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German Pages 394 [393] Year 2015
Ellen Schwitalski »Werde, die du bist«
Ellen Schwitalski (Dr. phil.) studierte Lehramt und Pädagogik in Bielefeld und >>women studies« in Madrid. Nach dem Referendariat arbeitete sie im Graduiertenkolleg >>Schulentwicklung an Reformschulen« an der Universität Bielefeld.
ELLEN SCHWITALSKI
>>Werde, die du bist« Pionierinnen der Reformpädagogik. Die Odenwaldschule im Kaiserreich und in der Weimarer Republik
[transcript]
Gedruckt mit Unterstützung der Axel Springer Stiftung, Berlin Dieser Publikation liegt die Dissertation der Autorin z ugrunde. Die Arbeit wurde an der Fakultät für Pädagogik der Universität Bielifeld eingereicht.
Bibliografische Information der Deutschen Bibliothek
Die Deutsche Bibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http:/ jdnb.ddb.de abrufbar.
© 2004 transcript Verlag, Bielefeld Umschlaggestaltung: Kordula Röckenhaus, Sielefeld Lektorat & Satz: Kai Reinhardt, Sielefeld Druck: Majuskel Medienproduktion GmbH, Wetzlar ISBN 3-89942-206-6
INHALT
1 Einleitung TEIL I
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DIE 0DENWALDSCHULE
2 Die OdenwaldschulePorträt eines frühen koedukativen Landerziehungsheimes
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TEIL ll DIE UNTERSUCHUNG DER GESAMTGRUPPE
3 Die Pädagoginnen der OdenwaldschuleDas weibliche Kollegium 1910-1934
3.1 Sozialer Hintergrund und reformpädagogische Tätigkeit 3.1.1 Anteil von Reformpädagoginnen an der Odenwaldschule 3.1.2 Alter und Generationen 3.1.3 Soziale Herkunft und psychosoziale Bedingungen 3.1.4 Konfessionen der Odenwaldschulpädagoginnen 3.1.5 Familienstand 3.1.6 Motive 3.1. 7 Unterrichtsfächer 3.1.8 Durchschnittliche Anstellungszeit 3.1.9 ,Reformpädagogischer roter Faden' 3.1.1 0 Auslandsaufenthalte 3.2 Ausbildung und Arbeitsmarkt nach Berufsgruppen 3.2.1 Die Kindergärtnerinnen, Hortnerinnen und Jugendleiterinnen 3.2.2 Die seminaristisch gebildeten Lehrerinnen für den Elementarbereich, die Volks-, Mittelund höhere Mädchenschule 3.2.3 Die Akademikerinnen 3.2.4 Fachlehrerinnen 4 Ergebnisse Teil II
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TEIL lll DIE UNTERSUCHUNG DER EINZELBIOGRAPIDEN
5 Ausgewählte Berufsbiographien von Pädagoginnen der Odenwaldschule 5.1 Edith Johanna Cassirer-Geheeb 5.2 Alwine von Keller 5.3 Julie-Elisabeth Huguenin-Bergerat 5.4 Dr. Olga Auguste Amalia Knischewsky 5.5 Kati Lotz 5.6 Käthe Harnburg 5. 7 Dr. Vera Lachmann 5.8 Helene Erika Czapski-Holzmann 5.9 Gertraudt Fatumea Schaefer-Herzogenrath
215 243 257 273 294 305 316 324
6 Ergebnisse Teil 111
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7 Schlussbetrachtung
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Anhang Personenverzeichnis Abkürzungen Nachlässe/ Archive/Interviews Zeitgenössische Periodika der Frauen- und Reformschulbewegung sowie der Odenwaldschule Literaturverzeichnis
355 355 362 363
183 186
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VERZEICHNIS DER ABBILDUNGEN
Abb. 1: Anzeige der Odenwaldschule, 1910 (aus: Die Frauenbewegung 16 (7) : 54) Abb. 2: Linoldruck Weibliche Zukunft, o.J. (Berta Rubinstein, AOSO) Abb. 3: Edith Cassirer als Jugendliche in Berlin, o.J. (AEdH, Druck) Abb. 4: Edith Cassirer-Geheeb, o.J. (AEdH) Abb. 5: Karikatur von OlafGulbransson, 1909 (AEdH; aus: Näf 1998: 360) Abb. 6: Alwine von Keller mit Schülerl-innen und Paul Geheeb, o.J. (AEdH) Abb. 7: Elisabeth Huguenin, Weihnachten 1941 (AEdH, Photoalben) Abb. 8: Käthe Harnburg um 1927 (Privatarchiv Ruth Fichtner, Ulm) Abb. 9: Vera Lachmann, Anfang 1930 (WilmersdorfArchiv, BA CharlottenburgWilmersdorfvon Berlin, Fachbereich Kultur, Photo aus dem Privatbesitz von Beate Planskoy) Abb. 10: Helene Czapski an der Odenwaldschule um 1914 (AEdH, Photoalben) Abb. 11: He Jene Czapski um 1910 (aus: Städtische Museen Jena: Czapski-Holzmann. Gemälde, Aquarelle, Collagen. Katalog zur Ausstellung. 6. Okt.-28. Dez. 1991, S. 14) Abb. 12: Portrait eines Odenwaldschülers, 1914 (Arbeit von Helene Czapski, Gemälde in Privatbesitz von Margarete Holzmann) Abb. 13: Gertraudt Schaefer als Lehrerin an der Odenwaldschule, o.J. (Nachlass Gertraudt Schaefer-Herzogenrath, in Privatbesitz) Abb. 14: Gertraudt Schaefer mit ihrer pädagogischen Familie, o.J. (Nachlass Gertraudt Schaefer-Herzogenrath, in Privatbesitz)
21 177 186 186 201
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VERZEICHNIS DER TABELLEN
Tab. 1: Der Anteil von Frauen in den verschiedenen Lehrberufen im Regelschulwesen Tab. 2:
Generationen: Jahr und Anzahl der in den jeweiligen Jahren geborenen Mitarbeiterinnen
Tab. 3: Elternberufe-Töchterberufe
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55 58
Jüdische Pädagoginnen und ihre Beschäftigungsjahre
66
Tab. 5: Unterrichtsfächer an der Odenwaldschule 191 0-1934
77
Tab. 6:
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Tab. 4:
Verbleibdauer der Odenwaldschulpädagoginnen
Tab. 7: Arbeitsbereiche der Pädagoginnen der Odenwaldschule
95
Tab. 8: Hochschulzugangsberechtigungen von Frauen an preußischen Universitäten
142
Tab. 9: Angaben über Zugänge zur Hochschulreife/ zum Studium
143
Tab. 10: Turn- und Gymnastiklehrerinnen
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DANKSAGUNG
Bis zur Fertigstellung dieses Buches haben mir viele Menschen geholfen, mich in unterschiedlichster Weise unterstützt und so zum Gelingen beigetragen. Die Finanzierung des Projekts wurde durch das Graduiertenkolleg ,Schulentwicklung an Reformschulen' der Universität Bietefeld gewährleistet. Die Druckkosten unterstützte die Axel Springer-Stiftung, Berlin. Frau Prof. Dr. Juliane Jacobi betreute mein Projekt während des gesamten Entstehungsprozesses. Sie machte mich auf die Pädagoginnen der Odenwaldschule aufmerksam und stand mir in allden Jahren bei vielen inhaltlichen Fragen zur Seite. Auch in finanziellen Sackgassen zeigte sie mir Auswege. Ihre Hinweise und Unterstützung haben mir zahlreiche Türen geöffnet. Für die alltägliche Unterstützung und Geduld danke ich Jlona Kleinjohann. Finanziell unter die Arme gegriffen haben mir auch meine Eltern Gisela und Hans Schwitalski. Ohne die Gastfreundschaft der beiden Landerziehungsheime, in deren Archiven ich wochenlang stöbern durfte, deren Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter mir unermüdlich Geschichten aus vergangeneu Zeiten erzählt haben, wäre die Arbeit nicht in dieser Art möglich geworden. Besonders möchte ich hier noch Herrn Müller-Holtz, Herrn Alphei und Frau Netzer aus der Odenwaldschule sowie Frau und Herrn Lüthi, Margot Schiller, lrmy Jones und Rosemarie Varga aus der Ecole d'Humanite danken - der Schule danke ich besonders auch für die materielle Untersützung. Viele Mitarbeiter und Mitarbeiterinnen von Archiven haben mir Zugang zu den Archivmaterialien verschafft und mir Hinweise auf weitere Quellen gegeben. Eine engagierte Mitarbeiterin im Archiv und wichtige Diskussionspartnerin für eine lange Zeit war Birgit Tramsen. Ein dauerhafter und immer motivierender Gesprächspartner ist mir Martin Näf geworden, der mich in emotionaler wie in finanzieller Hinsicht großzügig unterstützt hat. Eine große Freude und Motivation waren mir immer wieder die Gespräche mit den Verwandten und Bekannten der ehemaligen Mitarbeiterinnen der Odenwaldschule. Einige möchte ich hier nennen: Familie Herzogenrath, Ruth Fichtner, Margarete Holzmann, Gita, Rukmini und Sakunthala Sharma. Sie alle waren sehr hilfsbereit. Ihnen verdanke ich viele Informationen, Material und Einblicke in die lebendige Geschichte der Odenwaldschule. Gertrud Baucke hat das ers-
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D AN KSAGUNG
te Korrekturlesen übernommen und Andreas Hüllinghorst hat mir über einige Hürden durch das Layout und die Veröffentlichung geholfen. All diesen Menschen und auch denen, die weder hier noch in den Fußnoten genannt sind, danke ich herzlich für ihre Unterstützung.
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EINLEITUNG
, Werde, der du bist.' war gleichermaßen Leitspruch der Odenwaldschule wie auch eines reformwilligen und reformbemühten Teiles der Gesellschaft zwischen Kaiserreich und Nationalsozialismus. Hedwig Dohm (1894) formulierte die weibliche Umformung des Aufrufs: , Werde, die du bist' und unterstrich damit seine Bedeutung für den weiblichen Teil der Bevölkerung, der in erheblichem Maße betroffen war und sich auf neue Wege der Lebensgestaltung begab. Der Ausspruch, der noch heute sogenannten ,Altschülern' und ,Aitschülerinnen' sowie ehemaligen Lehrerinnen (vgl. Kap. 5.9) der Odenwaldschule gegenwärtig ist, kennzeichnet Veränderungsprozesse innerhalb der Gesellschaft des beginnenden 20. Jahrhundetis, die dem Individuum zunehmende Freiheit und Möglichkeiten der persönlichen und beruflichen Entwicklung zugestanden und auch ermöglichten. Ihren Ausdruck und ihre Impulse fanden diese Prozesse in sozialen und kulturkritischen Bewegungen wie der Frauenbewegung, der Jugendbewegung, der Lebensreform- und Körperkulturbewegung und auch der Reformpädagogischen Bewegung. Alle diese, aus einem grundlegenden Bedürfnis der Menschen entstandenen Bewegungen trieben in besonderer Weise das Bewusstsein für neue Formen weiblicher Lebensgestaltung voran und boten Frauen Freiräume für ihre Ausbildung und Arbeit. Dennoch wird auf eine der bedeutenden sozialen Bewegungen der Zeit, die Frauenbewegung, ebenso wie auf reformpädagogisch engagierte Frauen in Darstellungen der Reformpädagogik selten verwiesen. Alle genannten Bewegungen waren direkte oder indirekte Orientierungspunkte für eine ,kulturkritische Szene' , zu der die Pädagoginnen der Odenwaldschule zu zählen sind. Die gegenwärtige reformpädagogische Praxis und ihre erziehungswissenschaftliche Diskussion beziehen sich immer noch auf eine breite reformpädagogische Debatte im ersten Drittel des 20. Jahrhunderts mit zentralen Stichworten wie ,Schule als Lebensform' und ,Gemeinschaft', ,Handlungsorientierung' und ,Selbsttätigkeit'. Diese Auseinandersetzung war geprägt durch grundlegende gesellschaftliche Veränderungen und deren Auswirkungen auf die Menschen. Die historische Reformpädagogische Bewegung erfuhr seit 1890 einen Schub durch verstärkte Modernisierungstendenzen wie die Staatsbildung durch die Reichsgründung, die einsetzende Industrialisierung, das Wachstum der Städte und durch die damit verbundenen gesellschaftli-
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,WERDE, DIE DU BIST'
chen Umschichtungen. Diese Veränderungen betrafen vor allem auch Frauen, die von der sozialen und zudem auch von der geschlechtsspezifischen Umstrukturierung in vielen Bereichen betroffen waren. Konstituierte sich die Frauenbewegung bereits 1865, so waren infolgedessen gegen Ende des 19. Jahrhunderts erste Erfolge hinsichtlich der sozialen Stellung von Frauen innerhalb der Gesellschaft zu verzeichnen. Die Diskussionen und die Aktivitäten der Frauenbewegung kreisten vor allem um die Berufstätigkeit der Frau. Der Beruf der Lehrerin war einer der wenigen standesgemäßen Berufe flir bürgerliche Frauen, der der Kindergärtnerin seit Pestalozzi und Fröbel ein traditioneller Frauenberuf. In der Entwicklung des Lehrerinnen- und Erzieherinnenberufes spiegelt sich wie in kaum einem anderen der Kampf der Frauenbewegung um Bildung wider, d.h. der Kampf um höhere Bildung, Berufsausbildung und Studium, sowie um das Recht auf Berufsarbeit und eigenständige Sicherung des Lebensunterhaltes. Die Ausbildungs- und Berufsverläufe von Lehrerinnen unterschieden sich von denen der männlichen Pädagogen im pädagogischen Arbeitsfeld zu Beginn des 20. Jahrhunderts in der Art der angestrebten (möglichen) Berufsabschlüsse, dem Zugang zu berufsbildenden Institutionen wie auch in der Ausgestaltung der Berufstätigkeit Die pädagogische Diskussion im ersten Drittel des 20. Jahrhunderts war geprägt von einer kultur- und gesellschaftskritischen Haltung, die sich sowohl in Projekten der Erwachsenenbildung, besonders der Frauenbildung, als auch in der Neugründung privater Reformschulen wie den Landerziehungsheimen niederschlug. Bis in die 1920er Jahre setzte man, vornehmlich innerhalb einer ,sozialkritischen Szene' , große Hoffnung in die Erziehung von jungen Menschen zu verantwortlichen Bürgern einer ,neuen Gesellschaft'. Pädagogische Praxis, Ausbreitung und Ausprägung reformpädagogischer Institutionen und deren Vernetzung sind jedoch flir diesen historischen Abschnitt nicht hinreichend untersucht und werden unterschätzt. Das Gleiche gilt für die Verbindungen zwischen sich gegenseitig unterstützenden Institutionen und Bewegungen. Besonders betrifft das die Wirkungsweise von Pädagoginnen und vor allem von Lehrerinnen, als Angehörige eines relativ jungen, aber expandierenden Berufszweiges. Ihre persönlichen Interessen wie private Lebensplanung, Berufstätigkeit und finanzielle Eigenständigkeit überschn itten sich mit pädagogischen und gesellschaftspolitischen Interessen. Diese soziale Position von Pädagoginnen als Frauen einer neuen, modernen Generation legt eine große Beteiligung von Frauen an den reformpädagogischen Aktivitäten des beginnenden 20. Jahrhunderts nahe. Umso erstaunlicher ist es, dass ihr Anteil an der reformpädagogischen Bewegung nur lückenhaft dokumentiert und erforscht ist. Pädagoginnen finden in den Werken zur Geschichte der Reformpädagogik kaum Berücksichtigung. In dieser Untersuchung werden deshalb die Ausbildungs- und Berufsverläufe von Mitarbeiterinnen der Odenwaldschule erfasst. Zu Beginn mei-
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ner Forschung ging ich von der These aus, dass Pädagoginnen in reformpädagogischen Institutionen, respektive der Odenwaldschule, besondere Bedingungen suchten und auch vorfanden: Dazu gehörten die Möglichkeit der freien Gestaltung ihrer pädagogischen Praxis, ein naturverbundenes, aber intellektuell anregendes, reformpädagogisches Umfeld und ein gesellschaftsreformerisches Klima. Was die Berufsbiographien und den Anteil an der Reformpädagogik betrifft, konnte ich zu Beginn auf sehr wenige Anhaltspunkte aus der historisch-pädagogischen Forschung zurückgreifen. Ältere wie auch neuere Darstellungen der Geschichte der Reformpädagogik, wie Scheibe (1969), Röhrs (1991) und Oelkers (1996), bestehen im Wesentlichen aus der ideengeschichtlichen Abbildung der einzelnen reformpädagogischen schulischen Einrichtungen, institutionsgeschichtlichen Untersuchungen und theoriegeschichtlicher Forschung. Reformpädagoginnen und ihre Werke kommen, mit Ausnahme der bekannten weiblichen pädagogischen Größen Ellen Key und Maria Montessori, selten vor. Tn der gründlichen und systematischen Studie zur Reformpädagogik von Jürgen Oelkers (1996 [1989]) wird die Problematik der Geschlechterdimension in der Entwicklung des reformpädagogischen Diskurses überhaupt nicht erwähnt, wie James Albisetti bereits 1990 feststellte. Seit dieser Studie werden die antimodernistischen Züge der Reformpädagogik stark betont. Demgegenüber ist für die vergangenen zehn Jahre ein Interesse an biographisch orientierten Untersuchungen und Darstellungen der Wirkungsweise von Reformpädagoginnen festzustellen. Bruno Schonig hat 1989 auf der Grundlage lebensgeschichtlicher Erzählungen die reformpädagogische Praxis von Lehrerinnen und Lehrern - darunter bemerkenswerterweise doppelt so viele weibliche wie männliche Lehrkräfte- an Berliner Regelschulen untersucht. Diese Untersuchung erfuhr eine Weiterführung durch Christa Rändle und Bruno Schonig (1996), in der es schwerpunktmäßig um das reformpädagogische Engagement und den Erwerb von Qualifikationen für die reformpädagogische Arbeit- allerdings an Regelschulen - geht. Umfangreichere Werke über das Wirken von ,Reformpädagoginnen' wurden von Tnge Hansen-Schaberg (1992) und Bruno Schonig ( 1996) veröffentlicht. lnge Hansen-Schaberg untersuchte die "pädagogische Biographie einer Reformpädagogin" - die der sozialistischen Reformpädagogin und Schulgründerin Minna Specht, die übrigens in den Jahren 1946-1951 die Odenwaldschule während des Wiederaufbaus leitete. Bruno Schonig gab die biographische Beschreibung der reformpädagogischen Tätigkeit Sophie Friedländers und Hilde Jareckis heraus (Friedländer/Jarecki 1996). Hildegard Feidel-Mertz lässt in ihrem Buch Schulen im Exil (1983) Pädagoginnen zu Wort kommen, die bis dahin weitgehend unbekannt geblieben waren, darunter auch die 0denwaldschullehrerin Alwine von Keller. Tlse Brehmer und Karin Eh-
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,WERDE, DI E DU BIST'
rich erfassen in ihrem Werk Mütterlichkeit als Profession? (1993) rund 250 Pädagoginnen in Form von Kurzbiographien und stellen damit eine Grundlage zum Nachschlagen und fl.ir weitere Forschung auf dem Gebiet der pädagogischen Aktivitäten von Frauen zur Verfügung. Manfred Berger vereinigt in seinem Handbuch Frauen in der Geschichte des Kindergartens (1995) eine Auswahl von Aufzeichnungen des Engagements von Kindergartenpädagoginnen. Auch für die gegenwärtige pädagogische Praxis scheint ein historisches Interesse an der Arbeit von Frauen zu bestehen, wie die seit 1996 fortgeführte Serie ,Pädagoginnen gestern und heute' in der Zeitschrift Grundschule zeigt. Diese Untersuchungen erfassen jedoch den Anteil und das Wirken von Frauen in der alternativen pädagogischen Szene noch lange nicht. In einer Phase des großen gesellschaftlichen Umbruchs von der Jahrhundertwende bis zum Beginn des Nationalsozialismus entstanden viele erfolgreiche und später berühmte Alternativschulen, wie die immer wieder zitierten Landerziehungsheime von Hermann Lietz, Gustav Wyneken und Paul Geheeb. Es existierten aber auch viele kleine, oft privat gegründete pädagogische Projekte und Versuche, von denen viele nicht dokumentiert und in Vergessenheit geraten sind. Gerade sie aber und ihre neue und oft revolutionäre Erziehungspraxis wurden häufig von Frauen getragen. Die Aufarbeitung dieses weiblichen, in der zeitgenössischen wie aktuellen Literatur wenig beachteten Anteils bietet die Möglichkeit, die reformpädagogische Bewegung als Bewegung , von unten' in ihren sehr verschiedenen Formen in den Blick zu nehmen. So ist eine Aufgabe dieser Arbeit, einen Beitrag zur Offenlegung der Breite und des Charakters der reformpädagogischen Bestrebungen und ihrer Trägerinnen zu leisten, unser bisheriges Bild in Bezug auf die Ambivalenzen der Reformpädagogik in gewisser Weise zu korrigieren und darüber hinaus ein noch ausbaufähiges Forschungsfeld zu eröffnen. Die Odenwaldschule wählte ich als Ausgangspunkt dieser Untersuchung. Sie zeigte seit ihrer Gründung 1910 eine bemerkenswerte Aufgeschlossenheit gegenüber Mitarbeiterinnen. Diese wurden nicht zuletzt wegen des damals revolutionären Prinzips der ,Koedukation' eingestellt. Zudem bestand die ursprüngliche Odenwaldschule in Hessen (schulintern auch ,OSO I' genannt), über einen Zeitraum, der sowohl das Kaiserreich als auch die Weimarer Republik einschließt. Die Ausbildungs- und Berufsbiographien der Pädagoginnen beginnen zum Teil Anfang des Jahrhunderts, die späterer Lehrerinnen zur Zeit der Weimarer Republik. Bildungshistorisch ist diese Zeit die "entwicklungsträchtigste fl.ir die Lehrerinnenbildungsanstalten wie fl.ir die gesamte Mädchenbildung." (Nieswandt 1996: 175) Sie ist interessant, da sich in dieser Zeit die Berufschancen und auch das Selbstverständnis von Pädagoginnen entwickelte. Die Untersuchung im Hinblick auf die
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Ausbildungs- und Berufschancen und die Schwerpunkte der Arbeitsinteressen während dieses Zeitraumes erscheinen wegen der parallelen Entwicklung der reformpädagogischen Bewegung besonders aufschlussreich. Als Beitrag zur Geschichtsschreibung der Reformpädagogik verbindet diese Arbeit Mentalitätsgeschichte und Frauengeschichte. Von besonderem Interesse ist es, zu klären, welche real- und ideengeschichtlichen Zusammenhänge zwischen den sozialen und kulturellen Bewegungen, den Berufsbiographien der Pädagoginnen und der Odenwaldschule als Landerziehungsheim - und bedeutender Schule der Reformpädagogik - bestehen. Wie wirkten Pädagoginnen auf die Reformpädagogik? Wie war ihr eigenes und allgemeines Berufs- und Selbstverständnis und ihre politische Orientierung als ,kulturschaffende', kulturkritische Menschen des beginnenden 20. Jahrhunderts? Sind die Pädagoginnen der Odenwaldschule vor dem Hintergrund ihrer Berufsbiographien als ,Reformpädagoginnen' mit einem Einfluss auf die Ausgestaltung der Odenwaldschule und die breitere reformpädagogische Szene zu bewerten? Wirft diese Perspektive ein neues Licht auf die Reformpädagogik, indem sie die Geschichtsschreibung der Reformpädagogik revidiert bzw. erweitert? Wie ist die reformpädagogische Bewegung unter dem Aspekt der großen Beteiligung von Frauen als z.T. noch unbekannten Gründerinnen pädagogischer Einrichtungen und Trägerinnen auch bekannter Institutionen neu darzustellen? Nicht zuletzt soll die Arbeit von Reformpädagoginnen, ihre Bedeutung für die Odenwaldschule und für die Reformpädagogik gewürdigt werden und ein Netz von reformpädagogischen Institutionen und kulturkritischen Bewegungen aufgezeigt werden, die für die Pädagoginnen und ihr berufliches Engagement von Bedeutung waren. Eine sorgfältige Quellensichtung in den Schularchiven war die Grundlage für weitere Recherchen bei Zeitzeugen und deren Umfeld, weiteren weit verstreuten Archiven und Literaturrecherchen. Die Schularchive der Odenwaldschule und der (Exil-)Nachfolgeschule Ecole d'Humanite in der Schweiz enthalten umfangreiches Quellenmaterial, das bislang zu erheblichen Teilen nicht bearbeitet worden war. Vornehmlich anhand dieser Quellen gehe ich den Berufsbiographien der an der Odenwaldschule von 1910 bis 1934 beschäftigten Pädagoginnen nach. In diesem Buch wird die Bedeutung der zeitgenössischen sozialen und kulturkritischen Bewegungen für die Pädagoginnen und ihr Einfluss auf die Prägung der Odenwaldschule und der aus ihr entstandenen Institutionen bestimmt. Die Lebensläufe der Pädagoginnen konnte ich größtenteils anhand schulinterner Daten bis zum Eintritt in die Odenwaldschule verfolgen. In einigen Fällen lieferten Korrespondenzen, die noch nach der An-
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stellung der Pädagoginnen fortgeführt wurden, Anknüpfungspunkte für die Untersuchung ihrer weiteren Tätigkeiten. Somit konnte ich für einige Berufsbiographien die Arbeit an der Odenwaldschule und der folgenden Berufstätigkeit über die Schularchive hinaus recherchieren. Das Auftreten in der pädagogischen öffentlichen Diskussion ermöglichte mir bei einigen Pädagoginnen die inhaltliche Diskussion ihrer pädagogischen und politischen Standpunkte anhand von Veröffentlichungen in Zeitschriften und Monographien. Für dieses Buch wurden also Quellen verschiedenster Gattungen ausgewertet. Die Verbindung zweier unterschiedlicher Verfahren der Biographieforschung ergibt sich sowohl aus der Quellenlage, wie auch aus dem Erkenntnisinteresse. Das verarbeitete Material besteht zum einen aus einer Menge gleichförmiger Quellen, deren systematische Aufarbeitung und Interpretation die Beschreibung einer Gruppe von Pädagoginnen ermöglicht. 1 Weiterführende Quellen zu Individuen verdichten diese Angaben, und bieten die Grundlage für Einzelbiographien. In einigen Fällen werden sie auch zur Erweiterung der Kollektivuntersuchung herangezogen. Beide Verfahren - die Kollektivbiographie und die Einzelbiographie - nehmen die ,Pädagogin am Landerziehungsheim' als Typus und als Einzelpersönlichkeit sowie ihr Handeln in Wechselwirkung mit sozialen Zusammenhängen in den Blick. D.h. die Frage nach dem Zusammenhang von Individuum und Gesellschaft steht im Vordergrund des Interesses. Die Ergebnisse beider Teile werden analytisch aufeinander bezogen, sie ergänzen und korrigieren sich. Durch diese beiden Verfahren wird es möglich, auch die Berufsbiographien wenig bekannter Personen zu untersuchen, die nicht durch publizistische Tätigkeit zahlreiche Quellen hinterlassen haben. Die vorliegende Studie ist in drei Teile gegliedert. Dem Schulporträt (Teil I) folgen analog zur methodischen Herangehensweise die Kollektivbiographie aller erfassten 170 weiblichen Mitarbeiterinnen zwischen 1910 und 1934 (Teil ll) und die Einzelberufsbiographien von neun ausgesuchten Pädagoginnen (Teillll). Indem die Ergebnisse der Untersuchungsabschnitte in Beziehung gesetzt werden, können kollektive weibliche Erfahrungen und reale Emanzipationsprozesse von Problematisch ist die Datenlage an einigen Stellen hinsichtlich der Beschreibung der Pädagoginnen als Gesamtgruppe. Eine große Menge Quellenmaterial enthält wenig gleichförmiges Datenmaterial. An der Odenwaldschule als Privatschule erfolgte keine systematische Erfassung der Personaldaten, so dass die Daten für die einzelnen Merkmale nicht für alle Personen erhoben werden können. Allgemeinverbindliche Aussagen über die sozialen, kulturellen und ausbildungsmäßigen Voraussetzungen für die Arbeit in einer Institution der reformpädagogischen Bewegung zu treffen, wird deshalb nicht immer möglich sein.
EINLEITUNG
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Pädagoginnen auf der Grundlage ihrer gesellschaftskritischen Orientierung in den Blick genommen und ihre Widerspiegelung und Wirkungsweise auf die Odenwaldschule und mit ihr verknüpfter pädagogischer Projekte untersucht werden. Im ersten Teil des Buches wird ein Porträt der Odenwaldschule aus der geschlechtergeschichtlichen Perspektive entworfen, das dem Verständnis der folgenden Kapitel dient. Die Odenwaldschule stellt sich als eine Antwort auf die tiefgreifenden Erschütterungen von Geschlechterbeziehungen und Familienkonzeptionen durch den Modernisierungsschub des 19. Jahrhunderts dar, die sie für Frauen mit ,modernen' Lebensentwürfen attraktiv machte. Die Entstehungsgeschichte der Odenwaldschule ist eine Determinante für ihre Bedeutung für Pädagoginnen. Mitarbeiterrekrutierung und Vernetzung der Odenwaldschule mit der Frauenbewegung, die bei der Einstellung von Mitarbeiterinnen von Bedeutung war, werden sozialgeschichtlich rekonstruiert. Erweitert wird das Porträt durch die kulturgeschichtliche Perspektive der Interpretation des Koedukationskonzeptes der Odenwaldschule. Anhand der Methode der kollektiven Biographieforschung wird im zweiten Teil das weibliche Kollegium als Gesamtgruppe von der Gründung der Odenwaldschule bis zur Emigration dargestellt. Zugrunde liegen dafür zunächst die schulinternen Personaldaten. In diesem Teil wird der soziale Hintergrund der an der Reformschule arbeitenden Pädagoginnen analysiert, d.h. Schicht- und Konfessionszugehörigkeit, Schulbildung, Berufswahl und Ausübung. Die Strukturierung in verschiedene Berufsgruppen ergibt sich aus der Frage nach kulturkritischen Bezügen der Pädagoginnen und ihrem Zugang zur Reformpädagogik. Aufgrund der quantitativen Auswertung - und das liegt in der Natur der Kollektivbiographie - geht jedoch der Sinnzusammenhang der Berufsbiographie der einzelnen Pädagogin verloren. Deshalb wählte ich für die methodische Herangehensweise meiner Untersuchung ein kombiniertes Verfahren von Kollektivbiographie und Einzelbiographien im Sinne einer sozialhistorischen Biographieforschung und einer Geschichte der Mentalitäten. Einzelbiographisch werden im dritten Teil der Studie einige für die Odenwaldschule und die reformpädagogische Szene bedeutendere Pädagoginnen in den Blick genommen. Für die qualitative Auswertung werden Selbstaussagen, z.B. aus autobiographischen Zeugnissen, Interviews und Korrespondenzen, herangezogen. Die Einzelporträts dienen nicht dem Selbstzweck, dem "unreflektierten Nacherzählen einer Lebensgeschichte" (Schröder 1985: 6). Sie sollen den einzelnen Pädagoginnen zu einer lange schon falligen Würdigung verhelfen, darüber hinaus aber wird der zeitgeschichtliche Zusammenhang von Individuum und Gesellschaft deutlich. In diesem Teil wird anschaulich, inwieweit diese einzelnen Berufsbiographien in einem größeren Zusammenhang mit gesellschaftlichen Prozessen stehen.
Teil I Die Odenwaldschule
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DIE ODENWALDSCHULE-PORTRÄT EINES FRÜHEN KOEDUKATIVEN LANDERZIEHUNGSHEIM ES
Oden "ral d · Sch tlle Leito.ng: Paul Geheeb.
Jlöhor
J,ehr· und Erziehungs -Anstalt mit Internat.
Koedukation. Unterrichtsziele der Ober-Realschule und des Realgymnasiums. l'rr spekte durch dio Leitnog: Oberhambach bei Happenbeim (Bergstr.).
Abb. 1: Anzeige der Odenwaldschule, 1910
So die erste Anzeige in der von Minna Cauer herausgegebenen politischen Frauenzeitschrift Die Frauenbewegung1, die für die neueröffnete Odenwaldschule warb. Zwischen einer Werbeanzeige flir Reformkleidung wie Hemdhosen, Reformleibchen, Reformunterröcken und , Vernunft-Stiefeln' und eine für das Internat des städtischen Mädchengymnasiums Karlruhe des Vereins Frauenbildung-Frauenstudium gesetzt, eröffnet diese Seite Einblick in das Interessensspektrum der Leserinnen und die Zielgruppe des Blattes. Waren diejenigen, die die Frauenbildung unterstützten und die neuen Institutionen in Anspruch nahmen, derselbe Personenkreis, der sich in luftige Reformkleider hüllte und die Kinder zur Erziehung in einer Reformschule auf dem Lande gab? Und: was verband dieses Organ der Frauenbewegung mit der Odenwaldschule? Welche gemeinsamen politischen und lebensanschaulichen Einstellungen verbanden die Frauenbewegung und die Odenwaldschule? Die 1910 von Paul Geheeb und Edith Cassirer-Geheeb2 gegründete Odenwaldschule ist mit der Freien Schulgemeinde Wickersdorf (von Gustav Wyneken und Geheeb 1906 aufgebaut) erstes koedukatives Landerziehungsheim. 3 Die Odenwaldschule hat hinsichtlich der 1 Die Frauenbewegung, 16. Jg. 1910, Nr. 7, S. 54. 2 In der gesamten Arbeit werde ich, soweit bekannt, an erster Stelle den angeborenen Familiennamen, an zweiter Stelle den angeheirateten Namen nennen. 3 Vor 1910 existierte ein weiteres koedukatives Landerziehungsheim. Das von Hermann Hoffmann gegründete Landerziehungsheim Laubegast bei Dresden (1903-1906) konnte sich wegen rechtlicher Bedenken
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DIE ODENWALDSCHULE
"Gruppe der Reformpädagoginnen" eine besondere Stellung innerhalb der Landerziehungsheimbewegung. Neben den privaten Schulen und einigen wenigen Mädchengymnasien fand höhere Bildung fl.ir Mädchen auch nach der preußischen Mädchenschulreform 1908 an für Mädchen geöffneten Jungenschulen (allerdings in Preußen erst nach 1919 und in Ausnahmefallen) oder in einem separaten Ausbildungswesen ftlr Mädchen statt. Auch in der gesamten Bildungslandschaft (öffentliche und private Schulen) war die Odenwaldschule eine der ersten höheren Schulen, die gemeinschaftliche Erziehung von Mädchen und Jungen realisierte. Die Odenwaldschule wurde 1910 gegründet, in einer Zeit also, in der sich die Frauenbewegung auf einem Höhepunkt befand und die Reformpädagogik in Form von Schulgründungen institutionalisiert wurde (vgl. Gerhard 1990: 170ff.). Die Debatte der Frauenbewegung (insbesondere der Frauenbildungsbewegung) um höhere Mädchenbildung kam mit der Neuordnung des höheren Mädchenschulwesens 1908 zu einem Stillstand. Für die Zeit vor und nach 1908 zeichnete sich ein Interesse der Frauenbewegung an den Landerziehungsheimen ab. Persönliche Kontakte und gemeinsame pädagogisch-politische Zielsetzungen weisen darauf hin, dass Einflüsse der Frauenbewegung und anderer kulturkritischer Bewegungen sich in Konzept und Praxis der Odenwaldschule niederschlugen. lm April 1910, nur ein halbes Jahr nach ihrer Heirat am 18. Oktober 1909, wurde die Odenwaldschule von Edith Cassirer-Geheeb und Paul Geheeb in Oberharnbach bei Heppenheim in Betrieb genommen. Ihre Lage inmitten des Odenwaldes und doch in der Nähe der Städte Heidelberg, Darmstadt, Mannheim und Frankfurt am Main erflillte zwei Anforderungen. Die Schule sollte in der Natur angesiedelt sein und Anhindung zur städtischen Kultur haben, die "für die Erziehung der Kinder und fl.ir die Weiterbildung der Lehrer in ausgiebigstem Maße nutzbar gemacht werden"4 sollte. Und das Landerziehungsheim musste genehmigt werden. Paul Geheeb hatte sich bereits 1908/9 mit der Gtündung einer Schule in München, in der Holsteinischen Schweiz und in der Gartenstadt Hellerau bei Dresden befasst (vgl. Sarfert 1993; Hepp 1987).5 Die Planung letzterer gedieh 1909 recht weit, scheiterte jedoch letztendlich im gleichen Jahr. 6 Von der kultu-
der Schulbehörden jedoch nicht etablieren. vgl. Hansen-Schaberg 1996: 643f. und Hoffmann 1903. 4 Paul Geheeb im ersten Prospekt der Odenwaldschule, 3. Aufl. 1911: 7f., zit. nach Schäfer 1960: 9. 5 Zur deutschen Gartenstadtbewegung und ihren Vorläufern im Ausland siehe Uhlig 1981. 6 Zu den Überlegungen und zum Gründungsgesuch der koedukativen Schule in der Gartenstadt Hellerau vgl. Näf 1998: 355ff., 387ff.; zu Hellerau vgl. Kap. 5.2, S. 225ff.
PORTRÄT EINES FRÜHEN KOEDUKATIVEN LANDERZIEHUNGSHEIMES
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rellen Einbettung her ähnelte die Lage in Hessen dem Standort Hellerau, wo sich Künstler, Pädagogen, Politiker usw. zusammenfanden. Für die Genehmigung der Schule in Hessen war die liberale Einstellung des Großherzogs von Hessen und bei Rhein entscheidend. Ernst Ludwig war ein Förderer der Künste, ein Mäzen, er war ein Liebhaber und Förderer moderner Bau- und Gartenkunst. Gleichermaßen wie die Kunst unterstützte der Großherzog die staatliche und private Schulreform (er baute das Realschulwesen, besonders in den Kreisstädten, auf) und ermöglichte fortschrittlichen Pädagogen wie Paul Geheeb und Johannes Langermann (der die Stein-Fichte-Schule 1915 in Darmstadt gründete) die Verwirklichung ihrer Ideen. Kunst "galt ihm daher nicht nur als Sache ästhetischer Existenz, sondern für ihn war künstlerisches Bemühen ein aus dem Volk und ins Volk wirkender, also insgesamt ein sozialpolitischer Erziehungsprozeß." (Goes 1979: 220f.) Auch die Gründung der Künstlerkolonie Mathildenhöhe in Darmstadt geht auf den Großherzog zurück. Eine Folge seiner Unterstützung moderner Bestrebungen war eine Akkumulation lebensreformerischer Projekte und Menschen. Intellektuelle, Künstlerl-innen, Bohemiens, Politikerl-innen und Lebensreformerl-innen lebten auch im Umfeld der Odenwaldschule, siedelten sich an oder waren zu Gastdarunter Phitipp Hart, Fidus, Igor von Jakimow, Marianne Weber, Helene Czapski, Martin Buher, Heinrich Jacoby; als Schülerl-innen: Atha Gruhle, Oda Schottmüller, Klaus Mann, Golo Mann. Sie alle wurden als Lehrende, Schülerl-innen oder als Besucherl-innen und Interessierte von der liberalen Atmosphäre und dem Umfeld der Odenwaldschule und von der im Kaiserreich neuartigen Schulkultur angezogen. In Großherzog Ernst Ludwig von Hessen lernte Paul Geheeb einen kulturzugewandten und reformfreudigen Menschen kennen, der auf Geheebs Gründungsgesuch positiv reagierte. Für die Genehmigung zuständig war das Großherzogliche Ministerium des Tnnern und die Großherzogliche Kreisschulkommission, dem die Odenwaldschule während des Kaiserreiches unterstellt war und die auch weiter die Aufsicht über die Einstellung von Lehrkräften führte. 7 Die Odenwaldschute war der Kreisschulkonferenz seit 1914 mit einem jährlichen Bericht, der inhaltlich dem der höheren Schulen entsprach, verpflichtet.8 In der Weimarer Republik wurde die Odenwaldschule, wie andere
7 Zum Genehmigungsvorgang vgl. AOSO, Fach: Chronik vor 1934, Brief P.G. an d. Großherzogliche Kreisschulkommission, 07.03.1910. Durch VerfUgung am 13.09.1909 hatte er die grundsätzliche Genehmi-
gung erhalten. 8 In diesen Berichten legte die Odenwaldschule Rechenschaft über die
Lehrkräfte, Lehrkraftwechsel, die Unterrichtsverteilung und Schüler/ -innen ab, vgl. AOSO, Brief Kreisschulkommission Heppenheim an P.G., 05.09.1910.
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Privatschulen auch, dem Landesamt für das Bildungswesen unmittelbar unterstellt. 9 Das Konzept der Odenwaldschule ging auf die ersten Schulen der Landerziehungsheimbewegung zurück. Paul Geheeb hatte seit 1902 mit Hermann Lietz, den er seit seiner Studienzeit in Jena kannte, in dessen Landerziehungsheim in Tlsenburg im Harz gearbeitet. Mit dem Philosophen Johann Gottlieb Fichte als geistigem Schirmherrn baute bereits Lietz sein Landerziehungsheim mit der Überzeugung auf, dass "die Erneuerung nicht innerhalb der bestehenden Gesellschaft gelingen könne" (Schäfer um 1960: 24). 1906 trennen sich Geheeb und sein Mitarbeiter Gustav Wyneken von Lietz und gründen gemeinsam die Freie Schulgemeinde Wickersdorf Aber auch hier waren die sehr unterschiedlichen Erzieherpersönlichkeiten Grund für den Fortgang Geheebs aus Wickersdorf10 und seinen Entschluss, eine eigene Schule zu gründen. Die Wurzeln für die sozial- und gesellschaftsreformerische Grundidee der Odenwaldschule finden sich bereits in den Biographien Edith Cassirers und Paul Geheebs. Sehr großen Einfluss auf die Entwicklung der Erzieherpersönlichkeit Paul Geheebs hatten seine Studienjahre in der Metropole der politischen Entwicklungen im ausgehenden 19. Jahrhundert, in Berlin. Hier fand er Anregungen durch politische und kulturelle Reformer, die in verschiedenster Weise auf die Industrialisierung und Modernisierung der Zeit und ihre Auswirkungen reagierten. Er setzte sich mit feministischen, sozialdemokratischen und religiösen Reformern, die Christentum mit Sozialreformen verbanden, auseinander. Paul Geheeb äußerte sich bereits als junger Student sehr kritisch zur Stellung der Universitäten und der Studenten gegenüber Frauen. Er schrieb, es sei "traurig anzuhören -und ist Zeichen einer grossen Gefahr-, wenn deutsche Musensöhne das Weib das elendeste und erbärmlichste aller Geschöpfe nennen, das weibliche Geschlecht als das lediglich passive bezeichnen und mehr und mehr der Anschauung huldigen, das Weib habe keine höhere Bestimmung, als dass es dem Manne zur Befriedigung seiner sinnlichen Lüste und als Maschine zur Fort~flanzung des Menschen diene" (Freimut 1891: 34, zit. nach Näf 1998: 77). 1 Paul Geheeb interessierte sich auch auf politischer Ebene für die Frauenfrage und suchte Kontakt zu Aktivistinnen der Frauenbewegung. So besuchte er am 6. November 1891 den Jahrestag der akademischen Vereinigung, wo Minna Cauer, damals Vorsitzende des Vereins Frauenwahl über die ",Stellung der Frau in der bürgerlichen Gesellschaft' oder ein ähnliches Thema" sprechen sollte. Geheeb war fasziniert von 9 Vgl. AOSO, Ordner Behörden, 08.01.1928. 10 Zur Biographie Paul Geheebs vgl. Näf 1998 und Schäfer um 1960. 11 Geheeb nutzte zu dieser Zeit das Pseudonym ,Paul Freimut'.
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der Persönlichkeit Cauers und aus diesem Kontakt ergab sich eine jahrelange Freundschaft, Geheebs Arbeit am Rande der Frauenbewegung, sowie seine spätere Zusammenarbeit mit Frauen an der Odenwaldschule. Die Freundschaft zwischen der fast 30 Jahre älteren Minna Cauer (1841- 1922) und dem jungen Studenten Geheeb (18701961) war ftir das ausgehende 19. Jahrhundert außergewöhnlich. Beide legitimierten diese Ende des 19. Jahrhunderts das Rollenverständnis von Mann und Frau durchbrechende Beziehung - ein Lehrerinnen-Schüler-Verhältnis, das sonst zumeist in umgekehrter Rollenverteilung bestand- indem sie sie als Mutter-Sohn-Verhältnis definierten. Themen ihrer Auseinandersetzung waren die Persönlichkeitsentwicklung Geheebs sowie sozialpolitische und -kritische Themen. Minna Cauer wurde damit die wichtigste Kontaktperson zur Frauenbewegung für Geheeb und initiatorirr seiner Auseinandersetzung mit Frauenfragen (vgl. Näf 1998: 116ff.). 12 Geheeb arbeitete seit 1895 als Berater eng mit Minna Cauer zusammen, die Herausgeberirr der Zeitschrift Die Frauenbewegung war. lm Herbst 1896 übernahm er vertretungsweise ftir die erkrankte Cauer die Redaktion der Zeitschrift, in der er bis 1897 aktiv mitarbeitete. 13 Auch nach seinem Bruch mit Minna Cauer erschienen in den Jahren nach 1910 Anzeigen der Odenwaldschule in Die Frauenbewegung. Die Themen Koedukation, Landerziehungsheime und der Name Geheeb blieben in dieser Zeitschrift präsent. 14 Irrfolge seiner Arbeit in Die Frauenbewegung knüpfte Geheeb Kontakte zu weiteren prominenten Vertreterinnen der Frauenbewegung wie Anita Augspurg, Lily von Gizycki (später Braun) und Jeanette Schwerin, die auch in späteren Jahren fortbestanden. 15 Die Freundschaft mit Minna Cauer und Geheebs Engagement für die Frauenbewegung dürften ein wesentlicher Auslöser für sein pädagogisches Hauptthema, die Koedukation, sein, die eines der prägendsten, da revolutionäres Merkmal, der Odenwaldschule bis in die 1930er Jahre war. 16 Geheebs Aufgeschlossenheit gegenüber der sozialen Lage 12 Zu Minna Cauer vgl. Gerhard 1990: 217ff. und Lüders 1920. 13 Vgl. AEdH, Korr. Cauer, Briefe Geheebs an Cauer seit Oktober 1896. 14 Vgl. Geheeb 1896; o.N. 1901, 1914a, 1914b; Anzeigen der Odenwaldschule (in: Vol. 16 (7): 54 und Vol. 17 (12): 98). Es erschienen auch Artikel über die Freie Schulgemeinde Wickersdorf sowie über Ellen Key, Selma Lagerlöf (einer bevorzugten Schriftstellerirr an der Odenwaldschule) und Artikel von und über Hermann Lietz und Gustav Wyneken. 15 Vgl. AEdH, Korr. Augspurg (1896-1943), Lüders (1923-32), Salomon (1898-1948). Vgl. auch Näf 1998: 118ff. Lily Brauns Sohn Otto war in der Freien Schule Wickersdorf ein Lieblingsschüler von Paul Geheeb. 16 Paul Geheeb galt in der pädagogischen Diskussion als Experte fur Koedukation, vgl. Geheeb 1914.
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von Frauen wirkte sich in der Schule aus, wenn sie auch, wie in seinem Verhältnis zu seiner Ehefrau und Mitarbeiterin Edith CassirerGeheeb noch deutlich werden wird, zwiespältig war. 17 Pädagoginnen und Gastwissenschaftlerinnen wurden in der Schule eingestellt und aufgenommen. Der Altschüler ErnstErich Noth (Pseudonym für: Paul Krantz) weist in seinem Buch Erinnerungen eines Deutschen (1971) auf die Existenz"[ ... ] einschlägige[r] frauenrechtlerische[r] und sozialpädagogische[r] Zeitschriften hin, die in der gutbestückten Schulbibliothek auslagen". Literatur der Frauenbewegung war also fl.ir Schülerl-innen und Mitarbeitende als Informationsquelle an der Odenwaldschute zugänglich. 18 Während seiner Berliner Studienzeit, seit dem Jahr 1891 , als Minna Cauer ihn auch dort einführte, gehörte Geheeb dem Kreise um Moritz von Egidy, einem der im Berlin der 1890er Jahre "meist beachteten Propagandisten einer religiös begründeten, radikalen Gesellschaftsreform", die christliche Ethik auf soziale Probleme anwandte, an. Zielpunkte seiner Kritik waren Christentum und Kirche sowie Politik (vgl. Näf 1998: 119ff.). Über die Frauen- und die Egidy-Bewegung hinaus engagierte sich Geheeb in weiteren sozialreformerischen Bewegungen. Seit 1890 kritisierte er den Umgang der Studenten mit Alkohol und engagierte sich in der Antialkoholbewegung (vgl. ebd.: 84ff.). Er war auch in der Deutschen Gesellschaft für Ethische Kultur aktiv, die ein aufklärerisch-naturwissenschaftliches Engagement aufbrachte, zu dessen Zielsetzungen eine "humane Sittlichkeit" gehörte. Ein zentrales Anliegen war die Trennung kirchlich-religiöser und weltlicher Belange. Bildungspolitisch forderte man einen "weltlichen Moralunterricht" anstelle des "konfessionell gebundenen Religionsunterrichts" ( vgl. ebd.: 122). Die Zeit von Paul Geheebs Studienabschluss in Jena kennzeichnet eine persönliche Krise. Die schweren Zweifel an seinem Berufsziel des Seelsorgers und schließlich der Entschluss, den Beruf des Erziehers zu ergreifen, waren geprägt von seiner Auseinandersetzung mit den bereits beschriebenen sozialreformerischen Bewegungen in Berlin. Er setzte seine theologischen Studien und seine politischen und sozialen Ambitionen in eine berufliche Identifikation um, die schließlich zu den Landerziehungheimen und zur Gründung der Odenwald17 Vgl. Kap. 5.1. 18 Für den Bestand der Odenwaldschulbibliothek (AOSO) sind nachzuweisen: Die Frau. Monatsschriftfür das gesamte Frauenleben unserer Zeit und Die Frau im Staat. Die Bibliothek der Ecole d'Humanite in der Schweiz enthält noch heute Werke der Frauenbewegung von Ellen Key und Lily Braun aus ehemaligen OSO-Beständen: Key 1901 , 1903, 1904, 1906, 1911, 1913; Braun 1911. Wie viele durch üblichen Schwund und Lagerung während der Zeit der häufigen Umzüge in der Emigration abhanden gekommen sind, ist unbekannt.
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schule führen sollten (vgl. Shirley 1992: 15ff.). Diese Suche nach Selbstverwirklichung, nach einem Weg, der berufliche Tätigkeit mit einem ausgeprägten sozialpolitischen und gesellschaftskritischen Bewusstsein zu vereinbaren sucht, findet sich auch bei den Pädagoginnen der Odenwaldschule derselben und folgenden Generationen wieder. Die Verbindung von gesellschaftskritischer Sichtweise mit der Lehrund Erzieherinnentätigkeit ist typisch für die Pädagoginnen der Odenwaldschule, wie in dieser Arbeit deutlich werden wird. Edith Cassirer-Geheeb brachte fundamentale Voraussetzungen für die Arbeit in der Odenwaldschule und für ihre Prägung mit. Sie hatte sich selbstständig dem Studium der Nationalökonomie gewidmet und war, unterstützt von ihrer ,Mentorin' Alice Salomon, im PestalozziFröbel-Haus in Berlin im Bereich der Sozialarbeit tätig gewesen. Die ausschlaggebende Voraussetzung für ihre berufliche Entwicklung war der zunächst gegen ihr großbürgerliches Elternhaus durchgesetzte Wille, im pädagogischen Bereich zu arbeiten und sich nicht auf eine Zukunft in der Rolle einer Ehefrau zu beschränken. Hinzu kam ihr vielfach von anderen Menschen betontes Feingefühl für Kinder und heranwachsende Jugendliche. 19 Edith Cassirer lernte Paul Geheeb als Mitarbeiterin in Wickersdorf kennen. Sie brachte ihre Erfahrungen als Sozialarbeiterin in das gemeinsame Projekt des Landerziehungsheimes ein. Die Finanzierung erfolgte durch ihr Elternhaus; die pädagogische Idee lieferte Paul Geheeb. Ihre Umsetzung erfolgte durch beide und die Mitarbeitenden. Noch heute obliegt die Leitung vieler Landerziehungsheime einem Ehepaar. Offizieller Leiter ist der Mann - ohne die Ehefrau ist die Leitung jedoch nicht denkbar. Noch heute ist die Aufgabendefinition solcher Frauen selbst an etablierten und exponierten Landerziehungsheimen häufig unklar und ihre eigentliche Arbeit wird selten deutlich formuliert. Natalie Lüthi-Peterson20 beschrieb im Sommer 1995 die Situation von Schulleitungsehepaaren in Landerziehungsheimen: "[ ... ] Und heute also in den Landerziehungsheimen, ich denke alle haben jetzt Frauen. [... ] Aber diese absolute Notwendigkeit, die Frau zu haben, die ist da und, und man weiß, dass die alle das nicht durchhalten würden 19 Vgi.Kap.5.1. 20 Natalie Lüthi-Peterson, amerikanischer Herkunft, ist seit Paul Geheebs Tod 1961 mit ihrem Ehemann Armin Leiterin der Ecole d 'Humanite. Von Beginn an ist ihr Aufgabenbereich die Leitung des englischsprachigen Schulsystems der Schule, das sie selbst aufgebaut hat. Bis zu Edith Cassirer-Geheebs Tod im Jahr 1982 fand eine enge Zusammenarbeit mit dieser statt. Zitat nach einem Interview vom 09.06.1995 in Goldern. Zu den Landerziehungsheimen heute vgl. Vereinigung Deutscher Landerziehungsheime o.J. (Broschüre). Minna Specht war die einzige alleinstehende Leiterin eines der großen deutschen Landerziehungsheime, vgl. dazu: Bansen-Schaberg 1992.
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ohne die Frau, aber an den meisten Stellen ist da [... ] ist das- eben es ist diese unterstützende Rolle, die tragende Rolle, die fürsorgende Rolle [... ] äh, ja, den Mann in standhalten, dass der agieren kann. Und zusätzlich noch präsentabel sein." Nathalie Lüthi-Peterson bringt die zweideutige Situation der Ehefrauen von Schulleitern bzw., wie sie sich nennen, der "Leitungsfrauen" in Landerziehungsheimen auf den Punkt: "Also es ist nicht zu vermeiden, dass man trägt mit ihm [dem Leiter und Ehemann, E.S.], das kann man nicht vermeiden. Aber man zählt nichts alleine [... ].Keine öffentliche Anerkennung als Teil von der Leitung und also [... ] im Kollegium scheint es sehr, sehr schwer zu sein. Man kann nicht Kollegin sein, man kann nicht Chefin sein." Aus dieser Konstellation ergibt sich früher wie heute eine unklare Positions- und Aufgabendefinition, was die Repräsentation der Schule nach außen und innen, Machtverteilung und Anteile an der Arbeit verwischt. Besonders flir die historische Sicht fUhrt diese doppelte Situation der Leitungsfrauen und auch weiterer Mitarbeiterinnen dazu, dass tatsächliche Arbeitsbereiche, Verdienste und Selbst- und Fremdbilder sehr schwer zu deuten sind. Für die Erforschung des Anteils von Frauen am Aufbau des Landerziehungsheimes und an der Reformpädagogik ist es notwendig, durch diese, die realen Verhältnisse verschleiernden Bilder und Definitionen, hindurchzublicken. Edith Cassirer-Geheeb war die erste "Leiterin eines Landerziehungsheimes" . Walter Schäfer charakterisiert ihren Einfluss auf die Schule folgendermaßen: "In ihr fand Paul Geheeb den Partner, der ihn sein Leben lang gelten ließ im Dienen wirkte, aber auch im Dienen herrschte. Edith Geheeb war die elementare Kraft ihrer Existenz auf Mitarbeiter und Schüler, in ihrer Weise den alltäglichen Dingen immer nahe, ohne je dem Geheebschen Geist fern zu sein." (Schäfer um 1960: 31; vgl. auch Kap. 5.1) Die pädagogische Atmosphäre der Odenwaldschule war ohne Zweifel geprägt von den beiden Leitungspersönlichkeiten. Beide durchdrangen das Schulleben mit ihrer Präsenz, die in entscheidenden Augenblicken mit Rat und Tat in Erscheinung trat. Die Mitarbeiter und Mitarbeiterinnen hatten aber einen großen Handlungsspielraum ftir individuelle Entscheidungen und Arbeitsweisen. Fragen, die einen Konsens erforderten, wurden in den Gremien der Schulgemeinde oder den Konferenzen entschieden. Der Unterricht lag in der Verantwortung der jeweiligen Lehrenden. Hospitationen hielt Paul Geheeb ftir eine "grobe Indiskretion" (Wagenschein 1960: 78). Die Mitarbeitenden wurden weder kontrol-
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liert noch korrigiert und genossen in hohem Maße pädagogische, d.h. didaktische und methodische, sowie organisatorische Freiheit. Es herrschte eine Atmosphäre des Vertrauens gegenüber den Lehrenden wie den Schüler/-innen, die unter anderem durch den Verzicht auf strukturelle Gewalt, wie Zensuren, Prüfungen, Versetzungen, die Einteilung von Schülerinnen in ,gute' und ,schlechte' möglich wurde (vgl. ebd.). Die junge Niederländerin Agaath Hamaker, die 1930 als Kindergärtnerin ihre Arbeit aufnahm, war sehr erstaunt über die große Freiheit in pädagogischen Entscheidungen und im Umgang mit den Kindern sowie über das geringe Maß an Kontrolle durch die Leitung. Sie brachte in ihren 1985 veröffentlichten Briefen ihr Erstaunen und wohl auch ein Geflihl der Orientierungslosigkeit infolge der ungewohnten Anforderungen an die eigene Verantwortung zum Ausdruck: "Von Geheebs bemerke ich kaum etwas. Wenn ich sie begegne, sind sie immer freundlich, aber es vergehen Tage, daß ich sie nicht sehe und jedenfalls spreche ich sie nie. [... ]Man genießt hier nämlich eine so große Freiheit, ich kann tun und lassen, was ich will. Ich bin aber nicht sicher, ob diese Freiheit so beabsichtigt ist. Dann und wann beängstigt es mich, so ohne Aufsicht und Kontrolle, ohne Gesetze und Vorschriften, ja so ganz ohne Leitung zu leben und zu arbeiten." (Hamaker-Willink 1985: 524) Im April 1910 wurde die Odenwaldschule als "Lehr- und Erziehungsanstalt mit den Zielen der Oberrealschule"21 , die später auch einen Kindergarten einschloss, in Betrieb genommen. Das ursprüngliche Gebäude, das Goethehaus, war der umgebaute, ehemalige Gasthof Lindenheim. Er bot Platz flir Paul und Edith Geheeb, "einige Hilfskräfte und höchsten 15 Zöglinge" (ebd.). In den Folgejahren wurde das Schulgebäude durch mehrere von dem Bensheimer Architekten Metzendorf entworfene Villen erweitert, die sich über das am Hang gelegene Schulgelände verteilten. Als Lehrkräfte wurden zunächst Otto Erdmann und Doris Schumacher eingestellt. Für das Schuljahr 1910/11 sind ftinf Lehrkräfte, davon drei Lehrer und zwei Lehrerinnen, verzeichnet und vierzehn Schüler/-innen, zehn Jungen und vier Mädchen. In den ersten drei Jahren stiegen die Zahlen kontinuierlich. Der Ausbruch des ersten Weltkrieges im August 1914 bedeutete flir die Odenwaldschule eine schwere Krise. Viele der Mitarbeiter wurden zum Militär eingezogen. Viele Mitarbeiterinnen meldeten sich zur Arbeit beim Roten Kreuz. Die Schülerl-innenzahl sank von 68 im Schuljahr 1913/ 14 auf 54 bzw. 59 in den beiden folgenden Schuljahren. Reisen und damit die Kontakte wurden während des Krieges und der Zeit danach stark eingeschränkt und die Versorgung im Landerziehungsheim durch Lebensmittelrationierung erheblich erschwert. 21
AOSO, P.G. an die Großherzogliche Kreisschulkommission, 7.3.1910 (Bitte um Genehmigung der Anstalt).
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Auch die pazifistische Einstellung der Odenwaldschule führte zu Konflikten mit dem Staat. Nicht die nationalen Feiertage, wie der Geburtstag des Kaisers und die deutschen Siege wurden begangen, sondern die Geburtstage der ,geistigen Schirmherren' der Odenwaldschule (Goethe, Fichte, Herder, Schiller, Humboldt, Platon), nach denen auch die Häuser benannt wurden. Wieder einmal konnte nur der Schutz des liberalen Großherzogs von Hessen, Ernst Ludwig, die Schule retten. Neben diesen Schwierigkeiten, die von außen auf die Schule einwirkten, wurde die Schule nach den drei ersten Jahren von internen Streitigkeiten erschüttert. Die häufigen Wechsel im Kollegium machten der Schule zu schaffen. lnfolge dieser Reibungen wurde Theo Spira, der maßgeblich an der Entwicklung des Kurssystems beteiligt gewesen war und Dr. Rosa Heine gekündigt. Helene Czapski, Mia Sommer, Alice Brandt und Martha Wiesener kündigten (vgl. AEdH, Korr. Erdmann, 16.10.1914). Sie alle mussten ersetzt werden, was einen Umbruch im Kollegium bewirkte. Das Schuljahr begann im Sommer 1915 mit fast völlig ausgetauschten Lehrkräften. Erleichterung spricht aus einem Brief Edith Cassirer-Geheebs an ihren Ehemann, in dem sie die Stimmung des Kollegiums gegenüber der Schule und Paul Geheeb nach den Sommerferien als viel angenehmer als vor den Ferien bezeichnet (vgl. AEdH, Korr. E.G. an P.G., 26.08.1915). Der Eintritt von Hermann Harless und Alwine von Keller 1916 bewirkte eine Konsolidierung (vgl. Schäfer 1960: 122). Dennoch wurde die Schule von weiteren Krisen erschüttert. 1920 machten sich Harless und von Keller Sorgen über den großen LehrermangeL Infolgedessen wurden verstärkt Lehrkräfte gesucht (vgl. AEdH, Korr. E. u. P.G., 23.5.1920).22 Vier Jahre nach dem Ersten Weltkrieg, 1922, schrieb Paul Geheeb zwar an Otto Erdmann: "[ ... ] da ich endlich ein ganz auf der Höhe stehendes Mitarbeiterkollegium zusammen habe, das wohl auch zum grösseren Teil längere Zeit bleiben wird [ ... ]." (AEdH, Korr. Erdmann, 13.07.1922) Die Inflation 1923 hatte jedoch viele Abmeldungen zur Folge, was das Überleben der Schule erneut in Frage stellte. Folgen hatte für die Privatschule auch die Wirtschaftskrise von 1929. Es erfolgten immer weitere Abmeldungen von Schülerl-innen und Bitten um Schulgeldreduktion, es waren kaum Neuanmeldungen zu verzeichnen (vgl. AEdH, Korr. E. u. P.G., 22. u. 24.09. 1931 ). Der liberale Charakter der Schule, Internationalität, religiöse Offenheit, Koedukation sowie die große Anzahl jüdischer Lehrkräfte und Schülerl-innen ließ die Schule zunehmend zur Zielscheibe nationalsozialistischer Kontrolle und Einschränkungen werden. Tn der Schule eingesetzte nationalsozialistische Lehrer und Repressionen von Seiten der Behörden wie Durchsuchungen und Misshandlungen jüdischer 22
Zu dieser Zeit wurde Kati Lotz für die Schule geworben, vgl. Kap. 5.5.
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Mitarbeiter machten es dem Ehepaar Cassirer-Geheeb unmöglich, die Schule in ihrem Sinne weiterzuführen. Auch die Tatsache, dass die Leiterin Edith Cassirer-Geheeb jüdischer Abstammung und die gesamte Schule im Besitz ihres Vaters Max Cassirer war, legte baldige Emigration nahe. Die Eltern der Kinder wurden über ausländische Bekannte veranlasst, ihre Kinder von der Schule zu nehmen. Den Abiturientenjahrgängen 1933 und 1934 wurde jedoch die Möglichkeit gegeben, das Abitur zu machen. 1934 wurde dann die Schule aus wirtschaftlichen Gründen, wegen des selbstinitiierten Mangels an Schüler/-innen, aufgelöst. Durch diese Taktik vermied man, dass der Umzug als Emigration gesehen und die Schule beschlagnahmt wurde. 1933 fiel aufgrundder Machtergreifung der Nationalsozialisten der Entschluss, mit der Odenwaldschule ins Schweizer Exil zu gehen. Am 20.03.1934 wurde die alte Odenwaldschule nach 24-jährigem Bestehen offiziell geschlossen (vgl. AEdH, Korr. Mann, 04.08.1934). Die Schule überlebte unter schwierigsten Bedingungen an den verschiedenen Standorten Versoix, Murten und Schwarzsee, bis sie schließlich ihren Standort Goldern im Berner Oberland bezog, wo sie noch heute als Landerziehungsheim mit dem Namen Ecole d 'Humanite existiert. Auch die Odenwaldschule konnte von einigen Lehrenden über den Nationalsozialismus gerettet und unter der Leitung von Minna Specht nach dem Zweiten Weltkrieg wieder aufgebaut werden. Sie ist noch heute eines der Internate in der Vereinigung deutscher Landerziehungsheime e. V. 23 Trotz dieser Krisen kennzeichneten das Ende des Ersten Weltkrieges und der Beginn der Weimarer Republik für die Odenwaldschule eine Phase des Erfolgs. Die Schülerl-innenzahl erreichte ihren vorläufigen Höhepunkt von 118 im Schuljahr 1921/22, die Zahl der Lehrkräfte im Schuljahr 1922/23 mit elf Lehrern und zwölf Lehrerinnen. 24 Die Popularität der Odenwaldschule in den ersten Jahren der Weimarer Republik war eine Folge der allgemeinen Aufbruchstimmung in der Gesellschaft. Die demokratische Organisation der Schule, die sich seit Beginn in der Durchführung von Mitarbeitendenkonferenzen und Schülerf-innenmitbestimmung in Form der Schulgemeinden manifestierte, bekam durch die Demokratisierungstendenzen der Weimarer Republik nachträgliche Legitimation und ließ die Odenwaldschule als 23 Zu den heute bestehenden Landerziehungsheimen siehe: Vereinigung deutscher Landerziehungsheime o.J. 24 Die Daten zu den Schüler/-innen- und Lehrerl-innenzahlen nach Schäfer 1960: 100. Die entsprechenden Daten stammen aus dem Hessischen Staatsarchiv und beschränken sich auf die Jahre 1910-1925. Deshalb kann hier die Entwicklungslinie nicht vollständig bis 1934 aufgezeigt werden.
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fortschrittliches pädagogisches Modell berühmt werden. Auch die Koedukation schien die gesellschaftlichen Entwicklungen der Weimarer Republik hinsichtlich erweiterter Rechte von Frauen vorweggenommen zu haben (vgl. Shirley 1992: 50). Somit wurde die Odenwaldschule als Reformschule in der Weimarer Republik von der (pädagogischen) Öffentlichkeit und auch von offizieller Seite des Staates neu wahrgenommen. Vom 11. bis 19.06.1920 fand in Berlin die große Reichsschulkonferenz statt. Entsprechend der demokratischen Auffassung der neuen Republik wurden hier Konzeptionen von Vertreterl-innen der pädagogischen Bewegung zur Umsetzung in der öffentlichen Schule erörtert. Rund 700 Menschen diskutierten in 17 verschiedenen Ausschüssen Probleme und Entwicklungsrichtungen des deutschen Bildungswesens. Beteiligt waren Vertreterl-innen der "Ministerien des Reiches und der Länder, der Gemeindeverwaltungen, der Berufs- und Standesvertretungen, der Kindergärten, Volksschulen, Heilpädagogischen Anstalten, Höheren Schulen und Seminare, Berufs- und Fachschulen, Privatschulen, Hochschulen, der Kirchen, von Vereinigungen kultureller, kirchlicher und weltanschaulicher Art, der Wirtschaft, der Frauenbewegung und der Jugendbewegung." Geheeb nahm an der Konferenz teil. Er gehörte dem Ausschuss Nr. 5 zum Thema "Arbeitsunterricht" an (vgl. Scheibe 1984: 273f.)? 5 Ausgangspunkt der Odenwaldschule war die kulturkritisch gerahmte und motivierte Gründung. Um sich dieser Gründungsidee anzunähern, ist es hilfreich, sich die gesellschaftlichen Entwicklungen in den letzten zwei bis drei Jahrzehnten des Kaiserreiches zu vergegenwärtigen, die zur Bewusstseinsbildung der die reformpädagogische Bewegung tragenden Menschen beitrugen. Die reformpädagogische Bewegung (1890-1933) entwickelte sich vor dem gesellschaftspolitischen Hintergrund der Industrialisierung und den damit verbundenen gesellschaftlichen Umschichtungen. Ein 1890 eintretender verstärkter Modernisierungsschub erforderte und ermöglichte neue Formen sozialen Handelns. Es entstanden der Wohlfahrtsstaat, bürgerliche Parteien, die Arbeiterbewegung und ihre Organisationen sowie soziale und kulturelle Bewegungen (vgl. Tenorth 1988: 177ff.). Die von diesen, für das menschliche Selbstverständnis tiefgreifenden Veränderungen ausgelöste Unruhe und neue Anforderungen beeinflussten auch die Bildungskonzepte. Die Forderungen von Reformpädagogik und Frauenbewegung zeugen von einer kritischen Haltung gegenüber dem bestehenden Schulwesen. Betonung von Erziehung gegenüber Bildung, Erkennen der Wirkung von Gemeinschaft und Selbstverwaltung, Hervorhebung der ästhetischen Interessen und die Begegnung mit der Natur verbanden die entstehende Frauenbewegung und die reformpädagogische 25 Vgl. auch Reichsministerium des Tnnern 1921; AEdH, Korr. E. u. P.G., 11., 19., 20. und 21.06.1920.
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Bewegung bzw. die Landerziehungsheim-, die Jugend- und Körperkulturbewegung. Darüber hinaus entwickelten sich zunehmend Vorstellungen davon, dass der einzelne Mensch für die Neugestaltung der Gesellschaft verantwortlich sei. Alle Menschen, ohne Einschränkung aufgrundvon Geschlecht, Alter oder Vermögen, sollten an den gesellschaftlichen Reformen beteiligt sein. Diese wirtschaftlichen, politischen und das alltägliche Leben betreffenden gesellschaftlichen Transformationen führten zur Herausbildung sozialer und kulturkritischer Bewegungen. "Soziale Bewegung ist kollektiver Akteur, der in den Prozess sozialen bzw. politischen Wandels eingreift." (Raschke 1985: 76) Hervorgehoben wird durch diese Definition von Raschke, was den Bewegungen wesentliches Anliegen war: die Einflussnahme auf gesellschaftliche Wandlungsprozesse. Neben Engagement und Bewusstmachung durch Aufklärungsarbeit auf politischer Ebene zielten die verschiedenen Bewegungen, so die Frauenbewegung, die Körperkultur- und Lebensreformbewegung, die Jugendbewegung und insbesondere die Kindergartenbewegung und die reformpädagogische Bewegung auf eine Veränderung der Gesellschaft über die Erziehung und Bildung der Jugend ab. Die Konzentration ihres Engagements auf die Öffentlichkeit hatte hier jedoch bei den einzelnen Bewegungen unterschiedliche Ausprägungen. Während die Frauenbewegung sich sehr um rechtliche und offizielle Anerkennung von Frauen bemühte, entfalteten sich die Körperkultur-, die Lebensreform- und die Jugendbewegung eher in Subkulturen. Letzteres gilt bis zur Weimarer Republik, in der die Landerziehungsheime in den Blickpunkt der Öffentlichkeit gerieten, auch für die Reformschulbewegung. Die Kindergartenbewegung machte sich durch ihre Ansiedlung in den Städten und ihre enge Verknüpfung mit der Frauenbewegung von Anfang an zu einer Angelegenheit des öffentlichen Interesses. Die Reform der Gesellschaft blieb ein Anliegen der Odenwaldschule. In Schriften Paul Geheebs aus den späten 1930er Jahren wird deutlich, welche Bedeutung er der Erziehung für die Entwicklung der Gesellschaft beimaß. Die hohen Erwartungen an gesellschaftliche Transformationen, die von der Landerziehungsheimbewegung und insbesondere von der Odenwaldschule an Erziehung gestellt wurden, orientierten sich am deutschen Idealismus des 19. Jahrhunderts. Paul Geheeb bezog sich in seinen Ansichten zur Erziehung in der Natur, zur Koedukation, zur individuellen Entwicklung und der Bedeutung von Erziehung für die Gesellschaft auf Johann Gottlieb Fichte.26 Der 26 Dieser entwickelte in der 9. und 10. Rede seines Werkes Reden an die deutsche Nation ( 1955) pädagogische Vorstellungen, die der Odenwaldschule als Vorlage dienten. Für die Erziehung der Geschlechter sah er zunächst die Notwendigkeit, dass sich beide Geschlechter ge-
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hohe Stellenwert von Erziehung ist ein Zeugnis für die kulturkritische Sicht auf die Gesellschaft und deutet die hohe Bewertung der Erziehung durch die Vorbild-Pädagog/-innen an: "In der Beherrschung der Naturkräfte und in der Technik hat der Mensch nachgerade es soweit gebracht, dass es hauptsächlich von den Menschen abhängt, ob die Oberfläche unseres Planeten eine Hölle oder ein Paradies darstelle. Wer also Fichtes enthusiastischen Glauben an die Macht der Erziehung teilt, die menschliche Gesellschaft von Grund aus umzugestalten, wer von Pestalozzis Auffassung erfiillt ist: ,es ist flir den sittlich, geistig und bürgerlich gesunkenen Weltteil keine Rettung möglich, als durch die Erziehung, als durch die Menschenbildung' , der sieht sich heute vor das Kardinalproblem der Gegenwart gestellt." Ein wesentliches Ziel im Programm der Schule war die Veränderung der Rolle von Frauen und Mädchen in der Gesellschaft. Das pädagogische Mittel dazu war die Koedukation. Das Postulat des Koedukationsgedankens der Odenwaldschule war Gleichwertigkeit der Geschlechter und Gleichberechtigung unter Beibehaltung von "Weiblichkeit" und "Männlichkeit". Das folgende Zitat Geheebs ( 1931) fasst diese Position zusammen: "Den Boden schaffen, auf dem die Frau der Zukunft zu wachsen, ursprüngliche, echte Weiblichkeit sich zu entwickeln vermag, tagtäglich im Leben die Gleichwertigkeit der Geschlechter zu beweisen und ihre Gleichberechtigung in den Einrichtungen der menschlichen Gesellschaft zum Ausdruck zu bringen, die Entstehung einer Menschheitskultur vorzubereiten, in der männliche und weibliche Kultur in gleichem Maße zusammenwirken: das ist fiir die nächste Zukunft die kulturelle Aufgabe der Koedukation." Der Anteil der Schülerinnen schwankte zwischen 30 und 40 Prozent. 27 Statistisch gesehen wurden diese Anteile von Schülerinnen und Schülern dem Anspruch der Koedukation nicht gerecht. Auch die Photos der Prospekte der Odenwaldschule zeigen Mädchen und Jungen in den traditionell geschlechtsspezifisch zugeordneten Werkstätten bei der praktischen Arbeit. Eine ehemalige Schülerin, llse Schaefer, hat diese Arbeitsteilung nicht als Einschränkung wahrgenommen und erinnerte sich nicht an eine geschlechtsspezifische Belegung dieser praktischen
genseitig als gleichwertige Menschen kennen lernen und akzeptieren, bevor sich die Aufmerksamkeit auf die Unterschiede richte. 27 Das Verhältnis von männlichen und weiblichen Mitarbeiterl-innen war ungefahr gleich. Unter den weiblichen ist jedoch ein höherer Anteil ohne genaue Angabe des Aufgabenbereichs, d.h. die Wahrscheinlichkeit ist hoch, dass Frauen einen größeren Teil der wirtschaftlichen, nicht lehrenden Mitarbeiterl-innen ausmachen, vgl. Kap. 3.2, S. 95f., Tab. 7.
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Fächer. 28 Auch Otto E. Schoen-Rene (1930) erinnerte sich eher an gleiche Unterstützung von Mädchen und Jungen als an differenzierende: "Aber fast alles wurde gemeinsam betrieben. In den Geländespielen wussten die Mädchen genau so gut mit Stricken und Riemen umzugehen wie die Jungen, es war alles auf das Gemeinsame, auf die Kooperation eingestellt." In der Retrospektive ist die Realität also schwer zu rekonstruieren. Die Wahrnehmung der Schülerl-innen erfolgte auf der Folie der strikten Geschlechterdifferenzierung in der bürgerlichen Gesellschaft. lnfolge dieses Kontrastes erfuhren sie subjektiv sicherlich erweiterten Spielraum und überschritten gewohnte Normen. Paul Geheeb konstatierte 1914 ftir die Odenwaldschule: "[ ... ] die Auswahl [in Spiel und Arbeit, E.S.] steht den Kindern völlig frei" . Es sei so zu verfahren, dass " [ ... ] keinen Blick, kein Wort, keine Bewegung, keine Andeutung zwischen Mädchen und Junge liegen könnte; keine Aufgabe, keine Beschäftigung, kein Spiel, keine Anweisung und kein Gesetz zu heben oder durchgehen zu lassen, die nur dem Jungen allein oder nur dem Mädchen allein gelten." 29 Außerdem verurteilte er einschränkende Haartracht und Kleidung für Mädchen. Programm und ,Theorie' der Schule zeigen, dass das innovative Element eher in einem Aufbrechen der Denkmuster lag und sich in der Betonung von Gemeinschaft und Gemeinsamkeiten im Leben und Unterricht des Internates manifestierte. Ihre Schwäche zeigt sich da, wo es um die aktive Unterstützung der Kinder und Jugendlichen beim Durchbrechen der Rollenbilder geht. Aktiv gefördert wurden die individuellen Interessen, Stärken und Lebenswege der Schüler/-innen, was theoretisch einen variationsreichen Freiraum für Mädchen wie für Jungen bot. Um jedoch gesellschaftlich tradierte Rollenerwartungen im Schulleben unwirksam zu machen, hätte es einer aktiven Bewusstseinsarbeit und Unterstützung bedurft. Dazu herrschten die geschlechterpolaristischen Vorstellungen Paul Geheebs zu sehr vor. Da er seine Erziehungsidee wesentlich von Fichte abgeleitet hatte, blieb auch Geheeb dem Prinzip Gleichwertigkeit bei Verschiedenheit auf der Grundlage einer tradierten Geschlechterpolarität verhaftet. 30 Für den Schulabschluss, das heißt für die theoretische, schulische und formale Förderung, scheint der Anspruch auf gleiche Rechte und gleiche Unterstützung eingelöst worden zu sein - immerhin war ein Mädchen die erste Abiturientin der Odenwaldschule. Atha Gruhle leg28 Gespräch mit llse Schaefer in Bremen am 07.03.1997 (ehemalige Schülerin und Schwägerin von Gertraudt Schaefer-Herzogenrath, OSO-Schülerin und später -Lehrerin, vgl. Kap. 5.9). 29 Geheeb 1914, er zitiert hier Maurenbrecher 1912. 30 Zur Theorie und Praxis der Koedukation und den Positionen dazu zu Beginn des Jahrhunderts vgl. Hanseu-Schaberg 1996: 646.
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te im Herbst 1915 am Großherzoglichen Realgymnasium in Mainz als Externe ihr Abitur ab (vgl. Schäfer 1960: 122).31 Für weibliche Lehrkräfte war genau diese Sichtweise des Geschlechterverhältnisses nicht ohne Bedeutung. Als Frauen und Fachkräfte waren sie an der koedukativen Odenwaldschule für Unterricht und Erziehung unverzichtbar. Das Zusammenleben von Jungen und Mädchen, männlichen und weiblichen Erziehenden machte das Landerziehungsheim zum Modell einer Lebensgemeinschaft. Geheeb nannte es ein "Erziehungsheim", das "im Kleinen das Abbild der großen menschlichen Gesellschaft darstell[t]." Er sah die Schule als Beitrag "für die Entwicklung des ungeahnten Reichtumes gemeinsamer Kulturarbeit verständnisvoll einander gegenüberstehender Männer und Frauen [ ... ] für eine Überwindung der sozialen Schwierigkeiten, die das grauenerregende und unerschöpfliche Kapitel der sogenannten Sittlichkeitsfrage in sich schließt!" (Geheeb 1926 (AOSO), Hervorh. i.O.) Anspruch des Landerziehungsheimes war es ja, wie oben bereits zitiert, "tagtäglich im Leben die Gleichwertigkeit der Geschlechter zu beweisen und ihre Gleichberechtigung in den Einrichtungen der menschlichen Gesellschaft zum Ausdruck zu bringen" (Geheeb 1931: 9). Also kritisierte Geheeb das Fehlen von Lehrerinnen an den öffentlichen, für Mädchen geöffneten Jungenschulen und befürwortete ein gemischtgeschlechtliches Kollegium (vgl. Geheeb 1914: 7ff.). Dass dieses Postulates realisiert wurde, ist anhand der Beschäftigungszahlen zu belegen: 170 Mitarbeiterinnen und 169 Mitarbeiter waren in der Zeit von 1910 bis 1934 an der Odenwaldschule beschäf• 32 tigt. Pädagoginnen hatten also schon aufgrund der paritätischen Besetzung des Kollegiums und des Anspruchs auf eine gleichberechtigte Stellung größeren Einfluss auf das Landerziehungsheim als z.B. an höheren Knabenschulen, an zumindest einem Teil der höheren Mädchenschulen oder an den ersten Landerziehungsheimen. Als Lebensgemeinschaft verfugte die Odenwaldschule über Beschäftigungsmöglichkeiten für Frauen aus verschiedensten pädagogischen, handwerklichen, künstlerischen und Haushaltungs berufen. Wenn Paul Geheeb polaren Geschlechtervorstellungen verhaftet blieb, so begründete sich der Gedanke seines Koedukationsbegriffs dennoch auf dem Begriff der ,Individualität'. Auch wenn dieser Grundzug des Koedukationsgedankens nicht völlig unabhängig vom 31 Erst seit 1920 schlossen regelmäßig Schülerl-innen der Odenwaldschule mit dem Abitur ab. Seit 1932 konnte das Abitur auch intern abgenommen werden. 32 Die Phase des Ersten Weltkrieges wirkt dabei nicht verfälschend auf dieses Bild. Es sind nur neun Frauen (30) mehr als Männer (21) zwischen 1914 und 1918 beschäftigt.
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Geschlecht praktiziert wurde, eröffnete er den Einzelpersonen erweiterte Handlungs- und Entwicklungsspielräume Individualität war ein zentraler Erziehungsbegriff der Odenwaldschule mit Wurzeln in der Kulturkritik der Zeit und der breiteren reformpädagogischen Bewegung. Ellen Key gab im Jahr 1900 mit ihrem Werk Das Jahrhundert des Kindes (Neuauflage 1978) den Impuls fiir eine neue Phase reformpädagogischer Entwicklungen, die bis ans Ende der Weimarer Republik zur Gründung von Reformschulen - und darüber hinaus zu zahlreichen Gründungen von Exilschulen und Internaten führte (vgl. Feidel-Mertz 1983). Sie griff damit einen in der Rousseau'schen Tradition stehenden Gedanken neu auf, nämlich den des Glaubens an das einzelne Kind, das Individuum und an die Notwendigkeit der Förderung dieser Individualität. Ihre ,neue' Sichtweise traf zu einem Zeitpunkt auf die pädagogische Landschaft, der von einer Kritik des bestehenden Schulwesens mit seinen uniformierenden Tendenzen geprägt war. Schulkritik als Teil einer umfassenderen Kritik der wilhelminischenNormen und Gesellschaftsmoral äußerten nicht nur die reformpädagogische, sondern auch andere kulturkritische Erneuerungsbewegungen wie die Jugend-, die Frauen- und die Lebensreformbewegung. 33 Der in der Odenwaldschule vertretene und praktizierte Bildungsbegriff geht auf die Auseinandersetzung Paul Geheebs mit den deutschen Idealisten, insbesondere Goethe und Fichte, zurück. ,Bildung' stand bei den Idealisten des späten 18. und frühen 19. Jahrhunderts fiir eine Bandbreite von Fähigkeiten und Einstellungen. Sie war verbunden mit einem prestigeträchtigen sozialen Status, dessen Eintritt das Abitur, der Abschluss des humanistischen Gymnasiums, bildete. Sie beinhaltete Nähe zur Antike und eine romantische Idealisierung der individuellen Selbstverwirklichung. Für Geheebs Bildungsbegriff wurde letzteres zum bestimmendsten; Bildung wurde ihm zum "Mittel, die Rechte des Individuums über und gegen die Anforderungen einer künstlich konstruierten, modernen Gesellschaft zu stellen" (Shirley 1992: 20). Durch diese Schwerpunktsetzung im Verständnis der deutschen Idealisten kontrastierte Geheeb Fichtes Internat und Goe-
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Die Frauenbewegung unterscheidet sich hier als ,große soziale Bewegung' von den genannten ,kulturkritischen', die ohne direkte Einflussnahme aufpolitische Strukturen waren. Auch die radikale, in der Frauenbewegung engagierte Hedwig Dohm griff diesen Pindar-Satz "Werde, der du bist" auf und formte ihn als Titel für ihre Novelle Werde, die Du bist (1988 [1894]) um, deren Protagonistin am Ende eines Lebens, das sie bis zur Selbstaufgabe in den Dienst ihrer Familie gestellt hatte, beginnt, sich selbst und ihre eigenen Bedürfnisse und potentiellen Entwicklungsmöglichkeiten wahrzunehmen.
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thes ,Pädagogische Provinz' mit den deutschen Schulen, die er in dieser Hinsicht zutiefst unzureichend fand .34 Mit seiner Definition von Erziehung grenzte sich Paul Geheeb schulkritisch gegen die Art der Vermittlung von Bildung an den öffentlichen Schulen ab. Erziehung kennzeichnete für ihn einen "[ ... ] Entwicklungsprozess, in dem sich jeder Mensch von der Geburt bis zum Tode [ ... ] befindet, der Prozess andauernder, überwiegend unbewußter Auseinandersetzung, in der sich jedes Individuum mit seiner Umgebung, mit Menschen und Dingen, mit Natur und Kultur, befindet, die empfangenden Eindrücke teils fruchtbar verarbeitend und als Bildungsstoffe zum Aufbau der eigenen Individualität assimilierend, teils aber ablehnend." und "Alle Erziehung, ja alle kulturelle Entwicklung vollzieht sich an der Spannung einer Ellipse, deren einer Brennpunkt das Individuum, der andere die Gemeinschaft ist." (Geheeb o.J. mind. 1938: 1) Damit war die Atmosphäre der Odenwaldschule geprägt von einer Auffassung bzw. einem Menschenbild, das jedem Menschen einen lebenslangen Entwicklungsprozess zugestand, der mit der Erziehung der Kinder beginnt, der sich aber bis ans Lebensende weiter vollzieht. Gertraudt Schaefer-Herzogenrath, eine ehemalige Schülerin und spätere Lehrerin der Odenwaldschule (vgl. Kap. 5.9), berichtete 1994 im Alter von 91 Jahren in einem Interview von ihrem Leben und der Odenwaldschule: ",Werde, der du bist.' Also, was in dir steckt, soll ausgearbeitet werden. [ ... ] Werde, der du bist. Das müssen Sie irgendwo anbringen, das war das Prinzip. Das ist mir bis heute geblieben, dieser Spruch."35 Dieser auf Pindar zurückgehende Leitspruch der Odenwaldschule hat sich prägend auf die Schule, den Schulalltag, ihre Schülerl-innen und Lehrenden ausgewirkt. Wie das Zitat zeigt, ist dieser Lehrerin noch ca. 70 Jahre nach ihrem Fortgang von der Odenwaldschule die allgegenwärtige Präsenz dieses Prinzips fl.ir das Landerziehungsheim erinnerlich. Es wurde vom Leiter und von den Mitarbeitenden in Gegenwart der Kinder zitiert und wurde in den Schriften zur und Erinnerungen an die Odenwaldschule immer wieder hervorgehoben. Es steht fl.ir eine Auffassung vom Menschen und von der Erziehung des Menschen, die davon ausgeht, dass das Kind, der Mensch seinen Fähigkeiten entsprechend individueller Förderung bedarf, um diese, seine Fähigkeiten auszubilden. Der Odenwaldschule ging es nicht nur um die Vermittlung von Fachwissen, sondern um die Bildung des ganzen Menschen.
34 Vgl. auch AEdH, Interview Walter Schäfer mit P.G., 1959, Tonkassette. 35 Interview mit Gertraudt Schaefer-Herzogenrath am 23.11.1994 und im Dezember 1994.
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Der Pindar-Satz Werde, der du bist war nicht nur für die Erziehung der Zöglinge, sondern auch für die Beschäftigung der Mitarbeitenden leitend. So bot die Arbeit an der Odenwaldschule Freiräume und vielfältige Möglichkeiten für die eigene Entwicklung und darüber hinaus die Möglichkeit - Vision? - , mit Gleichgesonnenen an der Schaffung einer ,neuen Kultur' beteiligt zu sein. Elisabeth Huguenin, Lehrerin der Odenwaldschule, schrieb 1919 die erste Monographie über das Landerziehungsheim. Ihre Beschreibung der Schule endet mit der Charakterisierung derselben als "ein für unsere Zeit wundervolles ,Erziehungsexperiment' voller Lehren für diejenigen [ ... ], die daran mitarbeiten wollen, eine bessere und glücklichere Menschheit herauszubilden." (Huguenin 1926: 83) Unterrichtsorganisatorisch trug die Odenwaldschule dem Grundsatz der Akzeptanz der Individualität des/der einzelnen Schüler mit einer weiteren reformpädagogischen Besonderheit Rechnung. Das Kurssystem war ein "radikales Epochensystem nach den Grundsätzen der ,Arbeitsschule'" (Röhrs 1986: 88).36 Bereits im Januar 1913 wurde das von Otto Erdmann 37, Theo Spira und Mario Jona entwickelte und in die Praxis umgesetzte System eines Kursplanes, nach dem die Schülerl-innen ihre Kurse entsprechend ihren Interessen und ihrer Lernstände frei wählen konnten, eingeführt?8 Das Kurssystem war keine Neuerfmdung, sondern wurde bereits im Ausland praktiziert. Für Deutschland war es ein neues, liberales System, das die Schüler/ -innen in der Entwicklung ihrer Interessen und ihrer Eigenverantwortlichkeit unterstützte. Vom Prinzip her war das Kurssystem der Odenwaldschule bereits dem der heute an Oberstufen von Gymnasien gängigen Praxis ähnlich. Der Alltag der Odenwaldschule und ihre außergewöhnliche Prägung waren durch weitere, von verschiedenen Reformbewegungen beeinflusste Elemente bestimmt und zog verschiedene Menschen an. Ihre Klientel waren Jugendliche, deren Eltern die Wahl der Schule trafen, häufig intellektuelle oder zumindest am neuen Zeitgeist interessierte und ihm gegenüber aufgeschlossene oder solche, denen die 0denwaldschule nach mehrfach gescheiterten Versuchen in ihrem liberalen Erziehungsstil als letzte Möglichkeit für ihre Kinder erschien. Manchem Jugendlichen selbst war die Schule als lebensreformerisches Projekt bekannt und dürfte vielen mit gesellschaftskritischem Blick, die die Aufbruchstimmung der Zeit interessiett wahrgenommen 36 Zur "Arbeitsschule" vgl. Kerschensteiner 1965. 37 Otto Erdmann war einjugendbewegter und bei den Schülerl-innen sehr beliebter Lehrer, der von 1910 bis 1913 besonderen Einfluss auf die Odenwaldschule hatte. Er gründete und leitete seit Anfang 1926 das Erziehungsheim Burg Nordeck mit seiner Ehefrau Clothilde von Raesfeld, ebenfalls einer früheren Odenwaldschulmitarbeiterin (seit 1910 als Hausdame und Biologielehrerin). Vgl. Stürz 1951. 38 Vgl. AEdH, Korr. Erdmann, 01.01.1913.
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hatten, attraktiv erschienen sein. Arthur Venn schrieb zum Beispiel 1965 in seinen ,Erinnerungen an die Odenwaldschule': "Die Odenwaldschule war mir aus dem Schrifttum der Jugendbewegung bekannt. Der Jugend jener Zeit, die sich gegen die spießbürgerlichen Lebensformen der älteren Generation stellte, bedeutete damals die Odenwaldschule einer der Verwirklichung ihrer Ideale. Hier schien eine verheißungsvolle Form neuer Gemeinschaft gelebt zu werden, fern der Ödheit und des zivilisatorischen Leerlaufs, in der Nähe der schwärmerisch verehrten freien Natur. Ohne den Gegensatz der Generationen schienen dort junge Menschen im Gleichklang mit Erwachsenen, die den gleichen idealen nachstrebten, aufzuwachsen. Hier mußten doch die reformerischen Ideen von naturgemäßer Lebensweise in Kleidung und Ernährung realisiert sein." (Venn 1965: 4) War die Odenwaldschule mit ihrer Leitung und ihren Lehrkräften auch hinsichtlich Kleidung und Ernährung reformorientiert, so übernahm sie nicht bestehende Vorbilder, sondern entwickelte eigene Ausrichtungen und Ausprägungen. "Die Kleidung war nicht ganz die der Jugendbewegung, sondern bestand in einer mich damals faszinierenden Mischung von jugendbewegt reformerischen Elementen einerseits und städtischen modischen andererseits." (ebd.) Eine eigene ,Schulmode' entwickelte sich, in der sich auch äußerlich der Blick auf die Geschlechter spiegelte: Gleichwertigkeit bei gleichzeitiger Erhaltung der geschlechtsspezifischen Eigenarten. Die Kleidung war luftig und engte den Körper nicht ein, die Jungen trugen Hosen, die Mädchen Kleider und Röcke. Dies entsprach der Sichtweise, dass sich ,natürlicherweise' Jungen männlich, Mädchen weiblich entwickelten. Gleichzeitig wurde aber von strikten Kleidervorschriften zugunsten praktischer Kleidung abgesehen. "Also was ich sagen wollte: Die Frauen waren nicht gleich, sondern gleichwertig, nech. Wir hatten keine Hosen an, wir hatten immer Kleider an - damals. Das ist auch schon ein Zeichen, dass sie ihre Fraulichkeit einsetzten und nicht den Männern ähnlich sein wollten, sondern gleichwertig und dadurch brauchten sie auch gar nicht irgendwie das zu betonen oder so. Wir hatten nur fur den Gartenbau praktische Kleidung, die war aber auch weiblich. Die hatte, das waren in einem Stück genäht in hübschem bunten Stoff mit kurzen Hosen und Hosentaschen, damit man beim Knien, zum Unkrautjäten zum Beispiel nicht immer mit den Röcken auf der Erde schleifte. Also fürs Praktische hatten wirs - nicht alle, aber wer achja, die andern hatten ja sowieso kurze Sachen an, die Kinder. Aber ich hatte son kurzen Anzug. Aber wir haben sonst nie Hosen getragen. immer richtige Röcke oder Kleider."39 39 Interview mit Gertraudt Schaefer-Herzogenrath am 23.11.1994 und im Dezember 1994.
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Einflüsse der bereits Ende des 19. Jahrhunderts entstandenen Körperkulturbewegung manifestierten sich als fester Bestandteil des Tagesrhythmus und Unterrichtangebots (vgl. Conti 1984: 66ff.). Neben Gartenarbeit war der Sport- und Gymnastikunterricht Teil des Lehrplans. Der Tag begann morgens mit dem Luftbad im Freien auf einem eigens dafür eingerichteten Platz oberhalb der Schule im Wald, der bereits kurz nach der Eröffnung der Schule im Sommer 1910 fertiggestellt worden war. 40 Das koedukative Internat setzte sich mit diesen Freikörper-Luftbädern dem Misstrauen der Nachbarn sowie der Öffentlichkeit um das Landerziehungsheim aus. Dennoch hielt die Schule daran fest. Für den Gymnastikunterricht waren zeitweise Lehrende mit besonderen Ausbildungen verantwortlich. Mehrere Gymnastiklehrerinnen waren in Loheland ausgebildet, einige in anderen ganzheitlichen Methoden und Bewegungsformen wie der schwedischen Gymnastik. Gegenseitige Besuche der beiden Lebensreformprojekte Odenwaldschule und Loheland fanden statt.41 Die neu entstandene und von der Odenwaldschule aufgenommene Gymnastik durchbrach das Wesen, Ziele und Methoden des traditionellen Sportunterrichtes, der sich, geleitet von den Zielen der Wehrertüchtigung, an Geräte- und Ordnungsübungen orientierte. Neue Formen des Körperunterrichts waren: die schwedische Gymnastik und künstlerische Ausdrucksdarstellung wie die von Jacques Dalcroze, Bess Mensendieck, Tsidora Duncan, später Rudolf Bode, Medau u.a. Sie verbanden künstlerischen Ausdruck mit erzieherischen Zielen. Freie Bewegung mit dem Ziel der seelisch-körperlichen Einheit ersetzten die im herkömmlichen Sportunterricht gesetzten Ziele von körperlicher Kraftentwicklung und Leistung. Die Gymnastik ging von spontaner freier Bewegung aus und "brachte sie im natürlichen Ausdruck zum Schwingen". Bewegung war Ausdruck des Tnnern. Diese neuen Formen der Gynmastik waren besonders für die Mädchenerziehung von Bedeutung: "Ihnen war damit eine ihrem Wesen, ihren Neigungen und ihren Möglichkeiten entsprechende Form der Leibeserziehung erschlossen worden. Solange der Turnunterricht alter Art herrschte, zielend auf körperliche Leistung und Kraftentfaltung, mußten sie sich hintan gestellt ftihlen ." (Scheibe 1984: 162f.) Nicht nur für die Sozialisation der Mädchen im Schulunterricht, sondern auch für in der Ausbildung stehende Frauen war diese neue Form der Gymnastik und Körpererfahrung ein Weg zu einem neuen Selbstgefühl.
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AEdH, Korr. von Scholz, 22.06.1910: Paul Geheeb schreibt I. von Scholz, dass das Luftbad seiner Vollendung entgegengehe. Siehe AEdH, Korr. Langgaard, Sekr. Wilma Koch an P.G., 07.09.1951.
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Diese für Schulen neue Integration von körperorientierten Elementen war für die Odenwaldschule Programm, das sie bewusst in das Bild der Schule für die Öffentlichkeit integrierten. Lohelandgymnastik und Gymnastik wurde in der Darstellung der eigenen Lehranstalt unter ,besondere Wohlfahrtseimichtungen' wie z.B. Schularzt, ärztliche Behandlung und Medizin, Zahnpflege, Schwimmunterricht, Freibad, Brausebad, orthopädischer Turnunterricht, Sprachheilkurse, Sprachheilklassen usw. aufgeführt. 42 Seit den 1920er Jahren war die Odenwaldschule Teil der pazifistischen pädagogischen Bewegung. Von Anfang an waren Kinder verschiedener Religionen und Nationen aufgenommen worden, man unterhielt Kontakte ins Ausland, wie zu Adolphe Ferriere, Vertreter der Ecole Nouvelle, und später zu dem indischen Philosophen Rabindranath Tagore sowie zu Mahatma Gandhi. Auch beteiligte man sich an der Arbeit in der internationalen Reformschulbewegung, der New Education Fellowship. Das Erziehungskonzept der Odenwaldschule bezog sich in seiner Zielsetzung nicht nur auf eine Reform der deutschen Gesellschaft, sondern war auch auf die Verbesserung der internationalen Verständigung gerichtet: "Die Lösung der Völkerprobleme, deren Ungelöstheit sich heute mit so grausamer Brutalität geltend macht, muss in der Kinderstube beginnen." (Geheeb o.J. mind. 1938) Die New Education Fellowship (NEF)43 wurde 1921 bei der internationalen pädagogischen Konferenz in Calais von Vertretern aus zehn verschiedenen Nationen gegründet und arbeitete nach den Prinzipien "Individualisierung, Humanisierung, Liberalisierung, Pazifizierung". Der Kontakt der Odenwaldschule zu dieser Bewegung entstand 1920. In einem Brief vom 28.05.1920 wandte sich Elisabeth Rotten von der Deutschen Liga für Völkerbund, Abteilung für Erziehung an Paul Geheeb als ,einen an einer Erziehung zum Frieden und zur Völkerverständigung interessierten Pädagogen' .44 Im Frühjahr 1921 hatte auch Beatrice Ensor, Vertreterin der NEF, Kontakt zu Geheeb aufgenommen. Seitdem wurde eng zusammengearbeitet. Schüleraustausch wurde organisiert, die Tagungen vorbereitet. Auch Edith CassirerGeheeb, Alwine von Keller und Heinrich Jacoby, Madeleine Ekenberg und Dr. Erich Steinitz engagierten sich an dieser internationalen Ver-
42 AOSO, in Ordner OSO Behörden: "Erhebungsbogen TV über höhere Lehranstalten, die ausschließlich oder vorwiegend ftir die männliche Jugend bestimmt sind." Auch in einer Werbeanzeige ftir die Odenwaldschule in Die Frauenbewegung (1 7. Jg. 1911, Nr. 12, S. 98) wurde ausdrücklich mit dem "Luftbad" geworben. 43 Deutsch: "Internationaler Arbeitskreis für die Erneuerung der Erziehung". 44 AEdH, Korr. Rotten, 28.05.1920.
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einigung und nahmen an den in den folgenden Jahren stattfindenden großen Konferenzen der NEFteil. 4 5 Die Odenwaldschule war nicht allein aus organisatorischen Gründen ein Internat. Der Landerziehungsheimidee lag zwar die Erziehung von Kindern und Jugendlichen fem der naturentfremdeten Großstädte zugrunde, die eine ,Heimunterbringung' notwendig machte, man wandte sich aber gegen einen Anstaltscharakter der Schule und gestaltete sie als Lebensgemeinschaft von Kindern, Jugendlichen und Erwachsenen. Wurzeln dieses Konzeptes sind sowohl gesellschafts- als auch schulkritischer Art. Der Gemeinschaftsgedanke entsprang der Jugendbewegung und der Idee einer demokratischen Erziehung. Der Lebensgemeinschaft lagen Gremien zur Mitbestimmung von Lehrenden und Schülerl-innen zugrunde, wie die Schulgemeinden und die Mitarbeiterkonferenzen. Die Schule als bloße Vermittlerirr von Wissen war Zielscheibe der Kritik; die Einbettung von Erziehung und Bildung des Menschen in der Lebensgemeinschaft sollte das ganze Leben des Einzelnen erfassen und seine individuelle Entwicklung vielseitig fördern. Im Jahr 1959 legte Paul Geheeb seine Auffassung zu dem Thema in einem Gespräch mit Eva Cassirer dar. 46 Seiner Auffassung nach sollten Kinder in "sozialen Gemeinschaften" aufwachsen. Er hielt jedoch die Familie für zu klein, um eine solche soziale Gemeinschaft zu bieten. Zudem sei in der komplizierten, hochdifferenzierten Zivilisation die Familie nicht mehr in der Lage, "alle Bildungsbedürfnisse des Kindes zu befriedigen." Zielpunkt seiner Kritik wird hier die Familie, die den Anforderungen der gesellschaftlichen Modernisierung nicht mehr gerecht werden konnte. Diese Einschränkung der erzieherischen Funktion der Familie findet sich bereits bei Fichte (1955 : 181ff.), der forderte, dass Erziehung Aufgabe des Staates sein sollte - und zwar für alle Bevölkerungsschichten. Zudem hob Geheeb noch auf die psychologische Argumentation ab: die meisten Eltern seien gerade ftir ihre eigenen Kinder die ungeeignetsten Erzieher, da sie ihnen aufgrund der natürlichen leiblichseelischen Verbundenheit zu nahe seien. Er zitierte Goethe: "die väterliche Meinung, dass sich der Sohn nirgends besser entwickele, als in Gegenwart des Vaters, ist ein holder väterlicher Irrtum." Diese Ansicht entsprang sicherlich auch der eigenen biographischen Erfahrun45
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Calais 1921; Montreux 1923; IIJ. internationale pädagogische Konferenz Heidelberg, 15.08.1925; lV. Weltkongress in Locarno 1927; V. Weltkongress in Helsingör, 08.-12.08.1929; VJ. Weltkongress Nizza 07.-12.08.1932. Geheeb 1936: 17 (AOSO) und AOSO, P.G. zur Bedeutung der Familie
als Erziehungsinstitution, in: "Paulus spricht zu Eva Cassirer". Skript 25.08.1955.
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gen im Elternhaus Geheebs. Der frühe Tod seiner Mutter, das schlechte Verhältnis zur Stiefmutter und die Distanz zum Vater müssen für Geheeb die Funktion der Familie in Frage gestellt haben. Die persönlichen Erfahrungen, die Veränderung der Struktur von Familie in der Gesellschaft sowie die neuen Anforderungen an den Menschen durch die Modernisierung, seine Erfahrungen mit der Landerziehungsheimbewegung, untermauert durch gesellschaftskritische Positionen der deutschen Idealisten, führten zur Organisationsform der Odenwaldschule. Während Gustav Wyneken als radikalster Vertreter die Familie zugunsten einer Erziehungsgemeinschaft ablehnte, konstruierte Paul Geheeb eine spezielle Form des Zusammenlebens. Lehrende und Schülerl-innen bildeten eine Lebensgemeinschaft, deren Bausteine "pädagogische Familien" waren. Sie setzten sich aus je einem oder zwei Erziehenden zusammen, die mit einer Gruppe von rund zehn Kindern in einem der Häuser der Schule lebte. Paul Geheeb war davon überzeugt, dass es für die Entwicklung eines Menschen am besten sei, möglichst früh in die Gemeinschaft aufgenommen zu werden, also am besten, was nur selten möglich sei, nach der Geburt. Bereits die Fünfjährigen seien "intellektualistisch verbildet oder sonstwie verbogen" (Geheeb 1924). Das Arrangement der pädagogischen Familie verhinderte den unpersönlichen Anstaltscharakter und erweiterte zugleich die eingeschränkten erzieherischen Möglichkeiten von Familie. Welchen zentralen Stellenwert diese Organisationsform einnahm, zeigt eine Erörterung des Problems für den Kindergarten durch Edith Geheeb anlässlich der Frage über die Aufnahme eines weiteren Kindes im Kindergarten. Es zeigt gleichermaßen, dass dem Modell der ,pädagogischen Familie' mit zunehmender Schülerl-innenzahl Grenzen gesetzt waren: "In der Sache selbst hab ich meine Meinung nicht geändert: wir führen den Kindergarten nicht als , Vorschule' sondern in der Art einer gebildeten Familie, wo die Mutter mit ihren Jüngsten spielt und sie einzeln fördert. Je mehr Kinder, desto unmöglicher wird die Weiterführung in dieser Art, desto mehr müssen wir uns dem Anstaltsschema nähern. Und können wir es denn überhaupt noch verantworten, so kleine Kinder aufzunehmen? Für die Kinder vom schulreifen Alter an hast du Formen geschaffen, die die individuelle Entwicklung sicherstellen, für die Kleinen können wir nur zwischen den alten Formen wählen: Familie oder Anstalt. Eins muß zum Vorbild genommen werden. [ ... ] Die Grenze muß im Interesse der Kinder gezogen werden."47 Die Geringschätzung der privaten Familie als Erziehungsinstanz gipfelte bei Paul Geheeb in der Überzeugung von der Bedeutungslosigkeit des Erziehers schlechthin: "Für Kinder- und Jugendgemeinschaften eintreten heisst aber nicht dem Berufspädagogenturn das Wort re47 AEdH, Korr. E. u. P. Geheeb, 20.08.1918, Hervorh. i.O.
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den. [ ... ] [D]er ,Erzieher' beruf scheint mir nicht zu denjenigen menschlichen Berufen zu gehören, die eine Zukunft haben[ ... ]." (Geheeb 1936: 18) Ihre extremste Umsetzung in der Odenwaldschule erfolgte durch die Einführung des Wartesystems 1931. Die pädagogischen Familien der alten Form wurden aufgelöst, Schülerl-innen und Erziehende wurde jeweils in Häusern zusammengefasst. Die Schüler/ -innen übernahmen die Aufgaben der Erziehenden, als Warte, die für bestimmte Aufgabenbereiche zuständig waren. Das Wartesystem war auch unter den engsten Mitarbeitenden Geheebs umstritten. Eine Diskussion fand jedoch nicht statt, denn Paul Geheeb war der unangefochtene Urheber und Verwalter der Idee der Schule. Dieses weist auf Grenzen des demokratischen Grundverständnisses und der Mitbestimmung von Mitarbeitenden hin. Erst 1959 stellte Alwine von Keller ihre ablehnende Haltung dem Wartesystem, die sie jedoch aus Loyalität zum Schulleiter damals nicht äußerte, öffentlich folgendermaßen dar: "Da ich meine Aufgabe dahin betrachtete, Paulus beizustehen aus Freundschaft und aus, eh Gleichheit der Grundgesinnung gehörte ich nie zu denen, wenigstens sehr lange nicht, die Front in irgendeiner Weise gegen [ihn] machen konnten. Sondern ich dachte, entschuldigen Sie wenn ich Englisch spreche: We make the best of it. [... ]An und für sich hat mir das Wartesystem nicht gefallen. [... ] Aus zwei Gründen nicht. Ich finde die Problematik der freien Schule liegt in der Überanstrengung der Verantwortung der Kinder."48 Für die Lebenswelt der Pädagoginnen der Odenwaldschule war die Lebensform ,Lebensgemeinschaft' von besonderer Bedeutung. Sie bot berufstätigen Frauen, die keine Kleinfamilie gründen wollten, und auch Lehrerinnen, die aufgrundder Zölibatsgesetze Berufund Familie nicht vereinbaren konnten, eine greifbare Alternative. Nicht zuletzt für ,alleinstehende' Frauen war die Arbeits- und Lebensgemeinschaft eine Möglichkeit, nicht , alleine zu stehen', das heißt, trotzihres Verzichtes auf familiäre Bindungen privat in einen größeren Rahmen eingebunden zu sein. Die Frage der Lebensform war angesichts der zunehmenden Berufstätigkeit von und neuer Lebenskonzepte für Frauen ein Thema, das auch besonders die Reformpädagoginnen anzog. Im Umfeld der reformpädagogischen Bewegung entstanden andere Lebensformen aus der Lebensreformbewegung im Zusammenhang mit der Körperkultur- und Frauenbewegung, so zum Beispiel die Lebens- und Arbeitsgemeinschaft Loheland oder das städtische Projekt des Einkü-
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AOSO, Interview Walter Schäfer mit Paul Geheeb, Edith CassirerGeheeb, Lisbeth Hartig und Alwine von Keller, April 1959, Tonkassette.
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chenhauses49 , um zwei Beispiele von Projekten zu nennen, in denen einige der Pädagoginnen vor Antritt in der Odenwaldschule bereits gearbeitet hatten. Hinsichtlich der Arbeits- und Lebensformen zeigten sich diese Pädagoginnen sehr flexibel und experimentierfreudig. Für einige, besonders solche mit Leitungsfunktionen wie Edith CassirerGeheeb und Alwine von Keller, aber auch für die Oberlehrerin Dr. Emilie Zumbusch war die Odenwaldschule langjähriges und lebensbestimmendes Umfeld. 50 Die Diskussion um Landerziehungsheime wurde bereits zu Beginn des Jahrhunderts auch in der Frauenbewegung geführt. Die Argumentationen um freiere Erziehung außerhalb der modernen Städte entstanden mit der Gründung der ersten Landerziehungsheime von Hermann Lietz (1898), in dem ausschließlich Jungen erzogen wurden. Sie verschränkten sich mit der in der Frauenbewegung bereits seit Ende des 19. Jahrhunderts geftihrten Diskussion um Frauenbildung und Frauenberufstätigkeit, insbesondere dem ,natürlichen Frauenberuf der Lehrerin und der damit verbundenen Rolle von Frauen für die Erziehung der Kinder als gesellschaftliche Aufgabe. Die AufWertung der Rolle der Frau sollte nicht nur über die Berufstätigkeit außerhalb der Privatsphäre, sondern auch ebenbürtig über ihre Aufgabe innerhalb der Familie als Mutter und Erzieherin erfolgen. Diese Position geriet in Widerspruch zu den Landerziehungsheimen, die als Lösung für den Wandel von Familie und Umwelt zunehmend die Öffentlichkeit beschäftigten. Im Juli 1906 argumentierte Elsbeth Krukenberg in der Zeitschrift Neue Bahnen gegen die Auslagerung der Erziehung aus der Familie in Landerziehungsheime. Sie hob in ihrem Artikel die Bedeutung der Familie als Vorbild und als Instanz für die Vermittlung von Werten hervor. Insbesondere über die Erziehung der Söhne wollte sie die Wertschätzung von Frauen in der Gesellschaft stärken. ,,Land-Erziehungsheime, das ist ein Ruf, der als Abhülfemittel [für die schlechte Situation der Jugenderziehung in der Stadt und in vielen Familien, E.S.] von gar vielen Seiten laut wird. Tch aber bin gegenüber solchen für Ausnahmefälle trefflichen Erziehungsanstalten der Ansicht, daß sie das Elternhaus nun und nimmer ersetzen. Die Eltern sollten sich ihre Kinder nicht nehmen lassen und vor allem dürften wir Mütter nicht darauf verzichten, Einfluß auch aufunsere heranwachsenden Söhne zu üben. Die Achtung, die ein Mann den Frauen im Leben entgegenbringt, hängt oft ganz von dem Einfluße ab, den seine Mutter einst über ihn in seiner Jugend gewann." (Krukenberg 1906: 105f., Hervorh. i.O.)
49 50
Vgl. zu ,Loheland', zur Körperkulturbewegung und zur Lebensreformbewegung Kap. 3.2, insbes. S. 160ff. und Kap. 5.5. Vgl. Kap. 5.1; Kap. 5.2; Kap. 3.2.3, Emilie Zumbusch, S. 134f.
PORTRÄT EINES FRÜHEN KOEDUKATIVEN LANDERZIEH UNGSHEIMES
47
Elsbeth Krukenberg zitierte Marie Martin, die für die ansteigende Bedeutung des Mutterberufes angesichts des Ausfalls des Vaters in der Erziehungsinstitution Familie eintrat. Sie begründete mit der Übernahme der Erzieherinnenfunktion von Frauen in der Familie die erhöhten Anforderungen an die Erziehung und Bildung von Frauen: "Durch Mutterbildung schafft man die beste und nationalste Erziehungsschule der Welt, die es an Kraft und Wirkung sicher aufnimmt mit den genialsten Anstalten. Es ist doch eigentlich eine furchtbare Schmach fur die deutsche Frau, die man stets ins Haus zurückverwiesen und die man flir das Haus zu erziehen behauptete, daß sie hier, wo die ernsteste Hausaufgabe, die Kindererziehung, ihr ernstlich winkt, einfach ausgeschaltet wird und die Erziehung fremden Anstalten anvertraut werden soll, weil- der Vater keine Zeit mehr dazu hat neben seinem Berufsleben." (ebd.) Deutlich wird aus dieser Argumentation, dass es nicht um eine pädagogische Beurteilung der Landerziehungsheime geht, sondern um eine Reaktion auf die tiefgreifende Erschütterung von bestehenden Werten und Normen, die das Bestehen der Familie als Grundlage des Staates und die Aufgaben von Frauen innerhalb der Familie und Gesellschaft ins Wanken brachte. Die Landerziehungsheime schienen daher eine Bedrohung der Stellung der Frau zu sein. Nun waren die ersten Landerziehungsheime in Deutschland die von Hermann Lietz gegründeten Internate in Tlsenburg im Harz und in Haubinda in Thüringen Jungeninternate. Koedukativ war nur das weniger bekannte von Hermann Hoffman in Lau begast, das nur drei Jahre, von 1903- 1906 existierte. 51 Wickersdorf, als erstes bedeutendes koedukatives Landerziehungsheim, wurde erst im September 1906, also nach Erscheinen des Artikels, eröffnet. Landerziehungsheime mussten zur Gründungszeit der ersten Schulen dieser Art als Modelle flir die allgemeine Erziehung und zwar zunächst von Jungen - erscheinen. Deshalb wurden Stimmen aus der Frauenbewegung laut, die eine durchgehende Separierung der Jungen- und Mädchenerziehung sowie den Abzug der Jungen aus dem Einflussbereich des Elternhauses vorhersahen und die Söhne in
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Vor 1910 existierten ebenfalls Landerziehungsheime für Mädchen, die jedoch bislang in der Literatur wenig Beachtung fanden . Sie scheinen auch in der zeitgenössischen öffentlichen Diskussion um Landerziehungsheime weniger Aufsehen erregt zu haben als die großen Landerziehungsheime von z.B. Lietz, Wyneken und Geheeb. So gab es ein Landerziehungsheim für Mädchen in Wannsee bei Berlin (1904 in die Schweiz verlegt von Frau von Petersenn); ein Landerziehungsheim für Mädchen in Breitbrunn von Fräulein Barbara und Ama1ie Wolf ( 1904 in Betrieb genommen, vgl. Plothow 1904: 77f.) und ein Mädchenlanderziehungsbeim in Sieversdorf (Erwähnung in: AEdH, Korr. E. u. P. Geheeb, 19.05.1909: Die als "alte Freundin" bezeichnete Frau Bollert ist "frühere Leiterin").
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DIE ODENWALDSCHULE
der reinen Männergesellschaft der Landerziehungsheime heranwachsen sahen. In einer weiteren, bereits 1903 von C. Braunmühl verfassten Erörterung des Themas wird die Befürchtung einer zunehmenden Separierung der Geschlechter und der damit verbundenen Einschränkung des Einflusses von Frauen auf den Punkt gebracht: "Nun frage ich als Frau: Welche Ansicht soll der junge Mann der also alles was er besitzt, dem Erziehungsheim zu danken hat, in welchem er nur von Männern gepflegt, erzogen und geleitet wurde, von der Frauenwelt, auch von seiner eigenen Mutter erhalten? Er verdankt den Frauen nichts, gar nichts; sie sind ihm in seiner ganzen Entwickelung, in seiner ganzen Ausbildung eine Null. Wird er nicht bald auf den Gedanken kommen, daß sie nur zur Befriedigung seiner Sinnlichkeit auf der Welt sind, nicht nur außer der Ehe, sondern auch in der Ehe? Das ist wohl eines der schwerwiegendsten Bedenken, welche sich in uns Frauen gegen die Landerziehungsheime, wie sie in dem Artikel geschildert werden, erheben. Es ist mit den Anschauungen der jungen Männer über die Frauenwelt bei unserer heutigen Erziehung mit Trennung der Geschlechter, bei der mangelhaften Ausbildung der Mädchen jetzt schon schlimm genug bestellt." (Braunmühl 1903: 84)
Da ein Strang des Frauenbildungsdiskurses um die Jahrhundertwende Frauenarbeit in der Familie sichtbar machen wollte und über die Erziehung der Kinder definierte und über diesen Weg auch den Bildungsanspruch von Frauen legitimierte, sahen die angeführten Autorinnen - übrigens beide unverheiratet und kinderlos 52 - diese neue Rolle der Frau als Erzieherin bedroht. Hedwig Dohm ging 1914 einen Schritt über diese defensive Haltung hinaus. Sie konnte bereits auf einige Jahre bewährter Praxis koedukativer Landerziehungsheime blicken und forderte eine Verbesserung der Beziehung der Geschlechter zueinander, die mit der gemeinsamen Erziehung von Jungen und Mädchen beginnen sollte. Sie unterstützte die Erziehung in Landerziehungheimen und forderte die Aufnahme von Mädchen, also koedukative Internate: "Das männliche Geschlecht muß die Gleichwertigkeit der Frau erfahren. Diese Erfahrung muß so früh als möglich einsetzen, schon bei der Erziehung der Kinder, einer Gemeinschaftserziehung von Knaben und Mädchen in den Schulen, noch besser in den Landerziehungsheimen." (Dohm 1914: 10, Hervorh. i.O.) Auch Lily Braun wendete die Möglichkeit der Erziehung der Kinder außerhalb der Familie bereits 1901 positiv für die Rolle der Frau. Sie 52 Elsbeth Krukenberg (Mitglied des Bundes deutscher Frauenvereine) lebte 42 Jahre lang in Gemeinschaft mit der Lehrerin und Lyzeumsdirektorin Lin Hilger. Vgl. Piper 1992: 116ff. und Göttert 1989: 30.
PORTRÄT EINES FRÜHEN KOEDUKATIVEN LANDERZI EHUNGSH EIMES
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sah in ihr - und es kann davon ausgegangen werden, dass auch sie sich auf die Landerziehungsheimbewegung als Modell berief - eine Erweiterung der Frauenrolle und zwar auf erweiterte Berufstätigkeit: "Die Kindergärten, der öffentliche Schulunterricht, die zunehmende Neigung, heranwachsende Kinder auf Jahre hinaus Instituten anzuvertrauen, die sie womöglich von dem geistig und körperlich korrumpierenden Einfluss der Städte fernhalten, geben der Mutter ein gut Stück der freien Verfügung über ihre Zeit zurück, das sich dadurch noch vermehrt, dass die Berufsarbeit und die politischen Interessen des Mannes ihn immer mehr aus dem Hause führen ." (Braun 1979 [1901]: 170) Diese Entwicklung sah sie als "Fortschritt der Frauenbewegung" . Den Funktionsverlust der Erziehungsinstanz ,Familie' koppelte sie im Sinne eines möglichen umgekehrten Kausalzusammenhangs von diesen Tendenzen vollkommen ab und bezeichnet ihn als "unausbleibliche [ ... ]weitere[ . . .] Zersetzung des Familienlebens" (ebd.), also als nicht aufzuhaltenden gesellschaftlichen Prozess. Die Odenwaldschule als Landerziehungsheim zog einen bestimmten Personenkreis an, der mehr oder weniger beeinflusst war durch die kulturkritischen Bewegungen der Zeit. Einflüsse der Jugendbewegung, der Frauenbewegung, der Lebensreformbewegung, der pazifistischen Bewegung und nicht zuletzt der Schulkritik und Kritik der Normen und Werte des Wilhelminischen Kaiserreiches prägten den Charakter der Schule. Wurde in der Theorie zur Schule mit Perspektive auf die Erziehung der Kinder und Jugendlichen argumentiert, so ergab sich aus der Umsetzung des Schulmodells eine Lebens- und Arbeitsform, die gerade für berufstätige Pädagoginnen und deren Berufsbiographien und Lebensentwürfe bedeutsam war.
Teil II Die Untersuchung der Gesamtgruppe
3
DIE P ÄDAGOGINNEN DER ODENWALDSCHULE DAS WEIBLICHE KOLLEGIUM 1910-1934
Sozialer Hintergrund, reformpädagogische Tätigkeit, Ausbildungs- und Berufsbiographien Wie lassen sich Pädagoginnen, die sich während der reformpädagogischen Bewegung zu Beginn des 20. Jahrhunderts in der Ausrichtung ihrer Berufstätigkeit an ihr orientierten, charakterisieren? Arthur Venn, ehemaliger Schüler der Odenwaldschule (19231925), beschrieb unter der Überschrift Originale und Pädagogen das Lehrerkollegium der Odenwaldschule nicht ohne ironischen Anklang folgendermaßen : "Das Lehrerkollegium (es hieß nicht so) versammelte sich, wenn ich mich recht erinnere, täglich in der ,kleinen Konferenz'. Länger dauernde Konferenzen waren sehr häufig. Von den 30 ,Erwachsenen' , die sich jeweils versammelten, war jeder ein Original. Manche waren so originell, daß sie wie in Klausur ein völliges Einsiedlerleben führten [ ... ]." (Venn 1965: 6) Diese Beschreibung von Pädagog/-innen ist ebenso übertrieben und provokant, wie sie auch Wahrheit enthält. Dass es sich in vielen Fällen um außergewöhnliche Menschen handelte, die den Weg in die Odenwaldschule fanden, ist nur zu gut vorstellbar. Auch die Pädagoginnen müssen - angesichts der noch immer ungewöhnlichen Berufstätigkeit von Frauen einerseits, der Wahl der ,Subkultur' Landerziehungsheim andererseits - sicherlich über individualistische Züge, Eigensinn und Durchsetzungsvermögen verfügt haben. Für die wissenschaftliche Beantwortung der Frage nach den Hintergründen, Motiven, dem pädagogischen Wirken dieser Menschen sollen die Odenwaldschulpädagoginnen, die von 1910 bis 1934 an dem Landerziehungsheim gelebt und gearbeitet haben, als Gruppe untersucht werden. Anhand des kollektivbiographischen Verfahrens soll in diesem Kapitel in einem ersten Abschnitt die Analyse des sozialen Hintergrundes der Gesamtgruppe der Pädagoginnen erfolgen. Aus welchen Elternhäusern stammen die Frauen, wirkte der soziale Hintergrund unterstützend für das Absolvieren einer Berufsausbildung? Für welche Pädagoginnen bot die Odenwaldschule Arbeitsmöglichkeiten? In welcher Weise trugen sie das Landerziehungsheim mit? In welchem Le-
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UNTERSUCHUNG DER G ESAMTGRUPPE
bensahschnitt waren die Pädagoginnen an der Odenwaldschule beschäftigt? Welche Faktoren begünstigten die Hinwendung zur Reformpädagogik? Welche Rolle spielte das Landerziehungsheim in ihrer Berufsbiographie? Die quantitative Herangehensweise der Kollektivbiographie wird im Dienste einer umfassenderen Beschreibung der Gruppe mehrfach durchbrachen werden und zwar an den Stellen, an denen es sinnvoll erscheint, die Typisierungen und qualitativen Ergebnisse zugunsten eines genaueren Einblicks in Einzelbiographien zu vertiefen. Die Daten werden in diesem Abschnitt (3 .1) weitestgehend chronologisch, d.h. entsprechend eines Lebenslaufes ausgewertet. Die Untersuchung der Ausbildungswege erfolgt gesondert in den darauf folgenden Abschnitten 3.2, da die Pädagoginnen der Odenwaldschule verschiedenen Berufsgruppen mit unterschiedlichen Ausbildungswegen angehörten. Jn diesen Abschnitten soll geklärt werden, welche Ausbildungsgänge die Lehrerinnen durchliefen, mit welchen Schwierigkeiten sie arbeitsmarktpolitisch zu rechnen hatten und welche Vorteile ihnen demgegenüber die Privatschule bot; ob sie Pionierinnen in ihrem Arbeitsgebiet waren und inwieweit die Ausbildung mit gesellschaftskritischen und reformpädagogischen Interessen im Zusammenhang steht.
3.1
Sozialer Hintergrund und reformpädagogische Tätigkeit
3.1.1 Anteil von Reformpädagoginnen an der Odenwaldschule Die Auswertung der aus Mitarbeitendenlisten und Zeugnissen erstellten Daten zeigt, dass 170 weibliche und 169 männliche pädagogische Mitarbeitende in der Zeit zwischen 1910 und 1934 an der Odenwaldschule tätig waren. Die paritätische Besetzung des Kollegiums gilt ebenso für die Gründungs- und die Nachkriegszeit sowie für die Zeit während des 1. Weltkrieges. Die Zahlen kommen also nicht durch eine stärkere Besetzung von Frauen während der Kriegszeit zustande. Dieser Anteil weiblicher Pädagoginnen an einer Schule, noch dazu einer mit lnternatscharakter, ist im Vergleich zu den Regelschulen sehr hoch.
SOZIALER HINTERGRUND UND REFORMPÄDAGOGISCHE TÄTIGKEIT
Tabelle 1:
Jahr 1901 1911 1922 1931/32
55
Der Anteil von Frauen in den verschiedenen Lehrberufen im Regelschulwesen 1 Volksschulen 15,4% 20,9% 25,0% 25,5%
Mittelschulen
Höhere Schulen
48,0% 49,8% 46,1%
6,0% 26,8% 24,4%
Der Anteil der Lehrerinnen an den Volksschulen stieg von 1911, also im zweiten Jahr der Existenz der Odenwaldschule, bis 1931/1932, gegen Ende des Besteheus des ursprünglichen Landerziehungsheimes, von 20,9 Prozent auf25,5 Prozent, lag dann also bei rund einem Viertel. Ähnlich sehen die Zahlen flir die höheren Schulen aus. Nach einem rapiden Anstieg des Anteils in den zehn Jahren von 1911 bis 1922, lag der Anteil bis 1932 bei gut einem Viertel. Allein an den Mittelschulen dagegen entsprach der Anteil von Lehrerinnen von knapp 50 Prozent am gesamten Lehrkörper dem Frauenanteil an der Odenwaldschule. Die Odenwaldschule war also eine, im Vergleich zum Regelschulwesen, in hohem Maße von weiblichen Pädagoginnen getragene Bildungsinstitution.
3.1.2 Alter und Generationen Die Pädagoginnen der Odenwaldschule bis 1934 sind in den Jahren zwischen 1870 bis 1909 geboren.
Tabelle 2:
1870-1 1874-1 1876-1 1877-1 1878-3 1880-2 1882 - 2
Generationen: Jahr und Anzahl der in den j eweiligen Jahren geborenen Mitarbeiterinnen2 1885-6 1886-2 1887-5 1888-2 1889-3 1890-2 1891 - 11
1892- 2 1893-5 1894-4 1895-3 1896-5 1897-2 1898 - 6
1899-8 1900-5 1901 -3 1902-2 1904-3 1905-2 1906 - 3
1907 -3 1908-1 1909-8 1910-1920
keine
Die Tabelle ist ein Ausschnitt (flir meinen Untersuchungszeitraum) aus einer von Jost von Maydell ( 1970) aus den "Statistischen Jahrbüchern für das deutsche Reich" (der Jahrgänge 1913, 1923, 1932, 1941142, hg. vom kaiserlichen statistischen Amt bzw. vom statistischen Reichsamt, Berlin) erstellten Tabelle. 2 Es konnten die Geburtsjahrgänge von 107 Mitarbeiterinnen ermittelt werden, von 63 blieben die Jahrgänge unbekannt.
56
UNTERSUCHUNG DER GESAMTGRUPPE
Davon gehörte der größere Teil (48) der in den 90er Jahren des 19. Jahrhunderts geborenen Generation an. Die Geburtsjahrgänge von 1900 bis 1909 sind 30-mal vertreten, die der 80er Jahre des 19. Jahrhunderts 22-mal, der 70er nur sieben Mal. Die Steigerung der Zahlen im Verlauf der Generationen kann auf die Verbesserung der Berufsund Ausbildungschancen zurückgeführt werden. Hinzu kommt, dass davon ausgegangen werden kann, dass die Pädagoginnen mit ca. 20 Jahren ihre Ausbildung absolviert hatten und den Arbeitsmarkt betraten. Die in den 90er Jahren geborenen waren dementsprechend mit Gründung der Odenwaldschule Berufseinsteigerinnen und die potentielle Bereitschaft, als junge und ungebundene Frauen das Experiment zu wagen, in einem Landerziehungsheim zu leben und zu arbeiten, war höher als für ältere, die ggf. bereits im Staatsdienst arbeiteten oder ohnehin durch Familiengründung aus dem Arbeitsleben ausgeschieden waren. Die im folgenden Jahrzehnt (1900-1909) geborenen sind weniger vertreten, da hier nur die Pädagoginnen bis 1934 erfasst sind. Auffällig und überraschend ist der Befund, dass gerade Pädagoginnen der früheren Generationen, d.h. der 70er und 80er Jahre des 19. Jahrhundetts, besonders engagierte Odenwaldschul- und Reformpädagoginnen waren. Die Pädagoginnen der frühen Jahrgänge waren in hohem Maße von der kulturkritischen Sichtweise bestimmter Teile der Gesellschaft beeinflusst, also auch an den kulturkritischen und sozialen Bewegungen orientiert und in ihnen engagiert. Sie wurden zu tragenden Gestalten der reformpädagogischen Bewegung. Unter ihnen sind einige, die ihr Leben und ihre Arbeit in hohem Maße in die Odenwaldschule einbrachten und an sie banden (Edith Cassirer-Geheeb (geb. 1885), Alwine von Keller (1878), Elisabeth Huguenin (1885), Olga Knischewsky (1877), Kati Lotz (1870)) 3 oder sich in besonderer Weise in den zeitgenössischen gesellschaftlichen Bewegungen engagierten. Zu diesen in Kap. 5 Porträtierten müssen hier auch folgende Pädagoginnen genannt werden: Die 1876 geborene Clothilde von Raesfeld, die seit 1910 als Hausdame an der Odenwaldschule arbeitete und mit ihrem späteren Ehemann Otto Erdmann und der Ärztin Anna Geheeb, der Schwester Paul Geheebs, 1926 das Landerziehungsheim Burg Nordeck gründete4 und leitete. Eine weitere Schulgründerin und -Ieiterin des frühen Jahrgangs ist die Odenwaldschulmitarbeiterin Marina Ewald (geb. 1887), die 1919/ 1920 von Kurt Hahn für den Ausbau des Landerziehungsheimes Schloss Salem gewonnen und der Odenwaldschule abgeworben wurde. 5 Langzeitbeschäftigte am Landerzie3 Vgl. Kap. 5. 4 Vgl. dazu Stürz 1951: 9. 5 Vgl. dazu Schule Schloß Salem 1995 und Winthrop-Young o.J. Die biographischen Daten stammen aus dem Lebenslauf Marina Ewalds (Archiv Schule Schloss Salem, an deren Mitarbeitende mein Dank geht).
SOZIALER HINTERGRUND UND REFORMPÄDAGOGISCHE TÄTIGKEIT
57
hungsheim waren Eva Solmitz-Cassirer, Jahrgang 1885, die ihr Leben lang sporadisch an der Odenwaldschule lebte und Emilie Zumbusch, 1880 geboren, deren Tätigkeit 1911 begann und 1923 durch ihren frühen Tod endete. Diese ,ältere' Pädagoginnengeneration weist eine weitere Besonderheit auf. Zumindest einige von ihnen traten in relativ reifem Alter in das Landerziehungsheim ein. Ihr Eintrittsalter liegt z.T. weit über dem durchschnittlichen von 26,5 Jahren: Clothilde von Raesfeld 1910 mit 34 Jahren, Eva Solmitz-Cassirer mit 32 Jahren, Elisabeth Huguenin mit 30 Jahren und Alwine von Keller mit 38 Jahren. Durch längere Ausbildungszeiten für ein Studium waren Emilie Zumbusch und Marina Ewald mit Eintritt in die Odenwaldschule im Alter von 31 Jahren. Kati Lotz und Olga Knischewsky gehören zu den frühesten Jahrgängen und traten beide mit 47 und 49 Jahren in die pädagogische Gemeinschaft ein. Mit Ausnahme von Eva Solmitz-Cassirer und Alwine von Keller, die zeitweise verheiratet war, verkörperten alle den Typus der unverheirateten Lehrerin, der charakteristisch für die Odenwaldschule war. 6 Bemerkenswert ist auch, dass gerade diese Pädagoginnen der frühesten Generationen sich in ihren Berufsverläufen als sehr flexibel und experimentierfreudig erwiesen.
3.1.3 Soziale Herkunft und psychosoziale Bedingungen
Die soziale Herkunft, d.h. auch die psychosozialen Bedingungen, unter denen die Pädagoginnen aufwuchsen, waren konstitutiv für das Erlernen und die Ausübung des Berufes sowie für das Einschlagen eines alternativen Weges der Pädagogik, die Arbeit am Landerziehungsheim. Die folgende Aufstellung gibt einen Überblick über die Elternberufe von 31 Pädagoginnen der Odenwaldschule, zumeist war der Beruf des Vaters verzeichnet. Ist ein Beruf der Mutter angegeben, so wird es vermerkt.
6 Vgl. dazu Kap. 3.1.5, S. 68ff.
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Tabelle 3:
UNTERSUCHUNG DER G ESAMTGRUPPE
Elternberufe - Töchterberufe 7
Handel- und Gewerbetreibende Eisengießereibesitzer
Auguste Römheld
---------- ~~~~~::s~~~~~!~~?b
Fabrikbesitzer, Stadtrat _ _ _ _ _ _ _ _ _ (Pädagogin ohne Ausbildung) Alwine von Keller Geschäftsmann _ _ _ _ _ _ _ _ _ _ (Lehrerinnenseminar) Kaufmann Lily Frankenstein _ _ _ _ _ _ _ _ _ _ (Studium, Oberlehrerin) Kaufmann Ilse Nölting _ _ _ _ _ _ _ _ _ _ (Oberlyzeum, Volks- u. Mittelschullehrerin) Olga Knischewsky Subdirektor, Kaufmann _ _ _ _ _ _ _ _ _ _ (Studium, Oberlehrerin) Elli Riffert Verlagsbuchhändler (Lehrerinnenseminar, Studium)
Angestellte und Beamte Bankbeamter Käthe Kammerer _ _ _ _ _ _ _ _ _ (Oberlyz. Oberlehr., Stud., Musiklehr.) Baurat Helene Spittel _ _ _ _ _ _ _ _ _ _ (Kindergärtnerin) Marina Ewald geh. Medizinalrat _ _ _ _ _ _ _ _ _ _ (Studium, Oberlehrerin) Lita Zernecke Rechnungsrat ----,-,,......-,------- (Studium Loheland u. bei Nohl) städtischer Beamter Elisabeth Bender _ _ _ _ _ _ _ _ _ _ (Studium, Oberlehrerin) Stadtrat Margarete Tobler ----,-----,------- (Studium, Fachwissenschaftlerin) Superintendent, Ruth Zechlin Konsistorialrat (Kindergärtnerin)
Lehrende Berufe Dorothea Thimme Gymnasialprofessor _ _ _ _ _ _ _ _ _ _ (Studium, Oberlehrerin) Paula Preiß Lehrer (Lehrerinnenseminar, Studium)
7 Die Kategorien sind in Anlehnung an Renate Tobies (1997: 29) entstanden, so dass die Ergebnisse mit der Untersuchung von Tobies zu promovierten Mathematikerinnen vergleichbar sind. Tch habe die Kategorien etwas enger gefasst (lehrende Berufe, sonstige Akademiker), da nur wenige Daten erfasst waren. Die Übersicht ist zum größten Teil nach den Angaben aus den Personalheften erstellt (AEdH). Erfasst sind darin 32 Elternberufe von 31 Lehrerinnen.
SOZIALER HINTERGRUND UND REFORMPÄDAGOGISCHE TÄTIGKEIT
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Lehrerin Elisabeth Huguenin -------,-------- (Volksschullehrerin, Studium) Lehrerin, Ellen Teichmüller Reformpädagogin8 (Studium, Oberlehrerin) Professor Gertrud Scharvogel _ _ _ _ _ _ _ _ _ _ (Kindergärtnerin) Emly Kofahl Reformpädagoge9 (Werkstatt, Zeichenlehrerin) - - - - - - - - - - Elisabeth Trocme 10 Reformpädagoge ---..---,--------,----.,-(Studium) Übersetzer, Gymnastik). Gertraudt Schaefer-Herzogenrath (Mutter: Photographin) (Buchbinderin) _ _ _L_~~~---
Sonstige Akademiker Arzt Gertrud Duffing _ _ _ _ _ _ _ _ _ _ (Studium, Oberlehrerin) Käthe Harnburg Arzt (Lehrerinnenseminar, Studium) ---------Chemiker Margot Bergmann _ _ _ _ _ _ _ _ _ _ (Kindergärtnerin) Marianne Steinitz Ingenieur _ _ _ _ _ _ _ _ _ _ (Kindergärtnerin) Ilse Rothe Oberingenieur _ _ _ _ _ _ _ _ _ _ (Oberlyzeum, Oberlehrerin, Auslandsstudium) Pastor Sophie Bublitz _ _ _ _ _ _ _ _ _ _ (Kindergärtnerin und Gymnastik Loheland) pfarrer Magdalene Theile _ _ _ _ _ _ _ _ _ (Oberlyzeum) Pfarrer Lotte Sirnon --=-:-------:-:--------::----:---=--=-=-- ( Oberlyzeum) Physiker, Geschäftsführer Helene Czapski der Zeisswerke Jena (Kunstgewerbeschule) Für 31 der insgesamt 170 Pädagoginnen konnte der Beruf der Eltern als Hinweis für die soziale Herkunft, d.h. die Bedingungen ihres Aufwachsens festgestellt werden. 11 Es kann jedoch davon ausgegangen werden, dass dieser Ausschnitt zumindest für die im engeren Sinne pädagogischen Angestellten (Kindergärtnerinnen und Lehrerinnen) repräsentativ ist. Zudem hatte der Interessentl-innenkreis um das 8 Alwine von Keller, vgl. Kap. 5.2. 9 Otto Kofahl, Zeichenlehrer und Reformpädagoge, Mitarbeiter in Haubinda, später im LEH Breitbrunn am Ammersee, Emly Kofahl war Schülerin im Landerziehungsheim Haubinda. 10 Mitdirektor und Lehrer an der Ecole des Roches. 11 Die Angaben zu den Elternberufen sind den Personaldaten der Odenwaldschule (AEdH) und weiterführenden Quellen, wie z.B. Kurzbiographien aus Dissertationen und anderen wissenschaftlichen Arbeiten, entnommen.
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UNTERSUCHUNG DER GESAMTGRUPPE
Landerziehungsheim, also auch die Schüler/-innen, einen ähnlichen sozialen Hintergrund, sie gehörten zumeist dem ,gehobenen Mittelstand', teilweise auch der ,Oberschicht' an (vgl. Stark 1998: 14). Die Lehrerinnen der Odenwaldschule stammten zumeist aus bürgerlichen Familien. Ein Bildungsinteresse der Familie, wie auch die ökonomischen Verhältnisse waren Voraussetzungen für die Berufstätigkeit der Lehrerinnen. Die Eltern, in der Regel die Väter, waren Handel- und Gewerbetreibende, mittlere Angestellte und leitende Beamte, Lehrer und Professoren sowie Akademiker wie Ärzte, Pfarrer, Naturwissenschaftler und Ingenieure. Damit gehörten sie in der Mehrzahl dem mittleren Bürgertum bzw. dem Bildungsbürgertum an. Renate Tobies (1997: 29) stellt bei der Untersuchung von Mathematikerinnen und Naturwissenschaftlerinnen fest, dass der überwiegende Teil der Väter im Schuldienst beschäftigt war und somit zu vermuten ist, dass sie die Begabung ihrer Töchter leichter erkennen und fördern konnten. Diese These kann hier nicht bestätigt werden. Die verschiedenen Berufssparten sind relativ gleichmäßig vertreten. Die Gegenüberstellung von Elternberufen und Pädagoginnenberufen lässt keine Übereinstimmung von lehrendem Beruf des Vaters und Studium feststellen. Die Pädagoginnen, die ein Studium absolvierten, verteilen sich relativ gleichmäßig auf die Eltern-Berufsgruppen. Ebenso wenig kann von einer ,Berufsvererbung' hinsichtlich der Ausbildung zur seminaristisch ausgebildeten oder Oberlehrerin gesprochen werden. 12 ,Berufsvererbend' wirkten demgegenüber aber die reformpädagogisch arbeitenden Eltern. In drei Fällen arbeitete die Tochter wie schon ihre Mutter oder ihr Vater an reformpädagogischen Schulen. Ellen Teichmüller, Emly Kofahl und wahrscheinlich auch Elisabeth Trocme waren infolge der Beschäftigung der Mutter bzw. des Vaters Schülerinnen an einer Reformschule und orientierten sich auch im Berufsleben an ebensolchen. Der Befund von Brehmer/Ehrich/Stolze (1990: 329), dass auch Töchter von Bauern und kleinen Handwerkern häufiger als bisher angenommen eine Lehrerinnenausbildung absolvierten, kann für die Gruppe der Pädagoginnen der Odenwaldschule, soweit die wenigen Angaben zum Elternberuf dies zulassen, nicht bestätigt werden. Sind die Elternberufe relativ gleichmäßig auf die Gruppierungen Handelund Gewerbetreibende, Angestellte und Beamte, lehrende Berufe und Akademiker verteilt, so fehlen Bauern und kleine Handwerker hier 12 Marion Klewitz ( 1989: 78f.) stellt fest, dass jede fünfte Absolventirr eines staatlichen Seminars in Preußen Tochter eines Lehrers mit seminaristischer Ausbildung war. Bei Oberlehrerinnen ist die Berufsvererbung nicht so häufig anzutreffen, das "Kennzeichen ihrer Herkunft ist das bildungsbürgerliche Milieu".
SOZIALER HINTERGRUND UND REFORMPÄDAGOGISCHETÄTIGKEIT
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gänzlich. Dieses Ergebnis lässt darauf schließen, dass die Orientierung an der reformpädagogischen Bewegung nicht durch die Herkunft aus besitzenden Familien der unteren Mittelschicht begünstigt wurde. Wahrscheinlich ist, dass für die Pädagoginnen der Odenwaldschule als Angehörige verschiedener pädagogischer Berufe andere Voraussetzungen sozialer Herkunft eine Rolle spielten als fiir solche, die sich an die Regelschulen wandten. Anhand der Elternberufe ist für die Reformpädagoginnen festzustellen, dass sie zumeist aus dem mittleren Bürgertum und dem Bildungsbürgertum stammen. Ein Bildungsinteresse der Familie wie auch die ökonomischen Verhältnisse sind zunächst Voraussetzungen für die Berufstätigkeit der Lehrerinnen. Es ist zu vermuten, dass ein hoher Status von Bildung in den Herkunftsfamilien den Frauen eine Berufsausbildung zugänglich machte, indem er gleichermaßen ihre Interessen und ihr Bedürfnis nach Unabhängigkeit beeinflusste wie auch die Bereitschaft der Eltern, die Töchter zu unterstützen und ihnen die Ausbildung zu finanzieren. Darüber hinaus dürfte im Gegensatz zu der Gruppe der Lehrerinnen, die nach der Ausbildung eine Stelle im öffentlichen Schuldienst oder der Regelschule anstrebten, teilweise um ihre Herkunftsfamilie zu unterhalten (vgl. Stolze 1995) 13, eine weitere Voraussetzung fiir die Bewerbung am Landerziehungsheim eine Rolle spielen: Es ist davon auszugehen, dass die Verfügbarkeit ausreichender finanzieller Ressourcen in den Familien die psychosoziale Voraussetzung fl.ir ,Suchbewegungen' innerhalb des Arbeitsangebotes für Pädagoginnen war. Das heißt, dass die Herkunftsfamilie eine psychosoziale Disposition unterstützte, unter deren Voraussetzung sich häufiger Wechsel der Arbeitsstelle, Fortbildungen und Berufswechsel sowie die Orientierung an reformpädagogischen Projekten, also auch der Eintritt in die Odenwaldschule, reizvoll und auch aushaltbar darstellen konnte. Ebenso spielte die liberale Einstellung der Eltern und ggf. eine gesellschaftskritische oder zumindest für gesellschaftliche Vorgänge und Bewegungen aufgeschlossene Haltung eine Rolle. Reformansprüche (wie z.B. die oben bereits genannten reformpädagogischen Eltern), gepaart mit einer gewissen Risikobereitschaft, mussten Voraussetzung fl.ir die Arbeit an der Odenwaldschule sein, da der Eintritt in das Landerziehungsheim mit Unsicherheiten verbunden war. Die Lehrerinnen verzichteten auf im staatlichen Schulwesen festgelegte Pensionsansprüche wie auch auf eine dauerhafte Anstellung. Außerdem existierte am Landerziehungsheim keine einheitliche Gehaltsregelung. Bezahlt wurde nach dem "Verfahren der privaten 13 Die Motivation der Lehrerinnen in der staatl. kath. Volksschullehrerinnen-Ausbildung (ländliche Unter- u. Mittelschicht) war häufig Existenzsicherung der Familie, auch religiöse Beweggründe wurden häufig angegeben (ebd.: 139ff.).
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Gehaltsregelung". Die Gehälter nicht aller, aber einiger Mitarbeitender der Odenwaldschule, waren so niedrig, dass sie am Rande des Existenzminimums lagen: "Wir sind ja darüber einig, dass manche Gehälter abnorm niedrig sind und für die Mitarbeiter schon jetzt ein Existenzminimum bedeuten.'" 4 Zudem stiegen und fielen die Gehälter, wie auch das Stellenpotential der Odenwaldschule, mit der wirtschaftlichen Lage des Staates und mit den politischen und wirtschaftlichen Krisen wie dem ersten Weltkrieg und der Nachkriegszeit, so dass die Stelle wie auch die Höhe des Einkommens nicht sicher waren (vgl. ebd.). Darüber hinaus stellte die Wahl einer Arbeits- und Lebensgemeinschaft neue Anforderungen an die Pädagoginnen. Das Funktionieren sozialer Bindungen innerhalb wie außerhalb der Gemeinschaft war nicht vorhersehbar.
3.1.4 Konfessionen der Odenwaldschulpädagoginnen Von den 170 beschäftigten Frauen der Odenwaldschule ist von 59 die Konfession zu ermitteln. 15 Die Lehrerinnen der Odenwaldschule stammen zumeist aus bürgerlichen, evangelischen (43), jüdischen (10), und katholischen (6) Familien. Die Konfessionszugehörigkeit der Lehrerinnen (wie auch der Schüler/-innen) spiegelte nicht die Verteilung in der Gesamtgesellschaft wieder. Während Katholiken in der Gesellschaft 1910 zu 36 Prozent, 1925 zu 32 Prozent vertreten waren, waren nur I 0,2 Prozent der Pädagoginnen katholischer Konfession. Der Anteil jüdischer Menschen im Kaiserreich und in der Weimarer Republik von höchstens einem Prozent 16 liegt dagegen weit unter dem Anteil von 16,9 Prozent jüdischer Pädagoginnen im Landerziehungsheim. Verglichen mit dem gesamtgesellschaftlichen Anteil im Kaiserreich ist damit der Anteil der Katholikinnen gering, der der Jüdinnen überproportional hoch.
14 AEdH, Brief der Schulleitung vom 16.11 .1931. Stellungnahme zur Bitte der Schulleitung um Vorschläge zur Kosteneinsparung an die Mitarbeitenden. 15 Vgl. AEdH, Personalhefte - die Angaben zur Konfession stammen zum größten Teil aus dieser Quelle. Jn drei Fällen sind sie weiteren biographischen Quellen entnommen (von Keller, Huguenin, SchäferHerzogenrath), andere aus Korrespondenzen sowie anderen Quellenarten. 16 Daten zum jüdischen Bevölkerungsanteil aus: Daten des Kaiserlichen Statistischen Amtes 1915: 134f.; Statistisches Reichsamt 1930: 596. Zit. nach Shirley 1992: 52f. Shirley weist zum Vergleich darauf hin, dass die Beteiligung von katholischen Schülerl-innen an öffentlichen Schulen ca. 28 Prozent, die jüdischer drei Zehntel Prozent betrug (vgl. auch Fuhr 1970: 345).
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Wenn auch nur die Konfession eines Drittels der Odenwaldschulpädagoginnen zu belegen ist, so scheint dieses Drittel repräsentativ für die Mitarbeiterinnenschaft zu sein. Das Verhältnis entspricht in etwa dem Verhältnis der Schülerl-innenkonfessionen, die aufgrund der Legitimationspflicht als Privatschule gegenüber dem Kultusministerium Hessen weit genauer belegt sind als die Personaldaten der Mitarbeiterl-innenschaft. Der Anteil jüdischer Schülerl-innen nach den ersten 2 Jahren der Odenwaldschule betrug 15-27 Prozent. 17 Zeitweise besuchten überhaupt keine katholischen Schülerl-innen die Odenwaldschule, ihr Anteil stieg insgesamt nie über 10 Prozent. Aufgrund der wenigen Angaben zur Konfession in den Personalakten der Schule kann davon ausgegangen werden, dass nur ungefähr ein Drittel (nämlich weniger als 59) es überhaupt für wichtig erachtet hat, die Konfession bei der Bewerbung bzw. Einstellung anzugeben. Diese Tatsache deutet darauf hin, dass konfessionelle Bindung keine bestimmende Bedeutung für den Eintritt in die Odenwaldschule oder flir die Einstellungspraxis hatte. Eher scheint eine kritische Distanz oder Gleichgültigkeit gegenüber konfessionell geprägter Religion diese Pädagoginnen und ihr Arbeitsfeld - die Odenwaldschule - zu kennzeichnen. Dennoch spielte Religiosität, allerdings als nicht konfessionell bestimmte, eine Rolle. Das von der Odenwaldschule vertretene religiösphilosophische Weltbild basierte auf der Akzeptanz verschiedener Religionen, was sich in der Einrichtung von Kursen zur christlichen und jüdischen Religionsgeschichte zeigt und auch in dem großen Interesse an Jndiologie in den 1920er/30er Jahren sowie Kontakten und Einladungen zu Indern wie Rabindranath Tagore und der Beschäftigung des Gastdozenten Aurobindo Bose. Nicht nur die Ausrichtung des "Religionsunterrichts" an der Odenwaldschule, sondern auch der Verlauf einiger Biographien stehen für die Bedeutung von nicht konfessionell gebundener Religiosität. In Alwine von Kellers wie auch in Edith Cassirer-Geheebs Biographie spielte religiöse Mystik eine lebensbestimmende Rolle, die sie in den 1930er Jahren in der Hinwendung zu indischen Lehren kanalisierten und mit ihrer Pädagoginnentätigkeit
17 Daten zur Konfession der Schülerl-innen der Odenwaldschule aus: Schäfer 1960: 100. Die Daten stammen aus dem Hessischen Staatsarchiv und umfassen die Jahre 1910-1924, es fehlt das Jahr 191511916. Der Großteil des Datenmaterials zur OSO im Hessischen Staatsarchiv ist 1944 während des Ersten Weltkrieges teilweise durch Angestellte, teilweise durch einen Bombenangriff zerstört worden. Die Summen der Schülerf-innenkonfessionen in Prozent: 1910-1924 (ohne das Schuljahr 1915116): evangelische Schülerl-innen 663 (=63,9%), katholische Schülerl-innen 35 (=3,4%), jüdische Schülerl-innen 196 (=18,9%), sonst. Konf. 114 (=11 %), insgesamt 1038 (=100%).
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verbanden. 18 Die religiös-weltanschauliche Grundlage der Odenwaldschule war geprägt von Paul Geheebs Studium der Theologie, seiner Auseinandersetzung mit der in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts aufgekommenen Leben Jesu-Forschung und der von vielen liberalen Theologen vertretenen Bibel- und Quellenkritik (vgl. Näf 1998: 130). 19 Angeregt durch Moritz von Egidys Interpretation der Bibel und durch seine Ideen zur praktischen Umsetzung ins alltägliche Leben, engagierte Geheeb sich in verschiedenen sozialpolitischen Gruppierungen seiner Zeit, wie der Antialkoholbewegung, der Frauenbewegung und der Deutschen Gesellschaft für Ethische Kultur. Geheebs Distanz zur offiziellen Kirche, die während seines Studiums zunahm, ließ ihn die Theologie wissenschaftlich betreiben, sein Interesse daran war aber ein allgemein menschliches, das sich freimachte von orthodoxen Lehrmeinungen (vgl. ebd.). Eben diese Distanz zur Kirche und sein sozialpolitisches Interesse waren flir Geheeb Gründe, sich nach seinem theologischen Staatsexamen im April 1893 in Weimar der Pädagogik zuzuwenden, und sie waren ausschlaggebend für den Stellenwert von Religion und Konfession an der späteren Odenwaldschule. Wenn die Konfession also für die Einstellung und Beschäftigung an der Odenwaldschule unerheblich war, d.h. nicht selektiv wirkte, so ist nach einem Erklärungsansatz für den proportional zum Bevölkerungsanteil hohen Anteil von evangelischen und jüdischen Mitarbeiterinnen zu suchen. Dieser scheint mit den Milieus verschiedener bürgerlicher Gruppen in Beziehung zu stehen. Anzunehmen ist, dass irrfolge des Theologiestudiums Paul Geheebs und der Herkunft Edith Cassirer-Geheebs aus einer jüdisch-assimilierten Familie sowie der untergeordneten Rolle, die die Konfession am Internat spielte, die Schule besonders evangelische und jüdische Schülerl-innen und Lehrerl-innen anzog und nur wenige Katholikl-innen. Der hohe Anteil jüdischer Lehrerinnen ist zum Teil auch auf die häufigen Besuche Edith Geheeb-Cassirers bei ihrer Familie in Berlin zurückzuftihren. Die mit dem großbürgerlichen Leben verbundenen gesellschaftlichen Verpflichtungen brachten einen großen Bekanntenkreis und vielfaltige Kontakte innerhalb jüdischer Kreise mit sich. Edith Cassirer-Geheeb nutzte diese Reisen häufig auch flir die Suche nach geeigneten Lehrkräften. 20 Auch ihr Kontakt zu Alice Salomon 18 Vgl. die Berufsbiographien von Alwine von Keller (Kap. 5.2) und Edith Cassirer-Geheeb (Kap. 5.1 ). 19 Zu diesen liberalen Theologen gehörte auch sein Jenaer Lehrer Prof. Lipsius. 20 Vgl. AEdH, Korr. E.G. an P.G., Brief vom 20.03.1914 über Bewerbungsgespräche mit Alice Brandt (Gymnastik- und Sprachlehrerin), die, wie im Brief zum Ausdruck kommt, auch jüdischer Herkunft ist.
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und damit (sozial-)pädagogischen Kreisen mag dazu beigetragen haben. Aus der Perspektive jüdischer Lehrerinnen war die Odenwaldschule mit ihrer Leiterin jüdischer Herkunft und ihrer liberalen Einstellung hinsichtlich der Konfession und des Religionsunterrichtes sicherlich auch als Freiraum attraktiv, der vielfältige Möglichkeiten der Auseinandersetzung mit Religion bot, ohne die Menschen auf ihre konfessionelle Herkunft festzulegen und zu diskriminieren? 1 Konfession wird häufig als ein Hinweis für den Grad der Liberalität des Elternhauses gewertet. Damit ist zunächst die konfessionelle Zugehörigkeit, nicht die Eingebundenheit angesprochen. Demzufolge würde die Konfession für Gruppen der an liberalen, reformorientierten Bildungsidealen interessierten Pädagoginnen selektiv gewirkt haben. Tobies (1997: 30), StückJen (1916), Fuchs (1994: 209) und Huerkarnp ( 1996: 24) stellen in ihren Untersuchungen zur Aufgeschlossenheit von Familien gegenüber dem Frauenstudium fest, dass jüdische Frauen im Vergleich zum durchschnittlichen Bevölkerungsanteil am häufigsten vertreten waren, katholische unterrepräsentiert. Die Zahl der evangelischen Studentinnen dagegen entsprach dem Bevölkerungsdurchschnitt. Es ist davon auszugehen, dass mit der Aufgeschlossenheit gegenüber dem Studium der Töchter die Aufgeschlossenheit gegenüber der Berufsausbildung und -ausübung bürgerlicher Frauen generell einhergeht. Insofern bestätigt die Verteilung der Konfessionszugehörigkeit der Odenwaldschulmitarbeiterinnen die Ergebnisse der oben angeführten Untersuchungen. Offenbar unterstützten bürgerliche Familien evangelischer Konfession wie a uch jüdischer die Berufstätigkeit ihrer Töchter als auch eine liberale Einstellung gegenüber neuen gesellschaftlichen E ntwicklungen, wie die Reformpädagogik. Entscheidend ist jedoch offensichtlich, dass weder die große Anzahl evangelischer Frauen noch die Frauen jüdischer Herkunft aus kirchlich gebundenen Milieus stammen. Diejüdischen Elternhäuser sind zumeist jüdisch-assimilierte; einige Frauen, wie Edith Cassirer-Geheeb und Helene CzapskiHolzmann ließen sich evangelisch taufen. Claudia Huerkamp legt den Gedanken nahe, dass es in den jüdischen Familien "eine traditionelle Hochschätzung von Wissen und Bildung gab, die mit zunehmender Säkularisierung der Bildungsinhalte mehr und mehr auch die Mädchen mit einbezog." (ebd.: 26)22 21
Zum Einfluss des Nationalsozialismus und Umgang der Odenwaldschute mit dem zunehmenden Druck in den 1930er Jahren vgl. auch Shirley 1992. 22 Zum hohen Anteil jüdischer Schülerl-innen vgl. Shirley 1992: 52: Als gesellschaftliche Gruppe hatten Juden ein größeres Pro-Kopf-Einkommen als andere religiöse Gruppen. Bildung hatte einen hohen Stellenwert. Sie waren eher Stadtbewohner und sympathisierten mit sozialen Bewegungen, die als modern galten, wie dem Feminismus und infolge davon: der Koedukation.
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Die Daten zum Beschäftigungszeitraum widerlegen die mögliche Erklärung, dass der hohe Prozentsatzjüdischer Lehrerinnen durch den Ausschluss jüdischer Lehrerinnen aus dem öffentlichen Schulwesen, bzw. zunehmende Repressionen sie an die private Reformschule geführt hätten:
Tabelle 4:
Jüdische Pädagoginnen und ihre Beschäftigungsjahre Alice Brandt Edith Cassirer-Geheeb Helene Czapski Margarete Orthai Käthe Harnburg Eva Solmitz-Cassirer Lily Frankenstein Trude Goar Gertraudt Schaefer Vera Lachmann
1914 1910- 1934 1914 1914-1918 1917-1919 1917-1934 1921-1922 1923-1934 1924-1927 1930
Die jüdischen Pädagoginnen der Odenwaldschule haben das Landerziehungsheim aus persönlichem und beruflichem Interesse gewählt, nicht als Ausweichmöglichkeit aufgrund fehlender Beschäftigungsmöglichkeiten an der staatlichen und privaten Regelschule. 23 Fast alle jüdischen Pädagoginnen, fiir die Daten vorliegen, arbeiteten bereits während des Kaiserreiches bzw. der Weimarer Republik an der Odenwaldschule. Das heißt, sie sind nicht aufgrund des nationalsozialistischen Drucks auf Lehrerl-innen im staatlichen Schulwesen auf die Privatschule ausgewichen. Edith Cassirer-Geheeb, Eva Solmitz-Cassirer und Trude Goar waren vom Rassismus des Nationalsozialismus bedroht. Sie blieben bis zur Aufgabe der Odenwaldschule in Deutschland und verließen dann erst das Land. Im Falle Vera Lachmanns zeichnete sich der zunehmende antisemitische Druck bereits kurz nach ihrer Beschäftigung ab. Tm Jahr 1933 und in den Folgejahren wirkte er sich beeinflussend auf die im Prozess der Ausbildung und Berufstindung Stehende aus. Sie wurde 1933 bereits nicht mehr als Assessorin im Staatsdienst aufgenommen. 24 Eine Begründung für die Unterrepräsentanz der katholischen Pädagoginnen wäre die, dass die katholischen Bevölkerungsteile des Bürgertums konservativer und damit der Frauenberufstätigkeit wie der Schulkritik, Bildungs- und Gesellschaftsreform weniger zugänglich waren als evangelische oder jüdische Kreise. Dieneuere Forschung zum Verhältnis von Bürgertum und Katholizismus hebt die scharfe Unterscheidung zwischen katholischem und 23 Vgl. dazu Kap. 3.1.6, S. 70ff. 24 Vgl. Kap. 5.7.
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evangelischem Bürgertum auf. Thomas Mergel weist darauf hin, dass bereits Max Weber von einer These der "Ablösung von Orientierungsmustern von ihren religiösen Begründungszusammenhängen" (Mergel 1994: 2) ausgeht. Weber spricht von der "zum gesellschaftlichen Zwang gewordenen Handlungsanforderung, die unterschiedslos alle erfaßt". Daraus schließt Mergel, dass der katholische Bürger gegenüber dem evangelischen keine Ausnahme darstellt. Im Hinblick auf die Einstellung zur Bildung zeigt Mergel für das 20. Jahrhundert am Beispiel von Köln, dass das katholische Wirtschaftsbürgertum seine Gleichgültigkeit gegenüber höherer Bildung aufgegeben hatte. Allerdings galt diese Feststellung für die konfessionellen Unterschiede, nicht jedoch für die zwischen den Geschlechtern. Das sich angleichende Bildungsinteresse galt der Knabenbildung. Von dem Projekt eines Mädchengyrnnasiums, das von "Frau von Mevissen" nachjahrelanger Vorbereitung 1900 gegründet wurde, distanzierten sich die katholischen Kölner Bürger (vgl. ebd.: 309). Das heißt, wenn sich das katholische Bürgertum auch höherer Bildung gegenüber aufgeschlossen zeigte, so herrschte dennoch ein konfessionsbedingter Konservatismus gegenüber höherer Mädchenbildung und vermutlich ebenso gegenüber der bürgerlichen Frauenberufsausbildung. Leider trifft Mergel in seiner Untersuchung keine weiteren Aussagen zum Interesse an Mädchenbildung und reformpädagogischen Bildungsbestrebungen bzw. Schulkritik. Der große Anteil evangelischer und jüdischer Pädagoginnen gegenüber dem katholischer erklärt sich aus der milieuspezifischen Liberalität gegenüber Frauenbildung und -berufstätigkeit, sowie gegenüber Schul- und Gesellschaftsreform . Ausschlaggebend für die Orientierung an der Reformpädagogik scheint die Zugehörigkeit zu nichtkirchlichen Kreisen zu sein. Religionskritik und Frauenemanzipation waren für einige Vertreterinnen der Frauenbewegung eng verbunden, zum Beispiel bei Hedwig Dohm, Helene Stöcker und Lily Braun (vgl. Paletschek 1993: 314).25 Gerade diese sind die Frauenbewegten, die sich auch für die Landerziehungsheimbewegung interessierten bzw. in ihren Schriften ähnliche Gedanken artikulierten wie jene, die der Gründung der Odenwaldschule zugrunde lagen. Lily Braun arbeitete zu Beginn des Jahrhunderts an Fragen der Lebens- und Wohnreform im Zusammenhang mit der Dienstbotenfrage. Ihr Sohn Otto war Schüler bei Paul Geheeb in der Schulgemeinde Wickersdorf. Hedwig Dohm befasste sich in ihren kritischen und radikalen Schriften mit den Themen Persönlichkeitsentwicklung und Frauenemanzipation. " Werde, die du bist" ist der Titel einer ihrer Novellen, deren Titel die weib-
25 Siehe dort auch zum Zusammenhang von Katholizismus und gesellschaftlichen Reformbestrebungen.
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liehe Umformung des Pindarsatzes trägt, der auch Leitsatz der Odenwaldschule war.Z6
3.1.5 Familienstand
Die Pädagoginnen der Odenwaldschule, geboren zwischen 1870 und 1909, gehören der 2. und 3. Generation berufstätiger Frauen an, die zum großen Teil (zumindest während der Zeit ihrer Arbeit an der OSO) nicht verheiratet waren, die nicht nur einen Lebenserwerb suchten, sondern neue Lebens- und Arbeitsformen, um sich soziale Anerkennung unabhängig von Herkunftsfamilie oder neuer Familienbindung zu schaffen. Die Frage danach, ob die Pädagoginnen heirateten und eine Familie gründeten, ist lohnend, da sich mit ihr die Frage nach dem Stellenweft der reformpädagogischen Institution ,Landerziehungsheim' und nach der Motivation, an einem Landerziehungsheim zu arbeiten und in dieser Gemeinschaft zu leben, stellt. Zunächst kann davon ausgegangen werden, dass bürgerliche Frauen, die einen Beruf erlernten, planten, eigenständig zu leben, d.h. unabhängig von Herkunftsfamilie und Ehe. Dieser Typus präferierte von vornherein ein eigenes Berufsleben vor einer Heirat und Familiengründung. Von vielen wurde die Berufsausbildung aber auch als sinngebende Fortbildung zur Überbrückung der Wartezeit bis zur Heirat angesehen. Sie würden die Ehe vorziehen, bereiteten sich aber auch auf die eventuelle Ehelosigkeit vor. Wiederum ein anderer Typ ist der, und das sind unter den Pädagoginnen am ehesten die Kindergärtnerinnen, die die Berufsausbildung gleichzeitig als Vorbereitung für die Familienarbeit und Kindererziehung sahen. Die Odenwaldschule als Lebens- und Arbeitsgemeinschaft und in ihrer Eigenschaft als private Schule, bot Lehrerinnen die Möglichkeit, Ehe und eventuell auch Kinder mit der Berufstätigkeit zu verbinden. Damit könnte sie für unverheiratete Frauen eine Nische gewesen sein, denn ftir die Lebensplanung von Lehrerinnen war die Zölibatsregelung nicht unerheblich, da sie Frauen vor die Alternative Berufstätigkeit als Lehrerin oder Ehe und Familie stellte. Faktisch galt diese Regelung von der Entstehung dieses bürgerlichen Frauenberufes im 19. Jahrhundert bis zur Gleichstellung von Lehrerinnen und Lehrern mit dem Bundesbeamtengesetz von 1953. Sie wurde zwar zeitweise, 1919 in der Weimarer Verfassung, aufgehoben (vgl. Tobies 1997: 38), blieb aber auch während der Weimarer Republik nicht undiskutiert und vor allem nicht ohne Konsequenzen, denn es blieben Landesge26 Zum Leitsatz der Odenwaldschule vgl. Kap. 2. Literatur zu den "Radikalen" findet sich bei Gerhard 1990: 216-279; Meißner 1987; Wickert 1985; Dohm 1988.
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setze mit einer Zölibatsklausel erhalten. Sie wurden durch Beschlüsse des Reichsgerichts vom 10. Mai 1921 und vom 5. Januar 1923 für nichtig erklärt, weil sie den in der Weimarer Verfassung festgelegten gleichen staatsbürgerlichen Rechten von Mann und Frau widersprachen. Schon am 27. Oktober 1923 trat jedoch eine neue "PersonalAbbau-Verordnung" in Kraft, die wieder die Frauen, und zwar die lebenslänglich angestellten Beamtinnen, traf. Der entsprechende Artikel 14 galt bis zum 31. März 1929. Am 30. Mai 1932 ermöglichte ein Gesetz erneut die Entlassung verheirateter Frauen durch die Dienstbehörden (vgl. Deutscher Juristinnenbund (Hg.) 1984: 76f. nach Tobies 1997: 38). Eine Heirat bedeutete also fast zwangsläufig ein Ausscheiden aus dem Beruf. Da die Zölibatsregelungen das staatliche Schulwesen betrafen, stellten private Schulen wie die Odenwaldschule eine Nische zur Umgehung der Zölibatsregelungen dar. Die Auswertungen zeigen jedoch, dass dieses für den Eintritt von Lehrerinnen in die Odenwaldschule kein Motiv gewesen ist. Tatsächlich sind für den gesamten Untersuchungszeitraum von 24 Jahren an der Odenwaldschule nur 19 Ehepaare zu verzeichnen, die gemeinsam eintraten und die Odenwaldschule ebenfalls gemeinsam verließen. Weitere sechs Pädagoginnen heirateten einen Mitarbeiter und blieben gemeinsam mit ihm am Landerziehungsheim. Das Motiv für diese Ehepaare, sich gemeinsam an der Odenwaldschule zu bewerben war sicherlich die gemeinsame Arbeit am Landerziehungsheim. Das Umgehen der Zölibatsregelungen war aber für die meisten nicht der Grund, an der privaten Reformschule zu arbeiten. Nur zehn der 25 verheirateten Mitarbeiterinnen waren Lehrerinnen, darunter nur eine Oberlehrerin, fünf Fachlehrerinnen für Musik und vier Lehrerinnen ohne Angabe der Ausbildung. Die 15 weiteren Mitarbeiterinnen arbeiteten in der Wirtschaft oder Verwaltung. Es kann davon ausgegangen werden, dass sie als gelernte oder ungelernte Kräfte in diesen Bereichen eingesetzt wurden, um die gemeinsame Einstellung der Ehepaare zu ermöglichen. Mit ihren Kindern lebten nur wenige an der Odenwaldschule. Immerhin war es grundsätzlich möglich. Wie Alwine von Keller seit 1916 mit ihrem Sohn und ihrer Tochter im Landerziehungsheim als ,Alleinerziehende' Familie und Berufstätigkeit miteinander verband, so lebte Annemarie Kruse, später verheiratete Kirchner, mit drei Kindern aus ihrer geschiedenen Ehe in der Odenwaldschule. Annemarie Kirchner-Kruse war Malerin, ihre Unterrichtstätigkeit ist nicht festgehalten, wahrscheinlich gab sie Kunstunterricht Sie empfand diese Lebensform als ideal für sich selbst und auch für die Erziehung ihrer Kinder: "Das Wesentlichste war freilich doch die selten glückliche Fügung, in der sich nun das Leben mit meinen Kindern abspielte, wie sie auch innerhalb der Odenwaldschule nur wenigen Müttern gegönnt war. Die Verantwortung
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und Sorge waren mir weithin abgenommen, ich wußte die Kinder in den besten Händen und sah, daß sie körperlich wie seelisch alles erhielten, was ihnen bekömmlich war, und doch war ich durch die Nähe meines Häuschens und die Teilnahme am Schulleben so verbunden mit ihnen, wie in der eigenen Familie." (Kirchner-Kruse 1960) Anhand der Quellen aus den Schularchiven kann nicht mehr nachvollzogen werden, wieviele Pädagoginnen nach der Odenwaldschule berufstätig blieben und wieviele ihre Berufstätigkeit für die Ehe und Familie aufgaben bzw. aufgeben mussten. In einzelnen Fällen, wie zum Beispiel in den Berufsbiographien des TTT. Teils, ist die weitere Berufstätigkeit dokumentiert. Andere berichten in Briefen von ihrer Familienarbeit und evtl. der späteren Wiederaufnahme ihrer Berufstätigkeit Weitere Aussagen lassen diese Einzelfalle leider nicht zu. Entgegen der These, dass die Odenwaldschule bevorzugtes Betätigungsfeld gerade für verheiratete Lehrerinnen war, zeigen die Ergebnisse, dass der Internats- und Lebensgemeinschaftscharakter der 0denwaldschule gerade für Pädagoginnen, die nicht heirateten, eine Nische bot. Für diejenigen, die als sehr junge Frauen, im Alter von zwanzig Jahren, zur Odenwaldschule kamen, war sie sicherlich ein Erfahrungsfeld alternativer Pädagogik in einem geschützten Umfeld. Neben vielen jungen, sich orientierenden Frauen traten aber auch viele zwischen dem 30. und 40. Lebensjahr ein. Das durchschnittliche Eintrittsalter betrug 26,5 Jahre.Z 7 Gerade für diese nicht verheirateten Frauen konnte die Odenwaldschule neben der Arbeitsstelle auch Anerkennung, soziale Kontakte und Sicherheit bieten. Damit stellte das Landerziehungsheim eine Lebensform dar, die im Gegensatz zu dem vorherrschenden Bild der ,einsamen, verhärmten Lehrerin ' durch berufliche und persönliche Einbindung in einen Lebens- und Arbeitszusammenhang eine attraktive Alternative bot. 28
3.1.6 Motive Welche Motive fuhrten die Pädagoginnen außerdem zur Odenwaldschule? Die Odenwaldschule versprach Erwerbsmöglichkeit in einer zum rigiden staatlichen Schulwesen alternativen Schulkultur in geographischer Abgeschiedenheit, Naturnähe und damit verbundener Ruhe bei gleichzeitiger Anhindung an die Kulturzentren Heidelberg und 27 Für 72 der 170 Pädagoginnen konnte das Eintrittsalter nicht ermittelt werden. 28 Vgl. dazu die Ausführungen zum Modell der Frauenwohngemeinschaften von Elisabeth Huguenin (Kap. 5.3, S. 252f.). Sie schlägt als Lösung den Zusammenschluss mehrerer arbeitender Frauen zwecks gemeinsamen Wohnens und der Altersfürsorge vor, die die Frauen durch "Freundschaft und geistige Gemeinschaft" verbindet.
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Darmstadt und Kontakt mit den häufig von dort ameisenden Besuchern. Diese Bedingungen boten auch den Lehrerinnen beides: eigene Fortbildung zur Entwicklung ihrer fachlichen Kenntnisse und ihrer Persönlichkeit sowie ein Leben in der Gemeinschaft. Beides war Motivation für ihre Bewerbung dort. Zugang zu Bildung und Beruf als auch finanzielle und soziale Selbständigkeit sind den Pädagoginnen (im ersten Drittels des Jahrhunderts) noch keine Selbstverständlichkeit. Häufig haben sie sich ihre Ausbildung erkämpft29 und erhielten ihr Bedürfnis nach Bildungserwerb und Weiterentwicklung aufrecht. Emly Kofahl schrieb kurz vor Eintritt in die OSO an Paul Geheeb: "[W]enn ich daran denke, in einigen Monaten Lehrer zu sein anstatt Schüler, kommt mich einfach ein Heißhunger an nach unaufhörlichem Werden und Wachsen. [ ... ] [A]ber im Grund ist' s gleich und ich denke mir, daß der immer kein schlechter Lehrer ist, der selber wachsend im Leben steht." (AEdH, Korr. E.K., 11.03 .1916) Dieses Fortbildungsbedürfnis lag in der Geschichte des Lehrerinnenberufes begründet. Ein Studium war in Deutschland immerhin bis 1908 für Frauen nicht möglich. A us wissenschaftlichen LehrerFortbildungen der Berufsverbände ihrer männlichen Kollegen waren Lehrerinnen infolge männlicher Konkurrenzängste ausgeschlossen (vgl. Uhlig 1996: 73). 30 Insofern bestand aufgrund traditionell geringer Fortbildungsmöglichkeiten ein großes Interesse und Bildungsbedürfnis der Pädagoginnen. Ebendieses kennzeichnete die Pädagoginnen und entsprach dem Bildungsanspruch der Odenwaldschule. Die Leitidee der ,Bildung zum Menschen', die der Lebensgemeinschaft zugrunde lag, machte die Odenwaldschule ftir die Pädagoginnen zu einem Ort möglicher persönlicher und beruflicher Weiterentwicklung. Paul Geheeb definierte Erziehung als "Entwicklungsprozess, in dem sich jeder Mensch von der Geburt bis zum Tode [... ] befindet, der Prozess andauernder, überwiegend unbewußter Auseinandersetzung, in der sich jedes Individuum mit seiner Umgebung, mit Menschen und Dingen, mit Natur und Kultur, befindet, die empfangenden Eindrücke teils fruchtbar verarbeitend und als Bildungsstoffe zum Aufbau der eigenen Individualität assimilierend, teils aber ablehnend." Dabei erhielt die Gemeinschaft eine zentrale Bedeutung für die Erziehung: "[A]IIe Erziehung, ja alle kulturelle [ ... ] Entwicklung vollzieht 29 Vgl. z.B. die Biographien Edith Cassirer-Geheebs, Alwine von Kellers und auch andere flir berufstätige Töchter aus dem Bürgertum typische Lebensläufe (z.B. der Alice Salomons und Lydia Stöckers). 30 Selbstorganisation der Fortbildung war ein starkes Motiv fiir die eigenständige Vereinstätigkeit der Lehrerinnen. Es entsprang einem Bildungsbedürfnis, dem das staatliche Bildungswesen nicht nachkam (vgl. ebd.).
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sich an der Spannung einer Ellipse, deren einer Brennpunkt das Individuum, der andere die Gemeinschaft ist." (Geheeb o.J.: 1) Diese Definition von Erziehung schließt die erwachsenen Menschen des Landerziehungsheimes ein. Das Fortbildungsbedürfnis der Lehrerinnen wurde an der OSO nicht nur akzeptiett, sondern als konstitutiv für die Entwicklung der Lehrendenpersönlichkeit eingeschätzt und gefördert. Die Bildung der Persönlichkeit an der Odenwaldschule war dabei keine Frage des Geschlechts. Fortbildung stellte auch für Lehrerinnen einen eigenen Wert dar, der der Pädagogik des Landerziehungsheimes zugute kam. Alwine von Keller betonte zum 20. Jahrestag der Odenwaldschule, wie sehr "gerade die Erwachsenen hier sich entfalten lernen und den Weg zu sich selber finden." Und: Die "reine und freie Atmosphäre" sei für "niemanden bildender" (von Keller 1930: 118) als für die Mitarbeiter. Sie fasst kurz zusammen: Die Odenwaldschule sei eine für die Mitarbeiter geschaffene Bildungsstätte, an der sie "um zu bilden und zu lehren, lernend leben müssen" (ebd.: 119). Tm Alltag der Schulgemeinschaft wurde den Pädagoginnen Raum und Möglichkeiten eigener Bildung und Entwicklung gegeben, was viele von ihnen suchten. Lisbeth Hartig, langjährige Mitarbeiterin, seit 1920 Privatsekretärin von Paul Geheeb- sie ließ sich Jahre später beurlauben, um sich zur Französischlehrerin ausbilden zu lassen - , beschrieb ihren Zugang zur Odenwaldschule folgendermaßen: "Eine Freundin, Frau Brenning erzählte mir von der Odenwaldschule und da ich sehr eingespannt war in Berufsarbeit eigentlich zu Hause, sehnte ich mich nach einer Stätte, wo ich mich weiterentwickeln könnte. Und als ich hörte Odenwaldschule, dachte ich: Ja, dort arbeiten und man wird mir sicherlich Gelegenheit geben, mich weiterzubilden [ ... ]."31 Alwine von Keller, verwitwete Lehrerin mit zwei eigenen Kindern und einem ihr anvertrauten Kind: "lch hatte damals vor, nach sehr anstrengenden Jahren nur noch zu schreiben. Ich hatte in dieser Zeit die Kinder selbst ernähren müssen durch Unterricht an der Schule und durch schriftstellerische Arbeiten. Ich hatte also vor, mich jetzt zurückzuziehen und ein wenig meiner eigenen- mir selbst zu leben. Paul Geheeb gab mir die Versicherung, daß keine Stätte in dieser Welt so geeignet wäre, zu dieser Ruhe. [ ... ]Und daß er meinen schwierigen Jungen also annehmen würde, gegen einen englischen Kurs, den ich täglich gäbe." (ebd.: 34) Dieses war für Alwine von Keller der Beginn einer fast 20-jährigen Tätigkeit mit leitender Funktion an der Odenwaldschule, während der 31
Zitat aus AOSO, Interview Walter Schäfer mit Paul Geheeb, Edith Cassirer-Geheeb, Lisbeth Hartig und Alwine von Keller, April 1959, Transkript S. 21.
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sie eigenen Interessen nachgehen konnte und ihre Familie materiell wie schulisch versorgt wusste. Genutzt wurde auch die Möglichkeit der eigenen Fortbildung durch Teilnahme an Kursen von Kolleg/-innen. Die Lehrerin Gerda Schottmüller schrieb: "Die Aussicht auf den philosophischen Kurs [von ihrer Kollegin Alwine von Keller, E.S.] erftlllt mich mit einer solchen Freude, wie ich es Ihnen schwer ausdrücken kann. Ich hoffe, daß dadurch ein lang u. tief geftlhltes Bedürfnis in mir Befriedigung finden wird u. daß mir Wege gangbar werden, die ich allein vergeblich mir zu erschließen suchte." (AEdH, Korr. Schottmüller, 25.02.1920) Die Schule bot Möglichkeiten der eigenen Fortbildung durch den Austausch mit anderen. Die Aussage Gerda Schottmüllers zeigt auch das große Vertrauen in Bildung, die Zuversicht, die eigene (Lehrerinnen)persönlichkeit durch Alleignung von Wissen und Auseinandersetzung mit anderen zu fördern. Die in Aussicht gestellte Teilnahme der Pädagogin am Philosophiekurs war kein Einzelfall. Über die Fortbildungsmöglichkeiten für Lehrkräfte berichtete Paul Geheeb in einem Brief an Otto Erdmann: "Solche vorübergehenden Mitarbeiter tauchten bei uns übrigens nicht allzu selten auf, z.B. hat Universitätsprofessor U. Gruhle, Heidelberg, im vergangenen Frühling unseren älteren Kameraden einen einführenden Kurs in Psychologie (nebenher dem Lehrerkollegium einen sehr gehaltvollen Kolleg eines ausgewählten Gebietes aus der Psychologie) gegeben. Der kürzlich verstorbene Prof. Max Weber plante einen Geschichtskurs (für uns Erwachsene und die grösseren Kameraden) aus dem leider nichts mehr geworden ist." (AEdH, Korr. Erdmann, 07.07.1920) Das eigene Fortbild ungsinteresse, dem die Odenwaldschule im Vergleich zu anderen Arbeitsstellen und vor allem zu staatlichen Schulen entgegenkam, war ein Motiv. Schulkritische Motive führten viele Lehrerinnen und Lehrer zur Bewerbung an der Odenwaldschule. In der Sekundärliteratur wird zumeist auf die Oberlehrer verwiesen: "Die Krise der höheren Schule widerspiegelte sich auch inden - ebenfalls als Teilaspekt der Gebildeten-Revolte zu verstehenden - pädagogischen Reformbestrebungen" (Linse 1976: 122f.). Die Landerziehungsheime bezeichnet Linse als einen "zentralen Ort, an dem sich die unzufriedenen Geister unter den deutschen Oberlehrern sammelten" (ebd.). Dass Unzufriedenheit mit dem Schulalltag und seiner Unterrichtspraxis und daraus resultierende Schulkritik nicht nur bei den Oberlehrern anzutreffen war, und sich Schulkritik nicht nur auf die (Jungen-)Gymnasien bezog (an denen die Oberlehrerinnen nicht anzutreffen waren), zeigen die Äußerungen von Odenwaldschulpädagoginnen. Ihre Schulkritik erwuchs sowohl aus den eigenen Schulerfahrungen als Schülerl-innen wie auch denen als
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Lehrerinnen. Alwine von Keller kündigte nach zweieinhalb Jahren ihre Arbeitsstelle an einer höheren Mädchenschule, da sie an dieser nicht weiter lernen konnte und weil sie wusste, "dass [sie] diesen Typ Schule weder für die Kinder noch für [sich] meinte" (von Keller ca. 1950: 105). Auch nach ihrer Lehrpraxis setzte sich also die Suche nach einer Alternative zum Regelschulwesen fmi. Auch Eva SolmitzCassirer, enge Jugendfreundin Edith Cassirer-Geheebs, beklagte den Mangel an Realitätsbezug und Nutzbarmachung des Gelernten. Ungefähr 65 Jahre später beschrieb sie die Schulzeit aus dem Blick der beiden Mädchen: "Von der Schule merkte ich kaum mehr als morgens vom Waschen. Erst als in der damals obersten Klasse (fünfzehnjährig) soziale Probleme berührt wurden, wachte ich auf. Das Natürlichste als Arbeit und Ziel war für mich Ausbildung zur Kindergärtnerin am Pestalozzi-Fröbelhaus. Auch dies war schon in damaliger Zeit ein Sichöffnen der Welt." (Solmitz-Cassirer in Die Odenwaldschule (Hg.) 1965: 216) Altschüler Arthur Venn (1965) fragt kritisch nach: "War die Odenwaldschule nicht zugleich auch ein Refugium für viele Erwachsene, die zivilisationsmüde waren oder in der Welt ,da draußen' nicht zurechtkamen?" Sicherlich war die Odenwaldschule für die Pädagoginnen eine Möglichkeit ,auszusteigen' aus einer Gesellschaft, die in einer alle erfassenden Kulturkrise steckte. Ihre pädagogischen Motive waren eng verbunden mit gesellschaftsreformerischen Anliegen. Große Erwartungen und Hoffnungen wurden in die Erziehung der Jugend gesetzt. Die Kulturkrise sollte durch Erziehung und durch ebendiese Jugendlichen überwunden werden. Die Odenwaldschullehrerin Olga Knischewsky: "Wir wollen uns nicht länger von unserer Arbeit oder den Verhältnissen meistern lassen, wir wollen im Gegenteil die Arbeit, die Verhältnisse mit Bewußtsein meistern. Dieses Kraftbewußtsein, gepaart mit VerantwortlichkeitsgefLihl, wollen wir in unsere Jugend einpflanzen und pflegen. Wir müssen uns dessen bewußt werden, und dies Bewußtsein in unseren Zöglingen wecken, daß jeder einzelne nicht nur ein Ahnenenkel, ein Produkt der Zeit und der Verhältnisse ist, sondern zugleich und vor allem auch Ursache und Bedingung jetzigen und zukünftigen Geschehens, Jeder Einzelne ist immer wieder und in jeder Stunde von neuem ein erster Anfang!" (Knischewsky 1920: 5)32
Eines der wenigen schulinternen Schriftstücke von Pädagoginnen der Odenwaldschule, die sich mit pädagogischen Fragen und der Praxis der Odenwaldschule beschäftigen, ist ein Manuskript Marina Ewalds fl.ir ihre Mitarbeitenden als Vorbereitung zur Konferenz. Die Schrift 32 Vgl. auch Kap 5.4.
SOZIALER HINTERGRUND UND REFORMPÄDAGOGISCHE TÄTIGKEIT
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zeigt, dass Marina Ewald an der Entwicklung der Schule und ihren Zielen mitarbeitete. Sie drückt ihre Übereinstimmung mit der Idee der Schule aus, zeigt sich ihr gegenüber jedoch auch kritikfahig. Tm Text behandelt sie vor allem die Frage der "Bildung" und spitzt sie zu auf die Bedeutung der Erziehung zu Verantwortung und Tatkraft, also letztendlich auch politischer Verantwortung und Tatkraft. Der Einfluss der Odenwaldschule mache sich in einer "Art der geistigen Haltung" bemerkbar, die Marina Ewald folgendermaßen beschreibt: "Sie [die Odenwaldschule, E.S.] vermittelt jene vorurteilsfreie + aufs strengste aus der Sache selbst gewonnene Einstellung allen Fragen gegenüber, die den Weg zu einem wirklichen Verstehen der Umwelt bahnt + weitet die Schranken, die den Gesichtskreis beengen. Wenn man diese Fähigkeit unvoreingenommenen Prüfens + Wertens, dieses sich zurückhalten können vor Verallgemeinerungen und der Etikettierung [ ... ] als das Kennzeichen eines wirklich gebildeten Menschen ansieht, so glaube ich, dass die Odenwaldschule in einem Masse, wie wohl keine andere Stätte in diesem Sinne Menschen ,bildet'." Als weiteres Bildungsziel der Odenwaldschule benennt Marina Ewald, über die Fähigkeit, "das Richtige (zu) erkennen" hinaus, die Menschen daraufbin zu erziehen, dass sie die "Tatkraft haben, für ihr Erkennen zu wirken. Sie plädiert dafür, die "Initiative zum Handeln" stärker als es bereits geschehe, zu fördern. Marina Ewald ist die Entwicklung der Odenwaldschule ein Anliegen. Sie kritisiert, dass die Schule ihr Ziel, die "Initiative zum Handeln" zu fördern, in den vergangeneu l 0 Jahren nicht in dem Maße wie die " philosophische Erziehung" erreicht hat. 33 Für die Lehrerinnen bedeutete die Erziehungsarbeit in dem Landerziehungsheim Mitarbeit an der Schulreform infolge eigener Schulkritik und Mitarbeit an der Gesellschaftsreform (auch die Rolle der Frau in der Gesellschaft betreffend). Hier trafen sich viele gleichgesinnte Menschen und es entstand das gemeinschaftliche Gefühl der Teilhabe an einem Reformprojekt: "Ich hatte nicht das Glück, eine Odenwaldschülerin zu sein, aber ich möchte Ihnen doch einmal jetzt sagen, daß mir vom ersten bis zum letzten Tag meines Mitlebens in der Odenwaldschule bewußt war, daß hier die Menschen lebten, die ich bis dahin vergebens gesucht hatte." (AEdH, Korr. M. Bolli, 16.03.1943)
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AEdH, Korr. Ewald, handgeschriebenes Manuskript: Phantasie und Tradition in der Odenwaldschule. Gedanken zur Bekämpfung vorwiegenden Tntellektualismus. Ein Brief an diejenigen aus der Konferenz, die sich dafür interessieren, zum I 0. TTJ 1920.
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UNTERSUCHUNG DER G ESAMTGRUPPE
Die Odenwaldschule war attraktiv für einen speziellen Personenkreis, der sich auszeichnete durch gesellschaftskritische und schulkritische Positionen, sowie Iebens- und gesundheitsreformerische Anliegen. Sie war keine Nische für verheiratete Lehrerinnen, sondern eher ein attral