Die seltene formelle Berufung auf dieses Institut mindert indes nicht seine hohe politische Bedeutung. Der Bundeskanzler kann in der Regel damit rechnen, dass die Bundesminister seinen politischen Vorgaben und Richtungsentscheidungen folgen, weil sein Standpunkt in jedem Fall auch als Richtlinienentscheidung ergehen könnte. Die eigentliche Bedeutung der Richtlinienkompetenz liegt in ihrer „Reservefunktion“ oder „latenten Funktion“. Nicht so sehr der Einsatz, sondern eher die Möglichkeit des Einsatzes wirkt. Es handelt sich um die Vorwirkung eines Rechts. 129 Ausgehend von diesem Tatsachenbefund konkretisiert Maurer 130 die „doppelte Bedeutung“ der Richtlinienkompetenz in einer engeren rechtlichen und einer weiteren politischen Dimension, wobei die Übergänge fließend sein können. Adenauer und Schmidt hätten sicherlich während ihrer Amtszeiten durchgehend die Richtlinien der Politik bestimmt (Richtlinienbestimmung im politischen Sinn), aber offenbar nur selten oder gar nicht von dem rechtlichen Instrument der Richtlinienkompetenz Gebrauch gemacht (Richtlinienbestimmung im rechtlichen Sinn). Zu den politischen Richtlinien zählt vor allem die Formulierung von allgemeinen Leitgedanken der Regierungsarbeit im Stadium der programmatischen Zielvorgabe. Sie gelangen zum Ausdruck in Regierungserklärungen, Äußerungen im Kabinett, Koalitionsgesprächen, Unterredungen mit den Ministern, aber auch in Fernseh- und Presseinterviews. 131 Die Regierungserklärungen sind bei der politischen Richtlinienbestimmung von besonderer Bedeutung. Sie sind „ein wichtiges, auch außen wahrgenommenes Instrument des Kanzlerprinzips“. Dies hängt auch 128

Oldiges, in: Sachs, GG, Art. 65 Rn. 37; vgl. Stern, Staatsrecht II, § 31 IV 4. Busse, in: Berliner Kommentar, Art. 65 Rn. 7; Junker, Die Richtlinienkompetenz, S. 57; Maurer, in: FS-Thieme, S. 123 (125); Schenke, in: BK-GG, Art. 65 Rn. 30; SchmidtPreuß, in: FS-Leisner, S. 467 (476). 130 Maurer, in: FS-Thieme, S. 123 (125 f.); ferner: Busse, in: Berliner Kommentar, Art. 65 Rn. 6; Karehnke, DVBl. 1974, 101 (101, 105); Maunz, BayVBl. 1956, 260 (260); Schröder, in: HbStR III (2005), § 66 Rn. 17. 131 Busse, in: Berliner Kommentar, Art. 65 Rn. 6; Menzel, in: FS-Leibholz, S. 877 (882). 129

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mit der Entwicklung zur Mediendemokratie zusammen. Durch jede öffentliche Themen-Präsentation erfährt der Kanzler besondere Aufmerksamkeit, die sich durch medienadressierte Personalisierung trefflich visualisieren lässt. 132 In rechtlicher Hinsicht gibt die Richtlinienkompetenz dem Bundeskanzler ein Instrument, mit dessen Hilfe er seine allgemein formulierten politischen Vorstellungen gegenüber den Bundesministern formell zur Geltung bringen und durchsetzen kann. Rechtliche Kompetenzen sind also auch politische Faktoren. Dies gilt in besonderem Maße für Art. 65 S. 1 GG. Die Norm zeichnet verfassungsrechtlich nur die Formen vor, in denen politische Führung ausgeübt werden darf, ohne ihre Realisierung gewährleisten zu können oder zu wollen. 133 Die „Richtlinienkompetenz“ des Bundeskanzlers wird daher treffend auch als „politischer Funktionsbegriff“ 134 charakterisiert. Ansatzpunkt ihrer konkreten Inhaltsbestimmung ist immer auch das Phänomen politischer Führung 135, dessen normative Ermächtigung und Schranke die Richtlinienkompetenz darstellt. 136 Ihre Entwicklung ist maßgeblich geprägt durch die „homines politici“ 137, die jeweiligen Amtsinhaber. Ein „starker Bundeskanzler“ wird dazu tendieren, die Richtlinien der Politik für die gesamte Bundesregierung zu bestimmen, ein politisch „schwächerer Bundeskanzler“ wird in aller Regel stärker aus der Kollegialverantwortung heraus operieren. Dieser Effekt wird durch die allgemeinen Personalisierungstendenzen 138 in der Politik verstärkt. 139 ff) Politische Grenzen der Richtlinienkompetenz Das Wechselspiel zwischen Recht und Politik, welches die Richtlinienkompetenz kennzeichnet, wirkt sich auch auf deren Grenzen aus. Der Kanzler ist rechtlich nicht verpflichtet, auf den Willen der Parlamentsmehrheit Rücksicht zu nehmen. Die Richtlinien des Minderheitskanzlers erzeugen dieselbe rechtliche Wirkung, wie die des Mehrheitskanzlers. Trotz dieser verfassungsrechtlichen Freiheit ist er aber aufgrund der politischen Kräfteverhältnisse tatsächlich in weitgehendem Maße von der Meinungsbildung im Parlament und einem etwaigen Koalitionspartner abhängig. 140 Der Kanzler erlangt sein Amt häufig in mehr oder minder 132

Korte, ZParl 2002, 452 (453, 458). Stern, Staatsrecht II, § 31 IV 2 lit. a). 134 Scholz, in: FS-BVerfG (2001) II, S. 663 (679). 135 Oldiges, Kollegium, S. 455 f. m.w. N.; ders., in: Sachs, GG, Art. 65 Rn. 13 f. 136 Junker, Die Richtlinienkompetenz, S. 63. 137 Stern, Staatsrecht I, § 1 V 5. 138 Zu den Ursachen dieser Entwicklung, vgl. Niclauß, Aus Politik und Zeitgeschichte 1999, 27 (35). 139 Bryde, Verfassungsentwicklung, S. 195; vgl. Menzel, in: FS-Leibholz, S. 877 (878 ff.): zur Ausdeutung des Art. 65 GG im Sinn einer „Personalisierung der Macht“; Herzog, in: Maunz / Dürig, GG, Art. 65 Rn. 15. 133

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starkem Maße als „Geschöpf seiner Partei“ und kann sich von Parteibindungen nicht freimachen. Hinzu kommt die Möglichkeit eines konstruktiven Misstrauensvotums nach Art. 67 Abs. 1 S. 1 GG. Bereits 1927 stellte Herrfahrdt deshalb angesichts der damaligen Verhältnisse fest: „Die Parteien bestimmen die Richtlinien der Politik.“ 141 Auch heute ist der Bereich der Bundesregierung häufig unter den Koalitionspartnern faktisch parzelliert, mit politischen Interventionsverboten gegenüber der jeweils anderen Seite. 142 Insbesondere bei gleichen Partnern kann sich eine überragende Stellung des Kanzlers schwerlich ergeben. 143 Die wichtigsten Punkte des Regierungsprogramms der Koalitionsparteien werden in ausführlichen Koalitionsvereinbarungen noch vor der formalen Regierungsbildung verbindlich abgeklärt und seit den frühen 1960er Jahren auch schriftlich fixiert. 144 Die zunächst punktuellen Absprachen entwickelten sich unter Bundeskanzler Kohl zu flächendeckenden Festlegungen. Angesichts dieser Entwicklung sah er sich veranlasst, in seiner Regierungserklärung zu Beginn der 13. Legislaturperiode darauf hinzuweisen: „Der Text der Koalitionsvereinbarung ist jedermann zugänglich; ich brauche hier nicht im einzelnen zu referieren.“ Die Koalitionsvereinbarungen haben seither weiter an Bedeutung gewonnen: Kam die Koalitionsvereinbarung von 1982 noch mit 3.900 Wörtern aus, so brach der Vertrag aus dem Jahre 2005 mit geschätzten 52.800 Wörtern alle Rekorde. 145 Einige Stimmen beanstanden angesichts dieser Entwicklung, der Bundeskanzler verkomme zum „Politik-Notar“ 146 und das Kabinett stelle „heute mehr ein Akklamationsorgan als Entscheidungsstätte staatlicher Politik“ 147 dar. Eine auf Grundlage einer Koalitionsvereinbarung eingegangene Verpflichtung, eine bestimmte Politik zu verfolgen, erzeugt unabhängig von ihrer juristischen Einordnung 148 keine rechtliche Wirkung und ist ebenso wenig einklagbar. Ihr Bruch ist freilich „mit einer sehr weitreichenden politischen Sanktion, nämlich dem Ausscheiden des unzufriedenen Partners aus der Regierung, bedroht“. 149 In der Praxis ist die Richtlinienkompetenz deshalb vielfach von der politischen Machtverteilung abhängig 140

Schmidt-Preuß, in: FS-Leisner, S. 467 (476); Scholz, in: FS-BVerfG (2001) II, S. 663

(679). 141 Herrfahrdt, Regierungsbildung, S. 14; vgl. auch: Eschenburg, DÖV 1954, 193 (196 f.). 142 Herzog, in: Maunz / Dürig, GG, Art. 65 Rn. 27; Schenke, Jura 1982, 337 (346). 143 Scheuner, AöR 95 (1970), 353 (379); vgl. auch die Äußerungen von Franz Müntefering und Edmund Stoiber im Vorfeld der Regierungsbildung 2005, in: Süddeutsche Zeitung vom 12. Oktober 2005, Nr. 235, S. 1. 144 Helms, ZParl 1996, 697 (704). 145 Stüwe, ZParl 2006, 544 (548 f.) m.w. N. 146 Scholz, in: FS-BVerfG (2001) II, S. 663 (683 m.w. N.). 147 Helms, ZParl 1996, 697 (704). 148 Vgl. Meyn, in: v. Münch / Kunig, GG, Art. 65 Rn. 6 m.w. N.; a. A.: Oldiges, in: Sachs, GG, Art. 65 Rn. 17.

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und ihre Verwirklichung nur ausnahmsweise eine Frage verfassungsrechtlicher Kompetenzabgrenzungen. 150 b) Regelungsgegenstand der Richtlinienkompetenz Die formellen Adressaten des Art. 65 GG sind allein die Mitglieder der Bundesregierung. Dies schließt aber nicht aus, dass die von Art. 65 GG vorausgesetzten Kompetenzen über das unmittelbare Regierungskollegium hinaus Wirkung entfalten können. Von der internen Kompetenzverteilung ist der Regelungsgegenstand des Art. 65 GG zu unterscheiden. aa) Politik und Staatsleitung Die in Art. 65 GG statuierte Kompetenzverteilung hat die Politik zum Gegenstand. 151 Bezeichnenderweise werden die Richtlinienkompetenz auch als „Kern der politischen Regierungsgewalt“ 152 und die Richtlinienbestimmung als Akt „einer politischen Führung“ 153 umschrieben. Es geht bei der Richtlinienbestimmung um die Aufstellung politischer Richtungs- und Führungsgrundsätze mit dem Ziel, sie umzusetzen und zu konkretisieren. 154 Das vage Kriterium der „Politik“ allein erschließt eine verfassungsrechtliche Kompetenz aber kaum. Politik betreibt auch eine Bezirksvertretung. Möglicherweise lässt sich der Regelungsgegenstand des Art. 65 GG konkretisieren: Häufig findet sich in der Rechtswissenschaft die Feststellung, dass die Richtlinienbestimmung durch den Bundeskanzler gemäß Art. 65 S. 1 GG einer Kategorie „staatsleitender Akte“ zuzurechnen ist, zu der auch die Gesetzesinitiative der Regierung in Art. 76 Abs. 1 GG sowie bestimmte Präsidialakte zählen. 155 Mangels eines ausdrücklich benannten Bereichs der Staatsleitung im Grundgesetz und den ihm vorausgegangen Verfassungen des Deutschen Reichs fehlt es in Wissenschaft und Praxis an einer einheitlichen Bezeichnung. In der Sache geht es aber jeweils um dasselbe Phänomen: 156 Das Bundesverfassungsgericht versteht un149 Friauf, in: FS-Herrfahrdt, S. 45 (54 ff.); vgl. Isensee, in: HbStR VII (1992), § 162 Rn. 70; Manow, ZParl 1996, 96 (96) m.w. N.; Schmidt-Bleibtreu / Klein, GG, Art. 65 Rn. 12; Schröder, in: HbStR III (2005), § 65 Rn. 1. 150 Hermes, in: Dreier, GG, Art. 65 Rn. 27. 151 Schenke, Jura 1982, 337 (339). 152 Karehnke, DVBl. 1974, 101 (103); Knöpfle, DVBl. 1965, 857 (860). 153 C. Schmitt, Verfassungslehre, S. 341, 346; ähnlich: Junker, Die Richtlinienkompetenz, S. 56. 154 Stern, Staatsrecht II, § 31 IV 2 lit. a). 155 Mosler, in: FS-Bilfinger, S. 243 (249); Scheuner, in: FS-Smend (1952), S. 253 (287). 156 Magiera, Staatsleitung, S. 43, 46 m.w. N.

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ter Staatsleitung „die politische Führung, die verantwortliche Leitung des Ganzen, der inneren und der äußeren Politik“. 157 Magiera fasst darunter die „umfassende und grundlegende Planung, Festlegung und Durchführung der Organisation, der Ziele und Aufgaben sowie der Rechtsordnung des Staates“ zusammen. 158 Scheuner verbindet „Staatsleitung“ mit dem Begriff des Politischen und charakterisiert sie als den „Bereich innerhalb des staatlichen Lebens, in dem die eigentlichen Kernvorgänge des Kampfes um die Leitung im Volke und der Durchsetzung der eigenen Auffassung sowie die Tätigkeit der mit der Leitung des Staates betrauten Repräsentanten und Agenten sich abspielen“. 159 Nach Hug sind „Grundentscheidung und Staatsleitung“ identisch. Als „staatliche Grundentscheidungen“ definiert er „jene materiell nicht vorgezeichneten Entscheidungen staatlicher Organe, die den Staat und seine Bürger in ihrer Gesamtheit berühren“. 160 Diese gängigen Definitionen von Staatsleitung lassen erkennen, dass es sich um einen sehr allgemeinen Begriff handelt, der einer Konkretisierung bedarf. bb) Regierungskompetenz zur Staatsleitung Die Kompetenz zur Leitung des Staats fällt in den Verantwortungsbereich aller obersten Staatsorgane, in erster Linie aber in den Tätigkeitsbereich von Gesetzgebung und Regierung, den „richtungsbestimmenden Staatsorganen“. In seinem Bericht zur Staatsrechtslehrertagung kam Friesenhahn zu dem Ergebnis, die Zuständigkeitsabgrenzung zwischen Parlament und Regierung ergebe sich weder nach dem Grundsatz der strengen Gewaltenteilung noch unter dem Aspekt einer Balance. Er prägte die seither vielzitierte Formel, wonach die Staatsleitung „Regierung und Parlament gewissermaßen zur gesamten Hand“ zusteht. 161 Die Staatsleitung umfasst somit Regierungsakte im engeren Sinn und die materielle Verfassungs- und Gesetzgebung. 162 Die verfassungsrechtlich gesonderten Organe üben sie ihren spezifischen Funktionen entsprechend aus. Die Gesetzgebung und die rechtlich relevante Gestaltung fallen in die Kompetenz des Bundestags als dem parlamentarischen Staatsorgan. 163 In den Kompetenzbereich der institutionellen Regierung (Gubernative) gehören hingegen Materien, die sich einer normativen Vorausplanung nur als in bescheidenem Umfang zugänglich erweisen. 164

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BVerfGE 105, 279 (301, 306). Magiera, Staatsleitung, S. 65. 159 Scheuner, in: FG-Smend (1962), S. 225 (265 f.). 160 Hug, Die Regierungsfunktion, S. 64, 150, 153. 161 Friesenhahn, VVDStRL 16 (1958), 9 (38); ähnlich: Scheuner, in: FS-Smend (1952), S. 253 (267 f., 285). 162 Hug, Die Regierungsfunktion, S. 64, 153. 163 Dobiey, Die politische Planung, S. 54 f.; Leisner, JZ 1968, 727 (728 f.). 164 Schenke, in: BK-GG, Art. 65 Rn. 24. 158

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G. Verfassungsrechtliche Determination gubernativer Entscheidungen

cc) Spezielle und allgemeine Regierungskompetenz zur Staatsleitung Kompetenzen zur Staatsleitung können der Bundesregierung durch spezielle Normen eingeräumt sein, die zu einem bestimmten, sachlich genau umrissenen Verhalten ermächtigen. Hierzu zählt das Gesetzesinitiativrecht in Art. 76 Abs. 1 GG. In den Bereich der sog. „allgemeinen Staatsleitung“ fällt dagegen grundsätzlich jedes staatsleitende Verhalten, welches die Verfassung weder näher definiert noch einem Verfassungsorgan ausdrücklich zuweist oder vorbehält. So obliegt der Bundesregierung als Organ der Staatsleitung bzw. dem Bundeskanzler als deren zentraler Akteur beispielsweise der Entwurf eines umfassenden Gesamtkonzepts für alle Bereiche der Politik („Regierungsprogramm“) und dessen Verwirklichung im Verlauf einer Wahlperiode. 165 Für die allgemeine Regierungskompetenz zur Staatsleitung gibt es, anders als für die Gesetzgebungs- und Verwaltungszuständigkeiten, keine ausdrücklichen Bestimmungen im Grundgesetz. Die verfassungsunmittelbare Aufgabe der Regierung zur Staatsleitung folgt nicht bereits aus Art. 65 GG, sondern aus „der Gesamtheit der Kompetenzen der Bundesregierung“ 166. Diese Aufgabe der Bundesregierung hat das Bundesverfassungsgericht bereits in früheren Entscheidungen betont 167 und unlängst konkretisiert: Demnach gehe das Grundgesetz stillschweigend von einer entsprechenden Kompetenz aus, so etwa in den Normen über die Bildung und Aufgaben der Bundesregierung (Art. 62 ff. GG) oder die Pflicht der Bundesregierung, den Bundestag und seine Ausschüsse zu unterrichten. Hierfür spreche auch die Verpflichtung der Regierung und ihrer Mitglieder, dem Bundestag auf Fragen Rede und Antwort zu stehen und seinen Abgeordneten die zur Ausübung ihres Mandats erforderlichen Informationen zu verschaffen. 168 Neben der programmatisch-inhaltlichen Ziel- und Mittelbestimmung sind die wichtigsten Sachbereiche, die der allgemeinen Regierungskompetenz zur Staatsleitung unterfallen, der außenpolitische Bereich 169, die politische Planung 170, die Repräsentation und Selbstdarstellung des Staats sowie in engen Grenzen auch Organisationsrechte. 171 Von besonderer Bedeutung ist die Aufgabe der Bundesregierung, der Öffentlichkeit ihre Politik, ihre Einzelvorhaben und -maßnahmen darzulegen und zu erörtern. 172 Öffentlichkeitsarbeit der Regierung im Rechtsstaat ist nach der gleich165 166 167 168 169 170 171 172

Schneider, in: AK-GG, Art. 62 Rn. 4, 12. Pieroth, in: Jarass / Pieroth, GG, Art. 65 Rn. 7. BVerfGE 11, 77 (85); 26, 338 (395 f.). BVerfGE 105, 252 (270); 105, 279 (306). Mosler, in: FS-Bilfinger, S. 243 (288, 293); v. Wick, Kompetenzwahrnehmung, S. 86. Badura, Staatsrecht, E Rn. 18. Schröder, NJW 2001, 2144 (2146 f.) zur Errichtung eines nationalen Ethikrates. Vgl. BVerfGE 44, 125 (147).

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namigen Monographie Leisners sowohl das Recht als auch die Pflicht der Bundesregierung zur Information über ihre Tätigkeit und ihre politischen Ziele. 173 Die Bundesregierung entscheidet, welches Bild sie der Öffentlichkeit von ihrer Arbeit vermittelt und wie detailliert sie beispielsweise über den Verlauf von Beratungen informiert. Sie ist nicht gehalten, alle von ihr erörterten Themen und erst recht nicht alle bei ihrer Meinungsbildung angestellten Erwägungen offen zulegen. 174 Hält der Bundeskanzler beispielsweise eine Rede im Bundestag oder im Fernsehen die übliche Neujahrsansprache, nimmt er eine Kompetenz zur Selbstdarstellung wahr, die in der jeweiligen Sachkompetenz enthalten ist. Vergleichbares gilt für die Bundesminister. Hält der Bundesjustizminister auf dem Deutschen Juristentag eine Rede, lassen sich der Verfassung hinsichtlich der Art und Weise, wie die Selbstdarstellung vorzunehmen ist, keine allgemeinen Vorgaben entnehmen. Hier sind vielfältige und nicht abstrakt vorprogrammierbare Gestaltungsmöglichkeiten denkbar. 175 Öffentlichkeitsarbeit und Selbstdarstellung umfassen die Unterrichtung der Allgemeinheit über die je eigene Regierungstätigkeit. Öffentlichkeitsaufklärung zielt dagegen primär auf die Bewusstseinsbildung des privat handelnden Individuums, insbesondere des am eigenen Nutzenkalkül orientierten Verbrauchers. 176 Eine für Risiken der modernen Gesellschaft sensibilisierte Öffentlichkeit stellt einen vorzüglichen „Resonanzboden“ für diese Art staatlicher Informationstätigkeit dar. Die einwirkende Informationstätigkeit des Staats wird mit dem Begriff „präzeptoral“ als grundsätzlich neue Form der Durchsetzung politischer Ziele beschrieben. Der „präzeptorale“ Staat setzt Informationen immer häufiger als Steuerungsinstrument ein; wo er dies tut, ersetzt die Information die hoheitliche Regelung. 177 In zwei jüngeren Urteilen äußerte sich das Bundesverfassungsgericht zu Zulässigkeit und Grenzen staatlicher Öffentlichkeitsaufklärung. Es qualifizierte die Informationsarbeit der Bundesregierung als „integralen Bestandteil“ der Aufgabe zur Staatsleitung. Die Bundesregierung sei überall dort zur Informationsarbeit berechtigt, wo ihr eine gesamtstaatliche Verantwortung der Staatsleitung zukomme, die mithilfe von Informationen erfüllt werden könne. Dies sei besonders bei Vorgängen mit Auslandsbezug oder mit länderübergreifender Bedeutung und überregionalem Charakter der Fall, wenn eine bundesweite Informationsarbeit die Effektivität der Problembewältigung fördere. In solchen Fällen könne die Bundesregierung den betreffenden Vorgang aufgreifen und gegenüber dem Parlament und der Öffentlichkeit darstellen und bewerten. Soweit erforderlich, könne sie auch Empfehlungen oder Warnungen aussprechen. 178 173 174 175 176 177

Leisner, Öffentlichkeitsarbeit, S. 14. Vgl. Busse, DÖV 1989, 45 (49) m.w. N. spricht von politischem Ermessen. Murswiek, in: FS-Quaritsch, S. 307 (321). Gröschner, DVBl. 1990, 619 (620). Di Fabio, JZ 1993, 689 (690); Murswiek, NVwZ 2003, 1 (8).

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G. Verfassungsrechtliche Determination gubernativer Entscheidungen

dd) Anwendungsbereich des Art. 65 GG Regelungsgegenstand des Art. 65 GG ist nicht pauschal die Politik, sondern die allgemeine Regierungskompetenz zur Staatsleitung. 179 Die Erwähnung des Begriffs „Politik“ in Art. 65 S. 1 GG bringt zum Ausdruck, dass es sich hierbei um eine Form politischer Tätigkeit, um staatsleitende Politik handelt. 180 Da „Staatsleitung“ gegenüber „Politik“ der speziellere Begriff ist, findet er in vorliegendem Kontext vorzugsweise Verwendung. Die inhaltliche Affinität zwischen Richtlinienkompetenz und Staatsleitung verdeutlichen Formeln, welche die Richtlinien der Politik als „Anordnungen der Staatsleitung“ 181 oder die Richtlinienbestimmung als „besondere Entscheidungskategorie der Staatsleitung“ 182 bezeichnen. Art. 65 GG erfasst somit alle Verhaltensweisen der Regierung mit gesamtstaatlichem Bezug im Bereich der Innen- oder Außenpolitik. Hierunter fallen insbesondere Regierungserklärungen, Zeitpunkt, Ort und Modalitäten von Staatsbesuchen, die Einrichtung von Krisenstäben oder informellen Regierungsgremien (z. B. Koalitionsrunden), von Konferenzen oder die Öffentlichkeitsarbeit. Diese Maßnahmen sind Teil eines faktisch (Grenzen der Normierbarkeit) oder rechtlich (zugriffsfreie gubernative Einzelkompetenzen) begründeten Kernbereichs exklusiver Tätigkeit der Bundesregierung. Darf der Bundeskanzler nach Art. 65 GG innerhalb der Bundesregierung eine staatsleitende Entscheidung im Wege der Richtlinienbestimmung formell an sich ziehen und die Minister auf Detailfragen beschränken, kann er materielle Entscheidungen treffen, die über den regierungsinternen Bereich hinauswirken. Die durch Art. 65 GG vorgegebene interne Zuordnung von Kompetenzen wirkt somit „mittelbar“ auch auf das Außenverhältnis. Nicht in den Anwendungsbereich des Art. 65 GG fallen Verhaltensweisen, die dem Vorbehalt des Gesetzes unterliegen oder (verfassungs-)gesetzlich speziell geregelt sind. Ausgenommen sind ferner Tätigkeiten, welche die Verfassung dem Kompetenzbereich eines Verfassungsorgans oder -organteils ausdrücklich und exklusiv zuweist. Wo der Bundeskanzler über eine spezielle Entscheidungskompetenz verfügt, wäre ein Rückgriff auf den allgemeineren Art. 65 GG unzulässig. Beispielhaft aufgezählt seien hier das materielle Kabinettsbildungsrecht nach Art. 64 Abs. 1 GG sowie das Auflösungsverfahren nach Art. 68 Abs. 1 S. 1 GG.

178 179 180 181 182

BVerfGE 105, 252 (270 f.); 105, 279 (306 f.). Vgl. BVerfGE 105, 279 (306). Böckenförde, Organisationsgewalt, S. 206. Schneider, in: AK-GG, Art. 65 Rn. 4. Schröder, in: v. Mangoldt / Klein / Starck, GG, Art. 65 Rn. 14.

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c) Ergebnis: Entscheidungsstruktur staatsleitender Entscheidungen Für die Qualifizierung staatsleitender Entscheidungen entweder als Ermessensentscheidung oder als politische Gestaltungsfreiheit kommt es nach den hier entwickelten Abgrenzungskriterien darauf an, ob dem Kompetenzträger die Möglichkeit eigener Zwecksetzungstätigkeit eröffnet ist. aa) Richtlinienermessen Liegen die tatbestandlichen Voraussetzungen des Art. 65 S. 1 GG vor, steht dem Bundeskanzler zunächst die Entscheidung zu, einen richtlinienfähigen Sachverhalt formell zum Gegenstand einer Richtlinie zu erklären. 183 Er kann Angelegenheiten, denen er eine hohe politische Bedeutung beimisst, „an sich ziehen“ oder sich in Fragen, die für ihn diese Bedeutung nicht haben oder noch nicht haben, einer Äußerung enthalten und sie im Ressort belassen. Es steht ihm auch Art und Zeitpunkt der Setzung einer Richtlinie frei. 184 Die Entscheidung über die Verleihung der formellen Richtlinienqualität ist eine politische Ermessensfrage. 185 Zusätzlich ist dem Bundeskanzler hinsichtlich der Tatbestandsvoraussetzungen ein Beurteilungsspielraum eingeräumt. Art. 65 S. 1 GG ist eine Kopplungsnorm. Gestaltungsfreiheit räumt die Norm dem Bundeskanzler bei der Verleihung der Richtlinienqualität dagegen nicht ein. Er hat genau genommen nur die Wahl zwischen zwei Entscheidungsoptionen: entweder eine Richtlinie zu setzen oder aber dies zu unterlassen. Für Zwecksetzungstätigkeit bleibt kein Raum. bb) Gestaltungsfreiheit Eine weitere Entscheidung betrifft die inhaltliche Ausgestaltung der Richtlinie. Der Entscheidungsspielraum des Bundeskanzlers richtet sich hier nach Art. 65 S. 1 GG in Verbindung mit der allgemeinen Regierungskompetenz zur Staatsleitung. Die Literatur räumt dem Bundeskanzler bei dieser Entscheidung teilweise ein „Gestaltungsermessen“ 186 ein, wodurch sie einen Unterschied zu dem Richtlinienermessen bereits terminologisch andeutet. Bei einer Entscheidung nach Art. 65 S. 1 GG ist der Kanzler an die kompetenzrechtlichen Grenzen des Ressort- und Kabinettsprinzips gebunden. 187 Seine 183

Schenke, in: BK-GG, Art. 65 Rn. 30. Busse, in: Berliner Kommentar, Art. 65 Rn. 4, 6, 17; vgl. Badura, Staatsrecht, E Rn. 96. 185 Schneider, in: AK-GG, Art. 65 Rn. 4. 186 Ders., ebd.; a. A.: Karehnke, DVBl. 1974, 101 (102): „politisches Ermessen“; Kassimatis, Regierung, S. 100 f. m.w. N. zur Anwendung von „Ermessensschranken“ auf die Richtlinienkompetenz. 184

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politische „Entschließungsfreiheit“ endet, wo er die verfassungsmäßig gewährleistete Initiative der einzelnen Ressortchefs anerkennen muss. 188 Dabei handelt es sich aber nicht um eine inhaltliche, sondern um eine modale Einschränkung. Der zwingende Gehalt des Art. 65 GG erschöpft sich somit in einer formellen Kompetenz- und Verfahrensregelung. In der Sache schränkt er die Verhaltensoptionen des Bundeskanzlers kaum ein. Art. 65 GG stellt eine inhaltsneutrale Kompetenznorm dar. Die vom Kanzler erlassenen Richtlinien dürfen selbstverständlich materiell weder gegen das Grundgesetz noch gegen sonstige Gesetze, einschließlich der gemeinschaftsrechtlichen Vorgaben, verstoßen. 189 Der Kanzler kann darauf hinwirken, den Bundestag durch eine Regierungsvorlage zu veranlassen, ein Gesetz aufzuheben, das seiner Politik zuwiderläuft. Er überschreitet aber seine Kompetenzen, wenn er ohne eine entsprechende Gesetzesänderung politische Ziele verfolgt, die sich nur unter Missachtung geltender Gesetze verwirklichen lassen. Der Regelungsgegenstand des Art. 65 GG, die allgemeine Regierungskompetenz zur Staatsleitung, lässt sich weder auf einen bestimmten Staatszweck noch auf einzelne Mittel zu seiner Verwirklichung festlegen. 190 Formell ist sie durch den Gesetzesvorbehalt und durch verfassungsrechtliche Spezialvorschriften begrenzt, die den Anteil der Gubernative an der Staatsleitung mitbestimmen. Ansonsten kennt sie keinen fest umschlossenen Sachbereich, keine notwendige staatliche Pflicht zum Handeln. 191 Sie ist allein durch ihren gesamtstaatlichen Bezug gekennzeichnet. Der Bundesregierung ist bei der Aufstellung und Durchführung des Regierungsprogramms sowohl bezüglich der Ziele und Inhalte als auch hinsichtlich der Mittel Gestaltungsfreiheit eingeräumt. Ihre Entscheidung darf sich im Rahmen der verfassungsrechtlichen Grenzen ausschließlich an Zweckmäßigkeits- und Nützlichkeitserwägungen orientieren. 192 Dies gilt auch für die Richtliniengebung des Bundeskanzlers. Ob und wie der Bundeskanzler eine bestimmte staatsleitende Frage entscheidet, welchen Lösungsansatz er wählt, welche Prioritäten er setzt, lässt sich der Verfassung im Einzelnen nicht entnehmen. Ob sich die Bundesrepublik außenpolitisch stärker an den einen oder anderen Machtblock anlehnen, ob sie eine liberale Handelspolitik führen oder eher protektionistisch ausgerichtet sein soll, kann der Bundeskanzler in den Richtlinien entscheiden. 193 Seine getroffenen Vereinbarungen können auch spätere Bundesregierungen binden. Das 187

Schneider, in: AK-GG, Art. 65, Rn. 4; a. A.: Knöpfle, DVBl. 1965, 925 (929). Friauf, in: FS-Herrfahrdt, S. 45 (50). 189 Meyn, in: v. Münch / Kunig, GG, Art. 65 Rn. 10; Stern, Staatsrecht II, § 31 IV 2 lit. a). 190 Vgl. Böckenförde, Organisationsgewalt, S. 206. 191 Isensee, in: HbStR IV (2006), § 73 Rn. 19 f. 192 Schneider, in: AK-GG, Art. 62 Rn. 4 spricht von weitem politischen Ermessen („Regierungsermessen“). 193 Friauf, in: FS-Herrfahrdt, S. 45 (47 f.). 188

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ist eine Konsequenz der rechtlichen Kontinuität des Staats trotz wechselnder Regierungen. 194 Eine Selbstbindung des Kanzlers an die vom ihm aufgestellten Richtlinien ist abzulehnen, da sie keine verbindliche Außenwirkung entfalten. Als Träger der Richtlinienkompetenz kann er sie jederzeit aufgrund allgemeiner politischer Erwägungen, aber auch situationsbedingt, ändern. Der ständige Fluss der Politik erfordert immer wieder die Änderung oder Aufhebung bereits erteilter Richtlinien. 195 Sofern es die politische Solidarität der Bundesregierung und ihr einheitliches Erscheinen erfordert, dass sich der Kanzler an die von ihm erlassenen Richtlinien hält, liegt darin keine verfassungsrechtliche Verpflichtung. 196 Neben negativen Grenzen können in Einzelfällen zwar auch positive Bindungen hinzutreten. So, wenn sich der Kanzler bei der Richtliniengebung von bestimmten grundsätzlichen Wertentscheidungen, wie dem Sozialstaatsprinzip, von der Verfassung leiten lassen muss. In diesen Fällen kann sich seine Entscheidungswahl zu einem Ermessen verdichten. 197 Weder die negativen Grenzen der Verfassung noch ihr punktueller Bereich positiver Steuerung vermitteln aber eine durchgehende inhaltliche Determination seiner Entscheidungen. Bei der inhaltlichen Ausgestaltung der Richtlinien im Innenverhältnis der Regierung in Verbindung mit seiner allgemeinen Staatsleitungskompetenz im Außenverhältnis ist dem Bundeskanzler Gestaltungsfreiheit eingeräumt. Soweit eine Richtlinie durch den Bundeskanzler erlassen und ein Zweck gesetzt worden ist, wandelt sich die Gestaltungsfreiheit der Bundesminister in Ermessen hinsichtlich der möglichst effektiven Umsetzung des in der Richtlinie vorgegebenen Zwecks. 3. Art. 68 GG a) Normativer Gehalt des Art. 68 Abs. 1 S. 1 GG Gemäß Art. 68 Abs. 1 S. 1 GG kann der Bundespräsident auf Vorschlag des Bundeskanzlers binnen einundzwanzig Tagen den Bundestag auflösen, wenn ein Antrag des Bundeskanzlers, ihm das Vertrauen auszusprechen, nicht die Zustimmung der Mehrheit der Mitglieder des Bundestages findet. Für die Einordnung des Antragsrechts des Bundeskanzlers anhand der hier entwickelten Kriterien kommt es auf den normativen Regelungsgehalt des Art. 68 Abs. 1 S. 1 GG an.

194 Abelein, Regensburger Universitätszeitung 11/1969, 8 (19) für völkerrechtliche Verträge. 195 Achterberg, in: HbStR II (1987), § 52 Rn. 23; Schröder, in: HbStR III (2005), § 66 Rn. 20. 196 Friauf, in: FS-Herrfahrdt, S. 45 (64 f.) m.w. N. 197 Ders., in: FS-Herrfahrdt, S. 45 (59 f., 64); vgl. Hermes, in: Dreier, GG, Art. 65 Rn. 24.

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aa) Wortlaut Aus dem Wortlaut des Art. 68 Abs. 1 S. 1 GG versuchen diverse Stimmen herzuleiten, dass der Bundeskanzler den Antrag nur mit dem Ziel stellen darf, das Vertrauen zu erlangen („echte Vertrauensfrage“). Der Begriff des „Vertrauens“ impliziere, dass das Ziel der Frage nicht die Aussprache des Misstrauens sein dürfe und ein lediglich förmlich erklärtes Vertrauen bzw. dessen Verweigerung nicht ausreiche, um das Verfahren nach Art. 68 GG verfassungskonform in Gang zu bringen. 198 Die Norm spreche unmissverständlich davon, dass der Bundeskanzler einen Antrag stellen kann, ihm das Vertrauen auszusprechen, und das sei nun einmal genau das Gegenteil von einem Antrag des Bundeskanzlers, ihm nicht das Vertrauen auszusprechen („unechte Vertrauensfrage). Die Unzulässigkeit der auflösungsgerichteten Vertrauensfrage ergebe sich aus dem „doppelten Spiel“, da das Gegenteil dessen beantragt werde, was tatsächlich erstrebt wird. 199 Der Wortlaut des Art. 68 GG Abs. 1 S. 1 knüpft das Verfahren rein formal an den Ausgang einer einzelnen Abstimmung. 200 Seine Formulierung, insbesondere der Terminus „Antrag“, besagt für sich nicht zwingend, dass der Kanzler die Vertrauensfrage nur mit dem Ziel stellen darf, eine antragsgemäße Entscheidung zu erlangen. 201 Auch der Begriff „Vertrauen“ impliziert keinen sicheren Schluss auf eine Unzulässigkeit einer „unechten Vertrauensfrage“. Art. 68 Abs. 1 S. 1 GG sieht allein die objektive Abstimmung als Methode der Willensermittlung an und geht über diesen Verfahrensschritt nicht hinaus. 202 Vertrauen ist objektiv zu verstehen als „die im Akt der Stimmabgabe förmlich bekundete gegenwärtige Zustimmung der Abgeordneten zu Person und Sachprogramm des Bundeskanzlers, mithin die förmliche Kundgabe der Bereitschaft, das zumindest im Umrisse vorgezeichnete Regierungsprogramm oder ein konkretes Verhalten, mit dem der Bundeskanzler die Vertrauensfrage verbindet, grundsätzlich zu unterstützen“. 203 Ein weitergehender Inhalt, wie das Erfordernis einer echten Loyalitätsbekundung, lässt sich dem Begriff nicht entnehmen. 204 Vertrauen liegt auch dann vor, wenn der abstimmende Abgeordnete die politischen Auffassungen des Kanzlers nicht teilt oder kritisiert, sofern nur eine Bereitschaft gegeben ist, für ihn und sein Programm in den Entscheidungen im Bundestag zu votieren. 205 Diese Bereitschaft 198

Delbrück / Wolfrum, JuS 1983, 758 (760 f.); Schlichting, JZ 1984, 120 (122). Hartwig, Der Staat 45 (2006), 409 (421 f.). 200 Liesegang, NJW 1983, 147 (148); Püttner, NJW 1983, 15 (16). 201 BVerfGE 114, 121 (189) Sondervotum Lübbe-Wolff ; vgl. Pestalozza, NJW 2005, 2817 (2818). 202 Oldiges, in: Sachs, GG, Art. 68 Rn. 16; Epping, in: v. Mangoldt / Klein / Starck, GG, Art. 68 Rn. 13. 203 BVerfGE 62, 1 (37). 204 Vgl. BVerfGE 62, 1 (36 f.); Epping, in: v. Mangoldt / Klein / Starck, GG, Art. 68 Rn. 14. 199

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kann auf den unterschiedlichsten Motiven beruhen, etwa weil ein Abgeordneter für die eigenen politischen Konzepte keine Realisierungschancen sieht oder weil die Regierungspolitik im Verhältnis zur Oppositionspolitik als das kleinere Übel erscheint. 206 Vertrauen fehlt, wenn die Mehrheit der Abgeordneten nicht mehr gewillt ist, den bisherigen Bundeskanzler oder sein Regierungsprogramm weiterhin parlamentarisch zu unterstützen oder wenigstens zu dulden. 207 Dies gilt auch für den Fall, dass dem Kanzler die Unterstützung gegen die innere Überzeugung der Abgeordneten versagt wird. 208 Auf die Motive der Abgeordneten kommt es nicht an. Es besteht keine Verpflichtung der Abgeordneten, in einer bestimmten Art und Weise abzustimmen. 209 Sie dürfen durchaus willens sein, den Bundeskanzler später − eventuell auch nach Neuwahlen – wieder zu unterstützen. Aus diesem Grund ist auch eine Motivforschung weder möglich noch statthaft. 210 Der Wortlaut des Art. 68 Abs. 1 S. 1 GG ist deshalb zur Bestimmung materieller Kriterien unergiebig. Aus ihm lässt sich nicht herleiten, dass „der Bundeskanzler einen Vertrauensantrag allein mit dem Ziel stellen darf, die parlamentarische Unterstützung herbeizuführen oder zu festigen“. 211 Aber selbst wenn eine durch den Minderheitskanzler gestellte „unechte“ Vertrauensfrage vom Wortlaut nicht mehr gedeckt wäre, ergibt sich deren Zulässigkeit spätestens aus teleologischen Gründen. 212 Dem Kanzler, der offensichtlich das Vertrauen des Parlaments verloren hat, muss die Möglichkeit eingeräumt sein, eine unechte Vertrauensfrage zu stellen. Wenn für ihn keine Chance mehr besteht, eine Mehrheit zu erlangen, kann ihm nicht zugemutet werden, den von vornherein untauglichen Versuch zu unternehmen, das Parlament zu einer Vertrauensbekundung aufzufordern. 213 Hierfür spricht auch, dass das Grundgesetz dem Kanzler bewusst die Möglichkeit einräumt, entweder auf den Gesetzgebungsnotstand zurückzugreifen oder die Option belässt, mit wechselnden Mehrheiten weiterzuregieren. 214 205

Herzog, in: Maunz / Dürig, GG, Art. 68 Rn. 40. Schenke, ZFP 2006, 26 (41); vgl. Oldiges, in: Sachs, GG, Art. 68 Rn. 16; a. A.: Achterberg, DVBl. 1983, 477 (481, 485) wonach Vertrauen nur verneint werden soll, wenn es auch wirklich fehlt. 207 BVerfGE 62, 1 (38). 208 Gas, BayVBl. 2006, 65 (67). 209 Liesegang, NJW 1983, 147 (149); Pestalozza, NJW 2005, 2817 (2819); Seuffert, AöR 108 (1983), 403 (404); a. A.: Delbrück / Wolfrum, JuS 1983, 758 (759); Buettner / Jäger, DÖV 2006, 408 (410) m.w. N.; vgl. zur Gemeinwohlbindung der Abgeordneten: Hartmann, AöR 134 (2009) (im Erscheinen), 3. lit. a). 210 Ipsen, NJW 2005, 2201 (2203 f.); Püttner, NJW 1983, 15 (16); vgl. Gas, BayVBl. 2006, 65 (69); Görisch, VR 2006, 192 (194); Hermes, in: Dreier, GG, Art. 68 Rn. 16; Liesegang, NJW 1983, 147 (149). 211 BVerfGE 62, 1 (38) (Hervorhebung im Original); Epping, in: v. Mangoldt / Klein / Starck, GG, Art. 68 Rn. 15. 212 Schenke, BK-GG, Art. 68 Rn. 73. 213 Ders., ZFP 2006, 26 (28 f.); vgl. Pieroth, in: Jarass / Pieroth, GG, Art. 68 Rn. 1. 206

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Auch Neuwahlen können grundsätzlich Stabilität sichern oder wiederherstellen. 215 Im Fall eines alternativen Rücktritts bliebe ebenso ungeklärt, ob dieser stabilere parlamentarische Verhältnisse gewährleistet. 216 bb) Art. 68 Abs. 1 S. 1 GG als reine Verfahrensvorschrift? Einige Autoren halten eine „unechte Vertrauensfrage“ mit Art. 68 Abs. 1 S. 1 GG vereinbar, wenn allein dessen formelle Voraussetzungen erfüllt sind. 217 Der Sinn und Zweck des Art. 68 GG verlange, dessen normativen Gehalt gerade von der „unechten“ Vertrauensfrage her zu bestimmen. Die Norm ersetze als „Funktionsäquivalent sowohl ein Selbstauflösungsrecht des Parlaments als auch das Institut der vorzeitigen Beendigung der Wahlperiode“. Eine zurückhaltende Anwendung werde durch das hohe politische Risiko des Bundeskanzlers ausreichend gewährleistet. 218 In der Regel lasse sich der Verfall der Mehrheit mit der Vertrauensfrage ohnehin nicht aufhalten, sondern nur vor die Öffentlichkeit tragen und damit sogar beschleunigen. 219 Teilweise wurde die Vertrauensfrage auch als rein „politische“ Entscheidung qualifiziert, für deren Beurteilung die Verfassung keine Maßstäbe bereithalte. Eine Beurteilung der Handlungsfähigkeit des Kanzlers sei nicht abstrakt, sondern nur hinsichtlich der vom Bundeskanzler konkret verfolgten Politik möglich. Ob eine Instabilität oder eine ausreichende Mehrheit vorhanden sei, hänge allein von den politischen Zielsetzungen und Entscheidungen ab, die rechtlich zu normieren sich nicht nur verbiete, sondern auch unmöglich sei. 220 Das zum Zweck einer Überprüfung erforderliche Präzisierungsverlangen stelle einen Eingriff in die Kompetenz des Bundeskanzlers zur Gestaltung seiner Politik dar. 221 Für ein formelles Verständnis des Art. 68 GG soll auch die fehlende Kontrollfähigkeit etwaiger inhaltlicher Bindungen sprechen, die eine materielle Anreicherung der Norm verbiete: „Wenn das Recht Forderungen aufstellt, gegen deren Umgehung oder scheinhafte oder herbeiinszenierte Erfüllung es nichts aufzubieten hat, befördert es nicht gute Ordnung, sondern Simulation oder sogar die Herbeiführung gerade dessen, was vermieden werden soll.“ Die Vertrauensfrage als eine nicht auf wirklichkeitsbeschreibende Wissenserklärung, sondern auf wirklichkeitsformende (performative) Willensbekundung gerichtete Frage sei zweckmäßigerweise unbestimmt und könne prinzipiell nicht sinnvoll korrigiert 214

Herzog, in: Maunz / Dürig, GG, Art. 68 Rn. 78. Zeh, ZParl 1983, 119 (125). 216 BVerfGE 114, 121 (154). 217 Differenzierend: Achterberg, DVBl. 1983, 477 (481, 483 f.). 218 Schneider, JZ 1973, 652 (655 f.); vgl. Liesegang, NJW 1983, 147 (149); Schröder, JZ 1982, 786 (787 f.). 219 Vgl. dens., in: HbStR III (2005), § 65 Rn. 41. m.w. N. 220 Seuffert, AöR 108 (1983), 403 (405 f.). 221 BVerfGE 114, 121 (185) Sondervotum Lübbe-Wolff. 215

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werden. Sie habe überhaupt keinen feststellungsfähigen Sachverhalt zum Gegenstand. Die Bedeutung des für Art. 68 GG aufgestellten Tatbestandsmerkmals sei aufgrund der dem Bundeskanzler einzuräumenden Einschätzungsprärogative als Entscheidungskriterium so weit reduziert, dass es lediglich noch als Ansatzpunkt einer „Kontrollinszenierung“ oder „Kontrollfassade“ fungiere. Ein Tatbestandsmerkmal, dessen Erfülltsein hinreichend dadurch belegt werden könne, dass man auf Verdecktes, Verborgenes und seiner Natur nach vor Gericht nicht Darstellbares verweise, führe nur noch „eine juristische Scheinexistenz“. 222 Dieser Lösung hält eine Gegenposition zu Recht vor, dass sie im Ergebnis zu einem völlig freien, nur durch das Präsidialermessen begrenzten, Auflösungsrecht des Bundeskanzlers führt, ohne dass sich eine willkürliche oder missbräuchliche Handhabung dieses Rechts verhindern ließe. 223 Allein die mangelnde Steuerungswirkung des Rechts rechtfertigt nicht den Schluss, dass das Recht und nicht das Verhalten geändert werden muss. Übertragen auf das Strafrecht müsste diese Betrachtungsweise bedeuten, dass angesichts der massenhaften, oft ungeahndeten Verstöße gegen dessen Ge- und Verbote eher über einen Verzicht auf Sanktionen nachzudenken sei als über eine Verbesserung der kriminalistischen Aufklärungsarbeit. 224 Eine solche Argumentation setzt die Frage nach dem Vorliegen eines Verstoßes gegen verfassungsrechtliche Bestimmungen unzulässigerweise mit jener nach der Beweisbarkeit des Verfassungsverstoßes gleich. Ein Bruch des Rechts liegt unabhängig davon vor, ob er beweisbar ist. 225 Kontrollverzicht kann zudem in einem Rechtsstaat nicht die Lösung sein. Allein die tatsächliche Option einer gerichtlichen Prüfung erfordert öffentliche Rechtfertigung, was bereits einen Gewinn an Kontrolle und Transparenz darstellt. 226 Auch die Ausklammerung des eigentlich Gewollten bei Willensbekundungen, die sich als performative Sätze angeblich nicht als richtig oder falsch bezeichnen lassen, begegnet Bedenken. Diese Konzeption ist zum einen nicht vereinbar mit der allgemeinen Anerkennung des Instituts der Scheinehe. Auch hier ist die Willensbekundung, auf Dauer zusammenleben zu wollen, auf ihren Wahrheitsgehalt hin hinterfragbar. Zum anderen setzt § 117 Abs. 1 BGB voraus, dass auch eine Willenserklärung auf ihre eigentliche Bedeutung hin untersucht werden kann. 227 Die Tatsache, dass es sich jeweils um eine Wollenserklärung und nicht um eine Wissenserklärung handelt, steht einer gerichtlichen Überprüfung nicht entgegen. 222

BVerfGE 114, 121 (184, 186 f., 188, 195) Sondervotum Lübbe-Wolff ; zustimmend: Ipsen, NJW 2005, 2201 (2204), der in der Sache zu einem vergleichbaren Ergebnis kommt, wenn er zwar eine Missbrauchskontrolle für möglich hält, diese jedoch als „political question“ im wahrsten Sinne qualifiziert. 223 Schneider, ZFP 2006, 123 (140). 224 Ders., ZFP 2006, 123 (139); vgl. Epping, in: v. Mangoldt / Klein / Starck, GG, Art. 68 Rn. 5. 225 Schenke, NJW 1983, 150 (152); vgl. Buettner / Jäger, DÖV 2006, 408 (410). 226 Mager, Jura 2006, 290 (296). 227 Hartwig, Der Staat 45 (2006), 409 (419).

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cc) Anerkennung eines materiellen Tatbestandsmerkmals in Art. 68 Abs. 1 S. 1 GG Gegen die Ablehnung materieller Voraussetzungen sprechen ferner die Entstehungsgeschichte, die grundgesetzliche Systematik sowie eine teleologische Auslegung der Norm. Art. 68 dient nicht dem Interesse des Bundeskanzlers, nur an Formalien gebunden, bei fortbestehender parlamentarischer Mehrheit eine Auflösung des Bundestags zu initiieren. 228 Im Gegensatz zu dem Abstimmungsverhalten der Abgeordneten sind der Antrag des Bundeskanzlers und die Entscheidung des Bundespräsidenten jeweils einer materiellen verfassungsgerichtlichen Überprüfung zugänglich. 229 (1) Entstehungsgeschichte Das Grundgesetz normiert ein parlamentarisches Regierungssystem, das stärker auf Stabilität angelegt ist, als unter der Weimarer Reichsverfassung. Die negativen Erfahrungen mit einer Vielzahl von Reichstagsauflösungen und dem unbeschränkten Auflösungsrecht des Reichspräsidenten nach Art. 25 WRV legten es bei den Beratungen zum Grundgesetz nahe, nach Regelungsmöglichkeiten zu suchen, die eine Auflösung des Bundestags lediglich als ultima-ratio-Lösung gestatteten. 230 Das Grundgesetz hat bewusst auf ein Selbstauflösungsrecht des Parlaments und ebenso auf ein „freies“ Auflösungsrecht des Bundespräsidenten verzichtet. 231 Da die Entstehung des Art. 68 GG im parlamentarischen Rat in diesem Kontext zu verstehen ist, verbietet sich seine Auslegung als voraussetzungsloses Auflösungsrecht des Bundeskanzlers. 232 Nach Auffassung des Bundesverfassungsgerichts besagt die Entstehungsgeschichte, der Parlamentarische Rat habe eine Norm schaffen wollen, „die Grenzen setzt und die die im Rückblick auf Weimar vor Augen stehenden Gefahren für die Stabilität der neuen Republik bannen sollte, ohne den notwendigen politischen Freiraum über Gebühr einzuschränken“. Aus den Gesetzesmaterialen ergebe sich aber nicht eindeutig, dass der Verfassungsgeber die Möglichkeit, über Art. 68 GG die Auflösung des Bundestags anzustreben, nur dem Minderheitskanzler vorbehalten wollte. Sicher lasse sich den Materialien zu Art. 68 GG nur entnehmen, dass der Verfassungsgeber eine die Regierungsarbeit erheblich störende Lage im Verhältnis zwischen Regierung und Parlament als 228

Buettner / Jäger, DÖV 2006, 408 (410 ff.); Starck, NJW 2005, 1053 (1054). Vgl. Ipsen, NJW 2005, 2201 (2204). 230 BVerfGE 114, 121 (152 f.); vgl. Oldiges, in: Sachs, GG, Art. 68 Rn. 9; Schneider, in: AK-GG, Art. 68 Rn. 1. 231 Hermes, in: Dreier, GG, Art. 68 Rn. 3, 10; Schenke, in: BK-GG, Art. 68 Rn. 40 ff. m.w. N.; a. A.: Ipsen, NVwZ 2005, 1147 (1150); Liesegang, NJW 1983, 147 (149). 232 Schneider, ZFP 2006, 123 (134). 229

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„Anwendungssituation“ vorausgesetzt habe. 233 Dieses Ergebnis versucht es auch mit einer – nur fragmentarisch zitierten − Äußerung des Abgeordneten Katz zu belegen: „Hier handelt es sich nicht um einen Vertrauensantrag im Sinne der Weimarer Verfassung, sondern um die Möglichkeit der Bundesregierung im Fall eines ernsten politischen Konflikts oder für den Fall, daß die Bundesregierung den Wunsch hat, eine wichtige politische Frage durch das Volk entscheiden zu lassen, ein Auflösungsrecht zu schaffen.“ 234 Ob der Abgeordnete Katz mit der zweiten Alternative nur politische Lagen im Auge gehabt habe, die sich auf den Minderheitskanzler beziehen, sei nicht sicher erkennbar. Im Bericht des Hauptausschusses an das Plenum werde nicht die Vertrauensfrage als Waffe der Regierung gegenüber dem Parlament bezeichnet, sondern das Auflösungsrecht des Bundespräsidenten. 235 Gegen diese Interpretation der Entstehungsgeschichte sprechen folgende Erwägungen: Weil Art. 67 Abs. 1 S. 1 GG den Kanzlersturz an eine konstruktive Mehrheit knüpft, wurden im parlamentarischen Rat die Optionen erörtert, entweder ein Selbstauflösungsrecht des Bundestags vorzusehen – was abgelehnt wurde − oder dem Bundeskanzler die Möglichkeit zu eröffnen, einer destruktiven Mehrheit, über die Vertrauensfrage mit Auflösung zu drohen. 236 Dabei entsprach es der allgemeinen Auffassung, dem Kanzler in der Minderheitssituation die Möglichkeit einräumen zu wollen, das Verfahren nach Art. 68 GG einzuleiten. In diesem Sinn ist auch die viel zitierte Äußerung der Abgeordneten Katz zu verstehen, wenn man sie nicht außerhalb ihres Kontextes deutet. 237 Er erklärte in einer weiteren Sitzung bezüglich des Art. 90a HChE (dem Vorgänger des heutigen Art. 68 GG) und dem dort vorgesehenen Auflösungsverfahren ausdrücklich, dass dem „Minderheitskanzler“ geholfen werden müsse. Seine erste Äußerung stellte insoweit lediglich klar, dass ein zulässiges Motiv für den sich seiner Mehrheit nicht mehr sicheren Bundeskanzler bei der Stellung der Vertrauensfrage nicht nur darin liegen könne, in Richtung auf eine Bestätigung des Vertrauens hinzuwirken. Er sollte vielmehr im Wege der Auflösung auch über eine wichtige, zwischen Regierung und der Opposition streitige politische Frage, durch das Volk entscheiden lassen können. 238 Dieses Ergebnis wird durch den schriftlichen Bericht der Berichterstatter des Hauptausschusses bestätigt, der die endgültige Fassung des Art. 68 GG 233

BVerfGE 62, 1 (46); a. A.: BVerfGE 62, 1 (86 ff.) Sondervotum Rinck. Parlamentarischer Rat, Verhandlungen des Hauptausschusses, Sten. Prot. vom 17. November 1948, S. 44. 235 BVerfGE 62, 1 (47) (Hervorhebung im Original); zustimmend: Oldiges, in: Sachs, GG, Art. 68 Rn. 9. 236 Meyer, DÖV 1983, 243 (244). 237 Ders., DÖV 1983, 243 (244 f.); Schlichting, JZ 1984, 120 (123). 238 Schenke, NJW 1983, 150 (151); ders., in: BK-GG, Art. 68 Rn. 92 m.w. N. 234

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nochmals begründete. Dort heißt es: „Das Auflösungsrecht des Bundespräsidenten unter Gegenzeichnung des Bundeskanzlers nach Artikel 68 Grundgesetz ist außer dem Recht der Notgesetzgebung die wesentliche Waffe der Regierung gegenüber einer obstruierenden destruktiven Parlamentsmehrheit.“ 239 Wenn die Stoßrichtung des Art. 68 GG nicht in erster Linie gegen ein Selbstauflösungsrecht des Bundestags, sondern gegen das praktisch unbegrenzte Auflösungsrecht, welches dem Reichspräsidenten unter der Weimarer Verfassung zustand, gedeutet wird 240, erscheint dies wenig überzeugend. Ein mit Art. 25 WRV vergleichbares Auflösungsrecht des Bundespräsidenten stand im parlamentarischen Rat überhaupt nicht zur Diskussion. Art. 68 GG wurde vielmehr für eine Situation konzipiert, „in der eine destruktive Mehrheit zwar eine Regierungsarbeit verhindert, jedoch nicht bereit oder willens ist, einen Kanzler zu wählen“. Für diesen Fall sollte die Norm dem Kanzler die Möglichkeit eröffnen, die „politische Pattsituation, sei es durch Disziplinierung der Mehrheit, sei es durch Auflösung des Bundestages zu bereinigen“. 241 (2) Systematik Auch eine systematische Würdigung des Art. 68 GG mit den Art. 39, 63, 67 und 81 GG bestätigt die „Auflösungsfeindlichkeit“ 242 des Grundgesetzes. Vor allem das Recht der Abgeordneten auf ein vierjähriges Mandat (Art. 39 Abs.1 S. 1 GG), das nicht nur eine wahltechnische Festlegung für die vom Demokratiegrundsatz geforderte periodische Erneuerung der Abgeordnetenmandate darstellt, spricht gegen ein bloß von reinen Formalien abhängiges Auflösungsrecht. 243 Anderenfalls wäre de facto ein Selbstauflösungsrecht des Parlaments etabliert, welches der Verfassungsgeber aufgrund der Erfahrungen in der Weimarer Republik gerade nicht angestrebt hat. Der Verfassungsgeber wollte die Auflösungsmöglichkeit vielmehr unter engen verfahrensrechtlichen und materiellrechtlichen Voraussetzungen auf die Fälle der Art. 63 Abs. 4 und Art. 68 GG begrenzen. Der Zusammenhang mit Art. 81 GG bekräftigt ebenfalls, dass es einer parlamentarischen Krisensituation für die Anwendung des Art. 68 GG bedarf. An einem „atypischen Defekt im Verhältnis Parlament-Regierung“ fehlt es aber, wenn der Mehrheitskanzler die Vertrauensfrage stellt. 244 239

Parlamentarischer Rat, Bonn 1948/49, Schriftlicher Bericht, S. 31. BVerfGE 62, 1 (42). 241 Delbrück / Wolfrum, JuS 1983, 758 (761); vgl. Buettner / Jäger, DÖV 2006, 408 (410) m.w. N. 242 Schenke / Baumeister, NJW 2005, 1844 (1845). 243 Epping, in: v. Mangoldt / Klein / Starck, GG, Art. 68 Rn. 15; Starck, NJW 2005, 1053 (1054). 244 BVerfGE 62, 1 (41); Schenke / Baumeister, NJW 2005, 1844 (1845). 240

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Das Verfassungsprinzip der repräsentativen Demokratie sieht zudem vor, dass – mit Ausnahme von Art. 29 GG – die gewählten Volksvertreter und nicht das Volk die politische Verantwortung wahrnehmen. 245 Eine unbeschränkte unechte Vertrauensfrage würde auf eine plebiszitäre Instrumentalisierung des Art. 68 GG hinauslaufen, die dem bewusst repräsentativ-demokratisch angelegten Regierungssystem des Grundgesetzes widerspricht. 246 Eine Auslegung, die Art. 68 GG die Funktion eines voraussetzungslosen destruktiven Misstrauensvotums zukommen ließe, verbietet sich auch im Hinblick auf Art. 67 Abs. 1 S. 1 GG. 247 Die Norm bietet die Möglichkeit eines politischen Führungswechsels nur bei gleichzeitiger Neubesetzung der Position des Bundeskanzlers. Ziel des Art. 68 GG muss deshalb primär die Verhinderung einer vorschnellen Bundestagsauflösung und nicht die Auflösung des Bundestags sein. 248 Das Grundgesetz stellt dem Bundeskanzler ein Instrument zur Krisenbewältigung für den Fall zur Verfügung, dass der Konflikt zwischen Parlament und Regierung wegen Fehlens einer „konstruktiven Mehrheit“ nicht über Art. 67 GG zu lösen ist. Diese Ratio erfasst die von einem Mehrheitskanzler angestrengte „unechte“ Vertrauensfrage nicht. Wenn es einer im Wesentlichen nur in ihrer Ablehnung des Bundeskanzlers einigen Parlamentsmehrheit ermöglicht wäre, den Bundeskanzler im Wege der Vertrauensfrage zum Rücktritt zu bewegen oder Neuwahlen herbeizuführen, wäre de facto ein destruktives Misstrauensvotum etabliert. 249 Außerdem bestünde bei einer voraussetzungslosen Handhabung des Art. 68 Abs. 1 S. 1 GG die Gefahr, dem Bundeskanzler eine „über-legale Prämie auf den legalen Besitz der legalen Macht“ zu verschaffen. Im parlamentarischen Gesetzgebungsstaat, in dem sich der Machterwerb rein prozedural durch Erlangung der Mehrheit vollzieht, ist eine Prämie der Macht nicht auszuschließen, welche gleichsam wie ein Naturgesetz aus dem bloßen Innehaben der Macht herrührt. Sie kann die Chancengleichheit, eben jene Mehrheit zu erreichen, bedrohen. 250 In Zusammenhang mit Art. 68 Abs. 1 S. 1 GG könnte sie in der Möglichkeit der Regierungsmehrheit bestehen, den Wahltermin frei festzulegen. Dieses Potenzial darf man zwar – wie die Erfahrungen aus Großbritannien zeigen – nicht überschätzen. 251 Im Einzelfall ist ein Verstoß gegen Art. 3 Abs. 1, Art. 21 GG aber auch nicht auszuschließen. 252 245

Buettner / Jäger, DÖV 2006, 408 (410) m.w. N.; vgl. Schröder, in: HbStR III (2005), § 65 Rn. 41. 246 Gas, BayVBl. 2006, 65 (68 f.); Hermes, in: Dreier, GG, Art. 68 Rn. 7 m.w. N.; Pfeifer, VR 2005, 253 (255); Schenke, NJW 1982, 2521 (2523 f.); Schenke / Baumeister, NJW 2005, 1844 (1845). 247 Mager, Jura 2006, 290 (295) m.w. N. 248 Buettner / Jäger, DÖV 2006, 408 (412) m.w. N.; a. A.: Oldiges, in: Sachs, GG, Art. 68 Rn. 10. 249 Vgl. Schenke, in: BK-GG, Art. 68 Rn. 87. 250 C. Schmitt, Legalität und Legitimität, S. 31 ff., 35.

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G. Verfassungsrechtliche Determination gubernativer Entscheidungen

Schließlich spricht auch die Stellung des Bundespräsidenten für das gewonnene Auslegungsergebnis. Wäre der Bundespräsident in der Lage, ohne Vorliegen einer Krisensituation, die Entscheidung über die Auflösung des Bundestags zu treffen, würde ihm eine „größere Teilhabe an der Staatsleitung zuwachsen, als ihm das Grundgesetz eingeräumt“ hat. 253 Dagegen ließe sich einwenden, dass sich aus der relativen Machtlosigkeit, die das Amt des Bundespräsidenten im Kräfteverhältnis zwischen den obersten Staatsorganen für den Normalfall kennzeichnet, Folgerungen für den Ausnahmefall des Art. 68 GG nicht ziehen lassen. 254 Dem Bundespräsidenten soll jedoch nicht das Recht abgesprochen werden, auf Grundlage des Art. 68 GG ausnahmsweise eine eigene politische Entscheidung zu treffen. Dieses Recht wird vielmehr an besondere Voraussetzungen geknüpft, die den Ausnahmecharakter des Art. 68 GG begründen und einen besonderen Anteil des Bundespräsidenten an der Staatsleitung rechtfertigen. 255 (3) Teleologie Art. 68 GG bezweckt die Erhaltung von Stabilität und Funktionsfähigkeit des Regierungssystems. 256 Er gewährt ein Mittel, um die Kanzlermehrheit zu disziplinieren und das Parlament unter dem Druck seiner Auflösung zur Bildung einer regierungsfähigen Mehrheit anzuhalten. Mit dieser Zielsetzung wäre ein rein formelles Auflösungsrecht unvereinbar. 257 Hinzu kommt eine möglicherweise eher destabilisierende Wirkung von Wahlen, die zwar in anerkannter Weise Legitimität vermitteln, aber nicht notwendig auch Stabilität garantieren. Diese hängt nämlich von dem jeweiligen Wahlergebnis ab. Dabei ist es durchaus möglich, dass, je nach Wahlausgang, letztlich die Instabilität zwischen Regierung und Parlament größer ist als vorher. 258

251

BVerfGE 62, 1 (48); Gas, BayVBl. 2006, 65 (71); vgl. Liesegang, NJW 1983, 147

(149). 252

Vgl. Ipsen, in: Sachs, GG, Art. 21 Rn. 34; Meyer, DÖV 1983, 243 (245). BVerfGE 62, 1 (79) Sondervotum Rinck; zustimmend: Schenke, in: BK-GG, Art. 68 Rn. 86. 254 Mager, Jura 2006, 290 (293); vgl. Schenke, in: BK-GG, Art. 68 Rn. 86. 255 Delbrück / Wolfrum, JuS 1983, 758 (762); Löwer, DVBl. 2005, 1102 (1106). 256 BVerfGE 62, 1 (39, 42); Herzog, in: Maunz / Dürig, GG, Art. 68 Rn. 1; vgl. Schenke, NJW 1982, 2521 (2523). 257 Hermes, in: Dreier, GG, Art. 68 Rn. 7, 10; Oldiges, in: Sachs, GG, Art. 68 Rn. 18. 258 Hartwig, Der Staat 45 (2006), 409 (425); Löwer, DVBl. 2005, 1102 (1110). 253

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b) Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts aa) Bindung an den Normzweck In weitgehender Übereinstimmung mit den Ansätzen, die das Verfahren nach Art. 68 Abs. 1 S. 1 GG an materielle Voraussetzungen knüpfen, beschränkte das Bundesverfassungsgericht in seiner ersten Auflösungsentscheidung dessen Anwendungsbereich auf die Fälle einer instabilen, die Regierungsmehrheit erheblich störenden Lage im Verhältnis zwischen Regierung und Parlament. Sie ist anzunehmen, wenn es für den Bundeskanzler politisch „nicht mehr gewährleistet ist, mit den im Bundestag bestehenden Kräfteverhältnissen weiter zu regieren. Die politischen Kräfteverhältnisse im Bundestag müssen seine Handlungsfähigkeit so beeinträchtigen oder lähmen, daß er eine vom stetigen Vertrauen der Mehrheit getragene Politik nicht sinnvoll zu verfolgen vermag.“ Diese einschränkende Voraussetzung qualifizierte das Gericht als materielle Auflösungslage bzw. als „sachliches ungeschriebenes Tatbestandsmerkmal“ des Art. 68 GG. 259 Im Urteil vom 25. August 2005 spricht es auch vom „Zweck“ des Art. 68 GG: Die Auflösung des Bundestags sei nur verfassungsgemäß, wenn sie neben den formellen Anforderungen auch seinem Zweck entspreche. 260 Eine „negative“ Vertrauensfrage kann danach in verfassungsrechtlicher Weise nur der faktische Minderheitskanzler stellen. 261 Bei der Bewertung der eine materielle Auflösungslage begründenden Tatsachen räumt das Gericht dem Bundeskanzler einen Beurteilungs- und Einschätzungsspielraum ein. Um eine objektive Überprüfung dieses Einschätzungsspielraums zu gewährleisten, verpflichtet es den Bundeskanzler zur Vorlage objektiver Tatsachen, die seine Entscheidung rational nachvollziehbar erscheinen lassen. Liegen die Voraussetzungen des Art. 68 Abs. 1 S. 1 GG vor, kommt es nicht darauf an, ob bei der Entscheidung des Bundeskanzlers möglicherweise auch andere Motive eine Rolle gespielt haben. 262 Das Bundesverfassungsgericht konkretisierte in seinen Entscheidungen anhand verschiedener Szenarien, welche politischen Konstellationen zur Begründung eines Antrags nach Art. 68 Abs. 1 S. 1 GG nicht ausreichen: Danach liegt ein Verstoß gegen den Sinn des Art. 68 GG vor, wenn ein Bundeskanzler, dessen ausreichende Mehrheit im Bundestag außer Zweifel steht, sich die Vertrauensfrage negativ mit dem Ziel beantworten lässt, die Auflösung des Bundestags zu betreiben. 263 Auch die Übereinstimmung der im Bundestag vertretenen Parteien und Fraktionen vermag ein Auflösungsverfahren nach Art. 68 GG allein nicht zu rechtfertigen, da ein Selbstauflösungsrecht des Bundestags gerade nicht vorgesehen ist. 264 Die Hand259 260 261 262 263

BVerfGE 62, 1 (42, 44, 62). BVerfGE 114, 121 (132, 149). Schneider, in: AK-GG, Art. 68 Rn. 8. BVerfGE 62, 1 (62); 114, 121 (160 f., 166); Görisch, VR 2006, 192 (193). BVerfGE 62, 1 (42 f.); 114, 121 (151, 166); Schenke, in: BK-GG, Art. 68 Rn. 114 ff.

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G. Verfassungsrechtliche Determination gubernativer Entscheidungen

habung des Art. 68 GG durch den Kanzler allein mit dem Ziel, einen günstigen Neuwahltermin zu erhalten, widerspricht ebenfalls dessen Normzweck. 265 Art. 68 GG erfasst auch nicht den parteipolitischen Konflikt zwischen Bundestag und Bundesrat. Die Norm darf nicht instrumentalisiert werden, um „den Bundesrat mit einer Bestätigung der Bundesregierung zu delegitimieren“. 266 Umgekehrt sind Landtagswahlen nicht als Delegitimation des Handelns der Bundesregierung zu werten. 267 „Besondere Schwierigkeiten der in der laufenden Wahlperiode sich stellenden Aufgaben“ 268 oder öffentliche Kritik von Abgeordneten 269 vermögen eine Vertrauensfrage ebenso wenig zu rechtfertigen. Bei der Bearbeitung schwieriger gesellschaftspolitischer Themen sind Schwierigkeiten im Umgang mit der eigenen Fraktion oder zwischen Koalitionsfraktionen bei einem selbstbewussten Parlament vielmehr der „Normalfall“. 270 Die Tatsache, dass bei einer Neuwahl einer möglicherweise im Amt bestätigten Regierung mehr Zeit zur Realisierung ihrer politischen Ziele verbliebe als bei einem regulären Ablauf der Legislaturperiode, muss bei der Rechtfertigung der Vertrauensfrage unberücksichtigt bleiben. Mit diesem Argument ließe sich ein Auflösungsverfahren nach Art. 68 GG letztendlich immer rechtfertigen. 271 Auch eine Parlamentsauflösung mit dem alleinigen Ziel, einem durch ein konstruktives Misstrauensvotum neu gewählten Bundeskanzler eine zusätzliche „Legitimität“ zu verschaffen, wäre mit Art. 68 GG nicht vereinbar. „Nach dem Grundgesetz bedeutet verfassungsmäßige Legalität zugleich demokratische Legitimität. Eine andere Auffassung rührt an dem Sinn des demokratischen Prinzips der freien Wahl und des repräsentativen freien Mandats der Abgeordneten im Sinne des Art. 38 Abs. 1 GG.“ 272 Die Tendenz zur Personalisierung von Bundestagswahlen führt zu keinem Legitimationsdefizit eines solchen Kanzlers. Die politischen Parteien müssten sich ansonsten nach jedem konstruktiven Misstrauensvotum gemäß Art. 67 Abs. 1 S. 1 GG genötigt sehen, sich für Neuwahlen auszusprechen, wenn erst hierdurch die neue Regierung ihre volle Legitimation erhielte. 273 Die Auflösung des Bundestags darf schließlich nicht das Ziel verfolgen „einzelne Abgeordnete, Gruppen oder Fraktionen durch die Neuwahlen aus dem Parlament“ auszuschließen. 274 264 BVerfGE 62, 1 (43 f.); Buettner / Jäger, DÖV 2006, 408 (413, 415 f.) m.w. N.; Ipsen, NVwZ 2005, 1147 (1150); Starck, NJW 2005, 1053 (1056); für eine Rechtfertigung bei Konsens: Zeh, ZParl 1983, 119 (121). 265 BVerfGE 62, 1 (55); Zeh, ZParl 1983, 119 (122). 266 BVerfGE 62, 1 (46); 114, 121 (156); vgl. Schenke, ZFP 2006, 26 (32 f.); Starck, NJW 2005, 1053 (1055). 267 Löwer, DVBl. 2005, 1102 (1107). 268 BVerfGE 62, 1 (43). 269 BVerfGE 114, 121 (150). 270 Löwer, DVBl. 2005, 1102 (1108). 271 Schenke / Baumeister, NJW 2005, 1844 (1845). 272 BVerfGE 62, 1 (43); zustimmend: Löwer, DVBl. 2005, 1102 (1107). 273 Schenke, in: BK-GG, Art. 68 Rn. 124 f.

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bb) Anforderungen an eine materielle Auflösungslage Der Begriff des stetigen Vertrauens 275 impliziert, dass der Bundeskanzler die Vertrauensfrage nicht nur stellen darf, wenn er in der Gegenwart einen Verlust an Unterstützung zu beklagen hat, sondern auch, wenn er dies erst für die Zukunft befürchtet. 276 Das Erfordernis einer lediglich zukünftigen Instabilität hat das Bundesverfassungsgericht in der zweiten Entscheidung aus dem Jahre 2005 bestätigt und präzisiert: Es sprach den Bundeskanzler ausdrücklich von der Verpflichtung frei, einen Zeitpunkt für die Vertrauensfrage zu wählen, in welchem ein Zerwürfnis bereits irreparabel eingetreten ist. Der Bundeskanzler sei nicht gehalten, die Kräfteverhältnisse im Bundestag „auf die Probe zu stellen“. Er sei nicht gezwungen, die instabile Lage zu verschärfen, die er durch die auflösungsgerichtete Vertrauensfrage zu überwinden versuche, nur „um die rechtliche Prüfung zu vereinfachen“. Das Gericht lockert die rechtlichen Maßstäbe im Vergleich zu der Vorgängerentscheidung nochmals 277, wenn es nicht nur auf das gegenwärtige Vorliegen einer instabilen Lage verzichtet, sondern eine latente oder „verdeckte Minderheitssituation“ des Bundeskanzlers als materielle Voraussetzung für die verfassungsgemäße Anwendung des Art. 68 GG genügen lässt. 278 Sie soll vorliegen, wenn eine organisierte parlamentarische Mehrheit zwar dem von ihr gewählten Kanzler äußerlich politische Unterstützung leistet, „diese Unterstützung seines politischen Kurses aber in Wirklichkeit nicht so wirksam ist, dass der Bundeskanzler die von ihm konzeptionell vertretene Politik durchzusetzen vermag“. Deshalb müsse es „nicht offen und eindeutig zu Tage treten, ob der Kanzler und seine Regierung noch über eine verlässliche parlamentarische Mehrheit verfügen“. Im Ergebnis genügt nach Auffassung des Gerichts „die berechtigte Einschätzung des Bundeskanzlers, die Handlungsfähigkeit der Regierung im Hinblick auf die Mehrheitsverhältnisse im Parlament sei beeinträchtigt“. Die Handlungsfähigkeit unterstellt es als verloren, „wenn der Kanzler zur Vermeidung offenen Zustimmungsverlusts im Bundestag gezwungen ist, von wesentlichen Inhalten seines politischen Konzepts abzurücken und eine andere Politik zu verfolgen“. 279 cc) Kontrollrechtliche Probleme und Kritik Den verfassungsrechtlichen Schranken steht kein verfahrensrechtliches System zur Sicherung ihrer Einhaltung gegenüber: Indem die Richter nicht auf einen gegenwärtigen, tatsächlichen Verlust der Regierungsfähigkeit abstellen, sondern 274 275 276 277 278 279

BVerfGE 62, 1 (74). BVerfGE 62, 1 (44). BVerfGE 62, 1 (110) Sondervotum Rottman; Gas, BayVBl. 2006, 65 (66) m.w. N. Vgl. die Kritik bei BVerfGE 114, 121 (187) Sondervotum Lübbe-Wolff. BVerfGE 114, 121 (150 f., 154, 156 f., 161). BVerfGE 114, 121 (150 f., 154, 157).

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bereits eine dahingehende Befürchtung des Bundeskanzlers und eine Prognose zukünftiger Machtverhältnisse genügen lassen, unterlaufen sie letztlich ihre selbst aufgestellten rechtlichen Grenzen. 280 Da das Gericht auf ein „gerichtsfestes“ Kriterium verzichtet 281 und die Entscheidung des Bundeskanzlers gegen eine Richtigkeitskontrolle weitgehend „immunisiert“ 282, versetzt es jenen praktisch in die Lage, eine Entscheidungsfreiheit über die Parlamentsauflösung zu „usurpieren“. Von einer „Objektivierung des Tatbestandes“ 283 kann angesichts dieser „Entformalisierung“ 284 keine Rede sein. Sie läuft in den praktisch bedeutsamen Fällen knapper Mehrheiten auf die Regel „im Zweifel für den Bundeskanzler“ hinaus. Es kommt nur noch auf dessen „Argumentationskunst“ an. 285 Ein Gegenbeweis wäre hier nämlich fast immer ausgeschlossen. 286 Die Einschränkung der objektiven Tatbestandsmerkmale zugunsten von Einschätzungs- und Willenselementen bewirkt eine „faktische Gleichstellung“ von echter und unechter Vertrauensfrage. 287 Die Rechtsfrage, ob eine materielle Auflösungslage im Einzelfall vorliegt oder nicht, wird letztlich zu „einer Frage des politischen Wollens“. 288 Das freie Abgeordnetenmandat steht stets unter dem „Damokles-Schwert“ des Mandatsverlustes auf Initiative des Kanzlers bzw. unter einem „Kanzlerdiktat“, welches von diesem „freien Mandat“ kaum noch etwas übrig lässt. 289 Mit dem Erfordernis einer lediglich latenten Minderheitssituation 290 korrespondiert eine ebenso latente, jederzeit realisierbare Gefahr des Bundestags, sich mit einer Vertrauensfrage konfrontiert zu sehen. Diese Bedenken lassen sich auch nicht unter Hinweis auf die kombinierten Kontrollbefugnisse verschiedener Verfassungsorgane entkräften. Die Stellung mindestens zweier dieser Organe ist nicht frei von Zweifeln hinsichtlich der Wirksamkeit ihrer Kontrolle. Der Bundeskanzler ist Initiator und Kontrollinstanz zugleich und schon aus diesem Grund „originär befangen“. Die Verhältnisse im Bundestag sind durch eine „Verwobenheit von Regierung und Regierungsparteien“ gekennzeichnet sowie durch eine Opposition, die aus politischen Überlegungen einem „faktischen Zustimmungszwang“ unterliegt. 291

280 281 282 283 284 285 286 287 288 289 290 291

Epping, in: v. Mangoldt / Klein / Starck, GG, Art. 68 Rn. 21. Delbrück / Wolfrum, JuS 1983, 758 (762); Gusseck, NJW 1983, 721 (723). Hartwig, Der Staat 45 (2006), 409 (415). So aber bezeichnet es Oldiges, in: Sachs, GG, Art. 68 Rn. 19. Gusseck, NJW 1983, 721 (722 f.); vgl. Heun, AöR 109 (1984), 13 (30). Gas, BayVBl. 2006, 65 (67); vgl. Starck, NJW 2005, 1053 (1054). Gusseck, NJW 1983, 721 (723); Schenke, in: BK-GG, Art. 68 Rn. 149. Dickmann, BayVBl. 2006, 72 (73). Schlichting, JZ 1984, 120 (122); kritisch: BVerfGE 62, 1 (66) Sondervotum Zeidler. Schneider, ZFP 2006, 123 (123, 132). BVerfGE 114, 121 (161). Buettner / Jäger, DÖV 2006, 408 (411); vgl. Schenke, ZFP 2006, 26 (46 f.).

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c) Die Stellung des Bundespräsidenten im Auflösungsverfahren Liegen die verfassungsrechtlichen Voraussetzungen für eine Auflösungsanordnung vor, steht dem Bundespräsidenten – wie das „kann“ in Art. 68 Abs. 1 S. 1 GG indiziert – ein Recht zur Bundestagsauflösung zu. 292 Dabei handelt es sich um eine „politische Leitentscheidung“, die dem „pflichtgemäßen Ermessen“ des Bundespräsidenten obliegt. 293 Dies folgt auch bei systematischer Betrachtung aus dem Zusammenhang des Art. 68 Abs. 1 S. 1 mit Art. 63 Abs. 4 S. 3 und Art. 81 Abs. 1 S. 1 GG, die in Krisensituationen dem Bundespräsidenten ausnahmsweise eine politische Reservefunktion zuweisen. 294 Seine Entscheidung hat sich in erster Linie am Ziel der Regierungsstabilität und an der Chance auf klare Mehrheitsverhältnisse durch eine auf die Parlamentsauflösung folgende Neuwahl zu orientieren. 295 Es kommt maßgeblich darauf an, „ob die Auflösung des Bundestages und damit die Verkürzung der laufenden Wahlperiode des Art. 39 Abs. 1 S. 1 GG mit all ihren politischen Folgen sinnvoll ist und von ihm politisch vertreten werden kann“. 296 Die Ermessensentscheidung unterliegt justiziablen Bindungen, wie dem Rechtsmissbrauchsverbot. Ist absehbar, dass eine Mehrheit des Bundestags innerhalb der 21-Tage-Frist des Art. 68 Abs. 1 S. 1 GG einen Kanzler wählen will, wäre eine vorzeitige Auflösung rechtsmissbräuchlich. 297 Der Bundespräsident darf auch nicht darauf abstellen, ob er mit der derzeitigen Regierung und deren Politik einverstanden ist. Stützt der Bundespräsident seine Entscheidung auf derart evident sachfremde Erwägungen, kann ebenfalls Ermessensfehlerhaftigkeit vorliegen. 298 Abgesehen von den Fällen des Rechtsmissbrauchs erwächst aus der Pflichtgemäßheit der Ermessensentscheidung keine weitere inhaltliche Bindung. Insbesondere besteht in diesem Stadium des Verfahrens keine Präferenzpflicht zugunsten der Stabilität der amtierenden Regierung mehr, obgleich Art. 63, 67 und Art. 68 GG diese Zielrichtung verfolgen. 299 Von der Ermessensentscheidung des Bundespräsidenten zu unterscheiden ist die Frage nach den Tatbestandsvoraussetzungen des Art. 68 Abs. 1 S. 1 GG. 300 Problematisch ist, wie weit die Prüfung der Tatbestandsvoraussetzungen durch den 292 Hermes, in: Dreier, GG, Art. 68 Rn. 24; Heun, AöR 109 (1984), 13 (22); Schenke, in: BK-GG, Art. 68 Rn. 227; einschränkend: Epping, in: v. Mangoldt / Klein / Starck, GG, Art. 68 Rn. 35; Zeh, ZParl 1983, 119 (120 f.). 293 BVerfGE 62, 1 (35, 50); 114, 121 (148); vgl. Schneider, in: AK-GG, Art. 68 Rn. 13. 294 BVerfGE 62, 1 (35); Epping, in: v. Mangoldt / Klein / Starck, GG, Art. 68 Rn. 35. 295 Hermes, in: Dreier, GG, Art. 68 Rn. 24; Schenke, in: BK-GG, Art. 68 Rn. 232. 296 BVerfGE 62, 1 (50). 297 Schneider, in: AK-GG, Art. 68 Rn. 12. 298 Schenke, in: BK-GG, Art. 68 Rn. 234. 299 Epping, in: v. Mangoldt / Klein / Starck, GG, Art. 68 Rn. 36. 300 BVerfGE 62, 1 (35 f.); 114, 121 (148); Herzog, in: Maunz / Dürig, GG, Art. 68 Rn. 74 f.

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Bundespräsidenten reichen darf bzw. reichen muss. Während er die formellen Voraussetzungen vollumfänglich kontrollieren darf, will ihn das Bundesverfassungsgericht bei der Prüfung des ungeschriebenen materiellen Tatbestandmerkmals der politischen „Instabilität“ auf eine Evidenzkontrolle beschränken. Soweit nicht eine andere Bewertung „eindeutig vorzuziehen“ sei, bindet es den Bundespräsidenten an die Einschätzung des Bundeskanzlers. 301 Art. 68 GG ist keine Kopplungsnorm in dem Sinn, dass allein die Erfüllung der Tatbestandsvoraussetzungen das „Ermessen“ des Bundespräsidenten auf eine Verpflichtung zur Auflösung reduziert. 302 Die Einschränkung seiner Kontrollkompetenz bezieht sich nur auf die tatbestandlichen Voraussetzungen der Vertrauensfrage. Ein Ermessen bleibt dem Bundespräsidenten, der an den Vorschlag des Bundeskanzlers nicht gebunden ist, „de iure“ eingeräumt. 303 Angesichts der weitgehenden Verbindlichkeit der Einschätzung des Bundeskanzlers hinsichtlich der Tatbestandsvoraussetzungen unterliegt faktisch aber nur noch die Einhaltung der formalen Schritte der Verfassungsmäßigkeitskontrolle des Bundespräsidenten. 304 Sein materielles Ermessen reduziert sich praktisch auf Null. 305 „De facto“ kann er eine Entscheidung in eigener Verantwortung kaum noch treffen. 306 Eine von der Einschätzung des Bundeskanzlers abweichende Einschätzung der Voraussetzungen des Art. 68 GG wird in seine Erwägungen kaum mehr einfließen. 307 Es dürfte ihm schwer fallen, dem Auflösungsverlangen des Bundeskanzlers ein politisch motiviertes Votum entgegenzusetzen, insbesondere sich gegen den einmütigen Wunsch aller Fraktionsführungen im Bundestag zu entscheiden, wenn diese Neuwahlen befürworten und die Neuwahlankündigung bereits Wahlkampfaktivitäten und eine „schwer korrigierbare politische Eigendynamik“ entfaltet hat. 308 Aus diesem Grund wollen einige Autoren dem Bundespräsidenten bei seiner Prüfung eine effektivere Mitsprache einräumen, indem sie die rechtliche Verantwortung für das Vorliegen einer materiellen Auflösungslage allein auf das Staatsoberhaupt zu übertragen versuchen. Der Antrag des Kanzlers erschöpft sich 301 BVerfGE 62, 1 (51); 114, 121 (161); für eine Vertretbarkeitskontrolle: Schenke, in: BK-GG, Art. 68 Rn. 146; für ein „umfassendes und uneingeschränktes Prüfungsrecht“ BVerfGE 62, 1 (112) Sondervotum Rottmann. 302 Reimer, JuS 2005, 680 (682); Schenke, in: BK-GG, Art. 68 Rn. 229 f. 303 Ders., ZFP 2006, 26 (47); vgl. Epping, in: v. Mangoldt / Klein / Starck, GG, Art. 68 Rn. 35 f. 304 Heun, AöR 109 (1984), 13 (35). 305 Delbrück / Wolfrum, JuS 1983, 758 (760); Herzog, in: Maunz / Dürig, GG, Art. 68 Rn. 74. 306 Mager, Jura 2006, 290 (295); vgl. auch: Heun, AöR 109 (1984), 13 (33); a. A. wohl: Oldiges, in: Sachs, GG, Art. 68 Rn. 21, der die Korrektivfunktion der präsidentiellen Ermessensentscheidung nicht in Frage gestellt sieht. 307 Hartwig, Der Staat 45 (2006), 409 (413). 308 Schneider, ZFP 2006, 123 (130 f., 141); vgl. Schenke, ZFP 2006, 26 (47 f.).

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nach dieser Konzeption in einem Formakt. Sie soll den Bundespräsidenten in die Lage versetzen, eine ermessensfehlerfreie Entscheidung treffen zu können, ohne rechtlich an die Einschätzung des Kanzlers, die die Rechtmäßigkeit seines eigenen Antrags indiziert, gebunden zu sein. 309 „Echt“ sei dabei Tatbestandsvoraussetzung einer verfassungsgemäßen Vertrauensfrage, „unecht“ Rechtswidrigkeitsmerkmal einer Auflösung. 310 d) Konkretisierung der erforderlichen Krisenlage Die Problematik der mangelnden gerichtlichen Überprüfbarkeit der aufgestellten Tatbestandsmerkmale kann zu dem Schluss verleiten, deren Existenz schlechthin zu negieren. Dieser Weg hat sich bereits als verfassungsrechtlich unzulässig erwiesen. Die eigentliche Frage lautet daher, weshalb in dem Verfahren nach Art. 68 GG Prognoseentscheidungen notwendig und zulässig sind und welche Qualität eine Regierungskrise erreichen muss, damit sie gerichtlich überprüfbar ist. 311 Eine umfängliche Prüfungskompetenz des Bundesverfassungsgerichts lässt sich schon deshalb nicht begründen, weil es die Zukunft nicht besser kennt als ein staatliches Exekutivorgan. 312 Art. 68 GG enthält aber auch kein Gebot, wonach der Bundeskanzler sich notwendig auf eine zukünftige oder verdeckte Krisensituation berufen können muss. Diese Möglichkeit schwächt die Normativität der Verfassung nachhaltig, was kein Anliegen des Art. 68 GG sein kann. Der Begriff der „verdeckten Minderheitslage“ ist auch deshalb problematisch, weil sich Vertrauen zum Bundeskanzler gerade in Abstimmungsmehrheiten im Bundestag und nicht in außerparlamentarischem Verhalten artikuliert. 313 Knappe Mehrheiten im Bundestag vermögen als solche allein die Handlungsfähigkeit des Bundeskanzlers nicht schon zu beeinträchtigen. Sie sind historisch betrachtet keine Seltenheit. Ähnliches gilt für Austritte von Parlamentarien aus der Regierungspartei. 314 Deshalb erscheint es vorzugswürdig und erforderlich, auf eine offenkundige und gegenwärtige Regierungskrise als objektives Merkmal einer instabilen Lage zwischen Parlament und Regierung abzustellen. Nur der erwiesene Minderheitskanzler, der Abstimmungsniederlagen einstecken musste, darf die Vertrauensfrage stellen. 315 309 Pestalozza, NJW 2005, 2817 (2819); Mager, Jura 2006, 290 (295 f.); a. A.: Zeh, ZParl 1983, 119 (121 f.). 310 Löwer, DVBl. 2005, 1102 (1106): „Die Feststellungskompetenz liegt folglich beim Bundespräsidenten“. 311 Hartwig, Der Staat 45 (2006), 409 (414); vgl. Hermes, in: Dreier, GG, Art. 68 Rn. 3. 312 Herbst, Der Staat 45 (2006), 45 (65 f.). 313 Schenke, ZFP 2006, 26 (36); a. A.: Geiger, JöR 33 (1984), 41 (53); Görisch, VR 2006, 192 (194). 314 Buettner / Jäger, DÖV 2006, 408 (414). 315 BVerfGE 62, 1 (110) Sondervotum Rottmann; Gusseck, NJW 1983, 721 (723); Mager, Jura 2006, 290 (296); differenzierend: Löwer, DVBl. 2005, 1102 (1108); a. A.:

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Evident absichtlich herbeigeführte Niederlagen sind dagegen unbeachtlich. Der Anlass für die erstrebte Auflösung sollte über eine einzelne Sachfrage – auch wenn diese von besonderer Bedeutung ist – hinausgehen. Abstimmungsniederlagen wären eindeutig feststellbar. 316 Liegen diese Voraussetzungen vor, bedürfte es auch keiner weiteren Diskussion über die gerichtliche Kontrolldichte und den Einschätzungsspielraum des Bundeskanzlers. 317 Freilich ist Politik zu einem guten Teil „Inszenierung“. 318 Das Bundesverfassungsgericht darf sich aber nicht daran beteiligen, wenn das Recht ausreichend eindeutige Maßstäbe bereithält. Wenn überhaupt ein Verfahren in der Demokratie nach einem Höchstmaß an Transparenz ruft, dann ist es die Prozedur nach Art. 68 GG, die zur Auflösung einer gewählten Volksvertretung führen soll. „Was im demokratischen Verfassungsstaat vor einer Parlamentsauflösung nicht offen ausgetragen werden kann, ist auch nicht geeignet, sie zu legitimieren!“ Für eine Beschränkung des Antragsrechts auf den erwiesenen Minderheitskanzler spricht zudem, dass die Gewährleistungen des freien Mandats mit der Stellung des Bundeskanzlers und seinem daraus abgeleiteten Einschätzungsspielraum auf diese Weise ins Verhältnis gesetzt und nach Maßgabe „praktischer Konkordanz“ einander zugeordnet würden. Es könnten die Rechte beider im Verfahren nach Art. 68 GG zur Geltung kommen und würde nicht nur einseitig auf die Stellung des Bundeskanzlers abgestellt. 319 Sind die Tatbestandsmerkmale des Art. 68 GG nicht erfüllt, bleibt dem Bundeskanzler immer noch die Möglichkeit eines nicht ausdrücklich geregelten, aber von der Verfassung vorausgesetzten, Rücktritts. 320 Er kann aber eine unechte Vertrauensfrage mit dem Ziel von Neuwahlen nicht verfassungsgemäß herbeiführen, wenn er im Bundestag über eine stabile Mehrheit verfügt, aber zu der Auffassung gelangt, „dass seine Politik nicht mehr von der Mehrheit der Bevölkerung im Land getragen wird“. 321 Ferner darf gegenüber dem negativen Ergebnis der Vertrauensfrage nicht unmittelbar zuvor das Gegenteil bewiesen worden sein, wobei jedoch nicht jeder positiven Entscheidung des Bundestags der Charakter eines Gegenbeweises zuzuschreiben ist. So vermag ein Haushaltsbeschluss die negative Beantwortung der Vertrauensfrage in der Regel nicht zu widerlegen. Einem Haushalt stimmen die Parlamentarier aus sehr verschiedenen Gründen zu, teilweise sogar die Opposition. Vertrauen im verfassungsrechtlichen Sinn bekunden sie damit noch nicht. Es kann hier auch allein um die Funktionsfähigkeit des Staats gehen. Ein offensichtlicher Gegenbeweis anzunehmen wäre dagegen im Falle eines unmittelbar vorausgeganHermes, in: Dreier, GG, Art. 68 Rn. 18, der die vom BVerfG angenommene Krisenlage für ausreichend hält; Liesegang, NJW 1983, 147 (147 f., 149). 316 BVerfGE 62, 1 (66) Sondervotum Zeidler. 317 So das Bundesverfassungsgericht in E 114, 121 (156) selbst. 318 Ipsen, NVwZ 2005, 1147 (1150). 319 Schneider, ZFP 2006, 123 (131, 135, 137). 320 Vgl. Löwer, DVBl. 2005, 1102 (1107). 321 Schneider, ZFP 2006, 123 (140).

I. Normspezifische Betrachtung

181

gen Kreationsaktes, wie z. B. einer Regierungsbildung. 322 Verabschiedete Gesetze sollten eine Beziehung zu umstrittenen Grundsatzfragen der Politik des Bundeskanzlers aufweisen und den fraktionsinternen Kritikern des Bundeskanzlers ein weitreichendes politisches Zugeständnis abverlangen. 323 Bei ungünstigen Mehrheiten im Bundesrat ist der Nachweis erforderlich, dass die Verabschiedung eines Gesetzes daran scheiterte, dass die zur Zurückweisung eines Bundesratseinspruchs erforderliche Kanzlermehrheit im Bundestag nicht erreicht wurde. 324 Eine weitere Voraussetzung einer zulässigen unechten Vertrauensfrage ist das Vorliegen der Krisenlage im Zeitpunkt der Antragstellung durch den Bundeskanzler. Das Erfordernis einer Koinzidenz von Verhalten und Vorliegen von Tatbestandsvoraussetzungen ist ein nicht nur im Strafrecht anzutreffendes universales Rechtsprinzip. In Anbetracht des Normzwecks des Art. 68 GG wäre es sinnwidrig, wenn erst die Ankündigung der Vertrauensfrage selbst, sozusagen in Form einer „self-fulfilling prophecy“, den Mehrheitsverlust bewirken würde. 325 Das Erfordernis einer Krisenlage im Zeitpunkt der Antragstellung schließt nicht aus, dass sich danach und in der Zukunft die Einstellung der Bundestagsabgeordneten zum Kanzler und seinem politischen Programm jederzeit ändern kann. Auf derartige spätere Entwicklungen kommt es für die Beurteilung der Verfassungsmäßigkeit nicht an. 326 Dabei ist unerheblich, ob sie dazu beitragen, die Einschätzung des Bundeskanzlers zu stützen oder sie zu widerlegen. Man kann sich nämlich nicht in Manier einer „Rosinentheorie“ darauf beschränken, einseitig für den Bundeskanzler günstige zukünftige Entwicklungen zu berücksichtigen und ungünstige Tatsachen zu ignorieren. Diese restriktive Auslegung verbessert auch die Stellung des Bundespräsidenten. Er sähe sich nicht mehr mit einer entformalisierten Instabilitätsprüfung konfrontiert. Da die Tatbestandsvoraussetzungen seines Ermessens klar nachprüfbar wären, müsste er seine Entscheidung nicht auf vage Einschätzungen eines anderen Organs zu stützen. Die Gefahr einer tatsächlichen oder politischen Vorwegnahme seiner Entscheidung durch den Bundeskanzler wäre weitaus geringer. Er könnte seine Entscheidung bei Vorliegen der Voraussetzungen des Art. 68 GG allein am Gemeinwohl orientieren, ohne auf den Bundeskanzler Rücksicht nehmen zu müssen.

322

Zeh, ZParl 1983, 119 (122 ff.). Vgl. BVerfGE 114, 121 (169). 324 Schenke, ZFP 2006, 26 (33); vgl. Heun, AöR 109 (1984), 13 (30). 325 Löwer, DVBl. 2005, 1102 (1109). 326 BVerfGE 62, 1 (37 f.); Görisch, VR 2006, 192 (194): maßgeblich ist eine „ex tunc“-Beurteilung. 323

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G. Verfassungsrechtliche Determination gubernativer Entscheidungen

e) Ergebnis Art. 68 GG soll die Funktionsfähigkeit des politischen Prozesses und stabile Regierungsverhältnisse sicherstellen. Der Bundeskanzler muss das Vorliegen der Tatbestandsmerkmale prüfen, wenn er beabsichtigt, den Antrag zu stellen. 327 Das aus dem Normzweck hergeleitete, ungeschriebene Tatbestandsmerkmal der materiellen Auflösungslage und die durch die Norm vorgezeichneten Rechtsfolgen beschränken die Entscheidungsoptionen des Bundeskanzlers auf Zweckmäßigkeitserwägungen. Innerhalb des zulässigen Erwägungsbereichs entscheidet er nach pflichtgemäßem Ermessen, ob und wann er im Bundestag den Antrag nach Art. 68 Abs. 1 S. 1 GG stellt 328 und ob er ihn mit einer Sachfrage verbinden und einheitlich darüber abstimmen lassen will. 329 In diesem Rahmen dürfen politische Erwägungen eine maßgebliche Rolle spielen. Auch der Vorschlag des Bundeskanzlers an den Bundespräsidenten zur Auflösung des Bundestags ist ein unabhängiger, in dessen Ermessen stehender, Verfahrensschritt. Vertrauensfrage und Verfehlen der Kanzlermehrheit verpflichten den Bundeskanzler nicht zur Unterbreitung des Auflösungsvorschlags. 330 Der Bundeskanzler kann die Entscheidung aufgrund staatspolitischer Erwägungen treffen. 331 Aufgrund seiner engen tatbestandlichen Vorgaben und der eingeschränkten Verhaltensoptionen auf der Rechtsfolgenseite vermittelt Art. 68 Abs. 1 S. 1 GG aber keine Kompetenz zu zwecksetzenden Entscheidungen und eröffnet dem Bundeskanzler somit keine Gestaltungsfreiheit.

II. Grundgesetzliche Systematik Die speziellen und allgemeinen Regierungskompetenzen zur Staatsleitung sowie das legislative Gesetzgebungsrecht lassen sich nicht isoliert von den übrigen Vorschriften des Grundgesetzes auslegen. Nicht allein die jeweils einschlägige Kompetenznorm determiniert die Art und Weise der verfassungsrechtlichen Bindung der Staatsorgane. Sie erschließt sich daneben aus der grundgesetzlichen Systematik. 332 Für die Bestimmung der rechtlichen Determination einer Entscheidung 327

BVerfGE 62, 1 (50). So auch: Herzog, in: Maunz / Dürig, GG, Art. 68 Rn. 23; Junker, Die Richtlinienkompetenz, S. 90; a. A.: Oldiges, in: Sachs, GG, Art. 68 Rn. 34, der ein pflichtgemäßes, am Gemeinwohl orientiertes und zu stabilen Regierungsverhältnissen beitragendes politisches Ermessen ablehnt bzw. nur auf die formalen Umstände beschränkt wissen will und eine inhaltliche Bindung oder Ermessensreduktion ablehnt. 329 Schenke, in: BK-GG, Art. 68 Rn. 180; a. A.: Schöneberger, JZ 2002, 211 (212 ff.). 330 Reimer, JuS 2005, 681 (682); Schneider, in: AK-GG, Art. 68 Rn. 8. 331 Herzog, in: Maunz / Dürig, GG, Art. 68 Rn 45. 332 Magiera, Staatsleitung, S. 75. 328

II. Grundgesetzliche Systematik

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im Einzelfall kommt es deshalb auch darauf an, ob bestimmte Verfassungsbereiche nach der hier zugrunde gelegten Abgrenzung positive Steuerungsfunktion entfalten oder staatliches Handeln lediglich negativ begrenzen. 1. Grundrechte Eine positive materielle Steuerungsfunktion entfalten möglicherweise die Grundrechte. Die Grundrechte gehören aber jedenfalls in ihrer Eigenschaft als subjektive Abwehrrechte gegen staatliche Freiheitsbeschränkungen zu den negativen rechtlichen Vorgaben. Der Staat kann ihnen regelmäßig durch Unterlassen einer Regelung schon Genüge tun. 333 Sie stellen Grenze oder Negation seiner Kompetenzen und insofern „negative Kompetenznormen“ 334 dar, die den staatlichen Entscheidungsspielraum lediglich begrenzen. Mit Ausnahme der Leistungsrechte besteht die Funktion der Grundrechte nicht darin, Aufgaben und Richtung für das staatliche Handeln festzulegen. Auch bei institutionellen Gewährleistungen geht es ausdrücklich um die Erhaltung bestimmter Einrichtungen, weshalb sie sich von Zielsetzungen unterscheiden. 335 2. Staatsziele Im Unterschied zu anderen auf Sachinhalte gerichteten normativen Aussagen der Verfassung, namentlich den Grundrechten oder institutionellen Gewährleistungen, sind die Staatszielbestimmungen dadurch gekennzeichnet, dass sie in allgemeiner oder auch begrenzter Form Richtlinien für das staatliche Handeln aufstellen. Indem sie auf noch zu gestaltende Fragen hinweisen und der staatlichen Aktivität weniger Grenzen ziehen als ihr die Bahn weisen, sind sie durch einen „dynamischen Zug“ gekennzeichnet. 336 Sie richten Staatshandeln auf ein bestimmtes inhaltliches Ziel aus. 337 Missdeuten oder missachten die zuständigen Verfassungsorgane ein solch festgeschriebenes Ziel und bemühen sie sich noch nicht einmal um Annäherung, liegt ein Rechtsverstoß vor. Ein weiteres Charakteristikum der Staatsziele besteht darin, dass sie nicht self-executing sind und weder ein vollständiges Handlungsprogramm enthalten noch eine bestimmte vorab definierbare Rechtsfolge auslösen. Eine unmittelbar verbindliche, vollständige Verfassungsnorm – etwa das Verbot der Zensur oder die Abschaffung der Todesstrafe − wäre kein Staatsziel. Staatszielbestimmungen sind ihrem Gehalt nach Finalprogramme oder „Optimierungsgebote“ 338. Die festgelegten Ziele sind so 333 334 335 336 337

Meßerschmidt, Gesetzgebungsermessen, S. 23. Pieroth / Schlink, Grundrechte, Rn. 73. Scheuner, in: FS-Forsthoff, S. 325 (330 ff.). Ders., in: FS-Forsthoff, S. 325 (330 ff., 335 ff.). Sommermann, in: v. Mangoldt / Klein / Starck, GG, Art. 20 Rn. 5, 88.

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G. Verfassungsrechtliche Determination gubernativer Entscheidungen

allgemein, dass sich konkrete Handlungsanweisungen oder operationale Ziele aus ihnen nicht einfach durch logische Deduktion gewinnen lassen. 339 Sie vermögen als solche weder bestimmte Mittel notwendig zu legitimieren noch andere Mittel stets auszuschließen. Der intendierte Zustand soll zudem unter ökonomischen und sozialen Rahmenbedingungen eintreten, welche im Zeitpunkt der Zieldefinition noch gar nicht bestanden oder nur partiell absehbar waren. 340 Auch aus diesem Grund stehen mehrere Wege offen, um sich beispielsweise dem sozialen Staatsziel oder dem eines gesamtwirtschaftlichen Gleichgewichtes zu nähern. 341 Das Bundesverfassungsgericht leitet insoweit auch keine unmittelbaren verfassungskräftigen Rechte oder Institutionen – ohne legislatoris interpositio – ab. 342 Da Staatsziele als solche aber nicht zur Disposition stehen, determinieren sie das politische Handeln des Staats von innen heraus. Im sachlichen Anwendungsbereich von Staatszielbestimmungen reduziert sich die Gestaltungsfreiheit der Regierung auf ein politisches Ermessen. 343 3. Grundrechtliche Schutzpflichten Die Freiheitsrechte in ihrer abwehrrechtlichen Bedeutung verwehren Eingriffe in die von ihnen gewährleisteten Rechte des Bürgers. Der verfassungsrechtlich nicht mehr zu rechtfertigende Grundrechtseingriff markiert eine negative Kompetenzgrenze und zugleich die Grenze gesetzgeberischer Gestaltungsfreiheit. Innerhalb dieser Grenze besteht keine Zweckbindung staatlichen Verhaltens. Freie und autonome Lebensgestaltung hängt unter den heutigen gesellschaftlichen Verhältnissen jedoch nicht nur mehr von dem Unterlassen staatlicher Eingriffe ab, sondern in wachsendem Maße auch von der Schaffung und Erhaltung ihrer Voraussetzungen durch staatliches Verhalten. 344 Den grundrechtlichen Schutzpflichten lässt sich gemäß Art. 1 Abs. 3, Art. 20 Abs. 3 GG eindeutig entnehmen, dass die Staatsorgane zum Schutz verpflichtet sind. Ob die Regierung oder der Gesetzgeber zur Erfüllung einer Schutzpflicht Aktivität entfalten, richtet sich nicht nach deren politischen Programmen, sondern nach dem verfassungsrechtlich feststehenden Ziel der Schutzpflicht. Wie einer Schutzpflicht im konkreten Fall nachzukommen ist, darüber enthält die Verfassung aber in der Regel keine Aussage. Die Grundrechte würden überstrapaziert, wollte man aus ihnen via Schutzpflicht konkrete 338

Isensee, in: HbStR IV (2006), § 73 Rn. 8 f. Schuppert, Kontrolle, S. 203 m.w. N.; H. H. Klein, in: FS-F. Klein, S. 511 (520). 340 Gusy, JöR 33 (1984), 105 (126 f.); vgl. Scheuner, in: FS-Forsthoff, S. 325 (335 ff., 339 f.). 341 Isensee, in: HbStR IV (2006), § 73 Rn. 9; vgl. Forsthoff, VVDStRL 12 (1954), 8 (36). 342 Böckenförde, in: Recht, S. 143 (162) m.w. N. 343 Vgl. Isensee, in: HbStR VII (1992), § 162 Rn. 45. 344 Vgl. Pieroth, Jura 1984, 568 (570). 339

II. Grundgesetzliche Systematik

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Maßnahmen wie exakte Geschwindigkeitsbeschränkungen für den Straßenverkehr ableiten. 345 Die staatliche Reaktion auf terroristische Akte wie im Fall Schleyer darf für Terroristen nicht kalkulierbar sein. Eine gesetzliche Festlegung auf ein bestimmtes Mittel oder dessen Ableitung aus der Verfassung wäre mit der hier erforderlichen Flexibilität unvereinbar. 346 Schutzpflichten fordern positive Maßnahmen, bestimmen dabei aber weder Einschreitensschwelle noch Mittel oder Maß der Zielerreichung. 347 In dieser Konstellation ergeben sich strukturelle Spielräume. Der „strukturelle Spielraum“ besteht genau genommen aus zwei Spielräumen, einem Erkenntnisspielraum hinsichtlich des normativen Problems der Abwägung und einem Erkenntnisspielraum hinsichtlich des empirischen Problems der Effektivität. 348 Dieser beschränkte, an einem Normzweck ausgerichtete, Entscheidungsspielraum stellt eine typische Ermessenskonstellation dar. Dabei ist das Ermessen außerordentlich weit. Da der notwendige Interessensausgleich zwischen konfligierenden Grundrechten nicht durch eine allgemeine Regel präjudiziert ist, kommt Gesetzgeber und Regierung im Hinblick auf die zu schaffende „Konkurrenzlösung“ eine „Koordinierungsprärogative“ zu. 349 Im Bereich der Grundrechtskollisionen bzw. -koordination bilden das Prinzip der Einheit der Verfassung und das daraus abgeleitete Gebot der Herstellung praktischer Konkordanz die einzigen Ermessensrichtlinien. 350 In jedem Fall muss aber ein Mindeststandard an Grundrechtssicherheit gewährleistet sein. 351 Die Grenze der Verfassungswidrigkeit wird überschritten, wenn durch die Wahl eines bestimmten Mittels zugleich der Normzweck insgesamt verfehlt wird. Die Schutzpflichten zählen insoweit neben den Staatszielbestimmungen zu den verfassungsrechtlichen Bereichen, die eine positive Zweckbindung gubernativer und legislativer Tätigkeit vermitteln. Sie reduzieren Gestaltungsfreiheit in der Regel auf ein Ermessen hinsichtlich der Mittelwahl. 345

Hesse, in: FS-Mahrenholz, S. 541 (545 f.); Isensee, in: HbStR V (1992), § 111 Rn. 162. 346 Vgl. Starck, in: FS-BVerfG (2001) I, S. 1 (12); zu einem “Quantifizierungsverbot” in ähnlich gelagerten Fällen: Pieroth / Hartmann, Jura 2005, 729 (729 m.w. N.). 347 Heun, Schranken, S. 68 f. 348 Alexy, Theorie der Grundrechte, S. 420 f.: „So impliziert das Tötungsverbot jedenfalls prima facie das Verbot jeder Tötungshandlung, das Rettungsgebot demgegenüber nicht das Gebot jeder Rettungshandlung. Wenn es möglich ist, einen Ertrinkenden sowohl schwimmend als auch durch den Wurf eines Rettungsringes als auch mit Hilfe eines Bootes zu retten, sind keinesfalls alle drei Rettungshandlungen zugleich geboten.“, S. 423. 349 Isensee, in: HbStR V (1992), § 115 Rn. 147; Grabitz, Freiheit, S. 64: ohne Beschränkung auf Schutzpflichten. 350 Meßerschmidt, Gesetzgebungsermessen, S. 904 f. m.w. N.; vgl. Grabitz, Freiheit, S. 65. 351 Isensee, in: HbStR V (1992), § 111 Rn. 165; Scherzberg, DVBl. 1999, 356 (364) m.w. N.

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G. Verfassungsrechtliche Determination gubernativer Entscheidungen

4. Spezialfall: Auslandsschutz Grundrechtliche Schutzpflichten gewinnen im Kontext mit Regierungshandeln gerade in jüngster Zeit an Bedeutung. Immer öfter werden Deutsche Opfer von Entführungen oder Geiselnahmen. 352 Nicht auszuschließen sind auch völkerrechtliche Verstöße eines Staats gegenüber Privatpersonen. Es stellt sich in solchen Fällen die Frage, ob und wie die Regierung zu einer Intervention zugunsten deutscher Staatsbürger verpflichtet ist. Innerhalb des Auslandsschutzes unterscheidet man zwischen diplomatischem und konsularischem Schutz. Der diplomatische Schutz richtet sich gegen völkerrechtswidrige Handlungen eines anderen Staats. Konsularischer Schutz betrifft die Gewährung von Rat und Beistand an hilfsbedürftige Deutsche im Ausland. Der maßgebliche Unterschied liegt darin, dass diplomatischer Schutz gegenüber einem souveränen Staat gewährt wird und sich die Schutzgewähr in der Regel auf diplomatischem Wege vollzieht. Der völkerrechtliche diplomatische Schutz umfasst die völkerrechtliche Befugnis eines Staats, die Interessen seiner Staatsbürger im Ausland zu schützen. 353 Er regelt nur die Beziehungen zwischen Staaten. Eine allgemeine Regel des Völkerrechts (Art. 25 S. 1 GG), die einen Anspruch des Bürgers gegen seinen Heimatstaat auf Gewährung diplomatischen Schutzes begründet, existiert nicht. Für den Anspruch auf Gewährung des völkerrechtlich zulässigen diplomatischen Schutzes ist ausschließlich das innerstaatliche Recht maßgebend. 354 Für die Annahme einer Schutzpflicht der Regierung bei Sachverhalten mit internationaler Dimension kommt es darauf an, ob die grundrechtliche Schutzverpflichtung auch bei Auslandssachverhalten greift. Im Grundsatz ist die staatliche Bindung an die Grundrechte bei Sachverhalten mit Auslandsbezug anerkannt, wenn die Ausübung deutscher Staatsgewalt ihre Wirkungen im Ausland entfaltet. 355 Sie ist aber auf die abwehrrechtliche Funktion der Grundrechte beschränkt. Die Konstruktion der Schutzpflichten als Garantie der Integrität der jeweiligen Verfassungsgüter ist auf ein Tätigwerden der deutschen Staatsgewalt gerichtet, was eine Erstreckung dieser Grundrechtsfunktion auf den territorialen Bereich einer anderen Staatsgewalt nicht zulässt. Es wäre beispielsweise undenkbar, dass der deutsche Staat die freie Religionsausübung oder das Grundrecht auf Leben und körperliche Unversehrtheit in aller Welt garantieren muss. 356 Die bloße Hinnahme einer Rechtsverletzung seitens der Bundesregierung bedeutet keine Übernahme 352

Vgl. Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung vom 22. Juli 2007, Nr. 29 D, S. 1. Kötter / Nolte, DÖV 2007, 186 (186, 191) m.w. N. 354 Schomburg, Der „gerichtsfreie Hoheitsakt“, S. 93 f. m.w. N. 355 BVerfGE 6, 290 (295); 31, 58 (75); 40, 141 (166); Pieroth / Schlink, Grundrechte, Rn. 188 f. 356 Kötter / Nolte, DÖV 2007, 186 (190); Treviranus, DÖV 1977, 35 (36 f.). 353

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der Verantwortung für das Unrecht fremder Staaten. 357 Die deutsche Staatsgewalt ist nicht verantwortlich für den von einer fremden Staatsgewalt gesteuerten und von ihr zu verantwortenden Sachverhalt. Diese vom völkerrechtlichen Territorialitätsprinzip vorgegebene Abgrenzung lässt sich verfassungsrechtlich auch nicht über grundrechtliche Schutzpflichten aushebeln. 358 Dennoch unterliegt der Bund von Verfassung wegen der Pflicht, allen deutschen Staatsangehörigen, auch den im Ausland lebenden, gegenüber fremden Staaten diplomatischen und konsularischen Schutz zu bieten. 359 Diese im Grundgesetz nicht ausdrücklich erwähnte Schutzpflicht ergibt sich aus dem in Art. 16 GG geregelten staatsbürgerlichen Status bzw. aus der Grundbeziehung von Staat und Bürger. 360 Die Wahl des angemessenen Mittels steht dabei im Ermessen der Staatsorgane. Bei der Entscheidung sind die allgemeinen öffentlichen Interessen gegen das geltend gemachte Individualinteresse abzuwägen. Nur ganz ausnahmsweise kann sich die Freiheit der zuständigen Organe auf die Wahl eines bestimmten Mittels verengen. Die Interessen der Allgemeinheit können als höherwertig vorangestellt werden, wenn z. B. die guten Beziehungen zum Aufenthaltsstaat durch diplomatische Protektion nach den Vorstellungen des verletzten Bürgers gefährdet würden. Auch die Natur des verletzten Rechtsguts bestimmt die Priorität der Entscheidung über die Schutzgewährung. Leben, Gesundheit und Freiheit rangieren vor Vermögensinteressen. Handlungen und Unterlassungen der Bundesregierung kann der Bürger vor den Gerichten nur dann anfechten oder verlangen, wenn er schlüssig darlegt, dass die Regierungsorgane bei der Abwägung des Ob, Wie und Wann der Schutzgewährung ihren zulässige Beurteilungsspielraum überschritten haben oder ihnen Ermessensfehler unterlaufen sind. Der Anspruch auf Gewährung diplomatischen Schutzes gegenüber dem Ausland erschöpft sich sowohl hinsichtlich seiner Realisierbarkeit als auch hinsichtlich seines Ursprungs in einem subjektiven öffentlichen Recht auf rechtsfehlerfreie Ausübung des politischen Ermessens. Die Entscheidung über die Gewährung des Schutzes ist pflichtgemäß, wenn alle Gesichtspunkte des Einzelfalls beachtet und in ihrer Bedeutung zueinander in (verfassungs-) rechtlich nicht zu beanstandender Weise gewürdigt wurden. 361 Mit den Regeln des Konsulargesetzes hat der Gesetzgeber die verfassungsrechtliche Schutzverpflichtung konkretisiert. Einschlägige Rechtsgrundlagen für das 357

Ders., DÖV 1977, 35 (38); ferner: Isensee, Sicherheit, S. 30. BVerfGE 55, 349 (362 f.); 58, 9 (23); 66, 39 (62); Hailbronner, VVDStRL 56 (1997), 7 (16). 359 So auch ohne nähere Begründung: BVerfGE 6, 290 (299); 29, 183 (189); 36, 1 (31); 55, 349 (364 f.). 360 BVerfGE 37, 217 (241); vgl. Kötter / Nolte, DÖV 2007, 186 (191 f.); Treviranus, DÖV 1977, 35 (36 f.). 361 Schomburg, Der „gerichtsfreie Hoheitsakt“, S. 101 m.w. N.; Treviranus, DÖV 1977, 35 (36 f.). 358

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G. Verfassungsrechtliche Determination gubernativer Entscheidungen

Vorgehen in Fällen mit Auslandsbezug sind vor allem die §§ 5, 6, und 1 KonsG. Sie gewähren auf der Rechtsfolgenseite den verfassungsrechtlichen Vorgaben entsprechend Ermessen. Auch nach diesen Vorschriften besteht kein Anspruch auf eine bestimmte staatliche Maßnahme, sondern nur auf ermessensfehlerfreie Entscheidung. Bei ihrer Entscheidung kann die Behörde, ggf. auch der Bundesaußenminister selbst, Erwägungen anstellen, die bei reinen Inlandssachverhalten keine Rolle spielen dürfen. Die Rücksichtnahme auf das Völkerrecht, diplomatische Gepflogenheiten, die Situation im Gastland und die Berücksichtigung außenpolitischer Interessen Deutschlands sind Gesichtspunkte, die in die Ermessensentscheidung über konsularischen Schutz einzustellen sind. Besonders in Entführungsfällen ist die Entscheidung sehr komplex, was eine Handlungspflicht als einzige rechtmäßige Verhaltensalternative unwahrscheinlich erscheinen lässt. Das Argument, man dürfe sich als Staat nicht erpressbar machen, um nicht weitere Geiselnahmen zu provozieren, dürfte regelmäßig ein Grund sein, die Zahlung von Lösegeld abzulehnen. Das Spektrum möglicher Verhaltensoptionen reicht vom Absehen von jeglicher aktiver Intervention über die Beratung von Regierung und Polizei des Landes, in dem die Geiseln sich aufhalten, bis hin zur Selbstvornahme durch deutsche Einsatzkräfte − wie 1977 bei der Befreiung der Lufthansa-Maschine „Landshut“ in Mogadischu geschehen. 362 5. Ergebnis Im Bereich der verfassungsrechtlichen Schutzpflichten, Gebote und Staatsziele reduziert sich die umfassende gubernative Initiativ- und Gestaltungsentscheidung zumeist auf ein Auswahlermessen. So ist es der Bundesregierung nicht freigestellt, ob sie sich überhaupt mit dem Auslandsschutz eines deutschen Staatsbürgers befassen will. Ein politisches Ermessen ist ihr lediglich hinsichtlich der Frage eingeräumt, in welcher Weise sie Auslandsschutz gewährt und welche konkreten Maßnahmen sie ergreift.

362

Kötter / Nolte, DÖV 2007, 186 (189, 193) mit den Einzelheiten.

H. Politische Entscheidungsspielräume als Grenzen der Verfassungsgerichtsbarkeit Politische Entscheidungsspielräume der Bundesregierung oder des Bundeskanzlers sind auch die Kehrseite eingeschränkter verfassungsgerichtlicher Nachprüfung. Die Grenzen der Kontrollbefugnisse des Bundesverfassungsgerichts definieren zugleich die Kompetenz anderer Organe zur selbstständigen Konkretisierung und Fortentwicklung des Verfassungsrechts. 1 Was sich aus der Handlungsperspektive als Frage eines Gestaltungsspielraums darstellt, erscheint aus der Kontrollperspektive als Frage eines Letztentscheidungsrechts. 2 Je rigider die Kontrolle, desto größer ist der Anteil des Bundesverfassungsgerichts an der politischen Richtungsbestimmung. 3 Damit ist zugleich die Problematik seiner Stellung im Gefüge der Staatsfunktionen angesprochen. Die Diskussion betrifft dem Schwerpunkt nach das Verhältnis zum Gesetzgeber. Seine ausgewerteten Entscheidungen verdeutlichen aber, dass eine parallele Problematik auch für das Verhältnis zur Regierung im institutionellen Sinn existiert. 4 Im Fokus stehen die Fälle, in denen eine Verfassungsnorm Maßstäbe enthält, die in die verschiedensten Richtungen konkretisierungsfähig und -bedürftig sind. Es stellt sich hier die Frage, ob und warum das Bundesverfassungsgericht die „vertretbare“ Konkretisierung des Gesetzgebers oder der Regierung trotz entgegenstehender, aber gleichfalls nur „vertretbarer“ eigener Auffassung, bestehen lassen soll. Umgekehrt ließe sich ebenso argumentieren, dass das Gericht aufgrund seiner Zuständigkeit zur Kontrolle der übrigen Staatsorgane am Maßstab der Verfassung zu dieser Konkretisierung allein berufen ist. 5

I. Das Bundesverfassungsgericht als Gericht Die Bestimmung der Nachprüfungskompetenzen des Bundesverfassungsgerichts gegenüber dem Regierungsbereich muss zunächst von der institutionellen Funktion dieses „Verfassungsorgans“ 6 ausgehen. Diesen Standpunkt hat am poin1

Bryde, Verfassungsentwicklung, S. 302. Poscher, in: Hoffmann-Riem, Grundlagen, § 8 Rn. 61 (für die Verwaltungsgerichtsbarkeit). 3 Schuppert, Verfassungsinterpretation, S. 2 m.w. N.; vgl. dens., DVBl. 1988, 1191 (1192). 4 Heun, Schranken, S. 39 f.; Lorz, Interorganrespekt, S. 471; Roellecke, Politik, S. 140. 5 Meyn, Kontrolle, S. 399. 2

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H. Politische Entscheidungsspielräume

tiertesten Schlaich in seinem Bericht auf der Staatsrechtslehrertagung 1980 in Innsbruck entworfen und später weiterentwickelt. 7 Auch das Bundesverfassungsgericht ist ein Gericht. 8 Es gehört zum „justiziellen Legitimationstyp“. 9 Seine im Grundgesetz festgelegte Organstruktur ist maßgeblich durch seine Gerichtsförmigkeit geprägt. Hierzu zählen die indirekte personelle demokratische Legitimation, die Beschränkung auf enumerierte Antrags- und Verfahrensarten, die Bindung an das vorgebrachte Rechtsbegehren (ne ultra petita) und an den Kontrollmaßstab der Verfassung. 10 Vor allem das Fehlen eines Initiativrechts gehört zu den Wesenseigenschaften eines Gerichts. Es wird nur auf Antrag tätig. Hierin liegt ein maßgeblicher Unterschied im Sinn einer idealtypischen Unterscheidung zwischen der Judikative und den im engeren Sinn politischen Akteuren, Legislative und Gubernative. 11 Der politischen Entscheidungsbildung ist das Bundesverfassungsgericht weitgehend entzogen. Es ist institutionell so ausgestaltet, dass seine Willensbildung ihre entscheidenden Impulse nicht in erster Linie aus der politischen Auseinandersetzung bezieht. Dies stellen Instrumente wie die Richterwahl mit 2/3-Mehrheit, die lange Amtszeit, der Verzicht auf Wiederwahl und die persönliche und sachliche Unabhängigkeit sicher. Jeder Versuch einer stärkeren Anbindung des Gerichts an den politischen Prozess müsste seine Kontrollfunktion gefährden. 12 Noch wichtiger als diese institutionellen Grenzen 13 sind die Beschränkungen, die aus seiner Gerichtsnatur in materieller Hinsicht erwachsen. Wenn das Grundgesetz in Art. 92 ff. GG die Verfassungskontrolle einem Gericht überträgt, dann bedeutet dies, dass gerade diese „spezifisch richterliche Dimension in den Verfassungsprozess eingebracht werden soll“. 14 Aus der verfassungsrechtlichen Verpflichtung der Rechtsprechung auf das Recht (Art. 20 Abs. 3, Art. 97 Abs. 1 GG) ergibt sich, dass gerichtliche Kontrolle nach dem Grundgesetz notwendig und ausschließlich Rechtskontrolle sein darf. 15 6

Leibholz, JöR 6 (1957), 109 (112 f.); Starck, in: FS-BVerfG (2001) I, S. 1 (4 m.w. N.). Schlaich, VVDStRL 39 (1976), 99 (113 ff.); ferner: Heun, Schranken, S. 84; Vogel, Staatsorgane, S. 54 f. 8 Görisch, Recht und Politik 2006, 86 (89); Leibholz, JöR 6 (1957), 109 (120 f.); Schlink, JZ 2007, 157 (158). 9 Rinken, in: AK-GG, vor Art. 93 GG Rn. 105. 10 Heun, Schranken, S. 13; Rinken, in: AK-GG, vor Art. 93 GG Rn. 105; Roellecke, in: HbStR III (2005) § 67 Rn. 16; Rupp-v. Brünneck, AöR 102 (1977), S. 1 (3); Schlaich / Korioth, BVerfG, Rn. 512. 11 Bryde, Verfassungsentwicklung, S. 105; Isensee, in: HbStR VII (1992), § 162 Rn. 55. 12 Bryde, Verfassungsentwicklung, S. 343 mit Beispielen. 13 Hesse, in: FS-H. Huber (1981), S. 261 (262); ders., in: FS-Mahrenholz, S. 541 (541). 14 Bryde, Verfassungsentwicklung, S. 336. 15 Krebs, Kontrolle, S. 53; vgl. Klein, Staatsraison, S. 12; Wintrich, in: FS-Nawiasky, S. 191 (203). 7

III. Folgerungen für das Verhältnis zwischen Judikative und Politik

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II. Die politischen Organe Von dem Bundesverfassungsgericht als Rechtsprechungsorgan sind die „Träger der politischen Gewalt“, der Bundespräsident, der Bundestag, der Bundesrat und die Bundesregierung qualitativ zu unterscheiden. 16 Die politischen Organe sind zwar an Recht und Gesetz gebunden, zugleich aber auch kraft ihrer Kompetenz zur Staatsleitung zur Gestaltung des Gemeinwesens und zur Definition des Gemeinwohls berufen. 17 Im Vergleich zum Bundesverfassungsgericht sind sie demokratisch besonders legitimiert, da das Volk über ihre personelle Zusammensetzung zumindest mittelbar im Wege der Wahl entscheidet. Schließlich müssen sie sich vor dem Parlament und den Wählern für ihr Verhalten auch politisch verantworten. „Die Mitgliedschaft in Parlament und Regierung wird erlangt durch Wahl, die kein rechtliches Selektionskriterium kennt, sondern Bekundung des politischen Willens ist.“ 18 Die Regierung kann abgesetzt werden, die Verwaltung ist weisungsgebunden und das Parlament kann ersetzt werden. 19 Die Unabhängigkeit des Gerichts verhindert dagegen jede Verantwortlichkeit, selbst wenn es politische Aktivitäten entfaltet. Es trägt zwar auch Verantwortung, aber es ist nicht verantwortlich. 20

III. Folgerungen für das Verhältnis zwischen Judikative und Politik Unter dem Grundgesetz können Einwände grundsätzlicher Art, wie sie noch die Diskussion in der Weimarer Staatsrechtslehre prägten, gegen die Einrichtung einer Verfassungsgerichtsbarkeit nicht mehr bestehen. Eine derart umfassende Gerichtsbarkeit bekämpften einige Staatsrechtslehrer damals als unerträgliche Juridifizierung der Politik und Politisierung der Justiz. 21 Sie beriefen sich u. a. auf ein Wort von Guizot, wonach die Justiz dabei alles zu verlieren, die Politik aber nichts zu gewinnen habe. 22 Auch unter dem Grundgesetz warnten kritische 16

Rupp-v. Brünneck, AöR 102 (1977), 1 (3). Vgl. Hesse, in: FS-Mahrenholz, S. 541 (554); Schuppert, Verfassungsinterpretation, S. 22 f. m.w. N., 56. 18 Isensee, in: HbStR VII (1992), § 162 Rn. 46; Kissel, NJW 1982, 1777 (1779, 1782). 19 Doehring, in: FS-Stern, S. 1059 (1067); zur Legitimation der Rechtsprechung: Görisch, Recht und Politik 2006, 86 ff. 20 Doehring, in: FS-Stern, S. 1059 (1067); Merk, VVDStRL 9 (1952), Diskussionsbeitrag, 124 (126). 21 C. Schmitt, Verfassungslehre, S. 136; ders., Hüter, S. 40; a. A.: Kelsen, VVDStRL 5 (1929), 30 ff. 22 Guizot, Des conspirations, S. 109; kritisch auch: Weber, Spannungen und Kräfte, S. 29 f., 139. 17

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H. Politische Entscheidungsspielräume

Stimmen vor einer „Hypertrophie der Verfassungsrechtsprechung“ 23. Diese Bedenken erscheinen heute überzogen. Die materielle Rechtsprechungsfunktion des Bundesverfassungsgerichts muss aber in jedem Fall gewährleistet bleiben. „Die politische Rationalität des letztlich subjektiven und dezisionistischen Bewertens und Abwägens ist von einer politischen Legitimation getragen, über die das Bundesverfassungsgericht nicht verfügt.“ 24 Auch die fehlende rechtliche wie politische Sanktionierbarkeit der Rechtsprechungsakte untersagt es, der Rechtsprechung Anteil an der politischen Gestaltung des Gemeinwesens zuzusprechen. Eine als demokratisch bezeichnete Ausübung politischer Herrschaft muss nicht nur durch ein demokratisches Verfahren legitimiert, sondern auch revidierbar sein: Überall dort, wo das Grundgesetz die selbstständige Ausfüllung seines normativen Rahmens erlaubt, verlangt das Demokratieprinzip, dass nur diejenigen Organe entscheiden, welche in der Wahl wiederum zur Verantwortung gezogen werden können. 25 Der mit richterlicher Unabhängigkeit ausgestattete Verfassungsrichter gerät deshalb automatisch in einen Gegensatz zum demokratischen Prinzip, wenn er bewusst politische Entscheidungen trifft. 26 Entfällt, wie bei der Rechtsprechung die demokratische Verantwortlichkeit und Weisungsabhängigkeit, so ist die strenge Bindung an das Gesetz das „unerlässliche Korrelat dieser Unabhängigkeit gerade auch unter demokratischem Gesichtspunkt“. 27 Eine Substitution der richterlichen Kontrolle zugunsten der hier maßgeblichen parlamentarischen Kontrolle würde aber auch gegen den Gewaltenteilungsgrundsatz verstoßen. 28 „Das Verfassungsgericht muss sich im Rahmen der ihm von der Verfassung aufgetragenen Funktionen halten.“ Sie liegen nicht darin, gegenüber Gesetzgeber und Exekutive als „nebengeordneter oder gar konkurrierender politischer Entscheidungsträger aufzutreten“. 29 Es darf bei seiner Kontrolle anderer staatlicher Gewalten nicht so weit gehen, dass es der Sache nach deren Funktionen wahrnimmt und etwa anstelle der Regierung politische Entscheidungen trifft. 30 Auch aus diesem Grund kommt der Exekutive gegenüber der Judikative das Letztentscheidungsrecht über die Wahrnehmung von Spielräumen zu, die das Recht negativ oder positiv freistellt. 31 Bindung an das Recht bedeutet die Verpflichtung auf etwas Vorgegebenes, Objekthaftes und Erkennbares sowie auf erkenntnismäßige Tätigkeit. Der Recht23

Apelt, VVDStRL 9 (1952), Diskussionsbeitrag, 119 (120). Schlink, in: FS-BVerfG (2001) II, S. 445 (462). 25 Grimm, JZ 1976, 697 (700 f.); vgl. v. Bogdandy, Gubernative Rechtsetzung, S. 366. 26 Schuppert, Kontrolle, S. 216. 27 Böckenförde, Richterwahl, S. 79 (Hervorhebung im Original); vgl. Pieroth, EuGRZ 2006, 330 (334). 28 Schomburg, Der „gerichtsfreie Hoheitsakt“, S. 30 f. m.w. N. 29 Böckenförde, Richterwahl, S. 88 ff., 97; vgl. Klein, Staatsraison, S. 12 m.w. N. 30 Hesse, in: FS-H. Huber (1981), S. 261 (262, 265); zustimmend: Schuppert, DVBl. 1988, 1191 (1191). 31 Poscher, in: Hoffmann-Riem, Grundlagen, § 8 Rn. 61 (für die Verwaltungsgerichtsbarkeit). 24

III. Folgerungen für das Verhältnis zwischen Judikative und Politik

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sprechung ist außer dem Sachverhalt das Recht als Inhalt, als materielle Norm in Form eines Erkenntnisgegenstandes vorgegeben. Das enthebt im Kern die richterliche Gewalt von der schöpferischen Tätigkeit, vom neu gestaltenden Schaffen, wie sie die Rechtsetzung und die Erfüllung politischer Funktionen im Bereich der Regierung darstellen. Der Richter soll messen und nicht erst die Grundlage des Messens finden. 32 Rechtsprechung definiert Zippelius treffend als „Rechtsanwendung um der Rechtsverwirklichung selbst willen“. 33 Voraussetzung für ein Tätigwerden des Verfassungsgerichts ist das Vorliegen einer justiziablen Norm, die mithilfe der üblichen Interpretationsmethoden näher bestimmbar ist. Ohne solche „rational standards“ ist eine rechtsprechende Tätigkeit nicht möglich. 34 Da auch die politische Materie normierbar ist, stößt die Verfassungsgerichtsbarkeit erst dort an ihre Grenzen, wo der Richter ohne Anhalt im Verfassungsrecht frei entscheiden und damit selbst Recht setzen müsste, anstatt eine vorgegebene Norm auszulegen. 35 Im politischen Bereich ist eine Entscheidungskompetenz der Verfassungsgerichtsbarkeit nur dort eröffnet, wo politische Mängel und rechtliche Verstöße zusammenfallen. 36 In seiner Eigenschaft als Gericht ist das Bundesverfassungsgericht den anerkannten Grundsätzen der Gesetzesauslegung unterworfen. Den Sinngehalt einer Verfassungsnorm gilt es zu ermitteln auf Grundlage der Wortbedeutung, der grammatischen Konstruktion, der systematischen Stellung der Norm im Regelungsganzen, der Regelungsabsicht des historischen Gesetzgebers und in enger Verbindung mit diesen Kriterien durch objektiv-teleologische Gesichtspunkte. Selbst wenn bei der Interpretation zusätzliche Gesichtspunkte zum Tragen kommen, darf das Verfassungsgericht auf die „klassischen canones“ nicht verzichten. 37 Da rechtsprechende Tätigkeit methodisch verpflichtete Kognition und nicht Dezision ist, endet die legitime richterliche Entscheidung an dem Punkt, an dem „die logisch-kognitive Methode einer Entscheidungsfindung ihre wesensgesetzlichen Möglichkeiten überschreitet“. 38 „Die Grenzen der Konkretisierungsfähigkeit des materiellen Verfassungsrechts sind Grenzen der verfassungsgerichtlichen Kontrolle. Sie markieren den Übergang von (Verfassungs-) Recht zu Ethik und Politik.“ 39 Im Rahmen ihrer Funktion „Rechtsanwendung“ hat die Rechtsprechung die Kom32

Eichenberger, Unabhängigkeit, S. 96 f.; Jesch, Gesetz und Verwaltung, S. 226. Zippelius / Würtenberger, Deutsches Staatsrecht, § 47 I 1. 34 Leibholz, DVBl. 1974, 396 (397); vgl. Apelt, NJW 1953, 641 (643); Kaufmann, VVDStRL 9 (1952), 1 (9); Wolff, VVDStRL 9 (1952), Disskussionsbeitrag, 120 f. 35 Scheuner, in: FS-Smend (1952), S. 253 (295); ders., DVBl. 1952, 293 (298); Starck, in: FS-BVerfG (2001) I, S. 1 (7 f.); Wintrich, in: FS-Nawiasky, S. 191 (208). 36 Scheuner, in: FS-G. Müller, S. 379 (392). 37 Starck, in: FS-BVerfG (2001) I, S. 1 (19 m.w. N.) (Hervorhebung im Original). 38 Zeidler, DÖV 1971, 6 (12); vgl. Münch, Die Bundesregierung, S. 48. 39 Scherzberg, DVBl. 1999, 356 (363) m.w. N.; vgl. Gusy, JöR 33 (1984), 105 (109). 33

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petenz zu verbindlicher Letztentscheidung; ihre einzige Legitimation ist dabei Legalität im Sinn strikter Gesetzesdeterminierung. 40 Im Hinblick auf Art. 20 Abs. 3 GG ist eine Übertragung des aus dem angloamerikanischen Rechtsraum stammenden Grundsatzes der richterlichen Selbstbeschränkung („Judicial self-restraint“) auf das Bundesverfassungsgericht abzulehnen. Dieser Begründungsansatz geht davon aus, dass die Nachprüfungskompetenz des Gerichts dem Grunde nach bestehen bleibt, dass es aber aus Rücksicht auf die Funktionsfähigkeit des politischen Prozesses verzichtet, von seiner Nachprüfungskompetenz in vollem Maße Gebrauch zu machen. Selbst-Beschränkung würde jedoch Selbst-Ermächtigung voraussetzen. Judicial self-restraint kann deshalb unter dem Grundgesetz in zulässiger Form nur einem Appell gleichkommen, die Grenzen der eigenen Kompetenz nicht zu überschreiten und sich selbst auf die Einhaltung dieser Grenzen zu kontrollieren. Letztlich stellt sich die Frage der „Selbst“-Beschränkung als eine Bindung an Kompetenzen, also als ein verfassungsrechtliches Gebot dar. 41

IV. Kontrollmaßstab, Kontrolldichte und Kontrollkompetenz Eine materiell-rechtliche Perspektive 42 bestimmt die Grenze der Verfassungsgerichtsbarkeit mithilfe dreier Kriterien. Anhand des Kontrollmaßstabs, der Kontrolldichte und der Kontrollkompetenz. Der Kontrollmaßstab ergibt sich aus der Existenz rechtlicher Maßstäbe in Gestalt von Rechtsnormen, die, möglicherweise erst im Wege der Auslegung zu ermittelnde, verbindliche Anforderungen für staatliches Handeln bereithalten. 43 Die Kontrolldichte bezeichnet die Intensität der gerichtlichen Überprüfung. 44 Die Kontrollkompetenz, das Recht zur Letztentscheidung 45, endet gemäß Art. 20 Abs. 3 GG dort, wo das Recht keine Maßstäbe mehr vorgibt. Die Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts sichern den Primat des Rechts gegenüber dem Politischen nur dort, wo das Politische am Recht gemessen werden kann. 46 Wo es 40

Wintrich, in: FS-Nawiasky, S. 191 (202). Schenke, NJW 1979, 1321 (1324 f.); vgl. Böckenförde, Der Staat 29 (1990), 1 (26); Murswiek, DÖV 1982, 529 (532 f.); Wahl, Der Staat 20 (1981), 485 (505); Zuck, JZ 1974, 361 (364); befürwortend: Benda, ZRP 1977, 1 (4); Dolzer, Stellung des BVerfG, S. 86; Ehmke, VVDStRL 20 (1963), 53 (97 f.). 42 Böckenförde, Der Staat 29 (1990), 1 (26 f.); Scherzberg, DVBl. 1999, 356 (363); Stern, NWVBl. 1994, 241 (244 m.w. N.); vgl. Hailbronner, VVDStRL 56 (1997), 7 (14). 43 Papier, DÖV 1986, 621 (625). 44 Pache, Abwägung, S. 13 (Fn. 11); Schulze-Fielitz, in: Dreier, GG, Art. 19 Abs. 4 Rn. 119. 45 Sieckmann, DVBl. 1997, 101 (103). 41

IV. Kontrollmaßstab, Kontrolldichte und Kontrollkompetenz

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an rationalen und verbindlichen Maßstäben fehlt und nur noch subjektive Urteile zu treffen sind, beginnen „der Bereich und die Legitimität der Politik“. 47 Auch die Kontrolldichte bestimmt sich nach der Reichweite der materiellen Kontrollnormen, der Regelungsdichte. 48 Eine geringere Kontrolldichte kann aus der „Offenheit“ des materiell-rechtlichen „Maßstabsnetzes“ resultieren, in dessen „grobgliedrigen Maschen“ Freiräume bestehen in Bezug auf autonome Auswahlund Entschließungsentscheidungen, wie die Gestaltung von Sachlagen oder die Gewichtung von Belangen. 49 Umfang und Intensität gerichtlicher Kontrolle sind somit abhängig von dem Umfang und der Intensität der Bindung der Exekutive durch Gesetz und Recht. 50 Dagegen ließe sich zwar einwenden, dass man so zu einer Abstufung der richterlichen Verfassungskontrolle nach Maßgabe der Textgenauigkeit komme und gerade die schwierigen und hochgradig interpretationsbedürftigen Verfassungsnormen, namentlich die Grundrechte, weitgehend aus der Kontrollzuständigkeit des Bundesverfassungsgerichts entlassen müsste. Die verfassungsgerichtliche Überprüfung stünde bald vor einer „Alles oder Nichts“-Frage. 51 Außerhalb (textlicher) Bestimmtheit herrscht aber weder Verfassungsrechtslosigkeit noch entspricht dem Grad der Bestimmtheit des Verfassungstextes eine Abstufung zwischen mehr oder weniger wirksamem Verfassungsrecht. Dies gilt für den Bereich materieller Verfassungsnormen, etwa die Grundrechte, ebenso wie für den Bereich organisatorischer Verfassungsnormen. 52 Ein Auslegungsergebnis ergibt sich in der Regel nämlich nicht bereits aus dem Wortlaut, sondern erst unter Zuhilfenahme der erwähnten Auslegungsmethoden, die zu einem ganz anderen Ergebnis kommen können, als der Wortlaut es vermuten lässt. Wortlautdichte ist nicht mit Regelungsdichte gleichzusetzen. 53

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Leibholz, Strukturprobleme, S. 183. Pieroth / Schlink, Grundrechte, Rn. 293. 48 Korinek, VVDStRL 39 (1981), 7 (27); vgl. Heun, Schranken, S. 44, 84; Merten, DVBl. 1980, 773 (777); Papier, DÖV 1986, 621 (625); Schlaich / Korioth, BVerfG, Rn. 527; Stern, in: FS-Kriele, S. 411 (420). 49 Hoppe, in: FG-BVerwG (1978), 295 (296). 50 Pieroth / Kemm, JuS 1995, 780 (780) (Verwaltungsgerichte); Schmidt-Aßmann, in: FS-Menger, S. 107 (115). 51 Meßerschmidt, Gesetzgebungsermessen, S. 118, 396 m.w. N.; Riecken, Verfassungsgerichtsbarkeit, S. 442 f. 52 Magiera, Staatsleitung, S. 37. 53 Vgl. Isensee, in: HbStR VII (1992), § 162 Rn. 35. 47

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H. Politische Entscheidungsspielräume

V. Fehlender Kontrollmaßstab für die politische Zweckmäßigkeit Der Gedanke der „Einheit der Verfassung“ gebietet es, die durch die Verfassung gewährleisteten Rechte und die in ihr niedergelegten Staatsziele stets in ihrem Zusammenhang zu sehen und, soweit sie miteinander kollidieren, gegeneinander abzuwägen und zu einem gerechten Ausgleich zu bringen. 54 Nach dem hier zugrunde gelegten Verfassungsverständnis gibt es für die Rangfolge von Werten keinen verbindlichen Bezugspunkt. Die Vorstellung, welcher Nutzen einer Maßnahme für das Gemeinwohl zukommt, ist nicht messbar und daher auch nicht vergleichbar. Die Verfassung trifft keine Vorentscheidung, wie Interessens- und Grundrechtskollisionen konkret aufzulösen sind. 55 Diese „mehrdimensionalen Entscheidungen“ unterscheiden sich von den eindimensionalen Entscheidungen. Jene sind dadurch gekennzeichnet, „daß sich die gestellte Aufgabe nicht auf ein ZweckMittel-Problem zurückführen lässt, sondern Ziel- (Zweck-)Konflikte durch Abwägung aufzulösen sind“. 56 Als Beispiel soll das Wiedervereinigungsgebot dienen: Das Grundgesetz ließ die verschiedensten Wege zu seiner Erreichung zu. Welcher der möglichen Wege beschritten werden sollte – ob mit Adenauer zunächst im Wege der Westintegration unter Hintansetzung der staatlichen Einheit oder mit Brandt auf dem Weg der Entspannungspolitik – diese Entscheidung musste im politischen Willensbildungs- und Entscheidungsprozess fallen. 57 Bei politischen Entscheidungen handelt es sich in der Regel um solche Abwägungs- und Wertungsentscheidungen. Bewertungen sind subjektive Entscheidungen „mit denen von zwei Größen die eine der anderen vorgezogen wird“. Deshalb lässt sich auch die Richtigkeit und Zweckmäßigkeit solcher Entscheidungen verfassungsgerichtlich nur beschränkt widerlegen und nicht erweisen. Sie können in der Regel nur im Hinblick darauf getroffen und beurteilt werden, „daß sie Folgen haben, die ihrerseits wieder positiv oder negativ bewertet werden können, daß sie sich mit anderen Bewertungen besser oder schlechter vertragen oder daß sie Zustimmung oder Ablehnung finden.“ Zustimmung oder Ablehnung bedeutet, dass andere ebenso bzw. anders entscheiden. Zwar waltet auch hier Rationalität. Die Rationalität der Bewertung und Abwägung, des Werbens um und des Erreichens von Zustimmung ist aber die der Politik. 58 Deshalb ist es nicht Aufgabe des Bundesverfassungsgerichts, Entscheidungen der Regierung und der Gesetzgebung unter Zweckmäßigkeitsgesichtspunkten 54

Zippelius / Würtenberger, Deutsches Staatsrecht, § 7 I 2. Schuppert, Kontrolle, S. 199; vgl. Schlink, Abwägung, S. 153; ferner: Grabitz, Freiheit, S. 65 f. 56 Schuppert, Verfassungsinterpretation, S. 40 f., 51. 57 Ders., Verfassungsinterpretation, S. 37. 58 Schlink, in: FS-BVerfG (2001) II, S. 445 (455); vgl. Hesse, in: FS-Mahrenholz, S. 541 (556 f.); Schuppert, Kontrolle, S. 198 f. m.w. N. 55

VI. Die politische Funktion der Verfassungsgerichtsbarkeit

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nachzuprüfen. 59 Die Gerichte sind zum Setzen von Zwecken nicht berechtigt. 60 Die Prüfungsbefugnis erstreckt sich nicht darauf, ob aufgrund eines soziologisch-politischen Situationsbefundes in einer konkreten Situation eine bestimmte Regierungsmaßnahme opportun ist. 61 Die Korrektur einer für „unzweckmäßig“ erachteten Politik liegt nicht bei ihnen, sondern muss nach einem demokratischen Verfassungsverständnis der Wachsamkeit der Bürger, der politischen Diskussion und der Auseinandersetzung der politischen Kräfte überlassen bleiben. 62 Nimmt die Rechtsprechung trotz Fehlens eines hinreichend bestimmbaren normativen Maßstabs eine Kontrollfunktion wahr, läuft sie leicht Gefahr, die Bewertung des handelnden Organs durch eine eigene zu ersetzen und sich exekutive oder legislative Entscheidungsfunktionen anzumaßen. 63 Nur wenn Regierung oder Gesetzgebung ihre Entscheidungsspielräume missbräuchlich handhaben und der legislative Akt oder die sonstigen, dem Gericht unterstellten Maßnahmen als Willkür erscheinen, kann eine Verletzung des Rechts vorliegen, die vom Verfassungsgericht zu korrigieren ist. 64 Es wäre zwar verfehlt, das Bundesverfassungsgericht aus den politischen Realitäten völlig auszuschalten. Seine Entscheidung muss aber dem „objektiven politischen Sinngehalt der Verfassung“ gerecht werden. Es muss seinen Beurteilungsgegenstand an der „verrechtlichten Politik des Verfassungslebens“ und nicht an den politischen Richtlinien einer Partei seiner Richter bemessen. 65

VI. Die politische Funktion der Verfassungsgerichtsbarkeit Ohne eine wesensmäßige Dichotomie zwischen Recht und Politik anzuerkennen, ist Leibholz im Ergebnis darin zuzustimmen, dass „selbstverständliche“ Mindestvoraussetzung für die Tätigkeit eines Gerichts das Vorliegen rechtlicher Maßstäbe ist. Gegen eine ausschließliche Bestimmung der Grenzen der Verfassungsgerichtsbarkeit anhand des Gegensatzes Rechtsanwendung – Rechtsetzung bzw. anhand der Existenz interpretationsfähiger Normen argumentieren Teile der Literatur, Rechtsetzung und Rechtsanwendung ließen sich ebenso wenig kategorisch trennen wie Politik und Recht. 66 Es gebe im Aufgabenkreis des Bundesverfas59 Ehmke, VVDStRL 20 (1963), 53 (69); Merten, DVBl. 1980, 773 (777); Scheuner, DÖV 1952, 293 (296). 60 Schlink, Abwägung, S. 217. 61 Lenz, Prüfungsbefugnis, S. 103. 62 Vgl. Oettl, Gerichtsbarkeit, S. 28. 63 Brohm, NJW 1984, 8 (11); Seuffert, in: FS-G. Müller, S. 491 (497); vgl. Hesse, in: FS-Mahrenholz, S. 541 (554, 556 f.); Loewenstein, Verfassungslehre, S. 253 (für den US Supreme Court). 64 Leibholz, JöR 6 (1957), 109 (127); Stern, Staatsrecht II, § 39 II 6 lit. c). 65 Kassimatis, Regierung, S. 193.

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H. Politische Entscheidungsspielräume

sungsgerichts wohl einen unpolitischen, rein juristischen Bereich, der z. B. die Einhaltung von Verfahrensvorschriften sichere. 67 Angesichts des Entscheidungsmaßstabs in Form des Verfassungsrechts als „politisches Recht“ 68, der beteiligten Streitparteien und der Entscheidungsgegenstände ließe sich ein politischer Charakter verfassungsgerichtlicher Entscheidungen allerdings nicht vollständig eliminieren. 69 Die Beschränkung auf „rational standards“ führe sofort zu der nächsten Frage, ob eine auf den konkreten Tatbestand anwendbare Rechtsnorm bestehe und welchen Inhalt diese Norm habe. 70 Wenn das Bundesverfassungsgericht über das Vorliegen oder Nichtvorliegen einer Rechtsnorm entscheide und damit die politische oder nicht politische Qualität des Streitgegenstandes bestimme, müsse es streng genommen zunächst eine „politische“ Entscheidung treffen, um sodann „politische Entscheidungen zu verweigern“. 71 Außerdem widerspreche die Beschränkung der Zuständigkeiten des Bundesverfassungsgerichts auf „unpolitische Rechtsanwendung“ den Vorstellungen des Parlamentarischen Rates über die Stellung der Verfassungsgerichtsbarkeit. Die Wechselwirkung zwischen Recht und Politik habe er nicht nur gesehen, sondern die politischen Grundlagen und Rückwirkungen verfassungsgerichtlicher Entscheidungen auch bewusst gewollt. 72 Deshalb gestatte der Hinweis auf den wesensmäßigen Gegensatz von Recht und Politik keinen Rückschluss auf die Grenzen der Verfassungsgerichtsbarkeit. Durch die Normierung des Politischen werde auch die Politik zum Gegenstand verfassungsgerichtlicher Kognition. 73 In der Tat sind dem Bundesverfassungsgericht zahlreiche „hochpolitische“ Funktionen zugewiesen, wie die Entscheidung über eine Anklage des Bundespräsidenten mit der eventuellen Folge seiner Amtsenthebung (Art. 61 Abs. 2 GG). 74 Verfassungsstreitigkeiten sind immer auch politische Streitigkeiten. Gerade in dieser Tatsache liegt das eigentliche Problem der Einrichtung. 75 Der Einfluss politischer Erwägungen setzt schon bei der Auslegung der Norm und damit bei der Schaffung der rechtlichen Grundlage ein, die doch eigentlich dem Bereich des Politischen gegenüber stehen soll. 76 66 Schneider, NJW 1980, 2103 (2104); vgl. Benda, ZRP 1977, 1 (2, 4); Kelsen, in: FG-Giacometti, S. 143 (152). 67 Dichgans, in: FS-Geiger, S. 945 (961). 68 Triepel, VVDStRL 5 (1929), 2 (8). 69 Hesse, Verfassungsrecht, § 14 Rn. 565; vgl. Benda, ZRP 1977, 1 (4); Schenke, NJW 1979, 1321 (1329). 70 Schneider, Gerichtsfreie Hoheitsakte, S. 45; vgl. Bachof, VVDStRL 9 (1952), Diskussionsbeitrag, 118. 71 Lenz, Prüfungsbefugnis, S. 92; vgl. Meyer, Regierung, S. 138 f. 72 Gusy, Bundesverfassungsgericht, S. 51 m.w. N. 73 Starck, in: FS-BVerfG (2001) I, S. 1 (9); Schuppert, Kontrolle, S. 129; vgl. Laufer, Verfassungsgerichtsbarkeit, S. 293. 74 Schneider, ZFP 2006, 123 (136) mit weiteren Beispielen. 75 Triepel, VVDStRL 5 (1929), 2 (28); vgl. Stern, NWVBl. 1994, 241 (242 f.).

VI. Die politische Funktion der Verfassungsgerichtsbarkeit

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In der Methodenlehre ist seit langem anerkannt, dass sich Rechtsprechung nicht als reiner Erkenntnisakt definieren lässt, sondern kognitive und volitive Elemente in der richterlichen Entscheidung eine schwer trennbare Verbindung eingehen. 77 Bülow hat bereits 1885 in „Gesetz und Richteramt“ das schöpferisch-dezisionistische Element jeder richterlichen Entscheidung betont. In seiner Rektoratsrede hob er hervor, dass auch im Kodifikationssystem die Rolle des Richters nur unzulänglich mit der eines reinen Rechtstechnikers beschrieben werden könne. 78 Auch G. Jellinek 79 und Kelsen 80 weisen darauf hin, dass in jedem richterlichen Urteil − bald mehr, bald weniger − ein Dezisionselement enthalten sei. Für die Entscheidung, welche der verschiedenen vom Gesetz vorgegebenen Alternativen die „richtige“ ist, reicht die bloße Rechtstechnik oft nicht aus. 81 Die Unbestimmtheit verfassungsrechtlicher Normen ist zwar nur „relativ“. 82 Je geringer der Grad an Vollständigkeit und Bestimmtheit der Normen ist, desto stärker tritt aber die Dezision an die Stelle der Subsumtion 83, ehe sich ihnen konkrete inhaltliche Aussagen entnehmen lassen. 84 Als letztinstanzlicher Interpret kann das Bundesverfassungsgericht den Sinn eines vom Text her so elastischen Normenmaterials wie dem des Grundgesetzes in erheblichem Umfang selbst konkretisieren. 85 Wo genau die Grenze zwischen plangemäßer Offenhaltung und verbindlichen Vorgaben der Rechtsordnung verläuft und mit welcher Variationsspanne die Möglichkeiten freier „politischer“ Gestaltung innerhalb der normativen Rahmenwerte des Verfassungsrechts zu bemessen sind, entscheidet allein das Gericht. 86 Nicht anders liegt es bei der Frage, wo eine verfassungsrechtlich zulässige und sogar gebotene Auslegung einer Norm in einen unzulässigen Eingriff in den Kompetenzbereich der Politik umschlägt. Bezeichnenderweise stellte Smend anlässlich seines Festvortrags zum zehnjährigen Bestehen des Bundesverfassungsgerichts 1962 fest: „Das Grundgesetz gilt nunmehr praktisch so, wie das Bundesverfassungsgericht es auslegt, und die Literatur kommentiert es in diesem Sinne.“ 87 Zahlreiche Auto76

Vogel, Staatsorgane, S. 17. Rhinow, Methodik, S. 176 f. 78 Bülow, Gesetz und Richteramt, S. 4 ff.: „Die richterliche Thätigkeit hilft das vom Gesetz nur begonnene Rechtsordnungswerk fortzuführen und zu vollenden“. 79 G. Jellinek, Allgemeine Staatslehre, (3. Aufl.), S. 619 f.; vgl. Merkl, Allgemeines Verwaltungsrecht, S. 27. 80 Kelsen, VVDStRL 5 (1929), 30 (31, 44); ders., Reine Rechtslehre (1. Aufl.), S. 82. 81 Dichgans, in: FS-Geiger, S. 945 (946); Gusy, Bundesverfassungsgericht, S. 50. 82 Roellecke, Politik, S. 170 ff.; vgl. Schenke, NJW 1979, 1321 (1322 f.). 83 Scheuner, DVBl. 1952, 293 (298); vgl. Grimm, JuS 1969, 501 (509); Klein, Staatsraison, S. 18. 84 Wittig, Der Staat 8 (1969), 137 (151). 85 Bryde, Verfassungsentwicklung, S. 107. 86 Korinek, VVDStRL 39 (1981), 7 (45); vgl. Friesenhahn, ZRP 1973, 188 (193). 87 Smend, in: Verfassungsgerichtsbarkeit, S. 329 (330). 77

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H. Politische Entscheidungsspielräume

ren haben dem Bundesverfassungsgericht deshalb eine tatsächliche „KompetenzKompetenz“ 88 bescheinigt. Die Formel, wonach die Justiziabilität des Verfassungsrechts die Kontrollkompetenz des Bundesverfassungsgerichts begrenzt, enthält somit nur eine erste allgemeine Kompetenzbestimmung. 89

VII. Versuch einer Kompetenzabgrenzung 1. Kombination materiell-rechtlicher und funktionell-rechtlicher Kriterien Ausgehend von der Parallelisierung von Rechtsanwendung und Rechtsetzung, die es ermöglicht, die strukturelle Leistungsfähigkeit eines Entscheidungsträgers zu berücksichtigen 90, fragt ein funktionell-rechtlicher Ansatz 91 unter dem Aspekt der Gewaltenteilung und des Demokratieprinzips, ob die seitens der politischen Staatsorgane und des Bundesverfassungsgerichts jeweils in Anspruch genommenen Kompetenzen eine angemessene, funktionsgerechte Aufgabenverteilung zwischen Exekutive / Legislative und Judikative gewährleisten (Organadäquanz). 92 Es gehe darum, „welche Instanz innerhalb eines komplexen Entscheidungszusammenhangs für welche Entscheidungen die primäre Verantwortung tragen soll“. 93 Dabei ziehen einige Stimmen auch die Grundsätze des Interorganrespekts 94 bzw. der Verfassungsorgantreue 95 heran. Eine Rechtskontrolle scheitert nach dieser Konzeption weder an einer rechtlichen Maßstabslosigkeit staatlicher Entscheidungen noch an Entscheidungsspielräumen, die Rechtssätze staatlichen Organen eröffnen. Dafür spreche neben der Einbindung der Verfassungsgerichtsbarkeit in das Kompetenzgefüge staatlicher Funktionsträger der Umstand, dass sich die Frage nach der Kompetenzabgrenzung insbesondere dort stelle, wo die für den „Akteur“ wie den „Kontrolleur“ gleichermaßen heranzuziehende Entscheidungsnorm Entscheidungsalternativen eröffne, die sich nur mithilfe weiterer, konkretisierender Maßstäbe reduzieren lassen. 96 Dabei gehe es aber nicht um die Frage nach der Bindung der Regierung an das Recht, sondern um die Verteilung der Entscheidungsgewalt und der Verantwortung auf die Staatsorgane. 97 88 Isensee, in: HbStR VII (1992), § 162 Rn. 86; Schlaich, VVDStRL 39 (1981), 99 (105). 89 Rinken, in: AK-GG, vor Art. 93 Rn. 79. 90 Ders., in: AK-GG, vor Art. 93 Rn. 100 f. 91 Gusy, Bundesverfassungsgericht, S. 90 f.; vgl. Schneider, NJW 1980, 2103 (2104 f.). 92 Rinken, in: AK-GG, vor Art. 93 Rn. 99; vgl. Ossenbühl, DÖV 1980, 545 (548); Vogel, Staatsorgane, S. 77 f. 93 Vgl. Schmidt-Preuß, DVBl. 1970, 535 (538 m.w. N.). 94 Lorz, Interorganrespekt, S. 471 f. m.w. N. 95 Schenke, Verfassungsorgantreue, S. 117 ff.; vgl. Murswiek, DÖV 1982, 529 (533). 96 Krebs, Kontrolle, S. 100 ff.

VII. Versuch einer Kompetenzabgrenzung

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Eine Funktionsbegrenzung der Verfassungsgerichtsbarkeit kann in der Tat nicht gelingen, solange sie nur in der Form der Selbstbezogenheit, also aus der Betrachtung der eigenen Funktion, gleichsam von innen heraus geschieht. 98 Andererseits überzeugt die Bestimmung der Kontrollkompetenz der Verfassungsgerichtsbarkeit allein nach Maßgabe ihrer Stellung im Gefüge des demokratischen Verfassungsstaats 99 in dieser Pauschalität ebenso wenig. Diese Konzeption müsste das Bundesverfassungsgericht letztlich als autonomen Teilnehmer am politischen Prozess oder als ein Regierungsorgan besonderer Art 100 begreifen, was auf entschiedene Ablehnung stoßen muss. Die grundgesetzliche Funktionenordnung geht gerade von der Existenz demokratisch, legitimierter politischer Organe im Gegensatz zu der rechtsprechenden Gewalt aus. Einer kategorischen Entgegensetzung materiell-rechtlicher und funktionell-rechtlicher Abgrenzungskriterien ist auch deshalb nicht zu folgen, da jedes Interpretationsprinzip eine materiell- und eine funktionellrechtliche Bedeutung hat. 101 Es besteht keine „Autonomie der Funktionen“. Die Funktionen sind vielmehr selbst erst im Wege der Interpretation aus der Verfassung zu gewinnen. Die Verfassungsgerichtsbarkeit lässt sich nicht unabhängig von den ihr zugewiesenen Kompetenzen, sondern erst aus ihnen heraus erklären. 102 Die Grenzen richterlicher Kontrolle sind folglich in erster Linie eine Frage der Kontrollmaßstäbe. 103 Die verfassungsgerichtliche Funktion ist im Hinblick auf die konkreten Überprüfungsmaßstäbe abzugrenzen. Erst in zweiter Linie handelt es sich um die Ermittlung der funktionellen Grenzen der Verfassungsgerichtsbarkeit anhand der im Grundgesetz vorgenommenen Aufgabenteilung zwischen Exekutive und Legislative einerseits und Judikative andererseits. 104 Die rein materiellrechtliche Abgrenzung hilft beispielsweise in den Fällen nicht immer weiter, in denen die Rechtsprechungstätigkeit faktischen, also gerade keinen materiell-rechtlichen Grenzen, unterliegt. Die unterschiedlichen Funktionen von Rechtsprechung und Politik können hier Aufschluss darüber geben, wie weit die Kontrollkompetenz reicht und wem das Letztentscheidungsrecht in solchen Fällen zustehen soll. Funktionell-rechtliche Aspekte kann die Verfassungsinterpretation als zusätzliche Abgrenzungskriterien auch dort heranziehen, wo das materielle Recht allein nicht aussagekräftig genug ist. Bei vagen rechtlichen Maßstäben muss die Kontrolldichte der Struktur der materiell-rechtlichen Kontrollmaßstäbe entsprechen. Die an sich gebotene und zulässige Konkretisierungstätigkeit unterliegt aus funktionell97

Müller, in: FS-H. Huber, S. 109 (111). Meyn, Kontrolle, S. 397. 99 Ossenbühl, in: FS-BVerfG (1976) I, S. 458 (470). 100 Drath, VVDStRL 9 (1952), 17 (96); Koellreutter, Staatsrecht, S. 214. 101 Ehmke, VVDStRL 20 (1963), 53 (73). 102 Böckenförde, Der Staat 29 (1990), 1 (26). 103 Heun, Schranken, S. 44, 84. 104 Vgl. Hailbronner, VVDStRL 56 (1997), 7 (14). 98

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H. Politische Entscheidungsspielräume

rechtlichen Gründen möglicherweise Restriktionen, so dass der Politik eigene Entscheidungsspielräume verbleiben. Letztlich kommt es maßgeblich darauf an, die funktionell-rechtliche Dimension jedes materiellen Interpretationsprinzips als dessen integralen Bestandteil zu verstehen, der auch bei der Bewertung der Auslegungsmethode von erheblichem Gewicht sein muss. 105 2. Verpflichtung auf eine juristische Methode Die methodische Entgegensetzung von Rechtsanwendung und Rechtsetzung leistet keine in jedem Falle abschließende Kompetenzabgrenzung zwischen Verfassungsgerichtsbarkeit und Exekutive bzw. Legislative. Die hierauf gestützte Funktionenteilung zwischen den verschiedenen Verfassungsorganen ist teilweise idealtypischer Natur und lässt sich nicht bis in alle Einzelheiten streng durchführen. 106 Politische Elemente in verfassungsgerichtlichen Entscheidungen sind nicht per se „etwas Regelwidriges“. 107 Dieser Umstand rechtfertigt indes noch kein „Herauswachsen“ des Bundesverfassungsgerichts aus seiner Funktion als Gericht in die Rolle eines politischen Akteurs oder eines Mitproduzenten von Rechtsnormen. 108 Rechtsprechung ist zwar keine „angewandte Rechtswissenschaft“. Ungeachtet ihrer Teilnahme an Rechtsgestaltung und Rechtsfortbildung bleibt sie aber „balancierender Widerpart“ der Politik, mit eigener Rationalität und eigener Legitimation. 109 Die „Notwendigkeit“ eines „politischen Elementes“ in verfassungsgerichtlichen Entscheidungen ist aus diesem Grund auch nicht zu überschätzen. Die Konkretisierung verfassungsrechtlicher Normen verlangt wohl in höherem Maße wertende Tätigkeit als die Arbeit am einfachen, häufig sehr viel bestimmter gefassten Gesetz. In beiden Fällen handelt es sich aber um strukturell gleichartige Vorgänge. 110 Das Einfließen dezisionistischer Elemente in die Entscheidungsfindung schließt weder das Vorliegen von Erkenntnisvorgängen aus noch vermag der Hinweis auf seine notwendige Existenz die grundsätzliche Trennung von Rechtsetzung und Rechtsanwendung zu relativieren: Larenz legt zutreffend dar, dass die Urteilsfindung, genauso wie die Auslegung und Fortbildung des Gesetzes, zwar eine schöpferische Leistung darstellt. Dies besage aber keineswegs, dass sie Äußerungen des Rechtsgefühls oder Willensvorgänge und keine Erkenntnisvorgänge seien. Es gebe nämlich auch „schöpferische Erkenntnisleistungen“. 111 Aus der Sicht der Erkenntnistheorie ist es etwas „Grundverschiedenes, ob eine 105 106 107 108 109 110 111

Schuppert, Verfassungsinterpretation, S. 9. Vgl. Maunz / Zippelius, Deutsches Staatsrecht, § 47 I 2. Leibholz, Strukturprobleme, S. 173. Pieroth, in: Wechselwirkung, S. 11 (26); vgl. Böckenförde, Richterwahl, S. 71. Schlink, in: FS-BVerfG (2001) II, S. 445 (456, 462). Hesse, Verfassungsrecht, § 14 Rn. 565. Larenz, Methodenlehre, S. 61; ähnlich: Scheuner, DVBl. 1952, 293 (296).

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Person in bewußter ausschließlicher Bindung an heterogene Rechtsmaßstäbe einem Fall gegenübertritt und unter dem Zwang steht, die eigene Entscheidung rational auf diese Maßstäbe zurückzuführen oder aber in der Vorstellung, aus der Tiefe des eigenen Gemüts und eigener Vorstellungen schöpfen und das Recht selbst gestalten zu dürfen“. 112 Das notwendige Bewusstsein um die politische und soziale Funktion jeder Rechtsprechung einerseits und die gezielte Korrektur von Mehrheitsentscheidungen aus politischen Gründen andererseits sind zwei sehr unterschiedliche Ausgangspunkte. 113 Dezisionistische Elemente, die faktisch in den Erkenntnisprozess einfließen, sind zu minimieren. 114 Sie dürfen sich allenfalls als unbewusste und methodisch unvermeidbare „Nebenfolge“ 115 ergeben. Soweit die Rechtsprechung schöpferisch tätig wird, hat sie nur bestehende Normen „zur Entfaltung“ zu bringen. 116 Verfassungsgerichtliche Entscheidungen müssen von einer Objektivität sein, hinter der die Subjektivität des entscheidenden Richters möglichst zurücktritt. 117 Zu den ganz wesentlichen Elementen rechtsprechender Tätigkeit zählt die „Bindung an eine gesicherte juristische Methode“. 118 Sie ermöglicht es, politische Opportunitätserwägungen zu filtern. Sie steht unter besonderen argumentativen Restriktionen, die tages- und parteipolitische Argumente ausschließen und systemeigene Abhängigkeiten schaffen, die vielfach quer zu rechtspolitischen Positionen liegen. 119 Die methodisch und dogmatisch 120 sorgfältige Begründung 121 verfassungsgerichtlicher Entscheidungen ist wesentliche Voraussetzung ihrer „intersubjektiven Überzeugungskraft“. 122 Sie sollte erkennen lassen, dass das Gericht sein Ergebnis in methodisch kontrollierbarer Weise auf einen Rechtssatz der positiven Verfassung zurückführt. Ihr kommt eine kompensatorische Funktion in den Fällen zu, in denen wenig bestimmte Verfassungsnormen der Maßstab für die Kontrolle sind. Sie ermöglicht Transparenz und Nachvollziehbarkeit der tragenden Argumentationslinien und auch ein Stück fachlicher und öffentlicher Kontrolle 112 Rupp, Verwaltungsrechtslehre, S. 193; vgl. auch: Merten, DVBl. 1980, 773 (778 m.w. N.). 113 Benda, ZRP 1977, 1 (4 f.). 114 Wittig, Der Staat 8 (1969), 137 (157 m.w. N.); Zeitler, JöR 25 (1976), 621 (632). 115 Grimm, JZ 1976, 697 (700 f.) spricht von „Sachzwang“; Lorenz, Rechtsschutz, S. 25. 116 Scheuner, in: FS-Smend (1952), S. 253 (275). 117 Schlink, in: FS-BVerfG (2001) II, S. 445 (456); vgl. dens., Abwägung, S. 49 f. 118 Böckenförde, in: FS-Scupin (1983), S. 317 (330) (Hervorhebung im Original); vgl. Pieroth, in: Wechselwirkung, S. 11 (24). 119 Poscher, in: Hoffmann-Riem, Grundlagen, § 8 Rn. 54. 120 Zu der Kritik an der Verabschiedung des Gerichts „von der Tradition dogmatischer Rechtswissenschaft und Rechtsprechung“, vgl. Schlink, JZ 2007, 157 (160 f.). 121 Starck, VVDStRL 34 (1976), 43 (76); ders., Prozess, S. 11, 26; vgl. Rinken, in: AK-GG, vor Art. 93 Rn. 108. 122 Zeitler, Völkerrechtlicher Vertrag, S. 170 f. m.w. N.

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des Gerichts. Die Grenzlinie zwischen Verfassungsgerichtsbarkeit und Politik kennzeichnet nicht der Gegensatz: Hier methodische Ableitung, dort politische Entscheidung, sondern der Gegensatz: Hier juristisch begründbare Entscheidung, dort nur politisch begründbare Entscheidung. 123 Ein wesentlicher Unterschied zwischen richterlicher Rechtsschöpfung und politischer Rechtsetzung liegt auch in der Haltung, in der inneren Souveränität 124, dem „habitus animae“ 125, mit welchem der Richter an seine (rechtsschöpferische) Aufgabe heran geht. Der Richter kann bei der Interpretation dehnbarer Begriffe im Verfassungsrecht nicht schalten, wie er will, sondern er ist als der gebundene „gewissenhafte“ 126 Richter verpflichtet, die Verfassung oder das Gesetz, das er anzuwenden hat, sozusagen zu Ende zu denken. Er hat die konkrete Entscheidung nicht an seinen eigenen, persönlichen Wertungen zu orientieren, sondern an den Wertungen, die sich aus dem Gesamtzusammenhang und dem politischen Sinngehalt des Gesetzes ergeben. 127 Eine Blankettnorm in der Hand des Richters bedeutet daher lediglich einen Auftrag zu ihrer Ausfüllung im Systemzusammenhang des geltenden Rechts. 128 Die Grenze der Gerichtsbarkeit verläuft dort, wo eine Entscheidung nicht mehr auf Grundlage einer juristisch-rationalen Methode, sondern nach den Kriterien bloßer Zweckmäßigkeit und politisch-sozialer Wünschbarkeit ergeht. Die dem Richter gezogene Grenze überschreitet er, wo er Urteile nur mehr „ex aequo et bono“ fällt. 129 3. Konkretisierungskompetenz der politischen Organe Die Verfassung, die „entweder zurückhaltend oder deutlich durchgreifend“ ist, bestimmt als Kontrollmaßstab das Ausmaß richterlicher Kontrollkompetenz. 130 Wo die materiell-rechtliche Festlegung der Grenzen der Verfassungsgerichtsbarkeit an ihre Grenzen stößt, ist ergänzend eine Berücksichtigung funktionellrechtlicher Gesichtspunkte möglich. Es geht also nicht nur um die Frage nach den Grenzen der Verfassung, sondern (auch) um die Verteilung der Konkretisierungskompetenzen intra constitutionem. 131 In ihrer doppelten Funktion als 123

Kriele, NJW 1976, 777 (778); vgl. Schlichting, JZ 1984, 120 (125). Zweigert, in: FS-v. Hippel, S. 711 (721). 125 Wengler, Recht und Staat 189/190 (1956), S. 47. 126 Vgl. Benda, ZRP 1977, 1 (4 f.). 127 Leibholz, Strukturprobleme, S. 177. 128 Böckenförde, Richterwahl, S. 95; H. H. Klein, in: FS-F. Klein, S. 511 (521). 129 Zeitler, Völkerrechtlicher Vertrag, S. 171 f.; ders., JöR 25 (1976), 621 (631 f.); vgl. Kissel, NJW 1982, 1777 (1779, 1782); Merten, DVBl. 1980, 773 (777); Schneider, AöR 82 (1971), 1 (15) spricht von „Willensakt“. 130 Schlaich, VVDStRL 39 (1981), 99 (112); vgl. Gusy, JöR 33 (1984), 105 (109). 124

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Kontroll- und Handlungsnormen 132 adressieren die Verfassungsnormen neben dem Bundesverfassungsgericht alle von oder aufgrund der Verfassung mit Aufgaben betrauten Staatsorgane. 133 Die kodifikatorische Ungenauigkeit des Verfassungstextes ergibt für sich zunächst aber nur ein Konkretisierungsbedürfnis und noch keine bestimmte Verteilung der Konkretisierungskompetenzen. 134 Im Gegensatz zu den ausdrücklichen einfach-rechtlichen Ermessensermächtigungen formuliert das Verfassungsrecht Entscheidungsspielräume nicht immer explizit. Die Frage nach der Letztentscheidung entwickelt sich damit in viel stärkerem Maße zu einer Auslegungsfrage. Die angewandte Methode der Verfassungsinterpretation ist von großer Bedeutung, da ein methodisch „entfesseltes“ Verfassungsgericht dies auch inhaltlich ist. 135 In diesem Sinn konstatiert Hesse, dass „wichtige, wenn nicht die wichtigsten funktionellen Grenzen der Verfassungsgerichtsbarkeit im Bereich der Interpretation des materiellen Verfassungsrechts liegen, dort aufgesucht und herausgearbeitet werden müssen“. 136 Die verfassungsgerichtliche Konkretisierung so allgemeiner Begriffe wie dem der Gleichheit (Art. 3 Abs. 1 GG) oder dem des Sozialstaats (Art. 20 Abs. 1 GG) tritt in Konkurrenz zu der Verfassungsinterpretation durch Regierung und Parlament. 137 Von einem Konkretisierungsprimat der politischen Organe ist in den Bereichen auszugehen, wo der demokratisch-pluralistische Prozess die für soziale Entwicklungen und politische Veränderungen offene Verfassung ausfüllen soll. 138 Deshalb ist das Grundgesetz in einer Weise zu interpretieren, die Entfaltungsspielräume für Gesetzgeber und Regierungen offen hält. 139 Die Einräumung von weiten Spielräumen politischen Ermessens an die zuständigen Organe ist insoweit auch Ausdruck einer funktionsgerechten Zuordnung des Verhältnisses zwischen Verfassungsgerichtsbarkeit und den kontrollierten Instanzen. 140 Häberle qualifiziert „Gestaltungsfreiheit“ bzw. „Ermessen“ sogar als „funktionell-rechtliche Umschreibung der Kompetenz zur Gemeinwohlgestaltung“. 141 Aus seiner Rechtsbindung (Art. 20 Abs. 3 GG) ergibt sich für das Verfassungsgericht die Pflicht, die grundsätzliche Rahmenfunktion der Verfassung bei der Normauslegung zugrunde zu legen und die Konkretisierungskompetenz der demo131 132 133 134 135 136 137 138 139 140 141

Bryde, Verfassungsentwicklung, S. 308. Krebs, Kontrolle, S. 55 m.w. N.; Papier, DÖV 1986, 621 (625). Magiera, Staatsleitung, S. 37. Meßerschmidt, Gesetzgebungsermessen, S. 118 m.w. N. Schuppert, Verfassungsinterpretation, S. 23. Hesse, in: FS-H. Huber (1981), S. 261 (270). Schuppert, Kontrolle, S. 208. Rinken, in: AK-GG, vor Art. 93 Rn. 110. Peine, Systemgerechtigkeit, S. 313 f. Vgl. Scheuner, AöR 95 (1970), 353 (384). Häberle, Öffentliches Interesse, S. 500 und S. 469.

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H. Politische Entscheidungsspielräume

kratisch legitimierten, politischen Organe unter systematischen Gesichtspunkten zu respektieren. 142 Der Rechtsanwender darf der Verfassung im Wege der Interpretation lediglich solche Rechtsfolgen entnehmen, die nicht aus sprachlichen, systematischen oder historischen Erwägungen ausgeschlossen sein sollen. Wollte beispielsweise der Parlamentarische Rat eine Frage im Grundgesetz ausdrücklich nicht beantworten, kann das Gericht ihre Beantwortung der Verfassung auch nicht mithilfe der Auslegung entnehmen. Planmäßige Offenheit bedeutet ein Konkretisierungsverbot für das Verfassungsgericht. 143 Die Offenheit der Verfassung darf nicht mit allgemeinen Erwägungen, Grundentscheidungen oder Verfassungsprinzipien übergangen werden. Rechtsfolgen sind ausschließlich aus der einschlägigen Rechtsnorm herzuleiten, welche diese anordnet. Eröffnet sie ein politisches Ermessen, so ist es nicht die Aufgabe des Gerichts, dieses durch unanwendbare Grundgedanken zu verengen. 144 Wo die Verfassung innerhalb eines Rahmens Raum lässt für eine Vielzahl unterschiedlicher Lösungen 145, erschöpft sich Rechtsanwendung in der Erkenntnis, dass die Rechtsordnung lediglich indifferente Maßstäbe vorgibt. Das Gericht hat sich in diesem Fall auf die Feststellung einer vom Recht gewollten „echten“ Lücke 146 zu beschränken. Angesichts verschiedener Konkretisierungsmöglichkeiten sollte es einer vertretbaren Interpretation des Parlaments oder der Regierung als den (un-)mittelbar demokratisch legitimierten und verantwortlichen Staatsorganen den Vorrang vor einer ebenso vertretbaren eigenen Interpretation einräumen. 147 Die Auswahl zwischen den verschiedenen in Betracht kommenden Auslegungen und die hiermit verbundene Interessenabwägung ist eine politische Entscheidung. 148 Auch in solchen Fällen bedarf es selbstverständlich einer verbindlichen Feststellung über den Inhalt der Verfassungsnorm. Orientiert sich diese Festschreibung aber am Verständnis des „Rahmens“, muss der Blick immer auch auf die Alternativen gerichtet sein, welche die Festlegung eröffnet oder eröffnen soll. 149 Die Berücksichtung der Rahmenfunktion der Verfassung und die Anerkennung einer primären Konkretisierungskompetenz der politischen Organe in bestimmten Bereichen verbinden materiell-rechtliche und funktionell-rechtliche Grenzen der 142

Vgl. Heun, Schranken, S. 49. Gusy, JöR 33 (1984), 105 (121 – 123, 127). 144 Ders., JöR 33 (1984), 105 (121 f.); zu Fragen der „Lückenfüllung“, vgl. Roellecke, Politik, S. 169. 145 Hesse, Verfassungsrecht, § 14 Rn. 569; Zippelius / Würtenberger, Deutsches Staatsrecht, § 48 III 3. 146 v. der Heydte, in: FS-Geiger, S. 909 (915). 147 Vgl. Schenke, JZ 1989, 653 (655); Zippelius / Würtenberger, Deutsches Staatsrecht, § 48 III 3. 148 In Zusammenhang mit Rechtsgrundsätzen, vgl. Wolff, in: GD-W. Jellinek, S. 33 (45 f.). 149 Wahl, Der Staat 20 (1981), 485 (507); vgl. H. H. Klein, in: FS-F. Klein, S. 511 (519). 143

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Verfassungsgerichtsbarkeit und resultieren in einer entsprechend zurückhaltenden Auslegungsmethode. H. H. Klein nennt dies auch ein Gebot des „Interpretative restraint“ 150. Die „quaestio diaboli“ lautet daher, nach welchem Kriterium der verbindliche Regelungsgehalt einer „Rahmennorm“ zu bestimmen ist, um einerseits eine angemessene Varianz zulässiger Verhaltensoptionen für die politischen Organe zur Verfügung zu stellen und andererseits die Normativität der Verfassung und die Kontrollfunktion des Verfassungsgerichts nicht zu unterlaufen. 151 Für sehr viele Rechtsmaterien ist die Konkretisierung der Verfassungsnormen wohl zu einem engen Rahmen, nicht aber eindeutig und positiv möglich, so dass sich einige oder mehrere dem Verfassungssatz konsonante Gestaltungsmöglichkeiten ergeben. 152 Von einer solchen „Grauzone“ lässt sich zwar nicht auf einen schlechthin „gerichtsfreien Normbereich“ schließen. 153 Die Feststellung der äußersten Grenzen der Verfassungswidrigkeit darf in diesen Konstellationen aber nur durch „strikte, argumentativ eindeutige Beweisführung geschehen, die zwingende und nicht nur plausible Schlüsse erlaubt“. 154 Eindeutig und sicher feststellen lassen sich in der Regel offenbare Verstöße gegen Verfassungsnormen. Ob beispielsweise eine Schutzvorkehrung nicht geeignet oder nicht ausreichend ist, lässt sich mit hinreichender Sicherheit konstatieren, wenn sie „gänzlich ungeeignet oder völlig unzulänglich“ ist. 155 Eine politische Wertung wird in der Regel justiziabel, wenn ihre Grundgesetzwidrigkeit evident ist. 156 Dies gilt auch für Prognosen bei der Bewertung zukünftiger Tatsachen und Geschehensabläufe. 157 Die insoweit in der Praxis übliche und auch hier befürwortete Konsequenz ist regelmäßig die Beschränkung der zwingenden Normaussage auf einen Evidenzmaßstab. 158 Mit diesem Maßstab korrespondiert ein Kontrollprogramm in Form einer Evidenzkontrolle. 159 Sie reduziert die rechtliche Nachprüfung auf die Einhaltung der den Verfassungsorganen vom Verfassungsrecht gezogenen Schranken. Bleiben sie innerhalb dieses Rahmens, so entziehen sich die politischen Wertungen der handelnden Staatsorgane jeder Beurteilung durch das Gericht. 160 Wenn der Richter Regierungs- oder Gesetzesakte, die diese Grenzen überschreiten, in Anwendung 150

Ders., in: FS-F. Klein, S. 511 (519). Ders., in: FS-F. Klein, S. 511 (525); Wittig, Der Staat 8 (1969), 137 (149). 152 Vgl. Wolff, in: GD-W. Jellinek, S. 33 (47). 153 Dolzer, Verfassungskonkretisierung, S. 45 f. 154 Böckenförde, Richterwahl, S. 61. 155 Hesse, in: FS-Mahrenholz, S. 541 (555). 156 Wolff, VVDStRL 9 (1952), Disskussionsbeitrag, 121. 157 Nierhaus, DVBl. 1977, 19 (21); Schuppert, Kontrolle, S. 103. 158 Scheuner, in: FS-Smend (1952), S. 253 (300); Zippelius / Würtenberger, Deutsches Staatsrecht, § 48 III 3. 159 Hesse, in: FS-Mahrenholz, S. 541 (556); ders., Verfassungsrecht, § 14 Rn. 570. 160 Böckenförde, Der Staat 29 (1990), 1 (31); Hesse, in: FS-H. Huber (1981), S. 261 (270). 151

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von Rechtsgrundsätzen verwirft, so wird er funktionell lediglich kassatorisch und nicht rechtsgestaltend tätig. Denn es bleibt den politischen Organen überlassen, eine von vielen rechtlich zulässigen Möglichkeiten positiv anzuordnen. 161 Die Berücksichtigung der Konkretisierungskompetenz der politischen Organe ist nur einer von mehreren Auslegungsgesichtspunkten. Sie muss unter Umständen zurücktreten, wenn bestimmte Verfassungsgüter der Disposition der Politik entzogen sind. 162 Die Eigenart der zu regelnden Materie, die Intensität des Eingriffs, die Fundamentalität der tangierten Rechtsgüter, die besondere Entscheidungssituation und Entscheidungsstruktur vermögen im Einzelfall auch eine weitergehende Kontrolle zu rechtfertigen. Als Instrument zur Austarierung und Zuordnung verfassungsgerichtlicher Letztentscheidungsbefugnis und exekutiver Eigenverantwortung fungieren insoweit abgestufte Kontrollmaßstäbe, die eine unterschiedliche, angemessene Kontrolldichte garantieren. 163 Die Reduzierung der verfassungsgerichtlichen Nachprüfung auf einen Evidenzmaßstab begründet die Literatur sowohl mit einer Konvergenzlösung als auch mit einer Divergenzlösung. Sind Reichweite und Kontrolle am Maßstab des Verfassungsrechts identisch, so liegt dem eine „Konvergenzlösung“ 164 zugrunde. Ist dagegen allein die verfassungsgerichtliche Kontrolle reduziert, mit der Folge, dass die materiell-rechtliche Verfassungsrechtsposition und die verfassungsgerichtliche Kontrolle auseinander fallen, spricht man von „Divergenzlösung“. 165 Die Unterscheidung zwischen Handlungsmaßstab und Kontrollmaßstab einer Norm geht auf prozessrechtliche Überlegungen Forsthoffs zurück, der sie zunächst für das Verhältnis von Legislative und Exekutive entwickelte: Die Bindung des Handelnden gehe weiter als die Funktion des Kontrollierenden, weil sie in einem gewissen Umfang einer Kontrolle notwendig entzogen sei. Den Vorrang des Handelnden vor dem Kontrollierenden rechtfertigt er damit, dass „im Zweifel der Handelnde vor dem Kontrollierenden recht“ habe. 166 Einige weitere Autoren griffen diese Unterscheidung für die Bestimmung der Grenzen der Verfassungsgerichtsbarkeit auf und zogen sie zur Begründung der Reduzierung der Kontrolle auf „evidente Verletzungen“ heran. 167 161

Wolff, in: GD-W. Jellinek, S. 33 (46). Vgl. hierzu am Beispiel des Luftsicherheitsgesetzes: Pieroth / Hartmann, Jura 2005, 729 (729). 163 Hesse, in: FS-H. Huber (1981), S. 261 (266 f.); Schuppert, DVBl. 1988, 1191 (1192, 1197). 164 Raabe, Grundrechte, S. 150. 165 Ders., Grundrechte, S. 148; Riecken, Verfassungsgerichtsbarkeit, S. 439. 166 Forsthoff, in: GD-W. Jellinek, S. 221 (232) spricht von „Funktionsnormmaßstab“. 167 Isensee, in: HbStR VII (1992), § 162 Rn. 63, 81; Murswiek, DÖV 1982, 529 (534); Rinken, in: AK-GG, vor Art. 93 Rn. 77, 108; Schlaich / Korioth, BVerfG, Rn. 516, 518, der aber diesem Ansatz zugleich mangelnde Prägnanz und Bestimmtheit attestiert; vgl. Jestaedt, in: Erichsen / Ehlers, Allg VerwR, § 10 Rn. 21. 162

VII. Versuch einer Kompetenzabgrenzung

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Neben Hesse 168 bedienen sich auch Krebs und Bryde dieser Lösung. Die Unterscheidung der Verfassung als Handlungsmaßstab für die Staatsorgane und Kontrollmaßstab für das Bundesverfassungsgericht folgert Bryde aus dem Erfordernis, einerseits an der umfassenden Bindung aller staatlichen Gewalt an eine Verfassung mit universalem normativen Anspruch festzuhalten, andererseits aber eine justizstaatliche Verdrängung der demokratischen und gewaltenteilenden Funktionenordnung zu vermeiden. 169 Krebs folgert eine Nicht-Identität von Kontrollmaßstäben im Entscheidungsprozess des kontrollierten Organs und des kontrollierenden Verfassungsgerichts aus der Anerkennung einer eigenständigen Kompetenz zur Verfassungskonkretisierung der übrigen staatlichen Funktionsträger. 170 Eine Berücksichtigung im Wege der Verfassungsreduktion in Form einer „systematischen“ Verfassungsinterpretation sei mit dem sich auf die Gesamtheit der Gesellschaft erstreckenden normativen Anspruch der Staatszielbestimmungen und Verfassungsprinzipien kaum zu vereinbaren. Das Grundgesetz ließe sich angesichts seiner Grundstruktur nicht durch Interpretation in ein „instrument of government“ verwandeln, das „die Politik der Politik überlässt“ und in hinreichendem Umfang „verfassungsfreie“ Räume für alle Staatsorgane zur selbstständigen Wahrnehmung ihrer Funktionen freilasse. Offenheit für den politischen Prozess könne das Bundesverfassungsgericht nur intra constitutionem, nicht extra constitutionem lassen. 171 Gegen diese Differenzierung wenden berechtigte Stimmen ein, die Rücknahme richterlicher Kontrolldichte unter Rückgriff auf die Unterscheidung zwischen Handlungs- und Kontrollnorm müsse am Grundgesetz selbst scheitern. Soweit nämlich die vom Grundgesetz statuierte Bindung aller Staatsfunktionen an das Recht reiche, solle sie gemäß Art. 93 Abs. 1 GG auch verfassungsgerichtlich einforderbar sein! 172 Die Divergenzlösung könne nicht erklären, weshalb derselbe Rechtssatz gleichzeitig von der Kontrolle freistelle und inhaltlich binde. Es sei kaum denkbar, aus der jeweiligen verfassungsgesetzlichen (Funktions-) Norm einen stetigen kontrollfähigen Mindergehalt auszulesen, der die Bezeichnung „Kontrollnorm“ verdiene. 173 Dies sei allenfalls möglich, wenn die Bindung an die Funktionsnorm nicht rechtlicher, sondern allenfalls sittlich-ethischer Natur sei. Der Inhalt der Handlungsnormen bleibe dann entweder leer oder bloß utopische Zielvorstellung ohne direktive Kraft. Da weder ein Verstoß festgestellt noch eine Sanktion verhängt werden könne, laufe diese Position im Ergebnis auf 168

Hesse, in: FS-Mahrenholz, S. 541 (557 f.); ders., Verfassungsrecht, § 12 Rn. 439. Bryde, Verfassungsentwicklung, S. 306 f. 170 Krebs, Kontrolle, S. 102. 171 Bryde, Verfassungsentwicklung, S. 304. 172 Böckenförde, Der Staat 29 (1990), 1 (27); Görisch, VR 2006, 192 (193); Raabe, Grundrechte, S. 154 ff. 173 Lerche, in: FS-Stern, S. 197 (201); vgl. Heun, Schranken, S. 47 f. 169

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H. Politische Entscheidungsspielräume

eine Degradierung der Funktionsnorm zu „zahn- und wirkungslosem Recht“ hinaus. Rechtsbindung der staatlichen Funktionen und gerichtlicher Kontrollmaßstab müssten zwar nicht identisch sein: Bestimmte Normen oder sachliche Gesichtspunkte ließen sich kraft Gesetzes von einer Kontrolle ausnehmen, nicht aber derselben Norm zwei verschiedene Maßstäbe entnehmen. 174 Auch nach der hier vertretenen Auffassung ist die Differenzierung zwischen Handlungs- und Kontrollnorm abzulehnen. Die Divergenzlösung stellt keinen wesentlichen Erkenntnisgewinn dar. Da eine Kontrollpflicht besteht, soweit sich einer Norm verbindliche Maßstäbe entnehmen lassen, kann es sich bei dem über den Kontrollmaßstab hinausreichenden Handlungsmaßstab nur um einen Bereich rechtlicher Neutralität handeln. Die Divergenzlösung stellt lediglich einen Kunstgriff dar, um ein von der Verfassung vorgesehenes politisches Element in staatlichen Entscheidungen nicht als solches bezeichnen zu müssen. Sie findet aber im Grundgesetz keinen Anhalt. 175 Versteht man die Verfassung als Rahmenordnung, die ihre normative Steuerung in bestimmten Bereichen planmäßig zurücknimmt, ist eine derartige Konstruktion überflüssig. Der Geltungsanspruch des Rechts hängt zwar nicht von seiner Kontrollfähigkeit ab. Er reicht aber auch nicht weiter, als das Recht selbst Bindungswirkung vorsieht. Wo die Rechtsordnung der Politik Gestaltungsspielräume hat einräumen wollen, ist die Politik rechtlich nicht zu „zu mehr“ 176 verpflichtet. Es würde wenig Sinn machen, die Gerichte von einer Nachprüfung auszuschließen, um der Politik Freiräume zu garantieren, diese Freiräume aber sogleich wieder hinweg zu interpretieren. So geschieht es aber, wenn Hesse unterstellt, die Rechtsordnung reiche doch weiter, nur dürfe ihre Einhaltung nicht kontrolliert werden. Wo eine rechtliche Verpflichtung „zu mehr“ besteht, ist diese auch nachzuhalten. Es ist deshalb für ein einheitliches Verständnis von Verfassungsnormen zu plädieren, wobei im Einzelfall eine systematische Auslegung zu einer Reduktion des Normgehalts führen und den politischen Organen die notwendigen Verhaltensspielräume gewährleisten kann. 177 4. Ergebnis Das Verfassungsgericht muss die Konkretisierungskompetenz der politischen Organe bei der Normauslegung unter systematischen Gesichtspunkten respektieren. Bei der Ermittlung des Normgehalts hat es zu berücksichtigen, dass Art. 20 GG neben dem Rechtsstaatsprinzip auch das Demokratieprinzip als tragendes Strukturmerkmal der Verfassung vorsieht. Normiert die Verfassung lediglich einen Rechtsrahmen, sollte sich das Gericht bei der rechtlich verbindlichen Maß174 175 176 177

Heun, Schranken, S. 46 ff. So selbst die Vertreter dieser Auffassung, vgl. Schlaich / Korioth, BVerfG, Rn. 516. Hesse, in: FS-Mahrenholz, S. 541 (558). So schon Heun, Schranken, S. 49.

VIII. Reichweite der Nachprüfung

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stabsgewinnung auf einen Mindestgehalt beschränken, diesen aber dann auch nachprüfen. Hiermit korrespondiert eine Reduktion der Kontrolldichte in Gestalt einer Evidenz- und Willkürkontrolle. Diese Abstufung soll dazu beitragen, dass das Gericht die den politischen Akteuren eingeräumten Spielräume nicht im Wege einer übermäßigen Konkretisierung unterläuft.

VIII. Reichweite der Nachprüfung 1. Formelle Rechtmäßigkeitsprüfung Einer uneingeschränkten verfassungsgerichtlichen Nachprüfung unterliegen formelle Kompetenz-, Verfahrens- und Formfragen. Die Bundesregierung darf ihren Aufgaben- und Zuständigkeitsbereich nicht überschreiten. 178 2. Tatsachenfeststellung / Einschätzungsprärogative Bei der Überprüfung von Tatsachen ist zu differenzieren zwischen „real-tatsächlichem Befund“ und „darauf aufbauendem Wertungsakt“, also zwischen faktischer Basis und auf deren Grundlage aufbauenden Einschätzungen, die besonders im Prognosebereich Relevanz erlangen. 179 Die ausdrückliche Normierung des Untersuchungsgrundsatzes in § 26 BVerfGG ermächtigt das Bundesverfassungsgericht zur Beweiserhebung über Tatsachen. Eine Bindung des Gerichts an die Tatsachenfeststellungen anderer Verfassungsorgane würde die Verfassungsgerichtsbarkeit in wesentlichen Bestandteilen substantiell kompetenzlos stellen und sie damit ihrer verfassungsrechtlich vorgesehenen Funktion berauben. 180 Die Kontrolle von Tatsachenfeststellungen erstreckt sich auf die zutreffende und vollständige Ermittlung der Tatsachenbasis. 181 Die Ebenen der Tatsachenfeststellung und der Tatsachenbewertung lassen sich bei mangelnder Objektivierbarkeit und Rationalisierbarkeit des Tatsachenmaterials nicht immer kategorisch trennen. Sachverhalte, aufgrund derer Verfassungsorgane entscheiden, sind häufig komplex und in die Zukunft hinein offen. Sie erweisen sich einer Beweiswürdigung mit den anerkannten Beweismitteln oft unzugänglich. Ihre Erfassung setzt vielmehr wertende Tatsachenfeststellungen und Prognosen voraus, die auf die wahrscheinliche, zukünftige Entwicklung schließen

178

BVerfGE 44, 125 (149); 63, 230 (243); Di Fabio, JuS 1997, 1 (3). Simons, Gestaltungsspielraum, S. 217 f. 180 Bettermann, AöR 96 (1975), 528 (550) m.w. N.; vgl. Zeitler, JöR 25 (1976), 621 (635 f.). 181 Ossenbühl, in: FS-BVerfG (1976) I, S. 458 (473). 179

212

H. Politische Entscheidungsspielräume

müssen. 182 Als Voraussage über die Zukunft ist die Prognose wesentliches und unabdingbares Element politischen Entscheidens und Handelns. 183 Die Problematik der Prognosekontrolle und der Kontrolle von Tatsachenbewertungen wurzelt in ihrem Defizit an Rationalität, welches sich je nach Sachbereich bis zur bloßen Intuition steigern kann. 184 Soweit es an einem hinreichend objektivierbaren Tatsachenmaterial fehlt, bedeutet eine verfassungsgerichtliche Nachprüfung eine funktionswidrige Verlagerung der politischen Entscheidung auf das Gericht. Dies ergibt sich aus dem „Zusammenhang zwischen Entscheidung und Prognose: ergeht die politische Entscheidung auf der Grundlage von Erwartungen, so ist derjenige, der über die Erwartungen entscheidet, der eigentliche Träger der politischen Entscheidung“. 185 Nähme die nachprüfende Instanz hier für sich in Anspruch, eine vollständige Beweiserhebung durchzuführen, würde sie für den Bereich verbleibender Unsicherheit ihre Feststellung an die Stelle der Bewertung des primär entscheidenden Organs setzen. Vergleichbares ist anzunehmen, wenn es an einem hinreichend konkreten normativen Bewertungsmaßstab fehlt. Die Bewertung des vorgefundenen Tatsachenmaterials stellt in diesen Fällen innerhalb äußerster Grenzen eine politische Entscheidung dar. Die Kontrolldichte sollte diese Interdependenz berücksichtigen und in dem Maße abnehmen und sich einer bloßen Evidenzprüfung annähern, in dem die objektive Tatsachenfeststellung in eine Tatsachenwertung und Gesamtwürdigung übergeht. 186 Sofern den staatlichen Organen Ermessen oder Gestaltungsfreiheit eingeräumt ist, schließt ihre Bewertung auch das zugrunde liegende Tatsachenmaterial ein. Deshalb erscheint es konsequent, die verfassungsgerichtliche Überprüfung der Tatsachenbasis und -bewertung an der Kontrolldichte des „Hauptentscheidungsspielraums“ auszurichten. In Anlehnung an die verfassungsgerichtliche Terminologie lassen sich diese Entscheidungsspielräume als Einschätzungsprärogativen – oder weitgehend synonym – als Beurteilungsspielräume bezeichnen. Sie beziehen sich auf die Ermittlung der Tatsachenbasis, auf die Bewertung von Tatsachen, Kausalverläufen, Zweck-Mittel-Relationen oder Auswirkungen bestimmter Maßnahmen, von denen bei einer Entscheidung auszugehen ist. 187 Einschätzungsprärogativen erstrecken sich auch auf zukünftige Tatsachen und Kausalverläufe. Als eine dem 182 Hoppe, in: FG-BVerwG (1978), S. 295 (309); vgl. Starck, in: FS-BVerfG (2001) I, S. 1 (8). 183 Pache, Abwägung, S. 142; Schmidt-Aßmann, in: Maunz / Dürig, GG, Art. 19 Abs. 4 Rn. 198. 184 Ossenbühl, in: FS-BVerfG (1976) I, S. 458 (501). 185 Schuppert, Kontrolle, S. 184. 186 Ossenbühl, in: FS-BVerfG (1976) I, S. 458 (485); vgl. Nagel, Rechtskonkretisierungsbefugnis, S. 173 ff. 187 Hesse, in: FS-H. Huber (1981), S. 261 (268).

VIII. Reichweite der Nachprüfung

213

Prognosespielraum übergeordnete Kategorie erlangen sie in verschiedenen Nachprüfungskonstellationen Bedeutung. Entsprechend qualifiziert Schlink sie auch als Prognose-, Bewertungs- und Abwägungsprärogativen. 188 Bewertungsmaßstab sind die jeweils einschlägigen Verfassungsnormen. Nach Maßgabe ihres Rationalitätsdefizits entziehen sich der Bewertungsvorgang und das Bewertungsergebnis einer gerichtlichen Nachprüfung. 189 Den politischen Organen ist jedoch keine vollkommene Freiheit bei der Tatsachenwürdigung und der Folgenabschätzung gewährt. Die Einräumung einer „widerlegbaren Einschätzungsprärogative“ im Sinn einer Beweislastverteilung bietet aber auch hier einen Mittelweg. So vermögen empirisch eindeutig falsifizierte oder falsifizierbare „Tatsachen“ eine staatliche Maßnahme nicht zu rechtfertigen. 190 3. Politisches Ermessen Politisches Ermessen im Verfassungsrecht unterscheidet sich strukturell nicht von Ermessen im verwaltungsrechtlichen Sinn. Eine Übertragung der verwaltungsrechtlichen Ermessensfehlerlehre ist deshalb prinzipiell angezeigt. Die verfassungsgerichtliche Kontrolle erstreckt sich auf die Einhaltung der förmlichen und sachlichen Grenzen der Ermessensermächtigung (Ermessensüberschreitung). Da das Willkürverbot auch im Verfassungsrecht gilt, ist eine politische Ermessensentscheidung auch auf das Vorliegen eines Ermessensmissbrauchs hin kontrollierbar. 191 Nicht ausgeschlossen ist zudem eine Überprüfung auf Ermessensausfall. Abstufungen des Prüfungsprogramms können sich je nach Ausgestaltung der Rechtsbindung im Einzelfall ergeben. Vermittelt gubernatives Verhalten ausnahmsweise Individualrechtsbezug, ist eine entsprechend intensivere Kontrolle geboten. Die innerhalb dieser Grenzen getroffene Ermessensentscheidung bleibt dagegen unter Zweckmäßigkeitsgesichtspunkten injustiziabel. Der Richter darf nur die Legalität, nicht aber die Opportunität der Regierungsakte beurteilen. 192 Die Ermessensprüfung ist angesichts der im Verfassungsrecht für die Regierungsorgane häufig nur ziel- und werthaften Festlegungen noch weiter auf eine Missbrauchskontrolle evidenter Verfassungsrechtsverletzungen reduziert als im Verwaltungsrecht. 193 Ergibt sich politisches Ermessen bei der Realisierung einer verfassungsrechtlichen Pflicht, so ist zu differenzieren: Bei Schutzpflichten besteht ein Auswahlermessen lediglich hinsichtlich des „Wie“. Die Mittel müs188

Schlink, in: FS-BVerfG (2001) II, S. 445 (465) (für den Gesetzgeber). Vgl. BVerfGE 54, 237 (250 f.); Starck, in: FS-BVerfG (2001) II, S. 1 (8 f.). 190 Meßerschmidt, Gesetzgebungsermessen, S. 940 ff., 950 unter Bezugnahme auf BVerfGE 7, 377 (412). 191 Kassimatis, Regierung, S. 155 – 159; Stern, Staatsrecht II, § 39 II 6 lit. c). 192 Kassimatis, Regierung, S. 193 f.; vgl. Hug, Die Regierungsfunktion, S. 293 f. 193 Schulze-Fielitz, in: Dreier, GG, Art. 19 Abs. 4 Rn. 122; Stern, Staatsrecht II, § 39 II 6 lit. c). 189

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H. Politische Entscheidungsspielräume

sen zum Schutz des grundrechtlichen Rechtsgutes geeignet, also zwecktauglich und ausreichend sein. Ob dies der Fall ist, lässt sich aber nicht immer mit Sicherheit feststellen. 194 Hinsichtlich des „Ob“ ist dagegen zumindest von einer Befassungspflicht auszugehen. 195 Geht die Regierung irrtümlich davon aus, sie müsse Geiseln aus Gründen der Staatsraison immer „opfern“ und lässt sie deshalb Verhandlungen mit den Entführern von vornherein außer Betracht, könnte ein Ermessensausfall vorliegen. Staatszielbestimmungen und verfassungsrechtliche Gebote räumen ein Entscheidungsermessen hinsichtlich des genauen Zeitpunktes ihrer Umsetzung ein. Daneben besteht ein Auswahlermessen bezüglich der Mittel ihrer Verwirklichung. Diese sind – ebenso wie bei den Schutzpflichten – auf evidente Untauglichkeit hin überprüfbar. In dieser Konstellation steht nämlich zugleich das „Ob“ der Zweckerreichung überhaupt in Frage. 4. Gestaltungsfreiheit Räumt die Verfassung den politischen Organen Gestaltungsfreiheit ein, fehlt es an einer positiven materiellen Steuerung des Verhaltens wenigstens durch einen bestimmten Normzweck. Kontrollmaßstäbe hält die Rechtsordnung ausschließlich in Form von Begrenzungen bereit. Die verfassungsgerichtliche Kontrolle beschränkt sich in diesen Fällen auf eine negative Verfassungsmäßigkeitsprüfung, also auf das Vorliegen einer Grenzüberschreitung. Innerhalb dieses Bereichs ist den demokratisch legitimierten Organen ein umfassender Entscheidungsspielraum hinsichtlich des „Ob“ und des „Wie“ eingeräumt. 196 Dezisionen dieser Art liegen grundsätzlich keine rechtmäßigen oder rechtswidrigen, sondern nur politisch vertretbare oder weniger vertretbare Erwägungen zugrunde. 197 Aus diesem Grund ist auch die verwaltungsrechtliche Ermessensfehlerlehre nicht anwendbar. Ein Ermessensausfall im Bereich legislativer oder gubernativer Gestaltungsfreiheit ist nur schwer vorstellbar. Hätte es der Bundeskanzler im Beispiel der Entscheidung über das Wahlalter nicht in Betracht gezogen, einen Gesetzesentwurf zu einer Wahlrechtsänderung zu initiieren, wäre ihm ein solches Unterlassen wohl kaum als Ermessensausfall vorzuhalten.

194 Hesse, in: FS-Mahrenholz, S. 541 (545); vgl. Isensee, in: HbStR V (1992), § 111 Rn. 162. 195 Vgl. für das Polizeirecht: Pieroth / Schlink / Kniesel, Polizeirecht, § 10 Rn. 32 m.w. N. 196 Vgl. Roellecke, Politik, S. 148 m.w. N. 197 Vgl. Lorenz, Rechtsschutz, S. 159 f.

I. Schluss Die Kompetenzabgrenzung zwischen Regierung und Judikative stellt nicht nur aus tagesaktueller, sondern auch aus rechtshistorischer Perspektive eine klassische Problematik des Staatsrechts dar. Die zu ihrer Lösung entwickelten Theorien von den Regierungsakten lassen sich unter dem Grundgesetz nicht heranziehen. Einschränkungen der gerichtlichen Kontrolle können aber aus der verfahrensrechtlichen Systematik resultieren (formelle Injustiziabilität). Hiervon zu unterscheiden ist eine Reduktion der richterlichen Kontrollkompetenz oder Kontrolldichte (materielle Injustiziabilität). Sie richtet sich nach den Maßstäben des materiellen Rechts und betrifft als deren Kehrseite zugleich die Problematik legislativer, gubernativer sowie administrativer Letztentscheidungsrechte. Das Bundesverfassungsgericht trägt den häufig sehr weiten materiell-rechtlichen Vorgaben auf der Ebene der Verfassung durch das Eröffnen beschränkt nachprüfbarer Entscheidungsspielräume an die zuständigen Verfassungsorgane Rechnung. Dabei differenziert es terminologisch hauptsächlich zwischen Ermessens-, Gestaltungs- und Beurteilungsspielräumen sowie Einschätzungsprärogativen. Terminologie und funktionaler Kontext lassen jedoch in der Regel keine klare Linie und Zuordnung erkennen. Die für das Verwaltungsrecht übliche Differenzierung zwischen Beurteilungsspielräumen auf der Tatbestandsseite und Rechtsfolgeermessen führt die Verfassungsgerichtsrechtsprechung nicht in der gewohnten kategorischen Strenge durch. Beurteilungsspielräume und Einschätzungsprärogativen verwendet sie vielfach ebenfalls synonym. Unterschiede zwischen Ermessen und Gestaltungsfreiheit sind allenfalls andeutungsweise ersichtlich. Klarer treten dagegen die Parallelen zwischen den Entscheidungsspielräumen des Regierungskollegiums und solchen des Gesetzgebers hervor, die das Verfassungsgericht in unterschiedlichen Zusammenhängen betont. Die Grenze der eigenen Nachprüfungskompetenz bestimmt es regelmäßig anhand der Dichotomie von Recht und Politik. Dies kommt in der prägnanten Formulierung zum Ausdruck, wonach das Bundesverfassungsgericht nur dort, wo rechtliche Maßstäbe für politisches Handeln normiert sind, seiner Verletzung entgegentreten könne. Jenseits dieser Maßstäbe liege der Bereich und die Verantwortung der Politik. Eine Untersuchung über die Zulässigkeit der Übertragung verwaltungsrechtlicher Entscheidungsspielräume auf das Verfassungsrecht muss von einem gesicherten verwaltungsrechtlichen Begriffsverständnis ausgehen. Besonderes Merkmal des in dieser Untersuchung im Fokus stehenden Ermessens ist die ihm inhärente Verpflichtung auf einen bestimmten Normzweck, die trotz Einräumung einer Mehrheit von Entscheidungsoptionen originäre Zwecksetzung ausschließt.

216

I. Schluss

Eine Übertragung des Ermessensbegriffs auf das Verfassungsrecht impliziert wegen der einheitlichen inhaltlichen Begriffsmerkmale weder eine „Verwechslungsgefahr“ oder eine Anerkennung besonderer Entscheidungskategorien für diesen Bereich noch greift sie einer differenzierten Betrachtung gubernativer Entscheidungsspielräume vor. Sie erscheint verfassungsrechtlich nicht nur zulässig, sondern sogar geboten: Ermessen kann hier dazu beitragen, die Sphären des Rechts und der Politik in weiten Teilen kommensurabel zu gestalten. Teile der Staatsrechtswissenschaft gehen auf rechtstheoretischer Grundlage der Kelsenschen Stufentheorie des Rechts von einer einheitlichen Struktur oder Relativität aller öffentlich-rechtlichen Entscheidungsspielräume aus. Sie qualifizieren Ermessen als gebietsuniversale, sachbereichsspezifisch lediglich quantitativ abgestufte Entscheidungskategorie. Eine differenzierende Denkart unterscheidet hingegen zwischen Ermessen und politischer Gestaltungsfreiheit. Sie geht dem Ursprung nach auf die Staatslehre G. Jellineks sowie auf die Schrankentheorie F. J. Stahls zurück und begründet die Unterscheidung mit der je nach Sachbereich qualitativ verschiedenen Rechtsbindung im Sinn des Art. 20 Abs. 3 GG. Sowohl die Herleitung als auch die Negation spezifischer Entscheidungsspielräume unter Hinweis auf abstrakte Funktionsbegriffe, z. B. im Wege einer pauschalen Gegenüberstellung von Verwaltung (Administrative) und Regierung im institutionellen Sinn (Gubernative), ist abzulehnen. Nach dem hier zugrunde gelegten Ansatz kann allein das materielle Recht Ausgangspunkt einer Bestimmung öffentlich-rechtlicher Entscheidungsspielräume sein. Aus dieser Perspektive tragen rechtstheoretische und verfassungsstrukturelle Argumente die differenzierende Betrachtungsweise in der Rechtswissenschaft: Das Grundgesetz setzt als Rahmenordnung den zu politischem Handeln berufenen Staatsorganen in der Regel nur bestimmte Grenzen, innerhalb derer sie in Eigeninitiative zwecksetzende Tätigkeit entfalten dürfen. Dafür spricht das Demokratieprinzip und die Gewährleistung der normativen Kraft der Verfassung. Neben dieser verbindlichen Grenzfestlegung kennt es auch Bereiche verbindlicher Richtungsbestimmung, die aber nur punktuellen Charakter haben. Anhand des materiellen verfassungsrechtlichen Befundes lassen sich zwei qualitativ verschiedene Entscheidungsspielräume − Ermessen und politische Gestaltungsfreiheit – abgrenzen. Letztere bezeichnen Rechtsprechung und Rechtswissenschaft synonym auch als „politischen Gestaltungsspielraum“. Bei (politischem) Ermessen handelt es sich stets um zweckgebundene, ausführende Tätigkeit. Gestaltungsfreiheit bedeutet dagegen originäre Zwecksetzung nach politischen Maßstäben. „Freiheit“ besteht indes auch hier nicht ohne das Recht, sondern nur nach Maßgabe des Rechts. Bei dieser Unterscheidung handelt es sich um ein gewaltenübergreifendes Phänomen, welches mit Ausnahme der Judikative in allen Staatsfunktionen existent ist. Darauf deutet bereits die für das Verwaltungsrecht heftig diskutierte Qualifizierung bestimmter planungsrechtlicher Entscheidungen hin. Kategorisierungsund Typologisierungskonzeptionen stützen oder widerlegen die jeweiligen Stim-

I. Schluss

217

men in der Literatur rechtsgebietsübergreifend mit vergleichbaren inhaltlichen Argumenten. Eine strukturelle Äquivalenz besteht besonders häufig zwischen legislativen und gubernativen Entscheidungen, weshalb es gerechtfertigt erscheint, einen am Begriff der Staatsleitung orientierten funktionsübergreifenden Regierungsbegriff anzuerkennen. Die Abgrenzung der unterschiedlich weiten Kompetenzbereiche bestimmt sich im Einzelnen anhand der Reichweite des Gesetzesvorbehalts und der Grenzen des legislativen Zugriffsrechts. Daneben existieren Beurteilungsspielräume und Einschätzungsprärogativen, die sich nach Maßgabe ihres Rationalitätsdefizits einer gerichtlichen Nachprüfung entziehen. Beurteilungsspielräume betreffen auch im Verfassungsrecht tendenziell eher einzelne Tatbestandsmerkmale während Einschätzungsprärogativen vielfach komplexe, politische Zweck-Mittel-Relationen zum Gegenstand haben. Darin liegt allerdings kein struktureller, sondern allenfalls ein gegenständlicher Unterschied. Im Bereich der Regierung korrespondieren Beurteilungsspielräume und Einschätzungsprärogativen in der Regel mit der Ausübung politischen Ermessens oder politischer Gestaltungsfreiheit. Sie lassen sich jedoch nicht kategorisch abgrenzen. In den meisten Fällen fungieren sie gewissermaßen als „Annex“ dieser Spielräume bei der Bewertung von Tatsachen, die Ermessens- oder Gestaltungsentscheidungen zugrunde liegen. 1 Die normspezifische Analyse kommt zu dem Ergebnis, dass Art. 64 Abs. 1 GG dem Bundeskanzler im Rahmen seines materiellen Kabinettsbildungsrechts und seiner Organisationsgewalt ein politisches Ermessen einräumt. Politisches Ermessen ist dem Kanzler auch bei seiner Entscheidung über einen Antrag gemäß Art. 68 Abs. 1 S. 1 GG eröffnet. Die Richtlinienkompetenz nach Art. 65 S. 1 GG in Verbindung mit der allgemeinen Regierungskompetenz zur Staatsleitung räumen dem Bundeskanzler dagegen weitgehende politische Gestaltungsfreiheit bei der inhaltlichen Ausgestaltung der Richtlinien ein. Die Unterscheidung hat schließlich Konsequenzen für die gerichtliche Nachprüfung: Eine Anwendung der Ermessensfehlerlehre auf politische Gestaltungsspielräume erscheint angesichts der dem Ermessen eigentümlichen Zweckbindung nicht angemessen. Die verfassungsgerichtliche Kontrolle beschränkt sich in diesen Fällen auf die Prüfung einer Verletzung des verfassungsrechtlichen Rahmens. Dies ist legitim, da die demokratische Kontrolle durch den Souverän das Schwinden rechtlicher Maßstäbe und die Abnahme richterlicher Kontrolle kompensiert. In Anbetracht der strengen Gesetzesbindung der Judikative gemäß Art. 20 Abs. 3 GG ist aus einem materiell-rechtlichen Blickwinkel davon auszugehen, dass die verfassungsgerichtliche Kontrollkompetenz mit den rechtlichen Kontrollmaßstäben und entsprechend die Kontrolldichte mit der Regelungsdichte korrespondieren. 1

Schneider, NJW 1980, 2103 (2109) versteht „Gestaltungsfreiheit“ als „Oberbegriff“.

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I. Schluss

Nur die Bindung an eine gesicherte juristische Methode und die Verpflichtung auf die Grundsätze der Dogmatik vermögen die der Verfassungsgerichtsbarkeit immanenten politischen Ingerenzen auf ein demokratisch vertretbares Maß zu reduzieren. Beschränkt sich die Verfassung auf eine Rahmensetzung und räumt sie den demokratisch legitimierten Organen politische Gestaltungsspielräume ein, muss das Verfassungsgericht die Konkretisierungskompetenz dieser Organe respektieren.

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Sachwortverzeichnis Der Inhalt dieser Schrift erschließt sich in erster Linie über das Inhaltsverzeichnis. Das Sachwortverzeichnis hat ergänzende Funktion. Abwägungsentscheidungen 69 Actes de gouvernement 19 Akte der Kommandogewalt 30 Anordnung des Bereitschaftsdienstes 44 Art. 33 Abs. 2 GG 139 f. Art. 59 Abs. 2 S. 1 GG 25, 38, 119, 122 Art. 64 Abs. 1 GG siehe materielles Kabinettsbildungsrecht und siehe Organisationsgewalt Art. 65 GG – Kabinettsprinzip 151 – 153 – monokratische Gesamtleitung 147 – Ressortprinzip 26, 146, 150 f. – Richtlinienkompetenz siehe Richtlinienkompetenz Art. 67 Abs. 1 S. 1 GG 155, 171, 174 Art. 68 Abs. 1 S. 1 GG siehe Vertrauensfrage Art. 80 Abs. 1 GG 118 f., 151 Atomenergie 45 Auslandsschutz – bei grundrechtlichen Schutzpflichten 33, 35, 40, 44, 54 – 56 – diplomatischer 186 f. – konsularischer 186 f. Auslegungstoleranz 66 Außenwirkung von Regierungshandeln siehe subjektive Betroffenheit Begnadigungsrecht 41, 88 Begriff des Politischen 21 f., 42, 79, 157 Bestimmtheitsgrundsatz 67, 118 f.

Beurteilungskompetenz 46, 48 Beurteilungsmacht 46 –48 Beurteilungsspielraum – des Bundespräsidenten 48, 51 – des Gesetzgebers 50, 54 – bei Organisationsentscheidungen nach Art. 64 Abs. 1 GG 143 –145 – bei Personalentscheidungen nach Art. 64 Abs. 1 GG 140 f. – bei der Richtlinienkompetenz nach Art. 65 S. 1 GG 149 f., 161 – bei Schutzpflichten 187 – bei Tatsachenbewertungen 46 f., 49, 211 f. – Verhältnis zur Einschätzungsprärogative siehe Einschätzungsprärogative – Verhältnis zum Ermessen siehe Ermessen – Verhältnis zur Gestaltungsfreiheit siehe Gestaltungsfreiheit – verteidigungspolitischer 33 – bei der Vertrauensfrage nach Art. 68 Abs. 1 S. 1 GG 46 f., 173 –175, 178 – im Verwaltungsrecht 49, 66 f., 73 f., 215 Demokratieprinzip 99, 106, 111 f., 124, 192, 200, 210, 216 Determinante – autonome 61, 84, 108 –113 – heteronome 36, 84, 108 –113 Diktaturmaßnahmen 24 Dilatorischer Formelkompromiss 100

Sachwortverzeichnis Dualismus von Parlament und Regierung 127 Einheitstheorien 72, 80 f., 86 Einschätzungsprärogative – bei Auslandsschutz 43 f., 56 – in der Außenpolitik 43 f. – bei Bewertung der eigenen Verhandlungsposition 44, 46 – Bewertungsergebnis 213 – Bewertungsvorgang 55 – bei Ermittlung der Tatsachenbasis (Ermittlungsebene) 45, 49, 55 f., 211 f. – bei Folgenabschätzung 45, 213 – funktionelle 45 – gerichtliche Nachprüfung 45, 55 f. – bei Kausalverläufen 45, 212 f. – materielle 46 – Prognose-, Bewertungs- und Abwägungsprärogative 213 – Rationalitätsdefizit 213 – Verhältnis zum Beurteilungsspielraum 43, 46 f., 48 f., 141 – Verhältnis zum Ermessen siehe Ermessen – Verhältnis zur Gestaltungsfreiheit siehe Gestaltungsfreiheit – bei der Vertrauensfrage nach Art. 68 Abs. 1 S. 1 GG 173 – 175, 178 Entlassungsverlangen eines Ministers 143 Entscheidungsspielraum – Begriff 17 – als Grenze der Verfassungsgerichtsbarkeit 34, 100, 189, 215 – materiell-rechtliche Struktur 32 – Typen 47 f. Ergänzungsrecht 66 Erkenntnisprozess 203 Erkenntnisspielraum 185 Ermessen – § 32 BVerfGG 40 – Art. 21 Abs. 2 GG 40, 103, 138 f., 171

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– Art. 37 Abs. 1 GG 41 – bei Auslandsschutz 33, 35, 39 f., 54 f., 187 f., 213 f. – Auswahlermessen 128, 188, 213 – in der Außenpolitik 35 –37, 54, 88, 103 – Befassungspflicht 214 – Bundeskanzlerermessen 15, 42, 34, 146 – Bundespräsidentenermessen 41 f., 47 f., 177 – Doppelfunktion 77 – Ermessensausfall 55, 64, 213 f. – Ermessensfehler 16, 20, 37 f., 49, 52, 55, 63 f., 69, 177, 187 f., 213 f., 217 – Ermessensfehlerlehre 64, 69, 213 f., 217 – Ermessensfreiheit 15, 21, 34, 37, 41, 76, 79 – Ermessensmissbrauch 24, 55, 64, 75, 213 – Ermessensreduzierung 65, 70 – Ermessensüberschreitung 24, 55, 64, 78, 213 – gesetzgeberisches siehe legislatives Ermessen – Gestaltungsermessen 72, 161 – gubernatives siehe Regierungsermessen – in der Innenpolitik 35 f., 40 – Kombinationsintensität 128, 130 – legislatives 16, 23, 34, 42, – Organisationsermessen nach Art. 64 Abs. 1 GG 145 – bei Personalentscheidungen nach Art. 64 Abs. 1 GG 140 –143 – Planungsermessen 68 –73, 95 – politisches 19 –23, 34, 37 –42, 47 –51, 54, 56, 80 f., 132, 134 –137, 140 –144, 184, 188, 206, 213 – Präsidialermessen siehe Bundespräsidentenermessen – Regierungsermessen 18, 42, 76 f., 80, 85, 93

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Sachwortverzeichnis

– Richtlinienermessen nach Art. 65 S. 1 GG 161 – bei Schutzpflichten des Staats 24, 55, 65, 78, 213 – auf Tatbestandsebene (Tatbestandsermessen) 65 f., 73 – bei terroristischen Bedrohungen 40, 185 – bei der Umsetzung von Staatszielbestimmungen 103, 183 – 185 – bei verfassungsrechtlichen Geboten 39, 42, 51 f., 98, 214 – Verhältnis zum Beurteilungsspielraum 66 f., 73 f. – Verhältnis zur Einschätzungsprärogative 43, 48 – 50 – Verhältnis zur Gestaltungsfreiheit siehe Gestaltungsfreiheit – in der Verteidigungspolitik 35, 38 f. – bei der Vertrauensfrage nach Art. 68 Abs. 1 S. 1 GG 15, 41, 177, 182 – bei völkerrechtlichen Verträgen 34 –38, 52 – Wiedervereinigungsgebot 39, 42, 50, 103, 196 – Zweckbindung 62, 85, 115 –117, 184 f., 215 – 217 Fin de non recevoir 21 Finalprogramme 69 f., 73, 129, 183 Führungsauslese 139 Gebot flächendeckender Ressortverteilung 146, 155 Gebundener Regierungsakt siehe gouvernementaler Verwaltungsakt Gefahrenlage 36, 44 f. Gemeinwohl – Definitionskompetenz 149 – formelles Verständnis 114 – Konkretisierungskompetenz der politischen Organe 99, 114, 191, 196, 204 – 206, 208

– materiales Verständnis 51, 78, 113 – 115, 117, 181 Gerichtsfreie Hoheitsakte 23, 26, 33 Gesetzesakzessorische Verwaltung 72 Gesetzesinitiativrecht 151, 158 Gestaltungsfreiheit – bei der Aufstellung des Regierungsprogramms 158, 162 – legislative 34, 85, 119 – bei der Richtliniengebung nach Art. 65 S. 1 GG 92 f., 162 – in Verbindung mit der Staatsleitungskompetenz 162 – Verhältnis zum Beurteilungsspielraum 48 f., 217 – Verhältnis zur Einschätzungsprärogative 48 f., 217 – Verhältnis zum Ermessen 48, 72 –74, 82 – 94, 108 –113, 116 f. – Zweckbindung 91 f., 112, 116 f., 120, 161, 216 Gestaltungsmacht 42 Gestaltungsspielraum 15, 39, 42 f., 47 –49, 74, 76, 86, 131, 189, 210, 216 –218 Glykol-Urteil 36 Grenzen der Normierbarkeit staatlichen Verhaltens 124 Grenzen der Verfassungsgerichtsbarkeit – Dichotomie von Recht und Politik 52 – 54, 197 –200, 215 – Divergenzlösung 208 –210 – bei eindimensionalen Entscheidungen 196 – Erfordernis von rational standards 106, 193, 198 – funktionelle 45, 201, 205 – Gesetzesbindung 192, 217 f. – Grenzen objektiver Normentwicklung 106 f. – institutionelle 189 f. – Interorganrespekt 200

Sachwortverzeichnis – Interpretation des materiellen Verfassungsrechts siehe Methoden der Verfassungsinterpretation – interpretative Restraint 100, 207 – intersubjektive Überzeugungskraft verfassungsgerichtlicher Entscheidungen 203 – judicial self-restraint 53, 194 – klassische canones der Auslegung 193 – Konvergenzlösung 208 – 210 – bei mehrdimensionalen Entscheidungen 196 – notwendige Dezisionselemente 106, 192 f., 199, 202 f. – Organadäquanz 200 – rationale Nachvollziehbarkeit 57, 203 Grundgesetz – materielle Doppelfunktion 103 f. – Rahmenordnung 52, 96 –102, 111, 118, 125, 210, 216 – Rematerialisierung 103 Grundlagenvertrag 35, 39, 53 Grundrechtseingriff durch Regierungshandeln siehe subjektive Betroffenheit Gubernative 17 f. Handlungsnormen 205, 209 f. Handlungsperspektive 189 Hüter der Verfassung 18, 25, 136 Inhaltsneutrale Kompetenznorm 117, 131, 162 Injustiziabilität – formale 27 – 29, 215 – materielle 32 f., 215 Innenbereich, staatsorganisationsrechtlicher 121 Interpretationskompetenz 150 f. Interpretationsmonopol 98 Interventionsminimum 64 Justizfreie Hoheitsakte siehe gerichtsfreie Hoheitsakte

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Justizieller Legitimationstyp 190 Kabinettsbeschluss 29 f., 125, 152 Kanzlerprinzip 151, 153 Kanzlervorbehalt 123 Kernbereich der Gubernative 160 Kompetenz – Abgrenzung 51 – Interorgankompetenz 17 f. – Intraorgankompetenz 17 f., 160 f. Kompetenz-Kompetenz 107, 150, 200 Komplexe Entscheidungen 68, 200, 217 Konditionalprogramme 69, 73, 128 f. Konsulargesetz 81, 130, 187 f. Kontrolldichte 21, 24, 32, 34, 37, 54, 69, 180, 194 f., 201 f., 208 f., 211 f., 215, 217 Kontrolle – Ergebniskontrolle 54 f. – Evidenzkontrolle 54, 178, 207 f. – politische 56 f., 99 f. – Richtungskontrolle 100 – Sach- und Leistungskontrolle 100 – Surrogat für Rechtskontrolle 56 f., 99 – Verfahrenskontrolle 55 Kontrollfreie Räume 26 Kontrollintensität 32 f. Kontrollmaßstab 32 f., 54, 190, 194, 196 f., 201 f., 204 f., 208 –210, 214 f. Kontrollnormen 128 f., 195 Kontrollparadigma 57 Kontrollperspektive 76, 189 Koordinierungsprärogative 185 Kopplungsnorm 161, 178 Kreationsakt 181 Kriegserklärung 24, 84 Leges imperfectae 30 Legitimation – demokratische 60, 81, 99 f., 115, 119, 126, 190 – politische 192, 202 f.

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Sachwortverzeichnis

Leistungsgrenzen des Rechts 100 f., 160 Letztentscheidungsrecht 189, 192, 201, 215 Maßstabslehre 85 Materielle Entscheidungen – primäre 89 f., 116 – 118, 125, 129 – sekundäre 89 f., 116 – 118 Materieller Gestaltungsauftrag 117 Materielles Kabinettsbildungsrecht – Beurteilungsspielraum siehe Beurteilungsspielraum bei Personalentscheidungen nach Art. 64 Abs. 1 GG – Ermessen siehe Ermessen bei Personalentscheidungen nach Art. 64 Abs. 1 GG – politische Grenzen 133 – 137, 154 f. Mechanismus der Gewaltenteilung 56 Methoden der Verfassungsinterpretation 100 f., 193 – 195, 197, 201 f., 204 – 209 Ministerverantwortlichkeit 122 Mitbestimmungsgesetz 50, 54, 111 Nachprüfungskompetenz 20, 52 f., 56, 189 f., 194, 215 Nato-Doppelbeschluss 30, 44, 46 f. Negative Kompetenznormen 183 f. Neutralitätsgebot 52 Normative Determinationsstruktur 89 Normative Ermächtigungslehre 67 Normative Kraft der Verfassung 101 Normzweck 41 f., 55, 62, 73, 110, 115 – 117, 173 f., 181 f., 185, 214 f. Notverordnungsrecht 23 f., 136 Öffentlichkeitsarbeit 158 – 160 Öffentlichkeitsaufklärung 159 Offensichtlicher Rechtsirrtum 24 f., 54 – 56, 114, 165, 180 f. Optimierungsgebote 183 f. Organisationsgewalt – Beurteilungsspielraum siehe Beurteilungsspielraum bei Organisationsentscheidungen nach Art. 64 Abs. 1 GG

– Ermessen siehe Organisationsermessen nach Art. 64 Abs. 1 GG – faktische Auswirkungen 121 – politische Grenzen 146, 155 Ostverträge 35 Paranoia vor der Politik 106 Parlamentarischer Rat 169 f. Parlamentarisches Zugriffsrecht 121 –125, 217 Parteiverbot 40 f. Personalkompetenz 132, 144 Planungsnormen 69 Political-Question-Doctrine 19 Fn. 1, 167 Fn. 222 Politische Leitentscheidungen 48 f., 52, 148 Politische Organe 39, 43 –46, 51 –53, 81, 102, 107, 128, 191, 204 –208, 210 f., 213 Politische Planung 127, 158 Politische Realitäten 53 Politische Verantwortung 44, 50, 57, 81, 99, 171 Präzeptorales Staatshandeln 159 Praktische Konkordanz 99, 180, 185 Primat des Rechts 105 f., 194 f. Prozessuale Erkenntnismittel 46 Qualifikationskompetenz, legislatorische 91 Realakt 29, 153, 159 Rechtsanwendung 49, 59 –61, 65, 72, 83 – 86, 193, 197 f., 200 Rechtsbindung – negative Begrenzung 107, 110 –112, 117, 163 – positive Steuerung 81, 102, 104, 107, 110 – 113, 115 –117, 183 Rechtsetzung 84 –89, 92, 105, 112, 116, 127, 193, 197, 204 Regelungsdichte 78, 195, 217 f.

Sachwortverzeichnis Regierungsakt 19 –27, 29, 31 f., 79, 84, 90 f., 122, 137, 148, 157, 213, 215 Regierungsbegriff – funktioneller 16, 87, 127 – institutioneller 16, 18, 80, 86, 95 f., 127, 157, 189, 216 Regierungserklärung 110, 153, 155, 160 Regierungsfunktion 19, 76 f., 95 f., 147 Regierungskompetenz zur Staatsleitung – Gegenstand 156 – 160 – Gestaltungsfreiheit bei der Staatsleitung siehe Gestaltungsfreiheit in Verbindung mit der Staatsleitungskompetenz – Herleitung 158 – „zur gesamten Hand“ 157 Regierungsprogramm 155, 158, 162, 164 f. Regierungsverfassung 147 Reichskanzler 20 Reichspräsident 23 f., 75, 135, 168, 170 Rejet au fond 21 Richtlinie – faktische Bindungswirkung 123 f. – politische Funktion 153 f. – rechtliche Funktion 153 f. – Tatbestandsmerkmal 148 f., 161 Richtlinienkompetenz – Beurteilungsspielraum siehe Beurteilungsspielraum bei der Richtlinienkompetenz nach Art. 65 S. 1 GG – Ermessen siehe Richtlinienermessen nach Art. 65 S. 1 GG – Evokationsrecht 149 – Gestaltungsfreiheit siehe Gestaltungsfreiheit bei der Richtliniengebung – Interpretationskompetenz 150 f. – Koalitionsvereinbarungen 146, 155 f. – Regelungsgegenstand 156 – 160 – Selbstbindung des Kanzlers 163 Saarabkommen 35

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Sachverhaltsaufklärung durch das Gericht 45 Schleyer-Urteil 40, 185 Schrankentheorie 86 f., 216 Schrankentrias siehe Art. 80 Abs. 1 GG Schutzpflicht des Staats 39 f., 42, 44, 54, 103, 111, 184 –188, 213 f. Selbstdarstellung des Staats 158 f. Selbstdefinition des Verfassungsrechts 26 Selbsteintrittsrecht 150 Sozialstaatsprinzip 163 Staatsbesuch 16, 160 Staatsfundamentalnormen 85, 103 Staatsgerichtshof 24 f. Staatsleitung siehe Regierungskompetenz zur Staatsleitung Staatstätigkeit – freie 87 f., 127, 130 – gebundene 58, 77, 87 f., 130 Staatszielbestimmungen 103, 183 –185, 209 Staatszweck 89 Streitbare Demokratie 103, 138 f. Streitigkeiten „um das Recht“ 105 f. Strukturelle Äquivalenz legislativer und gubernativer Entscheidungen 124 –127, 217 Strukturelle Unzugänglichkeit 26 Stufenlehre des Rechts 84 f., 112 Subjektive Betroffenheit 28 –30, 120 f., 163 Superminister 145 Supreme Court 197 Fn. 63 Tatbestandsermessen siehe Ermessen Totalvorbehalt 120 Unbestimmte Rechtsbegriffe 59, 65 –67, 73 f., 129, 148 Verfassungsauftrag 91 f., 98 Verfassungsbeschwerdebefugnis 29

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Sachwortverzeichnis

Verfassungsnormen 26, 41, 49, 102, 104, 118, 129, 195, 203 – 210, 213 Verfassungstotalitarismus 98 Verfassungstreue von Ministerkandidaten 138 f., 141 Verfassungsunmittelbarkeit, doppelte 28 Verfassungsvollzug 91 f., 96 f., 101 Verhaltensoptionen – normative 46, 59, 162, 182, 188, 207 – tatsächliche 26, 36, 45 f. Verteidigungspolitik 33, 35, 38 f., 43 f., 151 Vertrauensfrage – Abstimmungsniederlagen 179 f. – Auflösungsrecht 167 – 173 – Beurteilungsspielraum siehe Beurteilungsspielraum bei der Vertrauensfrage nach Art. 68 Abs. 1 S. 1 GG – „Echte“ Vertrauensfrage 164 – Ermessen siehe Ermessen bei der Vertrauensfrage nach Art. 68 Abs. 1 S. 1 GG – Gegenbeweis 176 – Kontrollverzicht 167 – materielle Auflösungslage 173, 175 f. – Minderheitskanzler 154, 165, 168 f., 173, 179 f. – performative Willensbekundung 166 f. – politische Reservefunktion des Bundespräsidenten 177 – Selbstauflösungsrecht des Parlaments 166, 168 – 170, 173 – „Unechte“ Vertrauensfrage 164 f., 177 – verdeckte Minderheitssituation 175, 179 – Vertrauen 164 – wirklichkeitsbeschreibende Wissenserklärung 166 Verwaltung, gestaltende 70 – 72 Verwaltungsakt

– Begriff 28, 54 – gouvernementaler 29 Verwaltungsnormen 129 Verwaltungspolitik 72 Verwaltungsvorbehalt 124 Fn. 188 Völkerrechtliche Verträge 30, 34 –38, 52, 122 Vollzugsdefizit 101 Vorbehalt des Gesetzes 59 f., 67, 70 f., 78, 96, 119 –124, 151, 160, 162, 217 Vorbehaltsbereich der Regierung – faktischer 124 – rechtlicher 121 f. Vorrang – des Gesetzes 59, 71, 105 f., 117 f. – der Verfassung 91 Wählbarkeitsvoraussetzungen 141 Wählerauftrag 143 Wehrhafte Demokratie siehe streitbare Demokratie Weimarer Reichsverfassung – Art. 25 WRV 136, 168, 170 – Art. 48 WRV 23 f., 136 – Relativismus 103, 138 f. Werteordnung – kardinale 100 Fn. 36 – materiale 98, 196 f. – ordinale 100 Fn. 36 Wesentlichkeitstheorie 119 f. Wiedervereinigungsgebot 39 f., 42, 50, 103, 196 Wiener Schule 82 Zugriffsrecht des Parlaments 121 –125, 217 Zweckbindung siehe Ermessen Zwecksetzungskompetenz 116 Zwecksetzungsprärogative 91 f.