Liberalismus und Emanzipation: In- und Exklusionsprozesse im Kaiserreich und in der Weimarer Republik 3515093192, 9783515093194

Emanzipation war seit jeher eine der zentralen Forderungen des Liberalismus. Seine Anhänger erstrebten die Befreiung all

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Table of contents :
Inhalt
Vorwort
Einleitung
I. Liberalismus und Emanzipation
II. Regionale und lokale Praxis des Liberalismus
III. Emanzipation zwischen Individual- und Gruppenrechten
Die Autorinnen und Autoren des Bandes
Personenregister
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Liberalismus und Emanzipation: In- und Exklusionsprozesse im Kaiserreich und in der Weimarer Republik
 3515093192, 9783515093194

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Liberalismus und Emanzipation

Stiftung Bundespräsident-Theodor-Heuss-Haus Wissenschaftliche Reihe Band 10

Liberalismus und Emanzipation In- und Exklusionsprozesse im Kaiserreich und in der Weimarer Republik Herausgegeben von Angelika Schaser und Stefanie Schüler-Springorum

Redaktion: Frieder Günther

Franz Steiner Verlag Stuttgart 2010

Umschlagabbildung: Wahlplakat der DDP. Deutsches Historisches Museum, Berlin, Inv.-Nr.: P 57/1326.

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über abrufbar. ISBN 978-3-515-09319-4

Jede Verwertung des Werkes außerhalb der Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist unzulässig und strafbar. Dies gilt insbesondere für Übersetzung, Nachdruck, Mikroverfilmung oder vergleichbare Verfahren sowie für die Speicherung in Datenverarbeitungsanlagen. Gedruckt auf säurefreiem, alterungsbeständigem Papier. © 2010 Franz Steiner Verlag Stuttgart Druck: AZ Druck und Datentechnik GmbH, Kempten Printed in Germany

Inhalt Vorwort ...................................................................................................

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(LQOHLWXQJ Liberalismus und Emanzipation. In- und Exklusionsprozesse im deutschen Liberalismus Angelika Schaser/ Stefanie Schüler-Springorum ...................................

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,/LEHUDOLVPXVXQG(PDQ]LSDWLRQ Der Liberalismus und die Emanzipation der Juden Reinhard Rürup ......................................................................................

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Liberalismus und Frauenemanzipation Karin Hausen ..........................................................................................

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Integrationalismus, Konversion und jüdische Differenz. Das Problem des Antisemitismus in der liberalen Öffentlichkeit des 19. Jahrhunderts Uffa Jensen..............................................................................................

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Liberalismus und Antifeminismus in Europa Ute Planert ..............................................................................................

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,,5HJLRQDOHXQGORNDOH3UD[LVGHV/LEHUDOLVPXV „Ob dieses Siegens waren die Liberalen ganz paff“. Juden und Nichtjuden in der ländlichen Lokalpolitik Badens 1862 bis 1933 Ulrich Baumann ......................................................................................

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Liberale Stadtkultur und die Grenzen der Integration Stefanie Schüler-Springorum ................................................................. 109 Die Hauptstadt Berlin als Experimentierfeld für die Emanzipation von Frauen Angelika Schaser .................................................................................... 123

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Inhalt

,,,(PDQ]LSDWLRQ]ZLVFKHQ,QGLYLGXDOXQG*UXSSHQUHFKWHQ Walther Rathenau (1867–1922): ein Suchender! – ein Liberaler? Christian Schölzel ................................................................................... 143 Verteidiger des Liberalismus. Eva G. Reichmann (1897–1998) und der Centralverein deutscher Staatsbürger jüdischen Glaubens Kirsten Heinsohn .................................................................................... 157 „Verbürgerlichung“ und „Bürgerlichkeit“. Möglichkeiten und Grenzen für die deutschen Juden im 19. Jahrhundert Manfred Hettling ..................................................................................... 177 Inklusion und Exklusion von Frauen. Überlegungen zum liberalen Emanzipationsprojekt im Kaiserreich Barbara Vogel ......................................................................................... 199

Die Autorinnen und Autoren des Bandes ................................................ 219 Personenregister ..................................................................................... 221

Vorwort Dieser Band ist das Ergebnis des Theodor-Heuss-Kolloquiums „Liberalismus und Emanzipation. Inklusions- und Exklusionsmechanismen im deutschen Liberalismus“, das die Stiftung Bundespräsident-Theodor-Heuss-Haus vom 6. bis 8. Oktober 2008 im Tagungszentrum Stuttgart-Hohenheim veranstaltet hat. Wir Herausgeberinnen hatten das Privileg, uns dank vielfältiger Unterstützung auf die inhaltlichen Aspekte der Tagung konzentrieren zu können. Der Vorstand und die Mitglieder des Beirats der Stiftung haben das TagungsProgramm diskutiert und beraten, der Geschäftsführer der Stiftung, Thomas Hertfelder, hat mit seinem Team die Organisation des Kolloquiums übernommen und damit unserer wissenschaftlichen Diskussion einen Rahmen geschaffen, der wesentlich zur angenehmen Atmosphäre dieser Konferenz beitrug. Jörn Leonhard leitete die Veranstaltung mit einem Vortrag zu „Labile Loyalitäten. Nationale Integrationsvorstellungen in Europa“ ein, der als Band der Kleinen Reihe der Stiftung Bundespräsident-Theodor-Heuss-Haus nachzulesen sein wird. Vortragende, Teilnehmerinnen und Teilnehmer des Kolloquiums haben engagiert und konzentriert drei Tage debattiert. Bei den Vorbereitungen für die Tagung haben uns in Hamburg Marie Schenk und Annabelle Lienhart geholfen. Redaktionell betreut worden ist der Band von Frieder Günther, der mit großer Sorgfalt das Manuskript korrigierte und hilfreiche Vorschläge für die Veröffentlichung beisteuerte. Das Personenregister wurde von Frederick Bacher erstellt. All diesen Personen gilt unser herzlicher Dank.

Hamburg, im September 2009

Angelika Schaser und Stefanie Schüler-Springorum

Einleitung Liberalismus und Emanzipation. In- und Exklusionsprozesse im deutschen Liberalismus Angelika Schaser / Stefanie Schüler-Springorum

Die Ideen und Forderungen des Liberalismus waren nicht an nationale Grenzen gebunden und die Emanzipationsprozesse, die sie auslösten, prägten seit der Aufklärung nicht nur die damaligen Gesellschaften in Europa und in Nordamerika, sondern wirken bis heute weltweit fort. Die von Liberalen aufgeworfene Frage nach der Partizipation, mit Hilfe derer Individuen und Gruppen EinÁuss auf die Gesellschaft nehmen können, ist für Demokratien von zentraler Bedeutung. In der Geschichte des europäischen Liberalismus wurde dies je nach historischem Kontext unterschiedlich beantwortet. Den Forderungen nach politischer Teilhabe verschiedener gesellschaftlicher Gruppen ist in der Theorie und Praxis politischen Handelns zeitversetzt und in unterschiedlicher Weise entsprochen worden, wobei immer auch die jeweiligen Erfahrungen, Interessen und Erwartungen von Liberalen eine nicht zu unterschätzende Rolle spielten. Liberale vertreten eineÅStaats-, Wirtschafts- und Gesellschaftsauffassung, die die Freiheit des einzelnen als grundlegende, naturgemäße Form des menschlichen Zusammenlebens ansieht und den Fortschritt in Gesittung, Kultur, Recht, Wirtschaft und Sozialordnung als den Inhalt geschichtlicher Entwicklung annimmt“.1 Auch wenn in DeÀnitionen des Liberalismus gern Aussagen mit universellem, transnationalem Anspruch vorangestellt werden, so machen bereits Lexika-Einträge Veränderungen und Schwerpunktverlagerungen deutlich.2 Historische Studien zum Liberalismus haben die Feststellung Lothar Galls vielfach bestätigt, dass die zahlreichen Metamorphosen dieser politisch-sozialen Bewegung Analysen verlangen, die ihren Untersuchungs1 2

Artikel „Liberalismus“, in: Brockhaus Enzyklopädie, Bd. 11, Wiesbaden 171970, S. 413– 419. Vgl. H[ERMANN] BO[TT]: Liberalismus, in: CAROLA STERN u. a. (Hg.): Lexikon zur Geschichte und Politik im 20. Jahrhundert, Bd. 2, Köln 1971, S. 472f; JOHN PLAMENATZ: Liberalism, in: PHILIP P. WIENER (Hg.): Dictionary of the History of Ideas. Studies of Selected Pivotal Ideas, Bd. 3, New York 1973, S. 36–61; KARL HOLL: Liberalismus, in: THEODOR SCHOBER / MARTIN HONECKER / HORST DAHLHAUS (Hg.): Evangelisches Soziallexikon, Berlin 1980, S. 826–830.

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gegenstand genau umreißen und deÀnieren.3 Mit diesem Band möchten wir den nicht eingelösten Versprechen des liberalen Aufbruchs nachgehen, und zwar am Beispiel zweier sehr unterschiedlicher Gruppen: Im Zentrum der Beiträge stehen der Liberalismus und die Emanzipation der Frauen und Juden vom letzten Drittel des 19. Jahrhunderts bis zu den 1930er Jahren.4 Nicht die Ideengeschichte des Liberalismus soll in den Vordergrund gerückt werden, sondern die politische und soziale Praxis liberaler Organisationen, Institutionen und einzelner Personen gegenüber den Emanzipationsforderungen von Juden und Frauen. Dabei geht es sowohl um ungleiche Partizipationschancen als auch um unterschiedliche Integrationsangebote, um so Inklusions- und Exklusionsprozesse in der Geschichte des Liberalismus und der Demokratie herauszuarbeiten. Dabei steht die Entwicklung des deutschen Liberalismus vom Kaiserreich bis zum Ende der Weimarer Republik im Mittelpunkt, auch wenn einige der Aufsätze nationalgeschichtliche Grenzen überschreiten und ausdrücklich auf die transnationalen Kennzeichen und Komponenten von Liberalismus und Emanzipationsbewegungen verweisen.5 Die beiden grundlegenden Studien zum deutschen Liberalismus von James J. Sheehan und Dieter Langewiesche haben gezeigt, welchen immensen Veränderungen der deutsche Liberalismus vom Kaiserreich bis in die letzten Jahre der Weimarer Republik unterlag und welche Forschungslücken in den 1980er Jahren noch bestanden.6 Mit der politischen und gesellschaftlichen 3

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LOTHAR GALL: Einleitung, in: DERS. (Hg.): Liberalismus, Königstein i.T. 31985, S. 9–19, hier S. 10–12. Siehe dazu auch: UWE WILHELM: Die Wurzeln und Anfänge des deutschen Liberalismus, in: HELMUT REINALTER (Hg.): Die Anfänge des Liberalismus und der Demokratie in Deutschland und Österreich 1830–1848/49, Frankfurt a. M. u. a. 2002, S. 23–45. Bislang ist dieser direkte Zusammenhang nur in dem Aufsatz von LUISA TASCA: Die unmögliche Gleichheit von Frauen und Juden. Antiemanzipatorische Diskurse im italienischen Katholizismus und Positivismus um 1900, in: Ariadne 43 (2003), S. 30–36, hergestellt worden. Marc-Wilhelm KohÀnk beschäftigt sich mit der Frage der Gleichberechtigung zwischen 1890 und 1933, um die „Frauen, Juden, nichtdeutsche Minderheiten und Arbeiter [rangen]“ (S. 164). In zwei kurzen aufeinanderfolgenden Kapiteln untersucht er unter den Überschriften „Für die Rechte der Frauen“ und „Für die Rechte der Juden“ die Haltung einiger ausgewählter Liberaler (Gertrud Bäumer, Theodor Barth, Lujo Brentano, Hans Delbrück, Anton Erkelenz, Hellmut von Gerlach, Wilhelm Heile, Friedrich Naumann, Paul Rohrbach, Gottfried Traub u. a.). Vgl. MARC-WILHELM KOHFINK: Für Freiheit und Vaterland. Eine sozialwissenschaftliche Studie über den liberalen Nationalismus 1890–1933 in Deutschland, Konstanz 2002, S. 166–172. Vgl. die Beiträge von KARIN HAUSEN, KIRSTEN HEINSOHN, UTE PLANERT und REINHARD RÜRUP in diesem Band. JAMES J. SHEEHAN: German Liberalism in the Nineteenth Century, Chicago/London 1978 und DIETER LANGEWIESCHE: Liberalismus in Deutschland, Frankfurt a. M. 1988. Vgl. dazu auch THOMAS NIPPERDEY: Deutsche Geschichte, 1866–1918, Bd. 2: Machtstaat vor der Demokratie, München 1992; RUDOLF VIERHAUS: Liberalismus, in: OTTO BRUNNER / WERNER CONZE / REINHART KOSELLECK (Hg.): Geschichtliche Grundbegriffe. Historisches Lexikon zur politisch-sozialen Sprache in Deutschland, Bd. 3, Stuttgart 1982, S. 741–

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Entwicklung im Deutschen Reich veränderte sich auch der Liberalismus rapide, wobei sich das „lange 19. Jahrhundert“ grob in drei Etappen unterteilen lässt: An der Wende vom 18. zum 19. Jahrhundert setzten sich die Liberalen zunächst mit dem absolutistischen Staat und den feudalen Restriktionen auseinander, während es in einem zweiten Schritt bei den preußischen Reformen und den süddeutschen Verfassungsentwürfen um die „Gestaltung einer Ordnung der Freiheit“ ging. Nach der Durchsetzung liberaler Forderungen beschäftigten sich Liberale dann zunehmend mit den negativen Folgewirkungen des entfesselten Kapitalismus, also mit der sogenannten sozialen Frage.7 Spaltungen, Flügelkämpfe und verschiedene Fusionen kennzeichneten den Liberalismus, der ein polyphones bürgerliches Projekt blieb, dessen Träger liberale Werte zwar immer wieder unterschiedlich gewichteten, gemeinsam jedoch „das in seinem Besitz und seiner freie[n] Bildung sich entfaltende Individuum“ ins Zentrum ihres Gesellschaftsbildes setzten.8 Im Mittelpunkt dieses Bandes steht jener Liberalismus, der von frühliberalen Vorstellungen bis zum Ende der Weimarer Republik eine gerechte, klassenübergreifende Bürgergesellschaft anstrebte, die seit dem Ende des 19. Jahrhunderts als nationales Projekt konzipiert wurde. Im Frühliberalismus galt in erster Linie die individuelle Freiheit als Garant der bestmöglichen Entfaltung des Menschen und damit stand die Freiheit an der Spitze der liberalen Werte. Als Liberale wurden in der Politik seit den Napoleonischen Kriegen diejenigen bezeichnet, die sich gegen die Monarchisten für die Anerkennung der Menschenrechte in einer geschriebenen Verfassung einsetzten und darin die Grenzen der Staatsgewalt festgelegt wissen wollten. Galt dieser „Radikalismus“ zunächst noch als „Extrem des Liberalismus“,9 verschärfte sich der Gegensatz zwischen Liberalismus und Radikalismus in den 1860er Jahren. Den Bruch markierte 1867 die Konstituierung der Nationalliberalen Partei, die mit dem Bekenntnis zum Nationalstaat ihre Regierungsfähigkeit unterstrich. In den Jahren 1866 bis 1885 konnten die Liberalen auf Reichsebene den größten EinÁuss ausüben. Staatsbejahung und Einsatz für den Nationalstaat sollten seit dieser Zeit trotz aller Parteispaltungen und -fusionen ein Kennzeichen der Liberalen bleiben. Nicht nur die Nationalliberalen übernahmen dabei das Ziel einer imperialistischen Weltpolitik, auch die Sozialliberalen erwiesen sich als „Sozialimperialisten“, die sich durch eine erfolgreiche deutsche Weltpolitik mehr Spielraum für innenpolitische Veränderungen versprachen. Im Kaiser-

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785. Ein weiterer Artikel zum wirtschaftlichen Liberalismus wurde in jenem Band von RUDOLF WALTHER verfasst (S. 787–815). GERHARD GÖHLER: Liberalismus im 19. Jahrhundert. Eine Einführung, in: BERND HEIDENREICH (Hg.): Politische Theorien des 19. Jahrhunderts. Konservatismus, Liberalismus, Sozialismus, Berlin ²2002, S. 211–229, hier S. 212–214. Ebd., S. 215. Meyers Grosses Konversations-Lexikon. Ein Nachschlagewerk des allgemeinen Wissens, Bd. 12, Leipzig/Wien 61908, S. 505.

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reich zeigte sich der Liberalismus somit als moderne und anachronistische Bewegung zugleich, deren Erfolge – die Entwicklung des Rechtsstaates, der wirtschaftliche Aufschwung, eine zunehmend von kirchlich-dogmatischen Bindungen gelöste Kulturpolitik und die Ausbreitung liberaler Fortschrittsideen bis in die Sozialdemokratie und konservative Kreise hinein – von dem gleichzeitig einsetzenden kontinuierlichen Abstieg der liberalen Parteien begleitet wurden.10 Den Wahlerfolgen der Sozialdemokraten und des Zentrums hatten die liberalen Parteien bei den Reichstagswahlen zwischen 1874 und 1912 nicht viel entgegenzusetzen, sie blieben Honoratiorenparteien, die den Wandel zu modernen Volksparteien nur ansatzweise vollzogen.11 Der kurzzeitige Erfolg der 1918 gegründeten DDP, die mit der SPD und dem Zentrum die Weimarer Republik mit auf den Weg brachte, konnte den Niedergang der liberalen Parteien nicht aufhalten. Während die 1930 gegründete DStP (Deutsche Staatspartei) in der Bedeutungslosigkeit versank, entfernte sich die DVP immer weiter von den liberalen Grundwerten. 1932 erhielten die DStP und die DVP nur mehr 2,9 % der Stimmen.12 Die damit einhergehende Verschiebung in den Zielsetzungen des Liberalismus war schleichend, aber für bislang ausgegrenzte Gruppen folgenreich. Wenn Liberale auch weiterhin die Interessen des Individuums gegen die Ansprüche von Staat und Kirche verteidigten, so gewann die Kollektiveinheit „Nation“ immer mehr an Bedeutung. Liberale Erfolge verursachten nicht nur parallel den späteren Abstieg, sondern sie erschwerten auch die Bedingungen für die Vergabe von weitergehenden Rechten an bislang Ausgeschlossene. Durch die 1871 auf Geheiß Bismarcks erfolgte Einführung des „Allgemeinen Wahlrechts“ auf Reichstagsebene unter Ausschluss von Diäten für die Abgeordneten standen die liberalen Honoratiorenparteien unter Druck. Sie konnten sich nur schwer organisatorisch auf die neue Situation einstellen. Seit den 1880er Jahren verloren sie „EinÁuß bei den Wählern, bei der Jugend, in der

10 JÖRN LEONHARD: Liberalismus. Zur historischen Semantik eines europäischen Deutungsmusters, München u. a. 2001, S. 548–552; DERS.: Co-Existence and ConÁict. Structures and Positions of Nineteenth-Century Liberalism in Germany, in: PATRICK VAN SCHIE / GERRIT VOERMAN (Hg.): The Dividing Line Between Success and Failure. A Comparison of Liberalism in the Netherlands and Germany in the 19th and 20th Centuries, Berlin 2006, S. 9–34. 11 Die erfolglosen Versuche, sich zu organisierten Massen- und Mitgliedsparteien zu entwickeln, zeigt Dirk Lau an den Wahlkämpfen und der Wahlorganisation der DDP/DStP und DVP auf. Vgl. DIRK LAU: Wahlkämpfe in der Weimarer Republik. Propaganda und Programme der politischen Parteien bei den Wahlen zum Deutschen Reichstag von 1924 bis 1930, Marburg 2008, bes. S. 275–284, 418–421 und 441. 12 HANS VORLÄNDER: The Case of German Liberalism. Intellectual History, Party Politics, and Social Foundations, in: P. V. SCHIE / G. VOERMAN, Line (wie Anm. 10), S. 55–73, hier S. 63f; PATRICIA COMMUN: Introduction. Les Libéralismes Allemands, in: PHILIPPE NEMO (Hg.): Histoire du Libéralisme en Europe, Paris 2006, S. 829–857.

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Öffentlichkeit“.13 Weder auf nationaler noch regionaler Ebene hatten sie große Wahlerfolge, auch waren sie wenig erfolgreich bei der Ausbildung eines sozial-moralischen Milieus und hatten Probleme, Wähler dauerhaft an sich zu binden – kurz, sie wurden, in den Worten Thomas Nipperdeys, die „Parteien der Anti-Wähler – gegen das Zentrum, gegen die Sozialdemokraten oder gegen die Konservativen.“14 In den Städten und in den Gemeinden, wo Liberale weiter erfolgreich waren, proÀtierten sie jedoch gerade von Wahlrechten, die durch Zensus, Bürgerrechtsbestimmungen oder durch das Klassenwahlrecht eingeschränkt waren.15 Dies hatte einerseits zur Folge, dass sich, wie Dieter Langewiesche betont hat, die „Haupttraditionslinie des deutschen Sozialliberalismus […] nach der Jahrhundertmitte in den Städten“ fortsetzte,16 andererseits resultierte daraus eine zunehmend kritische Haltung der Liberalen zu ihren ursprünglichen Forderungen. Liberale fürchteten, dass Regierungen „die Massen“ manipulieren würden, sie rückten vom allgemeinen Wahlrecht ab und verstanden sich immer mehr als Verteidiger des besitzenden gebildeten männlichen Bürgertums. Politische Befähigung wurde nur denen zugesprochen, die eine höhere Bildung nachweisen konnten.17 Diese Einschränkung hatte insbesondere Auswirkungen auf Frauen (und mittellose Unterschichten), denen der Zugang zur höheren Bildung bis zum Anfang des 20. Jahrhunderts in Deutschland verwehrt blieb. Während Liberale immer wieder forderten, Wahlrechtsbeschränkungen bezüglich des Besitzes abzuschaffen, wurde das Geschlecht als Wahlrechtsbeschränkung von männlichen Liberalen kaum thematisiert und noch weniger kritisiert. Die Diskussion konzentrierte sich auf die Wahlberechtigung von Männern, die von diesem Recht ausgeschlossen waren. Da die Untersuchungen zu den Forderungen der Liberalen in den verschiedenen Regionen weitgehend unverbunden nebeneinanderstehen, lassen sich über eine raum- und zeitübergreifende Entwicklung der Forderungen noch keine resümierenden Aussagen treffen. Die Ausgestaltung des allgemeinen Wahlrechts war bei den Liberalen umstritten, die Einbeziehung von Menschen ohne Bildung schien vielen Liberalen problematisch, ja unmöglich zu sein. So konnten sie sich in Preußen 13 TH. NIPPERDEY, Geschichte (wie Anm. 6), S. 521. 14 Ebd., S. 523. 15 Ebd., S. 535f. Vgl. zum Erfolg der Liberalen auf kommunaler Ebene in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts: JAN PALMOWSKI: Liberalism and Local Government in Late Nineteenth-Century Germany and England, in: Historical Journal 45 (2002), S. 381–409; KARL HEINRICH POHL: Kommunen, kommunales Wahlrecht und kommunale Wahlrechtspolitik. Zur Bedeutung der Wahlrechtsfrage für die Kommunen und den deutschen Liberalismus, in: SIMONE LÄSSIG / KARL HEINRICH POHL / JAMES RETALLACK (Hg.): Modernisierung und Region im wilhelminischen Deutschland. Wahlen, Wahlrecht und Politische Kultur, Bielefeld 1995, S. 89–126. 16 D. LANGEWIESCHE, Liberalismus (wie Anm. 6), S. 7. 17 ALAN S. KAHAN: Liberalism in Nineteenth-Century Europe. The Political Culture of Limited Suffrage, New York 2003, S. 142.

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nicht auf ein vom Dreiklassenwahlrecht abweichendes neues Wahlrecht einigen. Auch wenn dies von allen Liberalen kritisiert wurde, blieb die Situation mangels konsensfähiger Alternative akzeptiert. „Demokratie bedeutet vielen vieles“,18 hat Ralf Dahrendorf einmal spöttisch bemerkt, und diese Aussage kann man im Hinblick auf die formulierten komplizierten Bedingungen für den Erhalt von politischen Rechten durch die Liberalen nur unterstreichen. Das „auf fortschreitende politische und soziale Emanzipation und Demokratisierung hinzielende gesamtgesellschaftliche Erwartungsmodell des frühen Liberalismus degenerierte im Zeichen der [...] wirtschaftlichen und [...] sozialen Veränderungen im Zuge der industriellen Revolution“ nicht nur, wie Lothar Gall schreibt, „zur bloßen Klassenideologie“,19 sondern schrieb auch die Geschlechterhierarchie und den Ausschluss der Frauen fest. Demokratisch sollten sich die „Linksliberalen“ erst mit der Gründung der DDP im Jahre 1918 nennen, doch mit der Einführung der Demokratie verlor sich nicht das Misstrauen der Liberalen gegenüber den „Massen“, denen man die Verantwortung für politisches Handeln nicht zutraute. Die Frage nach der „Befähigung“, bzw. bei postulierter Nichtfähigkeit die Frage nach der Berechtigung und der Form der Erziehung zur „Befähigung“, wurde immer gestellt, wenn Personen jüdischer Herkunft oder weiblichen Geschlechts versuchten, sich in liberale Parteien und Organisationen zu integrieren und liberale Grundrechte für sich einzufordern. Damit deÀnierte der Liberalismus als Zukunftsprojekt enge Grenzen der Partizipation. In diesem Band wird vorgestellt, wie Frauen und Juden ihre Forderungen an liberale Organisationen und Parteien herantrugen und wie Liberale auf lokaler, regionaler und auf Reichsebene mit den Emanzipationswünschen dieser beiden Bevölkerungsgruppen vom Kaiserreich bis zum Ende der Weimarer Republik umgingen. Indem wir uns der Geschichte des Liberalismus so gewissermaßen von den Rändern her annähern, möchten wir ihren verdeckten Aporien, Widersprüchen und damit nicht zuletzt den uneingelösten Versprechen der Aufklärung auf die Spur kommen. Zum deutschen und europäischen Liberalismus sind inzwischen zahlreiche Studien erschienen. Konzise Überblicke über die Entwicklung des deutschen Liberalismus hat Dieter Langewiesche in mehreren Synthesen und LexikaArtikeln vorgelegt.20 Immer noch lesenswert ist der Artikel von Rudolf Vier18 RALF DAHRENDORF: Gesellschaft und Demokratie in Deutschland, München 1965, S. 25. 19 LOTHAR GALL: Liberalismus und „bürgerliche Gesellschaft”, in: DERS. (Hg.): Liberalismus, Königsstein i. T. 31985, S. 162–186, hier S. 176. 20 DIETER LANGEWIESCHE: Liberalism. Historical Aspects, in: Encyclopedia of the Social and Behavioral Sciences. Bd. 13, Amsterdam u. a. 2001, S. 8792–8797; DERS.: Liberalismus und Judenemanzipation im 19. Jahrhundert, in: PETER FREIMARK / ALICE JANKOWSKI / INA S. LORENZ (Hg.): Juden in Deutschland. Emanzipation, Integration, Verfolgung und Vernichtung. 25 Jahre Institut für die Geschichte der deutschen Juden, Hamburg 1991, S. 148–163; DERS.: Liberalismus, in: Theologische Realenzyklopädie, Bd. 11, Lieferung 1/2 (1991), S. 73–78; DERS.: The Nature of German Liberalism, in: GORDON MARTELL (Hg.): Modern Germany Reconsidered, 1870–1945, London/New York 1992, S. 96–116.

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haus, der sich für den Zeitraum von dem Beginn der Moderne bis in die 1920er Jahre mit der DeÀnition, der Wortgeschichte und der Entwicklung des politischen Liberalismus in Deutschland (und Europa) beschäftigt und im Liberalismus „einen der politischen Zentral- und Schlüsselbegriffe des 19. Jahrhunderts“ sieht.21 Die aktuelle Entwicklung der Liberalismusforschung kann man gut in den Artikeln und Rezensionen des Jahrbuchs zur Liberalismus-Forschung verfolgen, das seit 1989 von der Friedrich-Naumann-Stiftung herausgegeben wird. Der deutsche Liberalismus ist bislang in erster Linie als Ideen- und Parteiengeschichte auf der Reichs- und Länderebene22 und insbesondere als städtisches Phänomen23 dargestellt und analysiert worden. Neben den Parteien und biographischen Arbeiten zu einzelnen Liberalen24 untersuchte man dabei in erster Linie städtische Vereine, politische Interessenverbände, liberal initiierte sozialstaatliche Interventionen25 und die liberale Presse26. In jüngster Zeit rückten die liberalen Spielarten des Nationalismus und Imperialismus in den Fokus des Interesses,27 in komparatistischen Arbeiten wird der deutsche Li21 R. VIERHAUS, Liberalismus (wie Anm. 6), S. 748. 22 Grundlegend für den deutschen Liberalismus im hier behandelten Zeitraum: L. GALL, Liberalismus (wie Anm. 3); JÜRGEN C. HESS: „Das ganze Deutschland soll es sein“. Demokratischer Nationalismus in der Weimarer Republik am Beispiel der Deutschen Demokratischen Partei, Stuttgart 1978. Dessen wichtigste Aufsätze sind wieder aufgelegt worden in: DERS.: Demokratisches Engagement. Beiträge aus drei Jahrzehnten, hg. v. Herman Langeveld u. a., Münster u. a. 2003; HEINRICH AUGUST WINKLER: Liberalismus und Antiliberalismus. Studien zur politischen Sozialgeschichte des 19. und 20. Jahrhunderts, Göttingen 1979. Als neuere Arbeiten seien hier genannt: MONICA CIOLI: Pragmatismus und Ideologie. Organisationsformen des deutschen Liberalismus zur Zeit der Zweiten Reichsgründung (1878–1884), Berlin 2003; J. LEONHARD, Liberalismus (wie Anm. 10). 23 GERHARD NESTLER: Bürgertum, Emanzipation und Liberalismus. Frankenthal im Vormärz 1815–1848/49, in: VOLKER CHRISTMANN (Hg.): 425 Jahre Frankenthal. Beiträge zur Stadtgeschichte, [Frankenthal] 2002, S. 89–96; JAN PALMOWSKI: Urban Liberalism in Imperial Germany. Frankfurt am Main, 1866–1914, Oxford 1999; K. H. POHL, Kommunen (wie Anm. 15); DERS.: Nationalliberalismus und Kommunalpolitik in Dresden und München vor 1914, in: JAMES RETALLACK (Hg.): Sachsen in Deutschland. Politik, Kultur und Gesellschaft 1830–1918, Bielefeld 2000, S. 171–188; ANDREAS SCHULZ: Liberalismus in Hamburg und Bremen zwischen Restauration und Reichsgründung (1830–1870), in: LOTHAR GALL (Hg.): Liberalismus und Region. Zur Geschichte des deutschen Liberalismus im 19. Jahrhundert, München 1995, S. 135–160. 24 Z. B. EBERHARD KOLB: Gustav Stresemann. München 2003; CHRISTIAN SCHÖLZEL: Walther Rathenau. Industrieller, Schriftsteller, Politiker, Teetz u. a. 2003; LOTHAR GALL: Walther Rathenau. Portrait einer Epoche, München 2009. 25 WOLTHER VON KIESERITZKY: Liberalismus und Sozialstaat. Liberale Politik in Deutschland zwischen Machtstaat und Arbeiterbewegung (1878–1893), Köln/Weimar/Wien 2002. 26 ULRIKE VON HIRSCHHAUSEN: Liberalismus und Nation. Die Deutsche Zeitung 1847–1850, Düsseldorf 1998. 27 MATTHEW P. FITZPATRICK: Liberal Imperialism in Germany. Expansion and Nationalism, 1848–1884, NewYork/Oxford 2008. M.-W. KOHFINK, Freiheit (wie Anm. 4).

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beralismus in den europäischen bzw. angelsächsischen Raum eingeordnet, wobei die ältere These des „deutschen Sonderwegs“ deutlich relativiert, jedoch immer wieder aufgegriffen wird.28 Arbeiten zum ländlichen Raum sind noch rar.29 Oded Heilbronner, der dem provinziellen Liberalismus eine große Bedeutung zuspricht und Altkatholiken, Lokalpresse und bürgerliche Vereine in Groß-Schwaben untersuchte, hat den Begriff „populärer Liberalismus“ eingeführt, der bislang aber keinen großen Widerhall gefunden hat.30 Symptomatisch für die Liberalismus-Forschung ist, dass die zahlreichen Publikationen zu liberalen Frauenvereinen und weiblichen Liberalen kaum bzw. nur unter frauenhistorischen Perspektiven rezipiert und von der politischen Liberalismusforschung nicht integriert werden.31 So laufen die „klassische Liberalismus-Forschung“ und die Liberalismus-Forschung, die sich mit einem geschlechtergeschichtlichen Fokus dem Thema nähert, immer noch weitgehend unverbunden nebeneinanderher. Bereits 1988 hatte Dieter Langewiesche angeregt, sich intensiver mit der Frage nach den Geschlechterverhältnissen in Theorie und Praxis des Liberalismus zu beschäftigen. Während die Liberalismusforschung auf die Staatsform, die kommunale Praxis, die Debatten um das Wahlrecht, die Freiheit des (männlichen) Individuums ausgerichtet ist, blendet sie weitgehend aus, dass die Egalisierungserfolge des 19. und 20. Jahrhunderts mit einer stabilen Geschlechterhierarchie in der Familie und der konsequenten Ausgrenzung von Frauen einhergehen. Die Beiträge dieses Bandes rücken diese grundlegende Konstellation in den Mittelpunkt: Legt man bei der Untersuchung des Zusammenhangs zwischen Liberalismus und Emanzipation in historischer Perspektive das Augen28 Vgl. P. COMMUN, Introduction (wie Anm.12). 29 ULRICH BAUMANN: Zerstörte Nachbarschaften. Christen und Juden in badischen Landgemeinden 1862–1940, Hamburg 2000. 30 ODED HEILBRONNER: „Freiheit, Gleichheit, Bürgerlichkeit und Dynamit“. Populäre Kultur, populärer Liberalismus und Bürgertum im ländlichen Süddeutschland von den 1860ern bis zu den 1930ern, München 2007, S. 151–152. 31 UTE FREVERT (Hg.): Bürgerinnen und Bürger. Geschlechterverhältnisse im 19. Jahrhundert, Göttingen 1988; KIRSTEN HEINSOHN: Politik und Geschlecht. Zur politischen Kultur bürgerlicher Frauenvereine in Hamburg, Hamburg 1997; DIES.: Gleichheit und Differenz im Bürgertum. Frauenvereine in Hamburg, in: RITA HUBER-SPERL (Hg.): Organisiert und engagiert. Vereinskultur bürgerlicher Frauen im 19. Jahrhundert in Westeuropa und den USA, Königstein i. T. 2002, S. 233–252; CHRISTINA KLAUSMANN: Politik und Kultur der Frauenbewegung im Kaiserreich. Das Beispiel Frankfurt am Main, Frankfurt a. M./New York 1997; ANGELIKA SCHASER: Helene Lange und Gertrud Bäumer. Eine politische Lebensgemeinschaft, Köln/Weimar/Wien 2000; KERSTIN WOLFF: „Stadtmütter“. Bürgerliche Frauen und ihr EinÁuss auf die Kommunalpolitik im 19. Jahrhundert (1860–1900), Königstein i. T. 2003. Vgl. auch KARIN HAUSEN: Geschichte als patrilineare Konstruktion und historiographisches IdentiÀkationsangebot. Ein Kommentar zu Lothar Gall, Das Bürgertum in Deutschland, Berlin 1989, in: L‘Homme. Zeitschrift für feministische Geschichtswissenschaft 8 (1997), S. 109–131.

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merk auf die Gleichheit vor dem Recht und die politische Partizipation, so steht am Beginn des 19. Jahrhunderts die Emanzipation des dritten Standes, der die Befreiung der Bauern und die Emanzipation der Juden folgte. Die Emanzipation der Frauen, die im deutschen Raum zunächst von Theodor Gottlieb von Hippel32 propagiert worden war, erschien im Rahmen der Revolution von 1848/49 und dann verstärkt seit den 1860er Jahren auf der politischen Agenda. Vorwiegend von bürgerlichen Frauen, die die liberalen Prinzipien auf sich angewendet wissen wollten, wurde die Forderung nach Gleichberechtigung und politischer Partizipation seit dem letzten Drittel des 19. Jahrhunderts an die liberalen Parteien gerichtet. Frauen forderten die Umsetzung liberaler Wert- und Zielvorstellungen für sich ein, die den Frühliberalismus geprägt hatten. Der Liberalismus war, darin ist sich die Forschung einig, ein genuin männliches Projekt.33 Nur wenige männliche Liberale erwogen überhaupt die Einbeziehung der Frauen in ihre politischen Forderungen. Diese vereinzelten Stimmen wurden wiederum von der Historiographie oftmals unkritisch zu einer allgemeineren Forderung stilisiert. Marc-Wilhelm KohÀnk z. B. kommt auf der Basis der Texte Gertrud Bäumers und der einiger ausgewählter männlicher Liberaler zu dem Schluss, „dass die Hälfte der Deutschen vom politischen Leben ausgeschlossen war, wurde von den untersuchten Liberalen als ungerecht empfunden“ – eine gewagte These, die das liberale Agieren im politischen Alltag völlig außer Acht lässt.34 Denn als Frauen liberale Wert- und Zielvorstellungen im Kaiserreich verstärkt für sich forderten, waren für die Liberalen die „Freisetzung, die Emanzipation des Individuums, die generelle Vergrößerung seiner Entwicklungschancen nicht mehr eigentlich aktuell.“35 Dass Frauen sich in liberaler Sicht nicht als Individuen qualiÀzierten, lag an der Wahrnehmung der Frau als Teil der Familie, die vom männlichen Familienoberhaupt in der Öffentlichkeit repräsentiert wurde und als Objekt liberaler Politik galt. Das Aufkommen der „Frauenfrage“ Àel mit der Entwicklung des Nationalismus und Sozialismus zusammen, zwei Bewegungen, die den deutschen Liberalismus – und nicht nur diesen – entscheidend beeinÁussen und verändern sollten. Frauen verschafften also ihren Forderungen nach Gleichberechtigung erst zu einem 32 [THEODOR GOTTLIEB VON HIPPEL]: Über die bürgerliche Verbesserung der Weiber, Berlin 1792. Vgl. zum Stellenwert seiner Schriften und zur Rezeption seiner Schriften in der Frauenbewegung: JULIANE DITTRICH-JACOBI: Einleitung, in: THEODOR GOTTLIEB VON HIPPEL: Über die bürgerliche Verbesserung der Weiber. Anhang: Nachlass über weibliche Bildung, Vaduz/Liechtenstein 1981, S. IX–XLVIII; ERIC NEISEKE: Theodor Gottlieb von Hippel als Fürsprecher einer egalitären Stellung der Geschlechter? Das Urteil der deutschen Frauenbewegung und dessen Folgen im historischen Kontext, in: STEPHAN MEDER / ARNE DUNCKER / ANDREA CZELK (Hg.): Frauenrecht und Rechtsgeschichte. Die Rechtskämpfe der deutschen Frauenbewegung, Köln 2006, S. 211–234. 33 D. LANGEWIESCHE, Nature (wie Anm. 20), S. 108. 34 M.-W. KOHFINK, Freiheit (wie Anm. 4), S. 166. 35 TH. NIPPERDEY, Geschichte (wie Anm. 6), S. 524.

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Zeitpunkt in einer breiteren Öffentlichkeit Gehör, als im deutschen Liberalismus nicht mehr das Individuum, sondern die Nation zum zentralen Bezugspunkt liberaler Überlegungen avancierte. Auch im 1896 gegründeten Nationalsozialen Verein Friedrich Naumanns, der schon durch die Namenswahl so plakativ die Bedeutung von nationalen und sozialen Zielen für den Liberalismus des späten 19. Jahrhunderts deutlich machte, standen gruppenspeziÀsche Überlegungen und das Wohl der Nation im Vordergrund: Als Friedrich Naumann über die politische Gleichberechtigung von Frauen nachdachte, meinte er, Frauen sollten nicht als Individuen, sondern in ihrer Funktion als Mütter mehr EinÁussmöglichkeiten zugestanden werden.36 Obgleich auch Naumann von den Frauen erst den Nachweis ihrer Befähigung zur Ausübung des Wahlrechts und politischer Tätigkeit forderte, wurde er allein durch die Thematisierung der politischen Gleichberechtigung von Frauen zum verehrten Idol der ersten Generation weiblicher Liberaler.37 Diese komplexe Geschichte spiegelt sich in zwei Beiträgen dieses Bandes wider: Wie wenig Frauen mit der Unterstützung männlicher Liberaler rechnen konnten, zeigt Christian Schölzel am Beispiel der ambivalenten Haltung Walther Rathenaus, der 1912 das Frauenwahlrecht öffentlich, aber unter vielfachen Einschränkungen forderte.38 Angelika Schaser zeigt am Beispiel Berlins, dass Liberale für Frauen in der „großen Politik“, im Wissenschaftsbetrieb und in künstlerischen Kreisen zwar als Türöffner fungieren konnten, die Frauen jedoch schon beim Eintritt in die heiligen Hallen der Politik, der Wissenschaft und der Kunst in ihre Grenzen verwiesen. Karin Hausen stellt den Zusammenhang zwischen der Emanzipation der Frauen und dem Liberalismus provokativ in Frage. Sie weist darauf hin, dass die Grundlage der Geschlechterhierarchie – die familienrechtliche und sozioökonomische Situation der Frauen – durch die Trennung von Öffentlichkeit und Privatheit mit Unterstützung des männlichen liberalen Bürgertums in dieser Zeit zementiert wurde. Einen Schritt weiter geht Ute Planert, die für diese Forschungslücke eine für den Liberalismus nicht schmeichelhafte Erklärung bietet: Am Beispiel Frankreichs zeigt sie, dass dort keine antifeministischen Organisationen gegründet werden mussten, da die Liberalen deren Funktion übernahmen. Für den deutschen Bereich sieht Planert – wie andere Historikerinnen – einseitige Sympathieerklärungen von Frauen gegenüber liberalen Vereinen, Parteien und Politikern. Von deren Seite sind jedoch wenige Bemühungen zu erkennen, liberale Forderungen auch auf die Gruppe der Frauen auszudehnen. Leichter nachweisbar sind im deutschen Liberalismus dagegen „misogyne Auffassungen und eine frauenfeindliche politische Pra36 Vgl. ULF HEIDEL: Sehnsucht nach Liberalismus. Bürgerliche Frauenbewegung und liberaler Revisionismus zu Beginn des 20. Jahrhunderts, in: Ariadne 52 (2007), S. 14–21. 37 ANGELIKA SCHASER: Bürgerliche Frauen auf dem Weg in die linksliberalen Parteien (1908–1933), in:Historische Zeitschrift 263 (1996), S. 641–680, hier S. 650. 38 Vgl. den Beitrag von CHRISTIAN SCHÖLZEL in diesem Band, S. 150–152.

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xis.“39 Antifeminismus begleitet wie Antisemitismus die Emanzipation als deren „Nachtseite“.40 Letzteres, der auch im liberalen Projekt präsente Antisemitismus, ist aus Sicht der jüdischen Geschichte weder neu noch erstaunlich. Erklärungsbedürftig erscheint vielmehr, warum die zahlreichen Arbeiten auf diesem Gebiet von Seiten der Liberalismusforschung bisher kaum wahrgenommen werden – im Übrigen die wohl offensichtlichste Parallele im Verhältnis beider hier untersuchter Gruppen zum Liberalismus.41 Übersehen wird dabei zunächst einmal die Tatsache, dass das Emanzipationsprojekt auch aus jüdischer Perspektive von Anfang an ambivalent war: Keineswegs alle Juden waren zu Beginn des 19. Jahrhunderts begeisterte Liberale und Anhänger von Emanzipation und Reform, wenngleich man sich von drückenden Sondergesetzen befreit wissen wollte. Der Preis dafür schien jedoch vielen hoch: Man stand dem Verlust innerjüdischer, korporativer Autonomie kritisch gegenüber und fürchtete, nicht zu Unrecht, einen langfristigen Niedergang der religiösen Bindung.42 Dass diese eher zurückhaltenden Stimmen – die im Laufe des 19. Jahrhunderts langsam verstummten – selten wahrgenommen werden, hat nicht zuletzt damit zu tun, dass die deutsch-jüdische Geschichtsschreibung zunächst ein genuines Produkt des die Emanzipation befürwortenden, liberalen Judentums war: Die Wissenschaft des Judentums – und damit der Beginn einer historisierenden Geschichtsschreibung – sollte das Deutungsmonopol der Religion ablösen, die man von nun an als bloße Konfession verstanden wissen wollte.43 Diese liberal-jüdische Erfolgsgeschichte wurde schon bald, um die Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert, aus nationaljüdischer, später zionistischer Sicht kritisiert, und zwar gerade mit Verweis auf die Aporien, die dem liberalen Emanzipationsprojekt aus jüdischer Sicht von Beginn an inhärent waren. Nach dem Holocaust dann galten die Verfechter der deutsch-jüdischen Emanzipationsideologie als tragisch Gescheiterte und ihr Glaube an den politischen Bundesgenossen Liberalismus als 39 UTE PLANERT in diesem Band, S. 91. Vgl. dazu auch DIES.: Antifeminismus im Kaiserreich. Diskurs, soziale Formation und politische Mentalität, Göttingen 1998. 40 Vgl. dazu L. TASCA, Gleichheit (wie Anm. 4). 41 Auch die internationale Tagung der Friedrich-Naumann-Stiftung und des Leo Baeck Instituts 1986 in Königswinter scheint daran kaum etwas geändert zu haben, denn auch die in einem Sammelband zusammengefassten Erkenntnisse dieser Veranstaltung sind bislang in den allgemeinen Studien zum Liberalismus kaum rezipiert worden, vgl. Das deutsche Judentum und der Liberalismus – German Jewry and Liberalism. Dokumentation eines internationalen Seminars der Friedrich-Naumann-Stiftung in Zusammenarbeit mit dem Leo Baeck Institute London, St. Augustin 1986. 42 Vgl. WERNER E. MOSSE: Einleitung: Deutsches Judentum und Liberalismus, in: ebd., S. 15–20. 43 Vgl. NILS RÖMER: Jewish Scholarship and Culture in Nineteenth-Century Germany. Between History and Faith, Madison 2005; MICHAEL BRENNER: Propheten des Vergangenen. Jüdische Geschichtsschreibung im 19. und 20. Jahrhundert, München 2006; ANDREAS GOTZMANN / CHRISTIAN WIESE (Hg.): Modern Judaism and Historical Consciousness. Identities, Encounters, Perspectives, Leiden 2007.

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verfehlte Hoffnung, deren illusionärer Charakter von Anfang an erkennbar gewesen sei. All dies macht deutlich, dass es sich beim Thema „Juden und Liberalismus“ keineswegs um einen Nebenaspekt der deutschen Geschichte handelt, als welchen ihn die sogenannte „allgemeine Geschichte“ vielfach verhandelt hat, noch dass sich dieser darin erschöpfen kann, immer wieder zu wiederholen, dass es die Liberalen waren, die letztlich die Emanzipation „erstritten“ hätten. Aus jüdischer Sicht führt die Frage nach dem Verhältnis zwischen Judentum, Emanzipation und Liberalismus vielmehr in den zentralen Bereich der deutsch-jüdischen Geschichte überhaupt, der dementsprechend in zahlreichen Forschungen ausgeleuchtet worden ist. Dabei traten die Ambivalenzen der liberalen Ideologie und Praxis von Anfang an deutlich zutage. Aus jüdischer Sicht gehörten sie seit jeher zu jener Geschichte dazu, die liberalen Juden und Nichtjuden gemeinsam war. Diese Mehrdeutigkeit trifft zu sowohl für die Ebene der politischen Ideen, der Emanzipationsstrategien und -ideologien, deren Grundzüge Reinhard Rürup in seinem Beitrag zu diesem Band skizziert, als auch für die politische Praxis der liberalen Parteien, die Peter Pulzer eingehend untersucht hat.44 Gerade weil die rechtliche Gleichstellung nicht voraussetzungslos erfolgte, sondern immer nur schrittweise als „Belohnung“ gewährt wurde und zudem in den einzelnen Ländern mühsam durchgesetzt werden musste, betrachteten die deutschen Juden um 1848 die Vollendung ihrer Emanzipation und die der deutschen nationalen Selbstbestimmung als ein und dasselbe Projekt. Das kurze „goldene Zeitalter“ nach der gescheiterten bürgerlichen Revolution schien sie in dieser Einschätzung zu bestätigen: Schon zwischen 1858 und 1866 waren doppelt so viele Juden in Parlamenten und Stadtverordnetenversammlungen vertreten wie in den Jahrzehnten zuvor, und auch in den Jahren nach der Reichsgründung stimmten die politischen und wirtschaftlichen Interessen der jüdischen und nichtjüdischen liberalen Bürger noch überein. Die antiliberale Wende und die Formierung eines bürgerlichen, politischen Antisemitismus beendeten diese zeitweilige Harmonie, nach deren Verlust sich liberale Juden in einer doppelten Opposition befanden: gegen die staatliche Politik und gegen die zunehmende Distanz der Nationalliberalen sowie des Linksliberalismus, der diesen Prozess der Abwendung freilich weniger offensichtlich und zudem nicht überall vollzog. Während seit 1881 kein ungetaufter Jude mehr für die Nationalliberale Partei im Reichstag saß, war die Haltung des Fortschritts ambivalenter: Man sprach sich deutlich gegen jede Form des politischen Antisemitismus aus und war gleichzeitig bemüht, die Diffamierung als „Judenschutztruppe“ zu vermeiden – was sich letztlich auch in der Kandidatenaufstellung niederschlug, wie Stefanie Schüler-Springorum an einem Fall 44 PETER PULZER: Jews and the German State. The Political History of a Minority, 1848– 1933, Oxford 1992, bes. S. 69–147.

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aus Königsberg zeigt. Ihr Beitrag verweist, ebenso wie Ulrich Baumanns Analyse des jüdisch-katholisch-protestantischen Verhältnisses in der ländlichen Lokalpolitik Badens, auf die Bedeutung des „Lokalliberalismus“ als dem vielleicht wichtigsten Feld jüdischer politischer Partizipation im Kaiserreich.45 In der Weimarer Republik schließlich verlor der Linksliberalismus auch hier rapide an Bedeutung, während die DDP, weiterhin die Partei der Mehrheit der jüdischen Deutschen, zwar offensiver als ihre Vorgängerparteien vor dem Weltkrieg jüdische Kandidaten aufstellte, insgesamt aber in der politischen Bedeutungslosigkeit versank.46 Diese hier nur stichpunktartig skizzierten Entwicklungen wurden von deutschen Juden und Jüdinnen aufmerksam verfolgt, wiewohl das jeweilige politische Bewusstsein und die daraus folgenden Interpretationen individuell sehr große Unterschiede aufweisen konnten. Dies wird in den Beiträgen von Christian Schölzel und Kirsten Heinsohn deutlich, die sich den Grundthemen der jüdisch-liberalen Geschichte biographisch annähern: So beschreibt Schölzel die in vielen Punkten deutlich illiberale Einstellung Walther Rathenaus, des liberalen jüdischen Politiker par excellence, während Kirsten Heinsohn am Beispiel von Eva Reichmann der politischen IdentitätsÀndung der letzten Generation deutscher Juden nachgeht, die vom politischen Liberalismus schon enttäuscht, trotzdem – noch im Exil und auch nach dem Holocaust – an dessen grundlegenden Werten festhielt. Es bleibt dem oder der Einzelnen überlassen, ob er/sie diese Haltung – die das deutsche Judentum über hundert Jahre lang mehrheitlich prägte – als Illusion beschreiben möchte oder als liberale Standfestigkeit „against all odds“. Eines allerdings ist sicher und wird auch in vielen Beiträgen betont: Von Anfang an haben sich deutsche Juden (und später auch Jüdinnen) an den Debatten um ihre eigene Emanzipation beteiligt, haben auf die antijüdischen ReÁexe mancher ihrer liberalen Mitkämpfer hingewiesen sowie auf die Gefahren, die im Homogenisierungszwang des liberalen Projektes begründet lagen. Die christliche Religion als Grundlage des Staates47 sowie eine ethnisch begrün-

45 Vgl. ebd., S. 128. 46 Vgl. ebd., S. 214–235; auch STEFANIE SCHÜLER-SPRINGORUM: Die jüdische Minderheit in Königsberg/Pr. 1871–1945, Göttingen 1996, S. 209–224; sowie ihr Beitrag in diesem Band; JAN PALMOWSKI: Between Dependence and InÁuence. Jews and Liberalism in Frankfurt am Main, 1864–1933, in: HENNING TEWES / JONATHAN WRIGHT (Hg.): Liberalism, Anti-Semitism, and Democracy. Essays in Honour of Peter Pulzer, Oxford 2001, S. 76–101. 47 Vgl. STEPHAN WENDEHORST: Emancipation as Path to National Integration, in: RAINER LIEDTKE / STEPHAN WENDEHORST (Hg.): The Emancipation of Catholics, Jews and Protestants. Minorities and the Nation-State in 19th-Century Europe, Manchester 1999, S. 188–206, hier S. 203; CHRIS CLARK: The „Christian“ State and the „Jewish Citizen“ in Nineteenth-Century Prussia, in: HELMUT WALSER SMITH (Hg.): Protestants, Catholics and Jews in Germany, 1800–1914, Oxford 2001, S. 67–93.

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dete nationale Zugehörigkeit48 schlossen Juden als Gruppe aus diesem Projekt aus – dies betont Uffa Jensen in seinem Beitrag, der damit zugleich den Universalitätsanspruch als Teil liberaler Ideologie kennzeichnet. Manfred Hettling hingegen plädiert für eine dynamischere und offenere Interpretation des bürgerlichen Projekts, das eben sowohl Inklusionen als auch Exklusionen einschloss, und zwar für Frauen wie auch für Juden. Ähnlich wie die Juden haben auch Frauen ihr eigenes Emanzipationsprojekt gegen antifeministische Vorbehalte ihrer liberalen Parteigenossen vorangetrieben. Als Frauen waren sie jedoch keinem nationalen oder religiösen Homogenisierungsdruck ausgesetzt, sondern sie wurden als differente Gruppe „qua naturam“ auf einen niederen sozialen Rang verwiesen. Jürgen Osterhammel hat im westlichen Europa des 19. Jahrhunderts die rechtlichen und sozialen Verbesserungen für Juden herausgestellt. Die Bilanz bei der Frauenemanzipation erscheint ihm dagegen schwieriger.49 Unbestritten hat der Liberalismus beide Prozesse angestoßen,50 gleichzeitig aber auch eine voraussetzungslose Gleichberechtigung von Frauen und Juden ausgeschlossen. Während also die Bedeutung von Geschlecht, Religion und Nation für das Verständnis dieser Aporien unstrittig ist, bleibt deren Bewertung weiterhin Teil einer nicht abgeschlossenen Debatte, die auch in diesem Band dokumentiert wird.51 Denn letztlich geht es um die Frage nach der „Zukunft der Aufklärung“52 – also darum, ob die großen Ideen von Freiheit und Gleichheit irgendwann einmal für alle gelten können, auch wenn sie nie für alle gedacht waren.

48 Vgl. SHULAMIT VOLKOV: Jewish Emancipation, Liberalism and the Challenge of Pluralism in Modern Germany, in: Tel Aviver Jahrbuch 37, Göttingen 2009, S. 23–43. 49 JÜRGEN OSTERHAMMEL: Die Verwandlung der Welt. Eine Geschichte des 19. Jahrhunderts, München 2009, S. 1297. 50 D. LANGEWIESCHE, Liberalismus und Judenemanzipation (wie Anm. 20), S. 159. 51 Vgl. hierzu auch die Diskussion zwischen ZYGMUNT BAUMAN: Allosemitism. Premodern, Modern, Postmodern und DAVID FELDMANN: Was Modernity Good for the Jews?, in: BRYAN CHEYETTE / LAURA MARCUS (Hg.): Modernity, Culture and „the Jew“, Stanford 1998, S. 143–156, 171–187; HANS-JOACHIM SALECKER: Der Liberalismus und die Erfahrung der Differenz. Über die Bedingungen der Integration der Juden in Deutschland, Berlin 1999; DAVID CESARANI: Jewish Emancipation. From Teleology to a Comparative Perspective. A Comment on Reinhard Rürup, in: MICHAEL BRENNER / RAINER LIEDTKE / DAVID RECHTER (Hg.): Two Nations. British and German Jews in Comparative Perspective, Tübingen 1999, S. 63–66; SH. VOLKOV: Emancipation (wie Anm. 48); JYTTE KLAUSEN / CHARLES S. MAIER (Hg.): Has Liberalism Failed Women? Assuring Equal Representation in Europe and the United States, New York 2001. 52 JÖRN RÜSEN / EBERHART LÄMMERT / PETER GLOTZ (Hg.): Die Zukunft der Aufklärung, Frankfurt a. M. 1988.

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Der Liberalismus und die Emanzipation der Juden Reinhard Rürup

Bei der Emanzipation der Juden handelte es sich um einen transnationalen Prozess, der sich über ganz Europa erstreckte, in den einzelnen Ländern aber auf unterschiedliche Weise und nicht zuletzt auch in unterschiedlichem Tempo erfolgreich war. Die nationalen, teilweise auch regionalen Besonderheiten im Verlauf des in seinem Kern einheitlichen Emanzipationsprozesses waren durch die speziÀschen politischen, wirtschaftlichen und sozialen Verhältnisse, durch die Fortschritte und Verzögerungen des allgemeinen Modernisierungsprozesses in den jeweiligen Ländern und nicht zuletzt durch die Größe und die soziale Struktur der jüdischen Bevölkerung bedingt. Bei der Interpretation dieser Emanzipationsgeschichte ist es deshalb notwendig, sowohl die nationalen Besonderheiten als auch die europäischen Zusammenhänge und Gemeinsamkeiten zu beachten.1 In der Erforschung und Darstellung der neueren jüdischen Geschichte unterscheidet man einen engeren von einem weiteren Emanzipationsbegriff. Mit der Emanzipation im engeren Sinne ist die rechtliche Gleichstellung der Juden mit den Angehörigen der christlichen Mehrheitsgesellschaft gemeint, d. h. die Aufhebung aller besonderen „Judenordnungen“ und „Judenrechte“, 1

Zur Judenemanzipation als transnationalem Prozess und im internationalen Vergleich siehe PIERRE BIRNBAUM / IRA KATZNELSON (Hg.): Paths of Emancipation. Jews, States, and Citizenship, Princeton 1995; JONATHAN FRANKEL / STEVEN ZIPPERSTEIN (Hg.): Assimilation and Community. The Jews in Nineteenth-Century Europe, Cambridge 1992; FRANCIS MALINO / DAVID SORKIN (Hg.): From East to West. Jews in a Changing Europe, 1750– 1870, Oxford 1990; JACOB KATZ: Aus dem Ghetto in die bürgerliche Gesellschaft. Jüdische Emanzipation 1780–1870, Frankfurt a. M. 1986; RAINER LIEDTKE / STEPHAN WENDEHORST (Hg.): The Emancipation of Catholics, Jews and Protestants. Minorities and the Nation State in Nineteenth-Century Europe, Manchester 1999; MARIO TOSCANO (Hg.): Integrazione e Identità. L’esperienza ebraica in Germania e Italia dall’Illuminismo al Fascismo, Mailand 1998; MICHAEL BRENNER / RAINER LIEDTKE / DAVID RECHTER (Hg.): Two Nations: British and German Jews in Comparative Perspective, Tübingen 1999; MICHAEL BRENNER / VICKI CARON / URI R. KAUFMANN (Hg.): Jewish Emancipation Reconsidered. The French and German Models, Tübingen 2003; ULRICH WYRWA: Juden in der Toskana und in Preußen im Vergleich. Aufklärung und Emanzipation in Florenz, Livorno, Berlin und Königsberg i. Pr., Tübingen 2003; REINHARD RÜRUP: The European Revolutions of 1848 and Jewish Emancipation, in: WERNER E. MOSSE / ARNOLD PAUCKER / REINHARD RÜRUP (Hg.): Revolution and Evolution. 1848 in German-Jewish History, Tübingen 1981, S. 1–53.

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die in den einzelnen Staaten oder Territorien existierten. Dabei handelte es sich, obwohl häuÀg von „Privilegien“ die Rede war, ganz überwiegend um negative Sonderrechte: radikale Beschränkungen der Niederlassungsfreiheit und der Erwerbstätigkeit, dazu hohe „Schutzgelder“ und andere Sonderabgaben, auch eine Vielzahl sozial diskriminierender Bestimmungen. Die Juden galten als „Fremde“, die selbst dann, wenn sie seit vielen Generationen am gleichen Ort oder in der gleichen Region ansässig waren, nur geduldet waren, kein Heimatrecht besaßen. Die Geschichte der Judenemanzipation im engeren Sinne ist deshalb in ihrem Kern eine Geschichte der politischen Debatten und Entscheidungen, der Gesetzgebungs- und Verwaltungsakte, in denen es um eine Änderung der rechtlichen Rahmenbedingungen jüdischen Lebens im Sinne der Gleichstellung ging.2 Aus lediglich geduldeten „Untertanen“ sollten „Bürger“ mit den gleichen Rechten und PÁichten wie alle anderen werden. Das konnte, wie das revolutionäre Frankreich mit dem von der Nationalversammlung beschlossenen Gleichstellungsgesetz vom 13. November 1791 demonstrierte, in einem einzigen, alles entscheidenden Akt geschehen oder aber in einer sich über viele Jahrzehnte erstreckenden, schrittweisen Angleichung der Rechtsverhältnisse, wie es in Deutschland und den meisten anderen europäischen Ländern der Fall war. Insofern kann man von einem „Zeitalter der Judenemanzipation“ sprechen, das um 1780 in Berlin und Wien mit der Proklamation einer radikal neuen „Judenpolitik“ aus dem Geiste der Aufklärung begann und ein Jahrhundert später, in den 1870er Jahren, in den meisten europäischen Staaten zum Abschluss kam, auch dann noch mit der bedeutenden Ausnahme Osteuropas, wo die rechtliche Gleichstellung der Juden in Russland erst mit der Februarrevolution von 1917 und in Polen mit der Gründung eines unabhängigen polnischen Staates nach dem Ende des Ersten Weltkrieges erfolgte. Allen antisemitischen Tendenzen des späten 19. und frühen 20. Jahrhunderts zum Trotz blieb der Rechtsstatus der Juden in Europa bis zum Beginn der nationalsozialistischen Herrschaft im Wesentlichen unangetastet. Das nationalsozialistische „Berufsbeamtengesetz“ vom 7. April 1933 war der erste Gesetzgebungsakt in einem europäischen Staat, durch den – mit der Einführung des „Arierparagraphen“ – die Rechtsgleichheit der Juden aufs Neue prinzipiell negiert wurde. Spricht man von der Emanzipation der Juden im weiteren Sinne, so geht es nicht allein um Recht und Politik, sondern auch um Wirtschaft und Gesellschaft, Religion und Kultur, um die Veränderung von Denk- und Verhaltensweisen innerhalb der jüdischen Bevölkerungsgruppe und im Verhältnis von Juden und Christen zueinander. Hier haben wir es mit der Neubegründung jüdischer Lebensverhältnisse unter den Bedingungen gesamtgesellschaftlicher 2

Vgl. REINHARD RÜRUP: The Tortuous and Thorny Path to Legal Equality. „Jew Laws“ and Emancipatory Legislation in Germany From the Late Eighteenth-Century, in: Leo Baeck Institute Year Book 31 (1986), S. 3–33.

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Modernisierungsprozesse zu tun: mit den neuen Bildungs- und Erwerbsmöglichkeiten, mit der Durchsetzung bürgerlicher Lebensweisen, mit neuen Formen auch der religiösen Praxis in einer zunehmend bürgerlich geprägten Welt. Diese Veränderungen waren, wie der internationale Vergleich zeigt, zumindest teilweise unabhängig von den jeweiligen Rechtsverhältnissen, sie wurden aber durch die gesetzlichen Bestimmungen und die anhaltende öffentliche Diskussion über den rechtlichen und sozialen Status der Juden wesentlich erleichtert oder erschwert.3 Die Geschichte der sozialen Emanzipation, der Integration der Juden in die entstehende moderne Gesellschaft, begann schon um die Mitte des 18. Jahrhunderts mit der Haskala, der jüdischen Aufklärungsbewegung, und der Entstehung einer zunächst noch schmalen Schicht wirtschaftlich erfolgreicher Juden, die trotz aller Rechtsbeschränkungen einen ausgesprochen großbürgerlichen Lebensstil entwickelten. Beide Phänomene waren besonders ausgeprägt in Berlin, und es ist deshalb auch nicht überraschend, dass die politische Theorie der Emanzipation der Juden zuerst in Berlin formuliert wurde – von Christian Wilhelm Dohm, einem jungen preußischen Beamten, der ein entschiedener Aufklärer war und zum Freundeskreis von Moses Mendelssohn gehörte. Der Prozess der Verbürgerlichung und Akkulturation, der Assimilation und Integration der Juden spiegelt sich in den zeitgenössischen Statistiken, ist jedoch zeitlich weniger eindeutig abzugrenzen als die Emanzipationsgeschichte im engeren Sinne. Es ist offensichtlich, dass um 1870 der wirtschaftliche Erfolg und der soziale Aufstieg wie auch die aktive Teilhabe am allgemeinen politischen und nicht zuletzt auch am kulturellen Leben in Deutschland weit fortgeschritten waren. Die abschließende Emanzipationsgesetzgebung des Jahres 1871 bedeutete aber im Hinblick auf den sozialen und kulturellen Wandel der in Deutschland lebenden Juden kein entscheidendes Datum. Wie in den anderen europäischen Ländern handelte es sich auch in Deutschland um einen langfristig angelegten, wenn auch nicht immer gleichmäßig verlaufenden Prozess, der erst mit der nationalsozialistischen Gewalt ein abruptes Ende fand. Bei der „Judenfrage“, die seit dem späten 18. Jahrhundert auf neue, nämlich emanzipatorische Weise gestellt wurde, ging es um die Änderung der Rechtsverhältnisse und der sozialen Lage einer sehr kleinen Minderheit. Betroffen war eine Bevölkerungsgruppe, die in Osteuropa in einigen Regionen ein Fünftel oder ein Viertel der Bevölkerung ausmachen konnte, in Deutschland aber nur ein Prozent der Gesamtbevölkerung stellte und in den meisten 3

Siehe dazu die in Anm. 1 genannten Arbeiten sowie VICTOR KARADY: Gewalterfahrung und Utopie. Juden in der europäischen Moderne, Frankfurt a. M. 1999; REINHARD RÜRUP: Tradition und Moderne. Jüdische Geschichte in Europa zwischen Aufbruch und Katastrophe, in: BURKHARD ASMUSS (Hg.): Holocaust. Der nationalsozialistische Völkermord und die Motive seiner Erinnerung, Wolfratshausen 2002, S. 17–34.

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west-, süd- und nordeuropäischen Ländern sogar einen noch wesentlich geringeren Prozentsatz aufwies. Von Bedeutung ist auch, dass die Juden in den meisten europäischen Ländern verstreut und nicht in mehr oder weniger geschlossenen Siedlungsgebieten lebten und dass es gleichzeitig sehr viele Dörfer, Städte und Regionen gab, in denen gar keine Juden ansässig waren. Die Tatsache, dass es sich um eine so ausgeprägte Minderheitenfrage handelte, ist nicht zuletzt deshalb bedeutsam, weil daraus resultierte, dass die Frage der Judenemanzipation für die unmittelbar betroffene Minderheit einerseits und die Mehrheitsgesellschaft andererseits einen höchst unterschiedlichen Stellenwert besaß. Das galt schon für die zeitgenössischen Debatten, und es spiegelt sich bis heute auch in der Geschichtsschreibung. Für die jüdische Minderheit war die Emanzipationsfrage von absolut zentraler Bedeutung, weil es in ihr um eine fundamentale Veränderung aller Bereiche jüdischen Lebens ging. Obwohl anfangs nur eine relativ kleine Minderheit der Juden an Gleichstellung und Integration interessiert war, dauerte es nicht lange, bis auch die große Mehrheit der jüdischen Bevölkerung ihre Hoffnungen auf eine grundlegende Veränderung ihrer rechtlichen und sozialen Lage im Sinne der Emanzipation setzte. Für die Juden bedeutete die Emanzipation den Eintritt in ein neues Zeitalter: das Ende des jüdischen Mittelalters, den Beginn der Moderne. Mit den ersten Schritten in Richtung Emanzipation begann man sich aus einer weitgehend in sich geschlossenen jüdischen Lebenswelt zu lösen, aus der jahrhundertealten sozialen Isolation, die teils aufgezwungen, teils auch selbst gewählt war. Die Emanzipation bedeutete den Eintritt der Juden in die entstehende bürgerliche Gesellschaft, in die Kultur und Geschichte der christlich geprägten Mehrheitsgesellschaft, in das Normengefüge des modernen Staates und in eine bereits bestehende oder sich formierende nationalstaatlich geprägte politische Ordnung, in der sie immer nur eine Minderheit – in der Regel eine verschwindend kleine Minderheit – bilden konnten. Die Emanzipation war deshalb für die Juden eine große Chance, in den Augen nicht weniger Traditionalisten aber auch eine Gefahr, weil die jüdische Religion den neuen Gegebenheiten angepasst, das Judentum neu deÀniert werden musste. Zwar war es Moses Mendelssohn und seinen Freunden seit der Mitte des 18. Jahrhunderts gelungen, in Theorie und Praxis zu demonstrieren, dass eine jüdische Existenz in einer mehrheitlich nichtjüdischen Gesellschaft möglich ist. Vor allem in der ländlichen Bevölkerung bestand jedoch die durchaus nicht unberechtigte Furcht vor AuÁösungserscheinungen der jüdischen Gemeinschaft, vor einem rasch fortschreitenden Verlust religiöser und kultureller jüdischer Substanz, vor dem Ende einer eigenständigen jüdischen Geschichte.4 4

Zu Moses Mendelssohn zuletzt DOMINIQUE BOUREL: Moses Mendelssohn. Begründer des modernen Judentums, Zürich 2007; DAVID SORKIN: Moses Mendelssohn and the Religious Enlightenment, Berkeley 1996. Zur jüdischen Reformbewegung JACOB KATZ (Hg.): To-

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In der vormodernen Welt, in der sich die Juden von der christlichen Umwelt nicht nur durch ihre Religion, sondern auch durch ihre Sprache, Kleidung, Lebensweise und Erwerbstätigkeit deutlich von der Mehrheitsgesellschaft unterschieden, hatte es für sie niemals ein Identitätsproblem gegeben. Solche Probleme waren aber von Anfang an mit der Emanzipationsbewegung verbunden, und sie verschärften sich mit den Erfolgen des Akkulturations- und Integrationsprozesses.5 Schon zu Beginn der Emanzipation war von den jüdischen Reformern ebenso wie von den christlichen Wortführern der Emanzipation das Leitbild formuliert worden, dass die Juden sich von ihren christlichen Mitbürgern künftig nur noch durch ihre Religion unterscheiden sollten. Aus einer Religion, die bis dahin alle Lebensbereiche durchdrungen hatte, wurde damit eine „Konfession“, d. h. eine Religionsgemeinschaft, die keinen umfassenden lebensweltlichen Anspruch mehr geltend machen konnte und wollte. Für die Juden, die sich als Angehörige einer solchen Konfession verstanden, setzte sich seit dem frühen 19. Jahrhundert die Bezeichnung „Israeliten“ durch. Ein emanzipierter Jude sollte demnach ein Deutscher bzw. ein Bayer, Hesse oder Mecklenburger „israelitischer (oder auch: mosaischer) Konfession“ sein, der sich nicht mehr ausschließlich oder in erster Linie als Jude deÀnierte, sondern als Bürger in einem neuartigen GeÁecht religiöser, aber auch beruÁicher, sozialer und kultureller Zugehörigkeiten. Damit wenden wir unsere Aufmerksamkeit der christlichen Mehrheitsgesellschaft und den Repräsentanten des liberalen Lagers zu.6 Für sie war die Emanzipation der Juden in einer Zeit, die durch den Übergang von der ständisch-feudalen zur bürgerlichen Gesellschaft bestimmt war, nur eines von vielen Problemen des politischen und sozialen Wandels, die ihre Aufmerksamkeit und ihr politisches Engagement erforderten. Als der Begriff „Emanzipa-

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wards Modernity. The European Jewish Model, New Brunswick 1987; und vor allem MICHAEL A. MEYER: Von Moses Mendelssohn zu Leopold Zunz. Jüdische Identität in Deutschland 1749–1824, München 1994; DERS.: Antwort auf die Moderne. Geschichte der Reformbewegung im Judentum, Wien 2000. Zur Identitätsproblematik MICHAEL A. MEYER: Jüdische Identität in der Moderne, München 1992. Zur Geschichte des deutschen Liberalismus siehe vor allem JAMES J. SHEEHAN: Der deutsche Liberalismus. Von den Anfängen im 18. Jahrhundert bis zum Ersten Weltkrieg, 1770–1914, München 1983; DIETER LANGEWIESCHE: Liberalismus in Deutschland, Frankfurt a. M. 1988; HEINRICH AUGUST WINKLER: Liberalismus und Antiliberalismus. Studien zur politischen Sozialgeschichte des 19. und 20. Jahrhunderts, Göttingen 1979; WOLFGANG SCHIEDER (Hg.): Liberalismus in der Gesellschaft des deutschen Vormärz, Göttingen 1983; LOTHAR GALL: Benjamin Constant. Seine politische Ideenwelt und der deutsche Vormärz, Wiesbaden 1963; JÜRGEN SCHLUMBOHM: Freiheit. Die Anfänge der bürgerlichen Emanzipationsbewegung in Deutschland im Spiegel ihres Leitwortes, Düsseldorf 1975. Zum internationalen Vergleich DIETER LANGEWIESCHE (Hg.): Liberalismus im 19. Jahrhundert. Deutschland im internationalen Vergleich, Göttingen 1988; LOTHAR GALL (Hg.): Liberalismus, Köln 1976; DERS. / RAINER KOCH (Hg.): Der europäische Liberalismus im 19. Jahrhundert. Texte zu seiner Entwicklung, 4 Bde., Frankfurt a. M. 1981.

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tion“ in Europa um 1830 zu einem populären politischen Schlagwort wurde, das der „Brockhaus“ schon wenige Jahre später als ein vieldeutiges „Modewort“ bezeichnete, ging man bei den deutschen Liberalen dazu über, nahezu alle wichtigen politischen Forderungen als „Emanzipations“-Forderungen zu formulieren.7 In der Debatte über die Emanzipation der Juden im bayerischen Landtag von 1831 formulierte der liberale Abgeordnete Freiherr von Closen einen umfangreichen Katalog anderer dringlicher Emanzipationsaufgaben. In seinen Worten waren das: „Emanzipation der Kinder von Unwissenheit und Aberglauben durch bessere Bestellung der Volksschulen; Emanzipation der Jünglinge von einer sechsjährigen Conscriptionszeit, wodurch sie ihrem bürgerlichen Verhältnis entzogen werden; Emanzipation des hochachtbaren OfÀzierstandes von der politischen Minderjährigkeit, nachdem denselben verboten worden ist, von politischen Angelegenheiten öffentlich zu sprechen; Emanzipation des Grundeigentums von der Gebundenheit der Güter und von einer Menge drückender Lasten; Emanzipation der Früchte der Landeigentümer von der Tyrannei des Wildes; Emanzipation der Landeigentümer von der Creditlosigkeit durch Creditanstalten; [...] Emanzipation der Gewerbe von dem Concessionswesen; dagegen auch die Emanzipation der Gemeinden von willkürlichen Eingriffen der Curatelen; Emanzipation des Geistes, der Presse, von der schmählichen Zensur; Emanzipation der Minister durch ein Gesetz über ihre Verantwortlichkeit; Emanzipation des Cabinetts von äußerem EinÁuß.“8

Der Redner war ein entschiedener Befürworter der Judenemanzipation, doch zeigt seine Zusammenstellung sehr deutlich, dass es sowohl den Juden und als auch den liberalen Vorkämpfern ihrer Emanzipation schwer fallen musste, unter diesen Umständen die nötige Unterstützung zu gewinnen. Die Mehrheit auch der liberalen Abgeordneten in den deutschen Landtagen sah lange Zeit keine Notwendigkeit und schon gar keine Dringlichkeit der Emanzipation einer so kleinen und in der Regel wenig geschätzten Minderheit. In diesem Sinne sprach Carl von Rotteck, einer der anerkannten Wortführer des deutschen Frühliberalismus, 1833 im badischen Landtag als Berichterstatter der Petitionskommission davon, dass es sich bei der Emanzipation der Juden im Vergleich zu den drängenden Verfassungsproblemen der Gegenwart nur um „einen untergeordneten, jedenfalls minder wichtigen Gegenstand“ handele. Hinsichtlich der zu setzenden Prioritäten wurde er im Verlauf der Debatte noch deutlicher: „Zum Schluß betone ich, daß ich die Emanzipation der Christen und die Emanzipation der Deutschen zur Zeit noch für wichtiger halte als die Emanzipation der Juden. Die letztere mag stattÀnden, wenn die erstere geschehen ist. Geschieht die erstere gar nicht, so ist auch die letztere nicht viel wert.“9 7 8 9

Conversations-Lexikon der Gegenwart, Bd. 1, Leipzig (Brockhaus) 1838, S. 1152. Verhandlungen in der zweiten Kammer der Ständeversammlung des Königreichs Baiern, 5. 11. 1831, Bd. 22, München 1832, S. 98f. Verhandlungen in der zweiten Kammer der Ständeversammlung des Großherzogthums Baden, 27. 9. 1833, Bd. 14, Karlsruhe 1833, S. 386, 366f.

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Das war eine Position, für die es bis zum Vorabend der Revolution von 1848 auch unter den deutschen Liberalen immer wieder Mehrheiten gab.10 Dennoch waren es, wie allgemein bekannt, die liberalen Theoretiker der Aufklärung und die geistigen Führer des deutschen Liberalismus – und niemand anders –, von denen die Idee, das politische Konzept und die Realisierungsstrategien der Judenemanzipation stammten, wobei man sich seit dem Zeitalter der Französischen Revolution und Napoleons auch auf die Emanzipationsgesetzgebung in Frankreich und in den Niederlanden stützen konnte. Am Anfang standen die nach wie vor beeindruckenden Formulierungen Dohms. Ich zitiere aus dem 1783 erschienenen zweiten Teil seines Buches „Über die bürgerliche Verbesserung der Juden“, in dem er sich mit seinen Kritikern auseinandersetzte: „Daß die Juden Menschen wie alle übrigen sind; daß sie also auch wie diese behandelt werden müssen; daß nur eine durch Barbarei und Religionsvorurteile veranlaßte Drückung sie herabgewürdigt habe; daß allein ein entgegengesetztes, der gesunden Vernunft und Menschlichkeit gemäßes Verfahren sie zu besseren Menschen und Bürgern machen könne; daß das Wohl der bürgerlichen Gesellschaft erfordere, keinem ihrer Glieder den Fleiß zu wehren und die Wege des Erwerbs zu verschließen, daß endlich verschiedene Grundsätze über die Glückseligkeit des künftigen Lebens nicht in diesem bürgerliche Vorzüge und Lasten zur Folge haben müssen: dies sind so natürliche und einfache Wahrheiten, daß sie richtig verstehen und ihnen beistimmen, beinahe eins ist.“11

Die liberalen Kernpositionen sind, auch wenn sie lange Zeit nicht mehrheitsfähig waren oder zumindest nicht konsequent in praktische Politik umgesetzt wurden, von Wilhelm von Humboldt und Karl August von Hardenberg im Zeitalter der preußischen Reformen bis zu den liberalen Parteiführern der Reichsgründungszeit immer wieder unmissverständlich formuliert worden: dass auch die Juden Träger unveräußerlicher Menschenrechte sind, dass sie 10 Das Verhältnis der deutschen Liberalen zu den Juden und zur Judenemanzipation ist bisher nicht umfassend erforscht worden. Vgl. REINHARD RÜRUP: German Liberalism and the Emancipation of the Jews, in: Leo Baeck Institute Year Book 20 (1975), S. 59–68; DIETER LANGEWIESCHE: Liberalismus und Judenemanzipation in Deutschland im 19. Jahrhundert, in: PETER FREIMARK / ALICE JANKOWSKI / INA LORENZ (Hg.): Juden in Deutschland. Emanzipation, Integration, Verfolgung und Vernichtung, Hamburg 1991, S. 148– 160. Verstreute Beobachtungen und Materialien Ànden sich in vielen lokalen, regionalen und thematisch einschlägigen Studien. Besondere Aufmerksamkeit verdient die Dokumentation eines internationalen Seminars, das die Friedrich-Naumann-Stiftung und das Londoner Leo Baeck Institute im Mai 1986 gemeinsam in Königswinter veranstalteten: Das deutsche Judentum und der Liberalismus – German Jewry and Liberalism, Sankt Augustin 1986 (mit Beiträgen u. a. von GEORGE L. MOSSE, WERNER E. MOSSE, PETER PULZER und RUDOLF VIERHAUS). Wichtige neue Fragestellungen und Ergebnisse zum Verhältnis liberaler protestantischer Bildungsbürger und Gelehrter zu ihren jüdischen Kollegen jetzt bei UFFA JENSEN: Gebildete Doppelgänger. Bürgerliche Juden und Protestanten im 19. Jahrhundert, Göttingen 2005. 11 CHRISTIAN WILHELM DOHM: Über die bürgerliche Verbesserung der Juden, 2. Teil, Berlin 1783, S. 8f.

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wie alle anderen ihre Rechte als Bürger einfordern können und dass die Religionszugehörigkeit im Hinblick auf die politischen und bürgerlichen Rechte kein Ausschlusskriterium sein darf. In diesem Sinne bezeichnete das RotteckWelckersche „Staatslexikon“, das jahrzehntelang in der liberalen Öffentlichkeit meinungsbildend war, 1863 die Geschichte der Judenemanzipation als „ein interessantes und lehrreiches Blatt in der Geschichte des allgemeinen Fortschritts zur Humanität und des politischen Fortschritts, der die Staaten aus der Sphäre der Willkür und der Rechtsungleichheit allmählich zur Gestaltung des Rechtsstaates und der Rechtsgleichheit führte“. Angesichts der Tatsache, dass zu diesem Zeitpunkt die Emanzipationsgesetzgebung in fast allen deutschen Staaten zum Abschluss kam, stellte der Verfasser des einschlägigen Artikels darüber hinaus die These auf: „Der Gang der Judenemanzipation ist daher für die einzelnen Staaten ein Prüfstein und ein Maßstab ihrer Gesamtentwicklung und ihres Verhaltens zu den humanen politischen Forderungen der Zeit, und es darf behauptet werden, daß die volle Entwicklung des Rechtsstaates sich nirgends vor der vollständigen Judenemanzipation, wenn auch nicht immer mit derselben, vollzogen haben wird.“12

Die ebenso zögerliche wie widersprüchliche Politik der deutschen Liberalen hinsichtlich der rechtlichen Gleichstellung der Juden hat viele Gründe. Ich nenne hier nur einige der wichtigsten. 1. Bei den Juden ging es nicht um irgendeine Minderheit, sondern um eine religiöse und soziale Gruppe, die seit Jahrhunderten in einer geradezu einzigartigen Weise stigmatisiert worden war. Juden galten für die große Mehrheit der christlichen Bevölkerung als das „Volk der Christusmörder“, als eine Religionsgemeinschaft, die sich der frohen Botschaft des Evangeliums hartnäckig verweigerte, sich gegenüber der Welt der Christen verschloss und in ihrem wirtschaftlichen und sozialen Verhalten gegenüber ihrer christlichen Umwelt als ausgesprochen schädlich betrachtet wurde. Eine soziale Integration der Juden setzte deshalb einen grundlegenden Gesinnungs- und Verhaltenswandel in der christlichen Bevölkerung voraus, der nicht von heute auf morgen erwartet werden konnte. Selbst ein radikaler Demokrat wie Friedrich Hecker bekannte noch 1846 öffentlich, es sei im Blick auf die Juden „schwer, sich loszureißen von den Vorurteilen der Jugend, von der Tradition, von der historischen Übertragung, die uns mehr oder weniger gefangen nehmen“.13 Und vielen der liberalen Wortführer in Preußen oder in Württemberg ging es nach ihren eigenen Worten ganz ähnlich. 2. Die Gewährung neuer Rechte für die Juden berührte konkrete, oft allerdings auch nur vermeintliche Interessen einer nicht geringen Zahl von Christen, die sich von den Juden als neuen Konkurrenten in Handel und Gewerbe bedroht fühlten oder bei der Aufnahme von Juden als Gemeindebürger 12 S. STERN: Artikel „Juden“, in: CARL VON ROTTECK / CARL THEODOR WELCKER (Hg.): StaatsLexikon, Bd. 8, Leipzig 31863, S. 667. 13 Badische zweite Kammer (wie Anm. 9), 21. 8. 1846, Bd. 9, Karlsruhe 1846, S. 63.

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den „Gemeindenutzen“, nicht zuletzt die Wald- und Weiderechte, mit ihnen teilen mussten. Hinzu kam, dass die Bewohner vieler Dörfer, Städte und Territorien die Tatsache, dass sich bei ihnen keine Juden niederlassen durften, für ein sorgfältig zu hütendes „Privileg“ hielten. Im „Brockhaus“ von 1844 war deshalb nicht ohne Grund zu lesen: „Liberale, denen es um die Volksgunst zu tun ist, haben meist Bedenken getragen, sich offen und entschieden für die Juden zu erklären; denn populär ist die Sache der Juden nicht.“14 3. Von großer Bedeutung hinsichtlich der Judenemanzipation war darüber hinaus, dass die Mehrheit der christlichen Bevölkerung der Durchsetzung einer kapitalistischen Wirtschaftsweise und einer raschen Industrialisierung eher kritisch und abwehrend gegenüberstand. Die verhältnismäßig starke Beteiligung von Juden am Geld- und Warenhandel ebenso wie an manchen frühindustriellen Unternehmen wurde deshalb als Begleiterscheinung, wenn nicht gar als treibende Kraft – man sprach häuÀg von einer wachsenden Bedrohung durch die „jüdische Geldmacht“ – einer unerwünschten Entwicklung wahrgenommen. Das galt bis zur Mitte des 19. Jahrhunderts auch für beträchtliche Teile des deutschen Liberalismus.15 4. Das Verhalten der deutschen Liberalen war in erheblichem Umfang durch die Tradition des aufgeklärten Absolutismus geprägt, d. h. durch den Glauben daran, dass der Staat, vertreten durch eine aufgeklärt-liberale Beamtenschaft, die Gesellschaft reformieren solle und könne. Das wirkte sich hinsichtlich der Emanzipation der Juden in der Weise aus, dass man davon überzeugt war, die Politik – in erster Linie die Staats- und Kommunalverwaltungen, aber auch die jeweiligen Parlamente – habe die Juden zu erziehen.16 Wenn man von der „bürgerlichen Verbesserung der Juden“ sprach, meinte man gleichermaßen eine Verbesserung ihrer politischen und bürgerlichen Rechte und die Verwandlung einer gesellschaftlichen Randgruppe, die ganz überwiegend in außer- oder vorbürgerlichen Verhältnissen lebte, in einen bürgerlichen Mittelstand, der sich von der christlichen Mehrheitsgesellschaft in wirtschaftlicher und sozialer Hinsicht nicht mehr unterscheiden sollte. Da man soziale Fortschritte zur Voraussetzung der rechtlichen Verbesserungen erklärte, schienen 14 Allgemeine deutsche Real-Encyclopädie für die gebildeten Stände, Bd. 4, Leipzig (Brockhaus) 91844, S. 688. 15 Selbst ein liberal-demokratischer Abgeordneter wie Friedrich Rödinger, der sich im württembergischen Landtag entschieden für die Emanzipation aussprach, erklärte beispielsweise: „Schon jetzt ist fast das ganze Kapital der Erde in ihren Händen, in Bildung und Intelligenz sind sie die glücklichen Rivalen der Christen, und in nicht zu ferner Zeit wird sich auch die äußere Macht dazu gesellen.“ Verhandlungen in der Kammer der Abgeordneten des Königreichs Württemberg, 17. Sitzung, 3. 12. 1863, S. 281. 16 Zu den Besonderheiten der in Deutschland entwickelten Emanzipationskonzeption, die von den Liberalen weitgehend übernommen wurden, siehe REINHARD RÜRUP: Judenemanzipation und bürgerliche Gesellschaft in Deutschland (zuerst 1968), in: DERS.: Emanzipation und Antisemitismus. Studien zur „Judenfrage“ der bürgerlichen Gesellschaft, Frankfurt a. M. 1987, S. 13–45.

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jahrzehntelang auch den meisten Liberalen die einschlägigen Sozialstatistiken wichtiger als ihre politischen Prinzipien. Nicht zuletzt in religiöser Hinsicht war damit ein beträchtliches Maß an Intoleranz verbunden, weil man, wenngleich in Übereinstimmung mit jüdischen Reformern, von den Juden forderte, auch ihre Organisation als Religionsgemeinschaft und die Formen ihrer Religionsausübung, u. a. den Gottesdienst, die Ausbildung und Funktion der Rabbiner und die religiöse Erziehung der Kinder, dem Modell der christlichen Kirchen entsprechend zu verändern. Trotz all dieser Probleme waren es aber am Ende in den einzelnen deutschen Staaten ebenso wie im neu gegründeten Reich die liberalen Mehrheiten, die – wie in allen anderen europäischen Staaten mit einer modernen Verfassung – die volle rechtliche Gleichstellung der Juden politisch durchsetzten. Da nach der Überzeugung vieler Liberaler eine Volksabstimmung noch immer gegen die Emanzipation der Juden ausgefallen wäre, betonte man, wie es beispielsweise der Historiker und liberale Parteiführer Ludwig Häusser 1862 in Baden tat, in diesem Zusammenhang die Vorzüge der liberalen Repräsentativverfassung, die allein es trotz aller Vorurteile und Stimmungen im Volke möglich mache, eine politische Entscheidung im Geiste der Humanität und der Gerechtigkeit zu treffen.17 Nicht weniger wichtig als die Tatsache, dass die Liberalen sich schließlich doch zu einer Entscheidung im Sinne ihrer politischen Grundprinzipien durchrangen, war es, dass die Juden in Deutschland nicht nur durch die Repräsentanten der politischen Mehrheit emanzipiert wurden, sondern sich in den langen Jahrzehnten des „Zeitalters der Emanzipation“ gesellschaftlich selber emanzipiert hatten. Das daraus resultierende neue jüdische Selbstbewusstsein fasste der Reformer Ludwig Philippson schon 1850 in der von ihm begründeten „Allgemeinen Zeitung des Judentums“ in die klassischen Sätze: „Ihr emanzipiert die Juden nicht, sie selbst haben sich längst emanzipiert, ihr vollendet nur die äußere Emanzipation. Von der Zeit an, wo die Juden aus dem Ghetto heraustreten, wo sie teilnehmen an allen industriellen und intellektuellen Bestrebungen der Menschheit, wo ihre Kinder Schulen, Gymnasien, Universitäten besuchen, wo ihre Männer an Wissenschaft, Kunst, Industrie und Gewerk sich beteiligen, wo ihre Frauen der allgemeinen Bildung sich beÁeißigen – von dem Augenblick an sind sie emanzipiert und brauchen nicht erst auf einige Worte der Verfassung zu warten.“18

17 Badische zweite Kammer, 25. 4. 1863, handschriftliches Protokoll: Badisches Generallandesarchiv, Karlsruhe, 231/39. 18 Allgemeine Zeitung des Judentums, 14. 1. 1850. Schon 1832 konnte man im „Brockhaus“ lesen: „Die Emanzipation, das heißt die Mündigsprechung der Juden geschieht auf zweierlei Art: von Innen heraus und von Außen herein. Die deutschen Juden haben, wie billig, damit angefangen, sich selbst zu emanzipieren, bevor sie den Anspruch machen, daß man ihnen auch ihre bürgerlichen Fesseln abnehme.“ Conversations-Lexikon der neuesten Zeit und Literatur, Bd. 1, Leipzig 1832, S. 769.

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Mit der hier angesprochenen „Selbstemanzipation“ begann in Deutschland eine ganz und gar ungewöhnliche soziale Erfolgsgeschichte der Juden als Minderheit, die auf einem ausgeprägten Arbeits- und Leistungsethos und der Entfaltung bedeutender wirtschaftlicher, wissenschaftlicher und künstlerischer Begabungen beruhte. Für viele jüdische Familien waren das Kaiserreich und die Weimarer Republik eine Zeit großer wirtschaftlicher Erfolge und eines bemerkenswerten sozialen Aufstiegs. Darüber hinaus wies die jüdische Bevölkerung der Jahrzehnte zwischen der Reichsgründungszeit und dem Beginn der NS-Herrschaft ein im Vergleich zur Gesamtbevölkerung des Deutschen Reiches deutlich moderneres ProÀl auf, wenn man die verfügbaren statistischen Daten zu ihrer demographischen Struktur, ihrer Mobilität, ihren Familienverhältnissen, ihrem Bildungsgrad, ihrer Berufs- und Erwerbstätigkeit, nicht zuletzt auch ihren Einkommens- und Vermögensverhältnissen zugrunde legt.19 Allerdings sollte dabei nicht übersehen werden, dass es mit dem Fortschreiten der Modernisierungstendenzen in der Gesamtgesellschaft zu einer allmählichen Abschwächung der Unterschiede kam und dass insbesondere die wirtschaftlichen Startvorteile, von denen ein Teil der Juden seit dem Beginn des Kommerzialisierungs- und Industrialisierungsprozesses proÀtiert hatte, im frühen 20. Jahrhundert rasch an Bedeutung verloren. Eine klar abgrenzbare Minderheit bildeten die Juden in Deutschland bis zum Ende der Weimarer 19 Zum wirtschaftlichen Erfolg und sozialen Aufstieg wie auch zu dem speziÀschen SozialproÀl der jüdischen Minderheit in Deutschland bis zur nationalsozialistischen „Machtergreifung“ sind noch immer die älteren sozialstatistisch-soziologischen Werke grundlegend: u. a. ARTUR RUPPIN: Soziologie der Juden, 2 Bde., Berlin 1930/31; JAKOB LESTSCHINSKY: Das wirtschaftliche Schicksal des deutschen Judentums, Berlin 1932; DERS.: Die Umsiedlung und Umschichtung des jüdischen Volkes im Laufe des letzten Jahrhunderts, in: Weltwirtschaftliches Archiv 30 (1929), S. 123–156, 32 (1932), S. 563–599; HEINRICH SILBERGLEIT: Die Bevölkerungs- und Berufsverhältnisse der Juden in Deutschland, Bd.1: Preußen, Berlin 1930. Aus der neueren Forschung vor allem UZIEL SCHMELZ: Die demographische Entwicklung der Juden in Deutschland von der Mitte des 19. Jahrhunderts bis 1933, in: Zeitschrift für Bevölkerungswissenschaft 8 (1982), S. 31–72; MONIKA RICHARZ (Hg.): Jüdisches Leben in Deutschland. Selbstzeugnisse zur Sozialgeschichte (1780–1945), 3 Bde., Stuttgart 1976–82; DIES. (Hg.): Bürger auf Widerruf. Lebenszeugnisse deutscher Juden 1780–1945, München 1989; WERNER E. MOSSE: Jews in the German Economy. The German-Jewish Economic Elite, 1820–1935, Oxford 1987; DERS.: The German-Jewish Economic Elite, 1820–1935. A Socio-Cultural ProÀle, Oxford 1989; SIMONE LÄSSIG: Jüdische Wege ins Bürgertum. Kulturelles Kapital und sozialer Aufstieg im 19. Jahrhundert, Göttingen 2004; ANDREAS GOTZMANN / RAINER LIEDTKE / TILL VAN RAHDEN (Hg.): Juden, Bürger, Deutsche. Zur Geschichte von Vielfalt und Differenz 1800–1933, Tübingen 2001; REINHARD RÜRUP: Jüdische Geschichte in Deutschland. Von der Emanzipation bis zur nationalsozialistischen Gewaltherrschaft, in: DIRK BLASIUS / DAN DINER (Hg.): Zerbrochene Geschichte. Leben und Selbstverständnis der Juden in Deutschland, Frankfurt a. M. 1991, S. 79–101; DERS.: A Success Story and Its Limits. European Jewish Social History in the Nineteenth and Early Twentieth Centuries, in: Jewish Social Studies 11 (2004), S. 3–15.

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Republik nur noch für die Antisemiten. Für die allermeisten Juden war die Zugehörigkeit zur jüdischen Religionsgemeinschaft oder die Verbundenheit mit der jüdischen Geschichte und Kultur nur noch ein Aspekt ihres Selbstverständnisses und oft war es nicht einmal mehr der wichtigste. Sie waren vielmehr zugleich Angehörige anderer sozialer Mehrheiten oder Minderheiten. Sie gehörten zu den Trägerschichten der bürgerlichen Kultur, aber auch zu den gegen die Traditionen aufbegehrenden Avantgardisten. In ihrer großen Mehrheit waren sie politisch liberal orientiert (und deshalb von dem praktischen Verschwinden der liberalen Parteien in der Endphase der Weimarer Republik ganz besonders betroffen), aber es gab unter ihnen auch prominente Konservative, Sozialdemokraten und Kommunisten. Als Heinrich Heine 1828 die Frage stellte, was die „große Aufgabe“ seiner Zeit sei, antwortete er: „Es ist die Emanzipation.“ Und er setzte hinzu: „Nicht bloß die der Irländer, Griechen, Frankfurter Juden, westindischen Schwarzen und dergleichen gedrückten Volkes, sondern es ist die Emanzipation der ganzen Welt, absonderlich Europas, das mündig geworden ist und sich jetzt losreißt von dem eisernen Gängelband der Bevorrechteten, der Aristokratie.“20 Das war ein epochenspeziÀscher, auf den Übergang von der feudal-absolutistischen zur bürgerlich-liberalen Gesellschaft bezogener Emanzipationsbegriff. 25 Jahre später sprach Georg Gottfried Gervinus in seiner „Einleitung in die Geschichte des 19. Jahrhunderts“ von einem Jahrhundertphänomen: „Die Emanzipation aller Gedrückten und Leidenden ist der Ruf des Jahrhunderts“, und er konstatierte mit Befriedigung, dass „die Gewalt dieser Ideen“ inzwischen schon in wichtigen Fragen „über mächtige Interessen und eingewurzelte Zustände Sieger geworden“ sei.21 In der „Allgemeinen Encyclopaedie der Wissenschaften und Künste“ unternahm der liberale Gelehrte Karl Hermann Scheidler 1840 den ersten großen Versuch, die geschichtsphilosophische Dimension der zeitgenössischen Emanzipationsdebatten herauszuarbeiten. Er stellte fest, „daß die Emanzipationsfragen unserer Zeit verstehen nichts Geringeres ist, als unsere Zeit selbst begreifen, und daß diese[s] sich auch auf das ganze Leben anwenden läßt, welches, von dem höchsten Standpunkte aus betrachtet, als universeller Emanzipationsprozeß erscheint, von dessen Verlaufe alle politischen, religiösen etc. Emanzipationsprobleme nur einzelne Bestandteile oder Phasen sind, die nur von jenem Zentralpunkte aus richtig beurteilt und gewürdigt werden können.“ Er formulierte deshalb einen „philosophischen und welthistorischen Begriff“ der Emanzipation, mit dem „alle bedeutenderen Wirkungen und Bestrebungen oder Entwicklungen der Geschichte der Menschheit im Ganzen und Einzelnen sich unter diesen Begriff von Emanzipationstatsachen oder -problemen fassen“ 20 HEINRICH HEINE: Reisebilder. Dritter Teil: Italien (1828), in: DERS.: Sämtliche Schriften, hg. v. Klaus Briegleb, Bd. 2, München 31995, S. 376f. 21 GEORG GOTTFRIED GERVINUS: Einleitung in die Geschichte des 19. Jahrhunderts, Leipzig 1853, neu hg. v. Walter Boehlich, Frankfurt a. M. 1967, S. 173.

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lassen. Scheidlers Darlegungen mündeten in die These, dass „alle Hauptzwecke des menschlichen Lebens auf [eine] dreifache Emanzipation zu reduzieren“ seien: „die ökonomisch-industrielle, die politische und sittlich-religiöse“.22 Dieser umfassende Emanzipationsbegriff hat sich allerdings weder in Deutschland noch in anderen europäischen Ländern durchgesetzt. Wichtiger für die jüdischen wie die nichtjüdischen Vorkämpfer der Emanzipation der Juden war die Vorstellung von einem „Zeitalter der Emanzipation“, vom epochenspeziÀschen Charakter des Emanzipationsprozesses, der von der europäischen Aufklärung und der französischen Revolution her bestimmt war und die Durchsetzung einer bürgerlich-liberalen politischen und gesellschaftlichen Ordnung in Deutschland und Europa zum Ziel hatte. Die Emanzipation der Juden wurde als ein integraler Bestandteil dieses übergreifenden Emanzipationsprozesses verstanden. Wer sich für die rechtliche und soziale Gleichstellung der Juden einsetzte, fühlte sich deshalb vom späten 18. Jahrhundert bis in die 1870er Jahre mit der Geschichte im Bunde, glaubte trotz aller Widerstände und Verzögerungen an die Judenemanzipation als ein notwendiges Ergebnis des allgemeinen historischen Prozesses, des „historischen Fortschritts“. Die politische Dynamik dieses Geschichtsverständnisses wurde in Deutschland mit der innenpolitischen Wende in den späten 1870er Jahren gebrochen, als die liberalen Parteien in Preußen und im Reich ihre parlamentarischen Mehrheiten verloren und seitdem niemals wiedergewannen. Verloren ging damit auch die bis dahin unerschütterliche Überzeugung der Liberalen und sogar vieler ihrer politischen Gegner, dass die Zukunft in jedem Falle liberal sein werde. Mit dieser antiliberalen Wende war das Aufkommen des modernen Antisemitismus als der ersten radikalen Protestbewegung von rechts gegen die bürgerlich-kapitalistische Gesellschaft verbunden, und auch viele Regierungsbehörden und andere staatliche Stellen waren von da an nicht mehr bereit, der sozialen Diskriminierung von Juden in jedem Falle entschieden entgegenzutreten. Sie wurden im Gegenteil selber zu Trägern teils offener, teils verdeckter Diskriminierungspraktiken.23

22 KARL HERMANN SCHEIDLER: Artikel „Emanzipation“, in: JOHANN SAMUEL ERSCH / JOHANN GOTTFRIED GRUBER (Hg.): Allgemeine Encyclopaedie der Wissenschaften und Künste, Sektion 1, Bd. 34, Leipzig 1840, S. 14, 12. 23 Zur Geschichte des modernen Antisemitismus siehe vor allem WERNER BERGMANN: Geschichte des Antisemitismus, München 2002; HELMUT BERDING: Moderner Antisemitismus in Deutschland, Frankfurt a. M. 1988; PETER PULZER: Die Entstehung des politischen Antisemitismus in Deutschland und Österreich 1867 bis 1914, um einen Forschungsbericht erweiterte Neuausgabe, Göttingen 2004; ALBERT S. LINDEMANN: Esau’s Tears. Modern Antisemitism and the Rise of the Jew, überarb. Ausgabe, Cambridge 2000; KLAUS HOLZ: Nationaler Antisemitismus. Wissenssoziologie einer Weltanschauung, Hamburg 2001; REINHARD RÜRUP: Antisemitismus und moderne Gesellschaft. Antijüdisches Denken und antijüdische Agitation im 19. und frühen 20. Jahrhundert, in: CHRISTINA VON

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Ungebrochen blieb dagegen trotz der „Gründerkrise“ und der Veränderung der politischen Konstellationen die wirtschaftliche, soziale und kulturelle Dynamik des Modernisierungsprozesses in Deutschland, und deshalb schritten auch die Akkulturations- und Integrationsprozesse der Juden – allen sozialen Diskriminierungen und der zeitweise heftigen antisemitischen Agitation zum Trotz – mit großer Intensität und hohem Tempo voran. Angesichts der schon bald hereinbrechenden Katastrophe mag es überraschend und sogar befremdlich klingen, es ist aber alles andere als eine Übertreibung, wenn man die Jahrzehnte deutsch-jüdischer Existenz vor 1933 zu den großen Epochen der jüdischen Geschichte nicht nur in Deutschland, sondern auch in Europa und darüber hinaus rechnet.24

BRAUN / EVA-MARIA ZIEGE (Hg.): „Das bewegliche Vorurteil“. Aspekte des internationalen Antisemitismus, Würzburg 2004, S. 81–100. 24 Siehe dazu auch AMOS ELON: Zu einer anderen Zeit. Porträt der deutsch-jüdischen Epoche (1743–1933), München 2003.

Liberalismus und Frauenemanzipation Karin Hausen

Im Titel sagt die beliebte Konjunktion „und“ nichts darüber, ob und wie sich die beiden verbundenen Teileinheiten aufeinander beziehen. Ich nehme mir daher die Freiheit, hier nur zu erörtern, ob Liberalismus und Frauenemanzipation überhaupt etwas miteinander zu tun haben. Meine Antwort ist – wie könnte es anders sein – ein entschiedenes „jein“. Diesen Befund will ich im Folgenden erläutern und des forschenden Nachfragens für würdig erklären. Der Liberalismus ist in diesem Sinne historisch fragwürdig erstens im Hinblick auf seine jahrzehntelang praktizierte oder zumindest akzeptierte nachhaltige Abwehr von umfassender Frauenemanzipation und zweitens im Hinblick auf die unter tatkräftigem Einsatz der Geschichts- und Politikwissenschaften erfolgte und lange Zeit als selbstverständlich hingenommene fast spurlose Entsorgung dieser Illiberalität aus den nationalen und internationalen Geschichten des Liberalismus. Ich werde nur über Deutschland im 19. Jahrhundert berichten, verweise aber als notwendiges Korrektiv darauf, dass die Frauenbewegungen des 19., 20. und 21. Jahrhunderts ihre Kämpfe für umfassende Emanzipation, gleiche Rechte und Chancengleichheit aus gutem Grund stets innerhalb ihrer Nationalstaaten und zugleich in regem internationalen Austausch führten und führen.1 1. Wie aktuelle Verständigungen über Liberalismus weder einen Gedanken an Frauen noch an deren Exklusion aufkommen lassen Erhellend ist ein erster Griff zum Konversationslexikon, in diesem Fall zur Brockhaus Enzyklopädie. Der Brockhaus bietet ein widersprüchliches Zusammenspiel und Gegeneinander der Stichworte Liberalismus, Emanzipation und Frauenbewegung. Dazu sei hier nur angemerkt, dass es diese Aufteilung erleichtert, beim Stichwort „Liberalismus“ den Liberalismus-Sonderweg für das weibliche Geschlecht mit keiner Silbe zu erwähnen, stattdessen aber mit der üblichen Rede vom Menschen, Bürger, Einzelnen und Individuum, um deren Freiheit und Emanzipation es gehe, nahezulegen, dass Frauen schon immer 1

Siehe hierzu u. a. GISELA BOCK: Frauen in der Europäischen Geschichte vom Mittelalter bis zu Gegenwart, München 2000; KAREN OFFEN: European Feminisms 1700–1950. A Political History, Stanford 2000.

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mit gemeint waren. Wie schon 1979 so werden ähnlich auch in der AuÁage von 1990 als spezielle Forderungen des politischen Liberalismus angeführt: das allgemeine gleiche Wahlrecht sowie „Selbstverwaltung der Gemeinden, Bauernbefreiung, Beseitigung des Zunftwesens, Freizügigkeit, freier Zugang zu Berufen und Ämtern, Beseitigung ständ. Vorrecht bes. der Adelprivilegien, Aufhebung religiöser und rassischer Diskriminierungen und Judenemanzipation.“2 Der stark erweiterte Artikel von 2006 fügt dem als Neuerung hinzu, der Liberalismus trat für „die Emanzipation der Juden und der Frauen ein; allg. bekämpfte er ethn. und geschlechtl. Diskriminierung.“3 Diese Aussage belegt zweifellos Lernfähigkeit, führt nun aber, da sie jenseits von Raum und Zeit formuliert ist, für das 19. und frühe 20. Jahrhundert völlig in die Irre. Auch eine Umschau in den seit Ende der 1980er Jahre zahlreich veröffentlichten Forschungen zur Geschichte von Bürgertum und Liberalismus4 offenbart einmal mehr, mit welcher Selbstverständlichkeit bürgerliche Gesellschaft und Liberalismus akribisch erforscht werden konnten, ohne auch nur die Frage zu stellen, was der historische Stellenwert dessen sein mag, dass Männer, obwohl oder gerade weil sie in Ehe, Familie, Haushalt und Geselligkeit mit Frauen eng zusammen lebten, ihr politisches Zukunftsprojekt als exklusives Männerprojekt ausgestalteten und Menschen weiblichen Geschlechts explizit das verweigerten, was sie selbst als allgemeine Grund-, Freiheits- und Staatsbürgerrechte einforderten. Die Immunisierung gegenüber dieser historisch interessanten und brisanten Frage gelingt über die unkommentierte Konzentration allein auf die Männerseite des Bürgertums, also auf Männer städtischer Führungsgruppen als Träger des Liberalismus und auf die institutionalisierte politische Partizipation als deren Ziel und Praxis.5 Lothar Galls Diktum von 1975, die Frühliberalen 2 3 4

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Brockhaus Enzyklopädie, Bd. 13, Mannheim 191990, S. 350; siehe auch Bd. 7, Wiesbaden 181979, S. 128. Ebd., Bd. 16, Mannheim/Leipzig 212006, S. 716. Durchgesehen wurden vor allem Sammelbände und Monographien der in Frankfurt von Lothar Gall und in Bielefeld von Jürgen Kocka mit der Forschungsgruppe des Zentrums für interdisziplinäre Forschung (ZiF) und allen Neuzeithistorikern mit dem Sonderforschungsbereich initiierten Bürgertumsforschungen. Vgl. z. B. HANS-WERNER HAHN: Altständisches Bürgertum zwischen Beharrung und Wandel. Wetzlar 1689–1870, München 1991. Diese für die Männerwelt ausgezeichnete Studie über die Entwicklung des Zusammenlebens von Stadtbürgern und Mitgliedern des Reichskammergerichts vermeidet so weitestgehend einen Blick auf die Frauenseite, dass eine „selektive Genealogie“ ausschließlich Männer erfasst (S. 75, 495) und Ehefrauen von Schöffen und Ratsherren nur mit dem Namen der Herkunftsfamilie verzeichnet sind (S. 493); PAUL NOLTE: Gemeindebürgertum und Liberalismus in Baden 1800– 1850, Göttingen 1994, durchbricht seine ebenfalls von Frauen unbehelligte Männerwelt immerhin ein wenig mit dem beiläuÀgen Hinweis, ein Liberaler habe den aus einem anderen Ort als Redner angereisten Parteifreund „möglicherweise im eigenen Haus beherbergt“ (S.181). Etwas komplizierter gestaltet Lothar Gall in seiner zur Geschichte des Bürgertums verallgemeinerten Geschichte der Familie Bassermann die weitgehende

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hätten ihre Zukunftsvisionen an einer „vorindustriellen, berufsständisch organisierten Mittelstandsgesellschaft auf patriarchalischer Grundlage“ ausgerichtet,6 hat nachfolgende Forschungen zwar stark inspiriert. Doch bezeichnenderweise wird in diesen nur selten und allenfalls nebenbei erwähnt, dass die Liberalen gegenüber ihren Familien mit patriarchalischen Herrschaftsbefugnissen ausgestattete Haushaltsvorstände waren. Auch die prinzipielle Exklusion von Frauen aus liberalen Politikprojekten wird kaum einmal angesprochen, geschweige denn erörtert.7 Selbst bei dem vieldiskutierten Thema Wahlrecht fehlt meistens der Hinweis, dass, wie lange und mit welchen Begründungen Frauen von Wahlrechten ausgeschlossen blieben und welche historischen Folgen dieser Ausschluss gehabt haben mag.8 Diese offensichtlichen DeÀzite der zu Liberalismus, liberaler Bewegung, Bürgertum und auch Nationalismus vorgelegten historischen Forschungen und Deutungen werden seit Langem seitens der historischen Frauen- und Geschlechterforschung aufgezeigt und kritisch kommentiert. Inzwischen ergänzen und verändern zahlreiche, an der Entwicklung von Frauen- und Geschlechterverhältnissen interessierte Forschungen ganz entscheidend das für die Geschichte von Liberalismus und Bürgertum entworfene Bild. Gegenüber den Impulsen und Ergebnissen dieser zumeist von Frauen vorgelegten Forschungen blieb allerdings die im breiten Konsens über eingeübte Konzepte, Deutungsmuster und Relevanzkriterien wurzelnde Rezeptionsresistenz vornehmlich männlicher Bürgertums- und Liberalismus-Forscher bis zur Wende zum 21. Jahrhundert bemerkenswert stabil.9

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Ausblendung der Frauenseite, vgl. KARIN HAUSEN: Geschichte als patrilineale Konstruktion und historiographisches IdentiÀkationsangebot. Ein Kommentar zu Lothar Gall, Das Bürgertum in Deutschland, Berlin 1989, in: L’Homme. Zeitschrift für feministische Geschichtswissenschaft 8 (1997), S. 109–131. LOTHAR GALL: Liberalismus und „bürgerliche Gesellschaft“. Zu Charakter und Entwicklung der liberalen Bewegung in Deutschland (1975), wieder abgedruckt in: DIETER HEIN / ANDREAS SCHULZ / ECKHARDT TREICHEL (Hg): Lothar Gall. Bürgertum, liberale Bewegung und Nation. Ausgewählte Aufsätze, München 1996, S. 99–125, Zitat S. 122. Vgl. als nützliche Übersicht geschichts- und politikwissenschaftlicher Kritiken ERNA APPELT: Geschlecht, Staatsbürgerschaft, Nation. Politische Konstruktionen des Geschlechterverhältnisses in Europa, Frankfurt a. M./New York 1999; THOMAS KÜHNE: Staatspolitik, Frauenpolitik, Männerpolitik. Politikgeschichte als Geschlechtergeschichte, in: HANS MEDICK / ANNE-CHARLOTTE TREPP (Hg.): Geschlechtergeschichte und Allgemeine Geschichte. Herausforderungen und Perspektiven, Göttingen 1998, S. 171–231; KARIN HAUSEN: Die Nicht-Einheit der Geschichte als historiographische Herausforderung. Zur historischen Relevanz und Anstößigkeit der Geschlechtergeschichte, in: ebd., S. 15–55. Vgl. GISELA BOCK: Frauenwahlrecht. Deutschland um 1900 in vergleichender Perspektive, in: MICHAEL GRÜTTNER / RÜDIGER HACHTMANN / HEINZ-GERHARD HAUPT (Hg.): Geschichte und Emanzipation. Festschrift für Reinhard Rürup, Frankfurt a. M. 1999, S. 95–136. Exzellent hierzu jetzt die einschlägigen, detailliert ausgearbeiteten, unterschiedliche Forschungsentwicklungen in Deutschland und den USA reÁektierenden Berichte in:

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Das ist umso erstaunlicher, als Dieter Langewiesche bereits 1988 in seiner Überblicksdarstellung zum Liberalismus nachdrücklich Forschungen darüber eingefordert hat, dass die gesellschaftliche Stellung der Frau prinzipiell nicht in die frühliberale „Utopie der klassenlosen, rechtlich egalitären bürgerlichen Gesellschaft“ eingeschlossen war. Er hat in der Folgezeit wiederholt für die Bürgertums- und Liberalismusgeschichte einschlägige geschlechtergeschichtliche Forschungen vorgestellt und für die weitere Erforschung der Liberalismen noch 1995 „die Frage nach den Geschlechterverhältnissen in Theorie und Praxis“ und nach dem „Lebensalltag von Frauen und Männern“ im liberalen Bürgertum dringlich angemahnt.10 Die Reichweite eines solchen Forschungsansatzes ist ebenfalls bereits seit Jahren diskutiert worden. Als Ute Frevert 1988 den aus einer Tagung hervorgegangenen Sammelband „Bürgerinnen und Bürger“ herausgab, löste sie für die Bielefelder Bürgertumsprojekte und deren in Tagungen und Publikationen bekundete Männlichkeitsdominanz gleichsam eine Bringschuld ein. Im Vorwort zu diesem Sammelband und auch in seinem Resümee der Tagung ging Jürgen Kocka auf die strittig gebliebene Frage ein, „ob die Emanzipation der Frauen als Konsequenz in zentralen Grundprinzipien der bürgerlichen Gesellschaft angelegt ist, oder ob nicht eher eine volle Emanzipation der Frauen zum Einsturz von Grundpfeilern der bürgerlichen Gesellschaft führen würde und deshalb innerhalb bürgerlicher Gesellschaften letztlich nicht realisierbar ist.“ Kocka selbst sieht für das späte 20. Jahrhundert eine tatsächliche Umsetzung der „universalisierenden Versprechen allgemeiner Freiheit, Mündigkeit und Chancengleichheit“ in Gang gekommen.11Im Gegensatz dazu argumentiert Ute Gerhard in ihrem Schlusswort, es komme nach wie vor darauf an, die „geschlechtsspeziÀschen Polarisierungen und falschen Alternativen dieser Gesellschaft“ zu kritisieren, da auf deren Grundlage Gleichheit nur als „Angleichung an die Mannesstellung“ vorstellbar erscheint und „weibliche Besonderheiten“ zur ausbeutbaren „Kontrasttugend“ verkämen.In ihremSchlussplädoyer verbindet sie Geschichte mit Zukunft: „Denn eine Gleichheit, deren Maß nicht die Männlichkeit, sondern Menschlichkeit ist, eine Freiheit, die in der Freiheit des anderen nicht notwendig eine Schranke, sondern eher eine Erweiterung erfährt, eine Gesellschaft, deren Ordnung zwischen Männern und

KAREN HAGEMANN / JEAN H. QUARTAERT (Hg.): Geschichte und Geschlechter. Revisionen der neueren deutschen Geschichte, Frankfurt a. M./New York 2008. 10 DIETER LANGEWIESCHE: Liberalismus in Deutschland, Frankfurt a. M. 1988, S. 33f; D ERS.: Liberalismus und Region, in: LOTHAR GALL / DIETER LANGEWIESCHE (Hg.): Liberalismus und Region. Zur Geschichte des deutschen Liberalismus im 19. Jahrhundert, München 1995, S. 1–18, hier S. 15–18. Hierauf verweist bereits ANGELIKA SCHASER: Helene Lange und Gertrud Bäumer. Eine politische Lebensgemeinschaft, Köln/Weimar 2000, S. 21f. 11 JÜRGEN KOCKA, in: UTE FREVERT (Hg.): Bürgerinnen und Bürger. Geschlechterverhältnisse im 19. Jahrhundert, Göttingen 1988, S. 8f, 208.

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Frauen vereinbart wird, ist als Utopie einer besseren und gerechteren Gesellschaft auch für Frauen noch längst nicht verbraucht.“12

Um die historische Relevanz der Geschlechterdifferenz als Strukturelement forschend weiter auszuloten, bedarf es in jedem Fall für die Bürgertums- und Liberalismusforschung der kritischen Revision des derzeit noch über dem Gegensatz von Privatheit und Öffentlichkeit aufgespannten Rahmenkonzepts. Gleiches gilt im Übrigen auch für die historische Erforschung von Zivilgesellschaft. Solange per konzeptioneller DeÀnition Zivilgesellschaft nur erfassen sollte, was weder Staat, Wirtschaft und Privatsphäre ist, würden Familie, Haushalt und Verwandtschaft und damit wiederum Frauen und deren Aktivitäten weitgehend unberücksichtigt bleiben.13 Es bietet sich an, meine Ausführungen zur ausgeblendeten Illiberalität des Liberalismus zu beenden mit jener klarsichtigen Diagnose, die Louise Otto (1819-1895) am 21. April 1849 mit der ersten Nummer ihrer „Frauen-Zeitung“ im Artikel „Die Freiheit ist untheilbar“ auf den Weg schickte: „Und nun laßt uns einmal fragen, wie viel Männer giebt es denn, welche, wenn sie durchdrungen sind von dem Gedanken, für die Freiheit zu leben und zu sterben, diese eben für alles Volk und alle Menschen erkämpfen wollen? Sie antworten gar leicht zu Tausenden mit Ja! aber sie denken bei all’ ihren endlichen Bestrebungen nur an eine Hälfte des Menschengeschlechts – nur an die Männer. Wo sie das Volk meinen, da zählen die Frauen nicht mit.“14

2. Geschlechter- und Eheverhältnisse als Politikum Louise Dittmar (1807–1884) veröffentlichte 1849 eine kleine Schrift „Über das Wesen der Ehe“. Darin erläuterte sie Punkt für Punkt die Benachteiligungen und Gefährdungen, die den Frauen aufgrund der Vormundschaft des Mannes in Ehe und Familie zugemutet werden, um schließlich Frauen aufzufordern, auch für sich „heilige Menschenrechte“ zu verlangen: „Fordert durch Petitionen [...] gleiche Berechtigung mit dem Manne im häuslichen Kreise, daß Euch dieser kleine Kreis nicht verkümmert werde, daß man Euch nicht als Leibeigene behandele, sondern daß die gesetzlichen Bestimmungen Euch als freie Menschen betrachten sollen.“

12 UTE GERHARD, in: ebd., S. 213f. Vgl. auch DIES.: Gleichheit ohne Angleichung. Frauen im Recht, München 2000. 13 Vgl. KAREN HAGEMANN / SONYA MICHEL / GUNILLA BUDDE (Hg.): Civil Society and Gender Justice. Historical and Comparative Perspectives, New York 2008. 14 Zitiert nach UTE GERHARD / ELISABETH HANNOVER-DRÜCK / ROMINA SCHNITTER (Hg.): „Dem Reich der Freiheit werb’ ich Bürgerinnen“. Die Frauen-Zeitung von Louise Otto, Frankfurt a. M. 1979, S. 38.

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Ihre eigenen fragilen Zukunftshoffnungen umschrieb sie mit folgenden Sätzen: „Die Grundrechte des deutschen Volkes sind bereits entworfen; im Fall ihrer ungeteilten Verwirklichung wird wohl im Laufe der weitern Verhandlungen ein Zweig derselben die ehelichen Verhältnisse berühren, es wird sich dann zeigen, ob die Gerechtigkeit und Nächstenliebe oder die Selbstsucht und Eigenliebe siegen. – Haben die Frauen gleich nirgends Sitz noch Stimme, so können sie doch um so mehr von dem bessern Teil der Männer erwarten, daß sie auch für ihre Besserstellung reden und wirken; sie werden nicht vergessen, daß jeder Mann ein lebendiger Beweis ist, daß eine Frau um ihn gekämpft, gelitten, ja vielleicht ihr Leben zum Opfer gebracht hat. Es wäre darum eine Schmach für alle edeldenkenden Männer, würden sie nicht redlich mithelfen, daß die Frauen auch der beglückenden Freiheit in allen Verhältnissen teilhaftig werden, sonst müßten die Frauen ihre Sklavenkette von Generation zu Generation hinüberschleifen.“15

Dittmars Hoffnungen waren von den revolutionären Bewegungen beÁügelt. Sie eilten ihrer Zeit um viele Jahrzehnte voraus. Die Entwicklung von Ehe-, Familien- und Sozialrecht im 19. und frühen 20. Jahrhundert stattete verheiratete Frauen gegenüber ihrem Ehemann weiterhin mit minderen Rechten aus.16 Zutreffend betont Gisela Bock: „Die Trennlinie zwischen verheirateten und unverheirateten Frauen war im Europa des 19. Jahrhunderts mindestens ebenso einschneidend wie die Klassenschranke.“17 Die Ordnung der Geschlechter-, Ehe- und Familienverhältnisse, nach heutigem Diktum die Privatsphäre, also das, was in der historischen Liberalismus- und Bürgertumsforschung deutscher Provenienz überwiegend ausgeblendet, abgewehrt oder auch nur vergessen wird, hat die Politiker und Theoretiker des Liberalismus nicht nur während des Übergangs vom alten zum neuen Bürgertum sehr beschäftigt.18 Um diese Breite des Politikfeldes ange15 LOUISE DITTMAR: Frauen, fordert gleiche Berechtigung mit dem Mann, in: DIES. (Hg.): Das Wesen der Ehe. Nebst einigen Aufsätzen über die soziale Reform der Frauen, Leipzig 1849, zit. nach: RENATE MÖHRMANN (Hg.): Frauenemanzipation im deutschen Vormärz. Texte und Dokumente, Stuttgart 1978, S. 94–103, hier S. 102f. Zu Dittmar siehe auch DAGMAR HERZOG: Intimicy and Exclusion. Religious Politics in Pre-Revolutionary Baden, Princeton 1996, S. 143–158; CHRISTINE NAGEL: „In der Seele das Ringen nach Freiheit“ – Louise Dittmar. Emanzipation und Sittlichkeit im Vormärz und in der Revolution 1848/49, Königstein i. T. 2005. 16 UTE GERHARD (Hg.): Frauen in der Geschichte des Rechts von der Frühen Neuzeit bis zur Gegenwart, München 1997. 17 G. BOCK, Frauen (wie Anm. 1), S. 156. 18 Siehe u. a. UTE FREVERT: „Mann und Weib, Weib und Mann“. Geschlechter-Differenzen in der Moderne, München 1995; DIES.: Bürgerliche Meisterdenker und das Geschlechterverhältnis. Konzepte, Erfahrungen, Visionen an der Wende vom 18. zum 19. Jahrhundert, in: DIES., Bürgerinnen (wie Anm. 11), S. 17–48; KARIN HAUSEN: „Eine Ulme für das schwanke Efeu“. Ehepaare im Bildungsbürgertum. Ideale und Wirklichkeiten im späten 18. und 19. Jahrhundert, in: ebd., S. 85–117; DIES.: Die Polarisierung der „Geschlechtscharaktere“. Eine Spiegelung der Dissoziation von Erwerbs- und Familienleben, in: WERNER CONZE (Hg.): Sozialgeschichte der Familie in der Neuzeit Europas. Neue Forschungen, Stuttgart 1976, S. 363–393.

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messen historisch wahrnehmen zu können, wäre es hilfreich, wenn jeweils für einzelne Liberale eine systematische Gesamtschau und Analyse ihrer Äußerungen zu öffentlich-privaten Themen, d. h. zu den allgemeinen wünschenswerten Staats- und Politikverhältnissen ebenso wie zu den Geschlechter-, Ehe- und Familienverhältnissen ausgearbeitet würde. Mehr Tiefenschärfe erhielte eine solche Gesamtschau, wenn auch die Aktivitäten, Antriebe, Erfahrungen und Erwartungen von Männern in Beruf, Politik, Ehe und Familie berücksichtigt würden.19 So dürfte etwa die Kritik und Abwehr der geburtsständischen Privilegien des Adels, welche die programmatisch auf das Individuum ausgerichteten liberalen Bürger einte, ihnen wohl auch nahegelegt haben, sich nur zurückhaltend dazu zu äußern, dass Verwandtschaftsbeziehungen, Heiratskreise und deren strategische Ausgestaltung selbstverständlich auch in ihren eigenen Gruppierungen weiterhin für das soziale und beruÁiche Fortkommen höchst förderlich, ja unverzichtbar waren. Ein vermeintlich allein der Leistung verpÁichteter Universitätsprofessor würde vermutlich kaum an die große Glocke hängen, dass und wie er nachgeholfen hat, seinen Schüler und zukünftigen Schwiegersohn gut zu platzieren. Vetternwirtschaft gab es allenthalben.20 Auch brachten vor und während der Revolution von 1848/49 Frauen und Männer – wie Carola Lipp zeigt – mit Hilfe ihrer verwandtschaftlichen Netzwerke eine regional ausgreifende politische Mobilisierung zustande.21 Für verheiratete ebenso wie für ledige, geschiedene und verwitwete und eheverlassene Frauen, die sich für die Verbesserung der bürgerlichen Verhältnisse interessierten und einsetzten, blieben im 19. Jahrhundert allerdings Ehe und Familie der selbstverständliche Dreh- und Angelpunkt ihrer privat-öffentlichen Aktivitäten. Ebenso wie liberale Männer orientierten sich auch liberale Frauen an der Norm der immer intensiver diskursiv ausgestalteten „natürli19 Anregende Beispiele sind u. a.: GUNILLA FRIEDERIKE BUDDE: Auf dem Weg ins Bürgerleben. Kindheit und Erziehung in deutschen und englischen Bürgerfamilien 1840–1914, Göttingen 1994; STEFAN BRAKENSIEK: Fürstendiener – Staatsbeamte – Bürger. Amtsführung und Lebenswelt der Ortsbeamten in niederhessischen Kleinstädten (1750–1830), Göttingen 1999; CHRISTINA VON HODENBERG: Die Partei der Unparteiischen. Der Liberalismus der preußischen Richterschaft 1815–1848/49, Göttingen 1996. 20 Vgl. MARITA BAUMGARTEN: Professoren und Universitäten im 19. Jahrhundert. Zur Sozialgeschichte deutscher Geistes- und Naturwissenschaftler, Göttingen 1997; THERESA WOBBE (Hg.): Frauen in Akademie und Wissenschaft. Arbeitsorte und Forschungspraktiken 1700–2000, Berlin 2002; DIES. (Hg.): Zwischen Vorderbühne und Hinterbühne. Beiträge zum Wandel der Geschlechterbeziehungen in der Wissenschaft vom 17. Jahrhundert bis zur Gegenwart, Berlin 2003. 21 CAROLA LIPP: Substructures of Local Power. German City Elites and Kinship in the Nineteenth Century, in: STEFAN COUPERUS / CHRISTIANNE SMIT / DIRK JAN WOLFRAM (Hg.): In Control of the City. Local Elites and the Dynamics of Urban Politics, 1800–1960, Leuven 2007, S. 15–27, 204–207; CAROLA LIPP: Verwandtschaft – ein negiertes Element in der politischen Kultur des 19. Jahrhunderts, in: Historische Zeitschrift 282 (2006), S. 31–77; und ihre Beiträge in: DIES. (Hg.): Schimpfende Weiber und patriotische Jungfrauen. Frauen im Vormärz und in der Revolution von 1848/49, Moos/Baden-Baden 1986.

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chen“ Differenz und unterschiedlichen Zuständigkeit der Geschlechter. Das innerhalb und außerhalb des Familienhaushaltes ausgestaltete bürgerliche Ansehen des ehelich verbundenen „Arbeitspaares“ früherer Zeiten22 scheint auch noch unter den veränderten Bedingungen des 19. Jahrhunderts fortgewirkt zu haben. Innerhalb dieses Horizonts formulierten bürgerliche Frauen ihre mit einer allgemeinen Liberalisierung verbundenen Erwartungen und Forderungen. Frauen verlangten befreit zu werden von dem Zwang, eine vom Vater arrangierte Ehe eingehen und sich innerhalb der Ehe der Vormundschaft und Disziplinargewalt des Ehemannes fügen zu müssen. Um eine ohne Zuneigung geschlossene Versorgungsehe vermeiden und mit eigener Kraft ihren Lebensunterhalt verdienen zu können, forderten sie bessere Erwerbs- und Bildungschancen. Eine über die Einweisung in die Geschäfte der Haushaltsführung hinausgehende Bildung begründeten sie immer auch mit der Notwendigkeit, eine bürgerliche Mutter müsse gebildet sein, um ihre Töchter und Söhne erziehen und dem Ehemann ebenso wie dem Vaterland und der Nation nach Art der Frauen unterstützend zur Seite stehen zu können. Schriftstellerinnen unterbreiteten ihrem keineswegs nur weiblichen Lesepublikum in Romanen, Traktaten und Artikeln ihre eigene Sicht auf bestehende Verhältnisse und deren Verbesserung.23 Frauen nahmen auf ihre Weise Anteil an den Bewegungen ihrer Zeit, den antinapoleonischen Kriegen, den Sieges- und Nationalfeiern, den Solidarisierungen mit den Freiheitsbewegungen der Griechen und Polen und nicht zuletzt am Vormärz.24 Sie gestalteten die ihnen zustehenden Möglichkeiten privat-öffentlicher Geselligkeiten nach Kräften aus; sie erlangten von Fall zu Fall Zutritt zu Vereinen, auch wenn deren Mitglieder allein Män22 Begriff von HEIDE WUNDER: „Er ist die Sonn, sie ist der Mond“. Frauen in der Frühen Neuzeit, München 1992. 23 Vgl. z. B. über Mathilde Franziska Anneke SUSANNE KILL: Wach geküßt von der Poesie. Eine Strategie weiblicher Emanzipation, in: DIETER HEIN / ANDREAS SCHULZ (Hg.): Bürgerkultur im 19. Jahrhundert. Bildung, Kunst und Lebenswelt, München 1996, S. 53–65. An neueren literaturwissenschaftlichen Beiträgen siehe u. a. BARBARA BECKER-CANTARINO: Schriftstellerinnen der Romantik. Epoche – Werk – Wirkung, München 2000; MARION FREUND: „Mag der Thron in Flammen glühn“. Schriftstellerinnen und die Revolution von 1848/49, Königstein i. T. 2004; IRINA HUNDT (Hg.): Vom Salon zur Barrikade. Frauen der Heine-Zeit, Stuttgart/Weimar 2002; CHRISTINE OTTO: Variationen des „Poetischen Tendenzromans“. Das Erzählwerk von Louise Otto-Peters, Pfaffenweiler 1995; eine beispielhafte geschichtswissenschaftliche Analyse der Schreib- und Veröffentlichungsaktivitäten von Frauen bietet ULRIKE WECKEL: Zwischen Häuslichkeit und Öffentlichkeit. Die ersten deutschen Frauenzeitschriften im späteren 18. Jahrhundert und ihr Publikum, Tübingen 1998. 24 Vgl. IDA BLOM / KAREN HAGEMANN / CATHERINE HALL (Hg.): Gendered Nations. Nationalism and Gender Order in the Long Nineteenth Century, Oxford/New York 2000; Frauen und Nation, hg. v. Frauen & Geschichte Baden-Württemberg, Tübingen 1996; UTE PLANERT (Hg.): Nation, Politik und Geschlecht. Frauenbewegungen und Nationalismus in der Moderne, Frankfurt a. M./New York 2000.

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ner waren; sie gründeten schließlich auch selbst Frauenvereine für Zwecke außerhäuslicher Kriegsopferversorgung, Wohltätigkeit, Mädchenbildung.25 Sylvia Paletschek hat für die Deutschkatholiken und freien Gemeinden des Vormärz herausgearbeitet, wie stark der Aufbruch aus den etablierten Kirchen auch Hoffnungen auf die 1792 von Theodor Hippel vorgedachte „Bürgerliche Verbesserung der Weiber“ beÁügelte und Frauen und Männer veranlasste, Verbesserungsvorschläge für die privat-öffentlichen Verhältnisse in Gemeinde und Familie zu formulieren.26 Dieses Momentum tritt besonders eindrucksvoll in einem für den deutschsprachigen Raum extrem wagemutigen utopischen Gesellschaftsentwurf zutage, der sich, wie schon Rainer Koch hervorgehoben hat, in überraschender Breite auf ein erweitertes Politikfeld einlässt.27 Der Autor ist der 1848 in der Frankfurter Nationalversammlung als Demokrat hervorgetretene Julius Fröbel (1805–1893).28 Er veröffentlichte sein zweibändiges „System der socialen 25 Vgl. GISELA METTELE: Der private Raum als öffentlicher Ort. Geselligkeit im bürgerlichen Haus, in: D. HEIN / A. SCHULZ, Bürgerkultur (wie Anm. 23), S. 155–169; RITA HUBERSPERL: Frauenvereine und Männervereine in historischer Perspektive (1750–1850), in: HELMUT REINALTER (Hg.): Politische Vereine, Gesellschaften und Parteien in Zentraleuropa 1815–1848/49, Frankfurt a. M. u. a. 2005, S. 217–242; RITA HUBER-SPERL (Hg.): Organisiert und engagiert. Vereinskultur bürgerlicher Frauen im 19. Jahrhundert in Westeuropa und den USA, Königstein i. T. 2002; ULRIKE WECKEL: Der „Mächtige Geist der Assoziation“. Ein- und Ausgrenzungen bei der Geselligkeit der Geschlechter im späten 18. und frühen 19. Jahrhundert, in: Archiv für Sozialgeschichte 38 (1998), S. 57–77. 26 SYLVIA PALETSCHEK: Frauen und Dissens. Frauen im Deutschkatholizismus und in den freien Gemeinden 1841–1852, Göttingen 1990. 27 RAINER KOCH: Demokratie und Staat bei Julius Fröbel. Struktur und Scheitern einer staatsbürgerlichen Utopie, Wiesbaden 1978. 28 Julius Fröbel erhielt nach seines Vaters Tod 1814 seine Schulbildung unter der Obhut seines Onkels Friedrich. Nach seinem Universitätsstudium fand er 1833 in Zürich als Professor für Mineralogie eine Anstellung, heiratete dort 1838 Kleopha Zeller, die Tochter eines Zürcher Seidenfabrikanten, und widmete sich mit deren Ànanzieller Unterstützung ab 1840 ganz dem Verlag demokratischer Schriften. 1843 verbrachte er zusammen mit Kleopha und dem vierjährigen Sohn mehrere Monate in Paris. Er gehörte als demokratischer Abgeordneter der Frankfurter Nationalversammlung an und reiste Anfang Oktober 1848 zusammen mit Robert Blum als Delegierter der Vereinigten Linken nach Wien. Involviert in die Wiener Straßenkämpfe wurde Blum nach dem Sieg der Reaktion am 9. 11. standrechtlich erschossen, während Fröbel mit dem Leben davonkam. Er schiffte sich im September 1849 nach New York ein. Kleopha, die nachkommen sollte, starb wenige Wochen nach Fröbels Abreise. Fröbel versuchte sich in Amerika an verschiedensten Erwerbsprojekten, sorgte für die Ausbildung seines Sohnes und ging im Frühsommer 1856 eine zweite Ehe ein mit der 1821 geborenen Karoline Möders, einer Tochter des Grafen Joseph Ludwig von Armansperg. Sie hatte 1848/49 den badischen Demokraten Florian Möders geheiratet und war mit ihm ins Exil gegangen. Möders starb kurz nach der Ankunft in den USA und die mittellose Witwe verdiente seitdem für sich und ihr Kleinkind den Unterhalt. Fröbel kehrte mit seiner neuen Familie im Juli 1857 nach Europa zurück und betätigte sich hier zunächst als Journalist und Autor. Zur Biographie vgl. u. a. R. KOCH, Demokratie (wie Anm. 27), S. 12f, 26, 254f.

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Politik“ zuerst 1846 unter Pseudonym und 1847 in zweiter AuÁage mit seinem Namen.29 Er habe, so urteilte Julius Fröbel 1861 in der Vorrede zu seiner ebenfalls zweibändigen „Theorie der Politik als Ergebnis einer erneuerten Prüfung demokratischer Lehrmeinungen“ sein „System der socialen Politik“ 1847 „mit der ganzen Dreistigkeit des revolutionären Geistes von welchem ich damals erfüllt war“, niedergeschrieben.30 Seinem 1847 eher umständlichen theoretischen Argumentieren fehlte allerdings noch gänzlich der Schwung, mit dem er 1848 in einer kleinen politischen Kampfschrift sein politisches Credo verkündete: „Wir wollen die sociale Republik, d.h. den Staat in welchem das Glück, die Freiheit und die Würde jedes Einzelnen als gemeinsamer Zweck Aller anerkannt ist, und die Rechtsund Machtvollkommenheit der Gesellschaft aus der Verständigung und Vereinbarung aller ihrer Glieder entspringt.“31

Es interessiert hier weniger, wie Fröbel 1846/47 zunächst die allgemeinen anthropologischen Grundlagen der Politik bestimmt, dann die Gleichheit der Individuen vor und in dem Recht als nicht aufhebbares Urrecht ableitet und schließlich eine „Principielle und systematische Aufstellung unveräußerlicher Menschenrechte“ anbietet.32 Bis zu dieser Ableitung ist für den Autor das Geschlecht der Individuen und Einzelnen ohne Bedeutung. Das Geschlechterverhältnis wird ihm jedoch wichtig, sobald er „Die Thatsachen der Wirklichkeit als negatives Element der Politik“ diskutiert und dabei Natur und Kultur für den Menschen als Abhängigkeit, Bestimmung und Überwindbarkeit und deren Wirkungen auf individuelle Charaktere erörtert.33 Die auch für Fröbel gemäß dem zeitgenössischen Muster gegensätzlich männlich oder weiblich ausgeprägten Geschlechtscharaktere verlangen, so seine Prämisse, nach Ergänzung. Um bei dieser schließlich durch „Freiheit und Reichthum des Verkehrs der Geschlechter“ zur „Versittlichung der Geschlechtsliebe“ zu gelangen, müsse vorher für Weib und Mann die „Lösung der Befangenheit der Natur wie der Cultur“ erreicht sein. Notwendig sei dazu vor allem die „Anerkennung der persönlichen Selbständigkeit des Weibes, ohne welche eine sittliche Vollendung des gesellschaftlichen Lebens überhaupt nicht gedacht werden kann.“34 Dieses Postulat ergibt sich für Fröbel aus der an späterer Stelle formulierten Quintessenz seiner Überlegungen: 29 JULIUS FRÖBEL: System der socialen Politik, Theil I und II, Mannheim 21847. 30 JULIUS FRÖBEL: Theorie der Politik, als Ergebnis einer erneuerten Prüfung demokratischer Lehrmeinungen, Bd. 1, Wien 1861, S. V. 31 JULIUS FRÖBEL: Monarchie oder Republik?, Mannheim 1848, S. 6. 32 J. FRÖBEL, System (wie Anm. 29), Theil I, S. 145–158. 33 Ebd., Theil I, S. 160–459, Überschrift zum 3. Buch. 34 Ebd., Theil I, 3. Buch, 6. und 7. Capitel: Das Geschlechterverhältniß, S. 205–230, Zitate S. 216, 224, 229.

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„Da leibliche Gesellschaft nur aus den Einzelnen, geistig dieselbe nur inden Einzelnen besteht, – da das ganze Bewußtsein der Gesellschaft im Bewußtsein der Einzelnen ruht – da jeder Einzelne in seinem Bewußtsein sich als Selbstzweck auffassen muß – da sogar [...] die selbständige Persönlichkeit die Bedingung der Möglichkeit aller Sittlichkeit ist, – so ist klar, daß das ganze Leben der Gesellschaft vom Egoismus, d. h. von den Interessen der einzelnen Persönlichkeiten ausgehen muß, und daß die Gesellschaft in ihrer vollkommensten Ausbildung nichts Anderes werden kann als die mit Klarheit durchgeführte Association und Organisation des Egoismus Aller.“35

Ausgehend von diesen Annahmen entwickelt Fröbel im Zusammenhang mit seinen Vorschlägen zur Organisation des Staates eine „Verfassungsskizze als Entwurf zur Constituierung der Freiheit in einem größeren Gemeinwesen“.36 Deren zweiter Grundsatz lautet: „Unsere Staatsgesellschaft besteht aus zweierlei Mitgliedern: Vollberechtigten und Schutzgenössigen. Vollberechtigt ist jedes Mitglied männlichen oder weiblichen Geschlechtes, welches das 20. Altersjahr überschritten hat, im vollen Besitz seiner Geistesfähigkeiten ist und nicht durch eine gesetzwidrige Handlung sich eine eben in Kraft seiende Suspension seiner politischen Mündigkeit zugezogen hat.“

Die prinzipielle Gleichberechtigung von Frauen ist, das weiß auch Fröbel, ein sehr kühner Vorschlag. Er schränkt ihn deshalb umgehend mit folgendem Zusatz ein: „In Betreff des weiblichen Geschlechtes soll die Gesetzgebung durch allmälige nähere Verfassungsbestimmungen den Weg suchen, wie dasselbe zur reellen Anerkennung seiner vollen Berechtigung gelangen kann, ohne einen zu schroffen Bruch mit den bisherigen Sitten eintreten zu lassen.“37

Erstaunlicherweise geht Fröbel trotz dieses Vorbehalts in seinen nachfolgenden Überlegungen noch einen entscheidenden Schritt weiter. Als er die Bedeutung der Ökonomie als Inhalt des Staatslebens erörtert, reserviert er ein Kapitel für „Die ökonomische Emancipation des Weibes“.38 Das Weib müsse, um seine sittliche und politische Unabhängigkeit zu erreichen, „unter allen Umständen ökonomisch frei sein.“ Dazu sei das Recht auf freien Erwerb und die Befreiung von der Vormundschaft des Mannes erforderlich: „Die Gemeinsamkeit der Oekonomie mit einem geliebten Manne muß dem freien Willen überlassen bleiben. [...] Ist das Weib als Mutter unfähig, andere Arbeiten als die der Erziehung und PÁege ihrer Kinder zu verrichten, so muß es Ansprüche auf eine entsprechende Pension der Gesellschaft haben,“ und zwar unabhängig vom Willen des Kindsvaters. „Kurz die Individuen weiblichen Geschlechts müssen in allen den verschiedenen Formen des ökonomischen Verhältnisses zur Gesellschaft stehen können, welche für die Männer zulässig und möglich sind.“ 35 36 37 38

Ebd., Theil I, 4. Buch, S. 460f (Hervorhebungen im Original). Ebd., Theil II, 2. Buch, 19. Capitel, S. 292–320, Kapitelüberschrift. Ebd., Theil II, S. 293f. Ebd., Theil II, 3. Buch, 14. Capitel, S. 426f, auch nachfolgende Zitate (Hervorhebung im Original).

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Für Fröbel steht fest, dass eine solche ökonomische Emanzipation des Weibes weitreichende Konsequenzen für die Geschlechterverhältnisse haben wird.39 Allein auf dieser Grundlage könne sich in den Geschlechterverhältnissen die Freiheit entwickeln. Der Staat müsse dann nicht länger Ehe und Familie kontrollieren und die Geschlechterverhältnisse normieren. „Weib und Mann sollen als freie Individuen nach freier Wahl in geschlechtlichen Verkehr treten können.“ Die nun freien und mannigfaltigen Zwecke würden „mannigfaltige Formen der häuslichen Association zur Folge haben [...].“ Ja, selbst eine erhöhte Freisetzung der Einzelnen für das öffentliche Leben und dessen Verbesserung sei zu erwarten.40 Nachdem Julius Fröbel 1857 nach achtjährigem Exil aus den Vereinigten Staaten nach Deutschland zurückgekehrt war, revidierte er mit seiner 1861 und 1864 veröffentlichten zweibändigen „Theorie der Politik“ seine früheren radikaldemokratischen Positionen.41 Er versteht sich nun als liberaler Realpolitiker, der sich von der „abstrakten Menschengleichheit“ der Demokraten verabschiedet hat. Er erklärt sich „durch thatsächliche Erscheinungen der Natur- wie der Culturgeschichte“ überzeugt von der machtpolitischen Konkurrenz der Nationen und Weltmächte, der Kulturmission der überlegenen weißen gegenüber allen anderen Rassen und vom Faktum der Ungleichheit von Menschen.42 Von der vollen Teilhabe an den Freiheitsrechten und speziell der Gesetzgebung schließt er nun zusätzlich zu den Jugendlichen, Schwachsinnigen und gerichtlicht Verurteilten auch „die gänzlich ungebildeten und unbemittelten Volksclassen“ und generell das weibliche Geschlecht aus. Es entspreche dem „geschlechtlichen Berufe“, wenn derzeit „auf jeder politischen Schaubühne der Welt das weibliche Geschlecht nur eine untergeordnete Rolle spielen würde.“43 Begründet sei dieses in der auf Lebenszeit bestehenden Ungleichheit der Geschlechter: „Die leiblichen und geistigen Thatsachen an welche das weibliche Geschlecht gebunden ist, lassen es nicht zu, daß dasselbe die politische und sogar die sociale Gleichstellung mit den Männern auch nur wünschen könnte.“44 Denn weder die politische noch die soziale Gleichstellung entspreche dem eigenen Interesse des weiblichen Geschlechts, entzöge sie doch der geschlechtlichen Beziehung zwischen den Geschlechtern die Attraktion der Andersartigkeit. Die „sogenannte Frauen-Emancipation“ sei

39 Ebd., Theil II, 3. Buch, 20. Capitel, S. 440–448, nachfolgende Zitate S. 447f. 40 Ebd., S. 450–454. 41 JULIUS FRÖBEL: Theorie der Politik, als Ergebnis einer erneuerten Prüfung demokratischer Lehrmeinungen, Bd. 1: Die Forderungen der Gerechtigkeit und der Freiheit im State [sic], Wien 1861, Bd. 2: Die Thatsachen der Natur, der Geschichte und der gegenwärtigen Weltlage, als Bedingungen und Beweggründe der Politik, Wien 1864. 42 Ebd., Bd. 2, Zitate S. 25, 44; zur Ungleichheit der Rassen und Völker vgl. Bd. 1, S. 285f, Bd. 2, S. 338–362. 43 Ebd., Bd. 1, S. 278, 280f. 44 Ebd., Bd. 2, S. 16f.

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außerdem schädlich, würde doch durch die daraus resultierende „AuÁösung der Familie das Princip der Autorität und Legitimität“ zerstört werden.45 Allerdings lässt Fröbel Frauen durchaus weiterhin „Antheil an den öffentlichen Angelegenheiten nehmen“, da nämlich Natur und sittliches Gefühl „dem weiblichen Geschlechte die rechte Stellung im State [sic] und in der Gesellschaft verschaffen wird.“ Ja, Fröbel macht sich sogar ausdrücklich stark für einen erweiterten Politikbegriff: „Politik geht nicht nur in Parlamenten, Ministerräthen und Bureaux vor sich: ein wichtiger Theil derselben begibt sich in der Familie, und in den Kreisen des Privatlebens, die man im engeren Sinne die Gesellschaft zu nennen pÁegt. Hier ist der EinÁuß der Frauen in vielen Beziehungen ein entscheidender, und das politische Leben eines Volkes muß noch sehr roh sein, wo nicht die gesellschaftliche Einwirkung der Frauen den Gang des Staatslebens wesentlich mit bestimmen hilft.“46

In der Tat war diese – in der historischen Bürgertums- und Liberalismusforschung lange nicht beachtete – Art der EinÁussnahme des weiblichen Geschlechts im 19. und 20. Jahrhundert, wie bereits erläutert, durchaus vorhanden und nicht nur für die weitere Entwicklung der bürgerlichen Gesellschaft, sondern auch für die seit den 1860er Jahren erstarkende organisierte Frauenbewegung in Deutschland sehr wichtig.47 3. Abschließende Thesen Ich habe das Thema Frauenemanzipation erstens als eine bei Weitem noch nicht eingelöste Herausforderung für die historische Liberalismusforschung und zweitens als ein schon in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts sehr breit ausgelegtes und in Ehe- und Familienverhältnisse hineinreichendes Politikfeld vorgestellt. Zwei sehr generelle Fragen habe ich bislang nicht gestellt. Ich will sie auch jetzt am Schluss meiner Ausführungen nicht beantworten, aber zumindest noch formulieren: 1. Was hat Frauenemanzipation, verstanden als Herstellung von Rechtsund Chancengleichheit mit Männern, zu verschiedenen historischen Zeiten und für Frauen aus unterschiedlichen sozialen, wirtschaftlichen, religiösen Milieus jeweils bedeutet? War sie ihnen gleichgültig, brachte sie eher Vor- oder Nachteile, wurde sie von Frauen verschiedener Generationen und Lebenssi-

45 Ebd., Bd. 2, S. 18, 16. 46 Ebd., Bd. 2, S. 19f. 47 Eindrucksvoll tritt die Relevanz solcher öffentlicher Frauenaktivitäten zutage in der Studie von KIRSTEN HEINSOHN: Politik und Geschlecht. Zur politischen Kultur bürgerlicher Frauenvereine in Hamburg, Hamburg 1997. Eine hilfreiche knappe Einführung in Kenntnis- und Forschungsstand bietet ANGELIKA SCHASER: Frauenbewegung in Deutschland 1848-1933, Darmstadt 2006.

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tuationen mehr als Fortschritt oder Rückschritt, als Segen oder Bedrohung wahrgenommen? 2. Ist es nicht doch dem Liberalismus zugute zu rechnen, dass die seit der Aufklärung politisch virulenten naturrechtlich legitimierten Menschen- und Bürgerrechte auch gegen den erheblichen Widerstand liberaler Politiker und liberaler Politikinhalte im 20. Jahrhundert zögerlich, aber zunehmend erfolgreicher und immer umfassender auch den Menschen weiblichen Geschlechts zuerkannt worden sind? Statt auf diese Fragen Antworten zu suchen, will ich zum Schluss ausgehend von der politischen Situierung der Frauenemanzipation in vier Thesen zaghafte Vergleiche zur Judenemanzipation wagen.48 Die Vergleiche betreffen nicht zeitliche Parallelen und personelle VerÁechtungen beider Emanzipationsbewegungen sowie Ähnlichkeiten antisemitischer und antifeministische Gegenbewegungen. Die Thesen verweisen vielmehr einzig auf entscheidende strukturelle Unterschiede. 1. Die Gruppe der Juden, um deren In- oder Exklusion es ging, war im Verhältnis zur Mehrheitsgesellschaft verschwindend klein. Bei Frauen handelte es sich dagegen stets um die Hälfte der Menschheit, und an allen Orten und in allen sozialen Schichten war ihre Zugehörigkeit zur Gesellschaft unverzichtbar. 2. Die gesetzliche Emanzipation der Juden brachte für die erprobte Ordnung jüdischer Gemeinschaften erhebliche Irritationen und außerdem die gefürchtete oder erhoffte Aussicht auf eine nun mögliche Assimilation innerhalb der Mehrheitsgesellschaft. Demgegenüber blieben Frauen in ihren eigenen Familien und Haushalten noch lange der obrigkeitlichen Autorität ihres Ehemannes oder Vaters unterstellt. Sie davon privatrechtlich zu emanzipieren bedeutete, Privilegien abzubauen, die den Männern als Ehemännern und Haushaltsvorständen innerhalb ihrer Privatsphäre traditionell zustanden. Anders geartet war das Politikum, den Frauen hinsichtlich ihres öffentlichrechtlichen Status und ihrer sozioökonomischen Platzierung einen gesetzlichen Anspruch auf Gleichberechtigung und Chancengleichheit mit Männern einzuräumen und damit zwischen den Geschlechtern die offene Konkurrenz um Ausbildungs-, Berufs-, Erwerbs- und Partizipationschancen zuzulassen. Beide Emanzipationsaussichten alarmierten immer aufs Neue nicht nur Männer, sondern auch Frauen, drohte doch das grundlegende gesellschaftliche Strukturelement der Geschlechterdifferenz infrage gestellt zu werden. Gegen solche Veränderungen das Menetekel einer drohenden Krise von Ehe und Familie an die Wand zu 48 Sehr anregend ist hierzu D. HERZOG, Intimicy (wie Anm. 15), die die wechselseitige BeeinÁussung zeitgleicher Diskurse und politischer Entscheidungen zu Gleichheit und Differenz hinsichtlich Juden und Frauen untersucht. Vgl. auch KIRSTEN HEINSOHN / STEFANIE SCHÜLER-SPRINGORUM (Hg.): Deutsch-jüdische Geschichte als Geschlechtergeschichte. Studien zum 19. und 20. Jahrhundert, Göttingen 2006.

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malen bewährte sich noch im späten 20. Jahrhundert an den unterschiedlichsten Emanzipationsschauplätzen als wirkungsvoll einsetzbare Abwehrstrategie. 3. Die ausdrückliche Exklusion aus geforderten beziehungsweise in Gang gesetzten Emanzipationsprozessen erforderte im Hinblick auf Juden ebenso wie im Hinblick auf Frauen Begründungen. Doch die Qualität der Begründungen war insofern verschieden, als die gegen die Judenemanzipation gerichtete religiöse, rassistische, kulturelle oder ökonomische Begründung Juden als Gesamtheit traf und deren Fremdheit bekräftigte. Bei der Frauenemanzipation aber wurde mit der Natur-Kultur-Differenzierung die Trennlinie der Geschlechterdifferenz innerhalb der Gesamtgruppe bekräftigt und diese einerseits Männern und Frauen als einzelnen Personen leibhaft zugeschrieben und andererseits gleichzeitig strukturell unter anderem durch die sogenannten natürlichen Arbeitsteilungen verankert und zur Anschauung gebracht. 4. Die in der Abtrennung von Öffentlichkeit und Privatheit wirkungsvoll reÁektierte Kultur-Natur-Differenzierung versetzte Frauen und Männer, die sich politisch aktiv für eine Einbeziehung von Frauen in den Emanzipationsprozess einsetzten, in eine paradoxe Situation. Ihre Forderungen wurden als naturwidrig und als Angriff auf Ehe, Familie und gesellschaftliche Moral diffamiert; und Frauen, die in aller Öffentlichkeit persönlich für derartige Emanzipationsziele eintraten, liefen Gefahr, dass ihnen dieser Verstoß gegen Anstand und Sitte mit der Aberkennung ihrer Weiblichkeit heimgezahlt und so ihr Werben um Bündnispartnerinnen und Bündnispartner wirksam hintertrieben wurde. Mein Nachdenken über Inklusion und Exklusion in Sachen Frauenemanzipation und Liberalismus hat mich nicht zu klaren Grenzziehungen, sondern – um Ute Gerhards Buchtitel von 1977 zu zitieren – zu vielschichtigen Überlagerungen von „Verhältnissen und Verhinderungen“49 zurückgeführt. Es herrscht wahrlich kein Mangel an Zündstoff für weitere Diskussionen über die schwierigen Beziehungen zwischen Frauenemanzipation und Liberalismus. Historiker und Historikerinnen müssten allerdings viel Phantasie, wissenschaftliche Neugier und Forschungsmut einsetzen, um diesen verdeckten Beziehungsgeschichten historisch weiter auf den Grund zu gehen. Es ist zu wünschen, dass sie sich damit zukünftig in der Geschichtswissenschaft weniger Nichtbeachtung, mehr Lorbeeren und in jedem Fall angemessene Auseinandersetzungen einzuhandeln vermögen.

49 UTE GERHARD: Verhältnisse und Verhinderungen. Frauenarbeit, Familie und die Rechte der Frauen im 19. Jahrhundert, Frankfurt a. M. 1978.

Integrationalismus, Konversion und jüdische Differenz. Das Problem des Antisemitismus in der liberalen Öffentlichkeit des 19. Jahrhunderts Uffa Jensen

„On peut déceler chez le démocrate le plus libéral une nuance d’antisémitisme: il est hostile au Juif dans le mesure où le Juif s’avise de se penser comme Juif. Cette hostilité s’exprime par une sorte d’ironie indulgente et amusée, comme lorsqu’il dit d’un ami juif, dont l’origine israélite est aisément reconnaissable: ‘il est tout de même trop juif’ […].“ Jean-Paul Sartre, RéÁexions sur la question juive1

Im Dezember 1880 ergriff der liberale Historiker Theodor Mommsen Partei gegen den Antisemitismus seines Historikerkollegen Heinrich von Treitschke. Nachdem er den erstarkenden Antisemitismus auf das Schärfste verurteilt hatte, erörterte er auf den letzten zwei Seiten seiner Schrift „Auch ein Wort über unser Judenthum“ die Stellung der Juden zur wachsenden antisemitischen Bewegung: „Selbstverständlich“ sei es die PÁicht der Nation, die Juden in ihrer Rechtsgleichheit zu schützen – „und diese unsere PÁicht [...] hängt keineswegs ab von dem Wohlverhalten der Juden.“ Aber man könne sie nicht schützen vor dem „Gefühl der Fremdheit und Ungleichheit“, welches viele „christliche Deutsche“ ihnen gegenüber hegen würden. An der Existenz solcher Gefühle seien die Juden nicht unschuldig, weil sie sich weigerten, sich zum Christentum zu bekennen. „Wem sein Gewissen, sei es positiv oder negativ, es verbietet dem Judenthum abzusagen und sich zum Christenthum zu bekennen, der wird dem entsprechend handeln und die Folgen auf sich nehmen [...]. Aber es ist eine notorische Thatsache, daß eine große Anzahl von Juden nicht durch Gewissensbedenken vom Uebertritt abgehalten wird, sondern lediglich durch ganz andere Gefühle, die ich begreifen, aber nicht billigen kann.“

Am eigentlichen Ziel auch für die Juden hatte Mommsen keine Zweifel – und damit schloss seine Replik gegen Treitschke: „Der Eintritt in eine große Nation kostet seinen Preis; die Hannoveraner und die Hessen und wir Schleswig-Holsteiner sind daran ihn zu bezahlen, und wir fühlen es wohl, daß wir damit von unserem Eigensten ein Stück hingeben. Aber wir geben es dem gemein1

JEAN-PAUL SARTRE: RéÁexions sur la question juive, Paris 1954, S. 68.

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Uffa Jensen samen Vaterland. Auch die Juden führt kein Moses wieder in das gelobte Land; mögen sie Hosen verkaufen oder Bücher schreiben, es ist ihre PÁicht, so weit sie es können ohne gegen ihr Gewissen zu handeln, auch ihrerseits die Sonderart nach bestem Vermögen von sich zu thun und alle Schranken zwischen sich und den übrigen deutschen Mitbürgern mit entschlossener Hand niederzuwerfen.“2

Diese Haltung eines religiös konnotierten Integrationalismus überrascht bei Theodor Mommsen, der bis heute zu Recht als Repräsentant des liberalen Geistes im deutschen Kaiserreich und zudem als entschiedener Vertreter eines aufgeklärten Säkularismus gilt.3 Bereits 1848 war er als überzeugter Kämpfer für die Ideale der Revolution in Erscheinung getreten, wobei er später – wie viele Liberale seiner Generation – durchaus bereit war, realpolitische Kompromisse als Preis für die nationale Einheit zu akzeptieren. Nach der geglückten Reichsgründung von 1871 geriet er dann immer häuÀger in Opposition zum Reichskanzler Bismarck, dem er seine antiliberale Politik ankreidete. Spätestens mit der innenpolitischen Wende Bismarcks, der 1878/79 die Zusammenarbeit mit den Nationalliberalen im Reichstag aufkündigte, wurde Mommsen zu einem entschiedenen Kritiker der wachsenden antiliberalen Stimmung im politischen Kaiserreich. Sein energisches Eintreten gegen die antisemitische Bewegung war in diesem Sinne folgerichtig, sah er darin doch ein gefährliches Instrument im Kampf gegen den Liberalismus. Dass sich ein Jahr zuvor, im November 1879, sein Berliner Kollege und langjähriger Mitstreiter, Heinrich von Treitschke, genau dieser Waffe gegen den Liberalismus bedient und mit seiner Schrift „Unsere Aussichten“ eine breite Debatte über die antisemitische Bewegung und über die Stellung der Juden im noch jungen Kaiserreich ausgelöst hatte, schmerzte Mommsen besonders: „Was er sagte, war damit anständig gemacht. Daher die Bombenwirkung jener Artikel [...]. Der Kappzaum der Scham war dieser ‚tiefen und starken Bewegung‘ abgenommen; und jetzt schlagen die Wogen und spritzt der Schaum.“4 Und in der Tat: Treitschkes Intervention hatte ein enormes Echo hervorgerufen; zahlreiche Repliken waren in Form von Pamphleten, Zeitschriften- und Zeitungsartikeln erschienen. Mommsen hatte sich gleich nach der Veröffentlichung über seinen Kollegen erregt.5 Öffentlich wurde sein Pro2

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Alle Zitate Ànden sich in: THEODOR MOMMSEN: Auch ein Wort über unser Judenthum, Berlin 21880, S. 15f. Vgl. auch KARSTEN KRIEGER (Hg.): Der „Berliner Antisemitismusstreit“ 1879–1881. Eine Kontroverse um die Zugehörigkeit der deutschen Juden zur Nation. Eine kommentierte Quellenedition im Auftrage des Zentrums für Antisemitismusforschung, München 2003, S. 695–709. Vgl. zu Mommsen STEFAN REBENICH: Theodor Mommsen. Eine Biographie, München 2002; LOTHAR WICKERT: Theodor Mommsen. Eine Biographie, 4 Bde., Frankfurt a. M. 1959–1980. TH. MOMMSEN, Wort (wie Anm. 2), S. 11. In einem Brief an Hermann Grimm berichtete Treitschke von Mommsens Auftreten bei einer Abendveranstaltung im Hause des Professors Wilhelm Wattenbach, die am 26. Januar 1880 stattgefunden haben muss. Mommsen sei leicht angetrunken gewesen und

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test allerdings erst im folgenden Winter, nachdem sich die antisemitische Bewegung in Berlin weiter ausgebreitet und sich liberaler Widerstand in Form einer öffentlichen Erklärung formiert hatte, die auch von Mommsen unterschrieben worden war.6 Es handelte sich also keineswegs um einen einzelnen Streit, wie der etwas unglückliche Name „Berliner Antisemitismusstreit“ suggeriert, der sich in der deutschen Geschichtswissenschaft für diese Auseinandersetzungen eingebürgert hat.7 Vielmehr widersprachen in einer ersten Phase im Winter 1879/1880 viele jüdische Autoren Treitschkes Thesen in unzähligen Artikeln und Pamphleten. Monate später, im Herbst 1880, kam es dann zur zweiten Auseinandersetzung, diesmal zwischen Treitschke und Mommsen. Trotz eines deutlichen Antagonismus in der politischen Argumentation waren die Unterschiede zwischen Mommsen und Treitschke jedoch längst nicht so markant, wenn es um die Frage der Juden ging, auch wenn bei Mommsen der gehässige Tonfall Treitschkes fehlte. Beide forderten, wie die zitierten Passagen aus Mommsens Text zeigen, von den Juden die möglichst komplette Integration durch die Aufgabe einer jüdischen Identität. So schrieb denn auch der Berliner Literaturhistoriker und Freund beider Männer, Hermann Grimm, verwundert an Mommsen: „[...] ich habe die Lectüre Ihrer Schrift mit dem seltsamen Gefühl beendet, daß Sie nichts anderes sagen als was Treitschke gesagt hat […].“8 Der Philologe Wilhelm Henzen glaubte, dass mit dieser Schrift Mommsens doch eine Verständigung mit dem „leidenschaftlichen Treitschke“ möglich sein müsste.9 Wo lagen die Unterschiede in den Argumentationen der beiden Kontrahenten? Was lässt sich daraus für die Geschichte des Liberalismus und dessen Auseinandersetzung mit dem Antisemitismus lernen? Und genauer: welche Rolle spielte die konkrete Argumentation

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habe „geradezu toll“ über die „Judensache“ gesprochen. Heinrich von Treitschke an Hermann Grimm, 28. 1. 1880, in: ALEXANDER DEMANDT: Mommsen in Berlin, in: WOLFGANG TREUE / KARLFRIED GRÜNDER (Hg.): Berlinische Lebensbilder – Wissenschaftspolitik in Berlin. Minister, Beamte, Ratgeber, Berlin 1987, S. 149–173, hier S. 167. Vgl. Erklärung, in: National-Zeitung, 14. 11. 1880. Mommsen hatte zuvor seine öffentliche Kritik an Treitschke nur verklausuliert vorgetragen. Vgl. THEODOR MOMMSEN: Rede zur Vorfeier des Geburtstages des Kaisers, in: DERS.: Reden und Aufsätze, Berlin 1905, S. 89–103. Der Begriff entstammt: WALTER BOEHLICH (Hg.): Der Berliner Antisemitismusstreit, Frankfurt a. M. 1965. Vgl. zu diesem Streit CHRISTHARD HOFFMANN: Geschichte und Ideologie. Der Berliner Antisemitismusstreit 1879/81, in: WOLFGANG BENZ / WERNER BERGMANN (Hg.): Vorurteil und Völkermord. Entwicklungslinien des Antisemitismus, Freiburg i. Br. 1997, S. 219–251; UFFA JENSEN: Getrennt streiten – getrennt leben? Der doppelte Streit um Heinrich von Treitschkes Antisemitismus unter gebildeten Bürgern (1879–1881), in: WerkstattGeschichte 38 (2004), S. 3–25; DERS.: Gebildete Doppelgänger. Bürgerliche Juden und Protestanten im 19. Jahrhundert, Göttingen 2005. Hermann Grimm an Theodor Mommsen, 11. 12. 1880, in: Staatsbibliothek zu Berlin – Preußischer Kulturbesitz (künftig: SBB PK), NL Theodor Mommsen, 39. Wilhelm Henzen an Theodor Mommsen, 18. 12. 1880, in: SBB PK, NL Theodor Mommsen, 50.

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Mommsens? Wieso empfahl gerade er den Juden eine Konversion zum Christentum? Wieso drängte auch Mommsen auf eine möglichst vollständige Integration der Juden, die an die komplette Aufgabe einer jüdischen Identität grenzte? Die bis heute häuÀg zu Àndende Gegenüberstellung des aufrechten Liberalen Mommsen gegen den antisemitischen Nationalisten Treitschke reproduziert eine bestimmte Vorstellung vom deutschen Liberalismus, der den zeitgenössischen antisemitischen Umtrieben aufgrund liberaler Prinzipien entgegengetreten sei. „Die Liberalen erschienen als die treuesten und zuverlässigsten Freunde der Juden, da sie durch ihre Prinzipien zur Judenemanzipation verpÁichtet waren. Tatsächlich entwickelte sich so in den fünfziger, sechziger und frühen siebziger Jahren, dem ‚goldenen Zeitalter‘ des Liberalismus, eine enge Partnerschaft zwischen einem Großteil des deutschen Judentums und dem Liberalismus [...].“10

Zugleich erscheint damit der zeitgenössische Antisemitismus als eine radikale Haltung des nationalistischen oder gar rassistischen Lagers auf der extremen Rechten. Mommsens Auslassungen sollen in diesem Zusammenhang zum Anlass genommen werden, über das Verhältnis von Liberalismus, Antisemitismus und – christlicher wie jüdischer – Religion genauer nachzudenken. Sie sind, so wird im Folgenden argumentiert, Ausdruck und Resultat eines innerliberalen Unbehagens über jüdische Differenz, das sich spätestens mit der Reichsgründung politisieren sollte und damit zugleich auch unter den Liberalen größere Überzeugungskraft für antisemitische Argumentationsmuster entstehen ließ. Dieses Unbehagen half, bei sonst politisch unterschiedlich denkenden Personen integrationalistische Vorstellungen zu erneuern und zu verschärfen, das heißt, Forderungen an die Juden zu stellen, sich möglichst vollständig zu integrieren. Die Sicht der historischen Forschung zu diesem Themenkomplex ist relativ klar. Zwar existieren aufklärungskritische Großnarrative, die anhand des historischen Beispiels der deutschen Juden eine (liberale) Emanzipationslogik als „powerful and relentless drive to extirpate differences“ zu entlarven versuchen.11 Generell gelten Liberalismus und Antisemitismus jedoch als politische Gegensätze.12 In den Studien zum deutschen Liberalismus im 19. Jahrhundert kommen Juden folglich selten vor, Antisemitismus noch weniger.13 10 WERNER E. MOSSE: Einleitung. Deutsches Judentum und Liberalismus, in: Das deutsche Judentum und der Liberalismus – German Jewry and Liberalism. Dokumentation eines internationalen Seminars der Friedrich-Naumann-Stiftung in Zusammenarbeit mit dem Leo Baeck Institute London, Sankt Augustin 1986, S. 15–21, hier S. 17. 11 ZYGMUNT BAUMANN: Modernity and Ambivalence, Cambridge 1991, S. 111. 12 Eine Ausnahme bildet die folgende philosophie- und ideologiegeschichtliche Arbeit: HANS-JOACHIM SALECKER: Der Liberalismus und die Erfahrung der Differenz. Über Bedingungen der Integration der Juden in Deutschland, Berlin/Bodenheim 1999. 13 Vgl. etwa JAMES J. SHEEHAN: Der deutsche Liberalismus. Von den Anfängen im 18. Jahr-

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Auch die Antisemitismusforschung beschäftigte sich nur ausnahmsweise mit Liberalen.14 Das Aufkommen des modernen Antisemitismus im Jahrzehnt nach der Reichsgründung 1871 wird, im Gegenteil, mit dem Ende der liberalen Ära in der Reichspolitik assoziiert.15 Der politische Antisemitismus, so stellt etwa Peter Pulzer für Deutschland und Österreich fest, sei vor allem eine politische Reaktion gegen die liberale Ideologie gewesen: „It Áourished when it did because to many people Liberalism seemed undesirable and harmful.“16 Wenn die Antisemitismusforschung nicht politik-, sondern sozialgeschichtlich argumentiert, wird die Bedeutung der wirtschaftlichen und sozialen Krise der Reichsgründungsphase für das Aufkommen des modernen Antisemitismus in Deutschland hervorgehoben. In diesem Zusammenhang werden die Erfolge, welche Antisemiten wie der Berliner Hofprediger Adolf Stoecker, Ernst Henrici, Bernhard Förster und andere in den 1870er und 1880er Jahren feierten, mit der sozial und wirtschaftlich prekären Lage der unteren Mittelschichten urbaner Zentren erklärt.17 Auch aus einer solchen Perspektive erscheint die Thematisierung antisemitischer Haltungen unter Liberalen, die zumeist den bürgerlichen Mittelschichten angehörten, wenig sinnvoll. Allerdings ist in der Literatur gelegentlich die Rede von einem Opportunismus der (liberalen) Intellektuellen, die sich in der politischen Zeitenwende rasch von ihren ehemals liberalen Überzeugungen verabschiedeten.18 Der Hinweis auf Treitschke fehlt hier selten, verbunden mit dem Diktum, dass er derartige Haltungen in den Kreisen des gebildeten Bürgertums akzeptabel machte.19 Die ofÀzielle Haltung der Liberalen war jedoch, so zeigt sich die Forschung überzeugt, nicht nur durch die Gegnerschaft zum politischen Antisemitismus bestimmt. Auch die prinzipielle Unterstützung der Politik der Judenemanzipation hatte seit dem Beginn des 19. Jahrhunderts zum Grundverständnis des aufgeklärten Liberalismus gehört: „So lange sich die bürgerliche Bewegung im Aufstieg, in der historischen Offensive befand, so lange war die ‚Judenfrage‘ Emanzipationsfrage. Auch wenn Liberale und

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hundert bis zum Ersten Weltkrieg, München 1983; DIETER LANGEWIESCHE: Liberalismus in Deutschland, Frankfurt a. M. 1988. Eine der wenigen Ausnahmen bildet: JACOB KATZ: From Prejudice to Destruction. AntiSemitism, 1700–1933, Cambridge, Mass./London 1980. Vgl. WERNER JOCHMANN: Struktur und Funktion des deutschen Antisemitismus, in: W. BENZ / W. BERGMANN, Vorurteil (wie Anm. 7), S. 177–218. Vgl. auch WERNER JOCHMANN: Gesellschaftskrise und Judenfeindschaft in Deutschland 1870–1945, Hamburg 1988. PETER PULZER: The Rise of Political Anti-Semitism in Germany and Austria, Cambridge, Mass. 21988, S. 29. Paradigmatisch Àndet sich diese Erklärung des Antisemitismus in: HANS ROSENBERG: Große Depression und Bismarckzeit. Wirtschaftsablauf, Gesellschaft und Politik in Mitteleuropa, Berlin 1967. Vgl. W. JOCHMANN, Struktur (wie Anm. 15). Zu Treitschke vgl. ULRICH LANGER: Heinrich von Treitschke. Politische Biographie eines deutschen Nationalisten, Düsseldorf 1998.

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Uffa Jensen vormärzliche Demokraten zögerten, die unbedingte Gleichstellung auszusprechen, blieb doch die Emanzipation und Integration stets das unbezweifelte Ziel ihrer Politik.“20

In der Tat befürworteten die liberalen Parteien die Emanzipation der Juden, bzw. verteidigten diese, nachdem sie mit der Reichsgründung 1871 endgültig reichsweit eingeführt worden war. Zudem ist richtig, dass eine große Mehrheit der deutschen Juden im 19. Jahrhundert ihre politische Heimat im organisierten Liberalismus fand.21 Andererseits ist gezeigt worden, dass bereits im Vormärz die liberale Unterstützung der Emanzipation heftig umstritten22 und nicht durch pro-jüdische Argumente, sondern durch die liberale Auseinandersetzung mit den verschiedenen christlichen Strömungen bedingt war.23 Über den gesamten Zeitraum des 19. Jahrhundert kann außerdem demonstriert werden, dass auch in der liberalen Bewegung teilweise erhebliche Vorbehalte gegen Juden und auch gegen jüdische Politiker des Liberalismus existierten.24 Überhaupt wird das Bild um einiges komplexer, wenn man den Blick vom politischen und organisierten Antisemitismus ab- und den weniger eindeutigen Formen von Ablehnung, von latenten Abneigungen, von Vorbehalten und Ambivalenzen den Juden gegenüber zuwendet. Die entscheidende Frage ist dann jedoch, wie man diese Haltungen einschätzt. Dass sie nicht mit einem offenen und politisch virulenten Antisemitismus vergleichbar sind, liegt auf der Hand; ganz harmlos waren derartige Sichtweisen gleichwohl kaum. Sie lassen sich zudem nicht ohne Weiteres als liberaler Selbstwiderspruch zwischen privaten Ansichten und politischer Prinzipienfrage entschärfen. „Liberale Vorbehalte gegen die Juden wurden hingegen auf der Ebene der Kultur formuliert: man mäkelte an den jüdischen Religionsformen herum, bezweifelte ihre moralische Urteilsfähigkeit und sah nicht, wie Juden ohne die Übernahme liberaler Vorstellungen und Lebensweisen sich in die deutsche Gesellschaft integrieren könnten. Der Grund solcher Vorbehalte ist nicht in persönlicher Antipathie gegen Juden zu suchen – die es auch gab –, sondern reicht tief in die liberale Theoriebildung hinein.“25

20 REINHARD RÜRUP: Emanzipation und Antisemitismus. Studien zur „Judenfrage“ der bürgerlichen Gesellschaft, Göttingen 1975, S. 81. Vgl. allgemein zur Judenemanzipation RAINER ERB / WERNER BERGMANN: Die Nachtseite der Judenemanzipation. Der Widerstand gegen die Integration der Juden in Deutschland 1780–1860, Berlin 1989; sowie in komparativer Perspektive PIERRE BIRNBAUM / IRA KATZNELSON (Hg.): Paths of Emancipation. Jews, States and Citizenship, Princeton 1995; RAINER LIEDTKE / STEPHAN WENDEHORST (Hg.): The Emancipation of Catholics, Jews and Protestants. Minorities and the Nation State in Nineteenth-Century Europe, Manchester 1999. 21 Vgl. JACOB TOURY: Die politischen Orientierungen der Juden in Deutschland. Von Jena bis Weimar, Tübingen 1966. 22 Vgl. R. RÜRUP, Emanzipation (wie Anm. 20), S. 37–73. 23 Vgl. dazu DAGMAR HERZOG: Intimacy and Exclusion. Religious Politics in Pre-Revolutionary Baden, Princeton 1996, S. 52–84. 24 Vgl. etwa ROSEMARIE SCHUDER: Der „Fremdling aus dem Osten“. Eduard Lasker – Jude, Liberaler, Gegenspieler Bismarcks, Berlin 2008. 25 H.-J. SALECKER, Liberalismus (wie Anm. 12), S. 11.

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Vielmehr besteht also der Verdacht, dass hier ein grundlegenderes Problem vorliegt: eine Anfrage an die liberale Konzeption von Emanzipation und Integration der Juden insgesamt.

1. Das Problem von Differenz und die Theorie bürgerlich-liberaler Öffentlichkeit Es wäre zu kurz gegriffen, die Frage nach der Stellung der Juden in der liberalen Öffentlichkeit mit Blick auf die Geschichte liberaler Parteien beantworten zu wollen. Das Problem jüdischer Differenz war wesentlich grundlegender, warf dies doch seit dem Beginn der Emanzipationsdebatte die Frage nach den Vorbedingungen eines liberalen Politikverständnisses auf: Wie muss ein Individuum beschaffen sein, um an der bürgerlich-liberalen Öffentlichkeit teilhaben zu können? Eine derartige Frage durfte es eigentlich gar nicht geben, ging doch die Theorie der bürgerlichen Öffentlichkeit von ihrer prinzipiellen Voraussetzungslosigkeit aus. In diesem Sinne sprach Jürgen Habermas in seiner berühmten Analyse „Strukturwandel der Öffentlichkeit“ von den „ins Selbstverständnis der liberalen Öffentlichkeit eingebauten Rechte[n] auf uneingeschränkte Inklusion und Gleichheit“.26 In der gleichen Weise, in der sich Habermas gegen feministische Kritik verteidigte, die angesichts der Exklusion von Frauen durch die liberal-bürgerliche Öffentlichkeit das Verständnis von Öffentlichkeit in Zweifel zog, könnte man versucht sein, auch im Fall der Juden das Ideal gegen die historische Realität in Stellung zu bringen: Bürgerliche Liberale hätten in der Tat gelegentlich antijüdische Vorurteile gehegt, welche die Umsetzung der Emanzipationsideale behinderten. Dies sei jedoch kein prinzipieller Einwand, da die Ideale jederzeit von den Juden selber gegen ihre Ausgrenzung benutzt werden konnten, was ja in der Tat auch durch die Beteiligung von Juden an der Emanzipationsdebatte geschah. Diese Negierung der liberalen Praxis von innen heraus hätte also gleichzeitig das Selbstverständnis der liberalen Öffentlichkeit gesichert. Der Einwand folgt jedoch sofort: Muss man angesichts der fortbestehenden Problematisierung der jüdischen Differenz nicht nach den Ressourcen fragen, welche der liberalen Öffentlichkeit zur Verfügung standen, um Partizipation zu unterbinden? In einem wichtigen Aufsatz hat Harold Mah die Habermassche Konzeption grundlegend in Frage gestellt, indem er ihre zentrale Voraussetzung in den Blick nimmt: die Abstrahierung vom individuellen Standpunkt. Mit der Bildung der bürgerlichen Gesellschaft habe sich eine Art des gesellschaftlichen Verkehrs etabliert, der laut Habermas auf einem „Takt der Ebenbürtigkeit“ 26 JÜRGEN HABERMAS: Strukturwandel der Öffentlichkeit. Untersuchungen zu einer Kategorie der bürgerlichen Gesellschaft, Frankfurt a. M. 21990, S. 20.

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basiere. „Die Parität, auf deren Basis allein die Autorität des Arguments gegen die der sozialen Hierarchie sich behaupten und am Ende auch durchsetzen kann, meint im Selbstverständnis der Zeit die Parität des ‚bloß Menschlichen‘.“27 Rationale Kommunikation entsteht also nicht unter Gleichen, sondern unter denjenigen, die von ihrer sozialen, wirtschaftlichen oder religiösen Verschiedenheit absehen und sich als gleichsam bloße Menschen inszenieren können. Hiergegen formuliert Mah die entscheidende historische Frage: „[…] the historical problem would be to Àgure out why and how certain groups are able to render their social particularity invisible and therefore make viable claims to universality, while other groups are consigned to public performances that always undo themselves because those performances end up proclaiming their own identity, their social particularity.“28

Wer an der bürgerlich-liberalen Öffentlichkeit gleichberechtigt teilnehmen wollte, musste den eigenen historischen Standpunkt universalisieren können. Zugleich gab dies den Mitgliedern dieser Öffentlichkeit die Option an die Hand, Zugangsbeschränkungen im Namen des „Gemeinwohls“ zu formulieren. Wer im Dienste eines partikularen Interesses auftrat, untergrub seine Legitimität und drohte sein Recht auf Teilhabe zu verwirken. 2. Liberale Politik und die Juden Die Universalisierung des jüdischen Standpunktes war schon lange vor den Auseinandersetzungen zwischen Mommsen und Treitschke das zentrale Problem gewesen. Seitdem im späten 18. Jahrhundert die Debatte über die Judenemanzipation in den deutschsprachigen Ländern aufgekommen war, riss sie gerade in einer liberal-bürgerlichen Öffentlichkeit nicht mehr ab. Bereits der aufgeklärte Bürokrat Christian Wilhelm von Dohm hatte mit seiner Schrift „Ueber die bürgerliche Verbesserung der Juden“ von 1781 eine wichtige Argumentationslinie festgeschrieben, die bis weit ins 19. Jahrhundert das liberalbürgerliche Verständnis von der Rolle der Juden in der Gesellschaft prägen sollte.29 Der beklagenswerte Zustand, in dem auch Dohm die Juden seiner Zeit sah, sei durch die Unterdrückung bedingt: „Alles, was man den Juden vorwirft, ist durch die politische Verfassung, in der sie itzt leben, bewirkt, und jede andre Menschengattung, in dieselben Umstände versetzt, würde sich sicher eben

27 Ebd., S. 97. 28 HAROLD MAH: Phantasies of the Public Sphere. Rethinking the Habermas of Historians, in: The Journal of Modern History 72 (2000), S. 153–182, hier S. 168. 29 Vgl. zu Dohm DAVID SORKIN: The Transformation of German Jewry, 1780–1840, New York/Oxford 1987; JONATHAN M. HESS: Germans, Jews, and the Claims of Modernity, New Haven/London 2002.

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derselben Vergehungen schuldig machen.“30 Im Umkehrschluss hieß dies für Dohm aber auch: Eine aufgeklärte Politik, die diese Schlechterstellung beseitige und den Juden gleiche Rechte wie den Christen gewähre, sei die beste Möglichkeit, aus den Juden „glücklichere, bessere Menschen, nützlichere Glieder der Gesellschaft“ zu produzieren.31 Emanzipation und bürgerliche Verbesserung gehörten seit diesen Tagen für die bürgerlich-liberale Sicht auf die Juden untrennbar zusammen. Nur wenn sich Juden von ihrem Jüdischsein emanzipieren konnten, erhielten sie volles Recht auf Teilhabe am politischen und gesellschaftlichen Leben. Jüdische Identität und bloßes Menschsein drohten sich zu einem Gegensatz zu entwickeln. In dieser liberalen Emanzipationslogik konnte die prinzipielle Unterstützung der Gleichstellung von Juden selbst für einen Liberalen geboten sein, der den Juden ansonsten eher skeptisch bis feindselig gegenüberstand; denn er bekämpfte ja mit seinem Eintreten für die Emanzipation die Grundlage dessen, was er als problematische jüdische Eigenschaften ansah. Die auch unter Liberalen umstrittene Frage war in diesem Zusammenhang eher, ob man glaubte, dass der Charakter der Juden „verbessert“ werden konnte und wie lange dies dauern würde. Bereits der wichtige Gegenspieler Dohms, Johann David Michaelis, hatte hier erhebliche Zweifel angemeldet, welche in den folgenden Jahrzehnten von Liberalen immer wieder aufgegriffen werden sollten.32 Gleichzeitig verhinderte die liberale Emanzipationslogik, dass skeptische und ablehnende Meinungen über Juden und Judentum zu einem prinzipiellen Problem für die Liberalen werden konnten. Solange es keine formelle und reale Gleichstellung der Juden gab, lieferte die faktische Unterdrückung eine wohlfeile Erklärung für das Sonderbewusstsein der Juden. Es ist in der Forschung zum Zusammenhang von Emanzipation und Antisemitismus bisher zu wenig gewürdigt worden, wie sich die postemanzipatorische Lage, die mit der rechtlichen Gleichstellung der Juden spätestens durch die Reichsgründung 1871 eintrat, auf die Debatten über die „Judenfrage“ im Allgemeinen und auf die Diskussionen unter Liberalen im Besonderen auswirkte. Mit dieser veränderten Situation war nun aus liberaler Perspektive eine jüdische Sonderstellung nicht mehr zu rechtfertigen, konnten sich die Juden doch jetzt vorbehaltlos integrieren. Zugespitzt formuliert: Wenn jetzt die Juden noch weiterhin Juden blieben, obwohl man sie gleichgestellt hatte, dann erwiesen sie sich eben doch als unintegrierbar, als Juden durch und durch. Heinrich von Treitschke glaubte daher auch, dass die Emanzipation insofern günstig zu bewerten sei, „als sie den Juden jeden Grund berechtigter Be30 CHRISTIAN KONRAD WILHELM VON DOHM: Über die bürgerliche Verbesserung der Juden (1781/83), NeuauÁ.: Hildesheim/New York 1973, S. 35. 31 Ebd., S. 130. 32 Vgl. zu Michaelis JONATHAN M. HESS: Johann David Michaelis and the Colonial Imaginary. Orientalism and the Emergence of Racial Antisemitism in Eighteenth-Century Germany, in: Jewish Social Studies 6 (2000), H. 2, S. 56–101.

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schwerde entzog.“33 In gewisser Hinsicht verschärfte die Gleichstellung somit die Lage und generierte einen ganz anders gelagerten, eben auch liberalen Integrationalismus als zuvor. Aus dieser Konstellation ergibt sich auch die besondere Bedeutung jener Auseinandersetzungen zwischen Treitschke, den Juden und Mommsen. In diesem doppelten Streit prallten nicht nur unterschiedliche Vorstellungen über Juden, über Antisemitismus und Liberalismus aufeinander. Hier stritten Juden und Protestanten zum ersten Mal öffentlich miteinander – was als solches eine Tatsache von einiger historischer Relevanz ist; denn wer miteinander streitet, teilt den gleichen soziokulturellen Hintergrund – und streitet sich eben doch mit und über diesen.34 Darüber hinaus veränderte der Streit die Debatten über die jüdische Differenz und die nationale Einheit. Allein durch die Tatsache, dass Juden als Juden in der ersten Streitphase Treitschke widersprachen, war zumindest eines erwiesen: nämlich, dass sie bereit waren, sich für die Sache der jüdischen Identität zu engagieren, das heißt, dass sie in diesem Sinne Juden geblieben waren. Treitschke sah sich denn auch durch die Angriffe von Juden bestätigt: „Wenn gleichwohl meine einfachen Worte einen Sturm von erbitterten Erklärungen heraufbeschworen haben, so wird damit nur bewiesen, daß die deutsche Judenfrage, deren Dasein man abzuleugnen sucht, in der That vorhanden ist.“35 Zugleich hatten Juden damit gegen das verstoßen, was Habermas als „Parität des bloß Menschlichen“ beschrieben hatte. Sie mussten als Juden auftreten; sie mussten sich bekennen, wie dem jungen, jüdischen Philosophieprofessor Hermann Cohen in seiner Schrift gegen Treitschke schmerzhaft bewusst war: „Es ist also doch wieder dahin gekommen, daß wir bekennen müssen. Wir Jüngeren hatten wol [sic!] hoffen dürfen, daß es uns allmählich gelingen würde, in die ,Nation Kants‘ uns einzuleben [...]. Dieses Vertrauen ist uns gebrochen; die alte Beklommenheit wird wieder geweckt.“36

Als Mommsen Monate später, in der zweiten Streitphase, zur Feder gegen Treitschke griff, sollten die jüdischen Kollegen wie Cohen oder Harry Breslau und Moritz Lazarus, die dies zuvor getan hatten, keine Waffenbrüder in seinem Kampf gegen den Antisemitismus werden. Er erwähnte ihre so prominenten Repliken in seiner Schrift mit keinem Wort. Auch die liberale „Erklärung“ 33 HEINRICH VON TREITSCHKE: Noch einige Bemerkungen zur Judenfrage, in: Preußische Jahrbücher 45 (1880), S. 85–95, hier S. 87. 34 Eine entsprechende Kulturgeschichte des Streitens müsste hier von Simmels entsprechenden Überlegungen zum Streit als soziologisch relevantes Phänomen ausgehen: GEORG SIMMEL: Soziologie. Untersuchungen über die Formen der Vergesellschaftung, in: DERS.: Gesamtausgabe, hg. v. Otthein Rammstedt, Bd. 11, Frankfurt a. M. 1992, S. 284–382. 35 HEINRICH VON TREITSCHKE: Herr Graetz und sein Judenthum, in: Preußische Jahrbücher 44 (1879), S. 660–670, hier S. 660. 36 HERMANN COHEN: Ein Bekenntniß in der Judenfrage, Berlin 1880, S. 3.

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gegen den Antisemitismus vom November 1880 sollte von keinem Juden unterschrieben werden.37 Aus dieser Perspektive ist es eben zentral, dass der sogenannte „Berliner Antisemitismusstreit“ in zwei zeitlich, personell und inhaltlich unterschiedliche Streitauseinandersetzungen zerÀel. Damit scheiterte eine mögliche Allianz von Juden und Liberalen gegen Treitschke und die Antisemiten. Ein Jahrzehnt nach der Reichsgründung stellte diese Entwicklung ein grundlegendes Problem dar: Die liberale Zielvorstellung, dass die Juden mit ihrer Emanzipation und Integration auch ihre Eigenart ablegen würden, offenbarte in diesen Auseinandersetzungen die ihr stets inhärenten Widersprüche und scheiterte endgültig. Zurück blieb eine liberale Bewegung, die in der „Judenfrage“ eine einheitliche politische Position verloren hatte. Als sich Juden unter postemanzipatorischen Bedingungen weiterhin als Juden bekannten, gab es drei Optionen: Man hätte den Integrationalismus hinterfragen und das Problem jüdischer Differenz relativieren können oder man musste in dieser Differenz ein mehr oder weniger zentrales Hindernis auf dem Weg zur nationalen Einheit sehen. Die letztere Option eröffnete die Alternative Mommsen oder Treitschke. Entweder man hoffte weiterhin auf die allmähliche Angleichung der Juden und forderte diese etwas nachdrücklicher und expliziter von ihnen. Das war die Alternative Mommsen. Oder man gab wie Treitschke diese Hoffnung auf und grenzte die Juden als das andere der Nation aus. Mit dieser Variante stand dann mittelfristig auch eine andere Judenpolitik im Raum: „Schreitet das Judenthum weiter auf der neuerdings betretenen Bahn, dann werden wir diesen jüdischen Staat im Staate noch erleben, und dann müßte sich unter den Christen unfehlbar der Ruf erheben: hinweg mit der Emancipation!”38 Treitschkes Ablehnung der Emanzipation wuchs in den folgenden Jahren nur noch. Natürlich hatte er damit die Grundlagen liberaler Politik längst hinter sich gelassen, obwohl es nicht wenige Liberale gab, die Treitschke in dieser Frage zuneigten.39 Hier soll es im Folgenden jedoch um die beiden anderen Möglichkeiten gehen: Mommsens speziÀsche Form des Integrationalismus und die Kritik daran durch jüdische Intellektuelle.

37 Eventuell in Frage kommende Personen wie der Literat und Beamte im Auswärtigen Amt Lindré wurden zwar erwogen, sind aber nicht gefragt worden – und zwar aufgrund ihrer jüdischen Abstammung. Vgl. Wilhelm Scherer an Theodor Mommsen, 12. 11. 1880, in: SBB PK, NL Lothar Wickert, 23. 38 HEINRICH VON TREITSCHKE: Zur inneren Lage am Jahresschlusse, in: Preußische Jahrbücher 46 (1880), S. 639–645, hier S. 645. 39 So gab es in der Tat nicht wenige (ex-)liberale Stimmen, die sich privat an Treitschke wandten, um ihm ihre Unterstützung auszusprechen. Vgl. dazu U. JENSEN, Doppelgänger (wie Anm. 7), S. 255–257.

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3. Mommsen und Religion als Differenzmarkierung Treitschke hatte es einfacher als Mommsen: Er konnte die Behauptung der jüdischen Differenz politisieren, indem er sie zum Hindernis der nationalen Einheit, ja zum antinationalen Prinzip stilisierte und mit der Rücknahme der Emanzipation drohte.40 Mommsen wollte hingegen seine Warnung an die Juden im vorpolitischen Raum belassen. Die Frage nach der nationalen Zugehörigkeit stellte er nicht: „Was heißt das, wenn er [gemeint ist Treitschke, U. J.] von unsern israelitischen Mitbürgern fordert, sie sollen Deutsche werden? Sie sind es ja, so gut wie er und ich. Er mag tugendhafter sein als sie; aber machen die Tugenden den Deutschen? Wer giebt uns das Recht unsere Mitbürger dieser oder jener Kategorie wegen der Fehler, welche im Allgemeinen dieser Kategorie [...] zur Last gelegt werden, aus der Reihe der Deutschen zu streichen?“41

Wieso aber griff Mommsen dann auf das Christentum zurück, um das Problem der jüdischen Differenz zu diskutieren? Was bedeutete es, dass er ihnen faktisch die Konversion als Ausweg empfahl? Allerdings verstand er den Übertritt nicht als religiösen Schritt; die Annahme des Christentums war ein Bekenntnis zu Kultur und Zivilisation: „Was das Wort ‚Christenheit‘ einstmals bedeutete, bedeutet es heute nicht mehr voll; aber es ist immer noch das einzige Wort, welches den Charakter der heutigen internationalen Civilisation zusammenfaßt [...].“42 Eine auf diese Weise verstandene Konversion sollte die Juden auf die Höhe internationaler Zivilisation heben, sie durch eine Kulturreligion universalisieren. Im Umkehrschluss hatte das aber auch zu heißen, dass denjenigen, die sich weiterhin zur partikularen, jüdischen Religion bekannten, diese Zivilisation verschlossen bleiben musste. Mommsen aktualisierte hier ein Motiv, dass auf der Kraft von Differenzmarkierungen durch Religion basierte – einer Kraft, die offensichtlich auch der zeitgenössische Liberalismus nicht entbehren konnte, wollte er die Einheit der Nation sicherstellen. Und genau um diese Integration durch möglichst große Homogenität ging es Mommsen ja (ebenso wie Treitschke): „Wer noch die Zeit gekannt hat der Ständeversammlung mit berathender Stimme und des Deutschlands, das höchstens auf der Landkarte einerlei Farbe hatte, dem wird unser Reichstag und unsere Reichsfahne um keinen Preis zu theuer sein [...].“43 Seine Vorstellung einer Konversion in ein zur universellen Kultur verbrämtes Christentum besaß dabei eine längere Tradition spätestens seit der Reformation: Letztlich basierte es auf der christlichen Vorstellung, die Juden 40 Vgl. dazu auch KLAUS HOLZ: Nationaler Antisemitismus. Wissenssoziologie einer Weltanschauung, Hamburg 2001. 41 TH. MOMMSEN, Wort (wie Anm. 2), S. 7. 42 Ebd., S. 15. 43 Ebd., S. 3.

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hätten aus Verstocktheit die universelle Botschaft des Christentums abgelehnt und statt einer Menschheitsreligion weiter für ihre partikulare Nationalreligion des Judentums votiert.44 Zugleich stand Mommsen mit seiner Argumentation in einer liberalen Tradition. Bereits im Umfeld der „Hep-Hep-Krawalle“ von 1819 waren derartige Ideen in liberale Debatten eingeführt worden, oft nur notdürftig säkularisiert. Als ein Beispiel kann der Kieler Mediziner und Physiker Christoph Heinrich Pfaff und seine Stellungnahme zur „Judenfrage“ in den liberalen „Kieler Blättern“ dienen. Dort behauptete Pfaff kategorisch, dass das Christentum die „Religion der das ganze Menschengeschlecht umfassenden Liebe“ sei, während das Judentum eine „engherzige Religion von Privilegirten“ darstelle.45 Selbst ihre religiöse Praxis sei verabscheuenswürdig: „Der religiöse Dienst, den es [das Judentum, U. J.] vorschreibt, weit entfernt, eine freie, geistige Anbettung zu seyn, ist im Gegenteil ein Hofdienst endloser, sklavischer, den Geist tödtender Ceremonien [...].“46 Es dürfte recht klar zu erkennen sein, dass die jüdische Religion damit von ihren Anhängern angeblich eine Haltung abverlangte, die den liberalen Idealen des Frühliberalismus diametral entgegenstanden: Sie war unfrei und ungeistig. Da Pfaff sich von der Kultur prägenden Kraft der jüdischen Religion auch für die Juden seiner Zeit überzeugt zeigte, erschien eine Liberalisierung der Juden unmöglich. Vom Judentum über Jahrhunderte tief geprägt, stünden sie daher abseits der modernen Kulturentwicklung, die sich aus dem allgemeingültigen Christentum ergab. Diese Motive eines engstirnigen Judentums und eines offenen Christentums hielten sich lange in der liberalen Debatte: Jacob Katz sah darin sogar die anhaltende Tendenz unter den Liberalen, „to retain elements of the Christian objections and absorb them into the context of a basically secular criticism of Judaism“.47 Vermittelt über die einÁussreiche Denkschrift des liberalen Theologen Heinrich Paulus,48 tauchten derartige Überzeugungen dann auch wieder in den Debatten der badischen Vormärz-Liberalen auf, so etwa bei Karl von Rotteck:

44 Vgl. für die Aktualisierung solcher Narrative STEVEN SCHWARSCHILD: The TheologicoPolitical Basis of Liberal Cristian-Jewish Relations in Modernity, in: Judentum (wie Anm. 10), S. 70–95. 45 CHRISTOPH HEINRICH PFAFF: Ueber das Verhältnis christlicher Regierungen und Staaten gegen die Juden, in dem gegenwärtigen Zeitpuncte, in: Kieler Blätter 1 (1819), S. 122– 165, hier S. 122f. 46 Ebd., S. 123. 47 J. KATZ, Prejudice (wie Anm. 14), S. 152. 48 Vgl. HEINRICH EBERHARD GOTTLOB PAULUS: Die jüdische Nationalabsonderung nach Ursprung, Folgen und Besserungsmitteln. Oder über die PÁichten, Rechte und Verordnungen zur Verbesserung der jüdischen Schutzbürgerschaft in Teutschland; allen teutschen Staatsregierungen zur Erwägung gewidmet, Heidelberg 1831.

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Uffa Jensen „Ich sage aber, daß das Motiv der einstweiligen Beschränkung der israelitischen Rechte einen sehr tiefgehenden und durchaus unwiderleglichen Grund hat, darum, weil der Staatsverband als ein inniger Verein eine gewisse Gleichförmigkeit oder Verschmelzung der Gesinnungen und Neigungen fordert, und die Juden können diese echt soziale Meinung und Gesinnung zu uns nicht haben. Nur dann können sie sie haben, wenn sie aufhören, Juden zu sein, nach dem strengen, starren Sinn des Wortes, weil die jüdische Religion eine solche ist, die nach ihrem Prinzip eine Feindseligkeit oder wenigstens Scheu gegen alle andern Völker enthält und geltend macht, wogegen die christliche Religion den Charakter hat, daß sie eine allgemeine Verbrüderung aller Völker auf Gottes weiter Erde will.“49

Die Voraussetzung dieses Narratives war es noch in Mommsens Tagen, dass die jüdische Religion aus Sicht liberaler Bürger nicht zivilisiert und universell, sondern rückständig und partikular war; daran habe, so war man überzeugt, auch die im Vormärz noch vehement geforderte jüdische Reformbewegung nichts geändert. Damit war zugleich ihre Mitgliedschaft in der liberal-bürgerlichen Öffentlichkeit zweifelhaft geworden, weil der dort notwendige Schritt, von der eigenen Partikularität abzusehen und im Dienste des Allgemeinwohls zu handeln, per DeÀnition ihrer Herkunftskultur für sie so nicht zu leisten war. Indem sie den Juden erneut unterstellte, ihre Position als Juden nicht universalisieren zu können, verwies Mommsens Empfehlung einer säkularisierten Konversion insofern auf ein fundamentales Problem in der liberalen Argumentation: die voraussetzungsreiche Voraussetzungslosigkeit der liberalen Gesellschaftsvision. 4. Jüdische Reaktionen und der Zweifel am Liberalismus „Es war mir beim Lesen Ihrer Schrift wie dem Ertrinkenden zu Muthe, dem vom Ufer her, die rettende Hand entgegengestreckt wird: schon hebt er sich daran empor, schon ist er im Begriff den Fuß auf festen Boden zu setzen – da plötzlich stößt ihn dieselbe Retterhand zurück in die Fluthen und giebt ihn aufs [Neue] den Wogen preis; – das also ist der einzige Ausweg aus diesem Labyrinth des Leiden [sic] und des Haders, ein möglichst schnelles Taufen der Juden, ein Aufgeben ihrer Religion, ein Aufgehen im Christenthum.“50

In diese Worte fasste ein anonymer Jude seine Reaktion auf Mommsens Beitrag zu den Auseinandersetzungen. Der Berliner Althistoriker erhielt in jenen Tagen eine ganze Reihe von Zuschriften, unter denen nicht wenige von Juden stammten. Der Tenor in den jüdischen Reaktionen war fast immer ähnlich: Man dankte dem berühmten Historiker für sein entschiedenes Eintreten gegen Treitschke und den Antisemitismus. Man zeigte sich aber über seine Empfehlung zur Konversion irritiert.51 So überwand auch der junge jüdische Histori49 Zitiert nach: R. RÜRUP, Emanzipation (wie Anm. 20), S. 61. 50 A. L. an Theodor Mommsen, 18. 12. 1880, in: SBB PK, NL Theodor Mommsen, 75. 51 Vgl. etwa Hermann Cohnheim an Theodor Mommsen, 16. 12. 1880, G. Gottschalk an

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ker Martin Philippson seine sonstige Zurückhaltung, die er sich in der „Judenfrage“ auferlegt hatte. Er könne nicht nachvollziehen, wie Mommsen die „Hartnäckigkeit“, mit der Juden sich weigerten, der „Christenheit“ beizutreten, als „eine Art verwerÁichen Particularismus“ ansehen konnte.52 Den Konversionsvorschlag wies Philippson deutlich zurück: „Wäre die Christenheit wirklich nichts, als der Inbegriff der heutigen, internationalen Civilisation, nun so sind Hunderttausende von Juden von ganzem Herzen Christen. Ich u. unendlich viele meiner Stammesgenossen fühlen sich Eins mit allen Errungenschaften moderner Bildung, humanitären Strebens, politischer Freiheit, sozialer Verbesserung.“53

Aber man könne nicht zum Christentum übertreten, da dies ein Bekenntnis zu bestimmten Dogmen darstelle. Zugleich würde ein solcher Schritt angesichts der gegenwärtigen Auseinandersetzungen mit den Antisemiten wie eine „feige Desertion“ wirken.54 Philippsons Bruder, Ludwig, der die „Allgemeinen Zeitung des Judenthums“ herausgab, kommentierte Mommsens Vorgehen ganz ähnlich, nur prononciert politischer. Für ihn lag hier ein Problem mit dem Liberalismus: „Es drängt sich die Frage auf, welcher Unterschied zwischen der Schlußfolgerung Treitschke’s und Mommsen’s sei. Treitschke sagt: Die Juden können Juden bleiben, müssen aber Deutsche werden. Mommsen sagt: Die Juden sind Deutsche, aber um des Deutschthums willen müssen sie Christen werden. Es frägt sich, wer in diesen Schlußsätzen der freisinnigere ist?“55

Letztlich radikalisierten sich derartige Anfragen bei den jüdischen Teilnehmern an den Auseinandersetzungen sogar zu einem grundlegenden Zweifel an dem vorherrschenden Integrationalismus. Ludwig Philippson fragte ganz prinzipiell: „Was ist aber das für eine Gemeinsamkeit, die nur dadurch bestehen können soll, daß der Einzelne Alles, was ihm eigenthümlich ist, aufopfere und zu einer bloßen Schablone werde!“ Und für den Völkerpsychologen Moritz Lazarus warf die Auseinandersetzung das grundsätzliche Problem des Wesens einer Nation auf. Er versuchte in seiner Antwort die Notwendigkeit zu begründen, dass die Juden Mitglieder der deutschen Nation sein mussten, gerade wegen ihrer Besonderheit: „Wir dürfen nicht bloß, wir müssen, um vollkommene, im höchsten Maße leistungsfähige Deutsche zu seyn, Juden seyn und bleiben. Nicht nur berechtigt, vielmehr verpÁichtet sind wir, was wir als Stamm an geistiger Eigenart, als Religion an Erbtugend oder Erb-

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Th. M., 18. 12. 1880, und Cäcilie Lion an Th. M., o. D., in: SBB PK, NL Theodor Mommsen, 16, 37, 78. Martin Philippson an Theodor Mommsen, 14. 12. 1880, in: SBB PK, NL Theodor Mommsen, 95. Ebd. Ebd. [LUDWIG PHILIPPSON]: Mommsen: „Auch ein Wort über unser Judenthum“, in: Allgemeine Zeitung des Judenthums, 28. 12. 1880.

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Uffa Jensen weisheit besitzen, auch zu erhalten, um es in den Dienst des deutschen Nationalgeistes als einen Theil seiner Kraft zu stellen.“56

Wie derartige Problematisierung zeigen, war es bereits im 19. Jahrhundert möglich, auf andere Weise über den Zusammenhang von Nation und Differenz zu reÁektieren, als es die Vertreter eines Integrationalismus unter den Liberalen taten. Eine liberale Öffentlichkeit, die von den Juden nicht die komplette Aufgabe ihrer jüdischen Identität einforderte, um sie als ihre Mitglieder anzuerkennen, war zumindest denkbar – dies bewiesen die Repliken von Juden auf Treitschke und Mommsen. Zwei grundlegende Schlussfolgerungen ergeben sich aus dieser Erörterung: Zum einen wird man die besondere Bedeutung religiöser Narrative auch für die politische Debatte über die „Judenfrage“ und den Antisemitismus in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts unterstreichen müssen.57 Mommsen konnte in seiner Schrift völlig selbstverständlich auf ein protestantisches Motiv zurückgreifen, das sich letztlich bis zur Reformation zurückverfolgen lässt: das Motiv jüdischer Abschottung und Partikularität. Hier ergab sich kein Bruch mit liberalen Traditionen, im Gegenteil: Die jüdische Verstocktheit erschien gerade als ein Problem für liberal-universalistische Wertvorstellungen und somit für die „Parität des bloß Menschlichen“, wie Habermas es genannt hatte. Dafür war allerdings auch die Transformation des Motivs wichtig, wie sie im Laufe des 19. Jahrhundert im liberalen Diskurs schrittweise vollzogen wurde. Es wäre sicherlich verfehlt, in den Auseinandersetzungen von Juden und Protestanten im jungen Kaiserreich einfach eine Wiederkehr frühneuzeitlicher Religionspolemik zu sehen. Die kulturelle Umwandlung der Vorstellungswelt und der Sprache muss vielmehr ernst genommen werden. Nur durch die kulturelle Verwandlung der jüdisch-religiösen Partikularität in ein Problem für die säkular-liberale Welt konnten solche Narrative wirksam werden. Mommsen sprach eben nicht zufällig von der Christenheit als dem Charakter der internationalen Zivilisation; von reiner Religionspolemik hätte er sich ferngehalten. In dieser kulturellen Transformation konnten problematische Sichtweisen auf Juden und Judentum zugleich aktualisiert und anschlussfähig gehalten werden. Dies war im 19. Jahrhundert möglich geworden, weil Religion zu einer den Volksgeist kulturgeschichtlich prägenden Kraft erklärt worden war. Juden waren Juden, weil sie so lange an die jüdische Religion geglaubt hatten (und es zum Teil noch taten), dass sie ihnen quasi in Fleisch und Blut übergegangen war (selbst wenn sie nicht mehr an sie glaubten). Religiöse Motive bewahrten ihre Kraft als Differenzmarkierungen, gerade indem sie ihr religiöses Erbe partiell hinter sich ließen und zu kulturellen Unterscheidungen zwischen Juden und Protestanten wurden. 56 MORITZ LAZARUS: Was ist national? Ein Vortrag, Berlin 21880, S. 38. 57 Diese Argumentation wird für das protestantische Umfeld vertreten in: U. JENSEN, Doppelgänger (wie Anm. 7).

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Die zweite Konsequenz betrifft die Zuordnung Mommsens (und anderer liberaler Denker) zum Antisemitismus. Sicherlich war Mommsen mit seiner Alternative einer Integration durch säkularisierte, kulturelle Konversion kein expliziter Antisemit. Dieser Unterschied zu Treitschke muss bestehen bleiben. Andererseits sind die weniger eindeutigen Haltungen zu Juden, Ambivalenzen und Problematisierung nicht per se unschuldig oder vorpolitisch. Sie konnten ins Politische hineinreichen und – wie im Fall der Auseinandersetzungen zwischen Treitschke, den Juden und Mommsen – konkreten Allianzen von Juden und protestantischen Gegnern des Antisemitismus hinderlich sein. Unter postemanzipatorischen Bedingungen waren gerade sie politisierbar, weil sie nun endgültig als Ausdruck eines vermeintlichen jüdischen Unwillens zu Integration in die Nation gedeutet werden konnten. Der auch liberale Integrationalismus rieb sich nun umso mehr an der jüdischen Differenz. Genau hier hatte der Antisemitismus am Ende der Reichsgründungsphase doch einiges an Überzeugungskraft gewonnen: Die Juden erschienen nun als kaum assimilierbar, als letztlich doch fremd bleibende Deutsche. Jüdische Differenz – das heißt das Beharren auf einer wie auch immer gearteten jüdischen Identität oder auch nur, wie es Hermann Cohen in seiner Schrift gegen Treitschke tat, das Bekennen, als Jude zu sprechen – war nun als grundlegendes und andauerndes Problem der deutschen Nation deÀniert. Die „Judenfrage“ war in die postemanzipatorische Phase überführt worden – und dies lag eben auch in der Konsequenz der liberalen Emanzipationslogik des 19. Jahrhunderts.

Liberalismus und Antifeminismus in Europa Ute Planert

Für die meisten Anhängerinnen der bürgerlichen Frauenbewegungen in Europa schien der politische Liberalismus ein natürlicher Bündnispartner zu sein. Ging es ihm nicht um die Freiheit und Autonomie des Individuums und damit auch um die Überwindung traditioneller Gesellschaftsschranken? War sein Ziel nicht die politische Partizipation zumindest der Gebildeten? Waren es nicht Vorkämpfer des Liberalismus wie John Stuart Mill, die unermüdlich für die politische Gleichberechtigung auch der Frauen stritten? Und hatten sich, diesen Versprechen folgend, nicht die meisten europäischen und auch amerikanischen Frauenrechtlerinnen in den Jahrzehnten vor dem Ersten Weltkrieg, sofern sie nicht sozialistisch dachten, auf die ein oder andere Weise mit liberalen Parteien verbunden? Doch freilich: Die großen Hoffnungen, die Frauenrechtlerinnen in allen Ländern auf den Liberalismus setzten, wurden nur allzu oft enttäuscht. Als potentielle Unterstützerinnen der eigenen Position wurden Frauen von den liberalen Parteien Europas keineswegs umworben. Im Gegenteil, sie mussten sich nicht nur in Deutschland regelrecht aufdrängen.1 Wie fast überall, wo es um die Gleichberechtigung der Geschlechter ging und geht, klafften auch bei den Liberalen Anspruch und Wirklichkeit weit auseinander. Das prekäre Verhältnis von Liberalismus und Frauenemanzipation ist Gegenstand dieser Betrachtungen. Dabei will ich die häuÀg gewählte Blickrichtung in diesem Beitrag einmal umkehren und danach fragen, ob man bei liberalen Vereinen und Parteien in Frankreich, Großbritannien und Deutschland von einer liberalen Spielart verbreiteter antifeministischer Haltungen sprechen kann. Dazu soll der Begriff Antifeminismus zunächst genauer bestimmt werden, um dann die Situation in Frankreich, Großbritannien und Deutschland mit Blick auf den politischen Liberalismus genauer zu untersuchen.2

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Vgl. ANGELIKA SCHASER: Helene Lange und Gertrud Bäumer. Eine politische Lebensgemeinschaft, Köln/Weimar/Wien 2000, S. 132. Zur Geschichte der deutschen Frauenbewegung vgl. anstelle eines ausufernden Literaturberichts die ausführliche Bibliographie bei DIES.: Frauenbewegung in Deutschland 1848–1933, Darmstadt 2006. Zum Liberalismus in Europa vgl. als Überblick die Beiträge in DIETER LANGEWIESCHE (Hg.): Liberalismus im 19. Jahrhundert. Deutschland im europäischen Vergleich, Göttingen 1988; demnächst auch die in Freiburg angesiedelte Dissertation von MARK WILLOCK: Liberale in Deutschland und England, 1867–1914. Aus begriffsgeschichtlicher

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Ute Planert

Zur Präzisierung der Fragerichtung scheint es sinnvoll, Antifeminismus gegen Mysogynie und Frauenfeindlichkeit abzugrenzen. Misogynie bezeichnet danach eine unspeziÀsche Überzeugung von der ontologischen Minderwertigkeit des weiblichen Geschlechts. Diese Auffassung hat im christlichen Mitteleuropa eine lange Tradition und schlug sich nicht nur in biblischen Geschichten, sondern auch in theologischen Debatten darüber nieder, ob Frauen eine unsterbliche Seele hätten. In einer säkularen Variante debattierte die gebildete Öffentlichkeit der Frühen Neuzeit in der sogenannten „Querelle des Femmes“ die Frage, „Ob die Weiber Menschen seyn, oder nicht“.3 In das weiträumige misogyne Arsenal gehört das zu Beginn des 20. Jahrhunderts ins Feld geführte medizinisch-kraniologische Argument, wonach Frauen ebenso wie „Negern“ das „Zahlenorgan“ und damit die Möglichkeit zum logischen Denken fehle,4 ebenso wie dessen industriemodernes Pendant, das den Frauen die Fähigkeit zum Umgang mit technischen Artefakten (etwa beim Einparken) abspricht. Immer geht es der misogynen Behauptung um die Feststellung weiblicher Minderwertigkeit qua Geschlecht. Die misogyne Festschreibung weiblicher Unterlegenheit bildet die Legitimation frauenfeindlicher Praxen, die darauf abzielen, der nicht als gleichwertig angesehenen Gruppe der Frauen in den jeweiligen Gesellschaften einen untergeordneten Status zuzuweisen. Frauenfeindlich sind demnach Handlungen oder strukturelle Gegebenheiten, die eine gleichberechtigte Teilhabe von Frauen an den gegebenen rechtlichen, sozialen, politischen und wirtschaftlichen Ressourcen einer Gesellschaft verhindern. Die geringere Entlohnung von Frauen ist demnach eine ebenso frauenfeindliche Praxis wie die jahrhundertelange rechtliche Diskriminierung oder die immer noch geltende Zuweisung unbezahlter Haus-, Reproduktions- und Erziehungsarbeit. Gegenüber diesen tiefgreifenden Praxen und Strukturen, von denen weite Teile der gesellschaftlichen Realität in Europa geprägt waren oder sind, stellt sich Antifeminismus als ein eingeschränkter Teilbereich dar. Um die Begriffe trennscharf und operationalisierbar zu halten, verstehe ich unter Antifeminismus die bewusste Gegnerschaft zur Frauenbewegung und mithin den Versuch, durch organisierte

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Sicht vgl. JÖRN LEONHARD: Liberalismus. Zur historischen Semantik eines europäischen Deutungsmusters, München 2001. Die ursprünglich 1595 auf Latein erschienene Flugschrift wurde 1618 ins Deutsche übersetzt. Zur „Querelle des Femmes“ vgl. MAGDALENA DREXL: Weiberfeinde – Weiberfreunde? Die Querelles des Femmes im Kontext konfessioneller KonÁikte um 1600, Frankfurt a. M. 2006; GISELA BOCK / MARGARETA ZIMMERMANN (Hg.): Die europäische Querelle des Femmes. Geschlechterdebatten seit dem 15. Jahrhundert, in: Querelles. Jahrbuch für Frauenforschung, Bd. 2, Stuttgart 1997; MARLEN BIDWELL-STEINER u. a.: Streitpunkt Geschlecht. Historische Stationen der Querelle des femmes in der Romania, Wien 2001; GISELA ENGEL u. a. (Hg.): Geschlechterstreit am Beginn der europäischen Moderne, Frankfurt 2004. Vgl. PAUL JULIUS MÖBIUS: Über den physiologischen Schwachsinn des Weibes, Halle 1900.

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Aktionen die Arbeit von Frauenorganisationen zu torpedieren, die auf die Verbesserung weiblicher Lebenszusammenhänge abzielen.5 Legt man diese DeÀnition an die französische, englische und deutsche Gesellschaft des späten 19. und frühen 20. Jahrhunderts an, ergibt sich ein auffälliger und erklärungsbedürftiger Befund. Während im edwardianischen Großbritannien und im wilhelminischen Deutschland antifeministische Bewegungen existierten, die sich die Bekämpfung der Frauenemanzipation auf die Fahnen geschrieben hatten, fehlten solche Gruppierungen im Frankreich der Dritten Republik völlig. Am Mangel eines Zielobjektes konnte diese Abstinenz nicht liegen, waren die unterschiedlichen Strömungen der französischen Frauenbewegung doch kaum weniger aktiv und politisch präsent als die ihrer britischen oder deutschen Schwestern.6 Zwar konnte es am Vorabend des Ersten Weltkrieges keine Frauenorganisation der Welt an Medienpräsenz mit den in der Women’s Social and Political Union zusammengeschlossenen britischen Radikalen aufnehmen, deren spektakuläre Aktionen von der Brandstiftung bis zum Hungerstreik von den Methoden der irischen Befreiungsbewegung inspiriert waren. Aber anders als die gesitteten Damen der deutschen Frauenbewegung ließ man sich in Frankreich am Vorabend des Ersten Weltkriegs durchaus vom englischen Vorbild anregen und stürmte das Parlament mit Stimmrechtsforderungen oder verbrannte öffentlich den Code Napoléon als Sinnbild französischer Frauenunterdrückung.7 5

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Vgl. UTE PLANERT: Antifeminismus im Kaiserreich. Diskurs, soziale Formation und politische Mentalität, Göttingen 1998, S. 12. Zum deutschen Antifeminismus vgl. auch MATTHEW STIBBE: Anti-Feminism, Nationalism and the German Right, 1914–1920. A Reappraisal, in: German History 20 (2002), S. 185–210; EDWARD ROSS DICKINSON: The Men’s Christian Morality Movement in Germany, 1880–1914. Some ReÁections on Politics, Sex, and Sexual Politics, in: The Journal of Modern History 75 (2003), S. 59–110. Vgl. als Überblick mit weiteren Hinweisen auf zahlreiche Einzelstudien KAREN OFFEN: European Feminisms, 1750–1950. A Political History, Stanford 2000; SYLVIA PALETSCHEK / BIANKA PIETROW-ENNKER (Hg.): Women’s Emancipation Movements in the Nineteenth Century, Stanford 2004; ELIANE GUBIN u. a.: Le siècle des féminismes, Paris 2004; GISELA BOCK: Frauenwahlrecht. Deutschland um 1900 in vergleichender Perspektive, in: MICHAEL GRÜTTNER / RÜDIGER HACHTMANN / HEINZ-GERHARD HAUPT (Hg.): Geschichte und Emanzipation. Festschrift für Reinhard Rürup, Frankfurt a. M/New York 1999, S. 95–136; BIRGITTA BADER-ZAAR: Das Frauenwahlrecht. Großbritannien, Deutschland, Österreich, Belgien und die USA im Vergleich. Wien/Köln (im Druck). Vgl. zur französischen Frauenbewegung MAÏTÉ ALBISTUR / DANIEL ARMOGATHE: Histoire du féminisme français, 2 Bde., Paris 1977; KAY BIDELMAN: Pariahs Stand Up! The Founding of the Liberal Feminist Movement in France, 1858–1889, Westport 1982; CLAIRE GOLDBERG MOSES: French Feminism in the Nineteenth Century, Albany 1984; FLORENCE ROCHEFORT: L’égalité dans la différence. Les paradoxes de la République, 1880–1940, in: MARC OLIVIER BARUCH / VICENT DUCLERT (Hg.): Serviteurs de l’État. Une histoire politique de l’administration française, 1875–1945, Paris 2000, S. 183–198; JOAN WALLACH SCOTT: Only Paradoxes to Offer. French Feminists and the Rights of Men, Cambridge, Mass. 1996; JAMES F. MCMILLAN: France and Women, 1789–1914. Gender, Society, and Politics, London 2000; FLORENCE ROCHEFORT: L’Ègalité en marche. Le fémi-

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Die Gegner weiblicher Gleichberechtigung hätten also nicht weniger Grund gehabt, sich zu antifeministischen Organisationen zusammenzuschließen, als ihre Gesinnungsgenossen und -genossinnen jenseits des Rheins oder auf der anderen Seite des Ärmelkanals. Dass sie es dennoch unterließen, erscheint mit Blick auf die in weiten Teilen vergleichbare soziale und politische Situation der drei Länder erklärungsbedürftig. Denn grundsätzlich war Frankreich keineswegs das Land der Frauenfreunde: Viele Publikationen französischer Intellektueller wiesen deutliche misogyne Züge auf, der Code Napoléon hatte die französischen Frauen im Recht schlechter gestellt als zur Zeit der Monarchie, und auf die Erteilung des Frauenstimmrechts mussten die Französinnen bis 1944 warten.8 Das Frankreich der Dritten Republik war von starken misogynen Überzeugungen und einer ausgesprochen frauenfeindlichen politischen Praxis geprägt, bei der, so die These, die französischen Liberalen eine tragende Rolle spielten. Warum also gab es keine französische AntifeministenOrganisation? Grundsätzlich speisten sich Misogynie und Frauenfeindlichkeit in Frankreich aus vielen Quellen: Eine starke katholische Tradition, die den Mann als das Haupt der Frau zeichnete,9 der Patriarchialismus des Code Napoléon, der den privaten Rechtsverhältnissen seinen Stempel aufdrückte und Frauen nicht als Individuen, sondern als Teil der Familie verstand.10 Die Pariser Avantgarde des Fin de Siècle redete erfolgreich der grundlegenden Verschiedenheit der Geschlechter das Wort. Dazu kam eine republikanische Tradition, die seit den Tagen von Rousseau und seinen Nachfolgern Frauen nicht als Staatsbürgerinnisme sous la Troisième République, Paris 1989; CHRISTINE BARD: Les Àlles de Marianne. Histoire des féminismes, 1914–1940, Paris 1995; DOROTHY MCBRIDE STETSON: Women’s Rights in France, New York 1987; PAUL SMITH: Feminism and the Third Republic. Women’s Political and Civil Rights in France 1918–1945, Oxford 1996; ISABELLE DEBILLY: Aux urnes citoyennes, Marseille 1995; STEVEN C. HAUSE / ANNE R. KENNEY: Women’s Suffrage and Social Politics in the French Third Republic, Princeton 1984; RAYMOND HUARD: Le Suffrage universel en France (1848–1946), Paris 1991; MICHEL BALINSKI: Le suffrage universel inachevé, Paris 2004. Zur frühen Auseinandersetzung um das Stimmrecht vgl. ANNE VERJUS: Le cens de la famille. Les femmes et le vote, 1789–1848, Paris/ Berlin 2002. 8 Vgl. CHRISTINE BARD (Hg.): Un siècle d’antiféminisme, Paris 1999; ANNELISE MAUGUE: L’identité masculine en crise au tournant du siècle, 1871–1914, Paris/Marseille 2001. 9 „Der Mann ist das Haupt der Frau, so wie Christus das Haupt der Kirche ist“, deklarierte Papst Leo XIII. 1980, zit. nach: CHRISTINE BARD: Les antiféminismes de la première vague, in: DIES., Siècle (wie Anm. 8), S. 41–67, hier S. 42. 10 Vgl. mit weiterer Literatur BARBARA DÖLEMEYER: Frau und Familie im Privatrecht des 19. Jahrhunderts, in: UTE GERHARD (Hg.): Frauen in der Geschichte des Rechts. Von der Frühen Neuzeit bis zur Gegenwart, München 1997, S. 633–659; UTE GERHARD: Die Rechtsstellung der Frau in der bürgerlichen Gesellschaft des 19. Jahrhunderts. Frankreich und Deutschland im Vergleich, in: JÜRGEN KOCKA (Hg.): Bürgertum im 19. Jahrhundert, Bd. 1, München 1988, S. 439–468; DIES.: Gleichheit ohne Angleichung. Frauen im Recht, München 1990.

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nen, sondern als Mütter des zukünftigen Geschlechts betrachtete. Die zersplitterte Gewerkschafts- und Arbeiterbewegung begriff Frauen nicht als potentielle Verbündete im Kampf gegen Ausbeutung, sondern als lohndrückende Konkurrenz.11 Zwar täuscht das Bekenntnis der deutschen Sozialdemokratie zum Frauenwahlrecht nur allzu leicht über die von Konkurrenz geprägte Haltung an der Basis hinweg.12 Doch immerhin stand der deutschen Arbeiterbewegung ein August Bebel vor, der die Frauenbefreiung als notwendigen Teil der sozialistischen Gesellschaft betrachtete, während die anarcho-syndikalistischen Gewerkschaften Frankreichs von der Tradition Pierre-Joseph Proudhons geprägt waren, der Frauen auf ihre Versorgerrolle in der Kleinfamilie festgelegt und von der „Pornokratie“ der modernen Frau gesprochen hatte. „Die Arbeiterklasse“, schrieb die Frauenrechtlerin Madeleine Pelletier im Juli 1912 resigniert, „wird die letzte sein, die sich zum Feminismus bekennt. Als Sklave seines Arbeitgebers möchte der Arbeiter doch wenigstens zu Hause Herr und Meister sein.“13 Seit man die Scharte der Niederlage gegen das neue Kaiserreich mit Hilfe einer gezielten Geburtenpolitik auszuwetzen suchte, waren die misogynen und frauenfeindlichen Strömungen in Frankreich von einem allgegenwärtigen Pronatalismus begleitet, der sämtliche Bereiche der Gesellschaft durchdrang. Der Geburtenrückgang, der als Begleiterscheinung demographischer Transition in Frankreich früher als bei seinen europäischen Nachbarn in Erscheinung getreten war, wurde als Ausdruck nationaler Dekadenz gegeißelt. Entsprechend galt die Erhöhung der Geburtenrate als Voraussetzung der militärischen Revanche. Eine Flut nationalistischer Warnschriften ergoss sich über das Publikum. Unzählige Organisationen verschrieben sich der Bekämpfung dieser „nationalen Gefahr“; Firmen und Versicherungen lobten Geburtenprämien aus. Seit der Jahrhundertwende stimmten auch fortschrittliche und liberale Blätter in den Chor der „repopulisateurs“ ein. Das prominenteste unter ihnen war die altliberale „Revue des deux mondes“, die nun prominenten Eugenikern ihre 11 Vgl. CH. BARD, Antiféminismes (wie Anm. 9). 12 Vgl. MOLLY NOLAN: Proletarischer Antifeminismus. Dargestellt am Beispiel der SPDOrtsgruppe Düsseldorf, 1890–1914, in: Frauen und Wissenschaft. Beiträge zur Berliner Sommeruniversität für Frauen, Berlin 1977, S. 356–377. Zum Verhältnis von Sozialdemokratie und Frauenemanzipation vgl. auch die älteren Arbeiten von RICHARD J. EVANS: Sozialdemokratie und Frauenemanzipation im deutschen Kaiserreich, Berlin 1979; HEINZ NIGGEMANN: Emanzipation zwischen Sozialismus und Feminismus. Die sozialdemokratische Frauenbewegung im Kaiserreich, Wuppertal 1981; SABINE RICHEBÄCHER: Uns fehlt nur eine Kleinigkeit. Deutsche proletarische Frauenbewegung 1890–1914, Frankfurt a. M. 1982. 13 „La classe ouvrière sera la dernière à venir au féminisme […]. Esclave du patron, il [l’ouvrier] veut être le maître de sa femme.“ La Suffragiste, H. 30, Juli 1912, zit. nach: R. HUARD, Suffrage (wie Anm. 7), S. 197f. Vgl. zum Verhältnis von Sozialismus und Feminismus in Frankreich CHARLES SOWERWINE: Sisters or Citizens? Women and Socialism in France Since 1876, Cambridge, Mass. 1982.

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Spalten öffnete.14 Zahlreiche und gesunde Kinder aufzuziehen galt als der vielversprechendste Weg, um das Trauma der Niederlage zu kompensieren und den deutschen Rivalen in die Schranken zu weisen.15 Früher und stärker noch als anderswo hatten die französischen Feministinnen daher auch unter Liberalen mit dem Pauschalverdacht zu kämpfen, Frauen auf dem Weg des schrankenlosen Individualismus der Familie entfremden zu wollen und damit den Niedergang Frankreichs zu verschulden. Dieser Vorwurf wog schwer, war es der französischen Frauenbewegung doch zu Beginn des 20. Jahrhunderts gelungen, einige im europäischen Vergleich besonders diskriminierende Klauseln des napoleonischen Zivil- und Familienrechts zu verändern.16 Selbst die wohlgesonnensten unter den Reformern hatten jedoch nur eine Besserstellung des weiblichen Geschlechts im Gefüge der Familie vor Augen. An eine Emanzipation aus der Familie heraus war keineswegs gedacht. Im Umfeld von Familiarismus, Degenerationsfurcht und pronatalistischer Propaganda standen weibliche Emanzipationsbestrebungen unter dem Generalverdacht partikularistischer Interessendurchsetzung auf Kosten der „Grande Nation“.17 Dieser Vorwurf wirkte umso nachhaltiger, als man Frauen in Frankreich traditionell nicht als Einzelpersonen, sondern nur in Bezug auf die Familie betrachtete. Mit Blick auf die politische Kultur der weit individueller argumentierenden angelsächsischen Länder hob Pierre Rosanvallon deshalb hervor: „Das Haupthindernis für die Durchsetzung des Frauenwahlrechtes war die Unmöglichkeit, die Frau überhaupt als Individuum zu denken.“18 Schon Jules Michelet hatte den genuinen Beitrag der Frauen zur Morgenröte des aufklärerischen 18. Jahrhunderts nicht in den Leistungen der „geistreichelnden“ und „vielschreibenden“ Intellektuellen gesehen, sondern in der Hinwendung der Frauen zur Mutterschaft und Stillbegeisterung. Auf diese Weise hätten sie der französischen Nation einen „Überschuß an Jugendkraft“ beschert, der die Abschaffung des Feudalismus möglich gemacht habe.19 Die Unmöglichkeit, Frauen als Individuen zu betrachten, betraf demnach keines14 Vgl. CHRISTIANE DIENEL: Kinderzahl und Staatsräson. Empfängnisverhütung und Bevölkerungspolitik in Deutschland und Frankreich bis 1918, Münster 1995, S. 147–159, hier S. 155f. 15 Vgl. zur französischen Sozialhygiene PIERRE ROSANVALLON: Der Staat in Frankreich. Von 1789 bis heute, Münster 2000, S. 92–98; weiterhin CH. DIENEL, Kinderzahl (wie Anm. 14). 16 Vgl. U. GERHARD, Rechtsstellung (wie Anm. 10). 17 Vgl. CH. BARD, Antiféminismes (wie Anm. 9); KAREN OFFEN, Depopulation, Nationalism, and Feminism in Fin-de-Siècle France, in: American Historical Review 89 (1984), S. 648–676. 18 „Le véritable obstacle au suffrage des femmes en France réside ainsi dans la difÀculté qu’il y a à considérer la femme comme un individu.“ PIERRE ROSANVALLON: Le sacre du citoyen. Histoire du suffrage universel en France, o. O. 1992, S. 393–412, Zitat S. 396. 19 JULES MICHELET: Die Frauen der Revolution (1854), Frankfurt a. M. 1984, S. 12.

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wegs nur intransingente Katholiken und Konservative. Auch für Liberale und Republikaner war das Wichtigste am weiblichen Geschlecht sein Beitrag zur Reproduktion. Auch gegenüber dem Frauenwahlrecht erwiesen sich Liberale und die politische Mitte als ausgesprochen resistent. Frankreichs Gremien hatten sich zwischen 1906 und 1922 wiederholt mit Anträgen auf Änderung der Wahlrechtsfrage zu beschäftigen. Betrachtet man die Abstimmungsergebnisse, so fällt auf, dass es immer die Abgeordneten der Parti républicain radical et radical-socialiste waren, die das Frauenwahlrecht am stärksten blockierten. Anders als ihr Name suggeriert, agierte diese Partei keineswegs am linken Rand des politischen Spektrums, sondern war als tragende Kraft der Dritten Republik am ehesten dem Liberalismus zuzurechnen. Während etliche Sozialisten das Stimmrecht unterstützten und es selbst unter Konservativen Befürworter gab, traten bei den linksbürgerlichen Liberalen je nach Abstimmung nur 20 bis 40 Prozent der Abgeordneten für das Stimmrecht der Frauen ein. Die große Mehrheit votierte gegen die Ausdehnung der Frauenrechte. Diese Auffassung war einerseits Ausdruck einer republikanischen Tradition, die seit der Französischen Revolution Staat und große Politik als exklusiv männliche Sphäre etabliert hatte.20 Andererseits legte sie auch Zeugnis ab über das tiefgreifende Misstrauen, das gerade republikanisch und antiklerikal gesinnte Politiker gegenüber der weiblichen Hälfte der Bevölkerung hegten. Der Vorstellung, Frauen hätten durch ihre Kollaboration mit der Priesterschaft die Französische Revolution verraten und damit der Reaktion zum Sieg verholfen, hatte schon der liberale Antiklerikalist Michelet in seiner Schrift über „Die Französische Revolution und die Frauen“ beredt Ausdruck verliehen.21 In Zeiten heftiger KonÁikte zwischen Republik und Kirche ließ sich diese Vorstellung mühelos reaktivieren. In den Augen vieler liberaler Republikaner galten Frauen als Einfallstor des Klerikalismus. Politisch unreif und uninformiert, würden sie, so die Unterstellung, bei Erteilung des Stimmrechts umgehend den EinÁüsterungen ihrer Pfarrer und Beichtväter erliegen und damit den Staat dem EinÁuss der Kirche ausliefern. Nun war die Parti républicain radical et radical-socialiste aber ausdrücklich mit dem Ziel angetreten, die Republik gegen den Katholizismus zu verteidigen. Entsprechend hatte sie die Trennung von Staat und Kirche, das Verbot zahlreicher Orden und die Laisierung des Unterrichts durchgesetzt. Die radikalen Republikaner wurden nicht müde, die vom Frauenwahlrecht ausgehende „schwarze Gefahr“ an die Wand zu malen, und es mochte ihnen wie eine Bestätigung vorgekommen sein, dass das Frauenwahlrecht in Frankreich noch vor den bürgerlichen Frauenvereinen von einer Katholikin gefordert worden war. Da die radikalen Republikaner die Geschicke der Dritten Repu20 Vgl. JOAN W. SCOTT: Only Paradoxes to Offer. French Feminists and the Right of Man, Cambridge 1997. 21 J. MICHELET, Frauen (wie Anm. 19).

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blik wesentlich mitbestimmten, hatte die politische Gleichstellung der Französinnen vor dem Ersten Weltkrieg keine Realisierungschancen, obwohl der Druck der französischen Frauenbewegung in den letzten Vorkriegsjahren nicht weniger groß gewesen war als in den Nachbarländern. Da die staatstragenden Liberalen zuverlässig das Frauenwahlrecht verhinderten, war in Frankreich eine eigene antifeministische Organisation überÁüssig.22 Daran änderte auch das Kriegsende nichts, obwohl die Einführung des Frauenstimmrechts in Großbritannien und Deutschland zunächst auch die französische Stimmrechtsfrage voranzubringen schien. Im Mai 1919 setzte die französische Abgeordnetenkammer erstmals in ihrer Geschichte das Frauenwahlrecht auf die Tagesordnung. Hitzige Debatten folgten; zwei Fünftel der Abgeordneten votierten dabei für eine Wahlrechtsform, welche die Familie als Einheit zugrunde legte.23 Doch als man schließlich abstimmte, gab es eine kleine Sensation: Mit 329 gegen 95 Stimmen bei 104 Enthaltungen sprachen sich die Parlamentarier – wohl unter dem Eindruck der Vorgänge in den anderen europäischen Ländern – unerwartet deutlich für das Frauenwahlrecht aus.24 Es war dieses Votum des Parlaments, das zum ersten Mal in nennenswertem Umfang antifeministische Schriften in Frankreich hervorrief. Sie kamen aus dem Umfeld der radikalnationalistischen und antisemitischen Action française, die gleichzeitig einen ultrakatholischen Kurs verfolgte. Während ihr Mitbegründer Charles Maurrais für das Frauenwahlrecht eintrat, weil er sich davon Unterstützung für seine traditionalistischen und klerikalen Ziele versprach, machten sich andere Anhänger der Liga nun zum Sprachrohr antisemitisch-antifeministischer Artikel, die den Feminismus als jüdische ErÀndung zur Zerstörung der französischen Familie geißelten.25 Allen publizistischen Aufgeregtheiten zum Trotz hatte das Votum des Parlaments jedoch ohne die Zustimmung des Senats keinerlei Bedeutung. Im Senat aber waren Abgesandte aus dem Nordosten und dem Pariser Becken, wo man suffragistisch dachte, klar in der Minderheit. Außerdem besaßen die Radikalen, die nach wie vor standhaft dem Frauenwahlrecht abgeneigt waren, dort ein Übergewicht. Ganz übergehen konnte der Senat das Votum der Abgeordnetenkammer zwar nicht. Doch es gelang ihm, die Frage des Frauenwahl22 Vgl. FLORENCE ROCHEFORT: The French Feminist Movement and Republicanism, 1868– 1914, in: S. PALETSCHEK / B. PIETROW-ENNKER, Emancipation (wie Anm. 6), S. 77–101; R. HUARD, Suffrage (wie Anm. 7), S. 198f; GISELA BOCK: Frauen in der europäischen Geschichte. Vom Mittelalter bis zur Gegenwart, München 2000, S. 214. 23 Vgl. zur Idee des Familienwahlrechts JEAN-YVES LE NAOUR / CATHERINE VALENTI: La famille doit voter. Le suffrage familial contre le vote individuel, Paris 2005. 24 Vgl. ST. C. HAUSE / A. R. KENNEDY, Suffrage (wie Anm. 7), S. 221–225. 25 Vgl. Etwa L’Appel aux Francaises. Le Féminisme politique, Paris 1919, S. 11, 68. Zum Hintergrund vgl. CH. BARD, Antiféminismes (wie Anm. 9), insb. S. 56–58. Zur Schmähung der „jüdischen Republik“ vgl. PIERRE BIRNBAUM: Un mythe politique. La „République juive“, Paris 1988.

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rechts in eine Kommission zu verbannen und seine Behandlung drei Jahre lang zu verschleppen. Da sich auch die Regierung in dieser Frage auffällig zurückhielt, fehlte der politische Druck, der dieser Hinhaltetaktik hätte Einhalt gebieten können. Als das Frauenwahlrecht 1922 im Senat dann endlich zur Debatte stand, konnten sich kaum mehr als 40 Prozent der Senatsmitglieder zu einem Ja entschließen. 80 Prozent der Radicaux stimmten dagegen oder enthielten sich der Stimme, darunter auch etliche, die sich drei Jahre zuvor als Parlamentsabgeordnete für das Frauenwahlrecht ausgesprochen hatten. Auch ehemalige Unterstützer wie René Viviani und Aristide Briand, deren Áammende Parlamentsreden zu dem Ergebnis von 1919 beigetragen hatten, blieben 1922 bei den Beratungen im Senat still. Nach der Aufbruchstimmung der unmittelbaren Nachkriegszeit war man zur Tagesordnung übergangen. Andere Fragen hatten sich in den Vordergrund geschoben, die Erinnerungen an die „Union sacrée“ waren verblasst. Das Gewicht der Frauenfrage war nicht mehr groß genug, um die politische Elite zu deutlichem Engagement zu bewegen.26 Immerhin nahm in der Zwischenkriegszeit die Präsenz von Frauen im Berufsleben und in der Öffentlichkeit zu, bis hin zur Ernennung dreier Staatssekretärinnen im Kabinett Blum. Doch die liberalen Radicaux blockierten weiterhin verlässlich das Frauenstimmrecht, die demokratische Linke war sich nicht einig, ob ein Familien- oder ein davon unabhängiges Frauenwahlrecht zu bevorzugen wäre, und schließlich verdrängten der Spanische Bürgerkrieg und der Weltkrieg die Frauenfrage von der politischen Agenda.27 Bei dieser Haltung selbst des liberalen und demokratischen Lagers gab es auch in der Zwischenkriegszeit keinen Grund, in Frankreich eine eigene antifeministische Abwehrorganisation ins Leben zu rufen. Anders dagegen stellte sich die Situation im europäischen Mutterland der Frauenemanzipation dar, in Großbritannien. Dort hatte die Ausdehnung des Gemeindewahlrechts auf das weibliche Geschlecht 1869 und das weltweite Echo, das John Stewart Mills leidenschaftliches Plädoyer gegen die „Subjection of Women“ fand, schon früh die Gegner des Frauenstimmrechts auf den Plan gerufen. Ihre Bühne war neben Zeitungskolumnen und Unterschriftensammlungen vor allem das Unterhaus, wo sich 1875 ein Committee for Maintaining the Integrity of the Franchise formierte. Dem interfraktionellen Zusammenschluss gehörten liberale wie konservative Abgeordnete an. Er 26 Vgl. die eindringliche Analyse der divergierenden Abstimmungsergebnisse von 1919 und 1922, in: ebd., S. 235–247. 27 Vgl. CHRISTINE BARD / FRANÇOISE THÉBAUD: Les effets antiféministes de la Grande Guerre, in: CH. BARD, Siècle (wie Anm. 8), S. 149–168; DIES.: Le triomphe du familialisme, in: ebd., S. 169–192; SIÂN REYNOLDS: Trois dames au gouvernement (1936), in: ebd., S. 193–204; RITA THALMANN: Vichy et l’antifeminisme, in: ebd., S. 229–239. Zur Durchsetzung des Frauenwahlrechts vgl. auch HANNA DIAMOND: Women and the Second World War in France, 1939–1848. Choices and Constraints, London 1999.

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löste sich jedoch nach wenigen Jahren wieder auf, als die Zahl der Anträge auf Einführung des Frauenwahlrechts parallel zur abnehmenden Schlagkraft der englischen Frauenbewegung sank. Eine organisierte Opposition gegen das Frauenwahlrecht schien damit vorerst überÁüssig.28 Erst zu Beginn des 20. Jahrhunderts kamen die Dinge erneut in Bewegung. Als die Liberalen 1906 nach Jahren der Abstinenz die Regierung übernahmen, die Arbeiterbewegung sich mit der Labour Party eine parlamentarische Vertretung schuf und die Frauenbewegung die Stimmrechtsfrage wieder zum Thema machte, fürchteten die Gegner der Frauenemanzipation das Schlimmste. Tatsächlich begann die neue Arbeiterpartei mit dem militanten Flügel der Frauenbewegung zu Áirten. Und schlimmer noch: Im Parlament nahmen die Anträge auf Einführung des Frauenstimmrechts nun erneut zu. In den Abstimmungen sprachen sich immer mehr liberale Abgeordnete für das Frauenwahlrecht aus – ganz gegen den Willen und zum Verdruss der antisuffragistisch gesinnten Parteispitze.29 Herbert Henry Asquith, der liberale Preminierminister, war ein bekennender Antifeminist, dessen erklärte Gegnerschaft zum Frauenwahlrecht nur noch vom antifeministischen Enthusiasmus seiner Ehefrau übertroffen wurde.30 1908 schloss sich Lady Asquith mit einer Reihe von Gesinnungsgenossinnen zur Women’s National Anti-Suffrage League zusammen. Bald gesellte sich dem Damenbund noch ein Men’s Committee aus dem Umfeld parlamentarischer Frauenrechtsgegner bei. 1914 verfügte der britische Antifeministenclub über 42.000 Anhänger, die sich in nahezu 300 Zweigvereinen vor allem im 28 Vgl. BRIAN HARRISON: Seperate Spheres. The Opposition to Women’s Suffrage in Britain, London 1978. Die Abstimmungsergebnisse 1867–1928 Ànden sich auf S. 28f. 29 Vgl. zur Stimmrechtsfrage in Großbritannien JANE RENDALL: The Origins of Modern Feminism, Basingstoke 1985; ELISABETH CRAWFORD: The Women’s Suffrage Movement. A Reference Guide, 1866–1928, London 1999; CONSTANCE ROVER: Women’s Suffrage and Party Politics in Britain, 1866–1914, London 1967; SANDRA STANLEY HOLTON: Feminism and Democracy. Women’s Suffrage and Reform Politics in Britain, 1900–1918, Cambridge 1986; MARTIN PUGH: Women and the Women’s Movements in Britain, 1914–1959, Houndsmills 1992; ANGELA V. JOHN / CLAIRE EUSTANCE (Hg.): The Men’s Share? Masculinities, Male Support, and Women’s Suffrage in Britain, 1890–1920, London 1997; JILL LIDDINGTON / JILL NORRIS: One Hand Tied Behind Us. The Rise of the Women’s Suffrage Movement (1978), London 2000; SOPHIA A. VAN WINGERDEN: The Women’s Suffrage Movement in Britain, 1866–1928, Basingstoke 1999; BARBARA CAINE: English Feminism 1780–1980, Oxford 1997; DIES.: Victorian Feminists, Oxford 1992; CHRISTL WICKERT (Hg.): „Heraus mit dem Frauenwahlrecht“. Die Kämpfe der Frauen in Deutschland und England um die politische Gleichberechtigung, Pfaffenweiler 1990; CHRISTINE BOLT: The Women’s Movement in the United States and Britain from the 1790s to the 1920s, New York 1993; CHERYL LAW: Suffrage and Power. The Women’s Movement, 1918–1928, London 1997. 30 Lady Asquith war, „wenn das möglich ist, eine noch erbittertere Gegnerin des Frauenwahlrechts als er (Asquith) selbst“, schrieb Mrs. Humphrey Ward an Frederic Harrison, 27. 12. 1912, zit. nach: B. HARRISON, Spheres (wie Anm. 28), S. 132.

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Südwesten Englands, aber auch in Schottland, Wales und Nordirland trafen.31 Sie machten mit Artikeln in der „Times“ und Versammlungen auf ihr Anliegen aufmerksam, und es gelang ihnen, gegen die befürchtete Einführung des parlamentarischen Frauenwahlrechts mehr als 300.000 Unterschriften zu mobilisieren.32 In der britischen Antifeministenliga stellten Frauen mit 85 Prozent der Mitglieder eine erdrückende Mehrheit. Nach ihrer Vereinigung mit dem Men’s Committee wurde die Politik der Organisation jedoch von einer kleinen, aber hochkarätigen Schar männlicher Emanzipationsgegner um die beiden ehemaligen Kolonialpolitiker Lord Cromer und Lord Curzon bestimmt: Vor allem sie stellten Kontakte zu Abgeordneten her und nutzten ihre weitreichenden Beziehungen, um Spenden für den Verband einzuwerben. Gelder kamen daher vorwiegend aus Adelskreisen und aus der Londoner City. Aber auch Unternehmen der mächtigen Brau- und Alkoholindustrie unterstützen die Antifeministen mit einem Scheck, fürchteten sie doch ebenso wie ihre Kollegen in den USA den EinÁuss der weiblich dominierten Temperenzorganisationen.33 Wie Versammlungen der englischen Antifeministen-Liga in der ehrwürdigen Royal Albert Hall deutlich machten, war der Verband eine Ansammlung von „rich and titled people“,34 die wie Cromer und Curzon aus den hohen und höchsten Kreisen des edwardianischen Englands kamen: Imperialisten aus der Kolonialverwaltung, etliche Militärs und Peers mit ihren Ehefrauen, einige Schriftstellerinnen, dazu ein erlauchtes Netzwerk ehemaliger Oxford-Absolventen, die sich in den frauenfreien Londoner Clubs wieder trafen – hatte doch Lord Curzon bis 1905 als Vizekönig und Generalgouverneur in Indien amtiert und danach als Kanzler der englischen Elite-Universität fungiert. Lord Cromer lenkte dagegen bis 1906 als Generalkonsul die Geschicke Ägyptens. Während Curzon für die Tories im britischen Parlament saß, war Lord Cromer ein altgedienter Liberaler, der sich in jungen Jahren zum radikalen Flügel des britischen Liberalismus bekannt hatte.35 Aus der weitverzweigten Bankiersfamilie Baring stammend, war er nach militärischer Ausbildung und 31 Vgl. MARTIN PUGH: The March of the Women. A Revisionist Analysis of the Campaign for Women’s Suffrage, 1866–1914, Oxford 2000, S. 153. 32 Vgl. die Zahlen bei B. HARRISON, Spheres (wie Anm. 28), S. 122, 128f. 33 Vgl. ebd., S. 126f, 137. 34 Ebd., S. 137. 35 Zur Geschichte des britischen Liberalismus, meist jedoch unter Vernachlässigung der „Frauenfrage“, vgl. JOHN VINCENT: The Formation of the British Liberal Party, 1857– 1868, Hassocks 1976; JONATHAN PARRY: The Rise and Fall of Liberal Government in Victorian Britain, New Haven/London 1993; GEOFFRY R. SEARLE: The Liberal Party. Triumph and Disintegration, 1886–1929, Basingstoke 22001; mit weiterführender Literatur DETLEV MARES: Goodbye Gladstone. Die Liberale Partei im spätviktorianischen Großbritannien 1886–1906, in: Jahrbuch zur Liberalismus-Forschung 19 (2007), S. 137–162. Vgl. auch DERS.: Auf der Suche nach dem „wahren Liberalismus“. Demokratische Bewegung und liberale Politik im viktorianischen England, Berlin 2002.

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Kolonialdienst in Indien mit der Schuldenverwaltung des bankrotten ägyptischen Staates im Auftrag europäischer Finanzinvestoren betraut worden. Dadurch wurde er schon bald zum faktischen Statthalter Großbritanniens in Ägypten. Ursprünglich im Sinne des „Gladstonian Liberalism“ von einer möglichst zurückhaltenden Kolonialpolitik überzeugt, entwickelte er sich als „man on the spot“ immer stärker zu einem Verfechter britischer Großmachtpolitik.36 1906 trat er wegen einer unbedeutenden politischen Affäre von seinem Posten zurück und zog, zurück in England, für die Liberalen in das Oberhaus ein. Freilich war England nicht mehr der gleiche Ort, den er vor langer Zeit in Richtung Kolonien verlassen hatte. Schon bald beÀelen Cromer Zweifel, ob die ihm so wichtigen imperialen Interessen bei den Liberalen wirklich am besten aufgehoben waren. Die Debatte um die Selbständigkeit Irlands gab schließlich den Ausschlag: Cromer wechselte 1912 zur Unionist Party, die sich wegen der irischen Frage von den Liberalen trennte und mit den Konservativen vereinigte. Das hinderte den ehemaligen ägyptischen Prokonsul aber nicht daran, dem freihändlerischen Lager treu zu bleiben und in der Parlamentskrise der Jahre 1908 und 1909 mit den Liberalen zu stimmen.37 Cromers Hauptinteresse galt jedoch der Bekämpfung der Frauenemanzipation. Der Kampf der Geschlechter schien ihm nichts als Zank und Streit in die Familien zu tragen. Die Vorstellung, den „gentle yet commanding inÁuence“ von Frauen durch eine „unsexed woman voting at the polling booth“ zu ersetzen, schien ihm lächerlich.38 Das Frauenwahlrecht führte nach seiner Auffassung zu einer sozialen und politischen Revolution, die nicht nur Großbritannien, sondern das ganze englische Imperium zu Fall bringen konnte. Vor allem war es das sich abzeichnende Wettrüsten mit Deutschland, das ihn den politischen EinÁuss von Frauen fürchten ließ: „[As] the German man is manly, and the German woman is womanly, [...] can we hope to compete with such a nation [...], if we war against nature, and endeavour to invert the natural roles of the sexes?“39 Genau dieselbe Argumentation – gegenüber der Maskulinität des außenpolitischen Konkurrenten könne man sich keine weiblich-weichlichen Schwächen leisten – war mit umgekehrtem Vorzeichen auch auf dem Kontinent zu hören. Der 1912 gegründete Deutsche Bund zur Bekämpfung der Frauenemanzipation verstand sich als „Wehrverein“, der sich „angesichts der äußeren und 36 Vgl. ROGER OWEN: Lord Cromer. Victorian Imperialist, Edwardian Proconsul, Oxford 2004. Zum Wandel des liberalen britischen Imperialismus vgl. H. C. G. MATTHEW: The Liberal Imperialists. The Ideas and Politics of a Post-Gladstonian Elite, Oxford 1973; BERNARD PORTER: The Absent-Minded Imperialists. Empire, Society, and Culture in Britain, Oxford 2004. 37 Vgl. R. OWEN, Lord Cromer (wie Anm. 36), S. 367–373. 38 LORD CROMER: Speech Against Votes for Women, 26. 3. 1909, in: The Times, 27. 3. 1909, zit. nach: R. OWEN, Lord Cromer (wie Anm. 36), S. 374. 39 B. HARRISON, Spheres (wie Anm. 28), S. 33f, 56, Zitat S. 34.

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inneren Gefahren, denen das Reich augenblicklich ausgesetzt ist“, darum bemühte, „eine Bewegung einzudämmen, die der Gesamtheit zum Verderben, dem Manne zum Unsegen, der Frau zum Fluch gereichen muß“.40 Wie in Großbritannien war es auch in Deutschland die Furcht vor einer bevorstehenden Einführung des Frauenstimmrechtes, die vor dem Hintergrund des zunehmenden EinÁusses einer Arbeiterpartei die Emanzipationsgegner auf den Plan rief. Und auch im deutschen Antifeminismus spielten imperialistische Argumente eine zentrale Rolle, wenn es darum ging, gegen die drohende Feminisierung der Politik den „germanischen Männergeist wieder zu erwecken“, um im sozialdarwinistisch verstandenen Wettkampf der Nationen bestehen zu können.41 Entsprechend sehnten die Emanzipationsgegner den Krieg wegen seiner „gewaltigen Auslösung männlicher Energie“ herbei und begrüßten ihn 1914 als Wiederkehr der „gute[n] alte[n] Zeit des Herren- und Vaterrechts“ und Ende der „schmachvolle[n] Verweibsung“ der modernen Kultur.42 Anders als sein englisches Vorbild war der Deutsche Bund zur Bekämpfung der Frauenemanzipation aber keine reine Honoratiorenvereinigung, die sich in einigen örtlichen Zirkeln erschöpfte. Die deutsche Antifeministenliga war stärker auf den politischen Massenmarkt hin ausgerichtet. Sie suchte den Kontakt zu den großen Berufsverbänden der Handlungsgehilfen, Militäranwärter, kleinen Beamten und Lehrer, die sich seit dem ausgehenden 19. Jahrhundert zunehmend von weiblicher Konkurrenz bedroht fühlten. Durch korporative Mitgliedschaften – allein der Deutschnationale Handlungsgehilfenverband brachte vor dem Ersten Weltkrieg 140.000 Mitglieder ein – erreichte der antifeministische Bund weit größere Mitgliederzahlen als sein englisches Pendant.43 Neben männlichen Berufsverbänden setzte sich die Anhängerschaft der Antifeministenliga vor allem aus Angehörigen der nationalen Opposition und der konservativen Parteien zusammen. Sie alle hatten die Erfahrung machen müssen, dass in Politik und Arbeitswelt die exklusiven Orte männlicher Homosozialität allmählich durchlässig wurden. Seit sich nach dem Fall des preußischen Vereinsrechts selbst rechts stehende Parteien und Verbände für weibliche Anhänger öffneten, traten vor allem Deutschkonservative, Alldeutsche und Antisemiten der Liga bei, die mit dem neuen Kurs ihrer Verbandsleitungen nicht einverstanden waren. Doch auch einige Nationalliberale hatten den Weg zu den Antifeministen gefunden.

40 Satzungen des Deutschen Bundes gegen die Frauenemanzipation, in: Universitätsbibliothek Freiburg, NL Ludwig Schemann, II D. 41 ERNST OBERFOHREN: Zum Frauenstimmrecht, in: Deutsche Tageszeitung, Nr. 164, 20. 3. 1912. 42 FRIEDRICH SIGISMUND: Frauenbewegung und Staat, in: Politisch-anthropologische Revue 15 (1916/17), S. 426–438, hier S. 428. 43 Vgl. zur Zusammensetzung der Mitglieder U. PLANERT, Antifeminismus (wie Anm. 5).

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Wie umstritten die Frauenfrage bei den Nationalliberalen war und wie schwankend die Haltung der Partei, mögen einige Hinweise illustrieren. Im März 1910 verabschiedete der Zentralvorstand eine Resolution, die forderte „Frauen mehr als bisher zur politischen Mitarbeit in den nationalliberalen Vereinen heranzuziehen“. Ende desselben Jahres konnte man dagegen im ofÀziellen Parteiorgan lesen, die politisierte Frau werde „zum Zwischending zwischen Mann und Weib, [...] sich selbst zur Qual und anderen zum Spott“. Ein halbes Jahr später sprachen sich die Nationalliberalen diffus für die „Erweiterung der Rechte der Frauen in der Gemeinde“ aus, sehr klar aber gegen das Stimmrecht auf Reichs- und Landtagsebene. Immerhin trat 1912 ein ofÀzieller Frauenausschuss der Partei ins Leben, und der Generalsekretär gab aus diesem Anlass zu erkennen, dass er die „Pforten der Partei gern und freudig den nationalliberalen Frauen öffnen“ wolle. Vorsitzende des nationalliberalen Frauenausschusses war übrigens Julie Bassermann, die Ehefrau des nationalliberalen Parteichefs. Ihm war längst klar, dass die Frauenfrage am Vorabend des Ersten Weltkriegs zu einem „Machtfaktor im öffentlichen Leben“ geworden war.44 An der Parteibasis war die „Bassermann-Linie“ freilich stark umstritten. Widerstand kam vor allem aus dem Norden Deutschlands. Hier musste man sich – anders als etwa in der Hochburg Baden – erst an die Mitarbeit von Frauen gewöhnen.45 Nicht umsonst war der Vorsitzende des Bundes zur Bekämpfung der Frauenemanzipation ein Nationalliberaler aus Kiel. Er organisierte Protesterklärungen unter Parteigenossen, und auch der „Deutsche Kurier“ stellte seine Spalten Anhängern der antifeministischen Liga zur Verfügung. Während andere nationalliberale Blätter zurückhaltend reagierten, durften Antifeministen im „Deutschen Kurier“ ihre Parteigenossinnen ungestraft als pervers denunzieren und des „krankhaften Mannweibtums“ zeihen.46 Selbst bei den Linksliberalen war die Haltung zum Frauenstimmrecht umstritten. Als einzige liberale Partei nahm die kleine Demokratische Vereinigung 1910 die Forderung in ihr Programm auf.47 Friedrich Naumann und Theodor Barth hatten seit Ende des 19. Jahrhunderts versucht, die Erneuerung des Liberalismus durch die Integration der Arbeiterschaft in den Nationalstaat zu befördern. Auch die Frauen gerieten in das Blickfeld der liberalen Revisionisten. Seit Naumann in einem weithin rezipierten Artikel dem weiblichen Geschlecht das Recht auf Entwicklungsfreiheit zugestand, galt er in den Augen vieler bürgerlichen Frauenrechtlerinnen als natürlicher Verbündeter weiblicher 44 Vgl. ebd., S. 108. 45 In Ländern mit weniger restriktivem Vereinsrecht wie Baden oder Hamburg lassen sich die ersten weiblichen Parteimitglieder schon für die Zeit nach der Jahrhundertwende feststellen. Vgl. DIETER LANGEWIESCHE: Liberalismus in Deutschland, Frankfurt a. M. 1988, S. 155. 46 Vgl. U. PLANERT, Antifeminismus (wie Anm. 5), S. 173. 47 Vgl. dazu A. SCHASER, Helene Lange (wie Anm. 1).

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Emanzipationsansprüche. Wenngleich die bürgerliche Frauenbewegung als Institution parteipolitische Neutralität wahrte, ließen die prominenten Vorkämpferinnen bei Wahlen durchaus ihre Präferenzen erkennen und setzten auf Wahlkampfhilfe für die bürgerliche Linke. Dabei war den politisch Erfahrenen unter ihnen durchaus klar, dass die Ausdehnung liberaler Selbstverständlichkeiten auf das weibliche Geschlecht selbst im (links)liberalen Lager auf Widerstände stoßen würde.48 Und in der Tat: Trotz aller verbaler Bekundungen kam ihr Anliegen nicht voran. Als die SPD 1906 im Reichstag einen Antrag zur Einführung des gleichen Wahlrechts in den Einzelstaaten des Kaiserreichs einbrachte, lehnten ihn die linksliberalen Fraktionen wegen seiner frauenpolitischen Implikation ab. Selbst freisinnige Abgeordnete hielten das Frauenstimmrecht für verfrüht und wollten es als „Krönung der Gebäude der Frauenrechte“ auf unbestimmte Zeit in die Zukunft verschieben.49 Schon die Mitarbeit der linksliberalen Parteien im Bülow-Block machte weitere Hoffnungen zunichte, und beim Zusammenschluss der liberalen Parteien zur Fortschrittlichen Volkspartei 1910 geriet die Frauenfrage dann gänzlich unter die Räder. Um die ohnehin prekäre Einheit der Partei nicht zu gefährden, wurde die Forderung nach dem Frauenwahlrecht nicht in das gemeinsame Programm aufgenommen. Noch 1912 stellte der Geschäftsführende Ausschuss der Partei fest, dass die Gegnerschaft einiger seiner Mitglieder zum Frauenwahlrecht so stark sei, dass sie ein Parteiprogramm mit dieser Forderung nicht mittragen würden.50 Beim Parteitag im selben Jahr konnte lediglich eine Resolution verabschiedet werden, welche die Parteigenossen aufforderte, „die Frauen im Kampf um ihre politischen Rechte bis zur vollen staatsbürgerlichen Gleichberechtigung zu unterstützen“.51 Immerhin konnten sich die Linksliberalen dazu entschließen, 1914 im preußischen Landtag das Gemeindewahlrecht für wirtschaftlich selbständige Frauen zu fordern. Damit folgten sie einer urliberalen Linie, die politische Mitwirkungsrechte an die Fähigkeit koppelte, durch Steuerzahlung zum Gemeinwesen beizutragen.52 Die Linksliberalen gehörten dann auch zusammen mit den Sozialdemokraten zu den einzigen Parteien, bei denen die antifeministische Liga keine Anhänger rekrutieren konnte. Anders sah es bei den Nationalliberalen aus. Deren sich durchaus ändernde Haltung zur Frauenfrage will ich abschließend am Beispiel Heinrich von Treitschkes illustrieren, den die Antifeministen gern als Kronzeugen anführten.53 Treitschke, dessen Oszillieren zwischen Libera48 Vgl. ULF HEIDEL: Sehnsucht nach Liberalismus. Bürgerliche Frauenbewegung und liberaler Revisionismus zu Beginn des 20. Jahrhunderts, in: Ariadne 52 (2007), S. 14–21. 49 Vgl. ebd., S. 17. 50 Vgl. A. SCHASER, Helene Lange (wie Anm. 1), S. 139. 51 Protokoll des Parteitages der Fortschrittlichen Volkspartei vom 4. bis 7. Oktober 1912 in Mannheim, zit. nach: ebd., S. 140. 52 Vgl. D. LANGEWIESCHE, Liberalismus (wie Anm. 45), S. 208. 53 Vgl. U. PLANERT, Antifeminismus (wie Anm. 5), S. 123.

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lismus, Antisemitismus und Konservatismus Anlass zu zahlreichen Forschungen gegeben hat, war für Friedrich Meinecke ein Vertreter des „klassischen Liberalismus“.54 Tatsächlich spiegeln Treitschkes Verlautbarungen in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts geradezu paradigmatisch die Positionen eines Liberalismus wider, der sich zwar Bildungsinteressen nicht verschloss, aber skeptisch gegenüber der Ausdehnung von Partizipationsansprüchen verhielt und gleichzeitig den Nationalstaat vergötterte. Nach vollzogener Reichseinigung wurde das Nationsverständnis der Nationalliberalen von einer „krankhaften Hypertrophie der Vaterlandsliebe“ (Hugo Preuß) und ausschweifenden imperialen Visionen begleitet.55 Ausgerechnet der Vorzeige-Antifeminist Treitschke war es jedoch, der im Kontext seiner Auseinandersetzung mit John Stuart Mills „On Liberty“ 1861 die Unterdrückung des weiblichen Geschlechts kritisiert hatte. Während er der Abschaffung ständischer und feudaler Privilegien das Wort redete, prangerte Treitschke auch die „natürliche Aristokratie [...] des männlichen Geschlechts“ an, in der er den „mächtigsten und geschlossensten der Stände“ erblickte. In „unfreier Engherzigkeit“ bestehe „unter uns Herren des Erdkreises eine stille Verschwörung“, Frauen die menschheitsfördernde „Freiheit der Bildung“ zu versagen – ein Übel auch und gerade für den Staat, schrieb Treitschke Frauen doch die Fähigkeit zu, das „politische Elend dieses Volkes“ – gemeint ist die fehlende Nationalstaatlichkeit – besser zu verstehen als ihr männlicher Gegenpart.56 Da der sittliche EinÁuss der Frauen „auf Volk und Staat“ für ihn außer Frage stand und ihm an der Verbreitung aufklärerischer Ideen zur Begrenzung kirchlichen EinÁusses lag, war Frauenbildung liberale Notwendigkeit. Die Möglichkeit einer politischen Betätigung von Frauen war Treitschke zu diesem Zeitpunkt nicht vorstellbar.57 Einige Jahrzehnte später hörte sich das schon ganz anders an. In seiner beliebten Vorlesung zur Politik, die ganze Generationen von Studenten prägte, 54 Vgl. den ausführlichen Literaturbericht von ULRICH LANGER: Heinrich von Treitschke. Politische Biographie eines deutschen Nationalisten, Düsseldorf 1998, hier insb. S. 1–60. Der Inhalt des Werkes erschließt sich leichter, wenn man weiß, dass die zugrunde liegende Dissertation unter dem Titel „Heinrich von Treitschke und der Liberalismus“ eingereicht wurde. 55 HUGO PREUSS, Deutschland und sein Reichskanzler gegenüber dem Geist unserer Zeit (1885), zit. nach: DIETER LANGEWIESCHE: Moderner Staat in Deutschland – eine DeÀzitgeschichte. Hugo Preuß’ radikale Kritik des preußisch-deutschen Sonderwegs in die Moderne, in: DERS.: Reich, Nation, Förderation. Deutschland und Europa, München 2008, S. 161–179, hier S. 173. 56 HEINRICH VON TREITSCHKE: Die Freiheit (1861), in: DERS.: Ausgewählte Schriften, Bd. 1, Leipzig 61915, S. 1–47, hier S. 45f. 57 Vgl. HEINRICH VON TREITSCHKE: Die Gesellschaftswissenschaft. Ein kritischer Versuch (1859), Darmstadt 1980, S. 52. Verschwiegen soll allerdings nicht werden, dass Treitschke das weibliche Geschlecht schon in seiner Habilitationsschrift dem Bereich der Familie als Antipode des Staates zuschlägt und den patriarchalen Staat von Männern lenken lassen will, „die auch im Hause regieren“. Ebd., S. 51.

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wetterte der Berliner Ordinarius gegen die „Invasion der Weiber“ in den Universitäten und erklärte Emanzipationsbestrebungen zur „Frivolität“.58 Wo es nicht mehr um einen großzügig gewährten Anteil an liberaler Menschenbildung, sondern um konkrete Teilhabe in Politik und Arbeitswelt ging, war das Ende der Zugeständnisse gekommen. Nun wäre es einfach, Vorbehalte gegenüber Frauenrechten als Verteidigung männlicher Privilegien abzutun. Das war natürlich auch der Fall, und bei den meisten Antifeministen neben einem gefühlten Unbehagen sicherlich das Hauptmotiv. Doch wenn man Treitschkes frühe Schriften betrachtet, steckt dahinter auch ein gewissermaßen nationalliberales System. Neben dem bekannten bürgerlichen Geschlechterdualismus, dessen antiegalitäre Implikation so schön im liberalen „Staats-Lexikon“ nachzulesen ist,59 war es vor allem Treitschkes Staatsverständnis, das jeden Gedanken an eine Gleichheit der Geschlechter verhinderte. Schon in seiner Auseinandersetzung mit Mill hatte Treitschke dessen „Freiheit vom Staat“ die „Freiheit im Staat“ gegenübergestellt. Anders als in der Tradition des englischen Liberalismus waren der Staat und seine Funktionsfähigkeit vielen deutschen Nationalliberalen Selbstzweck und oberstes Prinzip. Der Staat wiederum ruhte auf der sprichwörtlichen Keimzelle der Familie, als deren Repräsentantin nach der geschlechtsspeziÀschen Scheidung von öffentlicher und privater Sphäre die Frau erschien. Diese gedankliche Operation ist in der Literatur vielfach genannt und kritisiert worden. Was bei der Debatte über die bürgerliche Geschlechterideologie vielleicht noch unterbelichtet blieb, ist, warum es ein antifeudaler und staatsbejahender Liberalismus auf die reinliche Scheidung von Staat und Familie anlegen musste. Eine mögliche Antwort bietet Treitschkes Habilitationsschrift von 1858, in der er sich mit Wilhelm Heinrich Riehls Familienbuch auseinandersetzte. In seiner Kritik an Riehl wird deutlich, dass „Familie“ für Treitschke noch zweierlei bedeutete: die bürgerliche Kleinfamilie im modernen Sinn, aber auch der ältere Familienbegriff im Sinne einer adeligen Clanstruktur. Wer die Macht des Adels brechen und den liberalen Staat an seine Stelle setzen will, muss folglich den EinÁuss von Familienclans beschneiden und die Familie dem Staat unterordnen. Erst nachdem die Familie älteren Typs depotenziert und auf ihre Rumpfstruktur zurückgeführt ist, kann sie zur Keimzelle des Staates werden. Die Loyalität des Familienoberhauptes darf nicht mehr der Familie gelten, sondern dem Staat, der ihm dafür Mitwirkungsrechte einräumt. Das Familienoberhaupt – der Mann – wird der öffentlichen Sphäre des Staates verpÁichtet. Wenn nun der Frau als Repräsentantin der Familie der Raum des Privaten zugewiesen wird, wird die Bedeutung von Familienstrukturen auf diese Weise 58 HEINRICH VON TREITSCHKE: Politik. Vorlesungen gehalten an der Universität zu Berlin, hg. v. Max Cornicelius, Bd. 1, Leipzig 1897, S. 249–253. 59 Vgl. zu dessen verschiedenen AuÁagen U. PLANERT, Antifeminismus (wie Anm. 5), S. 21f.

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privatisiert und entpolitisiert. Der Staat trennt sich, wie es bei Treitschke heißt, allmählich von der Familie, und das Familienrecht wird ins Privatrecht überführt.60 Mir scheint, auch wegen dieser antifeudalen Implikation nehmen ReÁexionen über Ehe und Familie in den staatstheoretischen Schriften des 19. Jahrhunderts so breiten Raum ein. Der Rest ist bekannt: Frauen erscheinen nicht als Individuen, sondern als Repräsentanten der Familie und der Gattung. Auf diese Weise ist es ein Leichtes, ihnen liberale Individualrechte vorzuenthalten. Und als Vertreterin der Familie sind sie dem Mann ebenso untergeordnet, wie die private Sphäre sich der öffentlichen zu fügen hat. Am Ende ist der Staat männlichen Geschlechts, ein Satz, der sich für Treitschke von selbst verstand.61 Die antifeudale Stoßrichtung verband den Nationalliberalen Treitschke mit den liberalen französischen Republikanern, die sich gleichfalls als Verteidiger des modernen Staates gegen intermediäre Gewalten sahen. Auch hier wurden Frauen mit den Mächten des Ancien Régime gleichgesetzt, deren EinÁuss der liberale Staat brechen musste. Wer so denkt, darf den Staat nicht den Frauen ausliefern. Und noch in einem weiteren Punkt spielt der Etatismus der Liberalen bei ihrer Haltung zur Frauenfrage eine große Rolle. Gegen Ende des 19. Jahrhunderts verband sich der Liberalismus in England, Frankreich und Deutschland gleichermaßen mit imperialer Großmachtpolitik. Die wirtschaftspolitische Suche nach Rohstoffen und Absatzmärkten war dafür ebenso ausschlaggebend wie die Vorstellung einer historischen Zivilisierungsmission und innenpolitische Faktoren. Als die Einheit erfüllt war und man in der Weltpolitik nach neuen gemeinsamen Zielen suchte, wurden die deutschen Nationalliberalen zur „Kolonialpartei par excellence“62. Der imperiale Staat aber war ein Machtstaat, und in der außenpolitischen Konkurrenzsituation seit dem Ende des 19. Jahrhunderts schloss das Bekenntnis zum Kolonialismus die Bereitschaft zur Kriegsführung ein. Und für die Anhänger des nationalen Machtstaates in Europa – ob sie nun konservativ wählten oder liberal – war und blieb Krieg eine Männerbastion. Der Liberalismus, so das Fazit, erwies sich keineswegs als natürlicher Koalitionspartner der Frauenbewegung. Geschlechterdualismus, die Trennung von männlicher Öffentlichkeit und weiblichem Privatleben, Hinwendung zum imperialen Machtstaat, die Wahrung traditioneller Privilegien, nicht selten wohl auch unreÁektiertes Unbehagen – dies alles stand der Ausdehnung politischer Partizipationsrechte auf das weibliche Geschlecht selbst im liberalen Lager entgegen. Von daher mag man sich fragen, warum sich die Liberalen 60 Vgl. H. V. TREITSCHKE, Gesellschaftswissenschaft (wie Anm. 57), S. 49–52, hier S. 51f. 61 Dieses Diktum machte Ute Frevert zum Ausgangspunkt ihrer Überlegungen: UTE FREVERT: „Unser Staat ist männlichen Geschlechts“. Zur politischen Topographie der Geschlechter vom 18. bis frühen 20. Jahrhundert, in: DIES.: „Mann und Weib, und Weib und Mann“. Geschlechter-Differenzen in der Moderne, München 1995, S. 61–132. 62 Vgl. D. LANGEWIESCHE, Liberalismus (wie Anm. 45), S. 219–222.

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vor dem Ersten Weltkrieg überhaupt mühsam, aber erkennbar in Richtung Frauenstimmrecht bewegten und sich nicht noch stärker in antifeministischen Zusammenhängen engagierten. In Großbritannien dürfte die Erklärung in der Struktur der antifeministischen Vereinigung als rückwärtsgewandte Honoratiorenpartei der „rich and titled people“ liegen. Dieses Spektrum war für Liberale, die nach vorn ins 20. Jahrhundert blickten und denen in der Labour Party eine veritable Konkurrenz erwuchs, wenig attraktiv. Für Deutschland spielte die erkennbar nationalistisch-antisemitische und parteipolitisch konservativ dominierte Ausrichtung des Bundes zur Bekämpfung der Frauenemanzipation eine wichtige Rolle. Für Linksliberale stellte das eine unüberwindliche weltanschauliche Barriere dar. Auf nationalliberaler Seite war die allgemeinpolitische Schnittmenge größer, doch auch hier dürfte der Bund nur für solche Nationalliberalen attraktiv gewesen sein, die ohnehin bereits am äußersten rechten Rand der Partei standen oder von einem anderen starken Grund – Berufskonkurrenz etwa – zum Beitritt motiviert wurden. Einen genuin liberalen Antifeminismus im Sinne der obigen DeÀnition gab es also in Westeuropa nicht. Stattdessen herrschten auch im Liberalismus misogyne Auffassungen und eine frauenfeindliche politische Praxis vor. Noch stärker als in anderen Ländern wurde das in Frankreich deutlich, wo der politische Liberalismus der Radicaux gewissermaßen das Geschäft der Antifeministen besorgte. Aber auch in Deutschland hatte die Frauenbewegung in den Liberalen keine verlässlichen Verbündeten. Lässt man die Entwicklung in Westeuropa am Vorabend des Ersten Weltkrieges Revue passieren, fällt auf, dass man von liberaler Seite Fraueninteressen – wie schwankend auch immer – nur dort überhaupt näher trat, wo die liberalen Parteien innenpolitisch über keine saturierte Mehrheit verfügten und eine starke Arbeiterpartei mit Frauenwahlrechtsforderung ihnen gewissermaßen von links Konkurrenz machte. In dieser Situation vermochten taktische Überlegungen zur Gewinnung neuer Wählerschichten die bisherige Zurückhaltung vielleicht stärker aufzubrechen als der in allen Ländern zunehmende Druck der Frauenbewegungen, das Freiheitsversprechen des Liberalismus auch für die Frauen einzulösen.

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„Ob dieses Siegens waren die Liberalen ganz paff“. Juden und Nichtjuden in der ländlichen Lokalpolitik Badens 1862 bis 1933 Ulrich Baumann

In der Geschichte des deutschen Liberalismus nimmt Baden eine zentrale Rolle ein, die die wirtschaftliche und demographische Bedeutung des Landes innerhalb des Deutschen Bundes bzw. des Deutschen Reiches weit überstrahlt. In dem südwestdeutschen Großherzogtum, das nicht einmal fünf Prozent der Fläche des größten Bundesstaates, Preußen, umfasste, errangen die Liberalen ab 1860 den Status einer „regierenden Partei“ (Lothar Gall). In einer beispiellosen politischen Kurswende hatte Großherzog Friedrich I. nach einer Abstimmungsniederlage seiner Minister in der Badischen Zweiten Kammer die Spitzen der Regierung ausgetauscht. Unter deren Ägide wurde das Verhältnis zur katholischen Kirche neu bestimmt, die lokale Selbstverwaltung gestärkt und, im Jahr 1862, der jüdischen Bevölkerung in Baden der Weg zur endgültigen Gleichberechtigung geöffnet.1 Von nun sollte auch jüdischen Männern das volle Gemeindebürgerrecht zustehen. Die Kammer hatte trotz eines heftigen Petitionssturms insbesondere aus ländlichen Gemeinden einstimmig für die Vorlage gestimmt. Die badischen Juden dankten dem verantwortlichen liberalen Innenminister, dem Protestanten August Lamey, diesen Meilenstein der Emanzipationsgeschichte im Jahr 1896 durch die Benennung einer Loge der B’nai-B’rith-Vereinigung mit seinem Namen.2 Zum Zeitpunkt der Verabschiedung 1862 gehörte der Zweiten Kammer erstmals auch ein jüdischer Abgeordneter an, der Liberale Rudolf Kusel. Er betonte bei den Beratungen, die Juden erstrebten keine Gnade, sondern ihr Recht.3 Das Großherzogtum schritt bei der Überwindung von Barrieren zwischen Juden und Nichtjuden weiter voran: 1866 berief die Universität Heidelberg den Juristen Levin Goldschmidt zum ordentlichen Professor. Mit Goldschmidt, 1

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Vgl. ULRICH TJADEN: Liberalismus im katholischen Baden. Geschichte, Organisation und Struktur der Nationalliberalen Partei Badens 1869–1893, Phil. Diss., Freiburg 2003, einzusehen unter: http://www.freidok.uni-freiburg.de/volltexte/616, S. 34f [Abruf: 2. 2. 2009]. Vgl. ADOLF LEWIN: Geschichte der badischen Juden seit der Regierung Karl Friedrichs (1738–1909), Karlsruhe 1909, S. 500. Vgl. ERNEST HAMBURGER: JudenimöffentlichenLeben Deutschlands. Regierungsmitglieder, Beamte und Parlamentarier in der monarchischen Zeit. 1848 – 1918, Tübingen 1968, S. 236.

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der später für die Nationalliberalen in den Reichstag einziehen sollte, besetzte erstmals in Deutschland ein Angehöriger der jüdischen Religionsgemeinschaft einen juristischen Lehrstuhl.4 Und schließlich: 1868 wurde der Karlsruher Jude Moritz Ellstätter zum Präsidenten des Finanzministeriums ernannt. Dabei ist allerdings anzumerken, dass der liberalen Partei in Baden seine Amtsübernahme nicht zuzuschreiben ist: Seine Berufung erfolgte vielmehr in einer Phase, in der das bisherige enge Vertrauensverhältnis zwischen der badischen Regierung (ab 1868 unter Julius Jolly) und der liberalen Fraktion nicht mehr bestand. Jolly nahm keinerlei Rücksichten auf die regierende Partei. Ein eindeutiges Zeichen dafür war, so der Historiker Ulrich Tjaden, „die Berufung des Juden Moritz Ellstätter zum Finanzminister – und damit zum ersten jüdischen Regierungsmitglied in Deutschland –, die bei den Liberalen auf große Bedenken stieß, denn, abgesehen von eigenen Vorurteilen, befürchteten sie heftige Widerstände in der Bevölkerung.“5 Die Stellung der Partei zu Ellstätters Ernennung zeigt die Doppelgesichtigkeit des Liberalismus in Baden und die Grenzen der Reformbereitschaft. Der Hinweis auf die Bevölkerung erinnert dabei an eine von Reinhard Rürup analysierte ArgumentationsÀgur, die Jahrzehnte zuvor, im Vormärz, von der Mehrheit der badischen Liberalen vertreten wurde: den Wünschen der Wähler zu folgen und sich gegen die Emanzipation zu stellen.6 Wenn im Folgenden versucht werden soll, das Verhältnis von Liberalen und Juden in Baden für das letzte Drittel des 19. Jahrhunderts neu auszuloten, so soll dies nicht anhand prominenter Exponenten des Emanzipationsprozesses geschehen, und auch abseits der Hauptstadt und anderer urbaner Zentren wie Mannheim, Freiburg oder Heidelberg. Moritz Ellstätter und Levin Goldschmidt waren zwei von rund 24.000 Juden und Jüdinnen zwischen Main und Bodensee. Über die Hälfte lebte zur Zeit der Reichsgründung 1871 noch in einer der über 100 jüdischen Kultusgemeinden (hebräisch: Kehilla/Kehillot) in Kleinstädten oder Dörfern. Teile Badens gehörten damit zu den Kerngebieten des deutschen Landjudentums. Die Siedlungsstruktur der badischen Juden entsprach jener in anderen Gebieten wie Franken, Hessen oder der Pfalz: Juden bzw. jüdische Familien lebten kaum verstreut auf dem Lande, sondern – entsprechend der Politik jener Territorialherren des Alten Reiches, die ihnen den Zuzug erlaubt hatten – in einer beschränkten Zahl von Dörfern und Kleinstädten. Die ländlichen Kehillot waren folglich meist mehrere hundert Seelen stark und machten häuÀg einen hohen Bevölkerungsanteil in den Gesamtgemeinden 4

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Vgl. CHRISTIAN KELLER: Victor Ehrenberg und Georg Jellinek. Briefwechsel 1872–1911, Frankfurt a. M. 2005, S. 70; LOTHAR WEYHE: Levin Goldschmidt. Ein Gelehrtenleben in Deutschland. Grundfragen des Handelsrechts und der Zivilrechtswissenschaft in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts, Berlin 1996. U. TJADEN, Liberalismus (wie Anm. 1), S. 82. REINHARD RÜRUP: Emanzipation und Antisemitismus. Studien zur „Judenfrage“ der bürgerlichen Gesellschaft, Frankfurt a. M. 1987, S. 78.

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aus, teilweise bis zu einem Drittel, in Einzelfällen bis zur Hälfte der Einwohner. Das interreligiöse Miteinander in den so genannten „Judendörfern“ war Bestandteil des Alltagslebens. Es hatte seine Verankerung unter anderem in nachbarschaftlichen Kontakten, im Wirtshaus, in Vereinen und in den formalisierten Bereichen der Dorfpolitik, aber auch in der politischen Willensbildung in landes- und reichspolitischen Fragen. Hier, im interkonfessionellen Kommunikationsraum, spielte auch die liberale Bewegung und die Auseinandersetzung mit ihr eine wichtige Rolle. 1. Grundstruktur der dörflichen Politik Die genannten Sphären der Begegnung von Christen und Juden umschlossen allerdings nicht alle Dorf- und Kleinstadtbewohner gleichermaßen. Es griffen hier Exklusionsmuster nach der Schichten- vor allem aber der Geschlechtszugehörigkeit der Landbewohner. Die Kommunikationsräume der Frauen auf dem Land waren – interkonfessionell – die Nachbarschaft und der Straßenraum, binnenkonfessionell auch die Begegnungen vor und nach den Gottesdiensten. Hier tauschten sie Neuigkeiten über die Familien oder Dorfereignisse aus. Vertraut man den Einsichten der Ethnologen Albert Ilien und Utz Jeggle, unterschied sich der Diskurs der Männer von dem der Frauen, denn es war für die Männer „unterhalb einer gewissen Relevanzschwelle Ehrensache“, sich für die Gesprächsthemen der Frauen nicht zu interessieren.7 Allerdings ergänzten die Volkskundler: Männer kamen ohne die in der Nachbarschaft verhandelten Neuigkeiten nicht aus, denn diese prägten das Prestigesystem. Ilien und Jeggle nennen diese Form der Dorföffentlichkeit deshalb die „relevante Öffentlichkeit“ und unterschieden sie von der „eminenten Öffentlichkeit“ der männlichen Entscheidungsträger, der die Frauen fernbleiben mussten. Diese Restriktion deckte sich mit den gesetzlichen Regelungen für eine Teilnahme an den kommunalen Gremien. Bekanntermaßen besaßen Frauen bis 1919 kein Wahlrecht. So blieb das Recht der formellen Partizipation in der Gemeindenpolitik den Männern vorbehalten. Allgemein wurden die Gemeinderäte vom „Kleinen Bürgerausschuss“ gewählt. Er musste bis 1896 zu allen wichtigen Etatfragen einberufen werden. Seine Wahl wiederum erfolgte über ein Wahlverfahren nach Steuerklassen. Die jüdische Minderheit hatte daher je nach Wahlbeteiligung durchaus die Chance, eine über ihre demographische Stärke gehende Repräsentanz zu erreichen. 7

ALBERT ILIEN / UTZ JEGGLE: Leben auf dem Dorf – zur Sozialgeschichte des Dorfes und zur Sozialpsychologie seiner Bewohner, Opladen 1978, S. 178. Der in Schmieheim aufgewachsene christliche Interviewpartner Landwirt Otto Kölle, geb. 1901, gest. 1989, sprach in dem am 8. 10. 1988 mit dem Autor geführten Interview von „neugierigen Weibsleut“ und meinte damit Christinnen, die die Synagoge von innen besahen.

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Die Steuerverhältnisse reÁektieren die wirtschaftliche Dichotomie der beiden Konfessionsgruppen. Für die hauptsächlich landwirtschaftlich und handwerklich tätigen Angehörigen der christlichen Bevölkerungsgruppe ging es darum, angesichts der im Durchschnitt extrem kleinen AnbauÁächen in Baden mehr Land zu erwerben. Zumindest in den konjunkturabhängigen Weinbaugebieten verlief das ökonomische Handeln häuÀg in dem Kreislauf Kauf und Verkauf, Verschuldung und Zwangsversteigerung. Viele lebten buchstäblich von der Hand in den Mund. So versteuerten im Jahr 1900 immerhin 153 der 277 Landwirte in Eichstetten nur 200 Mark und weniger als Jahreseinkommen;8 zu dieser Zahl sind noch 22 Landwirte zu zählen, die überhaupt kein Einkommen versteuerten, aber aus anderen Gründen in der Steuerliste erschienen. Zur besseren Einschätzung dieser Einkommenssätze sei hinzugefügt, dass ein Müller 2.300 Mark verdiente und der evangelische Pfarrer 3.300 Mark. Die jüdische Mittel- und Oberschicht des Kaiserstuhldorfes setzte sich vornehmlich aus Viehhändlern und einzelnen Wein- oder Mehlhändler zusammen. Pro-Kopf gerechnet überstieg das Einkommen der Juden in Eichstetten jenes der Christen 1900 um knapp das Vierfache. Anzumerken ist aber, dass auch ein Teil der jüdischen Bevölkerung von Marginalisierung betroffen war.So verdienten im Jahr 1891 immerhin 28 % der jüdischen Eichstetter Steuerzahler nur 200 Mark.9 Es handelte sich vor allem um kleinere Viehhändler und „Handelsfrauen“, Makler, Lumpensammler und Witwen. Die wirtschaftliche Dichotomie führte zu unterschiedlichen Interessen innerhalb der Bevölkerung – auf Seiten der bäuerlichen Bevölkerung defensives Bewahren, auf Seiten der jüdischen Händler Aufbau einer modernen Infrastruktur, um dem von den Großstädten ausgehenden Konkurrenzdruck standhalten zu können. Allerdings ist für die Forschung kaum möglich, diese Diskussionen aus den Gemeindeunterlagen herauszuarbeiten. Bis kurz vor dem Ersten Weltkrieg gab es in Baden keine kommunale Listenwahl, und die IdentiÀzierung von Personen mit politischen Programmen fällt aus der zeitlichen Entfernung schwer und noch schwerer ist daher eine Freilegung von Interessengruppen.

2. Behördliche Unterstellungen: „Überwuchern des liberalisierenden Judentums“ Auskünfte geben allerdings die Ortbereisungsprotokolle der Amtmänner. So berichtete der Amtmann des Bezirkes Ettenheim 1894 von seinem Besuch in

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Das Einkommen war nach Stufen von 25 Mark gestaffelt, versteuert wurden 175, 150, 125, 100 Mark. Vgl. Gemeindearchiv Eichstetten, GE R I H5 1873–1919. Freundlicher Hinweis von Christina Weiblen, Freiburg.

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der Gemeinde Altdorf. Der ausschließlich christlich besetzte Gemeinderat klagte dort über eine ungünstig verlaufene Abstimmung: „[...] die zahlreichen Israeliten [... haben], wie der Gemeinderat sagt, den Bürgerausschuß ganz in der Tasche [...], es brauche von diesen nur einer den Mund auftun, und so werde oft in Verkennung der eigenen Interessen abgestimmt. Die Hauswasserleitung ging auch im Bürgerausschuß nur deshalb durch, weil die Israeliten dafür waren“.10

Mit eiserner Sparsamkeit hatte der Altdorfer Gemeinderat den Ort an die Grenze der Unwohnlichkeit und sanitären Verwahrlosung geführt. Zwei Jahre zuvor hatte Altdorf auch den Anschluss an die Eisenbahn „verschlafen“. Zu kostspieligen Neuerungen war er nicht bereit. Das hier angeführte Zitat, die zahlreichen Israeliten hätten, wie der Gemeinderat sagte, „den Bürgerausschuß ganz in der Tasche“, war vage formuliert. Was die Aussage „in der Tasche haben“ wirklich bedeutete, ließ der Amtmann offen. So bleiben verschiedene Möglichkeiten der Interpretation: Überzeugten die israelitischen Bürgerausschussmitglieder durch eine besondere Argumentationsfähigkeit bzw. durch Charisma, oder übten sie EinÁuss über Geld, Kredit und Arbeitsplätze aus? Für Letzteres dürften jedoch die Grundlagen gefehlt haben. Aus den Wahlen zum Bürgerausschuss wissen wir um die sozialen Verhältnisse der Altdorfer Juden. Die meisten jüdischen Bürgerausschussmitglieder in Altdorf waren über die untere und mittlere Steuerklasse gewählt worden. Juden machten in der ersten Steuerklasse nur 12,5 % der Wahlmänner aus, in der mittleren 21,9 %, in der unteren jedoch 31,6 %. Eine sehr viel schärfer formulierte Position nahm der Konstanzer Amtmann im Jahr 1883 ein, nachdem er die in seinem Amtsbezirk liegende Gemeinde Gailingen bereist hatte. Gailingen nimmt unter den badischen Landgemeinden eine Sonderstellung ein. Juden und Jüdinnen stellten zur Zeit der Reichsgründung hier kurze Zeit die Mehrheit der Einwohner; im Jahr 1870 wurde hier der einzige jüdische Dorfbürgermeister in Baden, Leopold Hirsch Guggenheim, gewählt.11 Dreizehn Jahre später, Guggenheim befand sich noch im Amt, hatte der bisher liberal eingestellte katholische Gemeinderechner Hirth sein bisheriges politisches Lager verlassen. Der Amtmann schrieb: „Übrigens ist das jüdische Element der Einwohnerschaft nach Vermögensbesitz dem christlichen ganz bedeutend überlegen. [...] Die wirtschaftliche Überlegenheit macht sich auch im bürgerlichen und gesellschaftlichen Leben bemerkbar, namentlich aber auch bei

10 Staatsarchiv Freiburg 1979/81 G16/5 103, Ortbereisung. 11 Guggenheim blieb ein Einzelfall. Erst nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs übernahmen in zwei Dörfern Juden wieder führende Gemeindeämter. 1945 wurde in Schmieheim der jüdische Bürger David Bloch, geb. 1896 in Schmieheim, gest. 1955 in Freiburg, von der Besatzungsmacht als Bürgermeister eingesetzt. Er hatte das Konzentrationslager Auschwitz überlebt. Bloch wurde 1946 durch den Gemeinderat im Amt bestätigt. In Wangen übernahm der jüdische Arzt Dr. Nathan Wolf, geb. 1882, gest. 1970, nach seiner Rückkehr aus der schweizer Emigration den Posten des stellvertretenden Bürgermeisters. Er war zudem über 24 Jahre Gemeinderat und wurde einziger Ehrenbürger Wangens.

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Ulrich Baumann Gemeinde- und politischen Wahlen. In dieser von Jahr zu Jahr fühlbarer werdenden Überlegenheit der Israeliten scheint mir auch der psychologische Erklärungsgrund dafür zu liegen, daß ein sonst so intelligenter und tüchtiger Mann wie Gemeinderechner Otto Hirth seine frühere liberale Parteistellung verleugnete und zur Gegenpartei überging, wie denn überhaupt die christliche Bürgerschaft, soweit sie nicht wirtschaftlich oder geschäftlich von den Israeliten abhängig ist, in Reaktion gegen das Überwuchern des liberalisierenden Judentums auf dem Oppositionsstandpunkt steht.“12

Für den Amtmann gab es drei Gruppen von Gailingern: die Juden, die von den Juden wirtschaftlich Abhängigen und diejenigen Christen, die auf dem „Oppositionsstandpunkt“ standen. Es ist anzunehmen, dass der Amtmann mit der Bezeichnung „Gegenpartei“ die Anhänger des politischen Katholizismus meinte, was in Baden damals gleichbedeutend mit der 1869 gegründeten „Katholischen Volkspartei“ war, die sich 1888 dem Zentrum anschloss. Der Amtmann vertrat in den Auseinandersetzungen die Position der regierenden Partei der Nationalliberalen, und konnte von dem Austritt des Gemeinderechners Hirth aus dem liberalen Lager nicht unbeeindruckt sein. Hirth war eine der bedeutenden christlichen Persönlichkeiten Gailingens. Er war auch Gemeindeund Bezirksrat und besaß „einen hervorragenden EinÁuss in der Gemeinde“.13 Für den Amtmann stand fest, dass die Schwächung der eigenen Partei durch die Gailinger Juden mitverursacht worden war. Ihnen warf er quasi eine Pervertierung des liberalen Gedankens vor: Sie seien nicht liberal, sie seien liberalisierend. Für den Amtmann bildete das christlich-jüdische Verhältnis den Dreh- und Angelpunkt der Willensbildung im Dorf. Christen waren wegen der Gailinger Juden entweder Anhänger oder Gegner des Liberalismus. Unbestritten ist, dass namhafte Vertreter der Nationalliberalen in Gailingen Juden waren, zunächst Bürgermeister Guggenheim selbst, der später von einem Zentrumsvertreter ehrenvoll ein „liberaler Liberaler“ genannt werden sollte. In den 1890er Jahren war dann Ludwig Rothschild, einer der wohlhabenden KauÁeute am Ort, zugleich auch Vorsitzender des Kriegervereins, eine wichtige Persönlichkeit der Nationalliberalen. Aber wie sah es auf katholischer Seite aus? Es ist in diesem Zusammenhang sinnvoll, die Verhältnisse in Gailingen zunächst in einen größeren Rahmen einzuordnen. Seit einer spektakulären Versammlung der katholischen Kasino-Bewegung im Februar 1865 in Radolfzell war auch die badische Bodenseeregion Schauplatz der liberal-katholischen Auseinandersetzungen.14 Im sogenannten Seekreis erreichten diese KonÁikte in den 1870er Jahren durch 12 ECKHARDT FRIEDRICH / DAGMAR SCHMIEDER-FRIEDRICH (Hg.): Die Gailinger Juden. Materialien zur Geschichte der jüdischen Gemeinde Gailingen aus ihrer Blütezeit und den Jahren der gewaltsamen AuÁösung, Konstanz 1981, S. 30. 13 Nach Bericht des Amtmanns von 1878 gebührte das Verdienst des geordneten Gemeindehaushalts Gailingens neben dem Gemeinderat vor allem „dem sehr tüchtigen Gemeinderechner Otto Hirth [...], der deshalb auch einen hervorragenden EinÁuß“ besitze. Ebd., S. 21–26. 14 Vgl. U. TJADEN, Liberalismus (wie Anm. 1), S. 59.

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die hier besonders starke Welle von Austritten aus der römisch-katholischen und den Zulauf zur neu errichteten Altkatholischen Kirche vermutlich besondere Schärfe.15 Auch in Gailingen hatten offenbar liberal gesinnte Katholiken mit einem Übertritt geliebäugelt; allerdings vollzog ihn niemand. Der bis 1873 in Gailingen amtierende Pfarrer Rutschmann setzte der neuen altkatholischen Bewegung wenig entgegen und enttäuschte damit die Anhänger des politischen Katholizismus. Erst der Dienstantritt eines zweiten Geistlichen, des jungen Vikars Kuntz, stärkte die ultramontane Sache, führte aber auch zu einer Spaltung der Gailinger Katholiken. Auf Kuntz’ Initiative entstand ein katholischer Männerverein, auf den Rutschmann mit der Bildung eines Krankenvereins reagierte.16 Diese knappe Einordnung macht bereits deutlich, dass die „Konversion“ Otto Hirths zur „Gegenpartei“ 1883 in die Geschichte des Kulturkampfes im Bodenseeraum einzuordnen ist, in der katholische Christen unterschiedliche politische Positionen einnahmen. Die verbitterten Schuldzuweisungen des Amtmannes mögen auch damit zu tun gehabt haben, dass die Nationalliberale Partei auf Landesebene bei den badischen Landtagswahlen 1881 eine Niederlage erlitten hatte. Auch 1883 konnte sie nicht an ihre Position der 1870er Jahre anknüpfen.17 Mit seiner antijüdischen Tendenz steht er in einer Reihe mit vielen seiner Kollegen; offenbar war die mittlere Beamtenschaft Badens zu einer unvoreingenommen Betrachtung von Juden nicht in der Lage, was der amerikanische Historiker Michael A. Riff auch im Zusammenhang mit dem Aufstieg der antisemitischen Bewegung feststellen konnte.18 3. Politische Konfliktkultur im Zeichen des Kulturkampfes Über die politische Stimmung im Dorf in jenen Jahren können auch die Ergebnisse zur Reichstagswahl Auskunft geben. In den 1880er Jahren dominierten hier weiterhin die Liberalen. 1881 erzielte der nationalliberale Kandidat Konstantin Noppel, ein katholischer Kaufmann aus Radolfzell, in Gailin15 Vgl. ebd., S. 163. 16 Vgl. DETLEF GIRRES: Gailinger Kirchengeschichte, Teil 2, in: FRANZ GÖTZ (Hg.): Gailingen. Geschichte einer Hochrhein-Gemeinde, Gailingen/Tübingen 2004, S. 189–210, hier S. 201. 17 Vgl. U. TJADEN, Liberalismus (wie Anm. 1), S. 212. 18 Vgl. MICHAEL ANTHONY RIFF: The Government of Baden Against Antisemitism. Political Expediency or Principle?, in: Leo Baeck Institute Year Book 32 (1987), S. 119–134, hier S. 120. Der Konstanzer Beamte schrieb 1882: „Die Geschäfte der Israeliten – hauptsächlich Viehhandel – sollen in letzter Zeit weniger glänzend sein und schreibt man diese mehr erfreuliche als bedauerliche Erscheinung dem neuen Wuchergesetze zu.“ E. FRIEDRICH / D. SCHMIEDER-FRIEDRICH, Juden (wie Anm. 12), S. 31. Vgl. allgemein zu den badischen Amtmännern JOACHIM EIBACH: Der Staat vor Ort. Amtmänner und Bürger im 19. Jahrhundert am Beispiel Badens, Frankfurt a. M./New York 1994.

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gen 65 %, der katholische Kandidat von Buol 35 %, drei Jahre später erreichte Noppel 57 %, sein Gegner 43 %. Im Jahre 1887 lag Noppel wieder bei 63 %, der Vertreter der katholischen Partei kam nur auf 36 %.19 Freilich ist es den Wahlergebnissen nicht zu entnehmen, in welchem Umfang Noppel auch Stimmen von Gailinger Katholiken erhielt, da sowohl die Wahlbeteiligung als auch die Stimmenabgabe beider Konfessionsgruppen unbekannt bleibt. Es ist jedoch zumindest nicht auszuschließen, dass der politische Liberalismus in Gailingen ein verbindendes Band zwischen den Gailinger Juden und einem Teil der katholischen Bevölkerung bildete. Einen tieferen Einblick in die politische Stimmung im Dorf erhalten wir für einen späteren Zeitabschnitt, die 1890er Jahre, durch die Memoiren des katholischen Lokalpolitikers Louis Schreiber (1865–1949). Der aus Gailingen stammende Schreiber hatte während eines Aufenthaltes in Hamburg einige Zeit mit den Sozialdemokraten sympathisiert und war durch seine Mutter, Gattin des Gailinger Polizeidieners und im Dorf bekannt für ihre Belesenheit in politischen Dingen, wieder auf die ultramontane Seite gezogen worden.20 Im Alter von 26 Jahren kehrte Louis Schreiber wieder nach Gailingen zurück und betrieb eine Wirtschaft. Einen ersten Höhepunkt seines politischen Engagements bildete die Landtagswahl 1893. Nach einer Versammlung in seinem Haus konnten die Anhänger der Zentrumspartei bei der Bestimmung von Wahlmännern einen Erfolg verbuchen. „Ob dieses Sieges waren die Liberalen ganz paff“, erinnerte sich Schreiber. „Nun ging’s über den Sabelwirt her [...] und sie dachten, wie zurzeit mein Freund Kaufmann S. H. Weil [jüdischer Bürger, U. B.]: Die Rache (l) ist süß. Vom Wahltage an wurde ich boykottiert und erlitt kolossale Schädigung in meinem Geschäft, man wollte mich eben zahm machen. Ich bin sicher, daß der Boykott ausgeblieben wäre, wenn nicht ein Israelit das Gerücht verbreitet hätte, ich sei nicht nur schwarz, sondern ein Antisemit. Ferner soll ich mich über meine israelitischen Mitbürger in ganz gemeiner Weise ausgesprochen haben. Ich würde mich heute noch schämen, wenn ich die Worte gesprochen hätte, die mir in verlogener Weise in den Mund gelegt wurden.“21

Nach Schreibers Auffassung verschob sich der KonÁikt also von einer liberalkatholischen Auseinandersetzung über den Antisemitismus-Vorwurf hin zu einem KonÁikt von Juden und Nichtjuden. Sprachlich leitet er seine Auslassung mit einem sexistischen Wortspiel in Anklang an das Bild der „belle juive“, der schönen Jüdin, ein. Nach Schreibers Darstellung weitete sich der KonÁikt aus, als ihm auf Betreiben der liberalen Kriegervereinsmitglieder seine Stellung als Vereinswirt entzogen werden sollte. Eine Unterschriftenliste kursierte. 19 Vgl. Generallandesarchiv Karlsruhe 236 Innenministerium »Reichssachen«, 14864ff. 20 Frau Schreiber las mehrere Zeitungen, die ihr Mann zum Rathaus zu tragen hatte. Sie brachte den Sohn Louis dazu, die katholische „Freie Stimme“ zu abonnieren und verlangte sogar monatlich die Zusendung der Abonnementsquittungen. 21 LOUIS SCHREIBER: Erinnerungen und Erlebnisse eines Ultramontanen, Gailingen 1908, S. 17.

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Durch den Einsatz des Vereinsvorsitzenden Ludwig Rothschild scheiterte dieses Ansinnen. Die Lokalverlegung solle „schon des örtlichen Friedens wegen“ unterbleiben. An die Wahrung des örtlichen Friedens wurde noch einmal bei der Reichstagswahl 1903 appelliert, als Schreiber versehentlich eine Zentrumsversammlung nicht geschlossen hatte. Mehrere Liberale verlangten das Wort, im Hintergrund stimmten die Parteien „Die Wacht am Rhein“ und „Mädle ruck ruck ruck“ an. Erst einem jüdischen Gemeinderat gelang es, die Versammelten zu beruhigen; Beleidigungen hätten keine Sinn, man solle vielmehr in den Ruf einstimmen: „Der örtliche Frieden, er lebe hoch!“ Die Beteiligten seien, so Schreiber, dann noch eine Weile zusammengesessen und in Frieden auseinandergegangen. Bei den Reichstagswahlen hatte das Zentrum zu dieser Zeit bereits einen deutlichen Vorsprung vor den Nationalliberalen erzielt. Zugleich war der jüdische Bevölkerungsanteil zurückgegangen. Für die Wahlen zum Bürgerausschuss wurde im Jahr 1904 eine Vereinbarung über den Proporz zwischen Juden und Christen gebrochen, die Wahl der acht Gemeinderäte blieb jedoch paritätisch, und dies selbst nach Einführung der Verhältniswahl. Zusammenfassend dürfte für Gailingen gelten, was der Historiker Heiko Haumann für einen sehr viel größeren politischen Schauplatz, das ebenfalls mehrheitlich katholische Freiburg im Breisgau, feststellte: So seien zwar im Zentrum und in katholischen Kreisen „immer wieder antijüdische Zungenschläge zu hören“ gewesen. Dennoch sei festzustellen: „Die Ausprägung eines (fundamentalistisch-)katholischen, eines (sozial-)liberalen und eines sozialdemokratischen ‚Milieus‘, die sich teilweise heftig bekämpften, zugleich aber vielfach miteinander verÁochten waren, bestimmte ein vorwiegend gemäßigtes politisches Klima.“22 Gerade die Erinnerungen Schreibers an die Formen der KonÁiktbewältigung, so viel Wirtshausromantik sie auch widerspiegeln mögen, lassen sogar die These zu, dass die liberal-ultramontanen Auseinandersetzungen das christlich-jüdische Verhältnis stärkten – eben über die paritätische politische Aushandlung eines Modus Vivendi. Es sei erneut darauf verwiesen, dass dies nur eine Hälfte der Dorfbevölkerung betroffen haben dürfte, die Männer. Louis Schreiber verwendet im Zusammenhang mit der Darstellung des angeblichen Boykotts eine 1893 viel gebrauchte, neue Vokabel: Der Vorwurf gegen ihn habe gelautet, er sei Antisemit. Schreiber weist dies weit von sich, und er dürfte damit nicht allein gestanden haben. Im mehrheitlich katholischen Seekreis konnten sich zu dieser Zeit Anhänger bzw. Kandidaten des politischen Antisemitismus kaum Gehör verschaffen, eben weil die Ausprägung des ge22 HEIKO HAUMANN: Juden in Freiburg i. Br. von der Mitte des 19. Jahrhunderts bis zur Gegenwart. Assimilation, Antisemitismus, Suche nach Identität, in: Landjudentum im süddeutschen- und Bodenseeraum. Wissenschaftliche Tagung zur Eröffnung des jüdischen Museums von Hohenems, veranstaltet vom Vorarlberger Landesarchiv, Dornbirn 1992, S. 155–162, hier S. 158.

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rade beschriebenen gemäßigten Klimas und die Kultur der politischen Auseinandersetzungen die Menschen offenbar immunisiert hatte. Eine Analyse der politischen Kooperation und der KonÁikte von Juden und Christen auf dem Land bleibt jedoch unvollständig, würde sie sich nur auf katholische Regionen beziehen. 4. Herausforderungen in nationalliberalen Hochburgen Abschließend soll deshalb hier ein Blick auf die Situation in einer traditionell protestantischen Region, dem MarkgräÁerland, geworfen werden. Die Untersuchung der Wahlergebnisse für einige der mehrheitlich protestantischen Judendörfer führt hier für die 1880er Jahre zu gänzlich anderen Ergebnissen als in Gailingen. So kam bei der Reichstagswahl 1881 der liberale Reichstagsabgeordnete Markus PÁüger (1824–1907) in der Bezirksamtstadt Müllheim auf 98 %, sein Gegenkandidat von der katholischen Volkspartei auf 2 %. Im Nachbarstädtchen Sulzburg konnte PÁüger sogar sämtliche Stimmen auf sich vereinen. PÁüger gehörte damals der badischen Sektion der Nationalliberalen Partei an und saß für sie im Landtag, war aber aus der Fraktion im Reichstag ausgetreten und zur Liberalen Vereinigung gewechselt. 1884 stellte die in Baden regierende Partei mit dem in Müllheim wohnhaften Weinhändler Hermann Blankenhorn (1836–1895) dann einen eigenen Kandidaten gegen PÁüger auf; und beide liberale Bewerber führten einen erbitterten Wahlkampf. In den folgenden Jahren nahmen die beiden Judendörfer Müllheim und Sulzburg eine gegensätzliche politische Entwicklung. Hermann Blankenhorn und sein Nachfolger, der Weingutsbesitzer Dr. Ernst Blankenhorn (1853–1917), konnten in Müllheim jeweils einen hohen Prozentsatz erzielen, während PÁüger in Sulzburg mit Wahlergebnissen von bis zu 90 % abschloss. Die Linksliberalen blieben dort auch dann tonangebend, als der örtliche Bürgermeister Ernst Bark die Nachfolge PÁügers als Kandidat im Wahlkreis antrat. Es lässt sich also, wenig überraschend, feststellen: Die mehrheitlich evangelischen Wähler der beiden Judendörfer neigten liberalen Richtungen zu; eine unterschiedliche politische Willensäußerung von Juden und Christen ist nicht zu erkennen. Doch Anfang der 1890er Jahre geriet das christlich-jüdische Verhältnis im MarkgräÁer Land in eine Krise, ausgelöst durch das Auftreten des politisch organisierten Antisemitismus. Das Wort „Antisemitenbewegung“ taucht in den Akten des Bezirksamts Müllheim zum ersten Mal im Januar 1881 im Zusammenhang mit der Androhung eines „Judenkrawalls“ auf, der dann allerdings nicht stattfand. Im Jahr 1890 trat die Bewegung hier dann parteipolitisch in Erscheinung. Am 30. April 1890 hielt in Müllheim der Reichstagsabgeordnete Max Liebermann von

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Sonnenberg23 eine Rede. Nach dem Bericht des Gendarmen bestand zu dieser Zeit in Müllheim ein antisemitischer Ausschuss, dem neben einem Lehrer u. a. ein Architekt und ein Müller angehörten. Zehn Tage später berichtete das Bezirksamt, dass seitens der Antisemiten die Gründung eines Vereins vorbereitet werde; auf eine entsprechende Liste sollen sich „93 Personen der verschiedensten Kreise der hiesigen Einwohnerschaft“ eingetragen haben. Einem Bericht des Landeskommissärs zufolge drohte die Stimmung in der Stadt zu eskalieren, als die Müllheimer Israeliten ihre christlichen Geschäftspartner zu boykottieren begannen. Auf Anregung des Kommissärs konnte die Situation jedoch entschärft werden, und die Anhänger der neuen Bewegung hätten beschlossen, die weitere Agitation zu unterlassen. Die Reichstagswahlen vom 15. Juni 1893 erbrachten allerdings dann einzelne außerordentliche Erfolge für den antisemitischen Kandidaten im badischen Wahlkreis IV, der vom Kaiserstuhl bis in die Gegend von Basel reichte. Der Bewerber, Kurarzt Vogel aus der Nähe von Badenweiler, reüssierte in einigen mehrheitlich protestantischen Gemeinden des MarkgräÁerlandes, an seinem Wohnort kam er auf über 60 %. In den mehrheitlich katholischen Gemeinden, in der Stadt Lörrach, aber auch im nördlicher gelegenen Amtsbezirk Breisach kam er nur in zwei Gemeinden an die Ergebnisse des MarkgräÁerlandes heran, in den anderen mehrheitlich evangelischen Gemeinden des Bezirks konnte er sich nicht gegen den nationalliberalen Konkurrenten Blankenhorn durchsetzen. Blankenhorn reüssierte auch in der Bezirksstadt Müllheim, aber für Vogel entschieden sich 85 Müllheimer, das entsprach 15 % der gültigen Stimmen. Es stellt sich die Frage: Warum Müllheim und die Müllheimer Gegend? Es wäre töricht, diesen Erfolg auf eine einzelne Ursache zurückzuführen. Einige Erklärungsmöglichkeiten für die Region Müllheim seien hier dargestellt. Die Gegend war als Weinregion besonders krisengeschüttelt: Schlechte Ernten, strenge Winter wie 1879/80 und der ständig große Kapitalbedarf der Winzer führte hier zu landesweit überdurchschnittlichen Liegenschaftsversteigerungen. In einer solchen Situation suchte man gern die Schuld bei jüdischen Kreditgebern. Wichtiger scheint aber, dass das ganze Umfeld günstig für die Antisemitenparteien war. Helmut Walser Smith hat darauf hingewiesen, dass die Attraktivität der Bewegung häuÀg darin begründet war, lokale Eliten herauszufordern und das System der nationalliberalen Honoratiorenherrschaft in Frage zu stellen.24 So richtete sich das Wahlverhalten in Müllheim wohl in 23 THOMAS WEIDEMANN: Politischer Antisemitismus im Deutschen Kaiserreich. Der Reichstagsabgeordnete Max Liebermann von Sonnenberg und der nordhessische Wahlkreis Fritzlar-Homberg-Ziegenhain, in: HARTWIG BAMBEY / ADOLF BISKAMP / BERND LINDENTHAL (Hg.): Heimatvertriebene Nachbarn. Beiträge zur Geschichte der Juden im Kreis Ziegenhain, Bd. 1, Schwalmstadt-Treysa 1993, S. 113–184. 24 HELMUT WALSER SMITH: Alltag und politischer Antisemitismus in Baden 1890–1900, in: Zeitschrift für die Geschichte des Oberrheins 141 (1993), S. 280–303.

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erster Linie gegen den nationalliberalen Kandidaten Blankenhorn, der der wohl vornehmsten christlichen Familie in Müllheim angehörte. In Müllheim hat den Erfolg der Antisemiten wohl auch begünstigt, dass Blankenhorns Gegner ebenfalls angesehene Bürger waren. So wird berichtet, dass die Antisemitenpartei vor allem bei den Gewerbetreibenden der Stadt große Erfolge feierte. Diese Erfolge waren jedoch von kurzer Dauer. Das Großherzogtum wurde mit der antisemitischen Herausforderung fertig. Dazu trug, bei allen vorhandenen antijüdischen Ressentiments, das Vorgehen der badischen Verwaltung bei, aber auch die engagierte Abwehrarbeit der badischen Juden selbst. An mehreren Orten störten Juden, teilweise in Verbindung mit Sozialdemokraten, antisemitische Versammlungen. Welchen Erfolg ein rechtzeitiges Engagement haben konnte, zeigt sich am Beispiel der Stadt Sulzburg. Nach einem Bericht der Mitteilungen des Vereins zur Abwehr des Antisemitismus von 1893 gerierte sich der dortige Arzt „bei jedem auch nur denkbaren Anlass im Tone des Berliner Radauantisemitismus.“ Sulzburger Juden gaben daraufhin eine Stellenanzeige für einen zweiten Arzt auf, und fügten ihrem Aufruf offenbar hinzu, er solle „der süddeutschen freisinnigen Richtung“ angehören.25 Ob das Unternehmen glückte, ist nicht bekannt. Der bisher ortsansässige Arzt verblieb in Sulzburg, 1911 wurde er Vorstandsmitglied des elitären Kränzle-Vereins im Ort. Erst während oder nach dem Ersten Weltkrieg verließ er die Stadt. Sein Antisemitismus konnte sich in Sulzburg nicht durchsetzen. Bei den Reichstagswahlen im Jahr 1893 kam der antisemitische Kandidat Vogel auf gerade einmal zwei Stimmen, 75 % der Sulzburger entscheiden sich für den linksliberalen Kandidaten. Parteipolitisch erhielt sich Sulzburg seine linksliberale Ausrichtung. Bei aller Problematik, politische Traditionslinien über Generationen zu ziehen, ist doch festzustellen, dass die starke freisinnige Tradition hier bis in die Weimarer Republik hineinreichte. Im Gegensatz zu anderen mehrheitlich evangelischen Orten, in denen seit 1919 bei nahezu jeder Wahl Mehrheiten wechselten und sich über DNVP und Landbund zur NSDAP verschoben, blieb hier bis 1930 die DDP bzw. Staatspartei die stärkste Partei. Dies lag zum Teil am Engagement der jüdischen Bürger.

5. Zusammenfassung Die badischen Juden verdankten der regierenden liberalen Partei des Großherzogtums die Teilhabe am politischen Leben ihrer Heimatorte. Die bürgerliche Gleichstellung Àel in eine komplexe Phase gesellschaftlicher Veränderungen, auch auf dem Lande. Die Krise der Landwirtschaft und die Wucherdebatten der 1880er Jahre, aber auch die harten Auseinandersetzungen zwischen dem Staat und der katholischen Kirche beeinÁussten direkt oder indirekt das Ver25 Mitteilungen des Vereins zur Abwehr des Antisemitismus vom 8. 10. 1893.

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hältnis von Juden und Christen. Für viele Regionen sind die Aspekte der ländlichen Politik allerdings bis heute nicht erforscht. So wäre für die sogenannten Judendörfer auch den Ausprägungen der populären politischen Kultur nachzugehen, wie sie zuletzt von Oded Heilbronner mit seiner Studie „Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit und Dynamit“26 zum Liberalismus in den katholischen Gebieten Südbadens untersucht wurde. Möglicherweise entwickelte sich im populären bzw. regionalen Liberalismus ein gemeinsamer Schirm, unter dem sich Juden und Teile der katholischen Landbevölkerung (in Opposition zu den Ultramontanen) zusammenfanden. Umgekehrt ließ sich für das Fallbeispiel Gailingen feststellen, dass sich sogar die harten liberal-ultramontanen Auseinandersetzungen, die von den Zeitgenossen offenbar unmittelbar in Zusammenhang mit dem christlich-jüdischen Verhältnis gesehen wurden, indirekt zu dessen Stabilisierung beitrugen: Die Wahlkämpfe fungierten als Schauplatz eines Kräftemessens; sie wurden von beiden Seiten nicht mit Hass geführt und kamen, anders als bei den Auseinandersetzungen zwischen den Antisemiten und ihren Gegnern, ohne Gewalt aus. Dazu trug sicherlich die religiöse Bindung der Beteiligten bzw. der EinÁuss der Führung des politischen Katholizismus bei. Die Entwicklung einer politischen Streitkultur fußte auch auf dem komplexen Setting der politischen Verhältnisse zwischen Katholiken und Juden während des Kulturkampfes in Baden. Jahrhundertealte Rollen hatten sich gewissermaßen umgekehrt. Die eben noch rechtlosen jüdischen Dorfbewohner waren nun auf der Seite des politischen Establishments im Großherzogtum zu Ànden, die Katholiken hingegen sahen sich in einer emanzipatorischen Situation. Aus diesem Paradoxon mag ein gewisser Reiz, ja Eros des Wettbewerbs erwachsen sein. Vertraut man dem Chronisten Schreiber, so stand dann, am Klimax des Kräftemessens der Gailinger Männer (bekräftigt durch das Anstimmen von Liedern), das vergemeinschaftende Hoch auf den örtlichen Frieden, die kathartische oder euphorisierende Entladung der Aggressionen. Dass der Liberalismus auch in mehrheitlich protestantischen Gemeinden eine gemeinsame Basis für Christen und Juden abgab, lässt sich mit den entsprechenden Wahlergebnissen allein noch nicht belegen. Wo es keine Alternative gab, ist Einstimmigkeit noch kein Beleg für eine politische Übereinstimmung. Nationalliberale Wahlerfolge von bis zu 100 % der gültigen Stimmen lassen die Vermutung aufkommen, dass eine lokale differenzierte politische Kultur nicht bestand. Auch hier wäre im Detail allerdings zu untersuchen, wie einzelne Protestanten und Juden unter dem Dach des Nationalliberalismus oder des Freisinns das Aufsteigen des politischen Antisemitismus vor Ort aktiv bekämpften. Vor allem bedarf es einer regional übergreifenden und vergleichenden Forschung zum deutschen Landjudentum und zu den christlich-jüdi26 ODED HEILBRONNER: „Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit und Dynamit“. Populäre Kultur, populärer Liberalismus und Bürgertum im ländlichen Süddeutschland von den 1860ern bis zu den 1930ern, München 2007.

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schen Beziehungen auf dem Lande, in der Untersuchungen zur politischen Willensbildung zwischen 1871 und 1918 in verschiedenen deutschen Staaten bzw. preußischen Provinzen gegenübergestellt werden. Eine diachrone Synthese ist nun, gut zwanzig Jahre nach der (Wieder-)Entdeckung des Landjudentums als historiographisches Thema, überfällig.

Liberale Stadtkultur und die Grenzen der Integration Stefanie Schüler-Springorum

Hätte man um die Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert einen Königsberger Liberalen nach dem genius loci seiner Heimatstadt gefragt, so hätte er vermutlich im Brustton der Überzeugung geantwortet, dass Königsberg die liberale Stadt per se sei, im Grunde die heimliche Hauptstadt des deutschen Liberalismus, die Wiege seiner eher linksliberalen Variante und er hätte, so ließe sich vorstellen, zunächst einmal mit ehrwürdigem Gestus auf Kant verwiesen und dann in schneller Abfolge die Namen Theodor von Schön, Theodor von Hippel, Eduard von Simson, Johann Jacoby aufgezählt und natürlich mit bedeutender Miene „Vormärz“ gesagt und „1848“. Wäre der Befragte zudem noch Jude gewesen, so wäre diesem idyllischen liberalen Stillleben noch ein weiterer Pinselstrich hinzugefügt worden: Hier in Königsberg leben wir Juden in der besten aller Welten, auf einer Insel der Toleranz zwischen den Konfessionen, an deren Ufer die sporadischen Wellen der Reaktion, der Engstirnigkeit, des Antisemitismus gar, mehr oder weniger spurlos versanden. Die eigentlich interessante und leider nicht so leicht zu beantwortende Frage wäre nun, welche Faktoren eigentlich die Wahrnehmung oder das Bewusstsein der Zeitgenossen intensiver geprägt haben: die allgemeinen Zeitläufte, wie sie einem in der Presse, in Zeitschriften oder Büchern entgegenschlugen, oder aber die Erfahrungen vor Ort, in der alltäglichen Umgebung, in der man lebte, arbeitete und mit Verwandten, Freunden und Kollegen interagierte. Einiges spricht für die zweite Variante. Nicht umsonst hat schon vor vielen Jahren Lothar Gall darauf hingewiesen, dass der EinÁuss der stadtbürgerlichen Gesellschaft ganz allgemein viel größer gewesen sei als bisher angenommen.1 Leider haben diese wichtigen Bemerkungen bislang für die Geschichte des Liberalismus nur wenige neuere Forschungen angeregt, während für die deutsch-jüdische Geschichte, neben den großen Arbeiten von Ernest Hamburger und Peter Pulzer, zumindest einige Lokal- und Regionalstudien vorliegen, die auch auf die jüdische Partizipation in der Kommunalpolitik eingehen.2 1

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LOTHAR GALL: Stadt und Bürgertum im 19. Jahrhundert. Ein Problemaufriß, in: DERS.: Stadt und Bürgertum im 19. Jahrhundert (Historische Zeitschrift, Beiheft 12), München 1990, S. 1–18. ERNEST HAMBURGER: Juden im öffentlichen Leben Deutschlands. Regierungsmitglieder, Beamte und Parlamentarier in der monarchischen Zeit 1848–1918, Tübingen 1968; PETER

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Insgesamt aber muss auch hier konstatiert werden, dass genau dieses Thema – das jüdisch-liberale lokalpolitische Engagement – bisher noch nicht in einer Gesamtschau betrachtet worden ist, was umso bedauerlicher erscheint, da es sich doch hier um das klassische Feld jüdischer politischer Aktivität in Deutschland handelt – worin im Übrigen ein zentraler Unterschied liegt zur anderen Gruppe, die im Zentrum dieses Bandes steht: zu den Frauen. Will man also das Verhältnis von Liberalismus und Judentum klarer konturieren, so muss man sich auch die Mühe machen, sich auf die lokale Ebene zu begeben, und genau dies möchte ich im Folgenden tun, indem ich kurz die historische Entwicklung in Königsberg skizziere, dann auf einen Skandal näher eingehe, der kurz vor dem Ersten Weltkrieg diese liberale Idylle im äußersten Nordosten des Deutschen Reiches nachhaltig erschütterte, und schließlich deren Zusammenbruch nach 1918 beleuchte. 1. Die liberale Insel Man war, wie gesagt, im Königsberg der Jahrhundertwende stolz auf die große liberale Vergangenheit der Stadt, zu einer Zeit also, als das politische Pendel im übrigen Land schon längst in eine andere Richtung schlug. Dabei hatten jüdische Bürger der Stadt zweimal während des 19. Jahrhunderts, zur Zeit der Emanzipation und im Vormärz, eine weit über das Lokale hinausgehende politische Bedeutung erlangt – Namen wie Friedländer oder Jacoby stehen symbolisch für diese glorreichen Zeiten.3 Sehr früh eingesetzt hatte aber auch die Mitarbeit einzelner prominenter Gemeindemitglieder an der kommunalen Selbstverwaltung der ostpreußischen Hauptstadt. Beide Phänomene beschränkten sich auf die dünne Schicht der akademisch gebildeten FreiberuÁer bzw. der GroßkauÁeute und Bankiers,

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PULZER: Die jüdische Beteiligung an der Politik, in: WERNER E. MOSSE / ARNOLD PAUCKER (Hg.): Die Juden im Wilhelminischen Deutschland, Tübingen 1976, S. 143–240; DERS.: Jews and the German State. The Political History of a Minority, Oxford 1992; INA LORENZ: Die Juden in Hamburg zur Zeit der Weimarer Republik, 2 Bde., Hamburg 1987; STEFANIE SCHÜLER-SPRINGORUM: Die jüdische Minderheit in Königsberg/Preußen, 1871–1945, Göttingen 1996; TILL VAN RAHDEN: Juden und andere Breslauer. Die Beziehung zwischen Juden, Protestanten und Katholiken in einer deutschen Großstadt von 1860 bis 1925, Göttingen 2000; ULRICH BAUMANN: Zerstörte Nachbarschaften. Christen und Juden in badischen Landgemeinden 1862–1940, Hamburg 2000; JAN PALMOWSKI: Between Dependence and InÁuence. Jews and Liberalism in Frankfurt am Main, 1864–1933, in: HENNING TEWES / JONATHAN WRIGHT (HG.), Liberalism, Anti-Semitism, and Democracy. Essays in Honour of Peter Pulzer, Oxford 2001, S. 76–101. Vgl. JACOB TOURY: Der Anteil der Juden an der städtischen Selbstverwaltung im vormärzlichen Deutschland, in: Bulletin des Leo Baeck Instituts 23 (1963), S. 265–286; DERS.: Jüdische Bürgerrechtskämpfer im vormärzlichen Königsberg, in: Jahrbuch für die Geschichte Mittel- und Ostdeutschlands 32 (1983), S. 175–216.

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während die Mehrheit der Gemeindemitglieder politisch eher passiv blieb, dabei jedoch – bestärkt durch das Vorbild der prominenten Politiker aus ihren Reihen – vermutlich stärker zum (Links-)Liberalismus tendierte als der Durchschnitt der jüdischen Bevölkerung in Preußen und in den anderen deutschen Staaten.4 Für die Zeit des Kaiserreichs lässt sich dies anhand der Wahlergebnisse für Reichstag und Stadtverordnetenversammlung erhärten: Während die Mehrheit des deutschen und des deutsch-jüdischen Bürgertums nach 1866 die nationalliberale Partei und die Bismarcksche Politik unterstützte, blieb die ostpreußische Hauptstadt den liberalen Vorstellungen der Fortschrittspartei treu. In den ersten drei Wahlen konnte diese auf nationaler Ebene zunehmend marginalisierte Partei ihren Königsberger Abgeordneten in den Reichstag schicken, zweimal sogar mit absoluter Mehrheit. Nur 1878 und 1887 gelang es einem Wahlbündnis aus Nationalliberalen und Konservativen, ihren Kandidaten durchzubringen. Von 1890 bis zum Ersten Weltkrieg, mit Ausnahme der Blockwahlen 1907, gewann schließlich die SPD regelmäßig das Königsberger Reichsmandat. Und nur einmal, im Jahre 1898, konnte eine explizit antisemitische Partei in Königsberg Stimmen gewinnen, und zwar genau 421 oder 1,6 %.5 Das Fortleben der linksliberalen Tradition des Königsberger Bürgertums in den konservativen Jahrzehnten des Kaiserreichs wird zudem durch die Zusammensetzung der nach preußischem Dreiklassenwahlrecht gewählten Stadtverordnetenversammlung belegt. Da in Königsberg auch die erste Klasse häuÀg linksliberal wählte, beherrschte die Fortschrittspartei bzw. der Freisinn bis zum Ersten Weltkrieg die Lokalpolitik. In der Stadtverordnetenversammlung und im Magistrat hatte, wie überall in Deutschland, die Mehrzahl der politisch aktiven Juden in Königsberg ihr Tätigkeitsfeld gefunden. Der genaue prozentuale Anteil der jüdischen Kommunalpolitiker im Kaiserreich ist mangels entsprechender Daten zwar nicht rekonstruierbar, es lässt sich jedoch auch hier aufgrund der politischen Traditionen der Stadt vermuten, dass er in Königsberg eher über- als unterdurchschnittlich war.6 Dem Vorstand des wichtigsten politischen Vereins des Königsberger Bürgertums, dem 1893 gegründeten linksliberalen Verein Waldeck, gehörten z. B. mit Max Lichtenstein als Vorsitzendem, dem Handelsvertreter Oskar Eichelbaum und dem Führer der Fortschrittspartei Gustav Oske gleich drei prominente Gemeindemitglieder an. Die gleiche politische Richtung vertrat auch die Großzahl der jüdischen Stadtverordneten und – meist unbesoldeten – Stadträte. Bei vielen von ihnen Àndet man die für die jüdischen Lokalpolitiker in Deutschland so charakteristische Verbindung von politischem Engagement mit dem in der jüdischen Gemeinde und ihren Vereinen. So waren beispiels4 5 6

Vgl. ST. SCHÜLER-SPRINGORUM, Minderheit (wie Anm. 2), S. 37–41. Vgl. ebd., Anhang, S. 375 Vgl. JACOB TOURY: Die politischen Orientierungen der Juden in Deutschland. Von Jena bis Weimar, Tübingen 1966.

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weise alle Vorsitzenden der Synagogengemeinde zwischen 1854 und 1914 gleichzeitig Mitglieder der städtischen Körperschaften. Die Aufzählung jüdischer Stadtverordneter im Kaiserreich ist, wie schon erwähnt, sicher unvollständig, gewährt aber doch einen Eindruck vom Ansehen und kommunalen Engagement einer bestimmten Schicht jüdischer Bürger, das sich, wie z. B. im Falle der Stadträte Leo, Magnus und Michelly, manchmal über mehrere Jahrzehnte erstrecken konnte.7 Unter den bekannten nationalliberalen Politikern in Königsberg gab es mit Ausnahme des religiös indifferenten Ferdinand Falkson keine Juden, was jedoch umgekehrt nicht bedeutet, dass diese Partei nicht auch von Gemeindemitgliedern gewählt wurde.8 Ähnliches lässt sich im Übrigen auch für die Sozialdemokratie in der preußischen Hauptstadt sagen, die allerdings mit Hugo Haase, der seit 1898 dreimal das Königsberger Reichstagsmandat gewann, gleich einen außergewöhnlich prominenten jüdischen Politiker aufzuweisen hatte.9 Von diesen wenigen Ausnahmen abgesehen, blieben die Königsberger Juden auch im Kaiserreich mehrheitlich dem (Links-)Liberalismus treu, dessen angesehene jüdische Vertreter in der politischen Lokaltradition diese Option vermutlich zusätzlich begünstigten. Jacob Toury hat nachgewiesen, dass sich die Mehrheit der deutschen Juden politisch, so weit es ihnen möglich war, an den Präferenzen des deutschen Bürgertums orientierte. In Königsberg, wo der Linksliberalismus während des Kaiserreichs ungebrochen die Partei des Bürgertums blieb, konnte die jüdische Minderheit ihre politisch liberale Orientierung mit der „Sehnsucht nach Konformität“ vereinen. Sie war somit im politischen Leben der ostpreußischen Hauptstadt objektiv und vor allem auch subjektiv sehr viel stärker integriert als dies allgemein für die Juden im Kaiserreich der Fall war, die ja, wie wir wissen, durch die Spaltung der Nationalliberalen und den politischen Antisemitismus seit den achtziger Jahren in die Opposition zur bürgerlichen Mehrheit gedrängt wurden.10 7

Zusammengestellt nach FRITZ GAUSE: Die Geschichte der Stadt Königsberg in Preußen, 3 Bde., Köln 1965/1968/1971, Bd. 2, S. 611–623, 638. 8 Allerdings Ànden sich in dieser Gruppe viele prominente Protestanten jüdischer Herkunft, die von ihren Mitbürgern vermutlich weiter als Juden betrachtet wurden, wie z. B. der Ordinarius Fritz Litten oder der Stadtschulrat Paul Stettiner; zu Litten vgl. KNUT BERGBAUER / SABINE FRÖHLICH / STEFANIE SCHÜLER-SPRINGORUM: DenkmalsÀgur. Biographische Annäherung an Hans Litten 1903–1938, Göttingen 2008. Zu Stettiner: WILHELM MATULL: Stadtschulrat Prof. Dr. Paul Stettiner. Leben und Leistung, in: Acta Prussica. Festschrift für Fritz Gause (Beiheft 29 des Jahrbuchs der Albertus-Universität zu Königsberg i. Pr.), Würzburg 1968, S. 298–305. 9 LUDGER HEID: „… dass ich mit vielen Banden an Königsberg fest und gern hänge“. Hugo Haase – eine Skizze, in: MICHAEL BROCKE / MARGRET HEITMANN / HARALD LORDICK (Hg.): Zur Geschichte und Kultur der Juden in Ost- und Westpreußen, Hildesheim 2000, S. 485–509. 10 Vgl. J. TOURY, Orientierungen (wie Anm. 6), S. 170–201; STEVEN M. LOWENSTEIN: Um-

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Anlässlich der Einweihung der Neuen Synagoge im Jahre 1896 fasste der Oberbürgermeister der Stadt diesen lokalen Ausnahmezustand eindrücklich zusammen: „Es ist gewissermaßen eine wilde Zeit, in welcher wir heute leben. Längst verrottete, aber tief eingewurzelte Anschauungen wagen sich wieder ans Tageslicht. Falsche Begriffe von Ehre und Ehrgefühl werden wieder wach und trotzen besseren und aufgeklärteren Meinungen. [...] Da will mir der heutige Tag wie das AuÁeuchten einer besseren Zeit erscheinen. [...] Hier in Königsberg leben die Bekenner aller Religionen und aller Konfessionen in Frieden und Eintracht neben- und miteinander. Dass dem so ist, daran hat auch die hiesige jüdische Bevölkerung selbst kein ganz geringes Verdienst. […] So muss ich rühmend und dankend anerkennen die tätige und aufopfernde Mitarbeit unserer israelitischen Mitbürger, nicht bloß in der städtischen Verwaltung, sondern überhaupt in allen öffentlichen Angelegenheiten. Nur ungern und gewiss zum Schaden der Gesamtheit würden wir missen die Anhänger des mosaischen Glaubens in unserer Stadtverordnetenversammlung, in unserem Magistratskollegium, in den vielerlei Kommissionen und Deputationen, in den städtischen und sonstigen Ehrenämtern. Und so manches gute und schöne Werk wäre unterblieben oder doch nur halb gediehen, wenn nicht unsere jüdischen Mitbürger mit Rat und Tat mitgeholfen hätten und noch mithelfen würden.“11

2. Der Fall Lichtenstein Auf diese Lokalidylle sollte jedoch kurz vor Ausbruch des Weltkrieges ein erster Schatten fallen, als sich erstmals öffentlich antisemitische Tendenzen in der Freisinnigen Volkspartei durchsetzen konnten. Nach dem Tod des Königsberger Landtagsabgeordneten Robert Gyssling 1912 erschien weiten Kreisen der liberalen Wähler und Politiker der Stadt der schon erwähnte Rechtsanwalt Max Lichtenstein als selbstverständlicher Nachfolger. Der 1860 im ostpreußischen Ortelsburg geborene Lichtenstein, ein angesehener Strafverteidiger, war seit über 20 Jahren in der liberalen Bewegung der Stadt aktiv und galt, so schreibt zumindest die Jüdische Rundschau, als „einer ihrer ersten, fähigsten und eifrigsten Vorkämpfer, wozu er durch seine glänzende Beredsamkeit, seinen scharfen Verstand und seine ungeheure Belesenheit geradezu prädestiniert“ war.12 Besonders unter den im Königsberger Linksliberalismus so einÁussreichen Handwerkern erfreute sich Lichtenstein eines guten Rufes, er hatte dem Handwerkerverein mehr als zehn Jahre vorgestanden, ebenso, wie erwähnt, dem Verein Waldeck, hinzu kamen zahlreiche Ämter innerhalb der strittene Integration 1871–1918 (Deutsch-jüdische Geschichte in der Neuzeit, Bd. 3), München 1997, S. 151–192. 11 Der volle Text der Ansprache ist abgedruckt in: JOSEPH ROSENTHAL: Die gottesdienstlichen Einrichtungen in der Jüdischen Gemeinde zu Königsberg i. Pr. Festschrift zur 25. Wiederkehr des Tages der Einweihung der Neuen Gemeindesynagoge, Königsberg 1921, S. 26–28. 12 HUGO HOPPE: Königsberger Brief. Der Fall Lichtenstein – Antisemitismus in der Fortschrittlichen Volkspartei, in: Jüdische Rundschau 18, Nr. 36, 5. 9. 1913, S. 374–376.

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Freisinnigen Partei in Ostpreußen und er war, seit 1894, auch Stadtverordneter. Im Jahr 1907 ließ er sich für seine Partei in einem aussichtslosen Wahlkreis der ostpreußischen Provinz aufstellen und ruinierte im Wahlkampf – immer auf Reisen in die kleinen Dörfer und Städtchen – beinahe seine Gesundheit. Kurzum, es kam eigentlich, so wurde allgemein angenommen, kein anderer Kandidat in Frage.13 Doch schon bei den Vorbesprechungen für die Nachwahl formierte sich unerwartet eine Opposition gegen Lichtenstein, der als „linker Flügelmann des Liberalismus in Ostpreußen“14 galt. Argumentiert wurde jedoch keineswegs politisch, sondern persönlich diskreditierend und antisemitisch: Lichtenstein könnte, so wurde befürchtet, als Jude der Partei schaden. Diese Begründung, wenngleich wortgewaltig und in zahlreichen Versammlungen vorgebracht, stieß jedoch bei den liberalen Wahlmännern der Stadt auf taube Ohren. Und obgleich man immerhin den betagten zweiten Bürgermeister Königsbergs als Gegenkandidat aufstellte, wurde Lichtenstein mit überwältigender Mehrheit in den Preußischen Landtag entsandt. Kurz darauf jedoch standen Neuwahlen an, und nun ging die innerparteiliche Opposition in die Offensive, und zwar, so scheint es, mit Hilfe der Parteileitung, die einen protestantischen Berliner Landgerichtsrat a. D. zum Gegenkandidaten kürte. Mittlerweile waren auch die von interessierten Kreisen vorgebrachten persönlichen Diffamierungen Lichtensteins bis nach Berlin gedrungen: Der Anwalt, so wurde kolportiert, genösse „bei den Richtern und einem Teil seiner Kollegen nicht das Ansehen, das ein Abgeordneter haben müsse“.15 Zwar versuchte sich Lichtenstein, gegen diese Rufmordkampagne gerichtlich zur Wehr zu setzen, und ließ sich für seine korrekte Tätigkeit als Abgeordneter vom lokalen Vorstand der Partei das Vertrauen aussprechen. Unklar ist, inwieweit die Argumente der Lichtenstein-Gegner am Ende doch auch innerhalb des Königsberger Freisinns verÀngen oder ob die christlichen wie jüdischen Unterstützer Lichtensteins einfach den Geschäftsordnungstricks ihrer Opponenten nicht gewachsen waren, wie der Sohn Lichtensteins später vermutete: Am Ende unterlag der altgediente Königsberger Politiker seinem Berliner Herausforderer bei der Wahl zur Aufstellung des Landtagskandidaten mit 378 zu 412 Stimmen. Die Jüdische Rundschau, die ausführlich über den Fall berichtete, behauptete zudem, dass es zu massiven Wahlfälschungen gekommen sei – immerhin kam es zu Protestveranstaltungen, Eingaben an den Wahlvorstand etc., die jedoch alle wirkungslos verpufften.16 Dass es hier im Grunde um Antisemitismus ging und dass dieses Vorgehen von der Parteileitung abgesegnet wurde, war für alle Beobachter offensichtlich 13 Vgl. ERWIN LICHTENSTEIN: Bericht an meine Familie. Ein Leben zwischen Danzig und Israel, Darmstadt 1985, S. 8f. 14 E. HAMBURGER, Juden (wie Anm. 2), S. 376. 15 H. HOPPE, Brief (wie Anm. 12), S. 375 16 Ebd.

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und wurde auch von Lichtenstein selbst und seinen Anhängern immer wieder öffentlich betont. Eine besonders pikante Note erhielt der ganze Vorfall dadurch, dass Lichtensteins wichtigster und hinter den Kulissen die Fäden ziehender Gegner, der Schirmfabrikant Gustav Oske, ebenfalls Jude war und jahrzehntelang mit Lichtenstein in den Gremien der Fortschrittspartei zusammengearbeitet hatte. Im Gegensatz zu Lichtenstein jedoch war er nicht in der Gemeinde aktiv, während der dritte „player“ bei dieser Intrige, der Justizrat Julius Rapp, der das Gerücht von Lichtensteins minderem Ruf unter Kollegen in die Welt gesetzt hatte, getauft war. Besonders empörend nun wurde von vielen Königsberger Juden empfunden, dass sich Oske gerade auf sein Judentum berief, um den Vorwurf des Antisemitismus abzuwehren – ein Argumentationsmuster übrigens, das sich bekanntlich bis heute einiger Beliebtheit erfreut. Allerdings ist weder das Verhalten Oskes noch das seiner Partei besonders außergewöhnlich, wie wir aus den Arbeiten von Ernest Hamburger und Peter Pulzer wissen: Seit der antisemitischen Welle der achtziger Jahre bemühte sich auch der Fortschritt, auf Reichs- und Landesebene möglichst keine jüdischen Kandidaten mehr aufzustellen, um der Diffamierung als „Judenschutztruppe“ keine Argumente zu liefern – eine Taktik, die im Übrigen auch von manchen jüdischen Liberalen mitgetragen wurde.17 Ungewöhnlich ist dagegen eher die Reaktion der Königsberger Bevölkerung, oder genauer gesagt, die der liberalen Wähler. Die ganze Intrige hatte allgemein die „stärkste Entrüstung“18 hervorgerufen und zur Folge, dass der Freisinn bei den Landtagswahlen erhebliche Stimmeneinbußen zu verzeichnen hatte, was darauf hindeutet, dass nicht nur Juden, sondern auch christliche Liberale über die Ausschaltung des angesehenen Anwalts erbittert waren. Allerdings, so muss man feststellen, hat diese Erbitterung nicht ausgereicht, dies zu verhindern, oder aber, so ließe sich spekulieren, die Position Oskes fand auch im liberalen Milieu Königsbergs einige, vielleicht noch stillschweigende Anhänger. Die weitere Entwicklung der Stadt lässt zumindest vermuten, dass beides, sowohl ein camouÁierter, höÁicher Antisemitismus als auch eine gewisse Trägheit der Herzen, oder besser des Kopfes, sich diesem gemeinsam und aktiv mit den jüdischen Bürgern, Kollegen, Parteigenossen entgegenzustemmen, auch schon gegen Ende des Kaiserreichs weiter verbreitet war, als es die vielfach beschworenen Bilder vom „harmonischen Zusammenleben aller Konfessionen“ suggerieren wollten.

17 E. HAMBURGER, Juden (wie Anm. 2), S. 558; P. PULZER, Jews (wie Anm. 2), S. 121–147. 18 H. HOPPE, Brief (wie Anm. 12), S. 375.

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3. Keine Ruhe vor dem Sturm Kaum irgendwo anders in Deutschland scheint sich das lokale Klima in wenigen Jahren so dramatisch verändert zu haben wie in Königsberg: In der „Stadt der reinen Vernunft“ erreichte die NSDAP im Sommer 1932 mit 44 % eines ihrer besten Ergebnisse in den Großstädten.19 Gleichzeitig vollzog sich der Umbruch im liberalen Lager hier schneller und tief greifender als andernorts: Der katastrophale Einbruch der DDP zwischen 1919 und 1920 war in Königsberg noch größer als im Reichsdurchschnitt, welchen die Partei in Königsberg nur noch einmal, bei den Reichstagswahlen im Dezember 1924, übertreffen konnte. Auch ein betont nationales Auftreten gegen die „Erdrosselung“ Ostpreußens konnte die Partei nicht vor dem Abgleiten in die Bedeutungslosigkeit bewahren.20 Im Gegensatz etwa zu Hamburg, wo ein linker Landesverband noch zu Beginn der dreißiger Jahre relativ gute Ergebnisse erzielen konnte, zeigte sich schon während des Weltkriegs, dass in Königsberg vergleichsweise viele altgediente Liberale den nationalen Emotionen erlagen und ins Lager der DVP überwechselten.21 Die Rechtsliberalen entwickelten sich zu der bevorzugten Option des Königsberger Bürgertums und konnten ihre Position als stärkste Partei bei allen Reichstagswahlen zwischen 1920 und 1928 behaupten. Man war also in Königsberg noch immer empfänglich für „liberale“ Positionen, deren Inhalte jedoch im Laufe der Jahre weiter nach rechts rückten. Das sichere Stimmenpolster der Nationalliberalen konnte zudem nicht darüber hinwegtäuschen, dass den traditionellen bürgerlichen Parteien in den neuen radikalen Bewegungen der politischen Rechten eine immer bedrohlichere Konkurrenz erwachsen war. Um dies zu erklären, muss man ein ganzes Bündel von vornehmlich psychologischen und ökonomischen Faktoren in den Blick nehmen, von denen die speziÀsch lokalen sicher keine unbedeutende Rolle spielen. Die allgemeinen Krisenerscheinungen der Weimarer Jahre schlugen in Ostpreußen nicht zuletzt aufgrund der peripheren Lage der Provinz in besonders dramatischer Weise zu Buche: Die Abtrennung „vom Reich“ durch den Korridor und die politischen Veränderungen in den östlichen Anrainerstaaten verschärften hier die Folgen der allgemeinen Wirtschaftskrise, so dass beispielsweise der Osthandel, also der Export-Import-Handel mit Agrarprodukten, der seit Jahrhun19 Wahlergebnisse für Königsberg 1919–1933 bei ST. SCHÜLER-SPRINGORUM, Minderheit (wie Anm. 2), Anhang, S. 376. 20 Vgl. z. B. den Bericht über den Parteitag der ostpreußischen DDP, in: Hartungsche Zeitung, 7. 4. 1923. 21 Vgl. BURKHARD GUTLEBEN: Volksgemeinschaft oder Zweite Republik? Die Reaktion des deutschen Linksliberalismus auf die Krise der 30er Jahre, in: Tel Aviver Jahrbuch für Deutsche Geschichte (TAJB) 17 (1988), S. 259–284, hier S. 284; WERNER JOCHMANN: Der deutsche Liberalismus und seine Herausforderung durch den Nationalsozialismus, in: RUDOLF VON THADDEN (Hg.): Die Krise des Liberalismus zwischen den Weltkriegen, Göttingen 1978, S. 115–128, hier S. 117f.

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derten das Herz der Königsberger Wirtschaft gebildet hatte, völlig zusammenbrach. Selbst in den „guten Jahren“ 1924–1928 wurde nicht einmal mehr ein Drittel des Vorkriegsvolumens erreicht. Hinzu kam, dass die Provinzhauptstadt mit ihrer speziÀschen Berufsstruktur – ein hoher Anteil an Beamten, Angestellten, FreiberuÁern und BeruÁosen – ohnehin von der InÁation besonders getroffen wurde.22 An den jüdischen Erwerbstätigen gingen diese Entwicklungen alles andere als spurlos vorüber, denn diese waren vor 1914 in großer Zahl entweder direkt im Osthandel tätig gewesen oder aber noch stärker als andernorts in den von der InÁation am meisten betroffenen Sektoren konzentriert. Leider erlauben die Unterlagen für Königsberg keine durch Zahlen abgestützte Darstellung der Verarmung der Stadt. Die Auswirkungen der ökonomischen Schwierigkeiten der zwanziger Jahre auf die politische Entwicklung der ostpreußischen Hauptstadt können jedoch kaum zu hoch veranschlagt werden.23 Die Radikalität und Geschwindigkeit, mit der sich das politische Klima hier im Gegensatz zu anderen, wirtschaftlich nicht besser gestellten Städten veränderte, lassen sich jedoch nicht allein darauf zurückführen. Vielmehr scheint die im und nach dem Weltkrieg exponierte geographische Lage Ostpreußens einen nicht unbeträchtlichen Anteil daran gehabt zu haben, dass sich hier wirtschaftliche Unzufriedenheit mit einem extremen Nationalismus zu jenem explosiven Gemisch verband, das von nun an die politische Offensive in der Provinz und ihrer Hauptstadt übernehmen sollte. Die kurze Zeit der russischen Besatzung im Ersten Weltkrieg, die Abtrennung vom Reich und die Fahrten durch den sogenannten „polnischen Korridor“ hinterließen bei allen in Ostpreußen lebenden Menschen einen nicht zu unterschätzenden Eindruck und erhöhten vermutlich bei vielen von ihnen die Bereitschaft zur Wahl jener Parteien, die ein Ende der „nationalen Schmach“ durch Revision der Versailler Verträge in Aussicht stellten.24 Zwar blieb die Verwaltung von Stadt und Provinz bis 1932 in der Hand der demokratischen Parteien, aber die jüdische Bevölkerung bekam den Klimawechsel dennoch auf vielfältige Weise zu spüren: So saß z. B. seit 1924 kein aktives Gemeindemitglied mehr in der Stadtverordnetenversammlung, und auch in den kommunalen Deputationen und Ausschüssen der Stadtverwaltung waren kaum noch Juden vertreten, was sich für die Kooperation zwischen Gemeinde und Stadt vor allem in Belangen der Wohlfahrt ausgesprochen ne22 Vgl. F. GAUSE, Geschichte (wie Anm. 7), Bd. 3, S. 96–101; DIETER HERTZ-EICHENRODE: Politik und Landwirtschaft in Ostpreußen 1919–1930. Untersuchung eines Strukturproblems der Weimarer Republik, Köln 1969, S. 116–126. 23 Vgl. die Erinnerungen des damaligen Oberbürgermeisters HANS LOHMEYER: Rückblick auf meine Amtszeit, in: Jahrbuch der Albertus-Universität 7 (1957), S. 250–265; CHRISTIAN PLETZING: Einführung. Vorposten des Reichs?, in: DERS. (Hg.): Vorposten des Reichs? Ostpreußen 1933–1945, München 2006, S. 7–13. 24 Dieser Zusammenhang blieb schon zeitgenössischen Beobachtern nicht verborgen, vgl. ERWIN LICHTENSTEIN: Die ostpreußische Reaktion, in: Central Vereins-Zeitung (CVZ) 2 (1923), Nr. 1; auch D. HERTZ-EICHENRODE, Politik (wie Anm. 22), S. 54.

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gativ auswirken sollte. Mindestens ebenso schwerwiegend war jedoch die Tatsache, dass man nun in einem ofÀziellen und öffentlichen Gremium den Angriffen der völkischen Stadtverordneten ausgeliefert war, deren antisemitische Anträge zwar nie durchkamen, aber immerhin ausgiebig diskutiert wurden. Die große Tradition jüdisch-liberaler Lokalpolitik war in Königsberg also schon einige Jahre vor 1933 an ihr Ende gekommen.25 Das Erstarken eines aggressiven und illiberalen Nationalismus verknüpft mit einem immer offener auftretenden Antisemitismus war, wenn auch in unterschiedlicher Ausprägung, in allen Bereichen des gesellschaftlichen Lebens zu verspüren. So entwickelte sich die Provinz – nicht zuletzt durch die Rückendeckung eines Teils des Adels – innerhalb kürzester Zeit zum Tummelplatz aller nur denkbaren reaktionären und antisemitischen Verbände.26 Es verwundert daher kaum, dass sich hier, auf dem Land, nach 1918 der „wüsteste Pogromantisemitismus“ ausbreitete, dessen Methoden, wie der Korrespondent der Zeitung des Central-Vereins deutscher Staatsbürger jüdischen Glaubens (CV) berichtete, „so verwerÁich und gemein, so wüst und rücksichtslos“ waren, dass sich sogar hart gesottene CV-Funktionäre „aus dem Reich [...] tief entsetzt“ zeigten.27 Im Gegensatz zur Vorkriegszeit, wo zwischen Hauptstadt und Provinz hinsichtlich der politischen Grundstimmung Welten gelegen hatten, gewannen die völkischen Gruppen nun auch in Königsberg schnell an Boden und von einem AbÁauen des öffentlich propagierten Antisemitismus, wie es in anderen Regionen in der Mitte der zwanziger Jahre konstatiert wurde, konnte in Königsberg keine Rede sein.28 Ab 1927 begannen sich auch hier die 25 Vgl. den Aufsatz von KURT SABATZKY: Die Lehren der nationalsozialistischen Politik, in: Königsberger Jüdisches Gemeindeblatt (KGB) 7 (1930), Nr. 8, in dem der CV-Syndikus ausdrücklich Beispiele aus der Stadtverordnetenversammlung zitiert, um vor der häuÀg unterschätzten Gefährlichkeit der NS-Kommunalpolitik zu warnen. In diesem Zusammenhang muss es als glücklicher Zufall angesehen werden, dass die letzten freien Stadtverordnetenwahlen kurz vor der Wirtschaftskrise stattfanden, so dass die NSDAP „nur“ auf 5,7 % kam und bis 1933 nicht an der städtischen Selbstverwaltung beteiligt wurde. 26 Vgl. ALEXANDER VON DOHNA-SCHLOBITTEN: Erinnerungen eines alten Ostpreußen, Berlin 1989; ANDREAS KOSSERT: Ostpreußen. Geschichte und Mythos, München 2005; BOHDAN KOZIELLO-POKLEWSKI: Die NSDAP in Ostpreußen. Gesellschaftliche, politische und wirtschaftliche Bedingungen, in: CHRISTIAN PLETZING (Hg.): Vorposten des Reichs? Ostpreußen 1933–1945, München 2006, S. 15–28. 27 KURT ROSENHAIN: Ostpreußen, in: CVZ 1 (1922), Nr. 20; KURT SABATZKY: Die völkische Bewegung in Ostpreußen, in: KGB 1 (1924), Nr. 1. Vgl. auch DERS.: Die völkischen Verbände Ostpreußens, in: KGB 2 (1925), Nr. 10. 28 Vgl. Sabatzkys Warnung am Schluss eines Berichtes über nationalistische Tannenbergfeiern, in: KGB 3 (1926), Nr. 10; allg. F. GAUSE, Geschichte (wie Anm. 7), Bd. 3, S. 111–113. Zum An- und AbÁauen der antisemitischen Propaganda vgl. MONIKA RICHARZ: Jüdisches Leben in Deutschland, Bd. 3: Selbstzeugnisse zur Sozialgeschichte 1918–1945, Stuttgart 1982, S. 28f; JACOB TOURY: Gab es ein Krisenbewußtsein unter den Juden während der „guten Jahre“ der Weimarer Republik 1924–1929?, in: TAJB 17 (1988), S. 145–167; MOSHE ZIMMERMANN: „Die aussichtslose Republik“. Zukunftsperspektiven deutscher

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körperlichen Attacken gegen Juden zu häufen, in der Nacht zum 9. November desselben Jahres wurde erstmals eine Synagoge Ziel eines Anschlags in der ostpreußischen Hauptstadt.29 Die Ankunft des „Gauleiters“ Erich Koch leitete 1928 eine weitere qualitative Veränderung der antisemitischen Aktivitäten ein, die von nun an zunehmend brutaler wurden. So berichtete der gerade von einer Ostpreußenreise im Sommer 1929 zurückgekehrte Arthur Schweriner in der CV-Zeitung, dass „besonders in Königsberg in letzter Zeit die Judenfeindschaft Formen angenommen [hat], die auch rechtsgerichteten Kreisen unerträglich sind“.30 Ein vorläuÀger Höhepunkt wurde im Sommer 1932 erreicht, als die NSDAP zu einem Großangriff gegen ihre Gegner ausholte und in der Nacht vom 31. Juli auf den 1. August verschiedene Privathäuser und Geschäfte jüdischer Inhaber überÀel, einen Stadtverordneten der KPD ermordete und drei weitere Politiker verletzte. Der Syndikus des CV in Königsberg, Kurt Sabatzky, entging diesem Schicksal nur dadurch, dass er sich aufgrund einer Warnung nicht in seiner Wohnung befand.31 Folgt man der These James Sheehans, demzufolge gerade der Appell an nationalistische Ressentiments und Heilserwartungen den Wechsel der ehemals liberal denkenden und wählenden und nun ökonomisch verunsicherten Mittelschichten ins nationalsozialistische Lager ermöglichte, so erstaunen die Weimarer Wahlergebnisse in der früheren Hochburg des Liberalismus kaum noch.32 Es ist bis heute unklar und lässt sich auch für Königsberg nicht sagen, welche Rolle der Antisemitismus bei diesem Prozess gespielt hat. Am Beispiel der DDP hat Bruce Frye gezeigt, dass die Bedeutung der „jüdischen Frage“ bei der Radikalisierung der liberalen Mittelschichten nicht zu unterschätzen ist.33 Inwieweit hierbei der geographischen Nähe zum Osten aufgrund der jüdischen Ein- und Durchwanderer aus dieser Region, auf die sich antisemitische und antislawische Vorurteile zugleich projizieren ließen, eine verstärkende Funktion zukam, darüber lässt sich nur spekulieren. Wie Trude Maurers Studie gezeigt hat, war die Wirkung des „Ostjuden“-Stereotyps unabhängig von der Anwesenheit realer Personen, so dass dies trotz des nach 1918 gerin-

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Juden vor 1933, in: DERS.: Deutsch-Jüdische Vergangenheit. Der Judenhaß als Herausforderung, Paderborn 2005, S. 238–257; SHULAMIT VOLKOV: Das jüdische Projekt der Moderne, München 2001, S. 52 Der Angriff auf die Alte Synagoge war bereits die dritte Synagogenschändung in Ostpreußen, vgl. Israelitisches Familienblatt 30 (1927) Nr. 16. ARTHUR SCHWERINER: Eindrücke von einer Ostpreußenreise, in: CVZ 8 (1929), Nr. 10. Vgl. ST. SCHÜLER-SPRINGORUM, Minderheit (wie Anm. 2), S. 228. Vgl. JAMES J. SHEEHAN: German Liberalism in the 19th Century, Chicago 1978, S. 272– 283. Vgl. BRUCE FRYE: The German Democratic Party and the „Jewish Problem“ in the Weimar Republic, in: Leo Baeck Institute Yearbook (LBIYB) 21 (1976), S. 143–172, hier S. 172; auch EVA G. REICHMANN: Diskussion über die Judenfrage 1930–1932, in: WERNER E. MOSSE / ARNOLD PAUCKER (Hg.): Entscheidungsjahr 1932. Zur Judenfrage in der Endphase der Weimarer Republik, Tübingen 1965, S. 503–531, hier S. 506.

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gen Anteils an russischen Juden durchaus vorstellbar wäre.34 Sicherlich waren die individuellen Motive bei der Stimmabgabe für die NSDAP sehr unterschiedlich, und vermutlich wählte die Mehrheit die Partei in erster Linie nicht wegen ihrer radikalen Einstellung zur jüdischen Minderheit. Diese wurde jedoch mehr oder weniger billigend in Kauf genommen, und über den Realitätsgehalt der angeblich „nicht ernst zu nehmenden“ antijüdischen Rhetorik konnte man in Königsberg schon Ende der zwanziger Jahre, spätestens jedoch seit den Mordanschlägen im Sommer 1932 eigentlich nicht mehr hinwegsehen. Dass man in weiten Kreisen des Bürgertums gewillt war, dies um der Intaktheit des eigenen Status und Weltbildes willen dennoch zu tun, ist weniger ein Beispiel für politische Naivität als für eine bedrückende moralischen Indifferenz, die von den hehren Werten des Liberalismus und des Humanismus nicht viel übrig gelassen hatte.35 Es war diese schleichende „Klimaveränderung“ im Bürgertum, bei ihren Nachbarn, die den oder die Einzelne vermutlich viel tiefer traf als die Ausbrüche des „Straßenantisemitismus“. Während sich auf den ersten Blick – auf das lokale Vereins- und gesellschaftliche Leben – kaum etwas geändert zu haben scheint im viel beschworenen harmonischen Zusammenleben der Religionen, so lassen sich beim zweiten Hinsehen doch einige Belege dafür Ànden, dass sich unter der OberÁäche einiges veränderte, manches nicht mehr so selbstverständlich war wie früher, oder auch ganz neu, wie etwa die zahlreichen Annoncen von Vereinen, Cafés und Geschäften, die im „Gemeindeblatt“ betonen ließen, dass ihnen jüdische Mitglieder bzw. Kunden doch willkommen seien. Wie Antidemokratisches aufgewertet und antisemitische Einstellungen „salonfähig“ wurden, zeigen die wenigen Gegeninitiativen, die in ihrer gut gemeinten HilÁosigkeit erst das ganze Ausmaß der Zerstörung verdeutlichen, die die antisemitische Propaganda in nur wenigen Jahren bewirkt hatte.36 So lud beispielsweise die Frauengruppe des CV die „christliche gebildete Frauenwelt“ Ende der zwanziger Jahre mehrfach zu Teenachmittagen „zur Entgif34 Vgl. TRUDE MAURER: Ostjuden in Deutschland 1918–1933, Hamburg 1986, S. 485f. 35 Vgl. hierzu HANS MOMMSEN: Die AuÁösung des Bürgertums seit dem späten 19. Jahrhundert, in: JÜRGEN KOCKA (Hg.): Bürger und Bürgerlichkeit im 19. Jahrhundert, Göttingen 1987, S. 288–315, hier S. 305f; ähnlich auch ROBERT WELTSCH: Schlussbetrachtung, in: WERNER E. MOSSE / ARNOLD PAUCKER (Hg.): Entscheidungsjahr 1932. Zur Judenfrage in der Endphase der Weimarer Republik, Tübingen 1965, S. 535–562, hier S. 559–562. Zu einer etwas positiveren Bewertung des Verhaltens der bürgerlichen Liberalen kommt W. JOCHMANN, Liberalismus (wie Anm. 21). 36 Allg. zu dieser Form der jüdischen Abwehrstrategie gegen Antisemitismus und Nationalsozialismus, vgl. JACOB BORUT: The Rise of Jewish Defense Agitation in Germany, 1890–1895 – A Pre-history of the CV?, in: LBIYB 36 (1991), S. 59–96; AVRAHAM BARKAI: „Wehr Dich!“ Der Centralverein deutscher Staatsbürger Jüdischen Glaubens, 1893–1938, München 2002, S. 185–191; CYRIL LEVITT: The Prosecution of Antisemites by the Courts in the Weimar Republic. Was Justice Served?, in: LBIYB 36 (1991), S. 151–167.

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tung der Atmosphäre“ ein, wie es in einem Bericht heißt. Diese jedoch entwickelten sich rasch zu höÁichen Tribunalen gegen angebliche jüdische Verfehlungen. So wiesen die christlichen Damen „in taktvoller Weise auf Fehler und Mängel hin, die ihnen bei den Juden aufgefallen“ seien. Anstatt, wie von den CV-Frauen gehofft, „Gegensätze zu mildern und Annäherungen anzubahnen“, waren die jüdischen Gastgeberinnen damit beschäftigt, pauschale und individuelle Vorwürfe abzuwehren und bemerkten dann auch am Ende resigniert: „Zu unserem Bedauern hat aber keine Frau das Wort für uns ergriffen, etwa in dem Sinne, dass sie uns aus gemeinsamer Arbeit [...] kenne und unsere Mitarbeit ihnen wertvoll sei.“37 Wenn man bedenkt, dass es sich hierbei um den liberalen, den dialogbereiten Teil des Königsberger Bürgertums handelte, so verwundert die Art und Weise, wie andere, weniger harmlose Ausgrenzungen zumindest „billigend in Kauf genommen“ wurden, kaum noch. Wie tief mittlerweile die Gräben zumindest aus nichtjüdisch-liberaler Sicht waren, verdeutlichen die gut gemeinten Worte eines Regierungsdirektors, der auf einer Aufklärungsveranstaltung des CV im Jahre 1932 vorschlug, man müsste zunächst „durch gegenseitige und stete Fühlungnahme das Gefühl der Fremdheit überwinden“38. Er war damit – leider etwas spät – nicht unbedingt auf dem falschen Weg. Aber wie monströs muss dieser Satz in den Ohren der Königsberger Bürger jüdischen Glaubens geklungen haben, die mit einigem Recht noch zwanzig Jahre zuvor hatten annehmen können, zumindest in ihrer Heimatstadt in der besten aller Welten zu leben. Abgesehen davon, dass man sich nach der liberalen Theorie auch trotz solcher Fremdheitsgefühle eindeutig der Diskriminierung von Minderheiten hätte entgegenstellen müssen, sprach man den jüdischen Nachbarn damit genau das ab, was die Mehrheit von ihnen anstrebte. Sie wollten unter Beibehaltung einer eigenen, traditionell oder säkular geprägten jüdischen Kultur als die akzeptiert werden, die sie waren: Königsberger, Ostpreußen und Deutsche. Genau dieses Beharren auf einer pluralen Identität, die auch Gruppenbindungen mit einschloss, war für die liberale Ideenwelt seit Beginn der Emanzipation das theoretische und nie gelöste Kernproblem im Umgang mit der jüdischen Minderheit gewesen. Unter dem politischen Druck der späten zwanziger und frühen dreißiger Jahre nun scheint dieses immer schon vorhandene liberale Unbehagen dazu geführt zu haben, dass bei der großen Mehrheit der liberalen Bürger die Entsolidarisierung mit den angegriffenen Juden schon lange vor 1933 einsetzte.

37 CV-Frauengruppe: Aufklärungsarbeit vor christlichen Frauen in Königsberg, in: CVZ 8 (1929), Nr. 42; ELSE WOLFFHEIM: Die zweite Aufklärungsveranstaltung der Königsberger CV-Frauengruppe, in: CVZ 9 (1930), Nr. 23. 38 Wiedergabe der Diskussion im Anschluss an eine CV-Veranstaltung in: KGB 9 (1932), Nr. 2.

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4. Epilog Max Lichtenstein selbst, der Protagonist jener Affäre, die ihre Schatten in die dunklen zwanziger Jahre voraus geworfen hatte, hatte sich 1913 verbittert und enttäuscht aus der Politik zurückgezogen. Fortan widmete er sich nur noch Aufgaben in jüdischen Organisationen, so vor allem der „Vereinigung für das Liberale Judentum“, die zumindest in den zwanziger Jahren, das „liberal“ im Titel wohl eher weiterhin politisch (und nicht religiös) verstand, denn man lieferte sich nun dramatische Kämpfe mit den Zionisten.39 Ab 1933 bemühte man sich, diese KonÁikte hintanzustellen, und der alte Liberale Lichtenstein wurde zum Vorsitzenden der Repräsentantenversammlung der Gemeinde gewählt. Allerdings konnte er seine Kraft nur noch kurze Zeit in den Dienst der bedrohten jüdischen Gemeinschaft stellen, denn schon 1934, er war inzwischen 74, zog er sich aus Altersgründen zurück. Während drei seiner Kinder auswandern konnten, blieb Lichtenstein in der Obhut seiner unverheirateten ältesten Tochter Käthe in Königsberg zurück. Beiden blieb eine Einweisung in ein „Judenhaus“ erspart, sie lebten jedoch die letzten Jahre in drangvoller Enge in ihrer mehrfach untervermieteten Wohnung. Am 24. Juni 1942 wurde Käthe Lichtenstein nach Minsk deportiert und dort vermutlich sofort erschossen. Einen Monat später kam Max Lichtenstein, mittlerweile 82, auf einen sogenannten „Alterstransport“ nach Theresienstadt; viele der zu Deportierenden waren so alt, dass sie mit Leiterwagen zum Königsberger Nordbahnhof gebracht wurden, und überlebten die dreitägige Fahrt bei großer Hitze nicht. Max Lichtenstein, der liberale „Königsberger Demokrat vom Dienst“,40 wie ihn ein Kollege einstmals genannt hatte, starb kurz nach der Ankunft in Theresienstadt im Herbst 1942. Kurz vor der Deportation hatte er seiner Hoffnung Ausdruck verliehen, dort, im sogenannten „Altersghetto“ weniger Verfolgungen und „Niederträchtigkeiten“ ausgesetzt zu sein als in seiner Heimatstadt, dem einstmals liberalen Königsberg.41

39 Vgl. E. LICHTENSTEIN, Bericht (wie Anm. 13), S. 9 40 MAX FÜRST: GeÀlte Fisch. Eine Jugend in Königsberg, München 1973, S. 163. 41 E. LICHTENSTEIN, Bericht (wie Anm. 13), S. 123–127.

Die Hauptstadt Berlin als Experimentierfeld für die Emanzipation von Frauen Angelika Schaser

Die Hauptstadt Berlin war in der Weimarer Republik das Zentrum des deutschen Nationalstaates, Drehscheibe zwischen Ost- und Westeuropa, Schauplatz von politischen Auseinandersetzungen, wirtschaftlichen Krisen und Skandalen sowie Bühne für künstlerische und soziale Experimente. Hier wurde die Dialektik der Moderne wie in einem Brennglas in aller Schärfe deutlich. „Was immer in Deutschland nach oben strebte, saugte [Berlin] mit TornadoKräften in sich hinein“,1 urteilte Carl Zuckmayer über diese Stadt, die auch zu einem Experimentierfeld für die von der Weimarer Verfassung versprochene Gleichberechtigung der Geschlechter wurde. Dem Sog der Metropole erlagen bereits im Kaiserreich viele Frauen, die sich in der Hauptstadt bessere Bildungs- und Erwerbschancen sowie politische Gleichberechtigung versprachen.2 Nicht alle diese Frauen hatten wie das „kunstseidene Mädchen“ Träume von einem besseren Leben in Wohlstand und ohne Arbeit in der mondänen Großstadt.3 Einige strebten gezielt einen akademischen Abschluss, eine Berufsausbildung, eine Erwerbstätigkeit, eine politische oder eine künstlerische Karriere an.4 Diese Frauen entwickelten einen neuen Lebensstil, der bis heute unser Bild von Frauen in der Weimarer Republik prägt, obwohl die „neuen Frauen“ eine verschwindende Minderheit bildeten. Der großstädtischen „neuen Frau“ wurde in der Literatur, im Film, in der Malerei, der FotograÀe, auf dem Theater und in den öffentlichen Diskus1 2 3

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CARL ZUCKMAYER: Als wär’s ein Stück von mir. Horen der Freundschaft, Wien 1966, S. 311. Vgl. KATHARINA VON ANKUM: Introduction, in: DIES. (Hg.): Women in the Metropolis. Gender and Modernity in Weimar Culture, Berkeley u. a. 1997, S. 1–11, hier S. 6. IRMGARD KEUN: Das kunstseidene Mädchen, Berlin 1932. Zu Irmgard Keun vgl. HILTRUD HÄNTZSCHEL: Irmgard Keun, Hamburg 2001; BIRGIT MAIER-KATKIN: Anna Seghers, Irmgard Keun. Literary Images on Emancipation and Social Circumstance, in: CHRISTIANE SCHÖNFELD (Hg.): Practicing Modernity. Female Creativity in the Weimar Republic, Würzburg 2006, S. 242–261. Zu den Selbstentwürfen junger Frauen hat Moritz Föllmer in einem Aufsatz Artikel und Leserbriefe aus den linksliberalen Berliner Verlagen Ullstein und Mosse ausgewertet: MORITZ FÖLLMER: Auf der Suche nach dem eigenen Leben. Junge Frauen und Individualität in der Weimarer Republik, in: DERS. / RÜDIGER GRAF (Hg.): Die „Krise“ der Weimarer Republik. Zur Kritik eines Deutungsmusters, Frankfurt a. M./New York 2005, S. 287–315.

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sionen viel Aufmerksamkeit gewidmet, so dass sie inzwischen wie selbstverständlich zur Avantgarde der Moderne gezählt wird.5 Wir kennen ihr stereotypes Bild: Mit kessem Bubikopf, kurzem Rock und Zigarette in der Hand unzählige Male abgebildet, war diese Erscheinung innerhalb der kleinen Gruppe von Akademikerinnen, Politikerinnen, weiblichen Angestellten und Künstlerinnen jedoch eine Minderheit. Über die Lebensentwürfe dieser modernen Frauen, die neue beruÁiche Chancen und seit 1908/1918 Frauen zugängliche politische Räume nutzten, wissen wir noch sehr wenig.6 Vorauszuschicken ist, dass sich das Leben dieser „neuen Frauen“ nicht eindimensional in der Rubrik „liberal“ summieren lässt.7 Waren diese „neuen Frauen“ überhaupt Liberale? Kann Moderne mit Liberalismus gleichgesetzt werden? Das Etikett Liberalismus trugen in der Weimarer Republik in erster Linie liberale Parteien und liberale Politiker. Moderne und Liberalismus wurden von den Konservativen und Gegnern des Liberalismus jedoch auch als Schlagworte synonym für die (ungewünschten und befürchteten) Veränderungen der Gesellschaft eingesetzt.8 Besonders deutlich sollten sich später die Nationalsozialisten von diesen „neuen Frauen“ abgrenzen, wenn sie etwa „Liberalismus“ mit weiblichen Akademikern und der Frauenbewegung vor 1933 gleichsetzten.9 Die im Folgenden vorgestellten Frauen sind – bis auf die erste Gruppe – nicht alle als Liberale im engeren parteipolitischen Sinne zu verstehen. Sie stützten ihre Erwartungen jedoch auf die Kernpunkte liberaler Ideen, indem sie auf Fortschritt, bürgerliche Rechtsgleichheit und gesellschaftliche Partizipation setzten. Aufbauend auf die Entwicklungen im Kaiserreich hofften diese Frauen darauf, dass sie nun in die Staatsbürgergesellschaft, in die Parlamente, in die Parteien, in den Wissenschaftsbetrieb und in künstlerische Kreise gleichberechtigt integriert werden würden. Es geht im Folgenden also vor allem um die Frage, an welche Grenzen Frauen stießen, wenn sie Kernpunkte des liberalen Programms für sich beanspruchten.

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Vgl. JÜRGEN SCHUTTE / PETER SPRENGEL (Hg.): Die Berliner Moderne 1885–1914, Stuttgart 1987. Die Vielfalt von Personkonzepten, Lebens- und Arbeitsstilen wird deutlich in: PETRA BOCK / KATJA KOBLITZ (Hg.): Neue Frauen zwischen den Zeiten, Berlin 1995; M. FÖLLMER, Suche (wie Anm. 4). Vgl. dazu JENS FLEMMING: „Neue Frau“? Bilder, Projektionen, Realitäten, in: WERNER FAULSTICH (Hg.): Die Kultur der zwanziger Jahre, München 2008, S. 55–70. Vgl. dazu JENS SCHUTTE / PETER SPRENGEL: Einleitung, in: DIES., Moderne (wie Anm. 5), S. 13–94. Vgl. dazu CHRISTINE VON OERTZEN: Wissenschaft, Weiblichkeit, Weltgemeinschaft. Zur transnationalen Vernetzung von Akademikerinnen im 20. Jahrhundert, Manuskript der Habilitationsschrift (2009), bes. S. 250.

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1. Berlin als politische Bühne: Frauen und Liberalismus Die Mehrheit der führenden Aktivistinnen der Frauenbewegung im Deutschen Reich sah noch am ehesten in der von Friedrich Naumann propagierten Form des Liberalismus die Chance, dieser könnte die Forderungen nach der Gleichberechtigung von Frauen integrieren.10 Doch Frauen gegenüber zeigten Liberale aller Couleur dieselbe Haltung wie gegenüber Gruppen, die man als „anders“, „ungebildet“ oder „nichtbürgerlich“ ansah. Wie von Juden und Arbeitern forderte man auch von Frauen erst einmal die notwendige „Befähigung“ zur bürgerlichen Gleichberechtigung. So gestand Friedrich Naumann den Frauen 1903 zwar „Entwicklungsfreiheit“ zu, wollte jedoch erst einmal sehen, „was sie an neuen Kulturelementen in sich haben!“11 Obwohl Elisabeth Altmann-Gottheiner wenige Jahre später das Verhältnis von Liberalismus zur Frauenbewegung „eins der niederdrückendsten Kapitel in der Geschichte der Frauenbewegung“ nannte,12 stritten führende Aktivistinnen wie Gertrud Bäumer, Helene Lange, Alice Salomon, Marie Stritt, Anita Augspurg, Lida Gustava Heymann und andere innerhalb der liberalen Parteien dafür, liberale Prinzipien auch gegen den Widerstand der mehrheitlich männlichen Mitglieder durchzusetzen.13 Viele blieben den liberalen Parteien trotz dieser Situation treu. Einige wie Lida Gustava Heymann und Anita Augspurg kehrten ihnen jedoch nach wenigen Jahren der Mitgliedschaft den Rücken: „Das Verhalten der liberalen Männer den Frauen gegenüber ist trotz der Mitarbeit der Frauen nach wie vor das Gleiche geblieben. In erster Linie stehen die Interessen der Partei, dann kommen die Interessen der Männer im allgemeinen, dann kommt eine lange Strecke gar nichts – und dann kommen die Interessen der Frauen immer noch nicht.“14

10 Vgl. dazu ANGELIKA SCHASER: Helene Lange und Gertrud Bäumer. Eine politische Lebensgemeinschaft, Köln/Weimar/Wien 2000, S. 128–143; ULF HEIDEL: Sehnsucht nach Liberalismus. Bürgerliche Frauenbewegung und liberaler Revisionismus zu Beginn des 20. Jahrhunderts, in: Ariadne 52 (2007), S. 14–21. 11 FRIEDRICH NAUMANN: Die Stellung der Männer zur Frauenbewegung, in: Die Zeit 2 (1903) Nr. 15, S. 453, zitiert nach: U. HEIDEL, Sehnsucht (wie Anm. 10), S. 14f. 12 ELISABETH ALTMANN-GOTTHEINER: Die politischen Parteiprogramme in Deutschland und ihre Stellung zur Frauenfrage, in: Die Frau 14 (1906/07), S. 641–648, hier S. 643. 13 Vgl. U. HEIDEL, Sehnsucht (wie Anm. 10), S. 16. 14 LIDA GUSTAVA HEYMANN: Wird die Mitarbeit der Frauen in den politischen Männerparteien das Frauenstimmrecht fördern?, in: BAYERISCHER VEREIN FÜR FRAUENSTIMMRECHT (Hg.): Kultur und Fortschritt Nr. 392, Gautzsch bei Leipzig 1911, S. 14, zitiert nach: KERSTIN WOLFF: „… und frage vergebens nach den Müttern der Stadt.“ Überlegungen zu weiblichen und männlichen Zugängen zur bürgerlichen Kommunalpolitik des 19. Jahrhunderts mit Beispielen aus der Stadt Harburg, in: Jahrbuch zur Liberalismus-Forschung 14 (2002), S. 41– 69, hier S. 66. Analysiert wird dieser Aufsatz von ANNE-FRANÇOISE GILBERT: Frauenfreundschaft und frauenpolitischer Kampf im Kaiserreich. Das Beispiel von Lida Gustava Heymann und Anita Augspurg, in: Ariadne 40 (2001), S. 26–31, hier S. 28f.

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Viele bekannte Liberale lebten in Berlin, der Linksliberalismus war in der Kommunalpolitik der Hauptstadt bis zum Ersten Weltkrieg die entscheidende Kraft.15 Viktor Klemperer, der von 1905 bis 1912 in Berlin als freier Publizist lebte, schrieb damals u. a. für „Die Hilfe“ und „Die Frau“ und berichtete dabei auch über die Frauenbewegung und politische Veranstaltungen der Liberalen in Berlin.16 Klemperer, der sich dem Liberalismus zugehörig fühlte, ohne parteipolitisch aktiv zu sein, thematisierte dabei ein zentrales Problem des weltanschaulich ungebundenen Liberalismus, das angesichts der sich verfestigenden sozialmoralischen Milieus des Zentrums und der Sozialdemokratie während der Weimarer Republik weiter anwachsen sollte: Von einer im Winter 1911/12 „wegen Überfüllung polizeilich geschlossenen“ Veranstaltung in den Kammersälen der Belle-Alliance-Straße mit Gertrud Bäumer als Hauptrednerin berichtete er, dass diese dort „nicht sehr laut, nicht sehr pathetisch, aber sehr deutlich, sehr klar und sehr fein“ gesprochen hätte. „Einer ihrer Sätze prägte sich mir ein: ‚Die Sozialdemokratie bietet uns Frauen mehr, doch man muß sich nicht dem Höherbietenden verkaufen.‘ [...] Das alles war wunderhübsch liberal, nur fehlte eben die Werbekraft, ohne die eine Wahlversammlung ein sinnloses Unternehmen ist.“17 Das Festhalten an dem Aufklärungs- und Vernunftprinzip und an der Überzeugung, Fortschritt und Emanzipation würden naturgesetzlich auf ihre Umsetzung hinstreben, charakterisierten in der Weimarer Republik die Einstellung liberaler Parteipolitikerinnen und des Bundes Deutscher Frauenvereine (BDF), auch wenn sie die Mehrzahl der Frauen nicht wie erhofft von ihrer politischen Haltung überzeugen konnten. Mit Vorträgen, Seminaren, Flugblättern und Publikationen trug der BDF dazu bei, mehr als 90 % der wahlberechtigten Frauen an die Wahlurnen zu bringen. Damit hatten mehr Frauen als Männer von ihrem Wahlrecht Gebrauch gemacht. Liberale Politikerinnen gingen davon aus, die Parteien würden diesem Umstand Rechnung tragen und zukünftig mehr Kandidatinnen aufstellen. Die Auswertung der zum Teil nach Geschlecht differenzierten Wahlergebnisse machte jedoch schnell klar, dass es keinen relevanten Zusammenhang zwischen der Zahl der Frauenkandidaturen und dem Wahlverhalten von Frauen gab. Von allen Parteien wurde erkannt, dass die Forderung nach Gleichberechtigung der Frau ebenso wenig wie eine relativ große Anzahl von Frauen auf sicheren Listenplätzen 15 Zum Berliner Liberalismus vgl. MONICA CIOLI: Pragmatismus und Ideologie. Organisationsformen des deutschen Liberalismus zur Zeit der Zweiten Reichsgründung (1878– 1884), Berlin 2003, S. 196–214. 16 VIKTOR KLEMPERER: Curriculum Vitae, hg. v. Walter Nowojski, Bd. 1, Berlin 1989, S. 482. Vgl. auch die skeptische Sicht von Gertrud Israel auf das Verhältnis zwischen Liberalismus und Frauen: GERTRUD ISRAEL: Republikanisierung der Frauen, in: Die Hilfe 31 (1925), S. 351–353. 17 V. KLEMPERER, Curriculum (wie Anm. 16), S. 566f. Klemperer erwähnt andere (Links-) Liberale wie Friedrich Naumann, Theodor Wolff und Helene Lange. Theodor Heuss erwähnt er hingegen nicht.

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entscheidend dazu beitrug, die Stimmen von Frauen zu gewinnen. Das reine Listen- und Verhältniswahlrecht, das die Frauen zunächst begünstigt hatte, machte sie in hohem Maße vom Wohlwollen der Parteien abhängig. Deren Entgegenkommen verringerte sich nun von Wahl zu Wahl, besonders in den Parteien, die Stimmen verloren. So sank der Frauenanteil im Reichstag von der Nationalversammlung bis 1932 von 9,6 % auf 6,2 %. Die DDP und die DVP waren von diesem Trend besonders stark betroffen: Saßen in der Nationalversammlung noch sechs DDP-Frauen, so zählte die Reichstagsfraktion der DDP/DStP 1930 nur noch eine Abgeordnete in ihren Reihen, seit der Wahl zum 6. Reichstag im Juli 1932 stellte die Partei keine einzige weibliche Reichstagsabgeordnete mehr.18 Von dem Niedergang der DDP konnte anfangs noch die weiter rechts stehende Deutsche Volkspartei (DVP) proÀtieren, doch auch diese verlor gegen Ende der zwanziger Jahre Stimmen an noch weiter rechts stehende Parteien, so dass ihre Mandatszahl im Reichstag von 62 Sitzen (1920) auf 11 Mandate (1932) schrumpfte. Zwischen 1919 und 1933 haben dem Reichstag insgesamt 195 Liberale (aus der DDP, DVP, DStP, der Volksnationalen Reichsvereinigung und der Schleswig-Holsteinischen Bauern- und Landarbeiterdemokratie/Landespartei) angehört. Von diesen 195 Abgeordneten waren 13 Frauen, von denen wiederum sieben der DDP bzw. der DStP angehörten.19 Alle diese Frauen waren berufstätig, vier von ihnen waren promoviert, die anderen hatten eine Lehrerinnenausbildung absolviert. Zwei dieser sieben Frauen waren verheiratet: Dr. Emilie Kiep-Altenloh (1888–1985) und Elisabeth Brönner-Höpfer (1880– 1950). Die anderen waren unverheiratet: Dr. Marie Baum (1874–1964), Dr. Gertrud Bäumer (1873–1954), Elisa Ekke (1877–1957), Katharina Kloß (1867–1945) und Dr. Marie-Elisabeth Lüders (1878–1966).20 Die DVP-Reichstagsabgeordneten hatten keine führenden Positionen in der Frauenbewegung inne. Doch auch drei der sechs weiblichen DVP-Abgeordneten waren promoviert: Dr. Frances Magnus-von Hausen (1882–1969), Dr. Doris Hertwig-Bünger (1882–1968) und Dr. Elsa Matz (1881–1959). Milka Fritsch, geb. Harnoch (geb. 1867), gab als Beruf „Hausfrau“ an, Katharina von Oheimb, geb. van Endert (1879–1962), in vierter Ehe mit Siegfried 18 Vgl. HELEN BOAK: Women in Weimar Politics, in: European History Quarterly 20 (1990), S. 369–399, hier S. 373 und die „Gesamtübersicht über die Frauen in den Fraktionen der deutschen Reichstage“ bei GABRIELE BREMME: Die politische Rolle der Frau in Deutschland. Eine Untersuchung über den EinÁuß der Frauen bei Wahlen und ihre Teilnahme in Partei und Parlament, Göttingen 1956, S. 124. Weiter: ANGELIKA SCHASER: Bürgerliche Frauen auf dem Weg in die linksliberalen Parteien (1908–1933), in: Historische Zeitschrift 263 (1996), S. 641–680. 19 Vgl. MARTIN SCHUMACHER (Hg.): M.d.R. Die Reichstagsabgeordneten der Weimarer Republik in der Zeit des Nationalsozialismus. Politische Verfolgung, Emigration und Ausbürgerung 1933–1945, Düsseldorf 31994, Tabelle 1, S. 26*. 20 Daten aus: Deutscher Bundestag. Wissenschaftliche Dienste, Materialien Nr. 42: Parlamentarierinnen in deutschen Parlamenten 1919–1976, Bonn 1976.

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von Kardoff verheiratet, war Fabrikbesitzerin. Doris Hertwig-Bünger und Clara Mende, geb. Völker (geb. 1869), hatten eine Ausbildung als Lehrerin vorzuweisen. Die DVP setzte eher auf verheiratete Kandidatinnen: Nur eine dieser sechs Frauen, Elsa Matz, war ledig. Am längsten vertraten von den weiblichen DVP-Abgeordneten Clara Mende (1919–1928) und Elsa Matz (1920–1933) diese Partei im Reichstag. Die beiden zuletzt im Reichstag vertretenen DVP-Frauen, Elsa Matz und Doris Hertwig-Bünger (Mai 1928–Sept. 1930), traten nach 1933 der NSDAP bei.21 Der Niedergang des Liberalismus war einer der entscheidenden Gründe, der den Handlungsspielraum liberaler Politikerinnen und Politiker gleichermaßen immer weiter einengte. Doch seit Beginn der Weimarer Republik kämpften die Frauen mit Problemen, die ihre männlichen Parteigenossen weit weniger berührten. Eines der ersten Dinge, die die Politikerinnen bemerken sollten, war die Tatsache, dass die in der Verfassung garantierte Gleichberechtigung erst mühsam erkämpft werden musste. Die Problematik, die im Art. 109 der Weimarer Verfassung lag, war von Politikerinnen aller Parteien sehr schnell erkannt worden: „Männer und Frauen haben grundsätzlich dieselben staatsbürgerlichen Rechte und PÁichten“, hieß es da, und über die Bedeutung des Wortes „grundsätzlich“ sollte es einen bis 1933 nicht endenden Kampf in den Parlamenten und vor den Gerichten geben. Eine der Errungenschaften, den sich die DDP-Politikerinnen in diesem Zusammenhang auf ihre Fahnen schreiben konnten, war die Durchsetzung des Artikels 128 der Verfassung, der die Gleichberechtigung der Geschlechter in einem wesentlichen Punkt präzisierte. Dort war festgeschrieben worden: „Alle Ausnahmebestimmungen gegen weibliche Beamte werden beseitigt.“ Der Artikel 128 zielte auf die Aufhebung des „Zölibats für Beamtinnen“ ab, die in der Regel im Falle einer Heirat entlassen wurden. Sofort nach Verabschiedung der Verfassung forderten der BDF und andere Frauenvereine die verstärkte Einstellung von Beamtinnen, bessere Aufstiegschancen für Frauen im Staatsdienst und „Besoldung aller Beamten nach dem Grundsatz: Gleiches Gehalt für gleiche Leistung“.22 In der Besetzung entscheidender Verwaltungsposten sah man nicht zu Unrecht „die erste Probe auf die Sicherung des FraueneinÁusses“.23 Auf diesem Gebiet gab es jedoch trotz 21 Matz war seit 1. November 1939 Mitglied der NSDAP (ihr Antrag vom 1. Mai 1933 war im Februar 1935 abgelehnt worden), Hertwig-Bünger wurde am 1. Mai 1937 in die NSDAP aufgenommen. Vgl. M. SCHUMACHER, M.d.R. (wie Anm. 19), S. 192, 313. 22 VERBAND FÜR FRAUENARBEIT UND FRAUENRECHTE IN DER GEMEINDE (Hg.): Kommunalpolitisches Frauenprogramm des Allgemeinen Deutschen Frauenvereins, in: Die Frau 27 (1919/20), S. 87. Zu der Aufbruchsstimmung, die die Verleihung des Frauenstimmrechts auslöste, vgl. KATHLEEN CANNING: Between Crisis and Order. The Imaginary of Citizenship in the Aftermath of War, in: WOLFGANG HARDTWIG (Hg.): Ordnungen in der Krise. Zur politischen Kulturgeschichte Deutschlands 1900–1933, München 2007, S. 215–228. 23 HELENE LANGE: Frauenstimmrecht und politischer Fraueneinfluß, in: Die Frau 27 (1919/20), S. 177–180, hier S. 177.

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hartnäckiger Bemühungen liberaler Politikerinnen wenige Erfolge zu verzeichnen. Frauen stiegen nur in Ausnahmefällen in die Ränge oberhalb eines Vortragenden Rates auf. Die Verfassung hinderte die Landesregierungen nicht einmal daran, im Rahmen der Demobilisierung Frauen unter Verlust der Pensionsansprüche aus Beamtenstellungen zu entlassen. Dieses Problem hatten die liberalen Politikerinnen stets im Blick. Trotz erfolgreicher Klagen einiger Lehrerinnen auf Wiedereinstellung nach ihrer wegen Heirat erhaltenen Kündigung änderte sich an dieser Praxis wenig. Die sog. „Doppelverdienerinnen“ standen unter einem hohen moralischen Druck, der viele von ihnen wohl zermürbte. Bäumer wies 1928 nochmals eindringlich auf die sich verschlechternden Bedingungen durch den sinkenden Frauenanteil in den Parlamenten, den Strukturen in den Parteien und der wirtschaftlichen Entwicklung der Weimarer Republik hin.24 Am Beispiel der Besoldungsgesetze zeigte sie auf, wie die in der Verfassung verankerte grundsätzliche Gleichberechtigung von Frauen und Männern durch einzelne Bestimmungen immer wieder ausgehebelt wurde.25 Trotz einer Initiative der DDP-Frauen im Reichstag und im Preußischen Landtag gelang es z. B. nicht, die halbierte „ruhegehaltsfähige Zulage“ für Oberschullehrerinnen abzuwenden. Die verfassungswidrige Bestimmung, die auf unklaren Wegen kurz vor Abschluss der Verhandlungen in einem Antrag auftauchte, passierte den Reichstag, „weil bei den zahllosen Einzelkompromissen, auf denen die Einigung der Parteien beruhte, es für unmöglich gehalten wurde, [...] noch etwas zu ändern“.26 Den Politikerinnen im Reichstag gelang es lediglich, die Diskussion zu diesem Thema nicht abreißen zu lassen und auf verfassungswidrige Entlassungen hinzuweisen. Trotzdem kam es 1932 zum „Gesetz über die Rechtsstellung der weiblichen Beamten“, mit dem verheiratete Beamtinnen unter der Voraussetzung, dass ihre wirtschaftliche Existenz gesichert war, entlassen werden konnten. Die wirtschaftliche Depression und die Praxis der Entlassungen hatten selbst bei einem Teil der Beamtinnen dazu geführt, im Falle einer Heirat die mit einer Ànanziellen AbÀndung verbundene Kündigung als einen Vorteil zu sehen, den man festschreiben lassen wollte. Bäumer hielt dies wie die meisten anderen weiblichen Politikerinnen „für einen gefährlichen Präzedenzfall“.27 Als sie im Reichstag trotz aller grundsätzlichen Bedenken als Fraktionsrednerin dann die Stimmenthaltung ihrer Partei bei der Verabschie24 25 26 27

GERTRUD BÄUMER: Wahljahr 1928, in: Die Frau 35 (1927/28), S. 193–198. Ebd., S. 193. Ebd., S. 198. Vgl. die Stellungnahme Bäumers zum Gesetzentwurf über die Rechtsstellung der weiblichen Beamten am 12. Mai 1932, in: Stenographische Berichte über die Verhandlungen des Reichstages, Bd. 446, Berlin 1932, S. 2679–2688; und ihre Darstellung in der Deutschen Lehrerinnenzeitung: GERTRUD BÄUMER: Die Reichstagsentscheidung über die Rechtsstellung der weiblichen Beamten, in: Deutsche Lehrerinnenzeitung 49 (1932), S. 196f.

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dung des Gesetzes ankündigte, wurde das von Clara Zetkin als „Bankrotterklärung“ gewertet. Die von Zetkin aufgestellte Behauptung, dass Bäumer „in einer der bürgerlichen Parteien nicht für die Gleichberechtigung der Frauen kämpfen“ könne, entbehrte in den Augen Bäumers zwar „nicht des richtigen Stachels“.28 Angesichts der beim Scheitern des Gesetzes drohenden Reaktionen der Behörden, der Unterstützung des Gesetzentwurfes durch die Reichs-, Post- und Telegraphenbeamtinnen sowie der geringen Zahl von verheirateten Beamtinnen schien Bäumer das Abstimmungsverhalten der DStP dann aber aus taktischen Überlegungen doch gerechtfertigt.29 Die Frauen hatten im Reichstag wie in den Parteien von Anfang das Problem, „auf die Realität einer politisch parlamentarischen Ordnung [zu stoßen], deren organisatorische Form sich entwickelt und verfestigt hatte, noch ehe die Frauen in das politische Leben getreten waren“.30 Mit dem politischen Alltag nahm nicht nur der rasante Niedergang der DDP seinen Anfang,31 sondern auch die Zurückdrängung der Frauen. Im Überlebenskampf der Partei wurden die Kämpfe um die schwindende Zahl von Mandaten immer härter. Neben den allgemeinen sozialen und kulturellen Rahmenbedingungen und Leitvorstellungen führte der Eintritt der Frauen in die männerdominierten Parteien in Zusammenhang mit den von ihnen vertretenen idealistischen Vorstellungen von politischer Arbeit dazu, dass sie nur beschränkten EinÁuss gewannen und vornehmlich in marginalisierten Politikbereichen agieren mussten. Das Eindringen in die „große Politik“ und in das parteiinterne Zentrum der Macht gelang ihnen nur sporadisch und in Einzelfällen. In ihnen wichtigen Fragen wurden sie oft überstimmt, selbst wenn sie sich überparteilich geeinigt hatten. Eine Veränderung der politischen Kultur, wie sie von den meisten Frauen angestrebt wurde, gelang nicht. So ist der Bilanz, die Ulrike Ley zu den liberalen Politikerinnen im Kaiserreich zieht, auch auf die Jahre der Weimarer Republik zu übertragen: 28 Ebd. Der BDF lehnte das Gesetz ab, zeigte aber auch Verständnis gegenüber der gegensätzlichen Haltung des ihm angeschlossenen „Verbandes der Reichs-, Post- und Telegraphinnenbeamten“. Vgl. KLAUS HÖNIG: Der Bund Deutscher Frauenvereine in der Weimarer Republik 1919–1933, Egelsbach u. a. 1995, S. 64–66. 29 Zur Debatte um das „Doppelverdienertum“ der verheirateten Frau vgl. MARIE-ELISABETH LÜDERS: Grundsatz oder Vorurteil? Ein Wort zu den Verfassungsrechten der Frau, in: Die Frau 36 (1928/29), S. 198–201; CLAUDIA HUERKAMP: Bildungsbürgerinnen. Frauen im Studium und in akademischen Berufen 1900–1945, Göttingen 1996, S. 216f; GUDRUN KLING: Die rechtliche Konstruktion des ,weiblichen Beamten‘. Frauen im öffentlichen Dienst des Großherzogtums Baden im 19. und frühen 20. Jahrhundert, in: UTE GERHARD (Hg.): Frauen in der Geschichte des Rechts. Von der Frühen Neuzeit bis zur Gegenwart, München 1997, S. 600–616. Vgl. auch URSULA NIENHAUS: Vater Staat und seine GehilÀnnen. Die Politik mit der Frauenarbeit bei der deutschen Post (1864–1945), Frankfurt a. M./New York 1995. 30 G. BREMME, Rolle (wie Anm. 18), S. 123. 31 Vgl. SIGMUND NEUMANN: Die Parteien der Weimarer Republik, Stuttgart u. a. 51965, S. 49.

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„Die in der weiblichen Kultur der Frauenbewegung sozialisierten Politikerinnen erfuhren sich in den Männerparteien als Fremde. [...] Die Grenzüberschreitung bedeutete Verlust von Illusionen, die Aufgabe von Ansprüchen und Idealen, verbunden mit massiven Kränkungen. Die Akzeptanz und Integration blieb aus.“32

2. Frauen im Berliner Wissenschaftsbetrieb Über die Anfänge des Frauenstudiums in Berlin, das mit der Zulassung von Gasthörerinnen im Wintersemester 1894/95 begann, liegen inzwischen zahlreiche Studien vor.33 Deutlich wird dabei der Zusammenhang zwischen den Pionierinnen des Frauenstudiums und der Frauenbewegung, deren Zentrum sich nach Berlin verlagerte. Dort wurde 1906, als Alice Salomon ohne Abitur im zweiten Anlauf ihre Promotion erfolgreich beenden konnte, dieses Ereignis unter den Akademikerinnen gefeiert und Elly Knapp (1881–1952, Heirat mit Theodor Heuss 1908) erinnerte sich: „Wir haben sie sehr gefeiert, es waren alle bekannten Frauen aus der Bewegung da, fast alle Doktor. Es ist schon blamabel, ihn nicht zu haben: Doktor [Gertrud] Bäumer, [Elisabeth Altmann-]Go[t]theiner [1874–1930, ordentliche Professorin an der Mannheimer Handelshochschule seit 1924], Adele Schreiber [1872–1957, MdR, SPD-Mitglied] etc.“34

Ebenso bekannt ist, wie ablehnend Professoren und Studenten auf die ersten weiblichen Studierenden reagierten. Ute Planert hat mit dem Hinweis auf das Treitschke-Zitat gegen die „Invasion der Weiber“ an den Universitäten nochmals ausdrücklich darauf aufmerksam gemacht.35 Aus zahlreichen autobiographischen Berichten der ersten Studentinnen wissen wir, dass diese ablehnende Haltung ihr Studium nicht nur prägte, sondern auch belastete. Doch selbst in dieser Situation versuchten die Frauen, Verständnis für die durch die Neuerungen verunsicherten Professoren und Kommilitonen aufzubringen. So berichtet Gertrud Bäumer über ihren Doktorvater Erich Schmidt: „Es gab Dozenten, die uns zuließen, aber nur aus einem gewissen Billigkeitsgefühl heraus und ohne eine positive innere Einstellung zu dem neuen akademischen Typus [der 32 ULRIKE LEY: Einerseits und Andererseits – das Dilemma liberaler Frauenrechtlerinnen in der Politik. Zu den Bedingungen politischer Partizipation von Frauen im Kaiserreich, Pfaffenweiler 1999, S. 186. 33 Vgl. ANGELIKA SCHASER: Die „undankbaren“ Studentinnen. Studierende Frauen in der Weimarer Republik, in: GÜNTHER SCHULZ (Hg.): Frauen auf dem Weg zur Elite, München 2000, S. 97–116. 34 Elly Knapp an Georg Friedrich Knapp, 14. 3. 1906, in: ELLY HEUSS-KNAPP: Bürgerin zweier Welten. Ein Leben in Briefen und Aufzeichnungen, hg. v. Margarethe Vater, Tübingen 1961, S. 62. 35 Siehe den Beitrag von UTE PLANERT in diesem Band, S. 89; HEINRICH VON TREITSCHKE: Politik. Vorlesungen gehalten an der Universität zu Berlin, hg. v. Max Cornicelius, Bd. 1, Leipzig 1897, S. 249–253.

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Angelika Schaser Studentin]. Zu ihnen gehörte Erich Schmidt. Ich habe das durchaus verstanden. Der schöne, lebensvolle, männliche Lehrer hatte seine eigene frische und starke Beziehung zu seinen Schülern, [...] die Atmosphäre des männlichen Akademikertums alter – vielleicht ewiger – Tradition erfüllte die Arbeitsgemeinschaft. Wir passten da nicht ganz hinein [...].“36

Viele Hochschullehrer lehnten Frauen als Studierende ab, einige richteten Damenseminare ein, um der Geschlechtermischung an der Universität einen Riegel vorzuschieben. Andere jedoch, wie etwa Gustav Schmoller, erkannten das Potential der Frauen und wurden zu Pionieren der Frauenförderung an der Berliner Universität. Sabine Bertram, die die Doktorandinnen der Nationalökonomie an der Berliner Universität von 1906 bis 1936 untersucht hat, zeigt auf, dass die erste Generation von Nationalökonominnen vor dem Ersten Weltkrieg von Schmoller gezielt eingesetzt wurde, um durch „verdeckte Beobachtung“, persönliche Erfahrungen, Gespräche und Studienreisen eine „nationalökonomische Kulturgeschichte“ zu erarbeiten, während sich deren männliche Kollegen in der Regel auf die Auswertung schriftlicher Quellen und Literatur beschränkten.37 Nachdem Frauen in Deutschland sukzessive von 1903 bis 1909 das Immatrikulationsrecht zugestanden worden war, stiegen die Studentinnenzahlen während der Weimarer Republik eindrucksvoll an. Junge Frauen aus bildungsnahen Schichten betrachteten ein Universitätsstudium zunehmend als Selbstverständlichkeit. Gleichzeitig traten die strukturellen Probleme für Frauen an den Universitäten nun deutlicher als vor 1918 in den Vordergrund. Studienmotivation, Fächerwahl und Berufsziele von Frauen spiegelten die besonderen Bedingungen wider, unter denen Studentinnen ihre Ausbildung begannen. Trotz ungelöster Probleme innerhalb der Hochschulen verschoben sich die Schwierigkeiten für viele nun auf die nächste Stufe, den Eintritt in das Berufsleben.38 Die Pionierinnen des Frauenstudiums, die meist in enger Verbindung zu der organisierten Frauenbewegung standen, konnten sich vor 1908 bei fehlen36 GERTRUD BÄUMER: Lebensweg durch eine Zeitenwende, Tübingen 61933, S. 154. 37 SABINE BERTRAM: Frauen promovieren. Doktorandinnen der Nationalökonomie an der Berliner Universität 1906–1936, in: Jahrbuch für Universitätsgeschichte 11 (2008), S. 111–133, hier S. 122. 38 Vgl. dazu THERESA WOBBE (Hg.): Zwischen Vorderbühne und Hinterbühne. Beiträge zum Wandel der Geschlechterbeziehungen in der Wissenschaft vom 17. Jahrhundert bis zur Gegenwart, Bielefeld 2003 und die detailreiche Studie zu Berlin von ANNETTE VOGT: Vom Hintereingang zum Hauptportal? Lise Meitner und ihre Kolleginnen an der Berliner Universität und in der Kaiser-Wilhelm-Gesellschaft, Stuttgart 2007. Zu der Entwicklung der Studierendenzahlen immer noch grundlegend: GERTRUD BÄUMER: Krisis des Frauenstudiums, Leipzig 1932. Vgl. auch C. HUERKAMP, Bildungsbürgerinnen (wie Anm. 29), S. 75–80; MICHAEL H. KATER: Krisis des Frauenstudiums in der Weimarer Republik, in: Vierteljahrschrift für Sozial- und Wirtschaftsgeschichte 59 (1972), S. 207–255, hier S. 207–209.

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der formaler Gleichberechtigung den Zugang zur Universität nur durch herausragende Leistungen erkämpfen. Damit trugen sie nicht unwesentlich zu der Vorstellung bei, dass nur eine ausgewiesene Hochbegabung Frauen zum Studium berechtigen würde. Außer diesem „heldenhaften Typ“ der Studentin standen den jungen Akademikerinnen als Vorbilder nur Lehrerinnen zur Verfügung. Besonders in Krisenzeiten wurden akademisch gebildete Frauen als störende Konkurrenz diffamiert und durch die Diskussion um ihre angeblich mangelnde Weiblichkeit zum Teil stark verunsichert. Der Frauenbewegung gelang es in der Weimarer Republik nur mehr eingeschränkt, studierende Frauen zur Mitarbeit in ihren Organisationen zu gewinnen. Junge Frauen suchten individuelle, private Lösungen für ihre Lebensentwürfe. Der am 1. Mai 1926 in Berlin gegründete Deutsche Akademikerinnenbund39 konnte nicht verhindern, dass die Wirtschaftskrise in Zusammenhang mit der zunehmenden Verunsicherung der Abiturientinnen noch vor der Machtergreifung der Nationalsozialisten zu einem Rückgang der Studentinnenzahlen führte. Offensichtlich reichte die Zeitspanne von der Zulassung der Frauen zum Studium bis 1933 nicht aus für die Etablierung einer weiblichen Bildungselite in Deutschland. Eine neue Untersuchung zum Deutschen Akademikerinnenbund macht deutlich, dass Akademikerinnen in Deutschland fast ausnahmslos Einzelkämpferinnen waren, die sich in der männlichen Welt der Wissenschaften zu beweisen suchten und Kontakte zu Kolleginnen oder zur Frauenbewegung in diesem Zusammenhang wohl als wenig förderlich für die eigene beruÁiche Karriere betrachteten.40 Wieweit Frauen in der Weimarer Republik in die verschiedenen akademischen Gesprächskreise Berlins eingebunden waren, ist nur ansatzweise bekannt. Hedwig Hintze (1884–1942) etwa, die 1928 als zweite Frau im Deutschen Reich im Fach Geschichte habilitiert worden war,41 veranstaltete mit 39 1927 zählte der DAB 3815 Mitglieder. Vgl. ANGELIKA SCHASER: Frauenbewegung in Deutschland. 1848–1933, Darmstadt 2006, S. 67. 40 Vgl. CH. V. OERTZEN, Wissenschaft (wie Anm. 9), S. 9. 41 Vgl. BERND FAULENBACH: Hedwig Hintze Guggenheimer (1884–1942). Historikerin der Französischen Revolution und republikanische Publizistin, in: BARBARA HAHN (Hg.): Frauen in den Kulturwissenschaften. Von Lou Andreas-Salomé bis Hannah Arendt, München 1994, S.136–151, hier S. 143; ELISABETH DICKMANN: Die Historikerin Hedwig Hintze (1884–1942). Kein Ort – nirgends, in: ELISABETH DICKMANN / EVA SCHÖCK-QUINTEROS (Hg.): Barrieren und Karrieren. Die Anfänge des Frauenstudiums in Deutschland, Berlin 2000, S. 45–60, hier S. 52; PETER TH. WALTHER: Hintze, Hedwig (geb. Guggenheimer), in: HIRAM KÜMPER (Hg.): Historikerinnen. Eine biobibliographische Spurensuche im deutschen Sprachraum, Kassel 2009, S. 101–106. Als erste Frau war 1922 Ermentrude Bäcker-von Ranke in Köln habilitiert worden. Vgl. SYLVIA PALETSCHEK: Ermentrude und ihre Schwestern. Die ersten habilitierten Historikerinnen in Deutschland, in: HENNING ALBRECHT u. a. (Hg.): Politische Gesellschaftsgeschichte im 19. und 20. Jahrhundert. Festgabe für Barbara Vogel, Hamburg 2006, S. 175-187, hier S. 176. Hedwig Hintze wird in der Literatur durchgängig als „linksliberale“ Historikerin wahrgenommen. Vgl. neben den angeführten Publikationen: ROBERT JÜTTE: Hedwig Hintze (1884–1942).

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ihrem Mann Otto Hintze in den zwanziger Jahren in ihrer Wohnung am Kurfürstendamm „halboffene Diskussionsnachmittage“. Die Informationen, die dazu vorliegen, weichen deutlich voneinander ab. Laut Brigitta Oestreich blühte „Hedwig Hintze in der Welt ihrer geistreichen ‚Teegesellschaften‘ im Hause Hintze in Berlin auf [...] und brillierte, [...] fühlte [sich] glücklich und [konnte] den geistigen Austausch nutzen.“42 Bernd Faulenbach schloss aus Friedrich Meineckes Erinnerungen: „Gemeinsam spielten Otto und Hedwig Hintze im akademisch-gesellschaftlichen Leben Berlins in den [19]20er Jahren eine Rolle.“43 Friedrich Meinecke jedoch, der seine Erinnerungen an die Weimarer Zeit verfasste, als Hedwig Hintze bereits als Mitarbeiterin der Historischen Zeitschrift von ihm entlassen worden war, thematisiert sie lediglich kurz als Schülerin und Ehefrau des Historikers Otto Hintze. Über die Treffen bei Hintze schrieb er: „An den Sonnabendnachmittagen behielt Hintze nach seiner Sprechstunde zuerst nur Schüler und Schülerinnen zur Teestunde bei sich, bald aber kamen noch seine Freunde dazu, und so wurden diese Nachmittage berühmt durch die Funken, die hier im Gespräch sprühten und zumal von dem Hausherrn ausgingen.“44

Der intellektuelle Beitrag Hedwig Hintzes wurde hier ausgespart, Meinecke konzentriert sich in diesem Eintrag ganz auf den renommierten Kollegen Otto Hintze. Die für Wissenschaftler wichtigen informellen Netzwerke schätzten Frauen sehr, sie waren ihnen in der Regel aber nur begrenzt zugänglich. Annette Vogt, die Berliner Wissenschaftlerinnen von 1899 bis 1949 untersuchte, konnte deren Marginalisierung sowie den bis heute nachweisbaren „MatildaEffekt“ deutlich machen. Während bei männlichen Wissenschaftlern offensichtlich nicht selten der Matthäus-Effekt zum Tragen kommt („Wer hat, dem wird gegeben“), werden Frauen in der Wissenschaft systematisch unterbewerDie Herausforderung der traditionellen Geschichtswissenschaft durch eine linksliberale Historikerin, in: Jahrbuch des Instituts für Deutsche Geschichte, Beiheft 10: WALTER GRAB (Hg.): Juden in der deutschen Wissenschaft, Tel Aviv 1986, S. 249–279; HANS SCHLEIER: Die bürgerliche deutsche Geschichtsschreibung der Weimarer Republik, Berlin (Ost) 1975, S. 272–302; ANGELIKA TIMM: Zur Biographie jüdischer Hochschullehrerinnen in Berlin bis 1933, in: Tel Aviver Jahrbuch für deutsche Geschichte 31 (1992), S. 243–258, hier S. 250–252. 42 E. DICKMANN, Historikerin (wie Anm. 41), S. 51. Dickmann bezieht sich hier auf ein Telefongespräch mit Brigitta Oestreich (geb. 1952, Tochter des Historikers Gerhard Oestreich (1910–1978)), die bereits 1985 zu Hedwig Hintze veröffentlicht hat. Vgl. zudem BRIGITTA OESTREICH: Hedwig und Otto Hintze. Eine biographische Skizze, in: Geschichte und Gesellschaft 11 (1985), S. 397–419; DIES.: Hedwig Hintze, geborene Guggenheimer (1884–1942). Wie wurde sie Deutschlands erste bedeutende Fachhistorikerin?, in: Jahrbuch des italienisch-deutschen historischen Instituts in Trient 22 (1996), S. 421–432. 43 B. FAULENBACH, Hedwig Hintze (wie Anm. 41), S. 139. 44 FRIEDRICH MEINECKE: Autobiographische Schriften, Stuttgart 1969, S. 232f, Zitat S. 233.

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tet, wie die amerikanische Wissenschaftshistorikerin Margaret Rossiter nachgewiesen hat.45 So wurden selbst Leistungen von Wissenschaftlerinnen, die von ihren männlichen Kollegen zu Lebzeiten anerkannt waren, nach ihrem Tod oft nicht weiter zitiert.46 Ihr Werk Àel der Vergessenheit anheim und ihr Wirken wurde ignoriert, ein Umstand, der deutlich macht, dass Vorurteile, fehlende Chancengleichheit sowie strukturell unterschiedliche Arbeitsumfelder einer Gleichberechtigung von Frauen in der Wissenschaft entgegenstehen. Der Berliner Wissenschaftsbetrieb war – wie die deutschen Universitäten insgesamt – wahrlich kein Hort des Liberalismus. Frauen waren jedoch im Studium und in akademischen Berufen darauf angewiesen, dass einzelne Professoren und Institutsleiter ihnen Zugang gewährten und sie in der akademischen Welt unterstützten. Diese Professoren waren im Gegensatz zu der Mehrheit ihrer Kollegen gegenüber Neuerungen wie dem Frauenstudium aufgeschlossen und in diesem Sinne liberal. Oft vertraten sie – wie etwa Gustav Schmoller – innerhalb der Wissenschaft auch innovative Ansätze.

3. Berliner Kunst- und Literaturszene Künstlerischen und schriftstellerischen Ambitionen von Frauen wurde mit Skepsis begegnet. Wie ein roter Faden zieht sich die Missachtung oder Abwertung künstlerischer Arbeiten von Frauen durch die Geschichte der Moderne.47 Zwei Themen stehen dabei im Vordergrund: die Benachteiligung des „weiblichen Künstlers“ im Allgemeinen und dessen verspäteter Zugang zu den Kunstakademien im Besonderen. Erst 1919 ließ die Königlich-Preußische Akademie der Künste zu Berlin Frauen zum Studium zu.48 In diesem Zusammenhang ist die Frage, „Warum gab es keinen weiblichen Michelangelo?“,49 45 Vgl. MARGARETE W. ROSSITER: Der Matilda-Effekt in der Wissenschaft, in: Th. WOBBE, Vorderbühne (wie Anm. 38), S. 191–210. Der Matilda-Effekt wurde von Rossiter nach der amerikanischen Frauenrechtlerin Matilda Joslyn Gage (1826–1898) benannt, die sich u. a. für eine feministische Re-Interpretation der Bibel einsetzte. 46 Vgl. A. VOGT, Hintereingang (wie Anm. 38), S. 461. 47 Vgl. dazu MARTINA KESSEL: Einleitung, in: DIES. (Hg.): Kunst, Geschlecht, Politik. Geschlechterentwürfe in der Kunst des Kaiserreichs und der Weimarer Republik, Frankfurt a. M. 2005, S. 7–16. 48 Vgl. SILKE KÖPPEN / ANNA RÜHL: Neue Wege für Künstlerinnen, in: P. BOCK / K. KOBLITZ, Frauen (wie Anm. 6), S. 179–193, hier S. 179. 49 Zur Kritik dieser Frage vgl. ULRIKE GRAMMBITTER: Die „Malweiber“ oder: Wer küßt den Künstler, wenn die Muse sich selbst küßt?, in: Kunst in Karlsruhe 1900–1950. Ausstellung der staatlichen Kunsthalle Karlsruhe im Badischen Kunstverein 24. Mai–19. Juli 1981, Karlsruhe 1981, S. 27f; LINDA NOCHLIN: Warum hat es keine bedeutenden Künstlerinnen gegeben?, in: BEATE SÖNTGEN (Hg.): Rahmenwechsel. Kunstgeschichte als feministische Kulturwissenschaft, Berlin 1996, S. 27–56.

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zu einer stereotypen Beschreibung des Dilemmas von „Frauenkunst“ geworden, die nicht selten den Ausgangspunkt aller Überlegungen zum Thema bildet. Kunst von Frauen kann offensichtlich nicht ohne den Hinweis auf das Geschlecht der Künstlerin beschrieben und analysiert werden. Aufmerksam wird bis heute das Geschlecht der Kunstschaffenden registriert. Vergebens wünschte sich die Künstlerin Jeanne Mammen (1890–1976), „nur ein Paar Augen [zu] sein, ungesehen durch die Welt gehen, nur die anderen sehen“.50 Die schwierigen Verhältnisse erschwerten künstlerische Tätigkeiten von Frauen, legten bestimmte Berufsfelder nahe und schrieben diese Festlegung bis in die zweite Hälfte des 20. Jahrhunderts fort. Frauen waren von den Kunstschulen und den Akademien in Deutschland bis zu Beginn des 20. Jahrhunderts ausgeschlossen und nur als Interpretinnen und Mittlerinnen akzeptiert. Aus diesem Grund konzentrierten sie sich zunächst auf Gesang, Tanz, Kunstgewerbe, Gebrauchsgraphik, Bühnen- und Kostümbildnerei sowie die FotograÀe, also auf Kunstgattungen, die in der Hierarchie der Künste ganz unten angesiedelt waren. Trotz der ungünstigen Voraussetzungen sollen statistisch gesehen in den 1830er Jahren 7 %,51 1907 13 %52 und 1913 16 % Frauen53 zu den Berufskünstlern in Deutschland gezählt haben. Künstlerinnen versuchten sich aufgrund dieser Situation separat zu organisieren. 1867 war der erste Künstlerinnenverein Deutschlands in Berlin gegründet worden („Verein der Künstlerinnen und Kunstfreundinnen zu Berlin“), um eine eigenständige Aus- und Weiterbildungsstätte, eine Sozialversicherung und eine Unterstützungskasse sowie Ausstellungsmöglichkeiten für Frauen in der Hauptstadt einzurichten.54 Im Zuge wachsender Bedeutung überregionaler Kunstpolitik gründeten sich zu Beginn des 20. Jahrhunderts zwei Dachorganisationen von deutschen Künstlerinnen, in denen sich die unterschiedlichen Künstlerinnenkorporationen zusammenfanden. Angesichts inÁationsbedingter Einkommenseinbußen wurde 1927 die Gemeinschaft Deutscher und Österreichischer Künstlerinnenvereine aller Kunstgattungen (Gedok) gegründet, die durch die NS-Zeit hindurch bis heute unter dem Namen Verband der Gemeinschaften der Künstlerinnen und Kunstförderer existiert.

50 ANNELIE LÜTGENS: „Nur ein Paar Augen sein ...“. Jeanne Mammen – eine Künstlerin in ihrer Zeit, Berlin 1991, S. 205. Vgl. auch Jeanne Mammen 1890–1976. Gemälde, Aquarelle, Zeichnungen [Ausstellungskatalog der Berlinischen Galerie], Köln 1997. 51 Vgl. UTE FREVERT: Der Künstler, in: DIES. / HEINZ-GERHARD HAUPT (Hg.): Der Mensch des 19. Jahrhunderts, Frankfurt a. M./New York 1999, S. 292–323, hier S. 314. 52 Vgl. ROBIN LEUMAN: Die Kunst, die Macht und das Geld. Zur Kulturgeschichte des kaiserlichen Deutschlands 1871–1918, Frankfurt a. M./New York 1994, S. 141. 53 Vgl. CAROLA MUYSERS: Einleitung, in: DIES. (Hg.): Die bildende Künstlerin. Wertung und Wandel in deutschen Quellentexten 1855–1945, Amsterdam/Dresden 1999, S. 13–35, hier S. 32. 54 Vgl. dazu CORNELIA MATZ: Die Organisationsgeschichte der Künstlerinnen in Deutschland von 1867 bis 1933, Tübingen 2000.

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Obwohl der Verein Berliner Künstlerinnen und der Bund deutscher Künstlerinnen dem Bund deutscher Frauenvereine (BDF) angehörten und Künstlerinnen die Ausstellungen und Kongresse der Frauenbewegung mit ihren Werken begleiteten, blieb das Verhältnis zwischen Künstlerinnen und Frauenbewegung distanziert. Selbst eine bekannte Schriftstellerin wie Ricarda Huch (1864–1947), die eng mit führenden Protagonistinnen der Frauenbewegung befreundet war, hielt Abstand zu den Institutionen der Frauenbewegung. Dies lag nicht zuletzt darin begründet, dass sich eine Künstlerexistenz um die Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert kaum als weiblicher Lebensentwurf realisieren ließ und das gängige Modell der Geschlechterdifferenz auf diesem Feld deutlich an seine Grenzen stieß. Ähnlich wie die Wissenschaftlerinnen konnten sich deshalb Künstlerinnen, unabhängig von ihrer politischen Orientierung, wenig von öffentlich sichtbaren Kontakten zur Frauenbewegung versprechen. Die politische Haltung dieser Künstlerinnen wird oft nicht deutlich und wenn sie bekannt ist, dann lassen sich daraus keine generellen Schlüsse aus der Verbindung zwischen politischem Liberalismus und der politischen Orientierung dieser Pionierinnen ziehen. Für ihre beruÁichen Karrieren waren diese Frauen auf das liberale Klima in der Großstadt angewiesen. Viele von ihnen erkannten schnell, dass ihr Geschlecht dem künstlerischen Erfolg enge Grenzen zog. So distanzierte sich etwa Käthe Kollwitz (1867–1945) ausdrücklich davon, im Kunstbetrieb auf das Geschlecht reduziert zu werden. Sie wollte nicht „Anwalt der Frauen in Kunstsachen sein“.55 Denn nur der moderne – männliche – Künstler galt als die PersoniÀzierung des kreativen Menschen schlechthin, er verkörperte das Außergewöhnliche, den Außenseiter, das Genie.56 Käthe Kollwitz, die seit 1919 Mitglied der Königlich-Preußischen Akademie der Wissenschaften war und seit 1928 ein Meisteratelier für Graphik leitete, förderte zwar durchaus junge Frauen, die sie für begabt hielt. Wie stark Käthe Kollwitz trotz ihres eigenen Erfolgs künstlerischen Erfolg jedoch an Männlichkeit gebunden sah, wird aus ihrer Bemerkung anlässlich der Geburt einer Tochter des Kulturtheoretikers Herich Goesch deutlich, als sie schreibt, diese werde es trotz günstiger Voraussetzungen „eben doch niemals zu einem Goethe, sondern ‚nur‘ zu einer Ricarda Huch bringen“.57 55 Tagebucheintrag vom 1. Februar 1917, zitiert nach: MICHAEL BASSE: Käthe Kollwitz (1867–1945), in: MICHAEL FRÖHLICH (Hg.): Die Weimarer Republik. Portrait einer Epoche in Biographien, Darmstadt 2002, S. 119–128, hier S. 125. 56 Vgl. dazu WOLFGANG RUPPERT: Der moderne Künstler. Zur Sozial- und Kulturgeschichte der kreativen Individualität in der kulturellen Moderne im 19. und frühen 20. Jahrhundert, Frankfurt a. M. 1998, S. 11–25. Zur Konstruktion des Künstlers in der Künstlerbiographie vgl. KARIN HELLWIG: Von der Vita zur Künstlerbiographie, Berlin 2005. 57 Tagebucheintrag vom 28. August 1921, zitiert nach: M. BASSE, Käthe Kollwitz (wie Anm. 55), S. 126.

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Der Sicht, dass das männliche Geschlecht Voraussetzung für eine erfolgreiche Künstlerkarriere sei, trugen letztlich auch die wenigen etablierten Künstlerinnen Rechnung, indem sie gerne darauf hinwiesen, dass Talent und Fleiß für eine Künstlerexistenz nicht ausreichten, dass die Ausbildungs- und Arbeitsbedingungen für Frauen ungleich schlechter seien und letztlich nur eine schmale Elite reüssieren könne. Die Künstlerinnenvereine ermunterten Frauen nicht etwa, künstlerische Berufe zu ergreifen, sondern warnten zu Beginn des 20. Jahrhunderts ausdrücklich davor, dass der weit verbreitete Dilettantismus von Frauen „weibliche Kunst“ diffamieren würde. Der Verein der Künstlerinnen und Kunstfreundinnen zu Berlin erschwerte deshalb die Aufnahmebedingungen und plädierte für eine scharfe Kontrolle der künstlerischen Leistung seiner Mitglieder.58 In den zwanziger Jahren, in denen die Verbindung von Kunst und Kunsthandwerk im Bauhaus und im Deutschen Werkbund vorangetrieben wurde, konzentrierten sich Frauen im Bereich des Kunsthandwerks und absolvierten Ausbildungen für Modezeichnen, Plakatkunst und Dekorationskunst.59 Die Konzentration von Frauen auf diese ihnen zugewiesenen Bereiche der „Mittlerin“ und des Kunstgewerbes spiegelte sich in dem Band über „Die Kultur der Frau. Eine Lebenssymphonie der Frau des XX. Jahrhunderts“, den Ada Schmidt-Beil 1931 in Berlin herausgab. Unter der Überschrift „Künstlerisches Frauenschaffen“ stellten verschiedene Autorinnen dort in acht Artikeln entsprechende Themen vor, so „Das unbewußte Talent“, „Das Unterbewußte und unser Traumleben“, „Die Schauspielerin“, „Die Frau als Malerin“, „Die Entwicklung der Künstlerin Renée Sintenis“ – die sich hier, die Anfänge ihrer künstlerischen Tätigkeit verschweigend, ganz zur Tierbildhauerin stilisierte –,60 „Die Frau in der Musik“ (ein Porträt der Pianistin Frieda Kwast-Hodapp), „Die Frau im Kunstgewerbe“ und „Die Frau als Photographin“. Keramik wurde in den zwanziger Jahren mit weiblicher Kunst geradezu gleichgesetzt,61 Künstlerinnen generell kein innovatives, intellektuelles Potential zugesprochen. Einige setzten sich dagegen öffentlich zur Wehr, wie Else Lasker-Schüler (1869–1945), die 1924 im Selbstverlag den Text „Ich räume auf! Meine Anklage gegen meine Verleger“ veröffentlichte. Lasker-Schüler thematisiert in diesem Text die prekäre Situation der Künstlerin in der Weimarer Republik. 58 Dazu IRIS SCHRÖDER: Der „Verein der Künstlerinnen und Kunstfreundinnen zu Berlin“ und die Frauenbewegung vor dem Ersten Weltkrieg 1867–1914, in: Profession ohne Tradition. 125 Jahre Verein der Berliner Künstlerinnen, Berlin 1992, hg. v. Berlinische Galerie und Verein Berliner Künstlerinnen, S. 375–381, hier S. 380. 59 Vgl. S. KÖPPEN / A. RÜHL, Wege (wie Anm. 48), S. 180. 60 Vgl. dazu URSEL BERGER: Erfolgreicher Start einer Künstlerin. Die frühen Frauenstatuetten von Renée Sintenis, in: Weltkunst 70 (2000), S. 680–684. 61 Vgl. SALLY SCHÖNE: „Sie geben sich den Dingen hin, und diese werden gut“. Keramikschülerinnen in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts, in: CORDULA BISCHOFF / CHRISTINA THREUTER (Hg.): Um-Ordnung. Angewandte Künste und Geschlecht in der Moderne, Marburg 1999, S. 132–143.

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Trotz der neuen Freiheiten, die die Weimarer Republik Frauen bot, war eine (jüdische) Schriftstellerin wie Lasker-Schüler den einschlägigen Kreisen nicht willkommen.62 Auch Untersuchungen zu anderen Künstlerinnen, wie etwa den Dramatikerinnen in der Weimarer Republik, haben gezeigt, dass viele dieser jungen Frauen neues Terrain erprobten.63 Ihre künstlerischen Leistungen wurden jedoch selten anerkannt und noch seltener gut bezahlt. Die männlich dominierte Kunstgeschichte hat sie in den Kanon der Weimarer Avantgarde nicht aufgenommen. Ähnlich wie für die Politikerinnen und Wissenschaftlerinnen, die die Verheißungen des Liberalismus für sich in Anspruch nahmen, bildete die Machtübernahme der Nationalsozialisten für die avantgardistischen Künstlerinnen und Schriftstellerinnen eine scharfe Zäsur. Die in den zwanziger Jahren mühsam erkämpften Freiräume gingen verloren. Diejenigen Künstlerinnen, die sich nicht an die kulturpolitische Wende der Nationalsozialisten anpassen konnten oder wollten, zogen sich aus der Öffentlichkeit zurück oder mussten emigrieren. Letztlich waren auch die „‚neuen Künstlerinnen‘ eine Gruppe von Einzelkämpferinnen“ geblieben.64 4. Fazit Am Beispiel des Reichstags und der DDP, des Berliner Wissenschaftsbetriebs und der Kunstszene in Berlin wurden die Chancen und die Grenzen des Emanzipationsprozesses von Frauen im Berlin der Jahrhundertwende und des frühen 20. Jahrhunderts vorgestellt. Deutlich wurde, dass die deutsche Hauptstadt Frauen in all diesen Bereichen neue beruÁiche Möglichkeiten bot, die von diesen auch zahlreich ergriffen wurden. Berlin entwickelte sich um die Jahrhundertwende zum Experimentierfeld und zum Schrittmacher der Frauenemanzipation. Frauen, die dem liberalen Spektrum zuzuordnen sind, suchten optimistisch diese Chancen zu nutzen und trugen damit zur positiven Aufbruchsstimmung bei. Damit stimmen sie in den Chor derjenigen Liberalen ein, der die positiven Seiten und das Entwicklungspotential Berlins betonte. Ralf Stremmel hat herausgestellt, dass die Hauptstadt für die Mehrheit der Linksliberalen „‚deutsche‘ Modernität und Internationalität verkörperte“.65 Auf der anderen Seite zeigt sich – wie auch in anderen Beiträgen dieses Bandes – zu62 Vgl. JENNIFER REDMANN: Lasker-Schüler versus the Weimar Publishing Industry. Genius, Gender, Politics, and the Literary Market, in: CH. SCHÖNFELD, Modernity (wie Anm. 3), S. 297-310, hier S. 307. 63 Vgl. ANNE STÜRZER: Dramatikerinnen und Zeitstücke. Ein vergessenes Kapitel der Theatergeschichte von der Weimarer Republik bis zur Nachkriegszeit, Stuttgart 1993. 64 S. KÖPPEN / A. RÜHL, Wege (wie Anm. 48), S. 193. 65 RALF STREMMEL: Modell und Moloch. Berlin in der Wahrnehmung deutscher Politiker vom Ende des 19. Jahrhunderts bis zum Zweiten Weltkrieg, Bonn 1992, S. 170–178.

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gleich die Ausgrenzung und Marginalisierung von Frauen, obwohl diese gerade auf Liberale setzten, um ihre Integration in den neuen Staat, in die politischen, wissenschaftlichen und künstlerischen Kreise der Hauptstadt zu erreichen. Der Vertrauensvorschuss und die Integrationswilligkeit dieser Frauen wurden keinesfalls von der Mehrheit der Liberalen freudig angenommen und aufgegriffen. Meist stießen Frauen in liberalen Kreisen auf wohlwollende Neutralität, selten auf Unterstützung, oft jedoch auf versteckte oder schroffe Ablehnung. Das Fazit für die hier vorgestellten Beispiele, das aus dem 1933 abrupt unterbrochenen Emanzipationsprozess gezogen werden kann, bleibt also ambivalent. Einzelne Liberale konnten für Frauen in der „großen Politik“, im Wissenschaftsbetrieb und in künstlerischen Kreisen zwar als Türöffner fungieren, sie verwiesen die Frauen jedoch schon beim Eintritt in die heiligen Hallen der Politik, der Wissenschaft und der Kunst in ihre Grenzen. Für eine abschließende Bilanz zum Verhältnis Liberalismus und Frauenemanzipation in Berlin (und im Deutschen Reich) stehen noch nicht genügend Forschungsergebnisse zur Verfügung.

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Walther Rathenau (1867–1922): ein Suchender! – ein Liberaler? Christian Schölzel

Leo Baeck hat einmal über Walther Rathenau bemerkt: „Ein Suchender ist er sein ganzes Leben gewesen. Man könnte fast sagen: Überall in der Welt hat er sich selber gesucht, ohne sich doch ganz zu Ànden.“1 Mit diesem zutreffenden Blick auf Rathenaus Leben und Werk geht zugleich die Frage nach Form und Funktion der beständigen Neuerschaffungen seiner selbst einher. Die vielfältige, teils qualvolle und keinesfalls durchgehend erfolgreiche Selbstsuche Walther Rathenaus in Auseinandersetzung mit seiner im Umbruch beÀndlichen Umwelt darf gleichsam als der „rote Faden“ für die Betrachtung seiner Vita gelten. Es gilt bei der Untersuchung Rathenaus, sich auf diese „Suche“ einzulassen und dabei der Verlockung zu widerstehen, zu vorschnellen, ja bequemen Etikettierungen dieser komplizierten Persönlichkeit zu kommen. Gerne wird der Industrielle, Politiker und Philosoph Rathenau als „patron saint“ (David Graham Williamson) des deutschen Liberalismus betrachtet.2 Diese Bezeichnung ist so richtig wie falsch. Rathenaus als liberal zu kennzeichnenden Einstellungen in den Bereichen von Politik, Wirtschaft oder Kunst stehen andere gegenüber, die man konservativ nennen muss. Liberale Weltsicht – etwa die Forderung, stärker die Gleichheitsgebote einer parlamentarischen Demokratie umzusetzen – und konservative, besser vielleicht nichtliberale Haltungen, waren die zwei Wege, auf denen sich das Versprechen der Gleichberechtigung für einen deutschen Juden, einen jüdischen Deutschen, scheinbar doch noch einlösen ließ. Die Entwicklung von Rathenaus Ansichten ist nicht beliebig, sondern folgt neben generellen Erwägungen und tagespolitischen Faktoren in hohem Maße seinen Selbstzuschreibungen als Jude, ohne diese zu einem allzu umfassenden Erklärungsmoment seines gesamten Lebens deklarieren zu wollen. 1867 wurde Walther Rathenau in eine Familie aus dem jüdischen Großbürgertum hinein geboren. Nach Schulzeit, Studium und Militärzeit begann 1

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LEO BAECK: Von Moses Mendelssohn zu Franz Rosenzweig. Typen jüdischen Selbstverständnisses in den letzten beiden Jahrhunderten. Franz-Delitzsch-Vorlesungen 1955, Stuttgart 1958, S. 40. Vgl. als neueste Arbeit zu Rathenau: LOTHAR GALL: Walther Rathenau. Portrait einer Epoche, München 2009. DAVID G. WILLIAMSON: Walther Rathenau: Patron Saint of the German Liberal Establishment (1922–1972), in: Year Book Leo Baeck Institute 20 (1975), S. 207–222.

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er eine Karriere, die ihn bis kurz vor der Jahrhundertwende in das Direktorium der Allgemeinen Elektrizitätsgesellschaft, AEG, führen sollte, an deren Entwicklung zu einem Weltkonzern sein Vater, Emil Rathenau, maßgeblichen Anteil hatte. Als einer der einÁussreichsten Großindustriellen Europas, der in den Führungsgremien zahlreicher Industrieunternehmen und Banken saß, wirkte Walther Rathenau auch als Industrieorganisator. Seit den 1890er Jahren begann er zu politischen, kulturellen, religiösen, volkswirtschaftlichen und ästhetischen Themen zu publizieren. Er entwarf bis zum Ersten Weltkrieg eine Geschichtsphilosophie.3 „Furcht- oder Zweckmenschen“, ein Konstrukt der zeitüblichen Vorurteile über „Juden“ und „Slawen“, standen „Mutmenschen“, einem Sammelsurium an Klischees über „Germanen“ oder „Arier“, gegenüber. Während „Furchtmenschen“ sich in der rationalen Hastigkeit bei der Gestaltung der industriellen Moderne und ihrer „Mechanisierung“ verlören, vermöchten „Mutmenschen“ sich darüber hinaus ethischen Fragen, der Transzendenz, kurz dem „Reich der Seele“ zuzuwenden, so Rathenau. Seiner antagonistisch konstruierten Sicht auf die Weltgeschichte stellte er seit der Kriegszeit auch eine Gesellschaftsutopie an die Seite, die stark von gemeinwirtschaftlichen Ideen beeinÁusst war.4 Schon in der Vorkriegszeit hatte sich Rathenau um ein politisches Amt bemüht: Seit 1906 versuchte er über seine Verbindungen zur deutschen Diplomatie erfolglos, eine Position in der Kolonialpolitik zu erlangen. Eine Mission als informeller Vermittler im Streit der Gebrüder Mannesmann um Rohstoffquellen in Nordafrika blieb ebenfalls ohne nennenswertes Ergebnis. Das Vorhaben, zu den Reichtagswahlen 1912 für die Nationalliberalen zu kandidieren, ließ Rathenau selbst fallen. Zu gering war seine Verankerung in der Partei und zu sehr fürchtete er antisemitische Reaktionen bei seiner Nominierung. Im August 1914, wenige Tage nach Ausbruch des Ersten Weltkrieges, gelang es ihm schließlich, die Leitung der Kriegs-Rohstoff-Abteilung im Preußischen Kriegsministerium übertragen zu bekommen. Hier organisierte er die staatliche Lenkung der in der deutschen Nationalökonomie zirkulierenden Rohstoffe. Die freie Marktwirtschaft wurde dabei zugunsten der Erfüllung des Kriegsbedarfs eingeschränkt. Im Frühjahr 1915 schied er aus diesem Ehrenamt wieder aus. Als Angehöriger einer Industriellenfamilie, als Unternehmer und Bankier besaß Rathenau bereits vor dem Ersten Weltkrieg Kontakte zu führenden liberalen wie auch konservativen Politikern, Industriellen oder Bankiers, so z. B. zu Hugo Stinnes, Robert Bosch, Albert Ballin, Max Fürstenberg, Max Warburg, Kaiser Wilhelm II., Theobald von Bethmann Hollweg, Ernst Basser3

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Vgl. WALTHER RATHENAU: Zur Kritik der Zeit, in: DERS.: Gesammelte Schriften (GS), Berlin 1925, Bd. 1, S. 7–148 [zuerst: 1912]; DERS.: Zur Mechanik des Geistes oder vom Reich der Seele, in: ebd., Bd. 2 [zuerst: 1913]; DERS.: Von kommenden Dingen, in: ebd., Bd. 3 [zuerst: 1917]. Vgl. WALTHER RATHENAU: Die neue Wirtschaft, in: ebd., Bd. 5, S. 179–261 [zuerst: 1918]; DERS.: Der neue Staat, in: ebd., Bd. 5, S. 263–308 [zuerst: 1919].

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mann, Kuno Graf von Westarp, Friedrich Naumann oder Bernhard Dernburg, um nur einige wenige zu nennen. Die zuvor geknüpften engen Beziehungen vermochte Walther Rathenau in Kriegs- und Nachkriegszeit aufrechtzuerhalten und auszubauen. Hinzu kamen vermehrt Begegnungen mit führenden Militärs wie Ludendorff, Seeckt oder Hindenburg sowie seit Kriegsende auch verstärkt Arbeitstreffen mit ausländischen Politikern. 1921 wurde Rathenau als DDP-Politiker im ersten Koalitions-Kabinett des Zentrumspolitikers Joseph Wirth für knapp fünf Monate Reichsminister für Wiederaufbau. Er suchte den Kontakt mit den Westmächten, um die durch Kriegshandlungen zerstörten Gebiete Nordfrankreichs mittels deutscher Reparationen wiederaufbauen zu können. Rathenau war um eine versöhnliche Haltung gegenüber den Siegern des Krieges bemüht und galt als „Erfüllungspolitiker“. Nach der Entscheidung des Völkerbunds zur Teilung Oberschlesiens war die DDP in der Frage gespalten, ob ihre Minister aus der Reichsregierung abzuziehen seien, um den Alliierten zu signalisieren, dass die deutsche Politik die als völkerrechtswidrig empfundene Abtretung Oberschlesiens nicht mittragen werde. Während Reichswehrminister Otto Geßler (DDP) in der Regierung blieb, beugte sich Rathenau dem Druck der DDP und schied aus der Regierung aus. Er war Mitglied und populäres Aushängeschild der Partei, ohne jedoch deren Apparat anzugehören. Rathenaus Entscheidung zum Rücktritt dürfte allerdings viel wesentlicher von der schwindenden Unterstützung der Banken und der Schwerindustrie (z. B. durch Hugo Stinnes) für ihn als Minister beeinÁusst worden sein. Ohne das Wohlwollen von Industrieunternehmen und Banken bestand für einen Wiederaufbauminister keinerlei Spielraum in den Bereichen der Reparations-Außenpolitik oder der damit eng verknüpften Àskalischen Politik des Reiches. Rathenaus auch international glänzender Ruf als Finanzexperte und Verhandlungsführer veranlasste Reichskanzler Wirth kurz darauf dazu, ihn als Unterhändler „ohne Portefeuille“ um den Jahreswechsel nach Paris und London zu senden. Wirth, Rathenau wie auch der Reichsbankpräsident Rudolf Havenstein versuchten zu jener Zeit gemeinsam, die Westalliierten vom Konzept der „Erfüllungspolitik“ zu überzeugen. Das Verhältnis zwischen Rathenau und Stinnes blieb auch in diesen Wochen von wechselseitiger Bewunderung wie Konkurrenz geprägt. Der Industrielle von der Ruhr war zeitgleich – und erfolglos – bemüht, ohne Autorisierung durch Reichsstellen eine eigene, rigidere Außenpolitik bei den Westmächten zu betreiben. Rathenau wie Stinnes konnten weder nachhaltig miteinander kooperieren, noch waren die EinÁusssphären des jeweils anderen derart beschränkt, dass einer von beiden ohne den anderen hätte politisch agieren können. Nachdem zum Jahreswechsel 1921/22 Rathenau seine Position als „graue Eminenz“ für die deutsche Reparationspolitik hatte ausreichend nutzen können

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und nachdem der politische Pulverdampf zur Oberschlesienfrage sich im Reich verzogen hatte, vermochte Wirth Rathenau Ende Januar 1922 zum Außenminister zu berufen. Stinnes versuchte die Ernennung zu verhindern und schlug vor, weder er noch Rathenau sollten je ein Ministeramt übernehmen. Rathenau ließ sich jedoch nicht zu einem Amtsverzicht überreden. Als Außenminister war Rathenau um ein Zusammenwirken Deutschlands vor allem mit Frankreich und Großbritannien beim Wiederaufbau der durch Weltkrieg, Revolution und Bürgerkrieg zerstörten sowjetrussischen Wirtschaft bemüht. Gleichwohl unterzeichnete er Mitte April 1922 den separaten deutschsowjetrussischen Vertrag von Rapallo. Zeit seines Lebens war Walther Rathenau mit seinem Judentum konfrontiert und setzte sich in vielfältiger Weise damit auseinander. Zunächst bekam er über seine Familie das Konzept der Akkulturation als Jude und Deutscher vermittelt. Bei den Rathenaus folgte man der zeittypischen Tendenz, dem alltäglichen Antisemitismus im Kaiserreich durch die Verinnerlichung antisemitischer Topoi zu entgehen; also zu meinen, sich durch eine IdentiÀzierung mit den Protagonisten antijüdischer Haltungen der Benachteiligung und Diskriminierung entziehen zu können. Auch Rathenau übernahm in hohem Maße diese Verhaltensweise. Sehr versteckt Ànden sich dabei in seinem Leben und Werk auch Bekenntnisse zum Judentum. Seit seiner Kindheit war Walther Rathenau immer wieder Opfer antisemitischer Diskriminierungen. Sein gesamtes Leben sah er sich gezwungen, Strategien des Ertragens, Verteidigens, der Selbstbehauptung oder Selbstverleugnung (z. B. in der Form des „jüdischen Selbsthasses“)5 zu entwickeln. Am 24. Juni 1922 wurde Walther Rathenau von antisemitisch und antidemokratisch gesinnten Mitgliedern der deutsch-völkischen „Organisation Consul“ ermordet. Ihre Tat richtete sich gegen ihn als Juden, gegen ihn als „Erfüllungspolitiker“; vor allem aber zielte sie auf ihn als Repräsentanten des republikanischen Systems. Die Bluttat rief weltweit Bestürzung hervor und prägte sich im kollektiven Gedächtnis der Deutschen ein. Bereits zu seinen Lebzeiten, besonders aber nach seinem Tode rühmten sich viele Menschen, Walther Rathenau gekannt zu haben.6 Vor allem nach der mit seinem Tode einsetzenden Mythologisierung strichen viele heraus, mit ihm verkehrt zu haben. In seiner komplexen Vielfalt wurde er zur ProjektionsÁäche für die verschiedensten Bedürfnisse derjenigen, die ihn zu vereinnahmen trachteten.

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Die Verwendung dieses auf Theodor Lessing zurückgehenden Ausdrucks soll nicht implizieren, dass „Selbsthass“ etwas „speziÀsch Jüdisches“ sei. Vielmehr geht es um das Auftreten eines allgemeinmenschlichen psychologischen Phänomens auch unter Juden. Vgl. ERNST SCHULIN (Hg.): Gespräche mit Rathenau, München 1977, S. 13; DERS. (Hg.): Walther Rathenau. Hauptwerke und Gespräche, München/Heidelberg 1977, S. 599ff; FRITZ STERN: Walther Rathenau. Der Weg in die Politik, in: HORST ALBACH u. a. (Hg.): Die Grenzen sprengen. Edzard Reuter zum Sechzigsten, Berlin 1989, S. 311–341.

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Anhand von vier exemplarischen „Bohrproben“ in Leben und Werk Rathenaus sollen die eingangs vorgestellten Thesen zur Frage seiner Charakterisierung als „liberal“ erhärtet werden.

1. Rathenaus Bild der britischen Außenpolitik vor dem Ersten Weltkrieg Man hat konstatiert, dass sich Rathenau um 1907 politisch dem Liberalismus zugewandt habe. In „Vier Nationen“ vom Januar 1908, also genau in jener Zeit, befasste er sich mit dem Wechselverhältnis von politischer Macht, Materiellem und Rasse sowie weiterer Faktoren: „Drei Begriffe bestimmen die wirtschaftliche Bedeutung eines Landes: Physik, Historie und Psychologie. Der physische Begriff umfaßt Luft und Boden, geologische Bildung, geographische Lage und Gestalt, inneren und äußeren Verkehr, Bevölkerungszahl. Der historische Begriff bedeutet die Ansammlungen verschiedener Zeitläufte: an Kapital, an Verkehrseinrichtungen, an gemeinnützigen Anlagen und geistiger Überlieferung. Der ethische Begriff ergibt sich aus der Veranlagung und den sittlichen Werten der Bevölkerung. Alle drei Begriffe sind veränderlich. Der erste wird vornehmlich durch Politik und Technik beeinÁußt oder umgewertet, der zweite durch zeitliche Entwicklung, der dritte durch Rassengestaltung und Kultur. Außerdem ist jeder von den beiden übrigen abhängig.“7

Wie schon in „Höre Israel!“, elf Jahre zuvor, oszillierte Rathenaus Begriff der „Rasse“. Einerseits konstatierte er deren „biologistisch unveränderlichen Zustand“. Andererseits mussten „Rasseeigenschaften“ veränderlich bleiben, um Juden eine Chance offen zu halten, „Deutsche“ im Sinne Rathenaus zu werden.8 Aus der „Rassenmischung“ resultierten gesamtgesellschaftliche Veränderungsmöglichkeiten in historischer Perspektive. Er nannte das Beispiel England:9 „Wenn mehrere Jahrhunderte guter Einkochung eine gewisse Gleichförmigkeit oder gar Reinheit der Rassen bewirken können, so ist England eine der bevorzugten Nationen der Welt.“ Neben anderen Faktoren sicherte also „Rassenreinheit“ der Welt- und Handelsmacht ihre hegemoniale Stellung.10 Die Vereinigten Staaten mit ihrem ausgeprägt kapitalistischen 7

WALTHER RATHENAU: Vier Nationen, in: DERS., GS (wie Anm. 3), Bd. 4, S. 121–140 [zuerst: 25. 1. 1908], hier S. 123. 8 Ebd. 9 Ebd., S. 123ff, Zitat S. 123. Vgl. zu Rathenaus Beschäftigung mit Großbritannien in diesen Jahren auch: GERHARD HECKER: Walther Rathenau und sein Verhältnis zu Militär und Krieg, Boppard a. Rh. 1983, S. 121ff; THEODOR SCHIEDER: Walther Rathenau und die Probleme der deutschen Außenpolitik, in: Discordia concors. Festgabe für Edgar Bonjour zu seinem siebzigsten Geburtstag am 21. August 1968, Bd. 1, Basel u. a. 1968, S. 239– 268, hier S. 244, 246. 10 Ebd., S. 125. Vgl. WALTHER RATHENAU: Demokratisches Erwachen, in: DERS.: Nachgelassene Schriften, Berlin 1928, Bd. 1, S. 23–25 [zuerst: November 1908, Erstveröffentlichung: 1928], S. 23; SANDER L. GILMAN: Rasse, Sexualität und Seuche. Stereotype aus der Innenwelt der westlichen Kultur, Reinbek 1992.

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System schätzte er als „zweckhaft“ ein und bezog sich hierbei auf sein pejoratives Konstrukt des „Zweckmenschen“.11 Deutschland habe seine Stellung als zweite ökonomische Weltmacht hinter den Amerikanern ethischen Werten zu verdanken: „Das Erbteil der germanischen Stämme ist Individualität, Idealismus, Transzendenz, Treue und Mut. Die slawische Mischung brachte Gehorsam, Zucht und Geduld. Der jüdische Einschlag gab eine Färbung von Skeptizismus, Geschäftigkeit und Unternehmungslust.“12 Es wird deutlich, wie sehr er sowohl zeittypische Nationalstereotypen als auch antisemitische und antislawische Klischees verwendete.13 Die Beispiele ließen sich fortsetzen. Klar wird, wie sehr politische Haltungen von rassistischen Äußerungen überlagert waren. Letztere entsprangen ganz überwiegend Rathenaus Fluchtversuchen vor der Diskriminierung als Jude. 2. Der Kontakt zu als liberal geltenden Künstlern und Intellektuellen im späten Kaiserreich Gerne wird in der Forschung darauf verwiesen, dass Rathenau sich mit Intellektuellen umgeben habe, die auf eine geistig-kulturelle Liberalisierung des Kaiserreichs gedrungen hätten. Den Schriftsteller Frank Wedekind14 und Walther Rathenau verband die scheinbare Übereinstimmung von Teilen ihrer jeweiligen Werkaussagen. Suchte Rathenau in Wedekind den Autor, der für ihn eine Liberalisierung des Kaiserreichs verhieß? Zweifelsohne basierte der intellektuelle Austausch zwischen beiden auch auf einem gehörigen Maß an kommunikativem Missverständnis. Rathenaus geschichtsphilosophische Idealtypen des „Furcht- und des Zweckmenschen“ scheinen zwar mit literarischen Figuren des Schriftstellers verwandt, die als „Rasse-Konstrukt“ konzipiert waren. Dies gilt für Wedekinds als parodistischen Gegenentwurf zum Antisemitismus des Kaiserreichs fragmentarisch konzipierten „Niggerjud“, der, allen Opfergruppen des Rassismus zugehörig, sich über alle Diskriminierung erheben sollte. Dennoch waren Rathenaus und Wedekinds Àktive Menschentypen inhaltlich nicht wirklich deckungsgleich. Am 6. Oktober 1904 dankte Wedekind Rathenau für die Übersendung der „Impressionen“.15 Der Band war zwei Jahre zuvor erschienen und enthielt 11 W. RATHENAU, Nationen (wie Anm. 7), S. 131ff. 12 Ebd., S. 137ff, Zitat S. 137. 13 Neben der „Geschäftigkeit von Juden“ verwendete Rathenau zugleich auch das Stereotyp des „nervösen Juden“ wie an anderen Stellen in seinem Werk. 14 Vgl. DIETER HEIMBÖCKEL: Walther Rathenau und die Literatur seiner Zeit. Studien zu Werk und Wirkung, Würzburg 1996, S. 107, 115ff; WALTHER RATHENAU: Frank Wedekind zum fünfzigsten Jahr. Natur und Wille, in: DERS., GS (wie Anm. 3), Bd. 4, S. 71–73 [zuerst: 16. 2. 1914]; ALFRED KERR: Walther Rathenau. Erinnerungen eines Freundes, Amsterdam 1935, S. 65ff. 15 Frank Wedekind an Walther Rathenau, 6. 10. 1904, in: FRANK WEDEKIND: Gesammelte Briefe, Bd. 2, München 1924, S. 130f.

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verschiedene schon an anderer Stelle publizierte Aufsätze Rathenaus, darunter auch „Höre Israel!“. Wedekind meinte, es sei ein „geistvolles Buch“. Und weiter schrieb er: „‚Höre Israel‘ hat mich im höchsten Grad gefesselt, zumal, da es Dinge behandelt, über die ich auch schon nachgedacht zu haben glaube und über die ich Ihnen meine Ansichten gerne gelegentlich vorlegen möchte, da es sich hier doch wohl um Kulturgeschichte im allerweitesten Sinne handelt.“16

Einen guten Monat später äußerte sich Wedekind begeistert über Rathenaus „Furcht“- und „Mutmenschen“-Theorie, nachdem er „Von Schwachheit, Furcht und Zweck“ gelesen hatte. Auch die Verbindung dieser Menschentypen mit bestimmten physiognomischen Erscheinungsformen fand er einleuchtend.17 Angesichts der Übersendung des ersten Teils der „Ungeschriebenen Schriften“ Rathenaus, in dem er seine Geschichtsphilosophie entwickelte, schwärmte Wedekind: „Die 100 ungeschriebenen Schriften sind mir ein Quell, aus dem ich mit immer neuem Behagen trinke.“18 Wedekind lehnte sich an Rathenaus mystische Überlegungen an. Rathenau vertrat seinerseits jedoch ein teils sehr traditionsorientiertes Kunstverständnis, das mit einer Zustimmung zu Wedekinds Werk nicht kongruent sein konnte.19 Dabei führte er alle Erscheinungen auf vermeintliche rassische Konstellationen zurück. Das galt auch für die Kunst: „Unsere Zeit des unaufhörlich gewordenen Rassenwechsels Àndet ihr Abbild in der täglich wechselnden Kulturform.“20 16 Die letztgenannten zwei Zitate jeweils in: ebd. 17 Frank Wedekind an Walther Rathenau, 19. 11. 1904, in: ebd., S. 132–134. Vgl. zudem ebd., S. 151. 18 Frank Wedekind an Walther Rathenau, 21. 8. 1907, in: ebd., S. 188. Die „Ungeschriebenen Schriften“ erschienen unter den Einzeltiteln „Hundert ungeschriebene Schriften“ und „Zweites Hundert ungeschriebener Schriften“ in zwei aufeinanderfolgenden Heften der „Zukunft“ im Jahre 1907. Sie wurden 1908 erneut in den „ReÁexionen“ und danach in den GS, Bd. 4, abgedruckt. Bei diesen erneuten Veröffentlichungen wurden beide Teile jeweils unter der gemeinsamen Überschrift „Ungeschriebene Schriften“ zusammengefasst. Mit seiner Formulierung bezog sich Wedekind eindeutig auf das „erste Hundert“. 19 Vgl. Walther Rathenau an Wilhelm Schmidtbonn, 21. 12. 1912, in: WALTHER RATHENAU: Briefe, Bd. 1, Dresden 1926, S. 112; DERS.: Hans Thoma, in: DERS., Schriften (wie Anm. 10), Bd. 2, S. 336–341 [entstanden Juli, zuerst erschienen: Oktober 1919]; D. HEIMBÖKKEL, Walther Rathenau (wie Anm. 14), S. 230, 265ff; ERNST SCHULIN: Walther Rathenaus Diotima. Lili Deutsch, ihre Familie und der Kreis um Gerhart Hauptmann, in: HANS WILDEROTTER u.a. (Hg.): Walther Rathenau 1867–1922. Die Extreme berühren sich. Eine Ausstellung des Deutschen Historischen Museums in Zusammenarbeit mit dem Leo Baeck Institute, New York/Berlin 1993, S. 55; HANS WILDEROTTER: „Vom Reich der Seele“, in: ebd., S. 292; STEFAN PUCKS: „Eine weichliche, leidende, dem Beruf nicht genügende Natur“? Walther Rathenau im Spiegel der Kunst, in: ebd., S. 86; EDWIN REDSLOB: Von Weimar nach Europa. Erlebtes und Durchdachtes, Berlin 1972, S. 185f. 20 Zentrales Staatsarchiv, Moskau (künftig: ZA), F. 634, NL Walther Rathenau, Fb. 1, A. 105.

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Wedekind und Rathenau trafen sich zwar in der Ablehnung vieler Strukturen des Kaiserreichs, aber nicht eigentlich in ihren Konstruktionen menschlicher Typologien und in ihren Werkaussagen. Beide forderten mehr Pluralismus und die Gleichberechtigung aller Mitglieder der Gesellschaft ein. Während Rathenau sich jedoch rassistischer Gedanken letztendlich bediente, um einer Diskriminierung durch Rassisten zu entgehen, war Wedekinds Konstrukt Ausdruck für einen ironisch-reÁektierten Umgang mit den von ihm hier abgelehnten Rassenideologien. Dem oberÁächlichen Konsens in den gesellschaftspolitischen Forderungen nach Toleranz und Gleichberechtigung standen äußerst unterschiedliche Umgehensweisen mit dem diesen Ideen zuwiderlaufenden Rassismus entgegen. Hinzu kam das wechselseitige Unvermögen, den Umgang des jeweils anderen mit dieser Thematik wirklich zu erfassen. Von einem „liberalen Bund“ o. ä. kann hier, wie in manch anderem Fall, also nicht wirklich gesprochen werden. 3. Das Bild von Frauen21 Rathenau forderte eine Änderung des Preußischen Dreiklassenwahlrechts, die es erleichtern sollte, auf demokratische Weise auch eine nicht-konservative Regierung zu wählen, welche andere Interessen als die des preußischen Adels vertrete. Er drängte den für entscheidungsschwach gehaltenen Bethmann Hollweg zu einer Änderung der Wahlkreiseinteilung und einer Abschaffung der Koppelung des Stimmrechts an den materiellen Status des Wählers. Zeitgleich trat Rathenau 1912 für das aktive und passive Wahlrecht von (manchen) Frauen ein.22 Rechtlos sollten diejenigen bleiben, die verheiratet waren oder in einer Wirtschaftsgemeinschaft mit den Eltern, in einem Dienstverhältnis oder von der Prostitution lebten. Auf diese Weise würden politische Manipulationen vorhindert. Als Wählerinnen blieben wirtschaftlich unabhängige, alleinstehende, darunter geschiedene oder verwitwete, erwachsene Frauen übrig. War diese Forderung Rathenaus ausschließlich einer liberalen Grundhaltung geschuldet, oder schwang hier nicht doch auch ein äußerst ambivalentes Frauenbild mit?

21 Hier und für das Folgende ausführlich: CHRISTIAN SCHÖLZEL: Walther Rathenau. Eine Biographie, Paderborn u. a. 2006, S. 150ff. Vgl. auch UTE PLANERT: Antifeminismus im Kaiserreich. Diskurs, soziale Formation und politische Mentalität, Göttingen 1998; DIES. (Hg.): Nation, Politik und Geschlecht. Frauenbewegungen und Nationalismus in der Moderne, Frankfurt a. M. u. a. 2000. 22 Vgl. WALTHER RATHENAU: Das Eumenidenopfer, in: DERS., GS (wie Anm. 3), Bd. 1, S. 251–263 [zuerst: 23. März 1913], hier S. 259ff; DERS.: Frauenrechte, in: DERS., Schriften (wie Anm. 10), Bd. 2, S. 404 [zuerst: 12. Dezember 1912]. Vgl. zudem ZA, F. 634, NL Walther Rathenau, Fb. 1, A. 195; WINFRIED LOTH: Das Kaiserreich. Obrigkeitsstaat und politische Mobilisierung, München 1997, S. 125, 133, 194–197.

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Rathenaus Haltung gegenüber Frauen war durch eine kühle Mutter, die er als übermächtig wahrnahm, einen in zeitgenössischen Geschlechterbildern verhafteten Vater (der Frauen für verschwenderisch hielt und im Haus wissen wollte) ebenso bestimmt wie durch eine Internalisierung antisemitischer und antifeministischer Topoi. Frauen waren in ihrer überbordenden Sexualität bedrohlich: „Durch die Mechanisierung des Lebens hat der Mann die Gefährtin aus der schützenden Hausstatt gerissen, in Welt und Wirtschaft getrieben, ihr den Schlüssel entwunden und den Geldbeutel in die Hand gedrückt; er hat ihr die Wahl gelassen zwischen Rechnerei, Koketterie, äußerer Arbeit und vereinsamtem Leben. Nicht der Haustyrann, der Egoist und Fronherr hat die schlimmste Sünde begangen, sondern der Müßiggänger und Verweibte, der sie zum Áachen Spiel, zum Sachenglück, zur Vergnügungsgier verführte, den haltlosen Mädchensinn, der in jedem Weibe schlummert, erweckte und zum Dirnensinn verkehrte, um die Seele zu töten. Er trägt die Schuld, daß negerhafte Urgelüste, durch Jahrtausende gebändigt, im Frauenleben unserer Zeit emporgestiegen sind, deren Schande und Not die Enkel entsetzen wird.“23

Bereits hier wie auch später stellte Rathenau weibliche Sexualität und Ethik in einen engen Zusammenhang. Die „Mechanisierung“ führte auch zu einer Entfesselung der von ihm gefürchteten weiblichen Sexualität. Was wollte Rathenau bei der Überwindung der „Mechanisierung“ für das Leben von Frauen erreichen? „Der Frau wird ihre mütterliche Würde und häusliche Verantwortung zurück gewonnen, die in damenhaftem Selbstzweck, in Leerheit und in Tagesfron ersticken sollte.“24 Sexualität wurde zugunsten einer Beschränkung auf die Rollen von Mutter und Haushälterin begrenzt. Nicht die Orientierung auf Dinge, sondern auf Moral werde wichtig sein.25 Dort, wo Rathenau Frauen direkt dem Judentum zuordnete, erhielten sie eine abstrakt gedachte höhere Wertigkeit, als moralische Instanz wie auch im Hinblick auf ihre Körperlichkeit – als sexuelle Wesen –, die nicht nur auf Mütterlichkeit reduziert wurde.26 Rathenaus häuÀger beschworene Unterteilung des Judentums in akkulturierte und, in seinen Worten, nicht hinreichend „selbst erzogene“ Juden war für ihn offenbar in großen Teilen an eine Gleichsetzung der „Erziehung“ mit „sexueller Triebbeherrschung“ gekoppelt. Akkulturation meinte in diesem Sinne auch Triebsublimierung.27

23 24 25 26 27

W. RATHENAU, Dingen (wie Anm. 3), S. 198f. Ebd., S. 149. Vgl. zudem ebd., S. 199. Vgl. ZA, F. 634, NL Walther Rathenau, Fb. 2, A. 43/Teilmappe I. Vgl. ST. PUCKS, Beruf (wie Anm. 19), S. 86. Vgl. WALTHER RATHENAU: Ungeschriebene Schriften, in: DERS., GS (wie Anm. 3), Bd. 4, S. 197–246 [zuerst: in zwei Teilen 13. 7. und 21. 12. 1907], S. 217; ZA, F. 634, NL Walther Rathenau, A. 305; Transkriptionen der Tagebücher von Harry Graf Kessler, Eintrag zum 21. 8. 1916, in: Deutsches Literaturarchiv, Marbach a. N., Kessler-Projekt; von Hattingberg an Walther Rathenau, 2. 4. 1918, in: W. RATHENAU, Briefe (wie Anm. 19), Bd. 2, S. 27.

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Wo es um jüdische Frauen ging, war eine ungebrochenere Sexualität im Spiel. Da sich die Moralität der Frau nur in ihrer Sexualität niederschlug, besaß diese also eine ausgeprägtere ethische „Wirkungskraft“, welche, trotz des jüdischen Sujets, zuweilen positiv besetzt war. Dies deutet daraufhin, dass es Rathenau hier auch um ein kulturelles Bekenntnis zum Judentum ging. Innerhalb ein- und derselben Generation vermochte die Frau nur nachrangige moralische Wertigkeit zu erlangen, da dem Mann die Verantwortung für sie zukam. Dies implizierte, dass die weibliche der männlichen Sexualität im Denken Rathenaus untergeordnet war. Im Hinblick auf das Verhältnis zwischen den Generationen erhielt die Mutter gegenüber ihrem männlichen Kind eine bevorzugte ethische Kompetenz. Auf die Ebene der Sexualität übertragen, bedeutete dies, dass sich die männliche Sexualität aus der mütterlichen ableitete.28 Vor diesem komplexen Hintergrund wird Rathenaus Forderung nach der Einführung des Frauen-Wahlrechts, werden vor allem aber die von ihm hierbei getroffenen Einschränkungen erklärbarer: Ehefrauen im Zeitalter der „Mechanisierung“, Prostituierte und die anderen von ihm genannten Fälle, all dies waren Lebenswelten für Frauen, in denen sich für Rathenau die Ausübung des Frauen-Wahlrechts verbot. „Moralisch haltlos“ wäre die potentielle Wählerin oder Wahlkandidatin in seinen Augen gewesen. 4. Das Agieren als liberaler Parteipolitiker Bereits vor dem Ausbruch des Ersten Weltkriegs hatte Rathenaus „Hunger nach Ganzheit“29 ihn dazu veranlasst, eine Sammlung der linksliberalen politischen Kräfte zu fordern. Nach dem Ende des Weltkriegs, mitten im Zusammenbruch knüpfte er an diese Überlegungen an und wirkte an der Gründung des „Demokratischen Volksbunds“ mit. Die hier exemplarisch herangezogene 28 Vgl. SANDER L. GILMAN: Zeugenschaft und jüdische Männlichkeit. Der Zusammenhang von Zeugenschaft und „jüdischer Männlichkeit“ im Prozeß bei Franz Kafka und Arnold Zweig, in: Einstein Forum. Jahrbuch 1999. Zeugnis und Zeugenschaft, S. 157–177, hier S. 158. Gilman meint, dass „die Pathologisierung des jüdischen männlichen Körpers zugleich seine Feminisierung impliziert.“ Vgl. zudem BENJAMIN MARIA BAADER: Gender, Judaism, and Bourgeois Culture in Germany, 1800–1870, Bloomington, Ind. 2006, S. 216ff; PAULA E. HYMAN: Gender and Assimilation in Modern Jewish History. The Roles and Representation of Women, Seattle u. a. 1995, v. a. S. 134ff; GEORGE L. MOSSE: Nationalismus und Sexualität. Bürgerliche Moral und sexuelle Normen, München u. a. 1985. 29 PETER GAY: Die Republik der Außenseiter. Geist und Kultur in der Weimarer Zeit 1918– 1933, Frankfurt a. M. 1987. Man könnte diesen „Hunger“ Rathenaus auch als Gegenentwurf zum im Kaiserreich präsenten Prinzip der „negativen Integration“ verstehen. Vgl. HANS-ULRICH WEHLER: Krisenherde des Kaiserreichs 1871–1918. Studien zur deutschen Sozial- und Wirtschaftsgeschichte, Göttingen 21979, S. 96ff.

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Episode aus dem Werdegang des „Volksbunds“ weist auf die erstaunliche Tatsache, dass der in Netzwerken und höchst abstrakten institutionellen Zusammenhängen oft brillant denkende und agierende Rathenau gleichwohl bei der organisatorischen Vorbereitung der Durchsetzung liberaler Politik zuweilen außerordentlich ungeschickt zu Werke ging. Die Details lassen sich einem Bericht des Kunsthistorikers und Museumsdirektors Wilhelm Reinhold Valentiner entnehmen.30 Er und Rathenau hatten sich 1916 kennengelernt, möglicherweise auf einer Versammlung der „Deutschen Gesellschaft 1914“.31 Valentiner war zu jener Zeit Redakteur der durch die OHL herausgegebenen „Nachrichten für die Auslandspresse“.32 Die letzte persönliche Begegnung der beiden fand am 4. Oktober 1918 statt.33 Wenige Wochen später entdeckte der erstaunte Valentiner seinen Namen unter einem Aufruf zur Gründung des „Demokratischen Volksbunds“, den Walther Rathenau und Friedrich Naumann in der „Vossischen Zeitung“ veröffentlicht hatten.34 Valentiner hatte niemals seine Zustimmung zu diesem Projekt bekundet. Im Gegenteil, der in diesen Tagen sozialistisch gesinnte Kunsthistoriker gründete zusammen mit Künstlern wie Walter Gropius und Max Pechstein den „Rat geistiger Arbeiter“, der Sozialismus und Kunst zu verknüpfen trachtete.35 Die Erwähnung seines Namens unter dem Aufruf einer 30 Hier und zum Folgenden: Smithsonian Institution, Archives of American Art, Washington, D. C., (künftig: SI), Wilhelm Reinhold Valentiner Papers, D 31, 3963. Wilhelm Reinhold Valentiner (1880–1958), Studium in Leipzig und Heidelberg, Assistententätigkeit in Deutschland und in den Niederlanden, 1906–1908 Kustos am Kaiser-FriedrichMuseum, Berlin, seit 1908 Kurator am Metropolitan Museum of Art, New York, 1914 Meldung als Kriegsfreiwilliger in Deutschland, von Anfang 1916 bis zum Kriegsende Militärdienst als Redakteur, Anfang der zwanziger Jahre Rückkehr in die USA, Museumsleitungen in Detroit, Los Angeles und Raleigh, North Carolina, 1954 erster Direktor des Getty-Museums in Los Angeles. Vgl. JOHANNES KLEINSORG: Walther Rathenau. Seine Rolle in der industriellen Gesellschaft und seine Beziehung zu ausgewählten Soziologen seiner Generation, Diss. Phil., Würzburg 1992, S. 73–78. 31 Zu Valentiners Verbindung zur „Deutschen Gesellschaft 1914“ vgl. Friedrich Perzynski an Wilhelm Reinhold Valentiner, 3. 8. 1916, in: SI, Wilhelm Reinhold Valentiner Papers, 274. 32 Vgl. SI, Wilhelm Reinhold Valentiner Papers, 275. 33 Vgl. Wilhelm Reinhold Valentiner: Erinnerungen 1890–1920, in: SI, Wilhelm Reinhold Valentiner Papers, D 31, XVIII Im Kriegspresseamt, S. 15. Vgl. auch ebd., XVI Thoughts and Ideas Passing Through my Head During the War, S. 103. 34 WALTHER RATHENAU: Aufruf zur Bildung einer „Partei der deutschen Freiheit“, in: DERS., Schriften (wie Anm. 10), Bd. 1, S. 72–80. [zuerst: Oktober 1918]. Vgl. zu den Vorgängen im Folgenden auch: Wilhelm Reinhold Valentiner: Erinnerungen 1890–1920, in: SI, Wilhelm Reinhold Valentiner Papers, D 31, XVI Thoughts and Ideas Passing Through my Head During the War, S. 103ff.. 35 Vgl. SI, Wilhelm Reinhold Valentiner Papers, 276, 622ff. Vgl. zudem Wilhelm Reinhold Valentiner: Erinnerungen 1890–1920, in: ebd., D 31, XVI Thoughts and Ideas Passing Through my Head During the War, S. 123ff; ebd., XXI Revolution, S. 473ff. Vgl. auch ebd., XVI Thoughts and Ideas Passing Through my Head During the War, S. 125. Danach

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Christian Schölzel

bürgerlich-liberalen Sammlungsbewegung war ihm daher mehr als unangenehm. Am 19. November erhielt er dann die Mitteilung, er sei in Abwesenheit bei der Gründungsversammlung des „Demokratischen Volksbunds“ zum Mitglied des „Ausschusses“ des „Volksbunds“ gewählt worden: „Andere Organe als der Ausschuß wurden bisher nicht gewählt. – Falls Sie geneigt sind, die Wahl anzunehmen, werden Sie gebeten, uns dieses auf anliegender Postkarte, oder, falls Bahnbeförderung schwierig, drahtlich zu bestätigen.“36 Am folgenden Tag lehnte er die Wahl ab und protestierte gegen die Verwendung seines Namens im Gründungsaufruf.37 Trotz dieses Antwortschreibens erhielt er kurz darauf eine Einladung zu einer öffentlichen Versammlung des „Demokratischen Volksbunds“. Darin hieß es: „Die eingetretenen politischen Verhältnisse erfordern eine Klärung der Stellung des Bundes, oder gegebenenfalls seine AuÁösung.“38 Nachdem die liberale Sammlungsbewegung zunächst seinen Namen ungefragt verwendete, dann seine Mitwirkung an der liberalen Umgestaltung Deutschlands mit einer Antwortpostkarte einforderte und ihn trotz der bekundeten Abneigung zu einer Versammlung einlud, auf der möglicherweise kurz nach der Gründung die baldige Einstellung der Arbeit des „Volksbunds“ in Aussicht genommen wurde, erstaunt Valentiners fortbestehende Bereitschaft, der Einladung zu folgen. Aus Neugier begab er sich in Begleitung eines Freundes aus dem „Rat geistiger Arbeiter“ am 26. November zu der angekündigten Versammlung. Auf dem Wege dorthin schloss sich den beiden Lovis Corinth an. Der Eindruck Valentiners war verheerend. Rathenau und Naumann hielten Reden, denen die Zuhörer kaum Aufmerksamkeit schenkten. Valentiner hatte Mühe seinen sozialistischen Freund von einer Erwiderung abzuhalten. Lovis Corinth bemerkte sarkastisch: „Es macht den Eindruck eines Hausbe-

besuchte Valentiner zusammen mit einem Freund Rathenau, um mit diesem den Programmentwurf für den „Rat geistiger Arbeiter“ durchzusprechen. Rathenau habe gemeint, unter den zahlreichen Konzepten jener Tage sei es das einzige, welches ihm originell erscheine. ERNST SCHULIN: Walther Rathenau. Repräsentant, Kritiker und Opfer seiner Zeit, Zürich/Frankfurt a. M. 1992, S. 98. Laut Schulin war Rathenau gekränkt gewesen, nicht zur Mitarbeit an der Vereinigung aufgefordert worden zu sein. Vgl. des Weiteren DERS., Walther Rathenau (wie Anm. 6), S. 764–767; Wichard von Moellendorff an den „Rat geistiger Arbeit“, in: Bundesarchiv Koblenz, N 1158, NL Wichard von Moellendorff, 52. 36 Gustav Pauli für den „Demokratischen Volksbund“ an Wilhelm Reinhold Valentiner, 19. 11. 1918, in: SI, Wilhelm Reinhold Valentiner Papers, 276, 628. 37 Wilhelm Reinhold Valentiner an Gustav Pauli, 20. 11. 1918, in: SI, Wilhelm Reinhold Valentiner Papers, 276, 630. 38 Der „Demokratische Volksbund“ an Wilhelm Reinhold Valentiner, 23. 11. 1918, in: SI, Wilhelm Reinhold Valentiner Papers, 276, 632. Vgl. Walther Rathenau an Carl Friedrich von Siemens, 26. 11. 191, in: ZA, F. 634, NL Walther Rathenau, Fb. 1, A. 378. Bereits am Morgen des 26. November erwähnte Walther Rathenau gegenüber Carl Friedrich von Siemens, den „Volksbund“ auf der für den Nachmittag terminierten Sitzung auÁösen zu wollen, da die Einberufung der Nationalversammlung bevorstehe. Vgl. ebd., A. 417.

Walther Rathenau (1867–1922): ein Suchender! – ein Liberaler?

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sitzervereins.“39 Am Tag darauf existierte der „Volksbund“ bereits nicht mehr. Rathenau meinte, für eine Sammlung des Bürgertums habe es an ausreichendem Gemeinsinn gefehlt.40 Kurze Zeit nach der Versammlung sah Valentiner ihn von Weitem auf der Siegesallee in Berlin, doch bog Rathenau demonstrativ in eine Seitenstraße ein. Bedrückt über diese Reaktion, die auf eine Kränkung schließen ließ, sandte Valentiner einige Zeit darauf sein neues Buch „Zeiten der Kunst und Religion“ an den gescheiterten Parteigründer, um die Freundschaft wieder zu beleben. Rathenau antwortete zu Weihnachten 1919 nur mit lapidaren Dankesworten.41 Fazit Sowohl im Falle politischer wie gesellschaftlicher Urteile, im Falle des Kontakts zu Künstlern, die die geistige Liberalisierung des Kaiserreichs erstrebten, wie auch bei der praktischen Umsetzung liberaler Politik war Rathenau nicht eindeutig der Liberale, als der er in einem Großteil der Rathenau-Forschung gerne etikettiert wird. Vielmehr spielen vor allem Denkansätze, die der komplizierten Auseinandersetzung mit seinem Judentum geschuldet sind, eine wesentliche Rolle in der Ausbildung vieler seiner Haltungen und seiner sozialen Kontakte. Die Nähe zu liberalen Personen oder Parteien war für Rathenau eine Möglichkeit, das Versprechen der Emanzipation von Juden in Deutschland wahr zu machen, dem Antisemitismus ein Ende zu setzen; der „Königsweg“ war es nicht.

39 Wilhelm Reinhold Valentiner: Erinnerungen 1890–1920, in: SI, Wilhelm Reinhold Valentiner Papers, D 31, XVIII Im Kriegspresseamt, S. 16. Vgl. zudem Friedrich Naumann an Walther Rathenau, 27. 11. 1918, in: Bundesarchiv Berlin, N 3001, NL Friedrich Naumann, 12. Naumann konnte zu dem Treffen des Volksbundes am 26. November nicht erscheinen. 40 ZA, F. 634, NL Walther Rathenau, Fb. 1, A. 378. 41 Walther Rathenau an Wilhelm Reinhold Valentiner, 24. 12. 1919, in: SI, Wilhelm Reinhold Valentiner Papers, 2143, 1107. Vgl. schon Walther Rathenau an Wilhelm Reinhold Valentiner, 20. 10. 1919, in: ebd., 3963; Wilhelm Reinhold Valentiner: Erinnerungen 1890–1920, in: ebd., D 31, XVI Thoughts and Ideas Passing Through my Head During the War, S. 100ff; ebd., XVIII Im Kriegspresseamt, S. 17.

Verteidiger des Liberalismus. Eva G. Reichmann (1897–1998) und der Centralverein deutscher Staatsbürger jüdischen Glaubens Kirsten Heinsohn

Die Soziologin Eva Reichmann war an der wissenschaftlichen und öffentlichen Diskussion über zwei eng miteinander verbundene Streitfragen aktiv beteiligt: Wie ist der Aufstieg des Nationalsozialismus zu erklären? Und: Ist die Emanzipation der Juden ein Projekt, das schon von Beginn an zum Scheitern verurteilt war? Sie behandelte diese Fragen als Mitarbeiterin des Centralvereins deutscher Staatsbürger jüdischen Glaubens (CV) bis zu ihrer Flucht nach England im Jahre 1939, und sie verfolgte sie weiter in ihrer wissenschaftlichen und publizistischen Tätigkeit nach 1945. Es ist sicher nicht übertrieben, die Beschäftigung mit diesen beiden Themenkomplexen als eine Lebensaufgabe Eva Reichmanns zu beschreiben. Damit war sie zwangsläuÀg auch mit der Rolle des Liberalismus in der deutschen Geschichte und in der Geschichte der Emanzipation befasst. Denn der Liberalismus und seine politischen Organisationen galten den meisten deutschen Juden seit dem ausgehenden 18. Jahrhundert als Impulsgeber und Garanten ihrer erfolgreichen Emanzipation. Und umgekehrt hatte sich gezeigt, etwa in der Wirtschaftskrise 1873, dass eine Krise des Liberalismus zugleich eine Infragestellung der jüdischen Emanzipation mit sich brachte. Der Antisemitismus entstand bekanntlich als eine dezidiert antiliberale Bewegung, die erfolgreich liberale Werte denunzierte und erheblich dazu beitrug, den deutschen Nationalismus im Sinne einer innenpolitischen Freund-Feind-Unterscheidung zu befördern.1 Seit dem Ende der „liberalen Ära“ 1878/1879 fragten sich daher viele deutsche Juden, wem sie denn nun politisch vertrauen sollten. Allgemein wird davon ausgegangen, dass es bis zum Ende der Weimarer Republik immer eine enge Verbindung zwischen dem (linken) Liberalismus und der Mehrheit der deutschen Juden gegeben habe, z. B. hinsichtlich des Wahlverhaltens.2 Tatsächlich aber handelte es sich von Anfang an um eine problematische Weggemeinschaft, die sogar als „widersinnig“ charakterisiert werden 1

2

Vgl. REINHARD RÜRUP: Emanzipation und Krise. Zur Geschichte der ‚Judenfrage‘ in Deutschland vor 1890, in: WERNER E. MOSSE / ARNOLD PAUCKER (Hg.): Juden im Wilhelminischen Deutschland. Ein Sammelband, Tübingen 1976, S. 1–56. So etwa bei JAKOB TOURY: Die politischen Orientierungen der Juden in Deutschland. Von Jena bis Weimar, Tübingen 1966.

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kann, wie etwa Werner E. Mosse meint.3 Denn die liberale Unterstützung der Emanzipation der Juden war eng mit der Ansicht verbunden, die juristische und politische Gleichstellung bedinge zugleich eine vollständige Anpassung der jüdischen Minderheit an die (deutsche und christlich geprägte) Mehrheit. Integration bedeutete in dieser Lesart Anpassung, Assimilation, Einebnung von Unterschieden bzw. die restlose Reduktion solcher Unterschiede auf einen als privat deÀnierten Bereich. Dies aber hieß in letzter Konsequenz, den Fortbestand des Judentums als Gruppe mit besonderen Eigenschaften in Frage zu stellen. Und gerade der Liberalismus mit seiner tief verankerten Überzeugung, dass das Individuum gegenüber staatlichen und anderen herrschaftlichen Gewalten zu stärken sei, stellte in dieser Hinsicht eine Herausforderung für das Judentum als lebensweltliche wie religiöse Gemeinschaft dar. Trotz dieser problematischen Ausgangslage bleibt es historisch unbenommen, dass es vor allem die Liberalen waren, die die Idee der Emanzipation zuerst befördert und in konkrete politische Schritte umgesetzt haben.4 Aus diesem Grunde war eine Partnerschaft zwischen vielen deutschen Juden und dem Liberalismus sicher eher und stärker gegeben als eine Gemeinschaft etwa mit den Konservativen, die sich seit den 1890er Jahren der antisemitischen Bewegung gegenüber offen zeigten. Das Problem der Anerkennung von Gruppen im liberalen Denken aber blieb bestehen. Im Folgenden wird es um die Weggemeinschaft zwischen Juden und Liberalismus gehen, und zwar mit Blick vor allem auf eine Protagonistin und in der Absicht, an diesem Beispiel zu zeigen, wie bewusst den Beteiligten die Problemlage war, welche Stimmen zur Krise des Liberalismus in der Weimarer Republik aus dem Umkreis des CV zu hören waren und ob und wie der Liberalismus dennoch verteidigt wurde. Schließlich zeigt das Beispiel von Eva Reichmanns Schriften, wie sich nach 1945 die Einstellung gegenüber dem Liberalismus wiederum wandelte. Eva Reichmann thematisierte in ihren Werken nicht immer direkt das Verhältnis zwischen Liberalismus und Judentum, aber sie stellte Fragen, die dieses Verhältnis berührten. An welchen Werten orientieren sich Menschen als gesellschaftliche Wesen? Konkret fragte sie sich, warum die aufgeklärten liberalen Werte gegenüber den romantisch-konservativen Werten und im 20. Jahrhundert dann gegenüber faschistischen Ideen so sehr an Boden verloren 3

4

WERNER E. MOSSE: Deutsches Judentum und Liberalismus, in: Das deutsche Judentum und der Liberalismus – German Jewry and Liberalism. Dokumentation eines internationalen Seminars der Friedrich-Naumann-Stiftung in Zusammenarbeit mit dem Leo Baeck Institute London, Sankt Augustin 1986, S. 15–28, hier S. 17. Vgl. auch MARTIN LIEPACH: Das Wahlverhalten der jüdischen Bevölkerung. Zur politischen Orientierung der Juden in der Weimarer Republik, Tübingen 1996, S. 42; PETER PULZER: Warum scheiterte die Emanzipation?, in: PETER ALTER / CLAUS EKKEHARD BÄRSCH / PETER BERGHOFF (Hg.): Die Konstruktion der Nation gegen die Juden, München 1999, S. 273–284. Vgl. dazu den Beitrag von REINHARD RÜRUP in diesem Band.

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hatten. Sie befasste sich mit dieser Problematik in wissenschaftlicher Absicht und mit wissenschaftlichen Mitteln, aber sie tat es vor dem Hintergrund eigener Erfahrungen. In der Auseinandersetzung mit den Schriften Reichmanns und ihrer Person kann es daher nicht allein um die Frage gehen, ob sie mit ihrer Analyse „recht hatte“. Unter dieser Perspektive wird ihr Hauptwerk aus den fünfziger Jahren mit dem Titel „Flucht in den Haß“ noch heute in der Antisemitismusforschung gelesen und dann gern als veraltet oder freundlicher als Vorläufer von anderen Werken beurteilt.5 Dieses Buch und andere Schriften von Reichmann können aber auch als Quellen gelesen werden, nämlich als Quellen dazu, wie die Erfahrungen einer sehr gebildeten, politisch aufmerksamen deutschen Jüdin im 20. Jahrhundert verarbeitet worden sind. Zunächst also wird die Person Eva Reichmann vorzustellen sein, um einen Eindruck von den gelebten Erfahrungen zu geben, bevor dann in einem zweiten Schritt ihr Beitrag und der anderer Protagonisten zur innerjüdischen Debatte über den Liberalismus Anfang der 1930er Jahre skizziert wird.

1. Eva Reichmann (1897–1998) – eine biographische Skizze Eva Gabriele Reichmann kam im Januar 1897 als jüngste Tochter von Agnes und Adolf Jungmann in einer akkulturierten, aber religiös geprägten jüdischen Familie in Oberschlesien zur Welt.6 Sie besuchte von 1912 bis 1917 eine realgymnasiale Studienanstalt und nahm dann ein Studium der Nationalökonomie in Breslau, München, Berlin und Heidelberg auf. 1921 promovierte sie bei Emil Lederer (1882–1939) in Heidelberg mit einer Arbeit über „Spontaneität und Ideologie als Faktoren der modernen sozialen Bewegungen“. Drei Jahre später wurde sie zunächst Assistentin, dann kulturpolitische Referentin beim Centralverein deutscher Staatsbürger jüdischen Glaubens in Berlin, obwohl sie zunächst Vorbehalte gegenüber der Politik dieses Vereins hatte. Eva Jungmann interessierte sich nämlich für den Aufbau jüdischer Siedlungen in Palästina und war durchaus pro-zionistisch orientiert. Damit – so befand sie selbst – stand sie eigentlich nicht auf dem „Boden des CV“,7 wurde aber den5 6

7

So etwa bei CHRISTOPH NONN: Antisemitismus, Darmstadt 2008, S. 25–27. Biographische Angaben nach: Fragebogen Eva Gabriele Reichmann, in: Institut für Zeitgeschichte, München (künftig: IfZ), MA 1500, 48/B. Dieser Fragebogen ist die Grundlage für den Eintrag in: WERNER RÖDER / HERBERT A. STRAUSS (Hg.): Biographisches Handbuch der deutschsprachigen Emigration nach 1933, Bd. 2/1, München/New York/ London 1980, Sp. 592; Reichmann, Eva Gabriele, in: JUTTA DICK / MARINA SASSENBERG (Hg.): Jüdische Frauen im 19. und 20. Jahrhundert, Reinbek b. Hamburg 1993, S. 310– 312; ARNOLD PAUCKER: Eva Gabriele Reichmann (1897), in: HANS ERLER (Hrsg.): „Meinetwegen ist die Welt erschaffen“. Das intellektuelle Vermächtnis des deutschsprachigen Judentums. 58 Porträts, Frankfurt a. M. 1997, S. 279–284. „Tragt ihn mit Stolz, den gelben Fleck“. Gespräch mit Eva Reichmann, in: Ästhetik und Kommunikation 14 (1983), H. 14: Deutsche, Linke, Juden, S. 51–69, hier S. 55.

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noch eingestellt. Sie hat ihre Tätigkeit mit großer Loyalität und wachsender Überzeugung ausgeübt, verstand sich wohl auch als Vermittlerin zwischen Zionisten und CV’lern, so dass sie schnell zu einer der zentralen Persönlichkeiten im CV in Berlin wurde. Eva Jungmann bearbeitete hauptsächlich kulturelle und innerjüdische Themen, schrieb Artikel für die Verbandszeitschrift und übernahm 1933 die Redaktion der kulturwissenschaftlichen Zeitschrift „Der Morgen“. Leo Baeck (1873–1956), liberaler Rabbiner und Vorsitzender der Gesamtvertretung der Juden in Deutschland nach 1933, charakterisierte sie 1938 in einem Empfehlungsschreiben als „Mittelpunkt für viele Suchende und Strebende unter den Juden in Deutschland“, und das Palästina-Amt Berlin bescheinigte ihr anlässlich ihrer Emigration 1939, dass sie „zu jenem Kreis von Nichtzionisten [gehöre], die mit dem Gedanken des Palästina-Aufbaus und der Arbeit für ihn aufs engste verbunden gewesen sind.“8 Im CV lernte Eva Jungmann auch Hans Reichmann (1900–1964) kennen, den sie im April 1930 heiratete. Reichmann, ein promovierter Jurist, der 1927 aus Oberschlesien zum CV nach Berlin kam, leitete das sehr aktive Dezernat zur Bekämpfung des Nationalsozialismus. Seit Anfang der dreißiger Jahre wurde aus der traditionellen juristischen Abwehrtätigkeit gegen antisemitische Verunglimpfungen als Hauptaufgabe des CV immer mehr eine politische Auseinandersetzung mit dem stärker werdenden Nationalsozialismus.9 Eva und Hans Reichmann waren seit 1930 in diese neue Form der Abwehrarbeit involviert. Das „Büro Wilhelmstraße“ – so der Name für die Unterabteilung des CV – kooperierte intensiv mit dem sozialdemokratisch orientierten Reichsbanner Schwarz-Rot-Gold, einer Organisation zum Schutz der Republik, sammelte und bewertete Material über die nationalsozialistische Bewegung und erprobte neue Propagandamethoden. Die Hauptfragen, die sich der CV und sein Büro in der Wilhelmstraße stellten, lauteten: Warum unterstützt eine Mehrheit der Deutschen die Nationalsozialisten und welche Rolle spielt der Antisemitismus? Ab 1930 waren dies auch die zentralen Themen im wissenschaftlichen und publizistischen Werk Eva Reichmanns. Nach 1945 nahm sie viele Argumente wieder auf, die sie und der CV schon vor 1933 benannt hatten. Zwischen 1933 und 1938 arbeitete Eva Reichmann auch an führender Stelle in mehreren Einrichtungen, die die Bedrückungen der nun staatlicherseits Verfolgten lindern und ein positives Gemeinschaftsgefühl fördern wollten, so unter anderem im Vorstand des Jüdischen Kulturbundes. Nach dem 8

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Empfehlungsschreiben Leo Baeck für Eva Reichmann, 14. 11. 1938, in: Leo Baeck Institute / Jüdisches Museum Berlin (künftig: LBIJMB), Eva Reichmann Collection, AR 904 / MF 915, Box 1, Folder 1; Benno Cohn, Palästina-Amt Berlin, an jüdische Instanzen in England, 24. 2. 1939, in: ebd. Vgl. dazu AVRAHAM BARKAI: „Wehr Dich!“ Der Centralverein deutscher Staatsbürger jüdischen Glaubens (C.V.) 1893–1938, München 2002; ARNOLD PAUCKER: Deutsche Juden im Kampf um Recht und Freiheit. Studien zur Abwehr, Selbstbehauptung und Widerstand der deutschen Juden seit dem Ende des 19. Jahrhunderts, Teetz 2004.

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Novemberpogrom 1938 wurde Hans Reichmann für mehrere Wochen in Sachsenhausen inhaftiert. Eva Reichmann war nun nicht mehr nur als verantwortliche Redakteurin wiederholt zur Gestapo vorgeladen, sondern musste sich auch für die Freilassung ihres Mannes einsetzen. Eigentlich wollten die Reichmanns „im Rahmen des Möglichen“ weiterhin in Deutschland arbeiten.10 Hans Reichmanns Entlassung aus dem Konzentrationslager konnte seine Frau aber nur erreichen, indem sie ein Visum zur Auswanderung in die USA vorlegte. Mit gültigen Pässen und Transitvisa für England, doch ohne persönlichen Besitz, Áoh das Ehepaar daher im April 1939 über Holland nach London, das für beide zur neuen Heimat werden sollte. Eva Reichmann arbeitete zwischen 1942 und 1943 für den Abhördienst der BBC, bevor sie sich an der London School of Economics einschrieb und dort ein zweites Mal promovierte, diesmal mit einer Arbeit über die Ursachen und Folgen des Antisemitismus in Deutschland. Dieses Buch, das auf einer Auftragsarbeit für das American Joint Committee basierte,11 wurde 1950 in England unter dem Titel „Hostages of Civilisation“ publiziert und erschien 1956 in deutscher Übersetzung.12 1945 erhielten die Reichmanns die britische Staatsbürgerschaft. Hans Reichmann wurde Direktor der United Restitution Organisation in London und war als Jurist mit allen Problemen der sogenannten Wiedergutmachung intensiv befasst. 1964 starb er überraschend auf einer Dienstreise in Wiesbaden. Eva Reichmann arbeitete in der Wiener Library in London, wo sie als Forschungsdirektorin einen umfangreichen Bestand an Zeitzeugenberichten aufbaute und die politische Entwicklung im Nachkriegsdeutschland aufmerksam beobachtete.13 Nach ihrer Pensionierung 1959 arbeitete Eva Reichmann weiterhin als Dozentin und Publizistin in England und Deutschland, hier vor allem im Bereich der politischen Bildung und der Gesellschaft für christlichjüdische Zusammenarbeit. In Deutschland fanden ihre Reden anlässlich der Woche der Brüderlichkeit 1960 und auf dem Evangelischen Kirchentag 1967 besondere Beachtung.14 In den sechziger und siebziger Jahren veröffentlichte 10 Ergänzende Mitteilung, 13. 7. 1970, in: IfZ, MA 1500. 11 Vgl. The Catastrophe of the German Jews by Hans and Eva G. Reichmann, May 1944, in: LBIJMB, AR 904, Box 1, Folder 9. 12 EVA G. REICHMANN: Hostages of Civilisation. The Social Sources of National-Socialist Anti-Semitism, London 1950. Deutsche Ausgabe: DIES.: Die Flucht in den Haß. Die Ursachen der deutschen Judenkatastrophe, Frankfurt a. M. 1956. 13 Vgl. EVA G. REICHMANN: Germany’s New Nazis. Impressions From a Recent Journey Through Germany’s Danger Zones, London 1951. Zur Geschichte der Bibliothek vgl. BEN BARKOW: Alfred Wiener and the Making of the Holocaust Library, London/Portland, Or. 1997. 14 Beide Vorträge sind abgedruckt in EVA G. REICHMANN: Größe und Verhängnis deutschjüdischer Existenz. Zeugnisse einer tragischen Begegnung, Heidelberg 1974, S. 173–182, 211–224.

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sie außerdem zwei wichtige Beiträge zu Geschichte und Soziologie der deutschen Juden.15 Im fortgeschrittenen Alter erhielt Eva Reichmann mehrere bedeutende Auszeichnungen, so 1969 das Bundesverdienstkreuz 1. Klasse, 1970 die Buber-Rosenzweig-Medaille des Koordinierungsrates der Gesellschaften für Christlich-Jüdische Zusammenarbeit, 1982 den Moses-Mendelssohn-Preis des Landes Berlin und 1983 das Große Bundesverdienstkreuz. Trotz erheblicher körperlicher Einschränkungen blieb sie bis ins hohe Alter hinein interessiert an den weltpolitischen Entwicklungen und vertrat dezidiert ihre Meinung.16 Im September 1998, im Alter von 101 Jahren, verstarb Eva Reichmann in London. Eva Gabriele Reichmann war ein Mensch mit vielen Facetten. Eine eindeutige politische oder weltanschauliche Zuordnung fällt deshalb schwer. Sie selbst verstand sich wohl als sozialistisch orientierte Wissenschaftlerin, die in einem liberalen Elternhaus aufgewachsen war und die sich bis an ihr Lebensende einem liberalen Judentum im Sinne Leo Baecks verpÁichtet fühlte, die aber auch paziÀstische Ideen und zionistische Ansichten vertrat, ohne zugleich entsprechenden Vereinen anzugehören.17 Diese Offenheit oder auch Vielfalt behielt sie Zeit ihres Lebens bei. Gleichzeitig war der Centralverein die einzige jüdische Organisation, der sich Eva Reichmann verpÁichtet fühlte – und diese Vereinigung galt als politisch und weltanschaulich liberal. Bis zum Ende der zwanziger Jahre war der CV mit dem Linksliberalismus der Weimarer Republik assoziiert, so dass sich hier eine eindeutige Verbindung zwischen Eva Reichmann und dem Liberalismus herstellen lässt. Alles in allem aber war Eva Reichmann eher eine sozial-orientierte und liberale Denkerin als eine Politikerin, und dies blieb sie Zeit ihres Lebens. Sie versuchte, in Identitätsfragen offen zu bleiben oder anders gesagt: durchaus verschiedene Selbst- und Zukunftsentwürfe miteinander in Einklang zu bringen und damit auch selbstkritisch umzugehen.18 15 EVA G. REICHMANN: Diskussionen über die Judenfrage 1930–1932, in: WERNER E. MOSSE / ARNOLD PAUCKER (Hg.): Entscheidungsjahr 1932. Zur Judenfrage in der Endphase der Weimarer Republik, Tübingen 1965, S. 503–531; EVA G. REICHMANN: Der Bewußtseinswandel der deutschen Juden, in: WERNER E. MOSSE / ARNOLD PAUCKER (Hg.): Deutsches Judentum in Krieg und Revolution 1916–1923, Tübingen 1971, S. 511–612. 16 Interview mit Arnold und Pauline Paucker, 23. 5. 2005. 17 Dies kommt besonders deutlich in einem Interview aus dem Jahre 1981 zum Ausdruck: Zeugen des Jahrhunderts: Eva G. Reichmann im Gespräch mit Hans Lamm, gesendet am 8. 2. 1982 im Zweiten Deutschen Fernsehen: „[E]ine Deutsche bin ich nicht mehr. [...] Ich bin eine britische Staatsangehörige jüdischer Tradition, jüdischer Herkunft und bemühe mich, meine nie versagende und nie dahingegangene deutsche Loyalität noch zu bewahren, neben meiner britischen Loyalität, die von meinem ganzen Dank dafür [getragen ist, KH], daß mir England eine Heimat gegeben hat, als Deutschland mir die Heimat zu nehmen begann.“ Transkript des Gespräches zwischen Hans Lamm und Eva Reichmann 4.–6. 2. 1981 in London, ZDF Produktion Nr. 6351/0827, Archivnr. 0012521501, S. 29f. 18 Vgl. Stolz (wie Anm. 7).

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2. Das Problem der Anerkennung: Individualrechte oder Gruppenrechte? Die klassischen Frage der Emanzipation lautet: Wer oder was ist ihr Objekt, das Individuum oder die Gruppe? Die ersten Emanzipationsgesetze in Europa basierten auf der Entscheidung, dass die Freisetzung von herrschaftlichen Zwängen der einzelnen Person zugutekommen sollte. Dementsprechend hatte die revolutionäre französische Politik Juden 1790 bzw. 1791 als Einzelne rechtlich gleichgestellt, nicht aber die Gemeindeorganisationen aus Zwangsmaßnahmen und politischer Kontrolle durch den Staat entlassen. Es ist bekannt, dass diese Entscheidung aus der Überzeugung resultierte, einer als „Nation“ der Juden vorgestellten Gemeinschaft keinerlei Rechte zuzusprechen. In dieser juristischen Frage ging es also um logische Konsequenzen des modernen Nationenbildungsprozesses.19 Das Problem war jedoch nur vordergründig mit einer formalen Gleichstellung der (männlichen) Staatsbürger als Individuen gelöst, es kehrte schon bald zurück. Volk wurde im Deutschland des 19. Jahrhunderts zunehmend zum Leitbegriff für nationalistische Bewegungen und mit diesem Begriff waren neue Ideale von Homogenität nach innen und Abgrenzung nach außen verknüpft.20 Für die Frauenemanzipation war diese Entwicklung zwiespältig, konnten doch die speziÀschen Zuordnungen der Geschlechter für bestimmte Bereiche der Gesellschaft durchaus neue Gestaltungsmöglichkeiten eröffnen – wenn auch das übergeordnete Ziel der Gleichberechtigung damit zugleich in den Hintergrund trat.21 Für die Judenemanzipation aber war diese Entwicklung der entscheidende Faktor, der erklärt, warum auch nach 1869, trotz formaler Gleichberechtigung die Anerkennung innerhalb der Gesellschaft stets prekär blieb. Es herrschte weiterhin die Idee einer jüdischen Gruppenidentität vor und zwar völlig unabhängig davon, ob sich Einzelne dezidiert von dieser Gruppenzuordnung abwandten oder sie suchten. Diese Gruppenzuordnung wurde sowohl von außen an Juden herangetragen als auch von innen gefordert, beispielsweise von Teilen der zionistischen Bewegung. Von außen herrschte überwiegend der Tenor vor, Juden sollten ihre „Eigenart“ aufgeben und „richtige Deutsche“ werden.22 Zugleich aber wurde selbst denjenigen, die dies uneingeschränkt tun wollten, stets vorgehalten, sie würden immer Juden blei19 Vgl. VICTOR KARADY: Gewalterfahrung und Utopie. Juden in der europäischen Moderne, Frankfurt a. M. 1999, S. 63–74; P. ALTER / C. E. BÄRSCH / P. BERGHOFF, Konstruktion (wie Anm. 3); MICHAEL BRENNER / VICKI CARON / URI KAUFMANN (Hg.): Jewish Emancipation Reconsidered. The French and German Models, Tübingen 2003. 20 Kurzer Überblick bei CHRISTIAN JANSEN / HENNING BORGGRÄFE: Nation – Nationalität – Nationalismus, Frankfurt a. M./New York 2007, S. 33–81. 21 Vgl. dazu die Beiträge in UTE PLANERT (Hg.): Nation, Politik und Geschlecht. Frauenbewegung und Nationalismus in der Moderne, Frankfurt a. M. 2000. 22 Vgl. dazu auch den Beitrag von UFFA JENSEN in diesem Band.

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ben. In vielen Selbstverständigungstexten deutscher Juden wurde daher das Problem der mangelnden Anerkennung von außen hin und her gewendet und es wurden sehr unterschiedliche Antworten gegeben, wie Juden am besten darauf reagieren sollten. Hier ist nur an so unterschiedliche Beiträge wie Walther Rathenaus „Höre Israel!“ von 1897, Moritz Goldsteins Beitrag „DeutschJüdischer Parnaß“ aus dem Jahre 1912 oder Jakob Wassermanns Schrift „Mein Weg als Deutscher und Jude“ von 1921 zu erinnern.23 Sehr deutliche Antworten gaben auch die Vertreter der zionistischen Position und die Sprecher der nationaldeutschen Juden.24 Unter der Prämisse eines ideellen Liberalismus aber ließ sich das Problem nicht lösen.25 Denn das klassische Liberalismusverständnis konnte eine Gruppe nicht als eigenständiges Subjekt in seiner Emanzipationstheorie berücksichtigen – und auch nicht ungebetene Zuschreibungen von Zugehörigkeiten von außen verhindern. Damit stellte sich für Juden und Jüdinnen, die sich auf liberale Werte bezogen, ein schwieriges IdentiÀkationsproblem, sobald sie sich auch einer Gemeinschaft zuordnen wollten und dies für sie „mehr“ bedeutete als nur eine privat zu lebende Religion. Als Denkerin, aufmerksame Zeitgenossin und Soziologin setzte sich Reichmann immer wieder mit den Idealen der Aufklärung und des Liberalismus auseinander und stieß natürlich auch auf das Problem, wie sich Gruppencharakter und Individuum im liberalen Denken miteinander verbinden lassen könnten. In ihrer Rede anlässlich des Moses-Mendelssohn-Preises zur „Förderung der Toleranz gegenüber Andersdenkenden und zwischen den Völkern, Rassen und Religionen“ im Jahre 1982 betonte sie etwa, dass sie als Mitglied einer Minderheitengruppe immer auf Toleranz angewiesen gewesen sei.26 Nur so könne eine Minderheit überhaupt bestehen. Sie habe diese Toleranz als Individuum erlebt, nicht aber als Teil einer Gruppe. Diese erste Schwierigkeit zwischen Liberalismus und Juden wurde in ihren Augen noch durch ein ungenügendes Toleranzverständnis verstärkt: Toleranz sei nur dann eine gute Sache, wenn sie vorübergehend ausgeübt werde. Sie müsse schließlich in die Anerkennung führen, betonte Eva Reichmann mit Bezug auf den deutschen 23 Diese und andere Quellen in CHRISTOPH SCHULTE (Hg.): Deutschtum und Judentum. Ein Disput unter Juden aus Deutschland, Stuttgart 1993. 24 Vgl. MICHAEL BRENNER: Geschichte des Zionismus, München 2002. Über die nationaldeutschen Juden informiert MATTHIAS HAMBROCK: Die Etablierung der Außenseiter. Der Verband nationaldeutscher Juden 1921–1935, Köln 2003. 25 „Liberalismus ist die Theorie der Entfaltung des autonomen Individuums; entscheidend ist sein Schutz durch den Rechtsstaat.“ GERHARD GÖHLER: Liberalismus im 19. Jahrhundert – Eine Einführung, in: BERND HEIDENREICH (Hg.): Politische Theorien des 19. Jahrhunderts. Konservatismus, Liberalismus, Sozialismus, Berlin 22002, S. 211–229, hier S. 224. 26 EVA GABRIELE REICHMANN: Toleranz. Eine Dankesrede, in: Reden zum Moses-Mendelssohn-Preis 1982 an Eva G. Reichmann, hg. v. Senator für Wissenschaft und Kulturelle Angelegenheiten, Berlin 1982, S. 17–26, hier S. 25.

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Klassiker, Goethe.27 Hier zeigte sich Reichmann eindeutig als Liberale und formulierte zugleich eine Kritik am Liberalismus: Sie forderte die Anerkennung der „Andersartigkeit“ – worin auch immer diese bestehen mochte – und nicht eine formalisierte Gleichheit aller.28 Eva Reichmann thematisierte an dieser Stelle nicht die Gleichheit vor dem Gesetz als Voraussetzung für Anerkennung. Diese sah sie als gegeben an. Vielmehr ging es ihr um die gesellschaftliche Anerkennung von Unterschieden innerhalb der Gleichheit aller Staatsbürger. Damit sprach sie ein Hauptproblem des Liberalismus als Träger des Emanzipationsgedankens aus jüdischer Sicht an: Wenn der Liberalismus es nicht vermochte, für eine gesellschaftliche Anerkennung von Unterschieden in der Gleichheit zu sorgen, weil er Toleranz forderte, ohne sich aktiv für die Anerkennung von GruppenidentiÀkationen einzusetzen – blieben dann aus jüdischer Sicht nicht nur zwei Auswege übrig? Entweder eine bewusste Auflösung des jüdischen Gruppenzusammenhanges oder eine Trennung der überzeugten Jüdinnen und Juden vom Liberalismus? 2.1 Emanzipation als Selbstaufgabe? 1982 bezog Reichmann ihre Forderung nach Anerkennung unmittelbar auf das „Ausländerproblem“ in der Bundesrepublik. 50 Jahre zuvor hatte Eva Reichmann sich schon einmal mit der Frage beschäftigt, wie die gleichzeitige Anerkennung von Individuum und Minderheitsrechten gesellschaftlich zu lösen sei, beispielsweise in ihrer Auseinandersetzung mit Artikeln des Philosophen Constantin Brunner (1862–1937). Brunner hatte in seinen Werken seit 1908 eine elitäre Geistesphilosophie entwickelt, in der kulturkritische Ansätze mit Geniekult und religionsphilosophischen Fragen verbunden wurden. Schon 1893 hatte er sich in einem erst später publizierten Beitrag auch mit dem Antisemitismus auseinandergesetzt und eine vollständige Assimilation der Juden gefordert. Im August 1931 publizierte er in den Preußischen Jahrbüchern eine radikal zu Ende gedachte Durchsetzung des liberalen Prinzips in Bezug auf die Emanzipationsfrage und forderte dabei insbesondere den Central-Verein auf, die „Juden zu führen“ und sich nicht allein auf Abwehrarbeit gegen den

27 „Toleranz sollte eigentlich nur eine vorübergehende Gesinnung sein: sie muss zur Anerkennung führen. Dulden heißt beleidigen.“ JOHANN WOLFGANG VON GOETHE: Maximen und ReÁexionen, in: DERS.: Hamburger Ausgabe in 14 Bänden, Bd. 12: Kunst und Literatur, München 1981, S. 365–597, hier S. 385. 28 Zum Begriff Anerkennung vgl. AXEL HONNETH: Kampf um Anerkennung. Zur moralischen Grammatik sozialer KonÁikte, Frankfurt a. M. 1992; SHEYLA BENHABIB: Kulturelle Vielfalt und demokratische Gleichheit. Politische Partizipation im Zeitalter der Globalisierung, Frankfurt a. M. 2000; PETER SITZER / CHRISTINE WIEZOREK: Anerkennung, in: WILHELM HEITMEYER / PETER IMBUSCH (Hg.): Integrationspotenziale einer modernen Gesellschaft, Wiesbaden 2005, S. 101–132.

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Antisemitismus zu beschränken.29 Unter dem Titel „Über die notwendige Selbstemanzipation der Juden“ postulierte er eine konsequente Angleichung der Juden an die Nicht-Juden in Deutschland und meinte damit eine „Aufgabe des Anderssein“ der Gruppe, um dem Antisemitismus den Boden zu entziehen. Brunner kritisierte den Zionismus scharf als „politischen Unsinn“, weil dieser eine geschichtslose Auffassung vom Judentum präsentiere, indem er ein vermeintliches Volk konstruiere, das schon lange keines mehr sei. Der CV dagegen müsse die Erziehung der deutschen Juden übernehmen, um „dem Deutschen in ihnen gegen den Juden in ihnen“ zu Hilfe zu kommen. Brunner antizipierte, dass seine Forderung mit „Selbstaufgabe“ gleichgesetzt werden würde. Er meinte aber, sein Programm der Selbstemanzipation sei nichts anderes als die „PÁicht des Lebens“ und der Natur zu erfüllen. Juden im Sinne eines eigenen Volkes gäbe es nicht mehr, man könne nur noch von Menschen jüdischer Abstammung sprechen. Der CV müsse dies auch konsequent in seiner eigenen Namensgebung umsetzen: „Die von ihm zu führenden deutschen Staatsbürger, mögen sie nun mosaisch oder atheistisch sein, haben sich keines andern Volksnamens zu bedienen als des deutschen. [...] Dabei muß ich bleiben: die Aufgabe des Namens Juden gehört zur Selbstemanzipation und muß kommen, wenn das Werk der Selbstemanzipation kommt.“30

Eva Reichmann antwortete Brunner in einer Stellungnahme in der CV-Zeitung und lehnte dabei den zentralen Gedankengang Brunners unmissverständlich ab. Sie konnte sich nicht vorstellen, dass eine „Aufgabe des Anderssein“ nicht zugleich eine „Selbstaufgabe der Juden als Juden“ bedeuten könne. „Hier liegt die Entscheidung“, führte Reichmann aus, auch „um das Erlöschen des Judenhasses, um unsere Erlösung von unserer Judennot zu erringen, wäre uns der Preis zu hoch, der da gefordert wird: denn er bedeutet nichts anderes als unseren Untergang als Juden.“31 Religion sei nicht das einzige Band, das eine speziÀsche Gruppe zusammenbinde, sondern es gehe darum, sich nach innen und außen als „jüdische Menschen“ zu zeigen und damit als Gruppe „am Leben zu bleiben“. Insbesondere die Aufgabe des Namens „Juden“ erschien ihr als eine Forderung, die sie nicht ernst nehmen könne. Darüber hinaus bestand sie darauf, dass es nicht nur Religion sei, die die „jüdischen Menschen“ miteinander verbinde, konnte diese Besonderheiten aber nicht in Worte fassen, weil eine solche Formulierung an „Schranken der fertigen Begriffe“ stoßen würde, bzw. an der „Unzulänglichkeit der Worte“ scheitern müsse. 29 CONSTANTIN BRUNNER: Über die notwendige Selbstemanzipation der Juden, in: Preußische Jahrbücher 225 (1931), H. 2, S. 132–141. Brunner fasste hier noch einmal Aussagen zusammen, die er schon in früheren Werken vertreten hatte, etwa: CONSTANTIN BRUNNER: Der Judenhaß und die Juden, Berlin 1918. 30 C. BRUNNER, Selbstemanzipation (wie Anm. 29), S. 136. 31 EVA REICHMANN-JUNGMANN: Leben oder Untergang? Eine Antwort an Constantin Brunner, in: CV-Zeitung, 16. 10. 1931, S. 495–496, wiederabgedruckt in: E. G. REICHMANN, Größe (wie Anm. 14), S. 33–37. Dieses Zitat ist im Original hervorgehoben.

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Eva Reichmann und mit ihr viele Verantwortliche im CV erteilten also der Forderung nach Aufgabe des Jude-Seins eine deutliche Absage. Damit war die eine mögliche Lösung aus dem Problemfeld Judentum-Liberalismus verworfen worden. Im Gegenteil zeigte sich gerade in der Geschichte des CV zwischen Erstem Weltkrieg und 1933 eine Tendenz zur Stärkung des jüdischen Bewusstseins, sozusagen eine Betonung und gerade nicht Aufhebung des schwierigen Eigennamens: „deutscher Staatsbürger jüdischen Glaubens“.32 Es war insbesondere Eva Reichmann, die diese Tendenz seit Ende der zwanziger Jahre in vielen Beiträgen zum Ausdruck brachte. Sie gehörte damit zur jüngeren Generation im CV, die es als ihre Aufgabe ansah, die deutschen Juden nicht nur gegen Antisemitismus und Nationalsozialismus zu verteidigen, sondern diese auch über ihre eigene Geschichte und Kultur aufzuklären.

2.2 Abwendung vom Liberalismus? Die zweite Lösung des Problems, eine mögliche Abwendung vom Liberalismus, war ebenfalls ein Thema in den Kreisen des CV. Das hatte auch mit dem allgemeinen Niedergang des politischen Liberalismus zu tun, der die Frage des Bündnisses schon fast obsolet werden ließ, bzw. eher die Frage nach den Ursachen der liberalen Verluste aufdrängte.33 Der CV war von dieser Entwicklung unmittelbar betroffen. Die hohen Wahlverluste der Deutschen Demokratischen Partei (DDP) und der Deutschen Volkspartei (DVP) im Jahre 1930, die Vereinigung der DDP mit dem antisemitischen Jungdeutschen Orden und der Volksnationalen Vereinigung zur Deutschen Staatspartei und die damit zusammenhängende Ausgrenzung der linken Opposition in der DDP sowie öffentliche Diskussionen über das Ende des liberalen Zeitalters zeigten eine tiefe Krise des Liberalismus an. Gesellschaftlich gefragt waren „Führer“ und „Ausrichtung am Lebendigen“, und diese und ähnliche Forderungen richteten sich direkt gegen das liberale Verständnis von Gesellschaft und Staat.34 Mit der Krise der liberalen Parteien verlor der CV einen wichtigen Bündnispartner, ohne sogleich eine belastbare Beziehung zur Sozialdemokratie aufbauen zu können. Der CV selbst war in dieser Zeit personalpolitisch und mental noch zu sehr von der bürgerlichen Honoratiorenpolitik des Kaiserreichs geprägt, und so blieb man hier skeptisch gegenüber einer engeren Zusammenarbeit mit der Sozialdemokratie. Die jüngeren Vertreter, so auch Hans und Eva Reichmann, waren aufgrund ihrer Tätigkeit in der sogenannten Abwehrarbeit 32 Vgl. A. BARKAI, Centralverein (wie Anm. 9). 33 Zur Geschichte des deutschen Liberalismus vgl. DIETER LANGEWIESCHE: Liberalismus in Deutschland, Frankfurt a. M. 1988. 34 Vgl. dazu die klassische Studie von KURT SONTHEIMER: Antidemokratisches Denken in der Weimarer Republik. Die politischen Ideen des deutschen Nationalismus zwischen 1918 und 1933, München 41994.

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aufgeschlossener. Insbesondere Hans Reichmann war bewusst, dass der Widerstand gegen den Nationalsozialismus nur mit der Sozialdemokratie gemeinsam Aussicht auf Erfolg haben könne.35 Doch blieb es bei solchen Einsichten Einzelner innerhalb des CV; der Vereinsvorstand und seine Gremien blieben bis zur Machtübergabe an die NSDAP eher den liberalen Honoratioren als den sozialdemokratischen Parteifunktionären verbunden und waren daher dann auch sehr direkt von der Krise des politischen Liberalismus betroffen. Den aktiven Streitern im CV war das Problem des Liberalismus mit den Gruppenzugehörigkeiten durchaus bewusst, sie selbst konnten aber keine Lösungen anbieten. Vielmehr äußerte sich in den Kreisen des CV schon früh das Bewusstsein, dass man den Liberalismus irgendwie stützen müsse. In der CV-Zeitung erschien beispielsweise Ende 1927 ein Artikel mit der Überschrift „Individuum oder Masse?“, der das Problem der Juden und des Liberalismus deutlich benannte: „Der Niedergang des Liberalismus nicht als Partei – denn da stimmen Begriff und Programm nicht mehr zusammen – sondern als Weltanschauung ist für ihn [den Juden, KH] bedenklich. Jede freiheitliche geistige Strömung trägt ihn hoch, weil er sich dann als Einzelwesen entfalten kann. Jeder Kollektivismus drückt ihn herunter.“36

Der Autor sah den Liberalismus in Europa unter dem Druck moderner Ideologien der Massen, die auf innere Homogenität abzielten. Dieses Denken fördere europaweit den Antisemitismus, und der Liberalismus müsse sich dagegen deutlich zur Wehr setzen. So war es nur konsequent, dass in diesem Artikel auf die vielen Unterschiede innerhalb der Gruppe „Juden“ verwiesen und die unbedingte Verknüpfung von liberaler Weltanschauung und Abwehr des Antisemitismus als einzig mögliche Strategie gefordert wurde. Der einleitende Artikel von Ludwig Holländer im ersten Heft des neuen Jahres 1928 klang ebenso verhalten und pessimistisch: „Will man zur Klarheit kommen [warum die Emanzipation noch nicht abgeschlossen ist, KH], so muß man untersuchen, wieso der neue Staat das nicht gehalten hat, was viele von ihm erwartet haben. Ein Grundfehler liegt darin, daß man die Allmacht des Staates überschätzt und die geistige Haltung der bürgerlichen Gesellschaft in ihrem entscheidenden EinÁuß unterschätzt hat. Diese Gesellschaft muß gleich dem neuen Staat von neuem Geiste erfüllt sein. Staat und Gesellschaft verwirklichen erst das Recht. Das Knochengerüst staatlichen Lebens muß durch das Fleisch und Blut der Gesellschaft zum Leben erweckt werden. Und diese Gesellschaft birgt in sich die Abschlußtendenz der Jahrhunderte gegen uns Juden. [...] Mit dieser Geisteshaltung müssen wir rechnen.“

Auch in diesem Artikel blieb offen, wie denn eine angemessene Berücksichtigung der gesellschaftlichen Widersprüche aussehen könnte. Und auch hier 35 HANS REICHMANN: Der Centralverein deutscher Staatsbürger jüdischen Glaubens, in: Festschrift zum 80. Geburtstag von Leo Baeck am 23. Mai 1953, hg. v. Council for the Protection of the Rights and Interests of Jews from Germany, London 1953, S. 63–75. 36 RICHARD MAY: Individuum oder Masse? Die politische Bedeutung des liberalen Gedankens in der Welt, in: CV-Zeitung, 30. 12. 1927, S. 721f, hier S. 722.

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wurde die Besorgnis geäußert, dass die liberale Weltanschauung keine Verankerung in der deutschen Gesellschaft habe. Diese und viele andere Beiträge aus den sogenannten ruhigen Jahren der Weimarer Republik bestätigen eindringlich die These Martin Liepachs und Moshe Zimmermanns, dass während der gesamten Zeit der Republik ein wachsendes Krisenbewusstsein innerhalb der deutschen Juden vorherrschend war und dass vor allem die schwindende Kraft des Liberalismus schon sehr frühzeitig wahrgenommen wurde.37 Ergab sich daraus schon in den zwanziger Jahren ein wachsendes Bedürfnis nach Gruppenzuordnung gerade in der jüngeren Generation (in unterschiedlichen Ausprägungen von kommunistisch-nichtjüdisch bis zionistisch-nationaljüdisch), so wurde diese Frage seit Anfang der dreißiger Jahre vermehrt auch in den Kreisen des CV diskutiert – und zwar wiederum verknüpft mit den Schwierigkeiten einer liberalen Emanzipationsideologie, die nur das Individuum als Objekt der Emanzipation sah und darüber Gruppenidentitäten negierte. Dieses Problem versuchte der CV einerseits mit Hilfe der BindestrichIdentiÀzierung zu lösen: deutsch-jüdisch lautete die Selbstbezeichnung und je nach Kontext wurde mal mehr die „Deutschheit unseres Wesens“ oder der „jüdische Stamm“ betont.38 Noch 1934 versuchte Eva Reichmann ausführlich, den „Sinn deutsch-jüdischen Seins“ zu verteidigen.39 Auf die Frage, ob es eine deutsch-jüdische Zukunft gäbe, antwortete sie mit einem dreifachen Ja. Das jüdische Ja gründe sich auf der Überzeugung, dass die Diaspora Teil jüdischer Geschichte und Existenz sei, das deutsche Ja enthalte das Bekenntnis zur „Deutschheit unseres Wesens“, während das ethische Ja sich auf die jüdische Religion beziehe, die unabhängig von den Zeitläufen weiterexistiere. Andererseits diskutierte man auch offen über die Krise des Liberalismus. Der Literaturwissenschaftler Hans Bach (1902–1977) etwa fragte in der Kulturzeitschrift „Der Morgen“ im April 1932, was nach dem Ende des Zeitalters des Liberalismus komme. Seine kritische Analyse betonte einen Aspekt besonders: den Vertrauensverlust, den die Menschen in der Krise von Staat und

37 MARTIN LIEPACH: Das Krisenbewußtsein des jüdischen Bürgertums in den „Goldenen Zwanzigern“, in: ANDREAS GOTZMANN / RAINER LIEDTKE / TILL VAN RAHDEN (Hg.): Juden, Bürger, Deutsche. Zur Geschichte von Vielfalt und Differenz 1800–1933, Tübingen 2001, S. 395–417; MOSHE ZIMMERMANN: „Die aussichtslose Republik“. Zukunftsperspektiven deutscher Juden vor 1933 (1990), in: DERS.: Deutsch-Jüdische Vergangenheit. Der Judenhaß als Herausforderung, Paderborn 2005, S. 238–257. 38 Vgl. etwa EVA G. REICHMANN: Der Centralverein deutscher Staatsbürger jüdischen Glaubens, in: Süddeutsche Monatshefte 27 (1930), H. 12: Die „Judenfrage“, S. 818–824; FRIEDRICH BRODNITZ / KURT COHN / LUDWIG TIETZ: Der Centralverein der Zukunft. Eine Denkschrift zur Hauptversammlung 1928 des Central-Vereins deutscher Staatsbürger jüdischen Glaubens e. V., [Berlin 1928]. 39 EVA G. REICHMANN: Vom Sinn deutsch-jüdischen Seins, in: CV-Zeitung, 31. 5. 1934, o. S., wiederabgedruckt in: E. G. REICHMANN, Größe (wie Anm. 14), S. 48–62.

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Gesellschaft erfahren und die damit verbundene neue Suche nach Sinnstiftung: „ [...] man mißtraut der Vernunft, dem Fortschritt, dem Geist, der Maschine, Kapitalisten glauben nicht mehr an die sittliche Berechtigung eines guten Geschäfts noch an die Güte ihres Geldes, Wissenschaft wird in ihren Grundlagen strittig, Wahrheit eine Arbeitshypothese, Gerechtigkeit ein Kompromiß; und endlich, unter dem Druck allgemeiner Not, schießen kleinbürgerliche Ressentiments, verzweifeltes Akademikertum, kalte Interessenspolitik der Industrie, Reste religiösen Massengefühls und großagrarische Machtbestrebungen in ein neues labiles Gemenge zusammen, getrieben von dem einen Bedürfnis nach verbindlich festen Werten, dauernden Ordnungen, eindeutigen, wenn auch einfachen Tatbeständen. Der Liberalismus, scheinbar noch an der Macht, sieht seine geschichtliche Stunde vorbei.“ 40

Hans Bach diskutierte anschließend weltanschauliche Angebote der Zeit – den neuen Nationalismus sowie einen erneuerten Konservatismus –, um beiden nachzuweisen, dass sie die Sehnsucht nach Einheit und Führung zwar thematisierten, diese aber aufgrund ihrer Ignoranz gegenüber den sozialen Spaltungen der Gesellschaft nicht wirklich befriedigen könnten. Dem neuen konservativen Denken, wie es sich in der volkskonservativen Bewegung zeigte, stand Bach dennoch deutlich positiv gegenüber.41 Auch dem Sozialismus gab er geringe Chancen, weil dieser nicht nur am stärksten gegen den irrationalen und konservativen Geist der Zeit gerichtet, sondern vor allem geistig ungenügend gerüstet sei. Im letzten Teil seines Beitrages analysierte Bach dann ausführlich die Weggemeinschaft von Juden und Liberalismus. Er stellte die positive Bilanz der Emanzipation vor, die aufgrund der liberalen Formel von der „progressiven Universal-Emanzipation“ wichtige „unverlierbare Einzelleistungen“ und zugleich einen starken Assimilationsdruck hervorgebracht habe. Bei den Juden allerdings sei die Enttäuschung groß, dass all ihre Anpassungsleistungen nicht zur Anerkennung geführt haben. Einen Schutz gegen dieses Ungenügen der Gesellschaft bildete in den Augen Bachs nur „das mutige Bekenntnis zu sich selbst“. Hans Bach stellte fest, dass mit dieser zwiespältigen Bilanz zugleich das Kernstück der liberalen Lehre erschüttert sei und fragte sich, ob es dennoch weitere Berührungspunkte zwischen Judentum und Liberalismus geben könne. Diese seien durchaus vorhanden, etwa im Begriff des Individuums und seinen PÁichten, aber insbesondere das Verständnis von Freiheit sowie die liberale 40 HANS BACH: „Was kommt danach?“, in: Der Morgen 8 (1932), H. 1, S. 4–17, hier S. 6. Dieser Beitrag war der erste einer Reihe unter dem Titel „Wider und Für die Wertung des Liberalismus“, mit der die Redaktion eine Debatte „Im Wandel des Denkens und Gestaltens“ eröffnete. 41 Hans Bach bezog sich hier nur indirekt auf diese Bewegung, die zum einen vorwiegend aus bündisch orientierten jungen Männern und zum anderen aus Dissidenten der Deutschnationalen Volkspartei wie Gottfried Treviranus, Walther Lambach oder Kuno Graf von Westarp bestand. Vgl. dazu ERASMUS JONAS: Die Volkskonservativen 1928–1933. Entwicklung, Struktur, Standort und staatspolitische Zielsetzung, Düsseldorf 1965.

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Auffassung von Religion als einer „Privatsache“ würden tiefe Gräben reißen. Der Liberalismus war in den Augen Hans Bachs damit nicht nur eine Kraft, die deutlich an eine bestimmte historische Zeit gebunden war und mit dieser vergehe, sondern zudem eine Lehre, die in zentralen Punkten nicht mehr den Bedürfnissen eines modernen Judentums entspreche. Dieses moderne Judentum sei nämlich weder eine Rasse noch eine Schicksalsgemeinschaft – das verbiete sich aufgrund der unterschiedlichen sozialen Lagen – und auch kein Volk oder eine Nation. Moderne Juden bildeten nach Hans Bach, der sich hier auf einen Beitrag des Soziologen Erich von Kahler (1885–1970) bezog, einen Stamm, der vor allem auf zwei Grundlagen ruhe: der Blutsverwandtschaft und dem Geist. Dieser Stamm müsse selbstbewusst seine Tradition pÁegen und mit der von anderen Stämmen in Deutschland verbinden und dabei vor allem Geduld aufbringen, um seine „Einwurzelung“ zu erreichen. Ein solches Verständnis vom modernen Judentum sei allerdings mit dem „neuen Nationalismus“ nur schwer vereinbar, während im neuen Konservatismus durchaus Potentiale für eine Weggemeinschaft vorhanden seien. Hans Bach plädierte also in seinem Beitrag für Offenheit gegenüber der neuen konservativen Bewegung und zugleich für ein stolzes Bekenntnis zum Judentum als Voraussetzung für einen „festen und dauerhaften Rang“ innerhalb der deutschen Kultur. Damit hatte er der Weggemeinschaft von Judentum und Liberalismus eine historische Berechtigung zugesprochen, die aber ende, wenn die geschichtlichen Grundlagen verändert seien. Er ließ offen, ob dieses Ende schon erreicht sei, legte es aber doch sehr nahe. Es war dann dem evangelischen Theologen Heinrich Frick (1892–1953) überlassen, im gleichen Heft dezidiert gegen diese „Ächtung des Liberalismus“ Stellung zu beziehen.42 Frick konzedierte, dass Bach in vielen Punkten recht habe und dass seine kritische Analyse der liberalen Auffassung von Religion auch für Protestanten nachvollziehbar sei. Er stellte aber die Gefahr heraus, dass aus einer gut gemeinten reaktiven Bewegung eine gefährliche politische Reaktion werden könne. Es sei richtig, sich wieder vertieft mit eigenen Traditionen auseinanderzusetzen und sich zu diesen zu bekennen – dazu gehöre aber auch eine Beschäftigung mit den liberalen Traditionen, die „man bisher für allzu selbstverständlich und allzu gesichert gehalten“ habe. Insbesondere müsse man sich damit auseinandersetzen, dass der „Toleranzgedanke samt anderen Gütern des Liberalismus schwer erschüttert“ sei. Bach leiste dazu einen wichtigen Beitrag, aber gleichzeitig bestehe die Gefahr, dass „im Kampf gegen den ‚Liberalismus‘ die Liberalität selbst zerstört“ werde. Frick forderte auf, die Diskussion fortzuführen, aber an den moralischen und politischen Leistungen festzuhalten, die der Liberalismus erst ermöglicht habe:

42 HEINRICH FRICK: Wider die Ächtung des Liberalismus, in: Der Morgen 8 (1932), H. 1, S. 17–22.

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Heinrich Frick hatte damit zweifellos einen wichtigen Punkt in der innerjüdischen Debatte klar benannt: Waren nicht auch die deutschen Juden, jedenfalls die Bürgerlichen unter ihnen, Teil der Bewegungen, die den Liberalismus so radikal in Frage stellten? Wurde die Krise des Liberalismus nicht auch von ihren jüdischen Trägern hervorgerufen? Die Weggemeinschaft zwischen Juden und Liberalismus war 1932 offenbar in eine sehr schwierige Phase eingetreten. Der Nationalsozialismus wurde stärker und bedrohlicher, die Wirtschaftskrise traf viele hart, die allgemeinen wie persönlichen Zukunftsaussichten erschienen düster und unsicher. Die (politische) Krise des Liberalismus konnte als ein Symptom unter vielen erscheinen, vielleicht sogar als eine historisch notwendige – so sah es wohl Hans Bach. Anderen stand aber deutlich vor Augen, dass es gerade diese Krise war, die die Lebensbedingungen der deutschen Juden und ihre erreichte Emanzipation erheblich beeinträchtigen könnte.44 Zugleich aber blieb das Problem der Gruppenzugehörigkeit auch bei den aktiven Vertretern des Liberalismus im Judentum ungelöst; niemand konnte einen brauchbaren Vorschlag präsentieren, wie ein neuer, „zeitgemäßer“ Liberalismus aussehen sollte. Ab Januar 1933 spitzte sich dann die Auseinandersetzung mit der Emanzipationsfrage angesichts drohender Ausnahmegesetze noch einmal zu. Der nationalsozialistische Staat machte von Beginn an deutlich, dass der Antisemitismus Grundlage für die Ordnung von Wirtschaft, Politik und Gesellschaft sein würde. Im Centralverein kursierte nun das Schlagwort von der „neuen Emanzipation“, um auf diese Politik zu reagieren, aber auch um einen Unterschied zur liberalen Idee des 19. Jahrhunderts auszudrücken, gegen die sich ja auch der Nationalsozialismus als dezidiert antiliberale Bewegung wandte. Ein neuer „Gruppenwert“ sei jetzt das Ziel, damit den deutschen Juden auch im nationalsozialistischen System staatliche Anerkennung verschafft werden könne. „Es müßte sich“, führte der Syndikus des Vereins Alfred Hirschberg (1901–1971) im Dezember 1934 aus, „die menschliche Eigenwertung des Juden als Gemeinschaftswesen mit einer das Rassenprinzip [...] wertenden staatlichen Zielsetzung in einer Form verbinden, die uns ein staatsbürgerliches, 43 Ebd., S. 22. 44 So etwa der verantwortliche Redakteur Max Dienemann in seinem Nachwort zu einem weiteren Beitrag zur Krise des Liberalismus: Die Früchte des Liberalismus seien in Frage gestellt, diese müsse man aber zunächst verteidigen. MAX DIENEMANN: Ein Nachwort, in: Der Morgen 8 (1932), H. 2, S. 86.

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moralisches und gesellschaftliches Dasein in Ehren innerhalb des deutschen Volkes gestattet. [...] Das Ende der Epoche des Liberalismus mit seinem Individualismus beendet auch die Anschauung, daß der Nachweis des Einzelwertes von Juden ausreiche, um die Anerkennung des Judentums zu erreichen. Wir müssen deshalb als Mittel für die Emanzipation der Juden in Deutschland die Erweckung eines deutsch-jüdischen Gruppenwertes ansehen, damit wir über ihn als Angehörige dieser Gruppe anerkannt werden.“45 Der Centralverein propagierte nach 1933 also eine Gruppenemanzipation, in der Hoffnung, einen modus vivendi mit dem nationalsozialistischen Regime zu Ànden. Er begab sich so auf einen Weg, den zuvor schon Orthodoxe und Zionisten betreten hatten: Deutsche Juden wurden als gesellschaftliche Minderheit gesehen, die Gruppenrechte brauchte, um geschützt zu sein. Angesichts der nationalsozialistischen Ausgrenzungspolitik war eine solche Sichtweise vielleicht notwendig. Dennoch bedeutete der Gedanke der „neuen Emanzipation“ eine auffällige Abkehr von liberal-demokratischen Vorstellungen, wie sie der Verein der deutschen Staatsbürger jüdischen Glaubens bis dahin ofÀziell immer vertreten hatte. Hier zeigte sich aber nicht nur eine lebensnotwendige Anpassung an neue Gegebenheiten, sondern auch eine Fortführung der Diskussionen über die Krise des Liberalismus vor 1933. Allerdings waren seit 1933 die wichtigsten Errungenschaften des Liberalismus, wie Emanzipation, Toleranz und rechtsstaatliche Verfassung, gewaltsam außer Kraft gesetzt worden. Damit hatten die Diskutanten vor 1933 nicht gerechnet.

3. Eva Reichmanns Analyse nach 1945 Für Eva Reichmann setzte sich nach ihrer Flucht aus Deutschland und angesichts des Mordes an den europäischen Juden die Fragestellung der dreißiger Jahre fort. Ist das gewaltsame Ende des Zeitalters des Liberalismus auch deshalb gekommen, weil das Individuum als Träger der Emanzipation allein nicht ausreichte? Welche Rolle spielen die Gruppenzuordnungen? In ihrem Buch „Flucht in den Haß“,46 geschrieben in den Jahren 1943 bis 1945, behandelte Eva Reichmann diese Fragen in der Absicht, zu beweisen, dass der Antisemitismus nicht der entscheidende Faktor für den Sieg des Nationalsozialismus gewesen sei. Sie nahm hier Positionen wieder auf, die sie schon in den dreißiger Jahren vertreten hatte:47 Der Nationalsozialismus richte 45 ALFRED HIRSCHBERG: Der Centralverein deutscher Staatsbürger jüdischen Glaubens, in: Wille und Weg des deutschen Judentums, Berlin 1935, S. 12–29, hier S. 22. Vgl. auch A. BARKAI, Centralverein (wie Anm. 9), S. 324–330. 46 E. G. REICHMANN, Hostages (wie Anm. 12); dt.: DIES., Flucht (wie Anm. 12). 47 Eine Aussprache über die Judenfrage zwischen Margarete Adam und Eva ReichmannJungmann, mit einem Nachwort: Warum habe ich nationalsozialistisch gewählt?, Berlin 1930.

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sich gegen den Liberalismus, den Humanismus und die Demokratie und für diesen Kampf sei der Antisemitismus ein geeignetes Mittel, um Wähler und Wählerinnen zu mobilisieren. Juden als Gruppe, so führte Reichmann weiter aus, seien ein besonderes Angriffsobjekt, weil ihnen sowohl Ähnlichkeit als auch Andersartigkeit im Vergleich mit Nicht-Juden zugesprochen würde – unabhängig von jeder empirischen Evidenz. Dabei seien Zuschreibungen (nicht Eigenbezeichnungen) von Identitäten in der Zwischenkriegszeit besonders wichtig gewesen. Juden wurden nämlich von Nicht-Juden als „sicher“ in ihrer Identität wahrgenommen, auch wenn diese selbst das nicht zum Ausdruck gebracht hätten: „In Wirklichkeit gehen alle Widersprüche auf den einen zurück, daß die jüdische Gruppe sich lockert und wandelt, daß sie aber von außen immer noch als eine einheitliche Gemeinschaft angesehen wird.“48 Die räumliche Nähe von Juden und Nicht-Juden sowie ihre äußere Gleichheit führten zu latenten Bedrohungsängsten, die aber nur in direkte Aggressionen umschlagen, wenn das Individuum und die Gesellschaft eine Krise erlebten.49 In dieser Situation vermengen sich in modernen, kapitalistischen Gesellschaften stets vorhandene „Unlustgefühle“ mit latenten Bedrohungsängsten zur Bereitschaft, propagandistische Schuldzuweisungen zu glauben und entsprechend zu wählen. Der „Nationalsozialismus löschte das Individuum aus“ und „erlöste“ es damit von der Qual, rational und gewissenhaft in schwierigen ökonomischen wie politischen Zeiten zu handeln – lautete das Fazit der Analyse von Reichmann.50 Ihre These bezog sich allerdings nur auf eine geistig-mentale Ebene der deutschen Gesellschaft in der Zwischenkriegszeit, nicht auf Befriedigung von materiellen Bedürfnissen. Eva Reichmann verteidigte mit ihrer Analyse den weltanschaulichen Liberalismus, denn in ihm sah sie trotz aller Kritik den wichtigsten Gegenpart zum Nationalsozialismus. Auch die Sozialdemokratie wurde in dieser Richtung in ihre Analyse integriert: Marx sei ein Erbe der Aufklärung und des Humanismus gewesen, und sein legitimes Erbe wiederum habe die Sozialdemokratie positiv in den Dienst der Erziehung und Aufklärung der Massen gestellt.51 Insgesamt war ihr Buch eine Art Psychohistorie der Deutschen, d. h. es behandelt die Schwierigkeiten, die entstehen, wenn ideale liberale Werte in der geistigen wie der ökonomischen Welt umgesetzt werden sollen, dies aber in Krisenzeiten mit erhöhten Anstrengungen und Risiken verbunden ist. Dies waren genau jene Probleme, die die Reichmanns im Berlin der zwanziger und dreißiger Jahre selbst erlebt hatten. Eva Reichmann schrieb mit ihrem Buch sozusagen eine sympathisierende Auseinandersetzung mit dem Liberalismus

48 E. REICHMANN, Flucht (wie Anm. 12), S. 57f. 49 Reichmann bezieht sich an dieser Stelle ihrer Analyse auf die Schrift von Sigmund Freud über das Unheimliche. 50 E. REICHMANN, Flucht (wie Anm. 12), S. 232. 51 Ebd., S. 113–118.

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aus sozialkritischer Sicht, wohl in der Hoffnung, dass ihr Buch zur Erkenntnis über die Dimensionen der „seelischen Erkrankung“ Hass beitragen könne. Eva Reichmann hat zwar den Werteverfall der Zwischenkriegszeit als ursächlich für den Hass gegen Juden herausgearbeitet, aber es fehlt auch in ihrem Buch eine Aussage darüber, wie der liberale Wert von individuellen Rechten (und Sicherung dieser Werte durch den Rechtsstaat) mit einer Gruppenzuordnung sinnvoll verbunden werden kann. Nach ihren Erfahrungen mit dem Nationalsozialismus schien es nicht nur Reichmann opportun, das Recht des Individuums stärker zu betonen als das Recht der Gruppe. Das Ende des Zeitalters des Liberalismus ist in ihrer Sicht des Jahres 1950 vor allem auf die mangelnden moralischen Qualitäten vieler Menschen in der Zwischenkriegszeit zurückzuführen. Mit diesem Gedankengang machte Eva Reichmann das Individuum wieder sehr stark verantwortlich für den Erhalt von Emanzipation, Demokratie und Freiheit. Die Gruppe spielte demgegenüber aus einer allgemeinen soziologischen Sicht nur eine untergeordnete, teilweise sogar eine kontraproduktive Rolle. Aber als Jüdin verteidigte Eva Reichmann den Wert der Gruppe für das Individuum: Sie biete Schutz und Sinnstiftung. So verwundert es nicht, dass sie das Problem von Gruppe und Individuum auch lange nach dem Ende des Nationalsozialismus für sich immer noch mit der Bindestrichmethode löste: 1934 hatte sie für den „Sinn deutsch-jüdischen Seins“ gestritten und diesen Artikel 1974 wieder in ihre Werkausgabe aufgenommen. 1989 fand sie diesen Text „sogar heute noch gar nicht so schlecht“, denn er zeige ihr Verständnis des Central-Vereins als „jüdische Arbeit auf deutschjüdischer Grundlage“.52 Und in ihrer Selbstbeschreibung verband sie stets eine Reihe von Identitätsangeboten miteinander: Sie sei nun eine „britische Staatsangehörige jüdischer Tradition (und) jüdischer Herkunft“ und habe dabei eine „nie versagende und nie dahingegangene deutsche Loyalität“ behalten, führte sie etwa 1981 aus.53 Hatte Eva Reichmann damit für sich eine Lösung gefunden, so war sie doch ebenso wie andere deutschen Juden noch immer auf der Suche nach einer positiven Beschreibung dessen, was den Kern der jüdischen Gruppe ausmachte. Und so wie sie schon 1931 beklagt hatte, dass die gebräuchlichen BegrifÁichkeiten „Schranken“ errichteten oder schlicht unzulänglich seien, so hartnäckig setzte sich dieses Problem auch in der Nachkriegszeit fort und blieb ungelöst. Die schwierige Weggemeinschaft zwischen Liberalismus und Judentum hatte zwei zentrale Facetten: Die Juden in Deutschland konnten sich einerseits in Anbetracht ihrer sozialer und politischer Trennungslinien nur schwer auf eine gemeinsame DeÀnition ihres Gruppenwertes einigen – daraus resultierten dann auch unterschiedliche Auffassungen davon, wie und ob die Gemeinschaft 52 Stolz (wie Anm. 7), S. 320. 53 Transkript (wie Anm. 17), S. 29f.

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Kirsten Heinsohn

mit dem Liberalismus weitergehen solle. Und andererseits waren Juden als Teil des Bürgertums selbst an der Produktion einer Krise des Liberalismus beteiligt – warum auch sollten gerade sie sich nicht von den „Modeströmungen der Zeit“ erfassen lassen? Schließlich konnten sie vor 1933 davon ausgehen, dass all diese Diskussionen auf der Grundlage einer recht erfolgreichen und staatlicherseits garantierten Emanzipation stattfanden. Beide Facetten belegen noch einmal das widersprüchliche Verhältnis zwischen Liberalismus und Judentum, sie belegen aber auch, dass es sich um ein lebendiges Verhältnis gehandelt hat. Die deutschen Juden waren Teil des Bürgertums und auch Teil des Liberalismus, und nicht nur eine soziale Gruppe, die von den politischen Erfolgen bzw. Misserfolgen des Liberalismus irgendwie betroffen war. Auch in jüdischen Kreisen musste der Liberalismus aktiv verteidigt werden – er war schon lange keine politische Selbstverständlichkeit mehr. Zugleich resultierte die Krise des Liberalismus auch daraus, dass dieser eine wichtige gesellschaftliche Frage der Zeit nicht beantworten konnte, ohne seine eigenen Grundlagen in Frage zu stellen. Wer Gruppenidentitäten in Politik und Gesellschaft anerkennen wollte, konnte dies nur schwer mit einer liberalen Programmatik vereinbaren. Dies brachte eine besondere Tragik für deutsche Juden mit sich, die im Prozess der Selbstbesinnung einen wichtigen Partner verloren oder sich von diesem abwandten bzw. abwenden mussten.

„Verbürgerlichung“ und „Bürgerlichkeit“. Möglichkeiten und Grenzen für die deutschen Juden im 19. Jahrhundert Manfred Hettling

Die Debatte über die Verbürgerlichung der Juden einerseits und über die Offenheit beziehungsweise Distinktionsfähigkeit von Bürgerlichkeit andererseits ist in unterschiedlichen Etappen verlaufen. Während vor einigen Jahrzehnten noch die gescheiterte Assimilation als Leitparadigma galt, hat sich die Perspektive inzwischen verschoben. Eine Assimilation der Juden im Sinne einer Annäherung an die Normen und Verhaltensmuster einer bürgerlichen Teilkultur oder gar einer deutschen Kultur, was immer darunter auch zu verstehen sein mochte, wird heutzutage eher als unziemlicher Hegemonieanspruch einer Mehrheitsgesellschaft gedeutet, welche einer religiösen Minderheit keine vollständige Anerkennung gewährte. Das sich verändernde politische und normative Selbstverständnis der Gegenwart hat damit Rückwirkungen auf die Deutungskategorien und Wertmaßstäbe, mit denen die deutsch-jüdische Geschichte des 19. Jahrhunderts betrachtet wird. Wie sehr sich die Maßstäbe verschoben haben, kann man am Begriff Assimilation und seinem Verständnis in der politischen Gegenwart verdeutlichen. Wenn der türkischen Minderheit in der Bundesrepublik verkündet wird, dass Assimilation ein „Verbrechen gegen die Menschlichkeit“1 sei, induziert das den fundamentalen Wandel, den der Begriff und die Vorstellungen von gesellschaftlicher Integration erfahren haben. Denn angesichts der heutigen Probleme bezüglich etwa der Sprachkompetenz, kulturellen Orientierung oder Ausbildungsfähigkeit von Zugewanderten bzw. deren nachfolgenden Generationen erscheint die Transformation der deutschen Judenheit im 19. Jahrhundert und ihre bewusste Übernahme kultureller Ausdrucksformen mehr als beeindruckend. Wenn wir – bei allem Wissen über die normative Problematik des Begriffs – von Assimilation sprechen wollen, so scheiterte diese im 19. Jahrhundert nicht an den Mängeln der Angleichung, sondern vielmehr an der Ablehnung durch die Mehrheitsgesellschaft. Um die Erwartungen der Zeitgenossen des 19. Jahrhunderts und damit die Dynamik von Vergemeinschaftungsprozessen verstehen zu können, ist erstens ein historisierender Zugriff auf die Sichtweisen von Akteuren und zweitens 1

Der türkische Ministerpräsident Erdoʋan in einer Rede in Köln, der Wortlaut ist abgedruckt in: Süddeutsche Zeitung, 13. 2. 2008.

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die Verwendung analytischer Begriffe und Modelle unverzichtbar. Deshalb soll im Folgenden zuerst ein Begriff von „Verbürgerlichung“ entwickelt werden, der einerseits die Erwartungen von Akteuren integriert und andererseits analytische Kriterien enthält. In einem zweiten Schritt erfolgt ein knapper Rückblick auf die Literatur zur Verbürgerlichung der Juden. Drittens skizziere ich, wie ein dynamisches Konzept von Verbürgerlichung möglicherweise neue Perspektiven auf die Entwicklung, aber auch auf die Grenzen von deutschjüdischer Vergesellschaftung und Vergemeinschaftung im 19. Jahrhundert und die sich verändernden Handlungsbedingungen für die deutsche Judenheit eröffnen kann.

1. Verbürgerlichung als Konzept „Verbürgerlichung“ ist ein Prozess, in welchem alle beteiligten Elemente in Bewegung sind. Sowohl diejenigen, die sich „verbürgerlichen“, die also – bewusst oder unbewusst, geplant und aktiv oder reaktiv auf Zwänge handelnd – ihren Zustand verändern, als auch diejenigen, die bereits Bürger sind. Denn, was unmittelbar evident ist, die Elemente von Bürgerlichkeit waren um 1800, um 1900 – und um 2000 – durchaus unterschiedlich. Verbürgerlichung muss also, soll es als Konzept fruchtbar werden, diese Dynamik mitberücksichtigen und den Prozesscharakter von Bürgerlichkeit konzeptionell aufgreifen. Die Bürgertumsforschung hat sich lange an der Debatte über Klasse und Kultur abgearbeitet, hat die ständischen Wurzeln des Bürgertums betont, hat „marktbedingte Klassen“ analysiert, hat die „klassenlose Bürgergesellschaft mittlerer Existenzen“ beschrieben, und hat diese Zugriffe kulturalistisch zu erweitern versucht. Die Ergebnisse liegen in vielen gehaltvollen Bänden vor. Wissen wir also genügend über das Bürgertum, um die mehr oder weniger gelungene „Verbürgerlichung“ der Juden (Christian Wilhelm von Dohm), der Weiber (Theodor Gottlieb von Hippel), der Unterschichten beschreiben zu können? Um diese Diskussion führen zu können, ist es notwendig, sich noch einmal intensiver mit der Frage zu beschäftigen, was Bürgertum als historisches Gebilde, als Sozial- und Kulturformation bestimmt. Blickt man auf die zur Verfügung stehenden theoretischen Angebote, um Bürgertum und Verbürgerlichungsprozesse zu analysieren, scheinen mir drei besonders vielversprechend zu sein. Alle betonen in besonderer Weise das dynamische Potential, alle verweisen auf Bewegungsbegriffe. Am bekanntesten unter den Historikern sind Lepsius’, auf Weber basierendes Konzept der „Vergesellschaftung von Mittelklassen zu sozialen Einheiten“,2 sowie Tenbrucks – ebenfalls auf Weber ba2

M. RAINER LEPSIUS: Zur Soziologie des Bürgertums und der Bürgerlichkeit, in: JÜRGEN KOCKA (Hg.): Bürger und Bürgerlichkeit im 19. Jahrhundert, Göttingen 1987, S. 79–100, hier S. 80.

„Verbürgerlichung“ und „Bürgerlichkeit“

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sierendes – Konzept „kultureller Vergesellschaftung“.3 Beide, Tenbruck deutlicher als Lepsius, betonen die Bedeutung kultureller Orientierung (Werte, Normen, Lebensführung etc.) für die Genese des modernen Bürgertums. Durch das Entstehen einer „Eigensphäre einer säkularen Kultur“ vollziehe sich ein „kultureller Vergesellschaftungsprozess“, der soziale, regionale, ständische, religiöse Differenzen überbrücke. Jenseits gesellschaftlicher Gliederungen bilde sich eine „Kulturgemeinschaft im Maße der Orientierung an dieser Kultur“, so Tenbruck. Damit verabschiedet man sich von der Vorstellung, bürgerliche Kultur – Bürgerlichkeit – aus einem sozialen Substrat hervorgehen zu lassen bzw. bürgerliche Kultur mit dem Bezug auf die gesellschaftliche Stellung und soziale Gliederung seiner Akteure hinreichend erklären zu können. Am konsequentesten hat dieses Kulturverständnis Karl Eibl umgesetzt. Er beschrieb die sich auÁösende ständische Ordnung des 18. Jahrhundert, die sowohl neuartige soziale Formen entstehen und gewohnte Deutungs- und Verhaltensmuster erodieren ließ – als auch neue Muster der Selbstverständigung produzierte. Daraus entstand – vereinfacht gesagt – Verbürgerlichung als Antwort auf ein fundamentales Problem: „Welches gemeinsame Problem haben die neuen ‚Bürgerlichen‘, dieses Konglomerat ‚von Verwaltungsbeamten und Theologen, Professoren und Hauslehrern, Gelehrten und Hofmeistern, Syndici und Magistratsjuristen, Richtern und Landschaftskonsulenten, Anwälten und Notaren, Ärzten und Apothekern, Ingenieuren und Domänenpächtern, Schriftstellern und Journalisten, OfÀzieren und Leitern staatlicher Betriebe, [...] Unternehmern [...], die Verlage und Manufakturen, Protofabriken und Banken betrieben‘? In Kurzform gesagt eben dies: Konglomerat zu sein, ohne gemeinsame Herkunft, ohne gemeinsame Traditionen, ohne gemeinsame ökonomische Stellung. Sie alle sind Produkte der funktionalen Differenzierung und empÀnden sich als relevante Mitglieder der Gesellschaft, d. h.: Sie leisten etwas, das nicht jeder kann, und können sich deshalb vom ,Pöbel‘ abgrenzen. Aber sonst haben diese ‚Bürgerlichen‘ nur das Problem gemeinsam, nichts gemeinsam zu haben.“4

Das sei gewissermaßen die äußere, die soziale Dimension des Problems. Hinzu kommt ein weiteres Problem: Mit dieser gesellschaftlichen Unbestimmtheit geht eine innere einher, daraus entstehen innerpersonale Orientierungsprobleme. Individualität wird deshalb nicht mehr durch Inklusion, durch das Einfügen in Ordnungen konstituiert, sondern durch Exklusion durch Rollendistanz. Man handelt – je nach Situation – „als Teilnehmer am Rechtssystem, am Wirtschaftssystem, am Religionssystem, am Wissenschaftssystem, am Erziehungssystem, als Mitglied einer Familie, eines Vereins – und gelegentlich noch ‚als Mensch‘“. In das Selbstkonzept muss deshalb die Möglichkeit integriert werden, zwischen dem Selbst und der Teilhabe an Funktionsbereichen zu unterscheiden.5 Hiervon lebt die Spannung zwischen „bloßen“ Menschen 3 4 5

FRIEDRICH TENBRUCK: Bürgerliche Kultur, in: DERS.: Die kulturellen Grundlagen der Gesellschaft, Opladen 1989, S. 251–272, hier S. 260. KARL EIBL: Die Entstehung der Poesie, Frankfurt a. M. 1995, S. 43. Ebd., S. 44.

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und „solchen“ Menschen (Lessing), zwischen Mensch und Bürger, zwischen Ich und Rolle. Um ein wenig vorwegzugreifen: dass diese Problematik Juden nicht fremd war, ist einleuchtend – und dass diese Art des Umgangs mit der neuartigen Problematik gerade für Juden besonders attraktiv war, dürfte verständlich sein. Verbürgerlichung vollzieht sich in diesem „Bewegungsraum“ (Eibl). Durch die Thematisierung gemeinsamer Bezugsprobleme entstehen genuin kulturelle Lösungsversuche. Hüten sollte man sich jedoch, diesen Bewegungsraum in einen statischen Zustand zu überführen. Zu kurz gegriffen wäre ein Verständnis, dass etwa um 1800 ein speziÀsches Modell von Bürgerlichkeit entstanden wäre, welches auf andere Schichten ausstrahlte und die Juden, Weiber, Unterschichten wie die Motten ans Licht gelockt und ihre frühere Unbürgerlichkeit verbrannt hätte, gleichzeitig aber in sich – trotz der Integration neuer Gruppen und der Herausforderung durch neue Problemlagen – unverändert geblieben wäre. Versteht man Bürgerlichkeit derart statisch, ist es nicht möglich, Veränderungen anders als in Kategorien von Aufstieg, Blüte und Verfall zu beschreiben. Nach einer Blütezeit, die durchaus lange andauern kann, können dann nur noch Verfalls- und AuÁösungsprozesse beschrieben werden. Lohnender erscheint deshalb ein Verständnis, welches „Bürgerlichkeit“ als Bewegungsraum versteht und dadurch die Heterogenität und Dynamik – man denke nur an die anwachsende soziale Heterogenität, aber auch an die kulturellen Wandlungen und Differenzierungen – analytisch fassen kann. Damit aber stellt sich zugleich ein Problem. Denn parallel zur gesellschaftlichen Bewegung und kulturellen Dynamik wuchs und wächst „der Bedarf eines kulturellen Konsensraumes und einer ausgebildeten Integrationssymbolik“.6 Bürgerlichkeit als Ordnungsmodell, als „kulturelles System“,7 ermöglichte sowohl die Realisierung unterschiedlicher Handlungsmodelle und Identitätsvarianten als auch ein Verständnis, sich in einem gemeinsamen Raum auf verschiedenen Wegen zu bewegen. Darauf beruhte die Verbindung durchaus unterschiedlicher Sozialformationen. Diese Integration musste langfristig auf jeweils neue Art und Weise hergestellt werden. Dafür dient die gemeinsame Kultursphäre als Rahmen, zu welcher – der Idee nach – alle „Bürgerlichen“ Zutritt haben. Real haben jedoch auch andere soziale Formationen diesen Bewegungsraum betreten und an den Selbstverständigungen mitgewirkt. Für das späte 18. Jahrhundert ist ja zur Genüge bekannt, dass etwa auch Teile des Adels zu diesen „practitioners“ der entstehenden bürgerlichen Gesellschaft gehörten.8 Alle Menschen können diesem Bewegungsraum angehören – wenn 6 7

8

Ebd., S. 198. Vgl. MANFRED HETTLING: Bürgerliche Kultur. Bürgerlichkeit als kulturelles System, in: PETER LUNDGREEN (Hg.): Sozial- und Kulturgeschichte des Bürgertums. Eine Bilanz des Bielefelder Sonderforschungsbereichs (1986–1997), Göttingen 2000, S. 317–337. Vgl. ISABEL V. HULL: Sexuality, State, and Civil Society in Germany, 1700–1815, Cornell 1997, S. 408f.

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sie den subjektiven Willen haben, dazuzugehören, wenn sie den Eintritt suchen, wenn sie sich anpassen (und diese Anpassungsleistung erbringen können). Damit sind besondere Voraussetzungen verbunden, die jedoch unterschiedlich gefasst sein können. Diese Sphäre ist nicht egalitär konstituiert; sie verfügt jedoch über einen Vorrat an Zugehörigkeitssymbolen. Diese ermöglichen die Darstellung von Teilhabe wie von Differenz (man kann das auch als „feine Unterschiede“ bezeichnen). Es gibt die unterschiedlichsten Milieus im Bewegungsraum – und, wie gesagt, es werden sukzessive mehr, und die Verschiedenheit unter ihnen nimmt zu. Diese Milieus sind nicht strikt getrennt, sie unterscheiden sich auch nicht in allen Dimensionen kultureller Artikulation. Heiratskreise, Leseverhalten, Tugendvorstellungen etwa können konform gehen, aber auch differieren. Wichtig aber ist: Diese Milieus differieren „nicht im So-oder-anders, sondern im Mehr-oder-weniger“.9 „Verbürgerlichung“ beschreibt somit eine Dualität von zwei Dimensionen: einerseits eine durch den Berufsstand zugewiesene soziale Position, in welcher der Einzelne nach den Regeln einer funktional differenzierten Gesellschaft gebunden ist, durch Klassenlagen (und ständische Lagen) bestimmte Chancen und Restriktionen erfährt, andererseits eine wie auch immer beschaffene – auch partial beschränkte – Partizipation an der kulturellen Sphäre. Bürgertum ist dann jener Bevölkerungsanteil, der sich trotz aller sozialen Ungleichheit durch die Teilhabe an der in sich differenzierten bürgerlichen Kultur deÀniert. Fragt man nach der sich ändernden Stellung der jüdischen Minderheit im Prozess der „Verbürgerlichung“, muss man deshalb sowohl nach soziostrukturellen Unterschieden wie Gemeinsamkeiten zwischen Juden und Nichtjuden fragen, als auch nach den Möglichkeiten für soziokulturelle Überformungen, d. h. nach den Realisierungschancen für Gemeinschaftsbildungen zwischen Juden und Nichtjuden.10 An empirisch veriÀzierbaren Indikatoren stehen für Ersteres primär die Berufsstruktur sowie die Einkommens- und Vermögensverhältnisse zur Verfügung. Für die Gemeinschaftsbildung wäre – Weber folgend – zu fragen nach Konnubium und Kommensalität. Empirisch untersuchen ließen sich beispielsweise Heiratskreise (seit Einführung der Zivilehe im deutschen Kaiserreich 1874). Für die Zeit davor ist die Untersuchung von Heiratskreisen zwischen Juden und Nichtjuden empirisch weit schwerer zu erforschen und auch zu interpretieren, weil der gemeinsamen Eheschließung eine religiöse Konversion eines Heiratspartners vorhergehen musste. Potentiell steht auch breites empirisches Material zur Verfügung, um die „Kommensalität“ zu untersuchen, d. h. nach gemeinsamen Kommunikations-, Freizeit-, Geselligkeits9 K. EIBL, Entstehung (wie Anm. 4), S. 199. 10 Vgl. M. RAINER LEPSIUS: Das Bildungsbürgertum als ständische Vergesellschaftung, in: DERS. (Hg.): Bildungsbürgertum im 19. Jahrhundert, Bd. 3: Lebensführung und ständische Vergesellschaftung, Stuttgart 1992, S. 9–18, hier S. 13; MAX WEBER: Wirtschaft und Gesellschaft, Tübingen 51980, S. 179, 531–539.

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und Freundeskreisen außerhalb der beruÁichen, durch materielle Interessen strukturierten Sphäre der Ökonomie zu fragen. Die Möglichkeit der religiösen Vergemeinschaftung (die in ihrer verbindenden Wirkung innerhalb konfessionell homogener bürgerlicher Kreise kaum zu überschätzen ist11) fällt in der Relation zwischen Juden und Nichtjuden aus, die politische Vergemeinschaftung zwischen Juden und Nichtjuden im 19. Jahrhundert blieb, vorsichtig formuliert, sehr partiell und fragil.12 Zum Heiratsverhalten liegen wenige Untersuchungen vor, wobei die Interpretation der Befunde nicht unproblematisch ist, worauf Yfaat Weiss hingewiesen hat.13 Als Indikator für gemeinsame Geselligkeitskreise wird oft auf das Vereinswesen verwiesen, welches sich im 19. Jahrhundert immens entwickelt hat. Das ist sicherlich berechtigt, doch bestehen auch hier Schwierigkeiten, die nicht immer hinreichend berücksichtigt werden. Da es nicht möglich ist, die Mitgliedschaften aller Vereine auszuwerten, ist immer eine Auswahl vorzunehmen. In der Regel greift man dann auf einzelne Vereine zurück und fragt nach der Mitgliedschaft von Juden in ihnen. Da um 1900 in den großen Städten die Zahl der Vereine jedoch in die Hunderte ging und in Großstädten wie München, Leipzig oder Breslau noch deutlich darüber lag, bleibt die Auswahl der Vereine ein nicht zu lösendes Problem. Denn die Vereinslandschaft in den Städten des deutschen Kaiserreichs war in sich selbst derart differenziert, dass es schwierig ist, von einem „allgemeinen“ Vereinswesen zu sprechen. Viele konfessionell oder politisch geprägte Vereine rekrutierten ihre Mitglieder nur aus einem Teil der Stadtgesellschaft. Wählt man jedoch die Vereine des linksliberalen Spektrums als Referenzrahmen aus, präjudiziert man das Ergebnis – Integration jüdischer Mitglieder – bereits vor. Ein auf andere Weise begrenzter Indikator, der sich jedoch analytisch stringenter und vor allem systematisch erheben lässt, ist die Frage nach den Vereinsvorständen. Denn die städtischen Adressbücher verzeichnen in der Regel das komplette Spektrum an Vereinen und die dazugehörigen Vorstandspersonen. An einem Beispiel – der Stadt Halle – sei dieses Verfahren kurz demonstriert.14

11

Insofern ist in der „soziokulturellen Überformung“ durch Lebensführung und Wertstandards die vergemeinschaftende Wirkung religiöser Praktiken immer mit zu berücksichtigen. 12 Mit vielleicht der Ausnahme in einzelnen lokalen Milieus, vgl. die Beiträge von ULRICH BAUMANN und STEFANIE SCHÜLER-SPRINGORUM in diesem Band. 13 YFAAT WEISS: Deutsche, Juden und die Weder-Nochs. Neuerscheinungen zum Thema deutsch-jüdische Mischehen, in: WerkstattGeschichte 27 (2000), S. 73–82. 14 Für Hilfe bei der Materialrecherche und Auswertung danke ich René Lehniger und Daniel Watermann.

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„Verbürgerlichung“ und „Bürgerlichkeit“

Vereine und Vereinsvorstände in der Stadt Halle 1859, 1888, 191315 1859 Zahl der Vereine Vereinsvorstände insgesamt jüdische Vereinsvorstände

85 447 2 16

1888

1913

321 2047 3 17

922 4050 29 18

Der jüdische Bevölkerungsanteil in der Stadt sank in diesem Zeitraum von etwa 1% auf etwa 0,8 %.19 Vergleicht man nun den Prozentanteil der jüdischen Vereinsvorstände mit demjenigen der jüdischen Bevölkerung insgesamt, ist unverkennbar, dass noch in den 1880er Jahren bestenfalls in Ausnahmefällen Juden in städtischen Vereinen in Führungspositionen zu Ànden waren. 1913 jedoch hat sich das Bild geändert. Bei einem Bevölkerungsanteil von 0,8% stellten Juden 0,71% aller Vereinsvorstände. Auch wenn man berücksichtigt, dass es innerjüdische Vereine gab, relativiert sich dieser Befund nicht. Denn umgekehrt gab es auch christlich-konfessionell gebundene Vereine, die nur 15 Datengrundlage sind die Adressbücher der jeweiligen Jahre sowie Mitgliederlisten der jüdischen Gemeinde Halle (Centrum Judaicum). 16 Es handelt sich um zwei Personen, höchstwahrscheinlich aus einer Familie, die im Handwerkermeisterverein bzw. dessen Vorschussbank im Vorstand waren. 17 Die erste Person war im Vorstand des Vereins für Volkswohl und im Verein der Liberalen, die zweite im Halleschen Radfahrer-Club, die dritte in der Naturforschenden Gesellschaft. 18 29 Personen sind in 36 Vereinen im Vorstand tätig; gliedert man diese in vier Sparten auf, ergibt sich jüdische Vorstandstätigkeit in folgenden Vereinen: a ) Jüdisch: Zentralverein deutscher Staatsbürger jüdischen Glaubens, Verein der „Barmherzigen Brüder“. b) Politisch: Verein der Liberalen in Halle und dem Saalkreis, Fortschrittliche Volkspartei, I. Kommunaler Wahlbezirks-Verein, II. Kommunaler Wahlbezirks-Verein. c) BeruÁich, wirtschaftlich: Architekten- und Ingenieur-Verein, Verein der Schuhwarenhändler von Halle a. S. und Umgegend, Mitteldeutscher Verein selbst. Mess- und Marktreisender, Kaufmännische Vereinigung im Verband Deutscher Handlungsgehülfen zu Halle a. S., Wirtschaftliche Vereinigung prakt. Zahnärzte zu Halle a. S. und Umgegend e. V., Deutscher Notarverein e. V., Eisenbahn-Verein zu Halle a. S., Beamten-Konsumverein E.G.m.b.H., Hallesche Rabatt-Spar-Vereinigung. d) Gesellig, kulturell, wohltätig: Hallescher Eis-Klub, Literarische Gesellschaft in Halle, Germania-Loge II, Automobil-Klub Sachsen-Anhalt e. V., Sächs.-Thür. Verein für Luftschiffahrt, Sektion Halle e. V., Verein ehem. Städt. Oberrealschüler zu Halle a. S., Hallische Singakademie, Jagd- und Schützenclub zu Halle a. S., Verein ehemaliger Kürassiere von Halle a. S. und Umgegend, Verein für Feuerbestattung in Halle a. S. und Umgegend e. V., 1870er Bahnhofs-Baracken-Verein zu Halle a. S., Verein „Hallesche Waisenstiftung“. 19 1861 lebten 429 Juden in der Stadt (1%), 1890 waren es 919 (0,9%), 1910 1397 (0,8%); Die Bevölkerung der Stadt Halle a. S. und ihre Entwicklung (= Beiträge zur Statistik der Stadt Halle, H. 3), Halle 1908, S. 31; Statistisches Jahrbuch der Stadt Halle 1913–1928, Halle 1929.

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Protestanten aufnahmen (der katholische Bevölkerungsanteil in Halle war marginal). Inwiefern dieser gegen Ende des Kaiserreichs deutlich gestiegene Anteil jüdischer Repräsentanz in den Vereinsvorständen indes Kommensalität belegt und damit als valider Indikator für Vergemeinschaftung dienen kann, ist meines Erachtens noch offen. Zu berücksichtigen wäre erstens, ob es in Teilen des Vereinsspektrums harte Grenzen für Juden gab, d. h. ob Vergemeinschaftung explizit abgelehnt und abgewehrt wurde. Oft resultiert die Repräsentanz von Juden in Vereinen ja aus dem Entstehen von Neugründungen, weil bestehende Vereinigungen jüdische Mitglieder ablehnten. Für die Logen ist das zur Genüge bekannt.20 Sodann müsste zweitens eine zumindest exemplarische Analyse der normalen Mitgliedschaften erfolgen, was in der Regel zu großen Quellenproblemen führen wird. Drittens schließlich wären die Vereinsmitgliedschaften daraufhin zu überprüfen, inwiefern sie wirklich als Indikator für Vergemeinschaftung im Weberschen Sinne, und damit als Ausdruck von „subjektiv gefühlter Zusammengehörigkeit“ dienen können. Hierfür bleiben qualitative Zeugnisse unverzichtbar. Wenn „Verbürgerlichung“ als Dualität von zwei Dimensionen verstanden wird, kann man hiervon „bürgerliche Kultur“ bzw. „Bürgerlichkeit“ unterscheiden. „Bürgerlichkeit“ kann als symbolisches Deutungssystem verstanden werden, welches die Thematisierung fundamentaler Probleme ermöglicht. Wie sind zentrale Gegensätze und Ambivalenzen der nachständischen Welt darstellbar? Diese bestehen zum einen in der durch Gegensätzlichkeiten bestimmten sozialstrukturellen Wirklichkeit. Zum andern entstehen sie in der Spannung zwischen den Idealen der neuen Identitätsentwürfe und den realen Lebensläufen, welche immer nur partielle Annäherungen ermöglichen. Das klassische Beispiel hierfür ist das neue Liebesideal, welches einerseits das Gefühl absolut setzt, mit dem Anspruch auf Dauerhaftigkeit verbindet und an eine einzige andere Person koppelt – und andererseits andere Wirklichkeitsbereiche davon trennt. In Goethes „Werther“ wird das exemplarisch beschrieben und zugleich das reale Scheitern, wenn eine Person diese Differenz zwischen Ideal und Heterogenität nicht auszuhalten oder zu vermitteln vermag.21 „Bürgerlichkeit“ 20 Vgl. STEFAN LUDWIG-HOFFMANN: Die Politik der Geselligkeit. Freimaurerlogen in der deutschen Bürgergesellschaft 1840–1918, Göttingen 2000. Gerade das Breslauer Beispiel zeigt, dass ein hoher Anteil jüdischer Mitgliedschaften in einzelnen Logen keine erfolgreiche Integration ins „allgemeine“ Vereinswesen indiziert, sondern die Entstehung von Neugründungen, weil Juden aus den traditionellen Organisationen ausgegrenzt blieben; das übersieht TILL VAN RAHDEN: Juden und andere Breslauer, Göttingen 2000, hier S. 101–139. 21 Um die ambivalente Funktionsweise der „Regeln“ der „bürgerlichen Gesellschaft“ zu verdeutlichen, und vor allem, um zu illustrieren, wie sie Natur, Gefühl und eine absolute Harmonie, die diesen anderen Sphären zugeschrieben wird, zerstören, entwirft Werther folgendes Beispiel: „Guter Freund, soll ich dir ein Gleichnis geben? Es ist damit wie mit der Liebe. Ein junges Herz hängt ganz an einem Mädchen, bringt alle Stunden seines Tages bei ihr zu, verschwendet alle seine Kräfte, all sein Vermögen, um ihr jeden Au-

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als kulturelles System kann diese Heterogenität darstellen; und ihre Ambivalenz und Offenheit resultiert zugleich daraus, dass sowohl die einzelnen Dimensionen in ihrer verlockenden und irritierenden Eigengesetzlichkeit thematisiert werden können, als auch entschärfende Vermittlungen zwischen ihnen darstellbar sind. Die vielfältigen Spannungen innerhalb der bürgerlichen Kultur, wie etwa zwischen Bürger und Künstler, zwischen Student und Philister, zwischen Spießbürger und Bildungsbürger sind – auch literarisch folgenreiche – Beispiele hierfür.22 Eine Unterscheidung ist in diesem Zusammenhang relevant: Integration und Identität als grundlegende Problemstellungen für das Leben in einer nachständischen Welt können im Rahmen unterschiedlicher Ordnungsmodelle gesellschaftlich gestaltet werden. Bürgerliche Kultur ist nur eine mögliche Antwort – sie stand im 19. Jahrhundert, nicht nur in Deutschland, immer in Konkurrenz zu anderen Ordnungsmodellen. Idealtypisch lassen sich mehrere Varianten differenzieren, wie auf die Herausforderungen einer nachständischen, sich funktional differenzierenden Gesellschaft geantwortet wurde. Die „bürgerliche Gesellschaft“ ist eine hiervon – sie stellt eine Möglichkeit, keine ZwangsläuÀgkeit der nachständischen Welt dar. Als zweites Ordnungsmodell kann man die „Nation“ verstehen. Die Leitidee Nation und die sich darauf beziehenden Ordnungsentwürfe versprachen ebenfalls Antworten auf die Fragen von Integration und Identität, die jedoch anders strukturiert waren. Das Schwergewicht lag hier auf Gleichheit,23 auf einer national deÀnierten Gemeinsamkeit und darauf aufbauenden Formen von Einheit. Daraus konnte unter anderem die Erwartung von Solidarität erwachsen, aber auch Zumutungen von Konformität. Ebenso konnte Abgrenzung gegen andere, denen die nationale Qualität abgesprochen wurde, daraus entwickelt werden, auch Ausgrenzung von anderen, deren Verschiedenheit als Störung, ja Bedrohung der nationalen Gleichheit gedeutet werden konnte. genblick auszudrücken, dass er sich ganz ihr hingibt. Und da käme ein Philister, ein Mann, der in einem öffentlichen Amte steht, und sagte zu ihm: ‚Feiner junger Herr! Lieben ist menschlich, nur müßt Ihr menschlich lieben! Teilet Eure Stunden ein, die einen zur Arbeit, und die Erholungsstunden widmet Eurem Mädchen. Berechnet Euer Vermögen, und was Euch von Eurer Notdurft übrig bleibt, davon verwehr’ ich Euch nicht, ihr ein Geschenk, nur nicht zu oft, zu machen, etwa zu ihrem Geburts- und Namenstage‘ etc. – Folgt der Mensch, so gibt’s einen brauchbaren jungen Menschen, und ich will selbst jedem Fürsten raten, ihn in ein Kollegium zu setzen; nur mit seiner Liebe ist’s am Ende und, wenn er ein Künstler ist, mit seiner Kunst. (Erstes Buch, 26. Mai)“; JOHANN WOLFGANG VON GOETHE: Die Leiden des jungen Werther, in: DERS.: Hamburger Ausgabe in 14 Bänden, Bd. 6: Romane und Novellen, München 1981, S. 7–129, hier S. 15. 22 Vgl. zu den literarischen Darstellungen MANFRED HETTLING: Politische Bürgerlichkeit. Der Bürger zwischen Individualität und Vergesellschaftung in Deutschland und der Schweiz 1860 bis 1918, Göttingen 1999, S. 291–317. 23 „Das große Versprechen des Nationalismus lautete: Gleichheit durch Einheit.“ MICHAEL JEISMANN: Alter und neuer Nationalismus, in: DERS. (Hg.): Grenzfälle. Über neuen und alten Nationalismus, Leipzig 1993, S. 9–26, hier S. 22.

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Mit dem Begriff „Staat“ kann man als dritte Möglichkeit etatistische Ordnungsmodelle fassen. Auch hier wurden Antworten auf die Fragen von Integration und Identität angeboten. Diese Ordnungsentwürfe rekurrierten nicht auf Gleichheit, sondern auf hierarchische Unterschiede. Untrennbar mit ihnen verbunden ist in der Moderne die Tendenz zur bürokratischen Regulierung. Als Traditionslinien kann man sowohl eine konservative als auch eine sozialistische Variante unterscheiden. In der konservativen Linie wurden Vorstellungen von Obrigkeit transformiert in staatliche Autorität, in bürokratische Regelungen und Normen. Im Selbstbild sollte hier eine Ungeordnetheit gesellschaftlicher Heterogenität und Bewegung gebändigt und reguliert werden. Im Unterschied hierzu steht in der sozialistischen Traditionslinie etatistischer Ordnungsmodelle vor allem die Bewegungsdynamik von Märkten im Mittelpunkt, die kanalisiert, unterbunden, gelenkt werden soll. Als weitere Ordnungsvorstellung ließe sich „Rasse“ benennen, welche sukzessive in Differenz zur Nation als dominant biologistische Gleichheitsidee formuliert wurde.24 Gerade die Biologisierung des Antisemitismus hat sich explizit auf Rasse als Ordnungsvorstellung bezogen. Zentral ist, dass nur das Ordnungsmodell der bürgerlichen Gesellschaft die Selbstorganisation von Individuen und Individualität in den Mittelpunkt ihrer Ordnungsidee stellte, darin unterschied sie sich – idealtypisch – strikt von den beiden anderen. Und, um nicht missverstanden zu werden – Nation und bürgerliche Kultur standen nicht in einem antagonistischen Spannungsverhältnis. Ebenso kann man Liberalismus nicht per se mit „bürgerlicher Gesellschaft“ gleichsetzen. Es gibt zweifellos besondere AfÀnitäten,25 doch zeigt die Geschichte des Liberalismus nicht nur in Deutschland, dass sich politische Ideen und Bewegungen oft in sehr vielfältigen Konstellationen Wirkungsmacht zu verschaffen wussten. Die Debatten des 19. Jahrhunderts ebenso wie die gesellschaftlichen Ordnungen in den deutschen Staaten stellten sich als komplexe Mischung zwischen diesen drei – idealtypisch zu trennenden – Ordnungsmodellen dar. Man kann jedoch fragen, in welchen „Mischungsverhältnissen“ politische und gesellschaftliche Diskurse ebenso wie vergangene Wirklichkeit durch diese drei bestimmt waren und wie sich diese Mischung im Verlauf des Jahrhunderts gewandelt hat.

24 Vgl. WERNER CONZE: Rasse, in: Geschichtliche Grundbegriffe, Bd. 5, Stuttgart 1984, S. 135–178; als knappen Überblick CHRISTIAN GEULEN: Geschichte des Rassismus, München 2007. 25 Vgl. HANS-ULRICH WEHLER: Geschichte und Zielutopie der deutschen ‚bürgerlichen Gesellschaft‘, in: DERS.: Aus der Geschichte lernen. Essays, München 1988, S. 241–256.

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2. Debatte über Verbürgerlichung Die Debatte über die „Verbürgerlichung der Juden“ ist seit Dohm in einer permanenten Veränderung begriffen. Vor und nach der Emanzipation ging es im Wesentlichen darum, ob „die Juden“ schon „bürgerlich“ genug seien, um volle Mitglieder der deutschen Gesellschaft zu werden. Aufklärer und bürokratische Reformer wie Dohm und andere formulierten dieses Ziel.26 Der staatliche Erziehungswillen jedoch gedachte die deutschen Juden diesen Weg der Verbürgerlichung nicht allein gehen zu lassen, er unterzog sie einer bevormundenden Überprüfung. Da die „Verbürgerlichung“ in Deutschland nicht dem freien Spiel sozialer und gesellschaftlicher Konkurrenz überantwortet wurde, blieb die „Judenfrage“ über Jahrzehnte hinweg präsent und beförderte eine nach der rechtlichen Gleichstellung fortbestehende Sonderstellung dieser Minderheit.27 Das Ziel dieser „Judenfrage“ war es, „dass der Jude entjudet werde“ – so eine Formulierung in der württembergischen Abgeordnetenkammer von 1828. In der Wahrnehmung bürgerlicher Reformer symbolisierten die Juden das Alte, die zu beseitigende ständische Gesellschaft mit ihren vielfältigen Sonderstellungen. „Entjudung“ hieß in diesem Fall der württembergischen Landtagsdebatte die Beseitigung des unterstellten „jüdischen Handelsgeistes“ und hieß generell: Anpassung an die Normen, Sitten, Verhaltensmuster und beruÁichen Existenzformen der im Werden begriffenen bürgerlichen Gesellschaft.28 Von der großen Mehrheit der deutschen Juden wurde diese „Verbürgerlichung“ als Möglichkeit, als vielversprechende Verheißung willig aufgenommen. Ein Großteil der deutschen Juden war nur zu gern bereit, den Kaftan gegen den bürgerlichen Rock zu tauschen. Dieses „Projekt“ (Shulamit Volkov) der Verbürgerlichung zeitigte unübersehbare Erfolge. Die „Judenfrage“ aber verschwand nicht aus der deutschen Öffentlichkeit. Seit den 1870er Jahren wurde sie zudem anders gestellt. Zunehmend ging es nicht mehr darum, inwiefern die jüdische Bevölkerung schon weit genug verbürgerlicht wäre – sondern die nun anders gewendete „Judenfrage“ artikulierte den Verdacht, sie sei bereits „zu sehr“ auf diesem Weg vorangeschritten.29 Nun 26 CHRISTIAN WILHELM VON DOHM: Über die bürgerliche Verbesserung der Juden und deren Einwirkung auf die gebildeten Stände, Berlin/Stettin 1781/1783 (Neudruck: Hildesheim 1972). Vgl. dazu MICHAEL REUVEN: Die antijudaistische Tendenz in Ch. W. Dohms Buch ‚Über die bürgerliche Verbesserung der Juden‘, in: Bulletin des Leo Baeck Instituts 77 (1987), S. 11–48; HORST MÖLLER: Judenemanzipation und Staat. Ursprung und Wirkung von Dohms Schrift über die bürgerliche Verbesserung der Juden, in: WALTER GRAB (Hg.): Deutsche Aufklärung und Judenemanzipation, Tel Aviv 1980, S. 119–153. 27 REINHARD RÜRUP: Emanzipation und Antisemitismus. Studien zur „Judenfrage“ der bürgerlichen Gesellschaft, (ursprünglich Göttingen 1975) Frankfurt a. M. 1987, hier S. 105, bietet die präziseste und nach wie vor überzeugende Analyse dieses Zusammenhangs. 28 Zitat ebd., S. 30. 29 Vgl. ebd., S. 93–119; SHULAMIT VOLKOV: Die Verbürgerlichung der Juden in Deutschland als Paradigma, in: DIES.: Jüdisches Leben und Antisemitismus in Deutschland im 19. und

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ging es jedoch den einen nicht mehr darum, soziale Veränderung als Indikator für einen Prozess der Integration zu sehen, vielmehr verkündete man lauthals, dass sich an den äußeren Unterschieden eben die wesensmäßige Verschiedenheit (des Charakters, des Volkes, der Rasse) erweise. Der Angriff auf die deutschen Juden wurde für ihre Gegner immer mehr auch zu einem Angriff auf die Prinzipien der von ihnen abgelehnten „bürgerlichen Gesellschaft“. Umgekehrt bemühten sich die Opponenten des aufkommenden Antisemitismus oft, die behaupteten Unterschiede von Berufsstruktur und Einkommenssituation zwischen Juden und Nichtjuden zu marginalisieren. Sie wichen damit der Frage aus, wie „bürgerlich“ die Juden denn nun geworden waren – und wie „bürgerlich“ eigentlich ihre nichtjüdischen Nachbarn waren. All dies ist seit Längerem Konsens der Forschung. In neuerer Zeit wird nun sowohl der Verbürgerlichungsprozess anders akzentuiert, als auch die Distanzierung zur jüdischen Verbürgerlichung als immanenter Bestandteil der deutschen Bürgergesellschaft des 19. Jahrhunderts interpretiert. Simone Lässig argumentierte in ihrer materialreichen und viele neue Einsichten präsentierenden Studie zum jüdischen Weg ins Bürgertum, dass die jüdische Transformation ganz wesentlich auf kulturellen Voraussetzungen basierte. Nicht die soziale Verbürgerlichung habe am Beginn dieses Prozesses gestanden, sondern ihre kulturelle Verbürgerlichung. Auch wenn sie die Neuartigkeit ihres Arguments überzieht,30 lohnt doch die Diskussion darüber. Vor allem aber konzentriert sich Lässig auf die innerjüdische Seite – sie skizziert die jüdischen Anstrengungen, wie die anderen Bürger sein zu wollen. Die Frage, ob sie, wie Volkov zuvor betont hatte, „mit den anderen Bürgern“ waren, spielt bei ihr eine geringe Rolle. Dies hingegen steht im Mittelpunkt der Arbeit von Uffa Jensen, der – am Beispiel des Berliner Antisemitismusstreits seit 1879 – Aushandlungsprozesse zwischen nichtjüdischen und jüdischen Bürgern über die Stellung der jüdischen Bürger untersucht. Seine Interpretation betont die innerbürgerlichen Ausgrenzungsmechanismen gegenüber der sich verbürgerlichenden jüdischen Minderheit; er akzentuiert die immanenten Grenzen in der Bürgerkultur ge20. Jahrhundert, München 1990, S. 111–130; DIES.: Antisemitismus als kultureller Code, in: ebd., S. 13–36. Zur wechselseitigen Geschichte zwischen Juden und Nichtjuden in den Jahrzehnten nach der Emanzipation vor allem auch DAVID SORKIN: The Transformation of German Jewry 1770–1840, Oxford 1987. Als detaillierte Analyse der sozialstrukturellen Bürgerlichkeit der Juden im Kaiserreich vgl. MANFRED HETTLING: Sozialstruktur und politisches Verhalten der Juden im Kaiserreich, in: DERS. / ANDREAS REINKE / NORBERT CONRADS (Hg.): In Breslau zu Hause. Juden in einer mitteleuropäischen Metropole der Neuzeit, Hamburg 2003, S. 113–130, 232–242. 30 Volkov betonte ja die Parallelität von Verbürgerlichungsvorgängen in ganz unterschiedlichen, auch kulturellen Dimensionen und redete nicht einer einfachen sozio-ökonomischen Verbürgerlichung das Wort. Vgl. SH. VOLKOV, Verbürgerlichung (wie Anm. 29); SIMONE LÄSSIG: Jüdische Wege ins Bürgertum. Kulturelles Kapital und sozialer Aufstieg im 19. Jahrhundert, Göttingen 2004, S. 25.

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genüber einer jüdischen Integration.31 Jensen beschreibt die im bürgerlichen Lager durchaus vorhandene Reserviertheit gegenüber der jüdischen Minderheit und die Erwartung einer Anpassung als Folge der Bürgerkultur. Darin liegt – über die Treitschkedebatte ausgreifend – seine These. Die Nähe zum Antisemitismus resultierte, so könnte man zugespitzt sagen, nicht aus einem Mangel an Bürgerlichkeit, sondern aus der Bürgerkultur selber. Darin unterscheidet sich Jensen dezidiert von den älteren Studien zur Frage der Verbürgerlichung und zu allen Deutungen, die mit der These vom „DeÀzit“ an Bürgerlichkeit argumentieren. Trotz einiger Schwächen ist die Diskussion seiner These lohnend. Man mag skeptisch bleiben, ob „gebildete Protestanten“ so einheitlich waren, wie sie bei ihm dargestellt werden. Antisemiten wie Paul de Lagarde, Stockkonservative wie die Gebrüder Leopold und Ernst Ludwig von Gerlach, Linksliberale wie Theodor Mommsen oder Friedrich Naumann waren alle gebildete Protestanten – auch wenn sie sich in ihrer Haltung gegenüber Fragen der Emanzipation mehr oder weniger deutlich unterschieden, zumal es gerade im liberalen, protestantischen Teil der städtischen Bürgergesellschaften durchaus vielfältige Formen der Kooperation, des Miteinanders gab. Auch wenn das Argument etwas überspitzt wird, liegt der fruchtbare Kern darin, dass Bildung als Kernelement von Bürgerlichkeit in seiner elementaren Bindung an die christliche Religion betont wird. Jensen lässt das Bildungsideal und die Bildungskultur „fundamental“ auf religiösen Traditionen basieren, er erklärt damit die gleichzeitige Wertschätzung von Bildung im Protestantismus und im Judentum.32 Offen bleibt dabei, was das SpeziÀsche der Bürgerlichkeit ausmachte, welche die Annäherung der jüdischen Minderheit so bedrohlich erscheinen ließ. Jensens These lautet: „Die Juden sind die Ambivalenz, die kategoriale Zuschreibungen sichtbar machen und damit unsicher werden lassen. Juden sind unheimliche Doppelgänger.“33 Der Gedanke hat etwas für sich – er erhielt seine politische Virulenz aber erst in dem Moment, in dem die christliche Seite nach Einheit strebte. Das geschah unter dem Vorzeichen der Nation (als deutsche Kultur, als nationaler Staat, als nationale, völkische Gemeinschaft) oder der Rasse. Richard Wagner, Paul de Lagarde, Heinrich von Treitschke und viele andere sind zu Recht Beispiele hierfür. Offen bleibt nach Jensens Studie jedoch erstens, wie verbreitet derartige Auffassungen innerhalb der Bürgerlichen in Deutschland waren, und zweitens, inwiefern hier eine Transformation innerhalb der Bürgerlichkeit geschah, oder ein Umschwenken auf andere, auf nationale und völkische, Leitideen. Jensen argumentiert zwar, dass sich durch die Verbürgerlichung der Juden die Bürgerkultur selbst verändert habe, zeigt dies aber empirisch nicht. Ob sich Ver31 UFFA JENSEN: Gebildete Doppelgänger. Bürgerliche Juden und Protestanten im 19. Jahrhundert, Göttingen 2005, S. 20 (seine DeÀnition von Bildungskultur). 32 Ebd., S. 31. 33 Ebd., S. 35.

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änderungen innerhalb des gebildeten Bürgertums auf die Verbürgerlichung der – wenigen – Juden zurückführen lassen, oder auf andere Faktoren wie den Siegeszug der Nation als Integrationsidee, der Abgrenzung gegen den Sozialismus, der Überhöhung einer autoritären Obrigkeit – darüber dürfte eine weitere Diskussion ebenso lohnen wie über die Frage, warum die kleine Schar der gebildeten Juden derartige Ambivalenzängste ausgelöst haben soll – die weit zahlreicheren gebildeten Katholiken jedoch nicht.34 Trotz dieser Kritik ist es jedoch unstrittig, dass die Diskussion über die Verbürgerlichung der Juden in Fluss gekommen ist, dass die ältere, bloß sozialhistorische Perspektive erweitert (nicht ausgeblendet) werden muss. Durch die neueren Arbeiten sind sowohl die kulturelle Dimension (Lässig) als auch die Frage der Religion (Jensen) innovativ akzentuiert und der Horizont für neue Fragestellungen eröffnet worden. 3. Verbürgerlichung – Möglichkeiten und Grenzen Welche Fragen und Interpretationsperspektiven eröffnet nun ein Verständnis von Verbürgerlichung, welches einen „Bewegungsraum“ zur Grundlage hat? Eine Beschreibung des Verhältnisses von Bürgertum und Judenheit kann sich an Eibls Unterscheidungen in verschiedene Teilsysteme orientieren. Der sich verändernde Status der Juden innerhalb dieser Teilsysteme ist ja weitgehend bekannt: Die schrittweise Gewährung der Rechtsgleichheit zwischen 1812 (Preußen) und der Reichsgründung, die vielfach auf der Verwaltungsebene oder durch Habitualisierungen unterlaufen wurde (Rechtssystem); die Ausbildung eines eigenen Schulwesens, aber auch die Integration in das allgemeine Schulwesen, etwa in den Gymnasien – wobei es in den Städten oft mehr oder wenige offenkundige Trennlinien gab und oft nur einzelne Gymnasien jüdische Schüler und Lehrer aufnahmen (Erziehungssystem); analoge Prozesse mit größerer Verzögerung an den Universitäten (Wissenschaftssystem). Hinsichtlich des Wirtschaftssystems scheint mir ein Punkt besonders wichtig, der sehr oft übersehen bzw. zu gering erachtet wird. Die sozio-ökonomische Verbürgerlichung der Juden im 19. Jahrhundert basierte entscheidend auf der Tatsache, dass die jüdische Erwerbstätigkeit bereits in der ständischen Gesellschaft ganz überwiegend im dritten Sektor konzentriert war. Das wird oft übersehen, wenn man nur die mehrheitliche Armut der jüdischen Bevölkerung um 1800 betont. Juden waren bereits vor allen Verbürgerlichungsdebatten im Wirtschaftssystem in jenem Teilsegment angesiedelt (und mit seinen Grundregeln vertraut), welches im 19. Jahrhundert die entscheidende Basis des gesamtgesellschaftlichen Aufstiegs des Bürgertums darstellte. 34 Vgl. jetzt CHRISTOPHER DOWE: Auch Bildungsbürger. Katholische Studierende und Akademiker im Kaiserreich, Göttingen 2006.

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Zudem war dieser Bereich – der Handelssektor – bis zum Durchbruch der Industrialisierung der am meisten prosperierende. Zugespitzt formuliert: Hinsichtlich der Wirtschaftssektoren, in denen sie tätig waren, waren Juden in Deutschland bereits um 1800 afÀn zum Kernbereich bürgerlicher Wirtschaftstätigkeit. In den Familienformen übernahm die jüdische Minderheit weitgehend die Muster der Mehrheitsgesellschaft, ebenso in den Binnenformen der Selbstorganisation, im Vereinswesen.35 Auch in der Frage der Orientierung am Begriff „Menschheit“, also an universalistischen Prinzipien, eignete sich die jüdische Minderheit ganz eindeutig Vorstellungen der Bürgerkultur an. Selbst in Fragen der Religion modiÀzierte sich die jüdische Glaubenspraxis und näherte sich in vielen Elementen protestantischen Beispielen an (Stichwort jüdische Reform). Es dabei bewenden zu lassen und das als Beleg für die Verbürgerlichung und vielfältige Formen von Inklusion zu verstehen, wäre nicht nur zu einfach, sondern auch falsch. Volkov hat ja betont, das Ziel des jüdischen Projektes habe darin bestanden, nicht nur wie die anderen, sondern mit ihnen leben zu wollen.36 Ob dies gelang – darüber gibt es auch heute noch unterschiedliche Positionen, wenn ich es recht sehe.37 Durch empirisches Auszählen lässt sich die Frage von Integration oder Ausschließung nicht beantworten. Vermutlich liegt der oft übersehene Kurzschluss auch darin, zu allgemein nach der Offenheit bzw. Abgeschlossenheit der bürgerlichen Mehrheitskultur an sich zu fragen. Übersehen wird dabei oft, dass Bürgerlichkeit in sich selber äußerst vielfältig war. James Sheehan hat vor mehr als zwanzig Jahren, am Beginn der Bürgertumsforschung, darauf hingewiesen, dass Bürgerlichkeit durch eine grundlegende Spannung von Universalität und Einschränkung bestimmt war. Der Anspruch und der Wunsch, ein für alle „Menschen“ gültiges Wertesystem zu proklamieren und die Neigung, diese Werte und die damit verbundenen Chancen nur denjenigen zuzubilligen, die bestimmten gesellschaftlichen und moralischen Ansprüchen genügen, sei von Anfang an konstitutiv für Bürgerlichkeit gewesen. Dabei dürfe man nicht vergessen, so Sheehan, dass diese Spannung in allen nationa35 Vgl. MARION A. KAPLAN: The Making of the Jewish Middle Class. Women, Family, and Identity in Imperial Germany, New York 1994; ANDREAS REINKE: Geschichte der Juden in Deutschland 1781–1933, Darmstadt 2007. 36 SH. VOLKOV, Verbürgerlichung (wie Anm. 29), S. 126. 37 Da es in den Großstädten im späten 19. Jahrhundert in der Regel mehrere hundert Vereine gab, wäre es illusorisch, auch nur für eine Stadt eine systematische Erhebung über Mitgliedschaften vornehmen zu wollen. Und da die jüdischen Stadtbewohner selbst in Städten wie Breslau, Hamburg oder Frankfurt relativ kleine Gruppen darstellten, die nicht gleichmäßig über die Stadt verteilt wohnten, die ein speziÀsches SozialproÀl hatten, das vom Durchschnitt abwich – deshalb wäre eine auch nur annähernd gleichmäßige Verteilung selbst unter der Annahme völliger Inklusion und keinerlei ausgrenzender Faktoren nicht zu erwarten. Es bleibt aber zu oft beim Verweis auf Einzelbeispiele.

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len Variationen von Bürgerlichkeit (oder von Mittelschichtskulturen) gegeben war. Es bestünden zwar speziÀsch deutsche Züge, man könne aber nicht von einer deutschen Besonderheit sprechen.38 Das heißt, Bürgerlichkeit ermöglichte durchaus unterschiedliche Handlungsoptionen und Leitideen, die einerseits in großer Spannung zueinander stehen konnten, als auch ganz unterschiedliche Optionen für verschiedene Gruppen in ihren „Verbürgerlichungsprojekten“ enthielten. Zwei Spannungslinien scheinen mir besonders wichtig und einÁussreich zu sein, für den Verbürgerlichungsprozess der Juden und die Frage, ob die sich bürgerlich „verbessernden“ Juden auch mit den nichtjüdischen Bürgern leben konnten. a) In erheblichen Teilen des deutschen Bürgertums wurde bürgerliche Kultur im Verlauf des 19. Jahrhunderts in größerem Maße national gefärbt, wurde sie in nationalen Grenzen, als nationale Kultur verstanden. Man kann es vereinfacht so ausdrücken – im 18. Jahrhundert überwindet Bürgerlichkeit soziale Partikularitäten, steht sie in Opposition zu ständischer Segregation (im universalistischen Anspruch wie in der realen Ausgestaltung). Dabei entstehen zugleich neue Abgrenzungen, nach anderen sozialen Bedingtheiten, potentiell nach unten wie nach oben. Diese neuen partikularistischen Begrenzungen lassen sich aber nicht mehr in ständischen Kategorien beschreiben – es entsteht ein Nebeneinander von universalistischem Anspruch und partikularer Einlösung. Nationale Differenzierungen spielten, wenn überhaupt, in der Zeit um 1800 nur eine nachgeordnete Rolle (erst in der Zeit der napoleonischen Besetzung beginnt sich das zu ändern, die Rückwirkungen auf Bürgerlichkeit sollten aber nicht überschätzt werden). Im Verlauf des Jahrhunderts ändert sich das, die Frage nationaler Gemeinsamkeiten und Gemeinschaftlichkeit kam gewissermaßen zur Bürgerlichkeit hinzu, ohne dabei grundlegende Bestandteile der Bürgerkultur zu verändern. Verdeutlichen kann man dies am Buch von David Friedrich Strauß „Der alte und der neue Glaube“ von 1873. Nicht mehr nur die Religion stifte Orientierung, so Strauß. Den neuen Glauben beschreibt er auf den ersten Blick – ganz in der Tradition des 18. Jahrhunderts – als Überwindung sozialer Partikularitäten. „Neben unserm Berufe – denn wir gehören den verschiedensten Berufsarten an, sind keineswegs bloß Gelehrte oder Künstler, sondern Beamte und Militärs, Gewerbetreibende und Gutsbesitzer; auch das weibliche Geschlecht ist unter uns nicht unvertreten [...] – neben unserm Berufe, sage ich, und dem Leben in der Familie und mit den Freunden, suchen wir uns den Sinn möglichst offen zu erhalten für alle höheren Interessen der Menschheit.“39

38 JAMES J. SHEEHAN: Wie bürgerlich war der deutsche Liberalismus?, in: DIETER LANGEWIESCHE (Hg.): Liberalismus im 19. Jahrhundert, Göttingen 1988, S. 43. 39 DAVID FRIEDRICH STRAUSS: Der alte und der neue Glaube (1873), Stuttgart o. J., S. 215.

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Das klingt fast wie eine frühe Vorlage für Eibls Beschreibung von Bürgerlichkeit. Strauß fährt aber fort, indem er die höheren Interessen der Menschheit national interpretiert: „Wir haben“, konkretisiert er den universalistischen Anspruch, „während der letzten Jahre lebendigen Anteil genommen und jeder in seiner Art mitgewirkt an dem großen nationalen Krieg und der Aufrichtung des deutschen Staats, und wir Ànden uns durch diese so unerwartete als herrliche Wendung der Geschicke unserer vielgeprüften Nation im Innersten erhoben [...], an sittlichen Lehren war nie eine Zeit reicher als die letzten Jahre“. In den Schriften „unserer“ großen Dichter Ànde man „Anregung für Geist und Gemüt, für Phantasie und Humor“. Und auch der einfache Mann aus dem Volke Ànde seine Erbauung nicht mehr nur in der Bibel, sondern in der „Nationalliteratur“.40 Strauß entwirft damit das Bild einer funktional differenzierten Lebenswelt, in die der Einzelne in verschiedenen Rollen eingebunden sei, das überwölbende Menschliche wird bei ihm aber ganz eindeutig begrenzt durch den Rahmen der Nation. Der Bezug zu ihr erhebt das Innere, stellt für das Selbst einen Bezugspunkt dar. In seiner Kritik an Strauß hat Nietzsche Strauß „Philistertum“ vorgeworfen, weil er Kultur reduziere auf eine „schleichende Filzsocken-Begeisterung“.41 Der Enthusiasmus komme dann nicht mehr durch die Kultur, sondern über die Nation. Es wäre jedoch falsch, dies als unbürgerlich zu bezeichnen. Nietzsche verwendet mit dem Philisterbegriff selbst eine traditionelle BegrifÁichkeit innerbürgerlicher Differenzierung. Passender scheint es, von einer Pluralität von Identitätsangeboten auszugehen, die sich im Verlauf des 19. Jahrhundert entwickelt haben. Für diejenigen, die in der erodierenden Ständegesellschaft nichts gemeinsam hatten, außer ihrer Verschiedenheit (Eibl) bot sich um 1800 kaum ein anderes attraktives Muster dar als das der Bürgerlichkeit. Im späten 19. Jahrhundert sah das anders aus. In den Milieus des Kaiserreichs versammelten sich ganz unterschiedliche Identitätsangebote; auch erweiterten sich die Identitätsangebote innerhalb eines breiten Spektrums von Bürgerlichkeit: Die Konsumkultur etwa umfasste seit dem späten 19. Jahrhundert immer breitere Kreise und differenzierte ganz neuartige Artikulationsformen aus. Neu daran war nicht die Möglichkeit, durch Konsum Identitätsmuster auszudrücken, sondern die Ausdifferenzierung der Variationen und die soziale Reichweite – indem Konsumkultur zur Massenkultur wurde.42 Das wiederum mag auch mit dazu beigetragen haben, den 40 Ebd., S. 215–217. 41 FRIEDRICH NIETZSCHE: Die Geburt der Tragödie. Unzeitgemäße Betrachtungen I–IV. Nachgelassene Schriften 1870–1873 (KSA I), München 1999, S. 182. 42 Zur Konsumkultur vgl. KASPAR MAASE: Grenzenloses Vergnügen. Der Aufstieg der Massenkultur 1850–1970, Frankfurt a. M. 1997. Zur Konsumkultur um 1800 vgl. MICHAEL NORTH: Genuß und Glück des Lebens, Köln 2003; ANGELA BORCHERT / RALF DRESSEL (Hg.): Das Journal des Luxus und der Moden: Kultur um 1800, Heidelberg 2004. Joachim Fischer argumentiert – überzeugend –, dass Konsum als Differenzierungsmöglichkeit wie als Identitätsfaktor bereits um 1800 entwickelt war, jedoch auf ein kleines Spektrum der Gesellschaft begrenzt blieb; die Konsumkultur des 20. Jahrhunderts, die auch als

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Stellenwert der Nation als Leitidee zu stärken. Denn die Nation war inzwischen zum Identitätsträger geworden, Nietzsche und andere suchten einen deutschen Stil, in dem Kultur und Nation verbunden waren. Möglich wurde dadurch ein „nationales Ich“, d. h. Identitätsbildung im Medium des Nationalen; denn die Nation versprach Einheit jenseits dieser Heterogenitäten.43 Das sollte als Doppeldeutigkeit oder Spannung innerhalb der bürgerlichen Kultur verstanden und nicht vereinfachend auf einen Niedergang oder eine AuÁösung des Bürgertums bezogen werden.44 Man sollte dabei strikt trennen von einem Verständnis von Bürgerlichkeit, welches auf die sozialen Akteure bezogen ist: Bürgerlichkeit wäre dann das, was Bürger tun – unabhängig davon, wie sie handeln. Im Unterschied hierzu steht ein analytisches Verständnis von Bürgerlichkeit, welches die ReÁexion über Reallagen (was hält funktional differenzierte Rollen zusammen, ohne dass Integrationsformen schon vorgegeben wären) unter dem Banner von individueller Mündigkeit und in der Freiheit der Kritik darunter versteht – unabhängig davon, wer handelt. b) Eine zweite, lange übersehene Doppeldeutigkeit in der Bürgerlichkeit besteht in der fortwirkenden Bedeutung von Religion. Sie hatte ihre Bedeutung nicht mehr in einer umfassenden Deutung der Wirklichkeit, diese Allmacht war seit dem 18. Jahrhundert nachhaltig verloren gegangen. Die Kulturkämpfe, die David Friedrich Strauß, Ludwig Feuerbach und andere ausfochten, sind ja zur Genüge bekannt. Zwar wurde die Rolle der Institution Kirche begrenzt, doch Religion blieb im Verständnis des allergrößten Teils der Akteure im 19. Jahrhundert von zentraler Bedeutung. Auch im liberalen Spektrum wurde ihr nach wie vor eine tragende Funktion zugeschrieben. Carl Welcker formulierte im Rotteck-Welckerschen Staatslexikon 1848, es werde „um so viel mehr Vollkommenheit und Kraft, um so mehr Tugend, Freiheit und Glück im Staate blühen, je mehr ächte christliche Gesinnung und Handlungsweise ihn durchdringen und beherrschen“. Er urteilte, das „Christentum ist das Heiligtum der gesitteten Menschheit“.45 Die politische Botschaft, die Welcker formulierte, bestand darin: Weder staatlicher Zwang mit Gesinnungskontrolle noch GleichgültigMassenkultur bezeichnet wird, unterscheidet sich deshalb primär durch die ganz andere soziale Reichweite; JOACHIM FISCHER: In welcher Gesellschaft leben wir eigentlich? In der bürgerlichen!, in: Aus Politik und Zeitgeschichte 2008, H. 9–10, S. 9–16. 43 Vgl. DAGMAR GÜNTHER: Das nationale Ich? Autobiographische Sinnkonstruktionen deutscher Bildungsbürger des Kaiserreichs, Tübingen 2004. 44 Blackbourn hat den Begriff der Doppeldeutigkeit (ambiguity) dafür verwandt, Sheehan spricht von Spannung – während Hans Mommsen die AuÁösung des Bürgermodells diagnostiziert hat; J. J. SHEEHAN, Liberalismus (wie Anm. 38); DAVID BLACKBOURN / GEOFF ELEY: The Peculiarities of German History, Oxford 1984; HANS MOMMSEN: Die AuÁösung des Bürgertums seit dem späten 19. Jahrhundert, in: J. KOCKA, Bürger (wie Anm. 2), S. 288–315. 45 CARL WELCKER: Sittlichkeit, Sitten-, Religions- und Unterrichtspolizei etc., in: DERS. /

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keit gegenüber Religion, Sittlichkeit und Bildung seien dem Gemeinwesen förderlich. Vielmehr bedürfe es der Vielfalt der Institutionen und ihrer Freiheit ebenso wie der sozialmoralischen Voraussetzungen im Einzelnen. Zur Gewährung dieser inneren Qualitäten aber seien Bildung und Religion unverzichtbar. Indem das freie Gemeinwesen und die liberale Ordnung an persönliche Qualitäten gebunden werden, schreibt Welcker der Religion eine eminent tragende Rolle für die öffentliche Ordnung zu. Ja, die christliche Religion und die durch sie vermittelte Bändigung der Einzelinteressen und der anarchischen Natur des Menschen wird geradezu zur Voraussetzung, eine politisch freie Ordnung ermöglichen zu können.46 Indem das Christentum zur notwendigen sittlichen Grundlage für den staatlicher Regulierung entfesselten Bürger wird, behält die Religion eine funktionale Bedeutung bei. Dieser christlich-religiöse Bias der Bürgerkultur ist bisher noch kaum analysiert worden.47 Eine Untersuchung des Begriffes Sittlichkeit als sozialmoralischer Grundlage für Bürgerlichkeit könnte diese – vermutlich zunehmende – AuÁadung von Religion innerhalb der bürgerlichen Kultur des 19. Jahrhundert deutlich hervortreten lassen. Damit ließe sich auch das Verhältnis zwischen Juden und Nichtjuden und die Bedeutung, die Religion dafür spielte, klarer akzentuieren. Zwar hat sich die jüdische Religion im 19. Jahrhundert reformiert – doch indem dem Christentum eine neuartige

CARL VON ROTTECK (Hg.): Staatslexikon, Bd. 12, Altona 21848, S. 191–214, hier S. 201, 206. 46 In der Gegenwart hat Böckenförde ein analoges Argument formuliert, mit seinem Postulat, „der freiheitliche, säkularisierte Staat lebt von Voraussetzungen, die er selbst nicht garantieren kann“. Seltener wird die Fortführung seines Arguments zitiert – „so wäre denn noch einmal – mit Hegel – zu fragen, ob nicht auch der säkularisierte weltliche Staat letztlich aus jenen inneren Antrieben und Bindungskräften leben muß, die der religiöse Glaube seinen Bürgern vermittelt“. ERNST-WOLFGANG BÖCKENFÖRDE: Die Entstehung des Staates als Vorgang der Säkularisation, in: DERS.: Recht, Staat, Freiheit, Frankfurt a. M. 1991, S. 92–114, hier S. 112f. 47 Erste wichtige Ergebnisse zu diesem Bias bieten Arbeiten zur bürgerlichen Frauenbewegung, so z. B. die Arbeiten von Marion Kaplan, sowie IRIS SCHRÖDER: Arbeiten für eine bessere Welt. Frauenbewegung und Sozialreform 1890–1914, Frankfurt a. M. 2001; BRITTA KONZ: Bertha Pappenheim (1859–1936). Ein Leben für jüdische Tradition und weibliche Emanzipation, Frankfurt a. M./New York 2005. Uffa Jensen betont die protestantische Färbung der Bürgerkultur (zu Recht und als einer der ersten in Bezug auf das deutsch-jüdische Verhältnis), seine Darstellung der religiösen Weichenstellungen für das Verhältnis der protestantischen Bildungsbürger gegenüber den jüdischen Bildungsbürgern wäre aber noch zu erweitern. Dass der Rekurs auf eine religiös begründete Sittlichkeit bereits in den Jahrzehnten des Vormärz ein zentraler Topos ist und das Verhältnis zwischen Juden und Nichtjuden nachhaltig bestimmt und die öffentlichen Debatten über die Judenfrage im Vormärz grundlegend geprägt hat, tritt auch hervor bei ANNE PURSCHWITZ: Von der „bürgerlichen Verbesserung“ zur „bürgerlichen Gleichstellung“? Öffentliche Debatten über die Judenemanzipation in Preußen zwischen 1800 und 1847, Diss. Phil., Halle 2009.

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sozialmoralische Bedeutung zugeschrieben wurde, entstanden neue religiös konturierte Grenzen und Exklusionskanäle.48 Inwiefern dies eine deutsche Besonderheit darstellt bzw. in Deutschland besonders ausgeprägt war, ist eine offene Debatte. Ein Unterschied fällt im internationalen Vergleich jedoch auf. In England und in den USA hat sich – aus der Tradition des religiösen Dissenses und der puritanischen Verweigerung gegenüber staatlicher Regulierung – ein Verständnis ausgebildet, welches Religion in einem vorstaatlichen Bereich ansiedelt und die Beziehungen zwischen Staat und Religion weit strikter trennte, als es in Deutschland, Frankreich und vielen anderen europäischen Ländern der Fall ist.49 Wenn man zudem berücksichtigt, dass beide Gesellschaften – durchaus nach KonÁikten – eine weitgehend staatsbürgerlich geprägte Inklusion der Juden gestaltet haben, so stärkt dies m. E. die Vermutung, dass in diesem Verständnis von Religion ein noch nicht genügend untersuchter Bedingungsfaktor für das Gelingen bzw. Nichtgelingen einer „bürgerlichen Vermischung“ von Juden und Nichtjuden bestand.50 4. Fazit Vier Punkte möchte ich abschließend hervorheben: a) „Verbürgerlichung“ ist nach wie vor eine lohnende Perspektive auf die Geschichte der deutschen Juden. Denn keine andere Teilgruppe der deutschen Gesellschaft hat sich im 19. Jahrhundert derart intensiv und erfolgreich verändert – sozial wie kulturell. Für weitere fruchtbare Forschungen ist es jedoch erforderlich, Verbürgerlichung nicht als Angleichung an einen statischen Zustand (ein irgendwie endgültig deÀniertes Bürgertum) zu verstehen, sondern 48 Stahls „christlicher Staat“ ist bekannt – doch reicht dieser Bezug auf religiöse Qualitäten weit ins liberale Lager hinein; das wird bisher nur selten thematisiert. Vgl. WILHELM FÜSSL: Professor in der Politik: Friedrich Julius Stahl (1802–1861). Das monarchische Prinzip und seine Umsetzung in die parlamentarische Praxis, Göttingen 1988. 49 Es ist die berühmte Jellinekthese über die Menschen- und Bürgerrechte und ihre zwei Traditionen – der zentraleuropäischen als Kontrolle und Einhegung staatlicher Zugriffsmöglichkeiten, als Toleranzgewährung durch den Staat (etwa in Frankreich und Preußen) und der Fixierung als vorstaatliche Rechte, die damit jeder staatlichen Eingriffsmöglichkeit entzogen würden; GEORG JELLINEK: Die Erklärung der Menschen- und Bürgerrechte, in: ROMAN SCHNUR (Hg.): Zur Geschichte der Erklärung der Menschenrechte, Darmstadt 1964, S. 1–77 (in dem Band auch weitere Texte zu dieser Debatte). Vgl. dazu auch KLAUS KEMPTER: Die Jellineks 1820–1955. Eine familienbiographische Studie zum deutschjüdischen Bildungsbürgertum, Düsseldorf 1998, S. 313–317. 50 Hinzu kommt, dass England und die USA in ihren inneren Aushandlungsprozessen über das Verhältnis zu ihren jüdischen Minderheiten nicht durch Prozesse der Nationalstaatsbildung beeinÁusst wurden.

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als Wechselwirkung verschiedener Teilgruppen der Gesellschaft, welche zugleich die Dynamik von Bürgerlichkeit selber mitberücksichtigen muss. Im Verlauf des 19. Jahrhunderts haben sich dadurch – während und durch die Verbürgerlichung – die Spielräume der Judenheit verändert. b) Als eine wichtige externe Konstellation in diesem sich verändernden Bewegungsraum Verbürgerlichung wirkte sich die Nationalstaatsbildung 1870/71 aus. Die neu geschaffene Nation als Staat wirkte auf die DeÀnition von Zugehörigkeit zurück, forderte zu neuen Formen und Vorstellungen von Einheit heraus. Im Berliner Antisemitismusstreit ging es – auch – um die Frage, wie nationale Einheit zu schaffen sei. Der veränderte staatspolitische Rahmen der deutschen Nation erforderte andere politische Symbole, schuf neue politische Legitimationen. Worum ging es im Antisemitismusstreit? Um Juden – aber nicht nur. Es ging um die Frage, was „deutsch“ ist. Was hieß es nach der Reichsgründung, deutsch zu sein bzw. deutsch sein zu wollen? Heinrich von Treitschke trat einerseits klar für die Beibehaltung der Emanzipation ein – er klagte andrerseits aber, es fehle in Deutschland an der inneren Festigkeit der Nation. Die Deutschen hätten keinen „nationalen Stil“, keine „durchgebildete Eigenart“, deshalb seien sie so wehrlos gegen „fremdes Wesen“. Hier liegt der Kern der Debatte. Selbst Theodor Mommsen erwartete seit 1871 „nicht blos Einheit, sondern auch Einigkeit“. Die Nationalstaatsbildung spitzte die Frage zu, wie Einheit zu erlangen sei. Dass man in Deutschland nach sozialmoralischen Grundlagen für nationale Einheit suchte, ist offenkundig. Bürgerlichkeit allein reichte dafür nicht aus. c) Eine Basis für diese innere Einheit wurde in der Religion gesehen – genauer, im Christentum. Diese Differenz ist schon seit dem Vormärz immer wieder betont worden und kristallisierte sich bei den Debatten über die Judenfrage seit der Emanzipationszeit als zentrale Scheidelinie heraus – für die nicht jüdischen Teilnehmer der Debatte.51 In dem Maße, wie die Reichsgründung die Frage der Staatsbildung im nationalen Rahmen forcierte, wirkte dieser alte Exklusionskanal auf neue Weise. Es scheint lohnend, diese Gemengelage von religiösen, nationalen und rassistischen Vorstellungen von Einheit und ihre Auswirkungen auf das Miteinander von Juden und Nichtjuden noch detaillierter zu untersuchen. An den neuen Ausgrenzungsmechanismen waren viele Bürger beteiligt – zu kurz aber erscheint es mir, die Ausgrenzung der Juden an sich auf das Kulturmuster Bürgerlichkeit zurückzuführen.

51 Vgl. A. PURSCHWITZ, Verbesserung (wie Anm. 47).

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d) Die Verbürgerlichung der Juden im 19. Jahrhundert stellt einen ambivalenten Vorgang dar, und zwar weniger auf Grund der Problematik von Begriffen wie Assimilation, als vielmehr aufgrund der sehr unterschiedlichen Bilanz, je nachdem, welche Dimensionen man ins Auge fasst. Hinsichtlich einer „Vergesellschaftung“ fällt die Bilanz des Verbürgerlichungsprozesses durchaus positiv aus. Das, was Volkov „wie die anderen sein“ genannt hat und was sich mit Weber als Vergesellschaftung bezeichnen lässt, verkörpert zweifellos eine Erfolgsgeschichte. Hinsichtlich des „mit den anderen Seins“, damit einer „Vergemeinschaftung“ (subjektiv gefühlter Zusammengehörigkeit) sieht die Bilanz im frühen 20. Jahrhundert weniger positiv aus. Auch wenn die Mischehen gerade in den 1920er Jahren zunahmen, überdauerten im alltäglichen Leben bestehende Trennlinien, neue kamen hinzu. Es blieben deshalb osmotische Grenzen zwischen jüdischen und nichtjüdischen Bürgern bestehen. Die Verbürgerlichung an sich beförderte nur in begrenztem Maße eine Vergemeinschaftung als „Bürger“. Denn das Gefühl für eine gemeinsame Lage erzeugt noch keine Vergemeinschaftung. „Erst wenn“, so Weber, Menschen „auf Grund dieses Gefühls ihr Verhalten irgendwie aneinander orientieren, entsteht eine soziale Beziehung zwischen ihnen – nicht nur: jedes von ihnen zur Umwelt – und erst, soweit diese eine gefühlte Zusammengehörigkeit dokumentiert, ‚Gemeinschaft‘.“52 Da Bürgerlichkeit jedoch immer auch den Anspruch auf universalistische Offenheit erhob und die bürgerliche Gesellschaft als Ordnungsmodell dennoch weit mehr auf Vergesellschaftungsprozesse setzte, blieb das Potential für Gemeinschaftsbildung begrenzt. Impulse für Gemeinschaftsbildungen erfolgten jedoch langfristig eher durch den Bezug auf Ordnungsmodelle wie Nation, Religion oder Rasse. Auch die politischen Umbrüche wie nach 1806, 1848 oder 1871 standen in der Wahrnehmung der Zeitgenossen ja nicht unter dem dominanten Vorzeichen einer „Verbürgerlichung“, einer emotionalen AuÁadung des Ordnungsmodells bürgerlicher Gesellschaft. Nur dadurch aber hätten historisch-politische Impulse für Vergemeinschaftung unter dem Vorzeichen von Bürgerlichkeit erfolgen können. Die „gefühlte Zusammengehörigkeit“ rekurrierte auf andere Ligaturen als auf bürgerliche. Dies kann man als Schwäche der bürgerlichen Ordnungsidee bezeichnen; es induziert aber vor allem eine besondere Konstellation von Faktoren (späte Nationalstaatsbildung, Krieg, föderale und konfessionelle Trennungen, Stellung des Adels etc.), welche die Ausbildung und Durchsetzung von Bürgerlichkeit in den deutschen Territorien beeinÁussten. Ein speziÀscher Hang zur Ausgrenzung von Juden ist darin, so habe ich versucht zu zeigen, nicht zu erkennen.

52 M. WEBER, Wirtschaft (wie Anm. 10), S. 22.

Inklusion und Exklusion von Frauen. Überlegungen zum liberalen Emanzipationsprojekt im Kaiserreich Barbara Vogel

1. Einleitung Emanzipation ist unstreitig ein Programmpunkt im Liberalismus. Was jedoch unter Emanzipation verstanden sein soll, bedarf jeweils eigener Erläuterungen. Zwischen rechtlicher Gleichstellung, deren Anerkennung oder auch Einschränkung im Alltag und gesellschaftlicher Integration von Gruppen und Individuen tun sich deutliche Unterschiede auf. Diskurse über „Judenemanzipation“ und „Frauenemanzipation“ erstreckten sich in Deutschland über viele Jahrzehnte des 19. und 20. Jahrhunderts. Sie führten unterschiedlich schnell zu realen Veränderungen des rechtlichen und gesellschaftlichen Status von Juden einerseits und Frauen andererseits. Im Falle der Judenemanzipation mündete der Emanzipationsprozess 1871 bei Gründung des Deutschen Reiches in verfassungsmäßig verbürgte Rechtsgleichheit. Ein ähnlich bündiges Datum gibt es im Falle der bürgerlichen Gleichstellung des weiblichen Geschlechts nicht. Gleiche Rechte für Frauen zogen sich hin, erfolgten schleppend in vielen einzelnen kleinen Schritten und Rückschritten bis in die zweite Hälfte des 20. Jahrhunderts. Doch trotz gesetzlicher Gleichstellung wirkten faktische Ungleichbehandlungen im gesellschaftlichen, wirtschaftlichen und politischen Raum fort, so dass in jedem Fall, für die Juden- wie die Frauenemanzipation, die Frage bestehen bleibt, wie sich der Liberalismus zur Verwirklichung gesellschaftlicher Anerkennung der Emanzipation stellte. In Bezug auf die Geschichte der Judenemanzipation geht die Forschung inzwischen davon aus, dass die liberale Position sich mehr von dem programmatischen Gleichheitsgrundsatz als solchem leiten ließ als von der Bereitschaft, Juden als Gleiche zu akzeptieren. Immerhin war der Gleichheitsgrundsatz stark genug, um in den antisemitischen Wellen des Kaiserreichs um 1878ff, 1890ff und 1912 eine Revision der Emanzipationsgesetzgebung zu verhindern. Die Ausgangslage für Frauenemanzipation stellt sich anders dar: Dem liberalen Gleichheitsgrundsatz stand hier die Überzeugung von der natürlichen Ungleichheit der Geschlechter entgegen, was Initiativen zur rechtlichen Gleichstellung durchgehend schwächte. In den Auseinandersetzungen im 19. und 20 Jahrhundert zeigt sich, dass Frauenemanzipation eher ein Projekt liberaler Frauen als des Liberalismus generell war. Auch darin unterscheiden

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sich die beiden Emanzipationsgeschichten: Judenemanzipation wurde nicht nur von Juden, sondern, zahlenmäßig sogar überwiegend, von liberalen Nichtjuden gefordert, während die Frauenemanzipation fast ausschließlich ein Programmpunkt liberaler Frauen war. Für Emanzipationsprozesse ist folglich jeweils ihre Abhängigkeit von den Gruppen, um die es ging, zu berücksichtigen. Wenn der Erfolg von Emanzipation an gesellschaftlicher Integration gemessen wird, wenn also Inklusion bzw. Exklusion zentrale Indikatoren für die Verwirklichung von Emanzipation darstellen,1 wird die Vergleichbarkeit von Frauen- und Judenemanzipation noch komplizierter. Denn anders als die Integrierbarkeit von Juden bezweifelte niemand die Zugehörigkeit von (bürgerlichen) Frauen: Deren gesellschaftliche Stellung und Anerkennung war von der ihres Ehemannes und/oder ihrer Familie abgeleitet. Es entsteht darum ein schiefer Eindruck bei Formulierungen, dass Frauenemanzipation um gesellschaftlicher Integration willen erstrebt worden sei. Eher könnte man von einer Loslösung bzw. einem Ausbruch aus der gegebenen, traditionellen gesellschaftlichen Integration sprechen. Die Grenzen, vor allem aber das Scheitern von Emanzipation – spektakulär zu Beginn der nationalsozialistischen Herrschaft in Deutschland, als beide Gruppen, wenngleich in dramatisch unterschiedlicher Weise, davon betroffen waren – stellen an den Liberalismus Fragen aus zwei Richtungen, zum einen ob es im Liberalismus selbst Bedingungen gab, die ihn daran hinderten, das liberale Projekt Emanzipation ungebremst zu verfolgen, zum anderen ob das liberale Projekt wegen der zunehmenden Marginalisierung des Liberalismus im politischen Spektrum des Kaiserreichs und der Weimarer Republik unterging. Marginalisierung und Erosion des Liberalismus stehen in engem Zusammenhang mit der AuÁösung des bürgerlichen Milieus, so dass auch Bürgerlichkeit für Erfolge und Grenzen des liberalen Emanzipationsprojekts ein Stichwort liefert. Die folgenden Überlegungen greifen zunächst die zentralen Begriffskonstrukte auf: Liberalismus, Emanzipation, Integration und Inklusion/Exklusion unter der Fragestellung, inwiefern sie zur Erklärung der Geschichte der Juden und der Frauen in Deutschland beitragen können (2.). Sodann erwägen sie die Tragfähigkeit des Konstrukts Bürgerlichkeit als Alternative zum Konstrukt Liberalismus (3.). Anschließend soll die Vergleichbarkeit von Juden- und Frauenemanzipation geprüft werden (4.), um schließlich nochmals den KonÁikt der Emanzipationsforderungen mit der bürgerlichen Geschlechterordnung aufzuzeigen (5.). Die Überlegungen schließen an die Beiträge und Diskussio-

1

Vgl. dazu DIETER LANGEWIESCHE: Nationalismus im 19. und 20. Jahrhundert: zwischen Partizipation und Aggression. Vortrag vor dem Gesprächskreis Geschichte der FriedrichEbert-Stiftung in Bonn am 24. Januar 1994, auch erschienen in: DERS.: Nation, Nationalismus, Nationalstaat in Deutschland und Europa, München 2000, S. 35–54.

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nen des Theodor-Heuss-Kolloquiums im Oktober 2008 an und sind von ihnen angeregt. 2. Begriffskonnotationen Der komplexe Zusammenhang von „Liberalismus und Emanzipation“ führt immer wieder dazu, eine doppelte Frage zu stellen: „was ist liberal“ und „wer ist liberal“. Im ersten Fall geht es um DeÀnitionskriterien für den abstrakten Begriff Liberalismus, der sich im Laufe des 19. und 20. Jahrhunderts in verschiedenen Metamorphosen zeigte; im zweiten um Individuen, um Selbst- und Fremdzuschreibungen weltanschaulicher Haltungen und politischer Einstellungen. Nur unter Berücksichtigung des historischen Wandels sind Urteile und Vergleiche über Menschen und Weltanschauungen, über „Leistungen“ oder „Versagen“ des Liberalismus in der deutschen Gesellschaft des 19. und 20. Jahrhunderts möglich. Die genannten Wellen von Antisemitismus gingen auch an den Liberalen nicht spurlos vorüber. In Sachen Frauenemanzipation war der Damm gegen gymnasiale Schulbildung, gegen Abitur und Universitätsstudium seit 1908 gebrochen, so dass junge Frauen verstärkt diesen QualiÀkationsweg einschlugen. Umwege wurden seltener, aber so etwas wie eine Selbstverständlichkeit akademischer Ausbildung und Berufstätigkeit stellte sich keineswegs ein und blieb auch in der Weimarer Republik auf eine kleine Minderheit beschränkt. Der rechtlich jetzt möglichen Universitätskarriere von Frauen standen mentale gesellschaftliche Hindernisse entgegen. Im biographischen Zugang erhält die doppelte Frage besondere Brisanz, weil es für die darunter fallenden „Liberalen“ um ihre eigene Sache ging. Als Individuen waren sie nicht nur Nutznießer, sondern auch Leidtragende von gesellschaftlichen Entwicklungen, an denen der Liberalismus mitwirkte. Die umständliche Formulierung „Mitwirkung“ soll andeuten, dass ein Faktor allein, der Liberalismus, zur Erklärung von Befunden zu den Biographien, den Haltungen wie den Erfahrungen von Individuen nicht ausreicht. Historische Analyse geht fehl, wenn sie einen einzelnen Faktor isoliert, anstatt die jeweiligen Zusammenhänge, in denen er steht, zu berücksichtigen. Wenn es um Emanzipationshindernisse geht, ist deshalb auch nach Formen und Wirkungen von Antiliberalismus zu fragen. Womöglich aber lässt sich Antiliberalismus nicht nur als Merkmal und Motiv bei den Gegnern des Liberalismus, sondern auch bei Liberalen selbst Ànden. Die zunächst hypothetische Frage, ob und inwiefern Liberale illiberal dachten und handelten, ob dem Liberalismus sogar prinzipiell oder temporär illiberale Tendenzen innewohnten, ist bei der Liberalismusanalyse nicht auszusparen.2 2

Vgl. das Vorwort von HEINRICH AUGUST WINKLER: Liberalismus und Antiliberalismus. Studien zur politischen Sozialgeschichte des 19. und 20. Jahrhunderts, Göttingen 1979, S. 9.

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„Emanzipation“ ist ein Schlüsselbegriff im gesellschaftlichen Projekt des Liberalismus. Aber jede These ginge fehl, die das Scheitern von Emanzipation oder die Probleme bei der Verwirklichung von Emanzipation allein oder auch nur vornehmlich dem Liberalismus anlastete. Der Liberalismus war niemals einziger Akteur auf der politischen und gesellschaftlichen Bühne, d. h. er war immer auch Reagierender; er musste sich zu Angriffen und Herausforderungen anderer, bisweilen stärkerer politischer und zeitgeistiger Strömungen verhalten. Deshalb ist ständig das politische und gesellschaftliche Spannungsfeld zu beachten. Die heutige Sprachregelung in der Forschung behält den Begriff Emanzipation der rechtlichen Gleichstellung vor. Wenn es darüber hinaus um gesellschaftliche Integration von Individuen und Gruppen geht, löst der Begriff Emanzipation leicht Missverständnisse aus, wie sie schon in den zeitgenössischen Debatten erkennbar sind. Die Rede von Frauen- und Judenemanzipation deutet in jedem Fall auf eine Mehrschichtigkeit des Begriffs hin. Obwohl sich Emanzipation der Juden und die der Frauen nicht einfach parallelisieren lassen, ist ein Vergleich sinnvoll, weil er aufschlussreiche Aspekte sowohl für die Geschichte der Juden in Deutschland als auch für die der Frauen erhellt. Divergenzen gibt es nicht nur bei den zeitlichen Dimensionen ihrer Emanzipationsprozesse, sondern vor allem auch bei den Erwartungen, die Zeitgenossen und -genossinnen an die Juden- und die Frauenemanzipation stellten. Auch für Liberale und den Liberalismus bewegte sich Emanzipation in unterschiedlichen Kontexten, je nachdem, ob es sich um Juden oder Frauen handelte. Die traditionellen Judenbilder waren nahezu alle negativ konnotiert, belastet mit historischen Ressentiments: Juden als Andere, als Fremde, als Störenfriede. Im Vergleich dazu erscheinen die gängigen Frauenbilder positiv oder positiv gemeint. In beiden Fällen perpetuierten sich darin Traditionen, aber Frauenbilder waren aus überlieferten Geschlechterverhältnissen gewonnen. Sie sprachen den Frauen eine wichtige Funktion in der bürgerlichen Familie zu und werteten die damit verbundene Beschränkung des weiblichen Aktionsradius auf, indem die Frau mit der Fürsorge für die Familie diese Keimzelle der bürgerlichen Gesellschaft garantieren sollte. Alle Erziehungskonzepte für das weibliche Geschlecht waren auf die Aufgabe, Gattin, Hausfrau und Mutter zu sein, zugeschnitten, wie es in dem seinerzeitigen Bestseller „Väterlicher Rat für meine Tochter“ von Joachim Heinrich Campe (1789) formuliert war.3 Juden als eine jenseits und unterhalb der ständischen Gesellschaft stehende Gruppe sollten ihre historisch erklärbaren, aber störenden Eigenschaften ablegen, um nach erfolgreichem Erziehungsprogramm nützliche Glieder der Gesellschaft werden zu können4 – was Frauen, so sie im Rahmen der bürger3

4

JOACHIM HEINRICH CAMPE: Väterlicher Rat für meine Tochter. Ein Gegenstück zum Theophron. Der erwachsenen weiblichen Jugend gewidmet, 2 Bde., Braunschweig 1792 (1. AuÁ.: 1789). Vgl. CHRISTIAN WILHELM DOHM: Über die bürgerliche Verbesserung der Juden (1781/83), NeuauÁ.: Hildesheim/New York 1973.

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lichen Geschlechterrollen blieben, schon immer waren. Als Theodor von Hippel in Analogie zu Wilhelm Dohm ein solches Erziehungsprogramm auch für Frauen entwickelte, also „die bürgerliche Verbesserung der Weiber“ (1792) vorschlug, erntete er bei seinen Zeitgenossen einen Heiterkeitserfolg.5 Aus den unterschiedlichen Voraussetzungen für rechtliche Gleichstellung und gesellschaftliche Akzeptanz folgt, dass bei einem Vergleich der „Gruppen“ Frauen und Juden eine grundsätzliche Asymmetrie zu bedenken ist. Asymmetrisch sind die beiden Sozialgruppen im Übrigen schon wegen ihrer unterschiedlichen Größe: Juden bildeten eine kleine Minderheit in der Bevölkerung, während Frauen – das ist zu einem gern benutzten Topos avanciert – quantitativ die Hälfte der Menschheit ausmachen. Der Ausdruck „Gruppe“ passt nicht, wenn er auf das weibliche Geschlecht angewandt wird. Emanzipation als Integration verstanden signalisiert also zunächst Unterschiede. Was vor allem heißt „gesellschaftliche Integration“, die auf dem Wege der Rechtsgleichheit zu ermöglichen sei? Dem Integrationsbegriff liegt dann ein Homogenitätskonzept zugrunde, dessen gefürchtetes Gegenteil Inhomogenität ist, die, mit „Desintegration“ gleichgesetzt, die Abneigung gegen gesellschaftlichen Pluralismus verstärkt. Seit der breiten Rezeption der Nationsbildungskonzepte in der Geschichtswissenschaft tendiert „Integration“ als Homogenität, verbündet womöglich noch mit „Identität“, dazu, zu einem besonders hohen gesellschaftsbildenden Wert zu avancieren. Inklusionen und Exklusionen werden dadurch zu zwei Seiten einer Medaille: Die Integrationspolitik stellt Homogenitätsbedingungen für die Aufnahme, die folglich auch verweigert werden kann. Mit der Integrationsthematik auf der Grundlage von Inklusionen und Exklusionen tritt die Bedeutung von Emanzipation als Herstellung und Bedingung individueller Freiheit zurück hinter der Frage, auf welche Weise Rechtsgleichheit die Sonderstellung oder Ausgrenzung einer Gruppe beenden kann oder womöglich neu begründet. Bei der Emanzipationsforderung (von Juden und von Frauen) geht es demnach über eine Garantie individuell wirksamer und individuell nutzbarer Rechtsgleichheit hinaus um die Anschlussfähigkeit dieser bisher außerhalb stehenden Sozialgruppen an die Gesellschaft. Juden sollten mit der Emanzipation „Bürger“ werden mit allen Rechten und PÁichten und Aufnahme in die bürgerliche Gesellschaft Ànden. Es ist nicht unwichtig anzumerken, dass diese Ablaufvorstellung ein Konstrukt ist: In der historischen Entwicklung vollzogen sich die Herausbildung der bürgerlichen Gesellschaft und die Integration der Juden nicht nach5

THEODOR GOTTLIEB VON HIPPEL: Über die bürgerliche Verbesserung der Weiber (1792), ND: Vaduz/Liechtenstein 1981, mit einer Einleitung v. Juliane Dittrich-Jacobi; ULRIKE WECKEL: Gleichheit auf dem Prüfstand. Zur zeitgenössischen Rezeption der Streitschriften von Theodor Gottlieb von Hippel und Mary Wollstonecraft in Deutschland, in: CLAUDIA OPITZ / ULRIKE WECKEL / ELKE KLEINAU (Hg.): Tugend, Vernunft und Gefühl. Geschlechterdiskurse der Aufklärung und weibliche Lebenswelten, Münster 2000, S. 209–247.

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einander, sondern in wechselseitiger BeeinÁussung. Die Juden traten nicht (nachträglich) in eine fertige bürgerliche Gesellschaft ein, sondern an deren Formierung beteiligte sich nicht nur die Mehrheit, sondern ebenfalls die Minderheit.6 Für Frauen passt dieser Integrationsbegriff überhaupt nicht recht. Sie waren nicht aus der bürgerlichen Gesellschaft Ausgeschlossene. „Natürlich“ waren sie nicht „Bürger“, weil sie keine Männer waren. Aber die bürgerliche Gesellschaft als soziales wie als kulturelles Konstrukt setzte sich nicht exklusiv aus Männern zusammen. Zwar beanspruchten Männer sämtliche Herrschaftstitel in dieser Gesellschaft, aber beide Geschlechter, Männer und Frauen, besaßen ihren Ort innerhalb der bürgerlichen Gesellschaft, deutlich unterschieden, in hierarchischer Rangfolge und getrennt nach ihrem Status als Mann oder Frau. Die Forderung nach Frauenemanzipation lehnte sich gegen diese Raumaufteilung auf; ihre Verwirklichung stellte folglich andere, höhere Anforderungen an die Entwicklungsfähigkeit und Entwicklungsrichtung der bürgerlichen Gesellschaft als die Judenemanzipation. Denn sie müsste die bürgerliche Gesellschaft grundlegend verändern. Die Frage, was Integration heißt und bedeuten soll, wird oft direkt mit Inklusionsentscheidungen, die notwendig mit Exklusionen einhergehen, verbunden. Reinhard Rürup hat schon früh darauf hingewiesen, dass die gesetzlich vollzogene Rechtsgleichheit der Juden eine neue Welle des Antisemitismus auslöste, von Rürup treffend postemanzipatorisch genannt. 7 Analog könnte man in der neuen Welle des Antifeminismus im Kaiserreich um 1912 eine Reaktion auf die gesetzliche Gleichstellung von Frauen im Bildungs- und Vereinswesen sehen, so dass die Gesetzgebung des Jahres 1908 zum Auslöser eines postemanzipatorischen Antifeminismus wurde.8 Allerdings traten in beiden Fällen nicht die Liberalen oder der Liberalismus, sondern seine politischen Gegner als Träger oder gar Initiatoren der Exklusionsforderungen auf. Wie entschieden sich die Liberalen zur Abwehr von Antisemitismus und Antifeminismus bereit fanden, ist dennoch eine berechtigte Frage. Wegen des deÀnitorischen Zusammenhangs von Inklusion und Exklusion ist es wahrscheinlich, dass auch im Liberalismus Prinzipien wirkten, die den Ausschluss von Juden oder Frauen (insgeheim oder indirekt) bestärkten.

6

7

8

Vgl. SHULAMIT VOLKOV: Minderheiten und Nationalstaat. Eine postmoderne Perspektive, in: DIES.: Das jüdische Projekt der Moderne, München 2001, S. 13–31, zuerst als Beitrag in: MICHAEL GRÜTTNER / RÜDIGER HACHTMANN / HEINZ-GERHARD HAUPT (Hg.): Geschichte und Emanzipation. Festschrift für Reinhard Rürup, Frankfurt a. M. 1999, S. 58–74. Vgl. den Beitrag von REINHARD RÜRUP in diesem Band und DERS.: Judenemanzipation und bürgerliche Gesellschaft in Deutschland, in: WOLFGANG BENZ / WERNER BERGMANN (Hg.): Vorurteil und Völkermord. Entwicklungslinien des Antisemitismus, Bonn 1997, S. 117–158. Vgl. UTE PLANERT: Antifeminismus im Kaiserreich. Diskurs, soziale Formation und politische Mentalität, Göttingen 1998.

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3. „Bürgerlichkeit“ oder „Liberalismus“? Es spricht vieles dafür, die Emanzipation der Juden als Verbürgerlichungsprozess zu beschreiben. Die (liberale) Frauenbewegung war von Anfang an bürgerlich und insofern Teil der bürgerlichen Gesellschaft. Dennoch bringt es keine Lösung für die Frage nach dem liberalen Emanzipationsprojekt, es einfach als einen der Bürgerlichkeit immanenten Vorgang zu betrachten. Wenn Integration in die bürgerliche Gesellschaft auf der Verbundenheit mit dem „bürgerlichen Wertehimmel“9 beruht, wird es umso dringlicher, zu problematisieren, was Bürgerlichkeit mit Liberalismus zu tun hat. Beides ist ja nicht synonym zu setzen. Zum einen ist die Gleichung zwischen Liberalismus und der Ideologie des Bürgertums spätestens seit den geschichtswissenschaftlichen Diskussionen der 1980er Jahre in Frage gestellt worden durch die Entdeckung von Liberalismus in unterschiedlichen Sozialmilieus: Adelsliberalismus, Gutsbesitzerliberalismus, Beamtenliberalismus.10 Auch wenn alles dies nur „Ausnahmen“ oder „Sonderformen“ von Liberalismus sein sollten, bleibt das Faktum, dass Liberalismus auch jenseits des Bürgertums Zustimmung gefunden hat. Diese These führt allerdings zu der DeÀnitionsproblematik: Was ist Bürgertum und wer gehört dazu? Umgekehrt ist deutlich geworden, dass nicht alle Bürger (nach soziologischer Bestimmung) zu den Liberalen zu zählen sind, dass das Bürgertum eben nicht grundsätzlich liberal ist. Das „bürgerliche“ Wertesystem mit Liberalismus gleichzusetzen verwechselt GruppenidentiÀkation mit Individualentscheidungen. Empirisch stimmt die Gleichsetzung nicht: „Bürgerlichkeit“ in Lebensstil und Habitus muss nicht zur Stimmabgabe für einen liberalen Kandidaten bzw. eine liberale Partei führen, weder im 20. noch im 19. Jahrhundert. Kulturelle bürgerliche Identität kommt nicht unbedingt liberal daher. Wenn die Kategorie Bürgerlichkeit beim Thema Liberalismus helfen soll, muss geklärt sein, welche Merkmale im „bürgerlichen“ Wertesystem liberal genannt werden können und welche nicht. Staatsbürgerliche Gleichberechtigung kann sicherlich als liberaler Grundsatz gelten, die Verächtlichmachung des französischen Impressionismus im wilhelminischen Kulturbetrieb dagegen nicht. Das bürgerliche Mischungsverhältnis von liberal und konservativ änderte sich unter der Hand. Es ist keine neue These, dass der Liberalismus im Laufe des 19. Jahrhunderts und erst recht im 20. Jahrhundert konservativer wurde. Meines Erachtens liegt hier ein wichtiger Ansatz zur Erklärung der Exklusions- und Inklusionsmechanismen: Bürgerlicher Antisemitismus und bürgerlicher Antifeminismus sind nicht genuin liberale Produkte, aber sie drangen in unterschiedlicher Form, durch Aufnahme neuer Vorstellungen und alter Ressentiments, auch in den Liberalismus ein. 9

MANFRED HETTLING: Der bürgerliche Wertehimmel. Innenansichten des 19. Jahrhunderts, Göttingen 2000. 10 Vgl. die Beiträge in: DIETER LANGEWIESCHE (Hg.): Liberalismus im 19. Jahrhundert. Deutschland im europäischen Vergleich, Göttingen 1988.

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Bei der Gleichsetzung von Liberalismus mit Bürgertum, von Juden und bürgerlicher Frauenbewegung mit Liberalismus, handelt es sich um stereotyp wirkende IdentiÀzierungen. Die bürgerliche Frauenbewegung vereinte Individuen und Kollektivmitglieder, die wahrscheinlich – offensichtlich in ihren Verlautbarungen – mehrheitlich dem Liberalismus zuneigten, was sich seit 1908 im Beitritt führender Frauenrechtlerinnen in die liberalen Parteien zu bestätigen schien. Charakteristisch jedoch für das liberal-konservative Mischungsverhältnis ist es, dass diese parteipolitische Option innerhalb des Bunds Deutscher Frauenvereine (BDF) heftig diskutiert und kritisiert wurde. In der Weimarer Republik traten die aktiven Frauenvereine des konservativen Lagers immer stärker hervor. Die Sprachregelung der Frauenforschung hat sich allzu lange mit aus den Quellen stammenden Epitheta wie „gemäßigt“ und „radikal“ beholfen, die aber anders motiviert waren und prompt zu neuen Interpretationsschwierigkeiten führten. Was die Zuordnung der Juden zum Liberalismus betrifft, hat schon im Jahre 1928 der jüdische Bankier Rudolf Kaulla den Versuch unternommen, die gängige IdentiÀzierung der Juden mit dem Liberalismus in Frage zu stellen.11 Ihn trieb der trügerische Wunsch, antisemitische Zuschreibungen zu widerlegen, um Vorurteilen die Grundlage zu entziehen. Kaulla beschrieb das Judentum als „konservatives Element“, berief sich auf das Beispiel Westeuropas, insbesondere Englands, wo „das jüdische Bürgertum zum großen Teil im konservativen Lager“12 stehe. Ähnlich ist Walther Rathenaus Appell an die Juden von 1897 unter dem etwas manierierten Titel „Höre Israel!“13 darauf Àxiert, die Juden in „bürgerliche Schranken“, und das heißt ins konservativ-nationalliberale Lager, zu verweisen.14 Kaulla konzediert, das Fundament der Emanzipation sei zweifellos der liberale Gedanke gewesen, woraus sich tatsächlich eine Präferenz der Juden für liberale Parteien ergeben habe.15 Insofern interpretiert er das gängige antisemitische Argument vom „zersetzenden EinÁuss“ der Juden als ein Instrument von Konservativen, um gegen den vermeintlich „zersetzenden EinÁuss“ des Liberalismus vorzugehen.16 Die damit angesprochene Funktionalisierung des Antisemitismus für den Kampf gegen den Liberalismus,17 kann auch einen Zugang zur Beantwortung der Frage bieten, wie es dazu kam, dass Liberale die Grundsätze von Gleichberechtigung und Emanzipation einschränkten oder 11 12 13

14 15 16 17

RUDOLF KAULLA: Der Liberalismus und die deutschen Juden. Das Judentum als konservatives Element, München/Leipzig 1928. Ebd., S. 72. WALTHER RATHENAU: Höre Israel! (1897), abgedruckt in: Deutschtum und Judentum. Ein Disput unter Juden aus Deutschland, hg. v. Christoph Schulte, Stuttgart 1994, S. 16– 39. Vgl. den Beitrag von CHRISTIAN SCHÖLZEL in diesem Band. R. KAULLA, Liberalismus (wie Anm. 11), S. 69. Ebd., S. 2. Neuerdings dazu: HENNING ALBRECHT: Antiliberalismus und Antisemitismus. Hermann Wagener und die preußischen Sozialkonservativen 1855–1873, Paderborn 2009.

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aufgaben: Der Liberalismus fand sich durch die antiliberal gerichtete Instrumentalisierung des Antisemitismus wie des Antifeminismus – obwohl beides nicht gleich einzuordnen ist – in einer Defensivposition wieder. Von unterschiedlichen Konstellationen war es abhängig, ob Liberale den Antisemitismus (und Antifeminismus) entschieden zurückwiesen oder sich darauf einließen, in der Hoffnung, dem Antiliberalismus durch Konzilianz und Entgegenkommen die Spitze abzubrechen.

4. Grenzen der Vergleichbarkeit von Juden- und Frauenemanzipation Der Integrationsbegriff erscheint, angewendet auf eine Minderheit in der Bevölkerung einleuchtend, wirft aber Interpretationsfragen auf, wenn es sich um die „Hälfte der Menschheit“ handelt. Die Juden befanden sich überall, auch dort wo große jüdische Gemeinden existierten, in deutlicher Minderheitsposition gegenüber der nicht-jüdischen Bevölkerung. Daran änderte sich nichts, als durch vordringende antisemitische Wahrnehmung auch alle zum Christentum konvertierten Juden ebenso wie Nichtreligiöse der jüdischen Bevölkerungsgruppe zugerechnet wurden. Neuerdings ist das Theorem Minderheit in die Diskussion geraten.18 Ähnlich wie beim Integrationsbegriff wird vorgeschlagen, zu berücksichtigen, dass die Beziehungen zwischen Mehrheit und Minderheit immer auf Wechselwirkungen beruhen und es darüber hinaus fragwürdig ist, streng zwischen Mehrheits- und Minderheitskultur zu unterscheiden.19 Trotz der quantitativen Größenverhältnisse zwischen Frauen und Männern in der Gesellschaft geht der Minderheitenbegriff in der Emanzipationsdebatte dennoch auch hier nicht völlig fehl, denn die bürgerliche Frauenbewegung erfasste nur eine kleine Minderheit der Frauen, was ihr auch ständig vorgehalten wurde. Der weit überwiegende Teil der Frauen hatte sich in der geschlechtsspeziÀschen Aufgabenteilung der bürgerlichen Gesellschaft durchaus zustimmend eingerichtet,20 so dass die Frauenbewegung lange Zeit effektvoll als ein HäuÁein von Realitätsvergessenen, die natürliche Geschlechterordnung abstreitenden Megären dargestellt werden konnte.21 Die politische Dimension in den Emanzipationsprozessen bleibt die entscheidende; sie beeinÁusst mit Aktion und Reaktion auch strukturelle Kom18 Vgl. INKA THANH-MAI LÊ-HŔU: Johanna Goldschmidts Beitrag zur Begegnung jüdischer und christlicher Frauen Mitte des 19. Jahrhunderts: Der Roman „Rebekka und Amalia“ und der „Sociale Frauenverein“, unveröffentlichte Magisterarbeit, Hamburg 2006. 19 Vgl. TILL VAN RAHDEN: Von der Eintracht zur Vielfalt: Juden in der Geschichte des deutschen Bürgertums, in: ANDREAS GOTZMANN u. a. (Hg.): Juden, Bürger, Deutsche. Zur Geschichte von Vielfalt und Differenz 1800–1933, Tübingen 2001, S. 9–31. 20 Vgl. GUNILLA-FRIEDERIKE BUDDE: Auf dem Weg ins Bürgerleben. Kindheit und Erziehung in deutschen und englischen Bürgerfamilien 1840–1914, Göttingen 1994. 21 Vgl. KATRIN SCHMERSAHL: Medizin und Geschlecht. Zur Konstruktion der Kategorie Geschlecht im medizinischen Diskurs des 19. Jahrhunderts, Opladen 1998.

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ponenten wie „soziale Integration“ und „kulturelle Identität“. Beide Begriffe sind nicht nur zur Analyse der Verbürgerlichung der Juden,22 sondern auch für die Frauenemanzipation zu prüfen, obwohl oder gerade weil weder das eine noch das andere in den zeitgenössischen Diskussionen ein Argument gegenüber den Gleichberechtigungsforderungen von Frauen war. Ihre Bürgerlichkeit bestritt den bürgerlichen Frauen niemand. Sie waren sozial integriert und identiÀzierten sich nicht nur mit bürgerlicher Kultur, sondern galten als deren Hüterinnen. In dieser IdentiÀkationsbildung spielten gerade auch jüdische Frauen eine wichtige Rolle, so dass ihnen ein erheblicher Anteil an dem „Aufstieg“ der Juden in der bürgerlichen Gesellschaft zugesprochen wird.23 Die kulturelle Identität in der bürgerlichen Gesellschaft beruhte, gestützt durch die demographischen Mehrheitsverhältnisse, ihrem Selbstverständnis nach auf dem Christentum, in Deutschland kompliziert durch die konfessionelle Spaltung. Die Bereitschaft der Juden zu kultureller Identität mit der bürgerlichen Gesellschaft wurde oft daran gemessen, ob sie sich zu einer christlichen Identität zu bekennen bereit waren. Doch, ob mit oder ohne Konversion, antisemitische Argumentation machte den Integrationsprozess der jüdischen Minderheit in die christliche Mehrheit zu einer Funktion des Protestes gegen das Modell der bürgerlichen Gesellschaft überhaupt (einschließlich Liberalismus und kapitalistischer Wirtschaftsweise). Gerade die Geschichte des Antisemitismus lässt es übrigens ratsam erscheinen, den in der geschichts- wie kulturwissenschaftlichen Forschung sehr beliebten Begriff Identität trotz oder wegen seiner hohen Sympathiewerte kritisch zu benutzen, weil ihm eine essentialistische Tendenz anhaftet. Es bietet sich an, stattdessen von IdentiÀkation zu sprechen, um die subjektiven Elemente des Identitätskonzepts deutlicher zu berücksichtigen.24 Im Unterschied zur Situation akkulturationswilliger Juden waren IdentiÀkationsprozesse für sich emanzipierende Frauen durch den Mangel an konkreten Utopien für die zukünftige Stellung des weiblichen Geschlechts in der Gesellschaft beeinträchtigt. Zwei weitere IdentiÀkations- und Integrationsbewegungen im 19. Jahrhundert be- oder verhinderten den Einschluss der Juden in die bürgerliche Gesellschaft:25 Zum einen der Nationalismus, der mit eigenen Zugehörigkeitssymbolen und Exklusionseffekten die bürgerliche Gesellschaft überlagerte, zum anderen die eben schon angesprochene gruppenbildende Kraft der Religion. Auch hier unterscheiden sich die Bedingungen der Emanzipationsprozesse erheblich, denn Juden und Frauen waren jeweils unterschiedlich in beide 22 Vgl. den Beitrag von MANFRED HETTLING in diesem Band. 23 Vgl. MARION A. KAPLAN: Jüdisches Bürgertum. Frau, Familie und Identität im Kaiserreich, Hamburg 1997. Vgl. zudem den Tagungsband von KIRSTEN HEINSOHN / STEFANIE SCHÜLER-SPRINGORUM (Hg.): Deutsch-jüdische Geschichte als Geschlechtergeschichte. Studien zum 19. und 20. Jahrhundert, Göttingen 2006. 24 Vgl. den Beitrag von KIRSTEN HEINSOHN in diesem Band. 25 Vgl. dazu den Beitrag von MANFRED HETTLING in diesem Band.

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IdentiÀkationen eingebunden. Ebenso wenig wie „Bürgerlichkeit“ wurde christlichen Frauen ihre Zugehörigkeit zur deutschen Nation bestritten. Dagegen bildete sich das Konstrukt der Nation mit der Ausgrenzung der Juden.26 Die Frage, warum die deutschen Juden in der deutschen Nation als Fremdkörper galten, haben prominente und weniger prominente Juden, die sich zu den deutschen Patrioten zählten, oft gestellt. Beispiele aus Hamburg reichen von Gabriel Riesser mit seinen bitteren Klagen darüber, dass ihm als Jude sein deutsches Vaterland streitig gemacht werde, bis zu dem deutschnationalen Rechtsprofessor Kurt Perels, der im September 1933 aus VerzweiÁung über seine „Ausbürgerung“ aus der deutschen Nation den Freitod wählte.27 Umgekehrt gab es auch bei Nationalliberalen Zeugnisse, wonach Juden für sie selbstverständlich Deutsche waren. Die Frage ist, warum diese Stimmen in der Minderheit blieben. Die argumentative Gegenüberstellung jüdisch und deutsch reicht bis in die wissenschaftliche Diskussion hinein; sie scheint sich nach der nationalsozialistischen Exklusion der Juden aus dem Deutschen Reich allgemein durchgesetzt zu haben. Die Frauenrechtlerinnen hatten nicht darum kämpfen müssen, zur deutschen Nation zu gehören, wohl aber lösten sie Unbehagen aus, sobald sie den Aktionsrahmen ihrer nationalen Empathie in der Öffentlichkeit über Mildtätigkeit und soziale Fürsorge hinaus ausdehnten.28 Frauenorganisationen, die den Nationalismus zu ihrem Programm erhoben, konnten mit öffentlicher Sympathie rechnen, sowohl die Vaterländischen Frauenvereine als auch der „nationale Frauendienst“ im Ersten Weltkrieg.29 Die zweite IdentiÀkations- und Integrationsbewegung, die im 19. Jahrhundert einen erheblichen Bindungs- und Gruppenbildungsfaktor darstellte, war die Religion. Bei der Exklusion von Juden wirkte der religiöse Antijudaismus trotz neu hinzugekommener Motive oder neuer Argumentationsmuster fort. Religiöse christliche IdentiÀkation wurde oft mit nationaler gleichgesetzt, während umgekehrt schwindende kirchliche und religiöse Bindung die Wir-

26 Vgl. PETER ALTER / CLAUS-EKKEHARD BÄRSCH / PETER BERGHOFF (Hg.): Die Konstruktion der Nation gegen die Juden, München 1999. 27 Vgl. ARNO HERZIG: Gabriel Riesser, Hamburg 2008; PETER FREIMARK: Juden an der Hamburger Universität, in: ECKART KRAUSE / LUDWIG HUBER / HOLGER FISCHER (Hg.): Hochschulalltag im „Dritten Reich“. Die Hamburger Universität 1933–1945, 3 Bde., Berlin/ Hamburg 1991, Bd. 1, S. 125–147, hier S. 138. Vgl. allgemein ERIK LINDNER: Patriotismus deutscher Juden von der napoleonischen Ära bis zum Kaiserreich. Zwischen korporativem Loyalismus und individueller deutsch-jüdischer Identität, Frankfurt a. M. 1997. 28 Vgl. die Beiträge in: UTE PLANERT (Hg.): Nation, Politik und Geschlecht. Frauenbewegungen und Nationalismus in der Moderne, Frankfurt a. M. 2000; IDA BLOOM / KAREN HAGEMANN / CATHERINE HALL (Hg.): Gendered Nations. Nationalism and Gender Order in the Long Nineteenth Century, Oxford/New York 2000. 29 Vgl. ANDREA SÜCHTING-HÄNGER: Das „Gewissen der Nation“. Nationales Engagement und politisches Handeln konservativer Frauenorganisationen 1900 bis 1937, Düsseldorf 2002.

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kung des Nationalismus, gleichsam als Ersatzreligion, verstärkte.30 Am deutlichsten stellt sich der enge Zusammenhang von Protestantismus und nationaler Identitätskonstruktion dar. Luthers Reformation wurde zu einer deutschen Bewegung stilisiert. Der Verdacht nationaler Unzuverlässigkeit richtete sich dann nicht allein auf die Juden, sondern auch auf die katholische Bevölkerung, vornehmlich in Preußen seit den 1830er Jahren, dann neuerlich nach der Reichsgründung im Kulturkampf, gespeist durch die katholisch-polnische Minderheit in den östlichen Provinzen Preußens. Die vielen Zeugnisse, dass Juden erst mit Übertritt zu einer christlichen Konfession ihre „volle“ Zugehörigkeit zur deutschen Nation beweisen würden,31 belegen die trennende Kraft des religiösen Bekenntnisses. Bei Antisemiten verlor allerdings das religiöse Argument gegenüber dem nationalen im Verlaufe des 19. Jahrhunderts an Bedeutung: Adolf Stoecker schmäht gerade die assimilierten Juden und nimmt die frommen verbal von seiner Kritik aus. Auch konservative Stimmen zeigten eine größere Sympathiebereitschaft gegenüber den frommen Juden, bei denen sie ja auch keine Emanzipationsforderung vermuteten; Hauptangriffsziel der Konservativen war das religiös liberale „Reformjudentum“. Sie beteuerten, Feindschaft nicht gegen jüdische Religiosität, sondern gegen jüdische Akkulturation zu hegen. Auch im Verhältnis zu Kirche und Religion sind Frauen nicht mit Juden vergleichbar; die Religion gab keinen Anlass zu einer Exklusion von Frauen, wobei ihnen allerdings wie auf gesellschaftlicher Ebene auch innerhalb der kirchlichen Hierarchien eine untergeordnete Stellung zugewiesen wurde. Ohne auf die These einzugehen, dass Frauen länger eine größere Nähe zur Religion auch im 19. Jahrhundert bewahrten und dass diese These für Christinnen und für Jüdinnen gleichermaßen zutrifft,32 ist für die Frage nach Emanzipation festzuhalten, dass es die religiöse Bindung war, die gläubige Frauen, ähnlich wie fromme Juden und Jüdinnen, lange davon abhielt, sich für Emanzipation zu engagieren. Die konfessionellen Frauenvereine konstituierten sich erst um die Jahrhundertwende und standen den Emanzipationsforderungen oft distanziert gegenüber, sie kämpften aber für die Emanzipation der Frauen innerhalb der kirchlichen Gemeinschaften.33 Emanzipation als liberales Projekt sah von der 30 Vgl. THOMAS NIPPERDEY: Religion im Umbruch. Deutschland 1870–1918, München 1988. 31 Vgl. den Beitrag von UFFA JENSEN in diesem Band und DERS.: Gebildete Doppelgänger. Bürgerliche Juden und Protestantismus im 19. Jahrhundert, Göttingen 2005. 32 Vgl. SYLVIA PALETSCHEK: Frauen und Dissens. Frauen im Deutschkatholizismus und in den freien Gemeinden 1841–1852, Göttingen 1990; URSULA BAUMANN: Protestantismus und Frauenemanzipation in Deutschland 1850 bis 1920, Frankfurt a. M./New York 1992. 33 Vgl. DORIS KAUFMANN: Frauen zwischen Aufbruch und Reaktion. Protestantische Frauenbewegung in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts, München 1988; GISELA BREUER: Frauenbewegung im Katholizismus. Der katholische Frauenbund 1903–1918, Frankfurt a. M./New York 1998.

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religiösen Bindung der Individuen ab und wurde deshalb unter Umständen als antireligiös wahrgenommen. Trennung von Staat und Kirche war einer der wichtigsten Grundsätze des Liberalismus. Liberale wandten sich gegen eine zu starke EinÁussnahme der Religion auf das öffentliche Leben, was prinzipiell gegen alle Religionen gleichermaßen gerichtet war. Dem Grundsatz widersprach nicht, dass vom südwestdeutschen Frühliberalismus bis zur Gründung der Nationalliberalen Partei die religiöse IdentiÀkation auch für Liberale eine individuell unterschiedlich wirksame Bindungskraft entwickelte. Historisch brisant wird die liberale Abgrenzung gegen den EinÁuss der Religion auf das Staatsleben wegen des gleichzeitigen Rückgangs von religiöser Bindung und einer allgemeinen Säkularisierung des öffentlichen Lebens. Dieser strukturelle Prozess lief nicht nur in den christlichen Konfessionen ab, sondern ähnlich im Judentum, und er erfasste Frauen später und langsamer als Männer. Dennoch ähnelte sich die Situation von Juden und Frauen, trotz aller Unterschiede, bei den Bereichen, aus denen sie ferngehalten werden sollten. In der Mitte des 19. Jahrhunderts hatte Friedrich Julius Stahl das Postulat vom „christlichen Staat“,34 in dem Juden keine obrigkeitlichen Funktionen innehaben durften, gefunden, und Wilhelm Heinrich Riehl machte das Wort geläuÀg, der Staat sei männlichen Geschlechts,35 um den Ausschluss von Frauen aus dem politischen Leben zu bekräftigen. Juden stießen an Zugangsgrenzen nicht nur durch die Vorstellung vom christlichen Staat, sondern auch von christlicher Kultur, die mit deutscher Kultur identiÀziert wurde.36 Insbesondere infolge dieser KulturdeÀnition dehnte sich die Exklusionstendenz gegenüber Juden auf Presse, auf Schul- und Erziehungswesen sowie seit dem frühen 20. Jahrhundert zunehmend auf Bildungsinstitutionen überhaupt wie die Universitäten aus. Dieser Identitäts-Diskurs machte liberalen Widerspruch, wenn es ihn denn gab, oft hilÁos. Ähnliche Zugangsgrenzen waren für Frauen gezogen, aber weiter gefasst und anders begründet. Das bürgerliche Geschlechtermodell schloss Frauen aus dem öffentlichen Raum grundsätzlich aus, mit tiefgreifenden Folgen, weil Öffentlichkeit eine der wichtigsten Kategorien für die Selbstdarstellung der bürgerlichen Gesellschaft bildete. Wegen ihres Ausschlusses aus der Öffentlichkeit blieb den bürgerlichen Frauen obendrein, anders als den Juden, zum Beispiel auch das Recht auf qualiÀzierte Erwerbstätigkeit vorenthalten. Der wesentliche Unterscheidungsgrund lag jedoch woanders und scheint Frauenemanzipation aus dem liberalen Projekt auszuschließen: Rechtsgleichheit für Frauen widersprach prinzipiell dem liberalen Grundsatz, „Glei-

34 Vgl. WILHELM FÜSSL: Professor in der Politik. Friedrich Julius Stahl (1802–1861), Göttingen 1988. 35 WILHELM HEINRICH RIEHL: Die Naturgeschichte des deutschen Volkes, Leipzig o. J., Teil 3: Die Familie, 1. Kapitel: Die soziale Ungleichheit als Naturgesetz, S. 323. 36 Vgl. den Beitrag von UFFA JENSEN in diesem Band.

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ches gleich und Ungleiches ungleich nach Maßgabe seiner Ungleichheit“37 zu behandeln. Rechtlich galten für Frauen eigene Bedingungen und gesellschaftlich wurden die in ihrer Ungleichheit begründeten Zugangssperren für Frauen zum öffentlichen Raum durch die Aussperrung von gymnasialer Schulbildung und vom Universitätsstudium verstärkt. 5. Frauenemanzipation im Konflikt mit der Geschlechterordnung Obwohl das begrifÁiche Instrumentarium, Inklusion, Integration und Identität, die Unterschiede der Emanzipationsgeschichte von Frauen und Juden hervortreten lässt, Àndet sich Übereinstimmung in dem Argumentationsmuster, Juden wie Frauen seien nicht (rechts)gleich, weil „anders“. Frauen waren jedoch, ohne gleichberechtigt zu sein, selbstverständlicher Teil der bürgerlichen Gesellschaft. Ihr „Anderssein“ folgte aus der allgemein akzeptierten Geschlechterordnung. Sie wies Frauen bestimmte, notwendige Aufgaben in der Gesellschaft zu, bei deren Nichterfüllung die Existenz der bürgerlichen Gesellschaft bedroht sein würde.38 Das bürgerliche Recht, vor und nach Inkrafttreten des BGB, regelte die Stellung der Frau in Ehe und Familie und setzte den Mann als Oberhaupt ein.39 Wenn „Integration“ gefordert wurde, handelt es sich demnach um Mündigkeit und um den Zugang zu Handlungsräumen, die bis dahin exklusiv dem männlichen Geschlecht vorbehalten waren: Aufhebung der rechtlichen Unselbständigkeit des weiblichen Geschlechts, d. h. ihrer begrenzten Mündigkeit, Zutritt zu gymnasialer Bildung und Abitur, Zutritt zum Universitätsstudium, Zutritt zu qualiÀzierten Berufen und politische Partizipation auf den verschiedenen Ebenen des öffentlichen Lebens. Keine dieser Forderungen stand im KonÁikt mit liberalen Grundsätzen. Jedoch würde die Öffnung oder gar Eroberung dieser Räume für weibliche Lebensgestaltung, schon als bloße Forderung, unabweislich sofort die Lebenswelt auch der Männer verändern.40 37 Allgemein und in verfassungsrechtlicher Literatur oft zitierter Grundsatz, dessen originale Herkunft ich nicht herausÀnden konnte. 38 Vgl. dazu den Beitrag von KARIN HAUSEN in diesem Band und vor allem ihren Aufsatz von 1976, der Forschungsgeschichte geschrieben hat: DIES.: Die Polarisierung der Geschlechtscharaktere. Eine Spiegelung der Dissoziation von Erwerbs- und Familienleben, in: WERNER CONZE (Hg.): Sozialgeschichte der Familie in der Neuzeit Europas. Stuttgart 1976, S. 363–393. 39 Vgl. TANJA-CARINA RIEDEL: Gleiches Recht für Frau und Mann. Die bürgerliche Frauenbewegung und die Entstehung des BGB, Köln 2008. 40 Vgl. BARBARA VOGEL: „Die Frau als Bürgerin“. Das Politikverständnis in der bürgerlichen Frauenbewegung vom Kaiserreich zur Republik, in: Vom Frauenwahlrecht zur Quotierung. Frauenbewegung und Sozialdemokratie. Dokumentation des Workshops der Historischen Kommission und der Arbeitsgemeinschaft Sozialdemokratischer Frauen am 12./13. Dezember 1997 in Bonn, Bonn 1998, S. 15–25.

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Die der Emanzipation von Frauen entgegenstehende Geschlechterordnung ist ein Merkmal von Bürgerlichkeit; sie ist älter als der Liberalismus, so dass sich die Frage stellt, wie Liberale mit diesem Erbe umgingen. Trotz liberaler Gleichberechtigungsideologie erscheint es fraglich, ob Liberale, liberale Männer, überhaupt Frauenemanzipation gefordert haben.41 Beispiele dafür sind rar und fast nie allgemein und grundsätzlich. Tatsächlich waren es nur einzelne Liberale, die sich für Gleichberechtigung der Frauen einsetzten, im Vergleich zu vielen, die sich darüber belustigten. Bekannt ist Heinrich von Treitschkes hämisches Urteil über John Stuart Mill zum Beispiel, der Mills „verÁixte Idee, daß die Frau gleichberechtigt sei dem Manne“ darauf zurückführte, dass Mill „einen entsetzlichen Blaustrumpf zur Frau [hatte]“, mit der Treitschke, wie er bekannte, „nicht acht Tage hätte zusammenleben können“.42 Damals gehörte Treitschke noch zu den Nationalliberalen, und er war kein alter Mann, von dem man sagen könnte, die Zeit sei über ihn hinweg gegangen. Bei seinen jungen Studenten erregte er feixende Zustimmung. In liberalen Parteiprogrammen im Kaiserreich spielte der Gleichberechtigungsgrundsatz keine Rolle, blieb auch nach dem Reichsvereinsgesetz in der Parteiorganisation randständig.43 Die Weimarer Reichsverfassung sicherte dann den Frauen ihre staatsbürgerlichen Rechte. Die uneingeschränkte Gleichberechtigung ist jedoch erst eine Errungenschaft des Grundgesetzes und der Verfassung der DDR, wobei es allerdings in der Bundesrepublik noch weitere Jahrzehnte dauern sollte, bis diese auch zivilrechtlich durchgesetzt wurde. Sobald es nicht allgemein um die vielfältigen Ursachen für das Scheitern der Emanzipation in Deutschland geht, sondern speziell darum, ob im Liberalismus Faktoren wirksam waren, die Hindernisse gegen die Emanzipation auftürmten, muss bedacht werden, dass damit der Blick von den sozial und politisch einÁussreichen Gegnern der Emanzipation und Gleichberechtigung weg- und auf deren Befürworter hingewendet wird. Es sind dann Kriterien zu suchen, die für Liberale eine bürgerliche Gesellschaft ausmachen. Das Inklusionsmodell erfasst die Zugehörigkeit der Juden, aber nicht die der Frauen. Frauen nahmen aufgrund der bürgerlichen Geschlechterordnung eine Sonderstellung in der bürgerlichen Gesellschaft ein, in eigenen Räumen und getrennt von jenen, in denen allein die Männer walteten. Auch die Individualitätsideologie des Liberalismus versagte gegenüber Frauen. Denn Frauen waren innerhalb der bürgerlichen Gesellschaft als ein eigenes Geschlecht, nicht als Individuen deÀniert und wurden dementsprechend als eigene Gruppe behandelt. Neigungen und Fähigkeiten weiblicher 41 Vgl. die Beiträge in UTE FREVERT (Hg.): Bürger und Bürgerinnen. Geschlechterverhältnisse im 19. Jahrhundert, Göttingen 1988. 42 Zit. nach UTE FREVERT: Mann und Weib und Weib und Mann. Geschlechter-Differenzen in der Moderne, München 1995, S. 96. 43 Vgl. ANGELIKA SCHASER: Helene Lange und Gertrud Bäumer. Eine politische Lebensgemeinschaft, Köln 2000, S. 128ff.

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Individuen blieben ihrer GruppenidentiÀkation untergeordnet mit der Folge, dass einzelne Frauen, deren Neigungen sich nicht in ihre Rollenzuschreibung einpassten, sehr schnell mit dem Verdikt der Unweiblichkeit belastet wurden. Daran änderte sich auch nicht viel, als sich die Anzahl von unangepassten Frauen seit dem späten 19. Jahrhundert ständig vermehrte. Dies schob der Hoffnung auf Emanzipation durch Weiterentwicklung der bürgerlichen Gesellschaft einen Riegel vor. Das Gegenbeispiel der Juden verdeutlicht diese These: Bei männlichen Juden basierte der Weg in die bürgerliche Gesellschaft auf Leistungen, Neigungen und Glück von Individuen. Über individuelle Leistungen und Lebenswege kam es im 19. Jahrhundert zu dem unverkennbaren und erfolgreichen gesellschaftlichen Aufstieg der Juden in die bürgerliche Gesellschaft.44 Fragwürdig wird das Bild vom „Aufstieg der Juden“, sobald darin ein Gruppenphänomen gesehen wird. Der „Erfolg“ war nicht an die Gruppe der Juden gebunden, sondern wurde von jüdischen Individuen errungen, denen die bürgerliche Gesellschaft den Rahmen für ihren Aufstieg bot. Die „bürgerliche Gesellschaft“ schuf eine Erwartungshaltung für gleiche bürgerliche und politische Rechte aller männlichen Individuen. Frauen waren über die Familie in die bürgerliche Gesellschaft integriert; ihre Stellung war im Familienrecht festgeschrieben. Problematisch erschien diese Geschlechterordnung nur für diejenigen Frauen, die nicht ihren Ort als Ehefrau in einer Familie einnahmen. Ihnen wurde schon früh das Recht auf eigene Erwerbstätigkeit zugestanden, freilich ohne zugleich die entsprechenden Bildungsvoraussetzungen zu eröffnen. Insofern liegt in der Unterscheidung zwischen Ehefrauen/Müttern und Alleinstehenden der erste Schritt zur gesellschaftlichen Anerkennung von Frauen als Individuen. Diese Unterscheidung nach dem Familienstand drängte sich auch in die Frauenbewegung und in die dortigen Ziel- und Strategiediskussionen. Der Anteil alleinstehender Frauen in der Frauenbewegung war immer, besonders unter den Aktivistinnen, groß. Auch die Forderung nach Bürgerrechten für Frauen erhielt dadurch einen mehrdeutigen Klang und ließ zivilrechtliche und staatsbürgerliche Freiheiten auseinanderdriften. Die zivilrechtliche Gleichstellung tangierte die Rolle der Frau in der bürgerlichen Gesellschaft weit mehr als die politische Partizipation. Insofern erscheint es konsequent, sowohl dass die Frauenbewegung den Hauptakzent auf zivilrechtliche Gleichstellung legte als auch dass den Frauen in Deutschland staatsbürgerliche Rechte lange vor der zivilrechtlichen Gleichstellung gewährt wurden. Die Kategorien der Ständegesellschaft lebten im bürgerlichen Frauenbild lange fort: Frausein und Mannsein begründeten je einen eigenen Stand (neben anderen). In der bürgerlichen Gesellschaft ging die Vorstellung der ständischen Herkunft der Geschlechterpolarität nicht verloren, wohl aber wurde sie anders begründet. Während in der Spätaufklärung programmatisch die bürgerliche 44 Vgl. SIMONE LÄSSIG: Jüdische Wege ins Bürgertum. Kulturelles Kapital und sozialer Auftrag im 19. Jahrhundert, Göttingen 2004.

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Verbesserung der Juden gefordert wurde, fanden die Aufklärer Kategorien und Argumente für die wesensmäßige Ungleichheit der Geschlechter.45 Wenn ein Autor, wie Theodor von Hippel, die bürgerliche Verbesserung der Weiber zum Programm zu erklären versuchte, erschien sein Argument als Karikatur der gesellschaftlichen Wirklichkeit. In der geschichtswissenschaftlichen Kontroverse der 1980er Jahre über die Frage, ob die ausgebliebene oder zögerliche Emanzipation der Frau bloß traditioneller Überhang und ihre Verwirklichung nur eine Frage der Zeit wäre oder ob sich die bürgerliche Gesellschaft gerade mit der Geschlechterhierarchie konstituiere (wie es schon Wilhelm Riehl behauptet hatte), setzte sich der Streit um den Ort der Frauen in der bürgerlichen Gesellschaft fort.46 Der männliche Liberalismus zeigte sich gegenüber der Frauenemanzipation bis weit ins 20. Jahrhundert zurückhaltend. Zumindest klafften programmatische Erklärung und Förderung in einzelnen Bereichen auseinander.47 Initiativen für den Zugang ihrer begabten Töchter zum Abitur und Universitätsstudium zum Beispiel fanden zunehmend liberale Unterstützung. Liberale Männer unterstützten um 1900 Vereine, die sich für das Frauenstudium engagierten.48 Auch die Kirchhoffsche Umfrage von 1897, ob Frauen zum Universitätsstudium zugelassen werden sollten, erlaubt es, unter den befragten Professoren liberale, d. h. offenere Positionen zu identiÀzieren.49 Vor allem den Argumenten für eine – standesgemäße und das heißt qualiÀzierte – Berufstätigkeit öffneten sich Liberale zunehmend – vorausgesetzt, dass diese Berufstätigkeit mit dem Eintritt in den „wahren weiblichen Beruf“, also mit der Eheschließung, enden würde. Mit dieser Einstellung war zugleich eine gesellschaftliche Lösung für diejenigen bürgerlichen Frauen gefunden, die nicht in den Ehestand treten würden. Die liberalen Befürworter weiblicher Berufsausbildung und -tätigkeit waren trotz ihrer konservativen Kritiker optimistisch, dass die Frauen durch diese Zugeständnisse nicht dazu verführt würden, auf Ehe und Mutterschaft zu verzichten. Denn die Frauenbewegung im kaiserlichen Deutschland selbst berief sich immer wieder auf den Grundsatz vom „eigentlichen Beruf“ der Frau – ob aus Überzeugung oder in taktischer Absicht sei dahingestellt. 45 Vgl. UTE FREVERT: Bürgerliche Meisterdenker und das Geschlechterverhältnis. Konzepte, Erfahrungen, Visionen an der Wende vom 18. zum 19. Jahrhundert, in: DIES., Bürger (wie Anm. 41), S. 17–48. 46 JÜRGEN KOCKA versus UTE GERHARD, in: ebd., S. 206–215. 47 Vgl. den Beitrag von UTE PLANERT in diesem Band; ANGELIKA SCHASER: Bürgerliche Frauen auf dem Weg in die linksliberalen Parteien (1908 - 1933), in: Historische Zeitschrift 263 (1996), S. 641–680. 48 Vgl. KIRSTEN HEINSOHN: Politik und Geschlecht. Zur politischen Kultur bürgerlicher Frauenvereine in Hamburg, Hamburg 1997. 49 ARTHUR KIRCHHOFF (Hg.): Die Akademische Frau. Gutachten hervorragender Universitätsprofessoren, Frauenlehrer und Schriftsteller über die Befähigung der Frau zum wissenschaftlichen Studium und Berufe, Berlin 1897.

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Es lag nahe, dass die bürgerlichen Frauenrechtlerinnen ihre Hoffnung auf den politischen Liberalismus setzten. Sie selbst waren eindeutig und überwiegend auf liberale Werte verpÁichtet. Ihre „kulturelle Identität“, bezog die Frauenbewegung aus dem Liberalismus. Erst um die Jahrhundertwende nutzten konservative Frauen und Frauenverbände die bürgerliche Frauenbewegung, um für ihre jeweiligen Ziele zu werben, und sprangen in das Boot des BDF. Seitdem gab es immer wieder Streit über die parteipolitische Neutralität der bürgerlichen Frauenbewegung. Der Spagat, die Einheit im BDF zu wahren, gelang, allerdings um den Preis gewisser Abstriche an seiner liberalen Programmatik. Nach dem Erfolg des neuen Vereinsrechts 1908 traten viele Frauenrechtlerinnen in die liberalen Parteien, insbesondere in die Fortschrittspartei, ein und boten ihre Mitarbeit an – ein Schritt hin zu „politischer Integration“. Sie wurden von den liberalen Männern nicht gerade mit offenen Armen als Parteifreunde begrüßt. Dennoch befriedigt es nicht, mit Inklusion und Exklusion zu operieren. Die Fremdheit der Frauen in der politischen Partei begründet sich weder mit ihrer Nähe oder Ferne zum Liberalismus und seinen Wertvorstellungen, noch bezweifelten männliche Liberale die liberale Einstellung der Parteifreundinnen. Ihre Fremdheit folgte vielmehr aus der Tatsache, dass sie keine Männer waren und folglich die Männergesellschaft aufbrechen würden. Es ging weniger um In- oder Exklusion als um den Wandel der Männergesellschaft. Jeder Emanzipationsschritt, den Frauen unternahmen hin zu Rechten und Räumen, die bisher ausschließlich von Männern besetzt waren, machte es schwerer, Frauen als das andere Geschlecht, komplementär zum männlichen Selbstverständnis, wahrzunehmen, zumal der umgekehrte Fall, dass Männer Rechte und Räume, die den Frauen gehörten, beanspruchten, nicht vorkam. Die Frauenrechtlerinnen haben auf diesen Zusammenhang, der von Anfang an den Kern der Argumentation gegen die Gleichberechtigung von Frauen bildete, schon früh reagiert. Sie wurden, angefangen bei Louise Otto, nicht müde, zu betonen, dass sie keineswegs die Geschlechtsunterschiede einebnen wollten oder die „natürlichen“ Aufgaben der Frau in der Familie ablehnten. Im Gegenteil, sie erfanden immer neue Konzepte, die auch bei größerer Selbständigkeit die Andersartigkeit des weiblichen Geschlechts zugrunde legten, ob es sich um „geistige“ und „soziale Mütterlichkeit“ oder um die „besondere Kulturaufgabe der Frau“ handelte. Eine öffentlich wirksame Tätigkeit der Frau außerhalb des Hauses und der Familie wurde damit zugleich begründet und begrenzt. Die Durchschlagskraft dieser Argumentation war nachhaltig; sie bremst bis heute den Emanzipationsprozess. Da die alten Rollenmuster immer wieder bestätigt wurden, bot sich den Gegnern der Frauenemanzipation immer wieder die Chance, auf die Gefährlichkeit eines Modells, das die gesellschaftlich notwendige Unterscheidung von Männern und Frauen leugnete, hinzuweisen. Die Frauenbewegung hatte sich in die Defensive begeben, indem sie selbst die Grenzen, die jeder Gleichberechtigungsforderung angeblich innewohnten,

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markierte und internalisierte: „Natürlich“ würden die Frauen ihre eigentlichen Aufgaben der Mutterschaft und Familienfürsorge nicht vernachlässigen. Diese kulturelle Zuschreibung ist konstitutiv für die bürgerliche Gesellschaft und konterkarierte alle Emanzipationsforderungen. Auch das liberale Projekt der Rechtsgleichheit aller Individuen begann erst jenseits dieser kulturellen Zuschreibungen. Die bürgerliche Geschlechterordnung bot durchaus Voraussetzungen dafür, dass sich auch Frauen zu liberalen Anschauungen und Einstellungen bekennen, sich sogar inner- oder außerhalb der Frauenvereine für die Verwirklichung liberaler Forderungen engagieren konnten. Die bürgerliche Gleichberechtigung stammt aus dem liberalen Projekt, wenn auch die Konsequenz, sie auch für Frauen gelten zu lassen, von den männlichen Liberalen in der Regel nicht gezogen wurde. Im Kaiserreich forderte nicht der Liberalismus, sondern die Sozialdemokratie als erste Partei das Wahlrecht für Frauen, 1891 im Erfurter Programm. Dieses Fanal für Gleichberechtigung empfand die bürgerliche Frauenbewegung als einen Affront. Er konnte nicht tatkräftig genutzt werden, weil die Gräben im kaiserlichen Deutschland zwischen der bürgerlichen Gesellschaft und der Sozialdemokratie so tief waren, dass eine Koalition von bürgerlichen und sozialdemokratischen Frauen außerhalb der Vorstellungskraft aller Beteiligten lag.50 Die bürgerliche Frauenbewegung sah deshalb in dem sozialdemokratischen Bekenntnis zur Frauenemanzipation vor allem eine Provokation, nicht eine Brücke zu gemeinsamer Aktion. Die Gründe dafür, dass die Sozialdemokraten den Liberalen in der Frage des Frauenwahlrechts den Rang abliefen, sind vielfältig und müssen hier nicht erörtert werden. Sozial- und kulturgeschichtlich war es für die Sozialdemokratie leichter, dem Gleichberechtigungsgedanken näherzutreten. Denn die bürgerliche Geschlechterordnung besaß für die unteren sozialen Schichten viel weniger Realitätsbezug: Männer und Frauen unterschieden sich nicht wesentlich hinsichtlich ihrer Schulbildung; Erwerbstätigkeit war für viele Frauen selbstverständlich, d. h. bittere Notwendigkeit. Die bürgerliche Geschlechterordnung war Besitztum des Bürgertums. Schon Wilhelm Heinrich Riehl hatte sie als feinsinniges Zeichen sozialer Distinktion herausgearbeitet. Im Kapitel „Die Scheidung der Geschlechter im Prozesse des Kulturlebens“ heißt es: „[…] der geschäftliche Beruf des Weibes aus dem Volke fällt mit dem des Mannes noch völlig zusammen. Je mehr dagegen die Berufskreise Reichtum 50 Anders Christiane Eifert, die diese grundsätzliche Gegnerschaft relativiert: CHRISTIANE EIFERT: Der zählebige Topos der „feindlichen Schwestern“. Bürgerliche und proletarische Frauenbewegung von der Jahrhundertwende bis zur Revolution von 1918/19, in: BERND MÜTTER / UWE UFFELMANN (Hg.): Emotionen und historisches Lernen. Forschung – Vermittlung – Rezeption, Frankfurt a. M. 1992, S. 311–324; KAREN HAGEMANN: Feindliche Schwestern? Bürgerliche und proletarische Frauenbewegung im Kaiserreich, in: INGE STEPHAN / HANS-GERD WINTER (Hg.): „Heil über dir, Hammonia“. Hamburg im 19. Jahrhundert, Hamburg 1992, S. 345–368.

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und Bildung voraussetzen, umso weniger ist dem Weibe eine Mitarbeit an dem Berufe des Mannes vergönnt.“51 Dennoch oder vielleicht wegen dieses hohen sozialen Prestiges setzte sich das bürgerliche Familienmodell mit der für Hausund Familienarbeit zuständigen Ehefrau im Kaiserreich zunehmend auch in der Arbeiterschaft, vor allem in der sogenannten Arbeiteraristokratie, durch und ging als Element in die Arbeiterkultur ein. Riehl verband in den 1850er Jahren den Gedanken der Gleichheit von Mann und Frau übrigens nicht mit Liberalismus, sondern mit dem „modernen Radikalismus“. Wen oder was er damit meint, wird erkennbar, wenn er sagt, der „Sozialist“ sei es, der den „unterschiedlichen Beruf von Mann und Weib [... für] eine willkürliche, barbarische Satzung der Ànsteren Vorzeit“ halte.52 Nicht nur das Erfurter Programm zeigte sich als Vorreiter für Emanzipation, auch das Frauenwahlrecht vom November 1918 war eine sozialdemokratische Entscheidung53. Auch die Verfassung der DDR speiste sich aus den Traditionen der Arbeiterbewegung und im Parlamentarischen Rat der Westzonen war es eine Sozialdemokratin, die Juristin Elisabeth Selbert, die den Art. 3 Abs. 2 ins Grundgesetz brachte.54 Auf begeisterte Zustimmung der männlichen Sozialdemokraten hatte sie dabei nicht bauen können. Allerdings war ihr Parteifreund und Widersacher bei Art. 3 Abs. 2 Carlo Schmid gewiss ein „Bürgerlicher“. Jetzt wie schon im Weimarer Parlamentarismus fühlten sich die Liberalen offenbar kaum als historische Urheber und Fürsprecher der Frauenemanzipation. Doch auch die SPD der Weimarer Republik machte ihren weiblichen Mitgliedern gleichberechtigte Teilnahme im parlamentarischen Leben schwer. Die zivilrechtliche Gleichberechtigung der Geschlechter blieb auch in der Weimarer Republik unerfüllt auf der Agenda der Frauenbewegung. Die bürgerliche Geschlechterordnung hat ihre Überzeugungskraft noch bis in die Gegenwart hinein bewahren können.

51 WILHELM HEINRICH RIEHL: Die Naturgeschichte des deutschen Volkes. Leipzig o. D., S. 331. 52 Ebd., S. 323. 53 Vgl. ANGELIKA SCHASER: Zur Einführung des Frauenwahlrechts vor 90 Jahren am 12. November 1918, in: Feministische Studien 27 (2009), S. 97–110. 54 Vgl. CARMEN SITTER: Die Rolle der vier Frauen im Parlamentarischen Rat. Die vergessenen Mütter des Grundgesetzes, Münster 1995; BARBARA BÖTTGER: Das Recht auf Gleichheit und Differenz. Elisabeth Selbert und der Kampf der Frauen um Art. 3 II Grundgesetz, Münster 1990.

Die Autorinnen und Autoren des Bandes ULRICH BAUMANN, Dr. phil., Wissenschaftlicher Mitarbeiter und Stellvertreter des Direktors bei der Stiftung Denkmal für die ermordeten Juden Europas in Berlin KARIN HAUSEN, Dr. phil., Professorin em. für Wirtschafts- und Sozialgeschichte sowie für Interdisziplinäre Frauenforschung an der Technischen Universität Berlin, Gründerin und Leiterin des Zentrums für Interdisziplinäre Frauen- und Geschlechterforschung KIRSTEN HEINSOHN, Dr. phil., Privatdozentin am Historischen Seminar der Universität Hamburg und Wissenschaftliche Mitarbeiterin am Institut für die Geschichte der deutschen Juden in Hamburg MANFRED HETTLING, Dr. phil., Professor für Neuere und Neueste Geschichte an der Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg UFFA JENSEN, Dr. phil., Wissenschaftlicher Mitarbeiter am DFG-Graduiertenkolleg „Generationengeschichte“ der Universität Göttingen UTE PLANERT, Dr. phil., Professorin für Neuere Geschichte sowie für Geschichte und ihre Didaktik an der Bergischen Universität Wuppertal REINHARD RÜRUP, Dr. phil., Professor em. für Neuere Geschichte an der Technischen Universität Berlin ANGELIKA SCHASER, Dr. phil., Professorin für Neuere Geschichte an der Universität Hamburg CHRISTIAN SCHÖLZEL, Dr. phil., Historiker und Inhaber des Unternehmens „Culture and more“ STEFANIE SCHÜLER-SPRINGORUM, Dr. phil., Professorin am Historischen Seminar der Universität Hamburg und Direktorin des Instituts für die Geschichte der deutschen Juden in Hamburg BARBARA VOGEL, Dr. phil., Professorin em. für Neuere Geschichte an der Universität Hamburg

Personenregister Altmann-Gottheiner, Elisabeth 125, 131 Annecke, Mathilde Franziska 46 Armansperg, Joseph Ludwig von 47 Asquith, Herbert Henry 82 Asquith, Margot 82 Augspurg, Anita 125 Bach, Hans 169–172 Baeck, Leo 143, 160, 162 Bäcker-von Ranke, Ermentrude 133 Bäumer, Gertrud 10, 17, 125–127, 129–131 Ballin, Albert 144 Bark, Ernst 104 Barth, Theodor 10, 86 Bassermann, Ernst 144f Bassermann, Julie 86 Baum, Marie 127 Baumann, Ulrich 21 Bebel, August 77 Bethmann Hollweg, Theobald von 144, 150 Bismarck, Otto von 12, 56, 111 Blackbourn, David 194 Blankenhorn, Ernst 104 Blankenhorn, Hermann 104–106 Bloch, David 99 Blum, Léon 81 Blum, Robert 47 Bock, Gisela 44 Böckenförde, Ernst-Wolfgang 195 Bosch, Robert 144 Brentano, Lujo 10 Breslau, Harry 64 Briand, Aristide 81 Brönner-Höpfer, Elisabeth 127 Brunner, Constantin 165f Buol-Berenberg, Rudolf Freiherr von 102 Campe, Joachim Heinrich 202 Closen, Karl Freiherr von 30 Cohen, Hermann 64, 71 Corinth, Lovis 154 Cromer, Evelyn Baring 83f Curzon, George 83 Dahrendorf, Ralf 14 Delbrück, Hans 10 Dernburg, Bernhard 145 Dickmann, Elisabeth 134 Dienemann, Max 172

Dittmar, Louise 43f, Dohm, Christian Wilhelm von 27, 31, 62f, 178, 187, 203 Eibl, Karl 179f, 190, 193 Eichelbaum, Oskar 111 Eifert, Christiane 217 Ekke, Elisa 127 Ellstätter, Moritz 96 Erdoùan, Recep Tayyip 177 Erkelenz, Anton 10 Falkson, Ferdinand 112 Faulenbach, Bernd 134 Feuerbach, Ludwig 194 Fischer, Joachim 193 Föllmer, Moritz 123 Förster, Bernhard 59 Freud, Sigmund 174 Frevert, Ute 42, 90 Frick, Heinrich 171f Friedländer, David 110 Friedrich I., Großherzog von Baden 95 Fritsch, Milka 127 Fröbel, Friedrich 47 Fröbel, Julius 47–51 Frye, Bruce 119 Fürstenberg, Max 144 Gage, Matilda Joslyn 135 Gall, Lothar 9, 14, 40, 95, 109 Gerhard, Ute 42, 53 Gerlach, Ernst Ludwig von 189 Gerlach, Hellmut von 10 Gerlach, Leopold von 189 Gervinus, Georg Gottfried 36 Geßler, Otto 145 Gilman, Sander L. 152 Goesch, Herich 137 Goethe, Johann Wolfgang von 137, 165, 184 Goldschmidt, Levin 95f Goldstein, Moritz 164 Grimm, Hermann 56 Gropius, Walter 153 Guggenheim, Leopold Hirsch 99f Gyssling, Robert 113 Haase, Hugo 112 Habermas, Jürgen 61, 64, 70 Häusser, Ludwig 34

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Personenregister

Hamburger, Ernest 109, 115 Hardenberg, Karl August von 31 Harrison, Frederic 82 Haumann, Heiko 103 Hausen, Karin 18 Havenstein, Rudolf 145 Hecker, Friedrich 32 Heilbronner, Oded 16, 107 Heile, Wilhelm 10 Heine, Heinrich 36 Heinsohn, Kirsten 21 Henrici, Ernst 59 Henzen, Wilhelm 57 Hertwig-Bünger, Doris 127f Hettling, Manfred 22 Heuss, Theodor 126, 131 Heuss-Knapp, Elly 131 Heymann, Lida Gustava 125 Hindenburg, Paul von 145 Hintze, Hedwig 133f Hintze, Otto 134 Hippel, Theodor Gottlieb von 17, 47, 109, 178, 203, 215 Hirschberg, Alfred 172 Hirth, Otto 99–101 Holländer, Ludwig 168 Huch, Ricarda 137 Humboldt, Wilhelm von 31 Ilien, Albert 97 Israel, Gertrud 126 Jacoby, Johann 109f Jeggle, Utz 97 Jellinek, Georg 196 Jensen, Uffa 22, 188–190, 195 Jolly, Julius 96 Jungmann, Adolf 159 Jungmann, Agnes 159 Kahler, Erich von 171 Kant, Immanuel 109 Kaplan, Marion 195 Kardoff, Siegfried von 127f Katz, Jacob 67 Kaulla, Rudolf 206 Keun, Irmgard 123 Kiep-Altenloh, Emilie 127 Kirchhoff, Arthur 215 Klemperer, Viktor 126 Kloß, Katharina 127 Koch, Erich 119 Koch, Rainer 47

Kocka, Jürgen 40, 42 Kölle, Otto 97 KohÀnk, Marc-Wilhelm 10, 17 Kollwitz, Käthe 137 Kusel, Rudolf 95 Kwast-Hodapp, Frieda 138 Lässig, Simone 188, 190 Lagarde, Paul de 189 Lambach, Walther 170 Lamey, August 95 Lamm, Hans 162 Lange, Helene 125f Langewiesche, Dieter 10, 13f, 16, 42 Lasker-Schüler, Else 138f Lau, Dirk 16 Lazarus, Moritz 64, 69 Lederer, Emil 159 Leo, Ludwig 112 Lepsius, Mario Rainer 178f Lessing, Gotthold Ephraim 180 Lessing, Theodor 146 Ley, Ulrike 130 Lichtenstein, Käthe 122 Lichtenstein, Max 111, 113–115, 122 Liebermann von Sonnenberg, Max 104f Liepach, Martin 169 Lipp, Carola 45 Litten, Fritz 112 Ludendorff, Erich 145 Lüders, Marie-Elisabeth 127 Luther, Martin 210 Magnus-von Hausen, Frances 127 Mah, Harold 61f Mammen, Jeanne 136 Mannesmann, Max 144 Mannesmann, Reinhard 144 Marx, Karl 174 Matz, Elsa 127f Maurer, Trude 119 Maurrais, Charles 80 Meinecke, Friedrich 88, 134 Mende, Clara 128 Mendelssohn, Moses 27f Michaelis, Johann David 63 Michelet, Jules 78f Michelly, Benno 112 Mill, John Stuart 73, 81, 88f, 213 Möders, Florian 47 Möders, Karoline 47 Mommsen, Hans 194

Personenregister Mommsen, Theodor 55–58, 62, 64–71, 189, 197 Mosse, Werner E. 158 Naumann, Friedrich 10, 18, 86, 125f, 145, 153, 189 Nietzsche, Friedrich 193f Nipperdey, Thomas 13 Noppel, Konstantin 101f Oestreich, Brigitta 134 Oestreich, Gerhard 134 Oheimb, Katharina von 127 Oske, Gustav 111, 115 Osterhammel, Jürgen 22 Otto, Louise 43, 216 Paletschek, Sylvia 47 Paulus, Heinrich 67 Pechstein, Max 153 Pelletier, Madeleine 77 Perels, Kurt 209 Pfaff, Christoph Heinrich 67 PÁüger, Markus 104 Philippson, Ludwig 34, 69 Philippson, Martin 69 Planert, Ute 18, 131 Preuß, Hugo 88 Proudhon, Pierre-Joseph 77 Pulzer, Peter 20, 59, 109, 115 Rapp, Julius 115 Rathenau, Emil 144 Rathenau, Walther 18, 21, 143–154, 164, 206 Reichmann, Eva Gabriele 21, 157–162, 164– 167, 169, 173–175 Reichmann, Hans 160f, 167f Riehl, Wilhelm Heinrich 89, 211, 215, 217f Riesser, Gabriel 209 Riff, Michael Anthony 101 Rödinger, Friedrich 33 Rohrbach, Paul 10 Rosanvallon, Pierre 78 Rossiter, Margaret 135 Rothschild, Ludwig 100, 103 Rotteck, Carl von 30, 32, 67, 194 Rousseau, Jean-Jacques 76 Rürup, Reinhard 20, 96, 204 Rutschmann, Johannes 101 Sabatzky, Kurt 118f Salomon, Alice 125, 131 Schaser, Angelika 18 Scheidler, Karl Hermann 36f

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Schmid, Carlo 218 Schmidt, Erich 131f Schmidt-Beil, Ada 138 Schmoller, Gustav von 132, 135 Schölzel, Christian 18, 21 Schön, Theodor von 109 Schreiber, Adele 131 Schreiber, Louis 102f, 107 Schüler-Springorum, Stefanie 20 Schulin, Ernst 154 Schweriner, Arthur 119, 194 Seeckt, Hans von 145 Selbert, Elisabeth 218 Sheehan, James J. 10, 119, 191, 194 Siemens, Carl Friedrich von 154 Simmel, Georg 64 Simson, Eduard von 109 Sintenis, Renée 138 Stahl, Friedrich Julius 196, 211 Stettiner, Paul 112 Stinnes, Hugo 144–146 Stoecker, Adolf 59, 210 Strauß, David Friedrich 192–194 Stremmel, Ralf 139 Stritt, Marie 125 Tenbruck, Friedrich 178f Tjaden, Ulrich 96 Toury, Jacob 112 Traub, Gottfried 10 Treitschke, Heinrich von 55–59, 62–66, 68– 71, 87–90, 131, 189, 197, 213 Treviranus, Gottfried 170 Valentiner, Wilhelm Reinhold 153–155 Vierhaus, Rudolf 14f Viviani, René 81 Vogel, Paul 105 Vogt, Annette 134 Volkov, Shulamit 187f, 191, 198 Wagner, Richard 189 Walser Smith, Helmut 105 Warburg, Max 144 Ward, Humphrey 82 Wassermann, Jakob 164 Wattenbach, Wilhelm 56 Weber, Max 178, 181, 184, 198 Wedekind, Frank 148–150 Weil, S. H. 102 Weiss, Yfaat 182 Welcker, Carl Theodor 32, 194f Westarp, Kuno Graf von 145, 170

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Personenregister

Wilhelm II., Kaiser des Deutschen Reiches 144 Williamson, David Graham 143 Wirth, Joseph 145f Wolf, Nathan 99

Wolff, Theodor 126 Zeller, Kleopha 47 Zetkin, Clara 130 Zimmermann, Moshe 169 Zuckmayer, Karl 123