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German Pages 444 [446] Year 2017
Marion Keller
Pionierinnen der empirischen Sozialforschung im Wilhelminischen Kaiserreich
Geschichte Franz Steiner Verlag
Wissenschaft, Politik und Gesellschaft – Band 8
Marion Keller Pionierinnen der empirischen Sozialforschung im Wilhelminischen Kaiserreich
Wissenschaft, Politik und Gesellschaft Herausgegeben von Rüdiger vom Bruch (†) Band 8
Marion Keller
Pionierinnen der empirischen Sozialforschung im Wilhelminischen Kaiserreich
Franz Steiner Verlag Stuttgart
Mit freundlicher Unterstützung der Deutschen Forschungsgemeinschaft e. V. und dem Deutschen Akademikerinnenbund e. V.
Coverabbildung: Gertrud Dyhrenfurth (Mitte) und die Belegschaft des Ritterguts Jakobsdorf um 1928, Universitätsarchiv Tübingen, UAT 359/2000 Siegelziffer D.30 Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek: Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über abrufbar. Dieses Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist unzulässig und strafbar. © Franz Steiner Verlag, Stuttgart 2018 Druck: Offsetdruck Bokor Gedruckt auf säurefreiem, alterungsbeständigem Papier. Printed in Germany. ISBN 978-3-515-11985-6 (Print) ISBN 978-3-515-11989-4 (E-Book)
INHALT I EINLEITUNG ................................................................................................ 7 1 Thema und Forschungsstand ..................................................................... 7 1.1 Thema............................................................................................. 7 1.2 Forschungsstand ........................................................................... 11 2 Forschungsfrage, Forschungsmethode, Vorgehensweise, Quellenlage und Aufbau der Arbeit ............................................................................ 12 2.1 Forschungsfrage und Forschungsmethode ................................... 12 2.2 Vorgehensweise ........................................................................... 14 2.3 Quellenlage .................................................................................. 22 2.4 Aufbau der Arbeit ........................................................................ 25 II DIE AUTODIDAKTINNEN ...................................................................... 26 1 Empirische Sozialforschung von Frauen um 1900 ................................. 26 1.1 Entstehungskontexte und Rahmenbedingungen .......................... 26 1.2 Methodische Bezugspunkte ......................................................... 29 1.3 Theoretische und politische Bezugspunkte .................................. 37 2 Elisabeth Gnauck-Kühne (1850–1917) ................................................... 44 2.1 Sozialwissenschaftlerin, Sozialpolitikerin und Pädagogin .......... 44 2.2 Wissenschaftliches und publizistisches Werk.............................. 87 2.3 Zwischenresümee ....................................................................... 122 3 Gertrud Dyhrenfurth (1862–1946) ........................................................ 126 3.1 Sozialwissenschaftlerin, Sozialreformerin und Gutsfrau ........... 126 3.2 Empirische Studien über Heimarbeiterinnen und Frauen in der Landwirtschaft ..................................................................... 177 3.3 Zwischenresümee ....................................................................... 223 III DIE PROMOVENDINNEN .................................................................... 227 1 Empirische Sozialforschung von Frauen am Ende des Wilhelminischen Kaiserreichs .............................................................. 227 1.1 Rahmenbedingungen und Entstehungskontexte ........................ 227 1.2 Die Beteiligung von Frauen an den Auslese- und Anpassungsstudien des VfS ....................................................... 228 1.3 Der Werturteilsstreit und die Sozialforschung von Frauen ........ 233
2 Rosa Kempf (1874–1948) ..................................................................... 238 2.1 Frauenrechtlerin, Sozialwissenschaftlerin und Pädagogin ......... 238 2.2 Empirische Studien zu Fabrikarbeiterinnen und landwirtschaftlicher Frauenarbeit .............................................. 261 3.3 Zwischenresümee ....................................................................... 283 3 Marie Bernays (1883–1939) ................................................................. 285 3.1 Max-Weber-Schülerin, Frauenrechtlerin, DVP-Politikerin und Gründungsdirektorin der Sozialen Frauenschule Mannheim .................................................................................. 285 3.2 Erfolgreiche Umsetzung eines Forschungsprogramms.............. 319 3.3 Zwischenresümee ....................................................................... 350 IV SCHLUSS ................................................................................................ 353 V DANKSAGUNG ...................................................................................... 358 VI ABKÜRZUNGSVERZEICHNIS ............................................................ 360 VII QUELLEN- UND LITERATURVERZEICHNIS ................................. 362 Ungedruckte Quellen ............................................................................... 362 Gedruckte Quellen ................................................................................... 363 Schriften von Elisabeth Gnauck-Kühne ........................................... 363 Schriften von Gertrud Dyhrenfurth .................................................. 370 Schriften von Rosa Kempf ............................................................... 375 Schriften von Marie Bernays ........................................................... 379 Literatur .................................................................................................... 384 VIII BILDANHANG .................................................................................... 429
I EINLEITUNG 1 THEMA UND FORSCHUNGSSTAND 1.1 Thema Bei einer Veranstaltung des Vereins Berliner Volksschullehrerinnen im Februar 1892 wandte sich Elisabeth Gnauck-Kühne mit folgenden Worten an ihre Zuhörerinnen: „Sie alle brauchen nur die Hand auszustrecken, und rechts und links finden Sie Anschluss an (…) Berufsgenoss[inn]en, finden Aussprache, Meinungsaustausch, Anregung, Förderung. – Mir ist es nicht so gut gegangen. Ich bin in meinem engen Kreise Pionier[in] gewesen und habe einsam auf Vorposten gestanden.“1
Das Bewusstsein, „einsam auf Vorposten“ zu stehen, das Gnauck-Kühne hier auf ihre Zeit als Lehrerin bezog, traf in einem wesentlich größeren Maß auch auf ihre Arbeit als Sozialforscherin zu. Denn sie führte während des Wilhelminischen Kaiserreichs aufwendige empirische Untersuchungen zur Lage der Frauen und zu Frauenarbeit durch – zu einem Zeitpunkt, als Frauen noch weitgehend von höherer Bildung und politischen Rechten ausgeschlossen waren. Die Sozialforschung Gnauck-Kühnes sowie die anderer Frauen wurde um 1900 nicht nur in Deutschland von einer sozial interessierten Öffentlichkeit, der Frauenbewegung und nationalökonomischen Fachkreisen mit großer Aufmerksamkeit verfolgt, diskutiert und anerkannt.2 Der Nationalökonom Heinrich Herkner (1863–1932) widmete dem Thema sogar seine Antrittsvorlesung an der Universität Zürich, wobei er ausdrücklich die Bedeutung der Sozialforscherinnen für die Entwicklung des Fachs betonte: 1 2
Gnauck-Kühne in ihrem Vortrag „Der Segen der Gemeinschaft“, gehalten im Verein Berliner Volksschullehrerinnen, 15. Februar 1892, zitiert nach Simon, Helene (1928a), S. 41. Auf die Pionierleistung der ersten Sozialforscherinnen haben Ende der 1920er Jahre mehrere Protagonistinnen der Frauenbewegung hingewiesen, so z .B. Altmann-Gottheiner (1931), S. 211; Simon, Helene (1929), S. 129; Weber, Marianne (1984[1926]), S. 263–264; Lüders, Marie Elisabeth (1962), S. 49–50. Die hier vorgestellten Pionierinnen der empirischen Sozialforschung werden abwechselnd als Soziologinnen, Nationalökonominnen, Sozialwissenschaftlerinnen und Sozialforscherinnen bezeichnet. Das entspricht sowohl ihrem Selbstbild als auch der Entwicklung der Fachgeschichte(n) der Wissenschaften, die sich mit der „sozialen Frage“ beschäftigten. Soziologie als eigenständiges Studienfach etablierte sich an deutschen Universitäten erst ab Ende der 1920er Jahre, eine fachspezifische Profilierung der empirischen Sozialforschung erfolgte in Deutschland erst nach 1945. Siehe hierzu Käsler (1984), S. 158–163; Schad (1971); Kern, Horst (1982), S. 202–207. Zur Entstehung und Verwendung des Begriffs „soziale Frage“ in Deutschland siehe Pankoke (1970).
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I Einleitung „Jedem, der für die Entwicklung der volkswirtschaftlichen Literatur einiges Interesse empfindet, muss die Thatsache aufgefallen sein, dass neuerdings auch Frauen nationalökonomische Studien eindringlich und zum Teile mit großem Erfolge betreiben. Man trifft ihre Arbeiten nicht nur in der Tagespresse oder in den Organen der Frauenbewegung an, nein, selbst die Redaktionen der vornehmsten gelehrten Fachzeitschriften, in Deutschland z. B. der Schmoller’schen und Conrad’schen Jahrbücher sowie des Braun’schen Archivs, haben Frauen in den Kreis ihrer Mitarbeiter aufgenommen. (…) Wir schulden [so Herkner einige Seiten später] Frauen bereits eine Reihe von Arbeiten, die nicht ausgeschaltet werden können, ohne wichtige Glieder in der Kette der nationalökonomischen Forschungen preiszugeben, ohne den Stand unseres Wissens empfindlich zu verletzen.“3
Im Folgenden werden vier Pionierinnen näher betrachtet, die wichtige Impulse zur Entwicklung der empirischen Sozialforschung setzten und gleichzeitig zu Wegbereiterinnen des sozialwissenschaftlichen Frauenstudiums und der Sozialen Arbeit wurden: Elisabeth Gnauck-Kühne (1850–1917), Gertrud Dyhrenfurth (1862– 1946)4, Rosa Kempf (1874–1948) und Marie Bernays (1883–1939). GnauckKühne erregte mit ihrer Feldforschung zu Fabrikarbeiterinnen und ihren sozialstatistischen Analysen zu Frauenarbeit große öffentliche Aufmerksamkeit. Die Gutsfrau Dyhrenfurth, eine Freundin und enge Mitstreiterin Gnauck-Kühnes im Evangelisch-sozialen Kongress (ESK), erforschte die Lage der Heimarbeiterinnen und der Frauen in der Landwirtschaft. Sie wurde als eine der ersten Frauen in Deutschland mit einem Ehrendoktortitel ausgezeichnet. Die sozialen Studien von Kempf und Bernays zur Fabrikarbeiterschaft entstanden im Kontext der Enquete des Vereins für Sozialpolitik (VfS) über die Auslese und Anpassung der Arbeiter in den verschiedenen Zweigen der Großindustrie, die als eine der bedeutendsten Untersuchungen der empirischen Sozialforschung im Kaiserreich gilt. Alle vier waren außerdem Gründermütter der sozialen Berufsarbeit. Mit ihren Biographien und ihrem Werk sind sie besonders eindrückliche Beispiele für die Wahlverwandtschaft zwischen der neu entstehenden Disziplin der Soziologie und den ersten Sozialwissenschaftlerinnen der Jahrhundertwende, auf die Viola Klein (1908– 1973) in ihrer wissenschaftssoziologischen Arbeit „The Feminine Character“ (1946) hingewiesen hat: „There is a peculiar affinity between the fate of women and the origin of social science, and it is no mere coincidence that the emancipation of women should have started at the same time as the birth of sociology. Both are the result of a break in the established social order and of radical changes in the structure of society: and, in fact, the general interest in social problems
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Herkner (1899), S. 3 und S. 28. Die Rechtschreibung der zitierten Originaltexte wurde hier und im Folgenden weitgehend beibehalten. Die von Herkner angeführten Publikationen wurden nach ihren prominenten Herausgebern benannt: das „Jahrbuch für Gesetzgebung, Verwaltung und Volkswirtschaft im Deutschen Reich“ nach Gustav Schmoller (1838–1917), die „Jahrbücher für Nationalökonomie und Statistik“ nach Johannes Conrad (1839–1915) und das „Archiv für soziale Gesetzgebung und Statistik“ (ab 1904 „Archiv für Sozialwissenschaft und Sozialpolitik“) nach Heinrich Braun (1854–1927). Herkner verweist in seiner Rede mehrfach auf Gnauck-Kühnes und Dyhrenfurths Beitrag zur Fachentwicklung. Vgl. Herkner (1899), S. 25, S. 27f., S. 32, S. 34, S. 36, S. 40 und S. 43f.
1 Thema und Forschungsstand
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to which these changes gave rise did much to assist the cause of women. (…) But the relation of woman’s emancipation to social science does not only spring from a common origin; it is more direct: the humanitarian interests which formed the starting-point of social research, and practical social work itself, actually provided the back-door through which women slipped into public life“.5
Den Ausgangspunkt für die Entwicklung der Sozialwissenschaften, der Frauenbewegung und den Einzug der Frauen in die Wissenschaft bildete der Aufstieg der „sozialen Frage“ als gesellschaftliches und wissenschaftliches Problemfeld. Die Geschlechterfrage war Kern und Teil der sozialen Frage. Sie stand im Zentrum der soziologischen Klärungsversuche über das Verhältnis von Tradition und Moderne, von Gemeinschaft und Gesellschaft, von sozialer Differenzierung und Integration.6 Ihre empirischen Untersuchungen über die soziale Lage der Arbeiterinnen nutzten die Pionierinnen, um – so das Bild von Viola Klein – gewissermaßen durch die Hintertür in den ihnen verwehrten Bereich der Wissenschaften und der Öffentlichkeit zu schlüpfen. Sich zwischen bürgerlicher Sozialreform und Frauenbewegung bewegend, entstand ihre Sozialforschung an der Schnittstelle zwischen akademischer Wissenschaft und praktischer sozialpolitischer und Sozialer Arbeit.7 Die von Klein angeführte „Wahlverwandtschaft“, die Berührungspunkte und Überschneidungen zwischen der Frauenbewegung und der entstehenden Soziologie, die zu für beide Seiten fruchtbaren Wechselwirkungen geführt hat, wurde für Deutschland bisher überwiegend im Zusammenhang mit Marianne und Max Weber (1864–1920) und dem Dialog zwischen Marianne Weber (1870– 1954) und Georg Simmel (1858–1918) untersucht.8 Mit der vorliegenden Arbeit wird die Beteiligung von bisher wenig beachteten Soziologinnen sichtbar gemacht. Mit ihnen werden zudem Gustav Schmoller, Heinrich Herkner, Lujo Brentano (1844–1931), Max Sering (1857–1939) und Robert Wilbrandt (1875–1954) als Förderer des sozialwissenschaftlichen Frauenstudiums ins Blickfeld gebracht, die in diesem Zusammenhang ebenfalls noch keine größere Aufmerksamkeit auf sich gezogen haben. Diese Wahlverwandtschaft ist bei Gnauck-Kühne, Dyhrenfurth, Kempf und Bernays besonders ausgeprägt. Mit ihrer An- und Einbindung in die Organisationen, Netzwerke und Strukturen der Frauenbewegung(en) und Sozialreformbewegung(en), mit ihrer sozialreformerischen Haltung sowie ihrer auf die Arbeits- und Lebensbedingungen von Frauen konzentrierten Themenwahl stellten sie eine ein5
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Klein, Viola (1946), S. 17. Auch prominente Protagonistinnen der zeitgenössischen Frauenbewegung wie Helene Lange (1928[1897]) wiesen bereits darauf hin, dass die entstehenden Sozialwissenschaften das öffentliche „par excellence“ Feld war, auf dem Frauen die Grenze zur Öffentlichkeit überschreiten konnten. Gerhard (1998), S. 344; Wobbe (1997), S. 12f.; vgl. Kandal (1989), S. 4. Meyer-Renschhausen bezeichnet die wechselseitige Beziehung zwischen Soziologie, Sozialer Arbeit und Frauenbewegung auch als eine Art Familiengeschichte; vgl. Meyer-Renschhausen (1994; 1996). Siehe vor allem Wobbe (1997; 1998); Lichtblau (1992; 1996); Gilcher-Holtey (2004); Roth (1989).
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I Einleitung
flussreiche Gruppe der an der Nationalökonomie und der sozialen Frage interessierten Frauen während des Wilhelminischen Kaiserreichs dar. Ihre Untersuchungen zeichneten sich durch eine aufwendige, gründliche und zugleich innovative methodische Vorgehensweise sowie durch eine breite Resonanz in der zeitgenössischen Fach-, Sozialreform- und Frauenbewegungspresse aus. Die Arbeiterinnenfrage wurde zum „Kreuzungspunkt von Soziologie und Frauenfrage“9, denn die Analyse der Lebens- und Arbeitsbedingungen der Arbeiterinnen beleuchtete gleichzeitig die geschlechtsspezifischen strukturellen Ungleichheiten der Gesellschaft. Alle vier verstanden sich als Soziologinnen, und mit Ausnahme von Kempf gehörten sie zu den ersten Mitgliedern der Deutschen Gesellschaft für Soziologie (DGS). Gnauck-Kühne hatte bereits 1909 den Gründungsaufruf der DGS unterschrieben, sie war zunächst unterstützendes und ab Oktober 1910 – als eine von nur zwei Frauen – ordentliches Mitglied der DGS. Dyhrenfurth war von 1910 bis 1914, Bernays von 1912/13 bis 1922 unterstützendes Mitglied.10 Diese Arbeit greift mit dem Begriff der „Pionierinnen“ das Selbstbild von Gnauck-Kühne, Dyhrenfurth, Kempf und Bernays auf, denn diese waren sich – wie viele andere wissenschaftlich gebildete Frauen der damaligen Zeit – ihrer Ausnahmestellung durchaus bewusst. Sie bezeichneten sich selbst als „Pioniere“, die erfolgreich die „Schwierigkeiten, die mit den Anfängen einer bahnbrechenden Arbeit verbunden sind“, bewältigt haben.11 Auch nachdem der Weg zu einem regulären Studium für Frauen in Deutschland ab 1909 offen stand und sich die Nationalökonomie nach der Jahrhundertwende sogar zu einer Art „Modestudium“ für Frauen entwickelt hatte, blieb das Gefühl, Pionierleistungen beim Kampf um die Berufsarbeit von Frauen zu vollbringen und Wegbereiterin zu sein, weiterhin bestimmend.12 Weil ein spezifischer Arbeitsmarkt fehlte, wurden Nationalökonominnen noch während der Weimarer Republik in der Berufsberatungsliteratur als „Pioniere“ bezeichnet. Die Absolventinnen, so wurde betont, müssten sich ihrer Sonderstellung bewusst sein, eine besonders bahnbrechende Aufgabe zu erfüllen, die nur mit „sicherem Auftreten“ und mit hartem, zähem Willen, Anpassungsfähigkeit und der Bereitschaft, ein Stück Überzeugung zu opfern, zu erreichen sei.13
9 Altmann-Gottheiner (1931), S. 215. 10 Vgl. die Mitgliedslisten der DGS, in: Schleswig-Holsteinische Landesbibliothek Kiel (SHLB), Nachlass Ferdinand Tönnies, Cb. 54.61: 1.2.12 Akten DGS, 1. Periode (1909–1914) und Cb 54.61: 2.2.12 Akten DGS, 2. Periode (1919–1934). In den Mitgliedslisten der ersten Periode werden insgesamt zehn Frauen als ordentliche oder unterstützende Mitglieder aufgeführt. Zu den ersten Frauen in der DGS siehe Fürter (1989), S. 85, S. 87, S. 90 und S. 97. 11 Weber, Helene (1926), S. 1. Eine geschlechtergerechte Sprache war damals nicht üblich, weshalb die Pionierinnen überwiegend die männliche Bezeichnung „Pionier“ verwendeten. 12 Siehe z. B. Altmann-Gottheiner (1931), S. 211; Weber, Marianne (1984[1926]), S. 263f.; Lüders, Marie Elisabeth (1962), S. 49–50. Auch die Arbeit der Wohlfahrtspflegerinnen galt Mitte der 1920er Jahre noch als Pionierarbeit; siehe hierzu Weber, Helene (1926). Zu Nationalökonomie als „Modestudium“ für Frauen siehe Huerkamp (1996), S. 283. 13 Glaser (1992), S. 107; vgl. auch Huerkamp (1988), S. 214.
1 Thema und Forschungsstand
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1.2 Forschungsstand Der Beitrag von Frauen zur Entwicklung der empirischen Sozialforschung in Deutschland ist im Gegensatz zu England und den USA noch weitgehend unerforscht geblieben.14 Während die Entwicklung der Nationalökonomie, die Entstehung der Soziologie und die Entwicklung der empirischen Sozialforschung in der Zeit des Wilhelminischen Kaiserreichs vielfach rekonstruiert und analysiert wurde, handelt es sich bei der Geschichte der frühen Sozialwissenschaftlerinnen (immer noch) um ein Gebiet der Forschung, das durch eine Wahrnehmungsschranke zwischen Wissenschaftsforschung und Geschlechterforschung gekennzeichnet ist.15 Obwohl seit den 1980er Jahren mehrfach auf die fehlende Aufarbeitung hingewiesen wurde16, wurde diese Forschungslücke bisher nicht geschlossen. Sowohl der Beitrag der Sozialforscherinnen zur empirischen Sozialforschung und zur Soziologie als auch die dichten wechselseitigen personellen, inhaltlichen und organisatorischen Verbindungen zwischen Sozialreform, Sozialforschung, Soziologie, Frauenbewegung und Sozialer Arbeit um 1900 sind bisher weitgehend unsichtbar geblieben.17 Umso wichtiger waren für diese Arbeit die wenigen bisher vorliegenden grundlegenden Studien zu einzelnen Soziologinnen oder Gruppen von Soziologinnen, an die angeknüpft werden konnte.18 Die vorliegende Arbeit konnte sich auf Beiträge stützen, die vor allem am Beispiel von Marianne Weber, Max Weber und Georg Simmel die Berührungspunkte und Überschneidungen zwischen der Frauenbewegung und der entstehenden Soziologie sowie die daraus resultierenden Wechselwirkungen untersucht haben.19 Sie konnte außerdem auf die Ergebnisse von Untersuchungen zur Geschichte der Nationalökonominnen und der Geschichte der Sozialen Arbeit aufbauen, in denen die Verbindungen zwischen sozialer Frage, Nationalökonomie, Frauenstudium und sozialer Berufsarbeit erforscht 14 Zur empirischen Sozialwissenschaft und Soziologie im angloamerikanischen Bereich siehe etwa Bulmer/Bales/Sklar (1991); Deegan (1991); Folbre (1998); Hill/Hoecker-Drysdale (2001); Lengermann/Niebrugge-Brantley (1998); Fitzpatrick (1990). 15 Zur Geschichte der empirischen Sozialforschung im Kaiserreich siehe Kern, Horst (1982); Maus (1973); Gorges (1986); Oberschall (1997); Schad (1972). In den Studien zu Klassikern der Nationalökonomie werden deren Verbindungen zu sowie ihr Austausch mit Vertreterinnen der Frauenbewegung in der Regel vollständig ausgeblendet; siehe z. B. den Band über Gustav Schmoller von Schiera/Tenbruck (1989). Maus (1973, S. 36–43) geht zwar auf die engen Verbindungen zwischen Theoretikern der frühen Sozialforschung und Praktikern sozialer Wohlfahrtsverbände bei den US-amerikanischen Surveys zur Lösung der sozialen Frage ein, blendet aber die Mitwirkung von Frauen an diesen Surveys aus. 16 Siehe z. Β. Hering (2004), S. 288; Jurczyk/Tatschmurat (1985; 1986); Klöhn (1982); Milz (1994); Schöck-Quinteros (1998b), S. 185; Schröder (2001). 17 Schöck-Quinteros (1998b), S. 185. 18 Zu Frauen in der Soziologie in Deutschland siehe z. B. Gerhard (1998); Honegger/Wobbe (1998); Wobbe (1997). Zu den Soziologinnen um Karl Mannheim (1893–1947) und Norbert Elias (1897–1990) siehe Honegger (1990; 1994); Kettler/Meja (1993). 19 Wobbe (1997; 1998); Lichtblau (1992; 1996); Gilcher-Holtey (2004); Roth (1989).
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I Einleitung
wurden und in denen – meist kurz – auch auf die Anfänge der empirischen Sozialforschung von Frauen eingegangen wurde.20 Erste wichtige Anhaltspunkte zu den Biografien und der Sozialforschung der Pionierinnen lieferten Studien zur Geschichte der Heimarbeiterinnen.21 Desweiteren Studien, die herausgearbeitet haben, wie das Bild der Fabrikarbeiterin in empirischen Untersuchungen in Deutschland seit Ende des 19. Jahrhunderts immer wieder neu konstruiert wurde und wie dabei die jeweiligen normativen Vorannahmen der Sozialforscherinnen in das Arbeiterinnenbild ihrer Studien eingeflossen sind.22 Und schließlich Arbeiten, in denen danach gefragt wurde, inwieweit in den frühen empirischen Studien ein emanzipatorisches Frauenbewusstsein zum Ausdruck kam.23 2 FORSCHUNGSFRAGE, FORSCHUNGSMETHODE, VORGEHENSWEISE, QUELLENLAGE UND AUFBAU DER ARBEIT 2.1 Forschungsfrage und Forschungsmethode Am Beispiel von Elisabeth Gnauck-Kühne, Gertrud Dyhrenfurth, Rosa Kempf und Marie Bernays wird in dieser Arbeit der Beitrag von Frauen zur Entwicklung der empirischen Sozialforschung untersucht. Damit wird eine Lücke in der Aufarbeitung der Geschichte von Frauen in der Wissenschaft geschlossen. Gleichzeitig werden die „produktiven Wechselwirkungen“ (Lichtblau)24 sowie die besondere Konstellation näher betrachtet, die die Beteiligung von Frauen an der Wissenschaft ermöglichte: Die empirische Sozialforschung als Teil der gerade entstehenden Soziologie war noch offen für die Mitwirkung von Außenseiterinnen. Die thematische Festlegung auf sozialpolitische Fragestellungen hatte das Interesse gebildeter, an einer Lösung der sozialen Frage interessierter Frauen an dieser neuen Wissenschaft geweckt. Im Anschluss an Viola Kleins These von der „Wahlverwandtschaft“ richtet sich die Aufmerksamkeit dieser Arbeit auf die Rolle, die die Auffassung von Geschlechterdifferenz und eine daraus resultierende geschlechtsspezifische Arbeitsteilung bei der Entstehung der Soziologie und der
20 Zu den Anfängen der empirischen Sozialforschung von Frauen siehe Hering (2004); Hoff (2011); Jurczyk/Tatschmurat (1985; 1986); Meyer-Renschhausen (1994; 1996). Zur Geschichte der Nationalökonominnen im deutschen Kaiserreich siehe vor allem die Beiträge von Bergmeier (1997); Bußmann (1993); Förder-Hoff (1992); Glaser (1992); Lauterer (1997); Meyer-Renschhausen (1996); Schöck-Quinteros (1998a). Einen detaillierten Einblick in die internationale Ausrichtung der ersten Nationalökonominnen gibt die materialreiche Studie von Klöhn (1982) über Helene Simon. Zu den wechselseitigen Verbindungen zwischen Frauenbewegung und Sozialreform bei der Entstehung der Sozialen Arbeit siehe vor allem die grundlegenden Arbeiten von Schröder (1995; 2001) sowie Sachße (1986), S. 105–148. 21 Schöck-Quinteros (1998b; 1998c). 22 Weyrather (2003). 23 Milz (1994). 24 Lichtblau (1996), S. 281.
2 Forschungsfrage, Forschungsmethode, Vorgehensweise, Quellenlage, Aufbau
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frühen Sozialforschung gespielt hat. Mit der Aufarbeitung der engen Verbindungen zwischen der Soziologie, der Sozialreform und der Frauenbewegung wird Kleins These empirisch unterfüttert und gleichzeitig der vergessene Beitrag der „illegitimen Töchter“25 der Fachgeschichte in Erinnerung gebracht. Das Erkenntnisinteresse und die Vorgehensweise der Arbeit knüpfen an grundlegende Studien zur Geschichte der empirischen Sozialforschung, der Soziologie und insbesondere zur Geschichte der Frauen in der Soziologie an.26 Ziel ist es, am Beispiel der empirischen Hauptwerke der Pionierinnen die Wechselwirkungen zwischen Wissenschaft, öffentlicher Meinung und staatlicher Politik herauszuarbeiten und damit einen wichtigen, aber bisher kaum beachteten Teil der Entstehungsgeschichte empirischer Sozialforschung in Deutschland zu rekonstruieren. Denn um die Entstehungsgeschichte der empirischen Sozialforschung als Wissenschaft verstehen zu können, reicht es nicht aus, nur „die sich vollziehende politische, soziale und wirtschaftliche Umwälzung“ zu betrachten. „Das höhere Bildungswesen, die kulturelle Tradition an den Universitäten und weitere Faktoren, die man für gewöhnlich etwas unbestimmt als intellektuelles Klima bezeichnet“, sind zwar, wie Anthony Oberschall treffend bemerkt, „entscheidend für das Verständnis der geschichtlichen Entwicklung der Sozialforschung in Deutschland“, aber gerade „weil eine institutionelle Tradition fehlte, sollte die Rolle, die einzelne Persönlichkeiten mit ihren speziellen Charaktereigenschaften gespielt haben, (…) nicht unterschätzt werden“.27 Aus dem Forschungsgegenstand und dem Erkenntnisinteresse der vorliegenden Arbeit resultiert ein komplexes Setting, das mehrere Analyseebenen umfasst. Es verbindet Ansätze der Wissenschaftssoziologie, Wissenschaftsgeschichte und Frauen- und Geschlechterforschung. Dies war notwendig, weil der Beitrag von Frauen zur Soziologie erst durch die Berücksichtigung seines Entstehungskontextes, den Bedingungen unter denen sie gearbeitet und geforscht haben, sichtbar gemacht werden kann. Denn ihre Studien stützen sich, verglichen mit den männlichen Sozialforschern, auf andere Ressourcen und soziale Erfahrungen und auf eine andere politische Motivation. Einer wissenssoziologischen Vorgehensweise entsprechend werden die sozialen und historischen Bedingungen der Produktion von Wissen betrachtet. Gerade bei den besonders stark kontextgebundenen Frühformen empirischer Sozialforschung – wie die der Pionierinnen – erscheint diese Herangehensweise notwendig. Denn „eine bestimmte historisch-gesellschaftliche Lage legte ein bestimmtes empirisches Herangehen an konkrete soziale Probleme nahe oder war doch wenigstens ein guter Humus für die Anwendung gewisser sozialforscherischer Ideen“.28 Der Vorteil eines historischen Zugangs liegt darin, dass – vermittelt durch eine 25 Gerhard (1998). 26 Hierzu zählen vor allem Gerhard (1998); Honegger (1990); Honegger/Wobbe (1998); Wobbe (1997). 27 Oberschall (1997[1965]), S. 31. 28 Kern, Horst (1982), S. 12.
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I Einleitung
historisch analysierende Problempräsentation – die gesellschaftlichen Konstellationen transparent werden, in deren Kontext die empirischen Vorgehensweisen der Pionierinnen erklärt werden können. Mit der Rekonstruktion der Entstehungsbedingungen ihrer methodischen Vorgehensweisen lassen sich außerdem wichtige Erkenntnisse über die Übertragbarkeit von empirischen Methoden und damit auch über die Voraussetzungen und Grenzen ihrer Anwendung im Rahmen gegenwärtiger Analysen gewinnen.29 2.2 Vorgehensweise Die Umsetzung des komplexen Settings orientierte sich am DFG-Schwerpunktprogramm 1143 „Wissenschaft, Politik und Gesellschaft. Deutschland im internationalen Zusammenhang im späten 19. und im 20. Jahrhundert“, an das das Projekt angebunden war und bei dem das Wilhelminische Kaiserreich als Scharnierphase für die Wissenschaftsentwicklung aus verschiedenen Bezugsperspektiven untersucht wurde. Dabei sollte die doppelte Trias Wissenschaft, Politik und Gesellschaft sowie Personen, Institutionen und Diskurse unter verschiedenen Bezugspunkten in den Blick genommen und themenspezifisch konkretisiert werden. Da die Wechselwirkungen zwischen den empirischen Studien der Akteurinnen und ihren Entstehungskontexten untersucht werden sollten, erfolgte die Vorgehensweise in zwei Schritten: Im ersten Schritt wurden zunächst die Hauptstudien der Pionierinnen und deren Entstehungskontexte und -einflüsse untersucht. Von den Hauptwerken ausgehend wurden dann im zweiten Schritt im Rahmen von Fallstudien die wissenschaftlichen und Werkbiographien der Akteurinnen sowie die Beziehungsnetze und Netzwerke der Frauenbewegung, Sozialreform und Wissenschaft, in die sie eingebunden waren, rekonstruiert. Dabei ging es auch nach der Rückwirkung der empirischen Hauptwerke auf Wissenschaft, Politik und Gesellschaft und vor allem um den Beitrag der Pionierinnen zur Soziologie.
2.2.1 Biographischer und wissenschaftlicher Kontext Wie jede Lebensgeschichte sind die persönlichen Geschichten der einzelnen Pionierinnen zwar einzigartig, dennoch enthalten sie viele prototypische Aspekte für das Leben von Wissenschaftlerinnen ihrer Zeit. Denn Biographie und Werk werden von den bestehenden spezifischen historischen, gesellschaftlichen und sozialen Bedingungen beeinflusst. Die Hauptwerke der vier Pionierinnen entstanden zwar alle während der Jahre des Wilhelminischen Kaiserreichs, Gnauck-Kühne, Dyhrenfurth, Kempf und Bernays gehörten aber mit ihren Geburtsjahrgängen – 1850, 1862, 1874 und 1883 – verschiedenen Geburtskohorten an. Entscheidender
29 Kern, Horst (1982), S. 11; Oberschall (1997[1965]), S. 31.
2 Forschungsfrage, Forschungsmethode, Vorgehensweise, Quellenlage, Aufbau
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als die „Generationslagerung“, die Angehörige gleicher Geburtskohorten gemeinsam haben, ist nach Karl Mannheim aber der „Generationszusammenhang“, die geteilten Erfahrungen und Denkhorizonte. Gnauck-Kühne und Dyhrenfurth, die zu Beginn des Wilhelminischen Kaiserreichs bereits um die 30 bzw. 20 Jahre alt waren, lassen sich demnach der Gründerzeit, Kempf und Bernays der Wilhelminischen Generation zuordnen.30 Neben den geteilten Erfahrungen und Denkhorizonten wirkte sich die Zugehörigkeit zu den beiden Generationen vor allem auf den Zugang der Frauen zur Universität und zu formalen Bildungsabschlüssen aus. Gnauck-Kühne und Dyhrenfurth hatten sich mit ihren empirischen Untersuchungen zur Frauenarbeit profiliert, bevor ihnen das Recht zugestanden wurde, als Gasthörerinnen am Universitätsbetrieb teilzunehmen. Marianne Weber hat diese Generation von Wissenschaftlerinnen in ihrem Aufsatz über den „Typenwandel der studierenden Frau“ als „heroische Kämpferinnen“ charakterisiert.31 Kempf und Bernays zählen nach Marianne Weber zur zweiten Generation, da sie das Recht auf ein akademisches Studium nicht mehr erkämpfen mussten. Mit ihren wissenschaftlichen Studien verfolgten sie eine wissenschaftliche und berufliche Qualifizierung; eine akademische Laufbahn blieb aber auch für diese Generation eine unüberwindbare Hürde. Über diesen Generationenzusammenhang lassen sich die vier Akteurinnen in zwei Gruppen einteilen: Bei den Autodidaktinnen Gnauck-Kühne und Dyhrenfurth geraten dadurch mehr die Aspekte der geschlechtsspezifischen Inklusion ins Blickfeld, bei den Promovendinnen Kempf und Bernays mehr die weitere Entwicklung der empirischen Soziologie während des Kaiserreichs sowie die Chancen und Grenzen akademischer Berufswege von Frauen. Bei den wissenschaftlichen Biographien der vier Akteurinnen interessieren vor allem die Arbeitskontexte, die „Denkstile“ (Ludwik Fleck, 1896–1961) und die „Denkstandorte“ (Karl Mannheim), die ihre empirischen Vorgehensweisen und Hauptwerke beeinflussten.32 Die Arbeitskontexte als Teil der Entstehungsmilieus haben als Untersuchungskategorie einen großen Erklärungswert für die Herausbildung wissenschaftlicher Spezialisierungen und die Sozio-Historisierung der empirischen Sozialwissenschaft. Denn sie tragen der „Kontextualität“, der „Seinsgebundenheit“ bestimmter Denkfiguren und Denktraditionen Rechnung und stellen eine Art „Bezugsgruppen“-Konzept in der Wissenschaftssoziologie dar.33 Dabei wird davon ausgegangen, dass die Entstehungsmilieus der Forschung sowohl die Wahl der Forschungsthemen beeinflussen als auch die Positionen, die zu diesen Forschungsthemen eingenommen werden. Von der Beteiligung an spezifi-
30 Zur Gründerzeit und Wilhelminischen Generation siehe Peukert (1987, S. 26–30); vgl. Förder-Hoff (1992). Zum vergemeinschaftenden Generationenzusammenhang siehe Mannheim (1928). 31 Weber, Marianne (c [1917]), S. 179. 32 Zu den „Denkstilen“ und „Denkstandorten“ siehe Mannheim (1980); Fleck (1980[1935]). Zur Erforschung der Sozialorganisation einer Wissenschaft vgl. Käsler (1984), S. 10–22. 33 Käsler (1984), S. 29.
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schen Debatten aus lassen sich wiederum Rückschlüsse auf die Zugehörigkeit zu bestimmten Entstehungsmilieus, „Denkstilen“ und „Denkstandorten“ ziehen. Die Analysekategorie des Entstehungsmilieus steht in Zusammenhang mit dem Konzept des sozialmoralischen Milieus. Unter diesem werden „soziale Einheiten verstanden, die durch ein Zusammentreffen mehrerer Strukturdimensionen wie Religion, regionale Tradition, wirtschaftliche Lage, kulturelle Orientierung, schichtspezifische Zusammensetzung der intermediären Gruppen gebildet werden. Das Milieu ist ein sozio-kulturelles Gebilde, das durch eine spezifische Zuordnung solcher Dimensionen auf einen bestimmten Bevölkerungsteil bestimmt wird“.34 Für die einzelnen Pionierinnen wurden die Bestimmungsfaktoren ihrer Milieus so weit wie möglich rekonstruiert und auf einen (möglichen) Zusammenhang mit ihrem jeweiligen Berufsweg, ihren wissenschaftlichen und sozialpolitischen Interessen, ihren thematischen Schwerpunkten und ihrem Werk hin untersucht. Berücksichtigt wurden der familiäre Hintergrund, ihre soziale Herkunft und Religion, ihr Familienstand sowie ihr Bildungsweg und ihre Erwerbstätigkeit. Die Darstellung des Berufswegs der Pionierinnen orientiert sich am Konzept der wissenschaftlichen Laufbahn, das verglichen mit dem der Karriere ein weniger teleologisches Verständnis von akademischen Berufswegen hat und für den Untersuchungszeitraum – in dem Frauen generell keine Chance auf eine Universitätskarriere hatten – mehr Aussagekraft besitzt. Denn beim Konzept der Karriere würde es in erster Linie darum gehen, Aussagen über das Erreichen oder Nichterreichen von Stationen einer Universitätskarriere zu treffen und weniger um Aussagen über den individuellen Prozess der wissenschaftlichen Laufbahn. Bei den Portraits der Pionierinnen geht es zwar auch um eine Bewertung von Erfolg oder Misserfolg ihrer Berufsverläufe; diese stützt sich jedoch, soweit möglich, vor allem auf die Selbstwahrnehmung der jeweiligen Wissenschaftlerin.35 Die vorliegende Arbeit sieht die Pionierinnen als außerakademische Vertreterinnen einer „Gelehrtenpolitik“36 des Wilhelminischen Deutschlands. Darunter werden die Bemühungen von Gelehrten verstanden, ihren Vorstellungen über den akademischen Bereich hinaus Geltung in der Öffentlichkeit zu verschaffen und politische Entscheidungsträger zu beeinflussen. Die Gelehrtenpolitiker hatten erkannt, dass wissenschaftliche Erkenntnis an sich keine Handlungsmacht entfalten kann, sondern immer darauf angewiesen ist, von in der Regel konfligierenden gesellschaftlichen Gruppen rezipiert zu werden. Die von ihnen vertretene Wissenschaft war gleichzeitig „Ferment, Produkt und Spiegel gesellschaftlicher Konflikte“.37 Die auf die Veränderung gesellschaftlicher Zustände ausgerichtete empiri-
34 Lepsius (1966), S. 383. 35 Zu den von der wissenschaftssoziologischen Geschlechterforschung entwickelten Konzepten siehe z. B. Heintz/Merz/Schumacher (2004); Zuckerman (1992). 36 Zum Phänomen der ethischen und gouvernementalen Gelehrtenpolitik des Kathedersozialismus, zu deren Repräsentanten Lujo Brentano und Gustav Schmoller gehörten, siehe Bruch (1980), S. 294–363; Käsler (1984), S. 275–279; Krüger, Dieter (1983), S. 11. 37 Krüger, Dieter (1983), S. 12.
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sche Sozialforschung der Pionierinnen, ihr praktisches Engagement für Sozialpolitik und Soziale Arbeit sowie ihr parteipolitisches Eingreifen werden mit dem Analyseraster des mittlerweile breit rezipierten Konzepts von Mitchell G. Ash betrachtet. Danach werden Wissenschaft und Politik nicht als zwei sich dichotom gegenüberstehende Blöcke, sondern als wechselseitige Ressourcen füreinander verstanden und Prozesse wissenschaftlichen Wandels als Verschiebungen und Neuarrangements von Ressourcenensembles untersucht, die durch personelle, institutionelle und nicht zuletzt reflexive Konstellationsveränderungen ausgelöst werden.38 Durch die Aufarbeitung der Entstehungsgeschichte der Hauptwerke der Pionierinnen geraten die auffallend dichten personellen, inhaltlichen und organisatorischen Beziehungen zwischen Frauenbewegung, Sozialreform und ihren wissenschaftlichen Mentoren in den Blick. Anders als bei der Universitäts- und Wissenschaftsgeschichte, bei der in der Regel die Forschung am Schreibtisch und im Labor, die Lehre an den Hochschulen und die wissenschaftliche Zusammenarbeit in Akademien und Forschungsinstituten im Mittelpunkt steht, wird hier das überwiegend städtische Umfeld einer geselligen, standes- und interessenspolitisch zweckgebundenen Vereinslandschaft als Sozial- und Erkenntnisraum für die Entwicklung von Wissenschaft berücksichtigt.39 Beleuchtet wird, wie die Sozialforscherinnen versuchten, die Umsetzung ihrer Vorstellungen auf informellem Weg zu erreichen – über tradierte bildungsbürgerlich-bürokratische Geselligkeit, direkte Verbindungen zu Entscheidungsträgern wie Beamten, Politikern, aber auch Funktionären der ArbeiterInnenbewegung –, sowie ihre Versuche, allein oder in Zusammenarbeit mit den seit 1890 erstarkenden Agitations- und Interessenverbänden, die öffentliche Meinung zu beeinflussen.40 Rekonstruiert werden die Organisationen, Netzwerke und Gelegenheitsstrukturen der Frauenbewegung(en) sowie der sozialen Reformbewegung(en), die den Rahmen bildeten, in dem die Pionierinnen ihre Forschung realisieren konnten. Aus heutiger Sicht erscheint die unterstützende Vereinskultur der bürgerlichen und konfessionellen Frauen- und Sozialreformbewegung(en), an denen die Pionierinnen partizipierten, als ein weites, überraschend ausdifferenziertes und nahezu unüberschaubares Geflecht von Vereinen und Organisationen, deren Öffentlichkeitsarbeit sich in einer ebenso vielfältigen Weise in Zeitschriften, Jahrbüchern und Kongressen niedergeschlagen hat. Organisationsgeschichtliche Ansätze wie die von Thomas Nipperdey verstehen den Verein als strukturierendes Organisationsprinzip der bürgerlichen Gesellschaft im 18. und 19. Jahrhundert.41 In der Wilhelminischen Zeit wandelte sich die vormalige Salonkultur in ein bildungsbürgerlich ritualisiertes freies Vortragswesen mit hoher weiblicher Beteiligung und in flexible akademische Gruppierungen mit einem generationsübergreifenden und 38 39 40 41
Ash (2002; 2006, S. 25–26). Bruch (2006a), S. 170–171. Habermas (1999[1990]). Nipperdey (1976).
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wissenschaftlichen Erkenntnis- und Handlungsinteresse.42 Vor allem in den Fallstudien zu Gnauck-Kühne und Dyhrenfurth wird deren Einbindung in die zeitgenössischen sozialen Reform- und Frauenbewegungen und die Bedeutung der Netzwerke und der Bewegungspresse für die Mobilisierung von Gegenöffentlichkeiten näher betrachtet.43 Bei Gnauck-Kühne steht ihr Engagement in der evangelischen und katholischen Sozialreform und ihre Bedeutung für die evangelische und katholische Frauenbewegung im Zentrum, bei Dyhrenfurth ihre Beteiligung an der evangelischen und ländlichen Sozialreformbewegung, an Frauenorganisationen und am Ständigen Ausschuss zur Förderung der ArbeiterinnenInteressen.44 In den Fallstudien zu Kempf und Bernays wird vor allem deren Engagement in der gemäßigten bürgerlichen Frauenbewegung, ihre Arbeit als Mitbegründerinnen und Direktorinnen von Sozialen Frauenschulen sowie ihre parteipolitische Arbeit nach dem Ersten Weltkrieg näher betrachtet. Mit ihrem Engagement für die Deutschnationale Volkspartei (DNVP) und die Deutsche Volkspartei (DVP) zählen Dyhrenfurth und Bernays zu den Frauen der politischen Rechten, Kempf als Politikerin der Deutschen Demokratischen Partei (DDP) zu den Liberalen. Als Wissenschaftlerinnen beschäftigten sich die Pionierinnen mit den Auswirkungen der Modernisierung. Daher interessiert besonders, wie sie auf die als existenziell bedrohlich wahrgenommen gesellschaftlichen Umbrüche in Folge der Modernisierung reagierten, die nicht nur im Zentrum ihrer Forschung standen, sondern von denen sie als Personen auch selbst betroffen waren. In der Wilhelminischen Gesellschaft war die Säkularisierung im Bürgertum und in der Arbeiterschaft zwar vergleichsweise weit fortgeschritten, dennoch oder gerade wegen dieser zunehmenden Säkularisierung hatten religiöse Einstellungen, Glaube und Zugehörigkeit zu einer Religionsgemeinschaft in der Gesellschaft und für das Individuum um 1900 immer noch einen hohen Stellenwert.45 Auch in den Biographien und im Werk der Pionierinnen nahm die Auseinandersetzung mit Fragen der Religion und des Glaubens, in der sich der abnehmende Einfluss der christlichen Kirchen widerspiegelte, einen aus heutiger Sicht überraschend breiten Raum ein.46 Nur bei Kempf waren keine ausdrücklichen Stellungnahmen zu diesen Fragen zu finden. Bei der Entwicklung der Laufbahn und der Arbeit der vier Pionierinnen interessiert, inwieweit sich dabei die zeithistorischen Brüche wie der Erste Welt42 Bruch (2006a), S. 172–173. 43 Wischermann (2004). Zur gewichtigen Rolle von Zeitschriften bei der Mobilisierung sozialer Bewegungen, die wiederum bei der Sozialforschung von Frauen eine bedeutende unterstützende Rolle spielten, siehe Wischermann (1987), S. 355; siehe auch Wischermann (1983). 44 Zur Geschichte der Landfrauenorganisationen siehe Sawahn (2009a) und Wörner-Heil (1997). Zur ländlichen Reformbewegung liegen bisher nur die Studien von Bergmann (1970) und Stöcker (2011) vor, die jedoch nicht auf die Rolle von Frauen in der ländlichen Reformbewegung eingehen. 45 Schaser (2007), S. 3. 46 Martin Green (1976, S. 322–323) weist darauf hin, dass sich auch Soziologen wie Émile Durkheim (1858–1917) und Talcott Parsons (1902–1979) mit Vorliebe mit dem Thema Religion beschäftigten, „weil sie ihrer Funktion nach eine Quelle sozialer Ordnung ist“.
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krieg bemerkbar machen. In diesem Zusammenhang stellen sich auch Fragen nach ihrem Verhältnis zum Feminismus und inwieweit die von ihnen vertretene Frauenforschung mit fortschrittlichen und emanzipatorischen Forderungen der Frauenbewegung verbunden war.47 Gertrud Dyhrenfurth und Marie Bernays stammten aus dem assimilierten, konvertierten Judentum. Für ihr Selbstverständnis spielte dies zwar keine offensichtliche Rolle, und bis 1933 blieb ihre jüdische Herkunft auch weitgehend unbekannt, durch die NS-Politik wurden sie jedoch auf ihre jüdische Herkunft reduziert, stigmatisiert, ausgegrenzt und verfolgt. Bei ihnen stellt sich daher die Frage, ob und inwieweit die jüdische Herkunft ihre „Fremdheit“ als Frauen im Wissenschaftssystem verstärkte. Der Aspekt von Nichtzugehörigkeit und Fremdheit taucht mit unterschiedlicher Akzentuierung in ihrem Selbstbild sowie in den Reflektionen über ihren Standpunkt als Wissenschaftlerinnen im Forschungsprozess auf. Er klingt auch in der Außenwahrnehmung ihrer Personen an. Georg Simmel und Viola Klein haben sich mit der sozialen Position des Fremden in ihren Analysen über die Frauen und die Soziologie als Neuankömmlingen im Wissenschaftssystem auseinander gesetzt.48 Für Simmel wie für Klein wird die Position des Fremden durch Fremdheit und nicht durch Marginalität bestimmt. Dabei ging es ihnen (auch) um den Aspekt von Nähe und Distanz des Forschers und der Forscherin zum Feld. In der Fremdheit als Nichtzugehörigkeit – trotz temporärer Anwesenheit – sahen Klein und Simmel weniger den Grund für Ausschlussmechanismen, sondern vor allem eine Chance für Innovation. Der Fremde war nicht von „singulären Bestandteile[n]“ oder „einseitigen Tendenzen der Gruppe“ abhängig; er stand dieser mit der Attitüde des „Objektiven“ gegenüber, die nicht etwa nur durch Abstand und Nichtbeteiligung, sondern gleichzeitig auch durch Nähe und Distanz, Engagiertheit und Gleichgültigkeit gekennzeichnet war. Durch diese Position wurde es dem Fremden möglich, „bisher nicht Gesehenes in den Blick zu nehmen“. Das kulturelle Potential der Frauen lag für Simmel darin, dass sie anders und anderes sehen konnten.49 Das Spezifische an der Rolle des Fremden lag für ihn in dessen praktischer und theoretischer Freiheit. Objektivität bedeutete keineswegs Nicht-Teilnahme, sondern eine positiv-besondere Art der Teilnahme. Dieses Nähe-Distanz-Verhältnis des Beobachtenden zum Untersuchungsobjekt begründete für Simmel die soziologische Betrachtungsweise.50 47 Vgl. in diesem Zusammenhang die Einschätzung von Olive Banks (1986, S. 3), Webb sei keine Feministin gewesen. 48 Simmel (1908), S. 2, S. 585–569; Klein, Viola (1949), S. 17; vgl. Wobbe (1997), S. 12. 49 Wobbe (1997), S. 12. 50 Simmel (1908), S. 688. In diese Richtung argumentiert auch Karl Mannheim, wenn er von der freischwebenden Intelligenz des Intellektuellen und der Aspektstruktur und Standortgebundenheit des Wissens spricht. In der Distanz, Ungebundenheit und Heimatlosigkeit des Intellektuellen sieht Mannheim die Voraussetzung für dessen Objektivität. Vgl. Mannheim (1965), S. 27, S. 73, S. 138 und S. 140; vgl. Baumann, Zygmunt (2005), S. 156. Vgl. Maus (1973), S. 21f. Bereits Auguste Comte (1798–1857) hat darauf hingewiesen, dass man „in der Regel nur gut beobachtet, wenn man sich außerhalb stellt“ (1839).
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2.2.2 Empirische Studien und Werk Das Hauptinteresse der vorliegenden Arbeit gilt den empirischen Studien der Pionierinnen. Sie werden als Beispiele für einen Entwicklungsschub der sozialwissenschaftlichen Empirie während des Wilhelminischen Kaiserreichs untersucht, in dem neue Ansätze zur empirischen Analyse gesellschaftlicher Sachverhalte entwickelt und erprobt wurden und in dem das Handlungsrepertoire empirischer Sozialforschung erweitert wurde. Für die Hauptwerke wurde die Entstehungsgeschichte, das Untersuchungsdesign, der organisatorische Rahmen, die Durchführung und die Ergebnisse aufgearbeitet sowie die Besprechungen und Diskussionen dieser Ergebnisse in den Fach- und Bewegungszeitschriften. Außerdem wurde soweit möglich die Rezeption der empirischen Studien rekonstruiert, wobei vor allem folgende Fragen im Mittelpunkt standen: Was haben die Pionierinnen erforscht und wie haben sie es erforscht? Wo haben sie auf gängige Methoden zurückgegriffen? Wo haben sie diese erweitert? Was waren die äußeren Begrenzungen und wo haben sie sich selbst begrenzt?51 Als empirische Vergleichsstudien dienten insbesondere die Enqueten des Vereins für Sozialpolitik sowie die Studien anderer Sozialforscherinnen dieser Zeit. Die Historisierung der empirischen Studien hinsichtlich ihrer Quellen, ihrer Verankerung im zeitgenössischen Diskussionszusammenhang und der Biographien der Autorinnen und ihres Werks soll zum Verständnis dieser empirischen Studien beitragen und deren Bedeutung in der historischen Entwicklung empirischer Sozialforschung deutlich machen.52 Im Sinne von Émile Durkheim geht es darum, das Soziale durch das Soziale zu erklären, d. h. die sozialwissenschaftlichen Methodenfragen „auch im Hinblick auf den sozialen Kontext zu erörtern, aus dem sie erwachsen und an den sie in einem gewissen Umfang auch gebunden sind; der Zusammenhang zwischen neuen soziologischen Forschungskonzepten und dem sozialen Leben, auf das sie reagieren, wäre anders schwer herzustellen“.53 Genauer betrachtet werden bei den empirischen Untersuchungen auch die Themenwahl, die damit verbundene Entwicklung innovativer Forschungsfelder und die angewandten qualitativen empirischen Methoden. Welche Ausschnitte der gesellschaftlichen Realität erfassten die Sozialforscherinnen mit den gewählten Erhebungstechniken? Aus heutiger Sicht interessiert, welche Erkenntnisse die frühe Sozialforschung der Pionierinnen für methodische Kontroversen liefern, allein schon deshalb, weil diese Kontroversen zu diesem Zeitpunkt noch nicht als Dualismen zementiert waren: Quantitative versus qualitative Verfahren, Repräsentativerhebungen versus Fallstudien, Grundlagenforschung versus Praxisorientierung, Wertfreiheit versus Parteilichkeit, professionelle Absonderung versus Integration im Alltagsleben, Ermittlung statistischer Gesetzmäßigkeiten versus Existenzialurteile.54 Dabei geht es nicht um eine analy51 52 53 54
Kern, Horst (1982), S. 15. Vgl. Nippel (1994), S. 275; Lazarsfeld (1997[1933]), S. 19. Kern, Horst (1982), S. 15–17. Kern, Horst (1982), S. 16. Anhand dieser Dimensionen untersucht Kern die Entwicklungs-
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tische Zergliederung der Methodenprobleme in isolierte Einzeldimensionen, sondern um eine ganzheitliche Darstellungsform. Bei der Analyse der empirischen Untersuchungen der Pionierinnen interessierte weiter: Wie thematisierten die Akteurinnen die Geschlechterverhältnisse und welche Positionen nahmen sie zu der – als Ergebnis der Modernisierung von den Zeitgenossen als problematisch wahrgenommenen – Frauen(erwerbs)arbeit ein? Welche politisch-normativ wertenden Vorannahmen sind in die Einzelerhebungen und -auswertungen eingeflossen? Inwieweit wurde dabei ein spezifisches, politisch gewünschtes Bild der Arbeiterin, vor allem aber der Frauenerwerbsarbeit konstruiert?55 Dabei wird versucht, die Studien der Pionierinnen „gegen den Strich“ zu lesen, d. h. die Interpretation der empirischen Daten durch die Pionierinnen kritisch zu hinterfragen und die der Haupttendenz der Interpretation widersprechenden Aussagen wahrzunehmen.56 Herausgearbeitet wird außerdem, wie sich die Arbeiten in die zeitgenössischen sozialpolitischen Debatten und die Wissenschaftsentwicklung einordnen lassen. Die vorläufige Rekonstruktion der Werkbiographien sowie die im Anhang dokumentierten Publikationsverzeichnisse sollen einen Eindruck von den thematischen Schwerpunkten der Pionierinnen und den geschlechtsspezifischen Zuständigkeiten bei der Themenwahl und der Beteiligung an zeitgenössischen Diskussionen vermitteln. Sowohl bei den empirischen Studien als auch bei den weiteren Publikationen der Pionierinnen bilden der Erscheinungsort, die Rezension(en) und die Rezeption wichtige Anhaltspunkte für deren Anbindung an die zeitgenössischen Debatten sowie die Relevanz, die den Autorinnen und ihren Beiträgen beigemessen wurde. Damit lassen sich Aussagen über die jeweilige Zugehörigkeit zum Zentrum oder zur Peripherie der verschiedenen Debatten treffen, an denen die Pionierinnen beteiligt waren.57 Wichtige Hinweise für die Anerkennung der wissenschaftlichen und sozialpolitischen Leistungen der Pionierinnen liefert ihre Präsenz in und ihre Wahrnehmung durch die wissenschaftlich anerkannte Fachpresse.58 Wurden der Pionierinnen durch wissenschaftliche SchülerInnen und in der wissenschaftlichen Literatur tradiert; wurden ihre Biografien und Beiträge in Lexika aufgenommen? Diese Fragen sind allein schon wegen der weitreichenden Folgen der Unterrepräsentanz ganzer Gruppen von Wissenschaftlerinnen wichtig, weil diese dadurch meist zum zweiten Mal ausgeschlossen werden.59
55 56 57 58 59
schübe der empirischen Sozialforschung. Weyrather (2003), S. 19. Weyrather (2003), S. 14–15. Vgl. Käsler (1984). Vgl. Wallgärtner (1991). Vogt (2007), S. 446.
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2.3 Quellenlage Die Rekonstruktion der Biographien und des Werks der vier Akteurinnen basiert auf der Einbeziehung und Erschließung neuer und auf der Neubetrachtung und Neubewertung bereits bekannter Quellen sowie auf grundlegender und neuerer Forschungsliteratur aus verschiedenen Themenbereichen und Fächern. Die Rekonstruktion erforderte aufwendige Recherchen, verbunden mit der Hoffnung auf Zufallsfunde, denn die fehlenden, weit verteilten, nur schwer oder gar nicht verfügbaren disparaten Quellen machten einen Zugang schwierig. Recherchiert wurden Archivalien, die den Werdegang, den Studienverlauf, die Studienbedingungen und den Studienabschluss dokumentieren, sowie Briefwechsel, die Auskunft über die Einbindung der Sozialforscherinnen in die zeitgenössischen Organisationen, Netzwerke und Strukturen von Sozialreform und Frauenbewegung geben. Einen wichtigen und umfangreichen Quellenbestand bildeten die zeitgenössischen soziologischen bzw. nationalökonomischen, sozialreformerischen und Frauenbewegungszeitschriften und -tagungsbände sowie Biographien und Lebenserinnerungen, die systematisch nach Anhaltspunkten zu den Biographien und zum Werk der Pionierinnen durchgesehen wurden. Darüber hinaus wurde die Forschungsliteratur zur historischen Frauenbewegung, zur bürgerlichen Sozialreform, zur Frauenbildungsgeschichte und zur Geschichte der empirischen Sozialwissenschaft, der Nationalökonomie und der Soziologie ausgewertet. Dabei war der Zugang zu Elisabeth Gnauck-Kühne vergleichsweise einfach, da sie in den 1980er Jahren als Wegbereiterin der evangelischen und katholischen Frauenbewegung und der Sozialen Arbeit wiederentdeckt wurde.60 Gnauck-Kühne ist die einzige Akteurin, von der ein Nachlass existiert, der im Archiv des Katholischen Deutschen Frauenbundes (KDFB)61 in Köln öffentlich zugänglich ist. Der Nachlass ist jedoch sehr lückenhaft; viele Briefwechsel fehlen und viele Briefe und Schriften sind nicht mehr im Original, sondern nur noch als Abschriften erhalten.62 Von Gnauck-Kühne liegen außerdem zwei autobiographische Texte vor63, sowie einzelne, von Bekannten und FreundInnen verfasste, biographische
60 Vgl. Prégardier/Böhm (1997), S. 7–14. Zu Gnauck-Kühnes Beitrag zur katholischen und evangelischen Frauenbewegung siehe z. B. Kall (1983), S. 268; Kaufmann, Doris (1988); Baumann, Ursula (1992a); Prégardier/Böhm (1997); Moltmann-Wendel (1988; 2005); zu Gnauck-Kühne als Wegbereiterin der Sozialen Arbeit siehe Berger, Manfred (2002a; 2002b); Böhm (1988); Schmidbaur (1999); zu Gnauck-Kühne als Soziologin siehe Dietrich, Charlotte (1953). In den 1920er Jahren entstand zudem die erste und einzige Dissertation zu GnauckKühne; siehe Speuser (1926). 61 Der KDFB wurde 1903 in Köln gegründet, er nannte sich bis 1916 Katholischer Frauenbund (KFB), von 1916 bis 1921 Katholischer Frauenbund Deutschlands (KFD) und seit 1921 Katholischer Deutscher Frauenbund (Abkürzung bis 1983: KDF). 62 Auf die Lückenhaftigkeit hat bereits Helene Simon hingewiesen. Vgl. Simon, Helene (1928a), S. 44; siehe auch Findbuch zum Nachlass Gnauck-Kühne (1850–1917), S. 2–3 in: Archiv des KDFB, Nachlass Elisabeth Gnauck-Kühne; Schaser (2007), S. 11–12. 63 Gnauck-Kühne (1910a; 1928[o. J.]).
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Artikel64 und zwei Biographien, von denen eine nur wenige Monate nach ihrem Tod erschienen ist.65 Sie schildern aus einer persönlichen Sicht Gnauck-Kühnes Leben und Wirken, berichten über die gemeinsame Zusammenarbeit und bieten Einblicke in die Arbeitszusammenhänge und die Netzwerke Gnauck-Kühnes. Vor allem Helene Simons (1862–1947) zweibändige Biografie, die über den rein beschreibenden Charakter der meisten Darstellungen über Gnauck-Kühne hinausgeht, bietet viele Informationen über die Kontexte und Rahmenbedingen, unter denen Gnauck-Kühnes Werk entstand.66 Sehr schwierig und sehr aufwendig gestaltete sich dagegen der Zugang zu Gertrud Dyhrenfurth. Sie gehörte zwar zu den Persönlichkeiten, die von 1909 bis 1935 in Herrmann Degeners (1874–1943) „Wer ist’s?“, dem zeitgenössischen „Who is who?“, erfasst wurden67; von Dyhrenfurth existieren jedoch keine Nachlassbestände und es wurde bisher auch noch nicht zu ihr geforscht.68 Einige der wenigen erhaltenen Briefe Dyhrenfurths an Gnauck-Kühne wurden in Helene Simons Biographie über Gnauck-Kühne auszugsweise abgedruckt.69 Für Dyhrenfurths Werdegang wurden deshalb vor allem Zeitschriften, in denen sie regelmäßig veröffentlichte, ausgewertet. Dabei konnte ein kürzerer Artikel Dyhrenfurths für eine Festschrift ausfindig gemacht werden, in dem sie auf ihren Weg zur ländlichen Wohlfahrtspflege eingeht70, außerdem einige kurze Mitteilungen und Artikel, die anlässlich der Verleihung der Ehrendoktorwürde und ihres 70. Geburtstags erschienen sind und von Frauen aus Dyhrenfurths Netzwerken der bürgerlichen Frauenbewegung und der ländlichen Frauenorganisationen verfasst wurden. Auch bei Rosa Kempf und Marie Bernays ist die Quellenlage problematisch. Quellenbestände, die in der Forschungsliteratur angeführt werden, sind inzwischen nicht mehr zugänglich oder unauffindbar.71 Das Kapitel zu Kempf knüpft deshalb vor allem an die Artikel Elke Reinings an, die noch Zugang zu diesen Beständen hatte und in mehreren Beiträgen die Rolle der Frauenrechtlerin und Politikerin bei der Gründung der ersten Sozialen Frauenschulen in Deutschland
64 Broicher (1899); Dransfeld (1910). 65 Hoeber (1917). 66 Simon, Helene (1928a), S. 4–5. Simon war von Gnauck-Kühne testamentarisch als Biografin bestimmt worden. 67 Einträge zu Dyhrenfurth gibt es von der 4. Auflage 1909 bis zur 10. Auflage 1935 in: Degener (1909–1939). 68 Anhaltspunkte zu Dyhrenfurth waren lediglich in den Artikeln von Schöck-Quinteros (1998a; 1998b) zu finden. 69 Simon, Helene (1928a; 1929). Zu Simons Biographie über Gnauck-Kühne siehe Kapitel I 2.1.8 der vorliegenden Arbeit. 70 Dyhrenfurth (1919b). 71 Die von Reining (1998a–c; 2001) verwendeten Archivalien zu Kempf aus dem Privatarchiv Pfister sind nicht mehr auffindbar. Auch die von Manfred Berger (1999) und Fornefeld (2008) angeführten Quellen zu Bernays wie deren unveröffentlichten Lebenserinnerungen waren nicht zugänglich.
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untersucht hat.72 Für Kempfs beruflichen und akademischen Werdegang wurden außerdem die noch zugänglichen Quellen ausgewertet: die Personalakte im Staatsarchiv München (StArchM), die Studentenakte im Universitätsarchiv München (UAM); die Akten zum Frauenseminar für soziale Berufsarbeit im Institut für Stadtgeschichte Frankfurt am Main (IfS), die Akten im Hessischen Hauptstaatsarchiv Wiesbaden (HHSTaW), im Hessischen Wirtschaftsarchiv Darmstadt (HAW) und im Bundesarchiv Berlin (BarchB). Für die Werkbiographie wurden Zeitschriften der Landfrauenorganisationen und der ländlichen Sozialreform systematisch durchgesehen, die bisher bei der Forschung zu Kempf nicht berücksichtigt wurden. Zu Marie Bernays, ihren empirischen Studien und ihrer Arbeit als Gründerin und Direktorin der Sozialen Frauenschule Mannheim liegt bisher ebenfalls kaum Forschungsliteratur vor. Es gibt neben einem kurzen Beitrag von Gabriele Fornefeld, der einen Einblick in Bernays Entwicklung seit den 1920er Jahren vermittelt73, lediglich einzelne biographische Einträge74 sowie kürzere Artikel, die sie als „Pionier“ der Sozialen Arbeit vorstellen75 oder über ihre Arbeit als Abgeordnete der DVP im badischen Landtag berichten.76 Die Rekonstruktion des akademischen und beruflichen Werdegang Bernays’ stützt sich vor allem auf das spärliche erhaltende Material über ihr Studium (im Universitätsarchiv Heidelberg, UAH); auf veröffentlichte und unveröffentlichte Briefwechsel von Max und Marianne Weber (in der Bayerischen Staatsbibliothek München, BSB) und Marie Baum (im UAH); auf erhaltene Akten zu Bernays’ Tätigkeit als Direktorin der Sozialen Frauenschule Mannheim und als Abgeordnete für die DVP im Badischen Landtag (im Landesarchiv Baden-Württemberg, Abt. Generallandesarchiv Karlsruhe, GLA) sowie auf Bestände des Instituts für Stadtgeschichte – Stadtarchiv Mannheim (ISG-StAMA). Bei letzteren handelt es sich jedoch fast ausschließlich um Kopien, da die Originalbestände Ende des Zweiten Weltkriegs fast vollständig zerstört wurden, einschließlich des Großteils der Quellen zu Bernays’ Arbeit als Direktorin der Sozialen Frauenschule Mannheim. Für Bernays’ Konversion und die Zeit nach 1933 wurde der Nachlass von Albert Schmitt OSB, Abt zu Grüssau und Wimpfen (in der Benediktinerabtei Grüssau, Bad Wimpfen) eingesehen, der einen Briefwechsel Bernays’ mit dessen Familie beinhaltet. Wenig ergiebig war hingegen der Nachlass ihres Bruders Ulrich Bernays (im Landesarchiv BadenWürttemberg, Abt. Generallandesarchiv Karlsruhe, GLA), der nur einzelne relevante Briefe und Familienfotos enthält. Sowohl in der Autobiographie ihres Stief-
72 Reining (1998a–c; 2001); siehe auch Berger, Manfred (2000); Reinicke (1998b). 73 Fornefeld (2008). Fornefeld stützt sich auf Quellen, die für diese Arbeit nicht zugänglich waren. 74 So z. B. in den „Badischen Biographien“ (Schäfer, Hermann 1987) und im „Who is who der sozialen Arbeit“ (Reinicke 1998a). 75 Berger, Manfred (1999). 76 Exner, Konrad (2003; 2004).
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bruders Hermann Uhde-Bernays77 als auch in der unveröffentlichten Biographie, die ihr Bruder Ulrich Bernays über den Vater Michael verfasste78, wird Marie Bernays jeweils nur kurz erwähnt, was charakteristisch für (Auto-)Biographien der damaligen Zeit ist, in denen in der Regel nur Begegnungen mit Persönlichkeiten, die als zeitgeschichtlich bedeutend wahrgenommen wurden, Erwähnung fanden. 2.4 Aufbau der Arbeit In dieser Arbeit werden die Fallstudien zu den vier Pionierinnen nach ihrem Generationenzusammenhang in zwei Gruppen aufgeteilt und vorgestellt, denen jeweils ein theoretischer Teil vorangeht. In diesen werden die Entstehungskontexte und Rahmenbedingungen aufgezeigt, unter denen die empirische Sozialforschung der „Autodidaktinnen“ um 1900 entstand bzw. wie sich diese Entstehungskontexte und Rahmenbedingungen für die Generation der „Promovendinnen“ vor dem Ersten Weltkrieg verändert hatten. Der Beginn der Sozialforschung von Frauen in den Anfangsjahren des Wilhelminischen Kaiserreichs wird am Beispiel der beiden Autodidaktinnen Elisabeth Gnauck-Kühne und Gertrud Dyhrenfurth dargestellt, die Entwicklung und die veränderten Rahmenbedingungen der Sozialforschung nach 1900 und deren Stand vor dem Ersten Weltkrieg am Beispiel von Rosa Kempf und Marie Bernays. Die Fallstudien werden durch vorläufige Publikationsverzeichnisse, die einen Eindruck des Umfangs und der inhaltlichen Breite der Veröffentlichungen der vier Akteurinnen vermitteln, ergänzt.
77 Uhde-Bernays (1963[1947]). 78 Bernays, Ulrich (o. J.[1944]).
II DIE AUTODIDAKTINNEN 1 EMPIRISCHE SOZIALFORSCHUNG VON FRAUEN UM 1900 1.1 Entstehungskontexte und Rahmenbedingungen Es waren die spezifischen Konstellationen zu Beginn des Wilhelminischen Kaiserreichs, die in Deutschland die empirische Sozialforschung von Frauen förderten und ihnen den Zugang zur Wissenschaft ermöglichten. Dabei handelte es sich zum einen um einschneidende Veränderungen in der Organisation des Wissenschaftsbetriebs1, zum anderen um die (sozial)politische Aufbruchsstimmung, die 1890 einsetzte, nachdem Kaiser Wilhelm II. (1869–1941) mit den sogenannten „Februar-Erlassen“ den Ausbau des Arbeiterschutzes ankündigte. Über die arbeiterfreundliche(re) (Sozial-)Politik des Kaisers, mit der dieser auf die großen Bergarbeiterstreiks im Ruhrgebiet 1899 reagierte, war es zum Streit zwischen Wilhelm II. und Otto von Bismarck (1815–1898) gekommen, der zum Rücktritt Bismarcks vom Amt des preußischen Ministerpräsidenten im März 1890 führte. Wenige Monate später, im September 1890, wurde das „Sozialistengesetz“ aufgehoben, das sozialistische und sozialdemokratische Aktivitäten und Organisationen verboten hatte. „Der Zeitgeist wurde sozial“, erinnert sich Elisabeth Gnauck-Kühne später an diese Jahre.2 Über die Arbeiter- und die Frauenfrage wurde in dieser Zeit viel und kontrovers diskutiert. Im Oktober 1891 gab sich die nicht mehr verbotene Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD) ein neues Programm, in dem sie die „Abschaffung aller Gesetze, welche die Frau in öffentlich- und privatrechtlicher Beziehung gegenüber dem Manne benachteiligen“ sowie eine wirksame nationale und internationale Arbeiterschutzgesetzgebung auf Grundlage des Achtstundentages forderte.3 Die Gewerkschaften begannen, sich zu entwickeln, die Feministin und Sozialistin Emma Ihrer (1857–1911) und der Gewerkschaftsfunktionär Carl Rudolf Legin (1861–1920) kämpften für die Rechte und die Organisierung der Arbeiterinnen. Ihrer gab ab 1890 „Die Arbeit – Zeitschrift für die Interessen der Frauen und Mädchen des arbeitenden Volkes“ heraus. Auch die bürgerlichen Sozialreformbewegungen und die historische Frauenbewegung erlebten eine Hochphase, die sich in zahlreichen Neugründungen von Vereinen und Organisationen und damit in einer verstärkten Mobilisierung niederschlug. Mit der Gründung des
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Siehe hierzu ausführlich Bruch (1980), S. 17. Gnauck-Kühne (1904a), S. 32. Zitiert nach Simon, Helene (1928a), S. 44f.
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Evangelisch-Sozialen Kongresses 1890 und des Volksvereins für das katholische Deutschland 1891 entstanden zwei bedeutende Organisationen der christlichbürgerlichen Sozialreform.4 1894 wurde mit dem Bund Deutscher Frauenvereine (BDF) eine zentrale Dachorganisation der Frauenbewegung gegründet.5 Einen wichtigen Eckpunkt für die Professionalisierung und Etablierung sozialer Berufsarbeit bildete die Gründung der Mädchen- und Frauengruppen für soziale Hilfstätigkeit 1893. Die Mädchen- und Frauengruppen sind gleichzeitig ein eindrückliches Beispiel für die engen wechselseitigen Verbindungen zwischen Protagonisten der bürgerlichen Sozialreform und Akteurinnen der Frauenbewegung sowie ihrer arbeitsteiligen Zusammenarbeit bei der sozialen Frage. Ein wichtiges Zentrum für die empirische Sozialforschung von Frauen um die Jahrhundertwende war Berlin. Berlin war die Großstadt des Kaiserreichs und die Stadt in Deutschland, die am stärksten von Urbanisierung und Industrialisierung und deren negativen Folgen betroffen war. Die Verelendung der Arbeiterschaft war hier am sichtbarsten. Berlin war Sinnbild für die Moderne und Inbegriff dessen, was agrarromantische Strömungen und „Großstadtfeinde“ ablehnten.6 Die Stadt war das politische und eines der wichtigsten wissenschaftlichen Zentren des Kaiserreichs. Die zentralen Organisationen der Sozialreform und der Frauenbewegung hatten hier ihren Sitz. An der Berliner Universität lehrten die einflussreichsten Vertreter des sogenannten „Kathedersozialismus“. Die Kathedersozialisten, wie sie ursprünglich ironisch-abwertend bezeichnet wurden, waren eine heterogene Gruppe von einflussreichen Wissenschaftlern, Beamten, Politikern, Geistlichen und Unternehmern, die sich ab 1872 um den Verein für Sozialpolitik gruppierten. Sie können als Vorläufer einer wissenschaftlich begründeten Sozialpolitik gelten, denn ihr gemeinsames Anliegen bestand in der Realisierung sozialer Reformen und der wissenschaftlichen Untermauerung ihrer Interventionsmethoden – vor allem durch Enqueten.7 Ihre umfangreichen empirischen Erhebungen, an deren methodische Herangehensweisen und deren Wissenschaftsverständnis die ersten Sozialforscherinnen anknüpften, wurden meist von Berlin aus organisiert. Es waren überwiegend Nationalökonomen, die im Rahmen des VfS seit Mitte des 19. Jahrhunderts umfangreiche Erhebungen durchführten, um eine Datengrundlage für die Lösung sozialer Missstände zu schaffen. Mit den Ergebnissen ihrer Erhebungen versuchten sie, die öffentliche Meinung zu beeinflussen und der Legislative Impulse zu geben. Der VfS – aber auch der ESK – bildeten sowohl in institutioneller als auch in personeller Hinsicht für Sozialforscherinnen wie Elisa-
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Zur bürgerlichen Sozialreform, ihrer Organisationen und ihren Vereinen liegt eine Vielzahl von Arbeiten vor; siehe vor allem die grundlegenden Arbeiten von Bruch (1980; 1985). Die Gesellschaft für Soziale Reform (GfSR) wurde 1901 gegründet, siehe hierzu Ratz (1980). Zur Hochphase der Frauenbewegung während des Wilhelminischen Kaiserreichs siehe Gerhard (1990); Gerhard (1998), S. 345 und S. 349; Wischermann (2004), S. 16. Zur Stadt als Stätte der Begegnung vgl. Bruch (2006a); zu den Großstadtfeinden vgl. Bergmann (1970). Prein (1992), S. 1134–1136.
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beth Gnauck-Kühne und Gertrud Dyhrenfurth wichtige Bezugs- und Orientierungspunkte. Der VfS wurde 1872 aus Kreisen der Verwaltungsbürokratie und von Universitätsprofessoren gegründet.8 Er war ein loser Zusammenschluss für die ersten größeren Sozialforschungsprojekte, und da es in Deutschland vor dem Ersten Weltkrieg keine institutionalisierte Arbeitsstätte für sozialwissenschaftliche Forschung gab, war er während des Kaiserreichs die quasi-akademische Instanz für empirische Sozialforschung. Seit seiner Gründung führte der VfS kontinuierlich Erhebungen durch, an denen in der Regel Studierende aus den Universitätsseminaren von Vereinsmitgliedern beteiligt waren.9 Der VfS fungierte als Forum für Themenfindung und als sozialer Rahmen, in dem über die eigenen Untersuchungen fachkundig diskutiert und Kritik geübt werden konnte und das die Forschungsergebnisse einer breiteren gesellschaftlichen Öffentlichkeit zugänglich machte. Von seinen Mitgliedern, die hinsichtlich ihrer wissenschaftlichen und politischen Ziele sehr heterogen waren, propagierten vor allem die Vertreter der jüngeren Historischen Schule der Nationalökonomie eine soziale Ausrichtung; sie sprachen sich gegen Manchesterliberalismus und für staatliche Sozialpolitik aus. Sozialistische Gesellschaftskritik hielten sie angesichts der bestehenden sozialen Missstände zwar für berechtigt, den revolutionären Sozialismus lehnten sie jedoch ab.10 Der ESK ergänzte mit seinem Programm und seinen Zielen die Arbeit des VfS11; auch personell gab es viele Überschneidungen. 1890 gegründet, war der ESK ein bedeutendes soziales Netzwerk des Kulturprotestantismus.12 Mit seinen ca. 1.000 Mitgliedern war er – wie der VfS und im Gegensatz zum Volksverein für das katholische Deutschland13 – keine Massenorganisation. Er war ein Zusammenschluss protestantischer Sachverständiger, die mit einer theoretischen Herangehensweise nach praktischen Lösungen für die soziale Frage suchten. Zu seinen Mitgliedern gehörten Theologen, Nationalökonomen, höhere Verwaltungsbeamte und Großindustrielle. In seiner Satzung von 1891 stellte sich der ESK die Aufgabe, die sozialen Zustände vorurteilslos zu untersuchen und Lösungsvorschläge zu erarbeiten, die sich an den sittlichen und religiösen Forderungen des Evangeliums orientieren sollten.14 Sein Ziel war die Unterstützung der sozialen Gesetzgebung 8
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Zu Geschichte und Zielen des VfS vgl. Conrad, Else (1906a), S. 1–33; Boese (1939); Lindenlaub (1967). Zur Bedeutung des VfS für die empirische Sozialforschung vgl. Gorges (1986); Schäfer, Ulla (1971); Schad (1972); Oberschall (1997); Kern, Horst (1982). Zeisel (1975), S. 129. Zu den „Kathedersozialisten“ siehe Lindenlaub (1967), S. 10 und S. 93ff.; zur Heterogenität der Gruppenmitglieder vgl. Bruch (2006c), S. 312f. Simon, Helene (1928a), S. 54. Zum Kulturprotestantismus und der sozialen Frage siehe die grundlegenden Arbeiten von Schick (1970); Kretschmar (1972); Hübinger (1994). Zum Volksverein für das katholische Deutschland siehe Kapitel II 2.1.7 der vorliegenden Arbeit. Satzung des ESK, in: Archiv des KDFB, Nachlass Gnauck-Kühne, 1–112–6.
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Kaiser Wilhelms II. und die Verbesserung der sozialen Lage der Arbeiterschaft. Gleichzeitig wollte er das weitere Anwachsen der Sozialdemokratie verhindern und die Arbeiterschaft für die Kirche zurückgewinnen. Der ESK war vor allem in den Anfangsjahren des Kaiserreichs ein wichtiger Bezugspunkt für die Sozialforschung der Pionierinnen. Er gehörte zu den wenigen sozialpolitisch orientierten Organisationen, bei denen die Teilnahme von Frauen – wenn auch zunächst nur als Zuhörerinnen – möglich war, weil er von den Behörden nicht als politischer Verein im Sinne des Preußischen Vereinsgesetzes eingestuft wurde. Das Preußische Vereinsgesetz verbot Frauen bis 1908 die politische Betätigung, die Mitgliedschaft in politischen Vereinen oder die Teilnahme an politischen Veranstaltungen.15 Weil ihnen zu diesem Zeitpunkt auch der Zugang zur höheren Bildung und zu den Universitäten noch verwehrt wurde, waren die vom ESK seit 1893 veranstalteten sozialen Kurse ein wichtiger Anlaufpunkt für gebildete und sozial(wissenschaftlich) interessierte Frauen. Wie bei den informellen gesellschaftlichen Treffen im Haus von Gustav Schmoller hatten sie hier die Möglichkeit, Kontakte zu knüpfen und sich mit Vertretern der akademischen Sozialreform und der evangelisch-sozialen Kreise über aktuelle politische und gesellschaftlich relevante Themen auszutauschen. Allerdings gab es auch im ESK sehr konträre Ansichten sowohl über die Mitarbeit von Frauen als auch über die Haltung des ESK gegenüber der Sozialdemokratie. Nur in den ersten Jahren nach der Gründung gelang es, die beiden feindlichen Lager für eine gemeinsame Arbeit zu vereinen. An Gnauck-Kühnes Mitarbeit im ESK zeigt sich exemplarisch, wie sich ab Mitte der 1890er Jahre die Konflikte verschärften, die zur Spaltung des ESK führten. 1.2 Methodische Bezugspunkte Bei den Enqueten des VfS, an denen sich Sozialforscherinnen wie Elisabeth Gnauck-Kühne und Gertrud Dyhrenfurth methodisch orientierten, handelte es sich in der Regel um monographische Darstellungen. Sie basierten überwiegend auf Fragebogenerhebungen, bei denen es um die Informationsbeschaffung über Teilgebiete der Gesellschaft ging. Die Verarbeitung des über Erhebungsmethoden wie Beobachtung, Gespräche und (Experten-)Fragebogen gewonnenen Datenmaterials erfolgte unter Verwendung einfacher statistischer Methoden und beschränkte sich meist auf eine rein deskriptive Darstellung. Die empirisch gewonnenen Informationen über soziale Sachverhalte wurden in eine als „Branchenanalyse“ bezeichnete historische Beschreibung der Herausbildung und Entwicklung ökonomischer und sozialer Strukturen des untersuchten Problemfeldes eingebettet. Diese Kontextualisierung ermöglichte es, die Ergebnisse in einem größeren Rahmen, als Teil einer ökonomischen und sozialen Entwicklung zu bewerten. Sie bildete die Argumenta-
15 Zum Preußischen Vereinsgesetz von 1908 siehe Gerhard (1990), S. 280f.
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tionsgrundlage für die Analyse des Materials und die daraus abgeleiteten sozialpolitischen Vorschläge und stellte eine Verwissenschaftlichung des Vorgehens dar.16 Die Erhebungspraxis und die Erhebungsmethoden wurden im Austausch mit internationalen Entwicklungen und Vorbildern ausgearbeitet. Der VfS ließ vor Beginn der eigenen Untersuchungen meistens Berichte über Erfahrungen mit Erhebungsmethoden in anderen Ländern erstellen. Vor allem der ständige Blick nach England war für die deutsche Sozialreform am Ende des 19. und zu Beginn des 20. Jahrhunderts charakteristisch.17 England, das wesentlich früher als Deutschland und andere Staaten von der Industrialisierung erfasst wurde, galt als „Wiege der Nationalökonomie“.18 Der VfS knüpfte mit seinen Enqueten an die Untersuchungen englischer Sozialreformer der 1830er und 1840er Jahre an, die auch in England zwischen 1886 und 1900 – mit den Surveys von Charles Booth (1840–1916) und Benjamin Seebohm Rowntree (1871–1954) – eine erneute Konjunktur erlebten. Verglichen mit den deutschen Erhebungen waren die englischen Surveys aber wesentlich umfangreicher. Sie umfassten beispielsweise eine soziale Topographie, mit der sie durch Karten und Tabellen die Verbreitung von Armut in einzelnen Stadtteilen dokumentierten und sichtbar machten. Ein weiterer Anknüpfungspunkt für die Sozialforschung in Deutschland waren die englischen parlamentarischen Untersuchungskommissionen („Royal Commissions“), in deren Rahmen beamtete FabrikinspektorInnen Erhebungen über die Lebensverhältnisse der Fabrikarbeiterschaft durchführten. In Deutschland erstellten Fabrikinspektorinnen – zum Teil nach englischem Vorbild und nachdem ihre Stellen mühsam erkämpft worden waren – empirisch fundierte Berichte über die Arbeitsverhältnisse von FabrikarbeiterInnen.19 Auch die ersten Sozialforscherinnen in Deutschland fanden in England Vorbilder für ihre Arbeit. England war nicht nur in der Sozialreform, sondern auch beim Zugang von Frauen zur Wissenschaft dem deutschen Kaiserreich voraus. Bedingt durch die unterschiedlichen nationalen Ausprägungen der Wissenschaftssysteme war der Zugang von Frauen zur Wissenschaft in England weniger hürdenreich und die Sozialforschung von Frauen bereits früher möglich geworden.20 Als Alice Salomon (1872–1948) im April 1900 in den Kreisen der bürgerlichen Frauenbewegung dafür warb, soziologische Untersuchungen nach dem Vorbild englischer Surveys in Deutschland durchzuführen, hatten Elisabeth Gnauck16 17 18 19
Vgl. in diesem Zusammenhang Weyrather (2003), S. 62–65. Schöck-Quinteros (1998c). Altmann-Gottheiner (1931), S. 211. Siehe Kern (1982), S. 67–113. Ein Beispiel für einen solchen Bericht ist die Studie von Marie Baum (1906). 20 Siehe den frühen Bericht von Elisabeth (Altmann-)Gottheiner über „Nationalökonomie als Frauenstudium in England“ (1899). Zur Sozialforschung von Frauen in England siehe Bulmer/Bales/Sklar (1991); Yeo (1996); Fitzpatrick (1990); Lewis (1991); zur Sozialforschung von Frauen in den USA siehe Deegan (2000[1988]). Bis heute liegen kaum (international) vergleichende Untersuchungen über die frühen Sozialwissenschaftlerinnen vor. Eine Ausnahme bildet die Studie von Wobbe (1997).
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Kühne und Gertrud Dyhrenfurth mit ihren Pionierstudien den Weg dafür schon geebnet.21 Eine der wichtigsten Wegbereiterinnen der Sozialforschung von GnauckKühne und Dyhrenfurth war Beatrice Webb (1858–1943). Webb gehörte von 1886 bis 1887 zu den MitarbeiterInnen des großen Survey „Life and Labour of the People of London“ (1886–1889) und machte sich mit ihren Sozialbeobachtungen und Essays einen Namen.22 Der vom Reeder und Sozialstatistiker Charles Booth überwiegend aus privaten Mitteln durchgeführte Survey gilt als eine der folgenreichsten und monumentalsten Enqueten der frühen Sozialforschung. Die Aufmerksamkeit von Gustav Schmoller und Lujo Brentano, den einflussreichsten Kathedersozialisten, zog Webb mit ihrer Untersuchung über „Die britische Genossenschaftsbewegung“ (1893; engl. Original 1891) auf sich. Schmoller war einer der letzten „Mandarine“ des deutschen Wissenschaftssystems und entschied über die Besetzung der meisten Lehrstühle seines Fachs an deutschen Universitäten. Er war Mitbegründer und ab 1890 Vorsitzender des VfS.23 Obwohl er die sozialistische Haltung der Autorin ablehnte, war Schmoller „ganz hingerissen“ von Webbs Studie. Selbst nach „wiederholtem Studium“ war es für ihn eine „ganz hervorragende Leistung“ und einer der „wertvollsten Beiträge“ zu diesem Thema.24 Sowohl Schmoller als auch Brentano waren von Webbs wissenschaftlichen Arbeiten so überzeugt, dass sie zu Fürsprechern nationalökonomischer Frauenstudien wurden. Brentano gab später die Schriften von Webb in Deutschland heraus und veranlasste die Verleihung der Ehrendoktorwürde der Universität München an Webb (1926).25 Als „Vorbild für Frauen mit akademischen Ambitionen“26 wurde Beatrice Webb zum Maßstab, an dem Sozialforscherinnen wie Sozialforscher gemessen wurden. Ein weiteres Vorbild war die linksliberale Sozialreformerin Clara E. Collet (1860–1948), deren Arbeiten Gertrud Dyhrenfurth für die deutsche Rezeption zugänglich machte. Collet, eine Freundin von Beatrice Webb und Eleanor Marx (1855–1899), war die erste Studentin an der Londoner Universität und eine der ersten Frauen, die in England erfolgreich eine ordentliche akademische Laufbahn absolvierten.27 Sie hatte wie Webb beim Survey „Labour and Life of the People of London“ von Charles Booth mitgearbeitet und das Kapitel über Frauenarbeit verfasst.28 Für deutsche Sozialforscherinnen wie Gnauck-Kühne und Dyhrenfurth
21 Salomon (1900). 22 Die Erhebungsphase dauerte von 1886 von 1889, die Ergebnisse wurden zwischen 1902 und 1903 veröffentlicht. Zu Beatrice Webb siehe z. B. Lepenies (1988). 23 Ringer (1983). 24 Schmoller (1893), S. 218; siehe auch Cohn (1896), S. 187. 25 Brentano an die Staatswirtschaftliche Fakultät der Ludwig-Maximilians-Universität München am 12. November 1926, in: UAM, M–XI–64. 26 Salomon (1983), S. 74. 27 Dyhrenfurth (1896b). 28 Collet (1889).
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war vor allem Collets Einbindung in die renommierten statistischen Gesellschaften, ihr beruflicher Werdegang, ihre Arbeit in staatlichen statischen Ämtern sowie ihre Anwendung der amtlichen Statistik auf „Frauenfragen“ beispielgebend. Collet war seit 1892 Mitglied der Royal Commission of Labour und ab 1894 der Royal Statistic Society.29 Anders als Webb und anders als die meisten englischen Nationalökonominnen arbeitete Collet fast ausschließlich zum Thema Frauenarbeit. Bis 1893 war sie als Assistant Commissioner bei der königlichen Untersuchungs-Kommission über die Zustände der Arbeit für das Spezialgebiet Frauenarbeit zuständig, danach als Sachverständige für die Bearbeitung der Statistiken über Frauenarbeit in der Abteilung für Arbeitsstatistik des englischen Handelsministeriums.30 Ihre Sonderberichte waren innovativ, da sie neue Erkenntnisse über die (statistische) Entwicklung der Frauenerwerbsarbeit erbrachten. Das lag vor allem an ihrer Herangehensweise, mit der es ihr gelang, die bis dahin von der Arbeitsstatistik nicht berücksichtigte Erwerbstätigkeit von Frauen sichtbar zu machen: Collet wertete das Datenmaterial bereits abgeschlossener Erhebungen neu aus und ergänzte diese durch eigene Erhebungen. Ein weiteres Beispiel für den internationalen Austausch und die transnationale Entwicklung von Themen und Methoden der Sozialforschung und Sozialreform sind die Arbeiten der US-Amerikanerin Florence Kelley (1859–1932), deren Werdegang zudem auf die internationale Ausrichtung der Studien- und Berufswege der ersten Sozialwissenschaftlerinnen verweist. Ihre soziale und wissenschaftliche Grundausbildung erhielt Kelley während eines mehrjährigen Europaaufenthalts Mitte der 1880er Jahre, während dem sie in Zürich und Heidelberg mehrere Semester Nationalökonomie und Recht studierte. Kelley war Sozialistin und stand in engem Briefkontakt zu Friedrich Engels (1820–1895). Sie übersetzte unter anderem dessen Studie über „Die Lage der arbeitenden Klasse in England“ ins Englische.31 Bekannt wurde Kelley nach ihrer Rückkehr durch ihren Kampf gegen Kinderarbeit im Rahmen ihrer Funktion als erste Fabrikinspektorin in den USA (im Staat Illinois) und als Mitglied des Hull House, dem von Jane Addams (1860– 1935) gegründeten Women Settlement in Chicago. Das sich in und um das Hull House formierende Netzwerk von Sozialwissenschaftlerinnen nahm mit den unten dem Titel „Hull House Maps and Papers“ 1895 veröffentlichten sozialen Erhebungen und Skizzen die als „Social Surveys“ bezeichneten sozialen (städtischen) Übersichtsstudien vorweg, für die Ende der 1920er Jahre die Chicagoer Schule der Soziologie bekannt wurde.32 In Deutschland erschienen von Kelley um 1900 regelmäßig Artikel über die Situation und Entwicklung der US-amerikanischen Arbeiterinnenschutzbewegung und die damit korrespondierende Fabrikgesetzgebung im „Archiv für Sozialwissenschaft und Sozialpolitik“. 29 30 31 32
Zu Clara Collet siehe McDonald (2004). Dyhrenfurth (1896b). Sklar (1995), S. 86. Vgl. Deegan (2000[1988]); zu den Social Surveys der Chicago School siehe z. B. Maus (1973), S. 38–43.
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Für die methodische Vorgehensweise der Sozialforschung in Deutschland bis in die 1930er Jahre war, wie erwähnt, die monographische Methode charakteristisch, die auf Frédéric Le Play (1806–1982) zurückgeht, und die vor allem von Gustav Schmoller als gängige Erhebungspraxis bei den Untersuchungen des VfS durchgesetzt wurde. An Le Plays „Genauigkeit in der Protokollierung aller Vorgänge“ und seiner „Forderung nach möglichst umfassendem Quellenmaterial“ orientierten sich noch Marie Jahoda (1907–2001), Paul F. Larzarsfeld (1901– 1976) und Hans Zeisel (1905–1992) bei ihrer Soziographischen über „Die Arbeitslosen von Marienthal“ (1933).33 Der französische Soziologe und Sozialreformer Le Play führte eine fünfzehnjährige Feldforschung über das Leben der europäischen Arbeiter durch. In seinem Ergebnisbericht „Les Ouvriers Européens“ (1855) stellte er im Rahmen von Fallbeispielen 36 „typische“ Arbeiterfamilien in Form von Monographien vor, die einem einheitlichen Schema folgten: Sie umfassten eine kurze Charakteristik der Familienmitglieder nach Alter, Beschäftigung und Stellung im Haushalt sowie eine Bewertung der moralischen und sittlichen Verhältnisse. Sie basierten vor allem auf der Recherche und Dokumentation der Haushaltsbudgets der Familien, die als wichtiger Indikator für Volksernährung und Volksgesundheit galten. Dabei wurde jeder Posten, um welche Leistungen oder Nutzungen es sich auch handelte, in einen Geldbetrag umgerechnet. Verglichen mit den statistischen Tabellen der amtlichen Enqueten wirkte die monographische Darstellungsweise durch die ausführliche Darstellung der Budgets und die Auflistung des Wohnungsinventars wie ein unmittelbares Abbild des Lebens. Sie vermittelte den LeserInnen ein genaues Bild der Art und Zahl der Schlafstellen, der Bettpolster, des Kochgeschirrs und was es sonst an Hausrat gab.34 Die Haushaltbudgetrechnungen bildeten die Datengrundlage für die Frage, ob und wie sich das Realeinkommen von Familien durch Einsparungen in der Konsumtion, durch bessere Haushaltsführung und Eigenproduktion verbessern ließ.35 Die monographische Methode rückte den Alltag als Forschungsgegenstand in den Vordergrund; es ging nicht darum, eine möglichst große Anzahl von Fällen zu erforschen, sondern um die Erfassung und Darstellung von typischen Situationen. Die induktive Vorgehensweise der monographischen Methode war für Fragestellungen wie die Arbeiterinnenfrage hilfreich, über die noch kein größerer verwertbarer Datenbestand vorlag. Denn sie ermöglichte es, die benötigten Informationen für den eigenen Forschungsansatz durch das Sammeln von Fallbeispielen selbst zu produzieren. Das war ein Vorteil gegenüber den abstrakt-quantitativen, deduktiven Forschungsmethoden wie der Sozialstatistik, die mit einem großen zeitlichen und finanziellen Erhebungsaufwand verbunden und deshalb nur für wenige Untersuchungen anwendbar waren. Problematisch bei der induktiven Vorgehensweise
33 Zeisel (1975[1933]), S. 124. 34 Zeisel (1975[1933]), S. 123. 35 Rudolph (1986) S. 132.
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waren folgende Punkte: Nach welchen Kriterien wurden die Fallbeispiele ausgewählt? Waren sie repräsentativ? An Frédéric Le Plays Studie „Les Ouvriers Européens“ wurde etwa kritisiert, dass sich seine konservativen Vorstellungen bei der Auswahl der Fälle für die Studie niedergeschlagen hätten und ihm eine Auswahl „typischer“ Familien deshalb nicht gelungen sei.36 Die Schlüsse, die er aus seinem Material zog, waren daher weitgehend unrichtig; seine sozialkonservative Abneigung gegen Industrie und Fabrikarbeit ließen ihn beispielsweise die schlechten Arbeits- und Lebensbedingungen in der Hausindustrie übersehen. Die methodische Abgrenzung von der Statistik und der statistische Denkweise spielte noch unter einem anderen Gesichtspunkt für die Sozialforschung der Pionierinnen, aber auch für die Entstehung der Soziologie eine wichtige Rolle: Die statistische Erfassung und Vermessung von Wirtschaft und Gesellschaft war Ende des 19. Jahrhunderts fester Bestandteil der Sozialforschung, jedoch gleichzeitig umstritten. Bei den methodologischen Auseinandersetzungen ging es um die Weiterentwicklung der rein ordnenden quantitativen Statistik. Die bekannteste Kontroverse war die zwischen Adolphe Quetelet (1796–1874), einem Vertreter der Moralstatistik, und Auguste Comte (1798–1857), der eine aussagekräftige empirisch und theoretisch fundierte Gesellschaftsanalyse forderte.37 Comte grenzte sich mit seiner mehr geschichtsphilosophisch ausgerichteten Soziologie explizit von der seines Erachtens einfachen Statistik Quetelets, der „Physique sociale“, ab. Comte hat seinen Ansatz allerdings methodisch nicht konkretisiert, er wurde erst von Émile Durkheim ausgearbeitet. Dessen Forderung, dass das Soziale nur durch das Soziale zu erklären sei, findet sich in den Grundzügen bereits bei Comte.38 In Deutschland waren es vor allem Vertreter der jüngeren Historischen Schule der Nationalökonomie, die sich von den – von ihnen als „Tabellenknechte“ abgewerteten – Anhängern der quantifizierenden amtlichen Sozialstatistik abgrenzten.39 Sie kritisierten die Beliebigkeit und die mangelnde Aussagekraft der reinen Auflistung von Zahlen.40 Allerdings gingen sie mit ihren Forderungen nicht so weit wie Comte. Ernst Engel (1821–1896), ein Mitglied des Preußischen Statistischen Bureaus in Berlin, griff Quetelets Anregung auf, Haushaltbudgets von Arbeiterfamilien zum Gegenstand sozialstatistischer Erhebungen zu machen. Mit einer Synthese zwischen der „toten Zahlenreihen“ statistischer Erhebungen und des lebendigen Inventars der monographischen Methode versuchte Engel, die
36 Kern, Horst (1982), S. 53ff.; Maus (1973), S. 29; Zeisel (1975[1933]), S. 122; Reuß (1913), S. 277. 37 Zur Bedeutung von Sozialstatistik und statistischer Denkweise als wichtige Teile der Vorgeschichte der empirischen Sozialforschung siehe Schäfer, Ulla (1971); Desrosières (2005[1993]). 38 Maus (1973), S. 21–23. Zur frühen feministischen Kritik der französischen Soziologin Jenny P. d’Héricourt (1809–1875) an Auguste Comte siehe Arni/Honegger (1998). 39 Maus (1973), S. 24; vgl. König (1973), insb. S. 9. 40 Zur Kritik an der Sozialstatistik siehe z. B. Oberschall (1997), S. 31–33 und S. 78–82; Kern, Horst (1982), S. 37–66.
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Aussagekraft der Statistik zu erhöhen und Erkenntnisse über gesellschaftliche Zusammenhänge zu gewinnen. Demographie als wissenschaftliche Beschreibung der menschlichen Gemeinschaft bestand für ihn aus der einfachen Darstellung sozialer Sachverhalte, die durch Beobachtungsmaterial abgebildet wurden. Nach 1890 waren es in Deutschland, so eine zentrale These Horst Kerns (1982), vor allem wissenschaftliche Außenseiter, die mit ihren Studien Impulse zur Entwicklung der empirischen Sozialforschung setzten. Ihre Problemformulierung und Auswahl der Forschungsgegenstände zeichnete sich durch ein verändertes Erkenntnisinteresse aus. Vertreter religiöser Organisationen und Protagonistinnen aus den Kreisen der Frauenbewegung machten den psychologischen Zustand der Arbeiterklasse und deren moralische Verhältnisse sowie das große Feld der Frauenarbeit zum Forschungsgegenstand. Dies führte um 1900 zu einer wachsenden Vielfalt in der Sozialforschung. Die bekannte Untersuchung von Paul Göhre (1891) korrespondierte beispielsweise mit einer Veränderung der Probleme der Arbeiterklasse: Nicht mehr Massenarmut und zunehmende Verelendung standen nun im Vordergrund, sondern die soziale und moralische Entwurzelung durch die Arbeit in den Fabriken und das Leben in der Stadt.41 Schon Mitte des 19. Jahrhunderts hatte die materialistische Empirie von Friedrich Engels und Karl Marx (1818–1883) gezeigt, dass eine andere Betrachtungsweise des Datenmaterials zu anderen Erkenntnissen führen konnte: „Die Lage der arbeitenden Klasse in England“ (1892) und das 8. Kapitel des ersten Bands von „Das Kapital“ (1867) basierten in erheblichem Umfang auf den Ergebnissen von Untersuchungen englischer Sozialreformer und amtlicher Einrichtungen der 1830er und 1840er Jahre.42 Obwohl sie die bürgerliche Sozialreform ablehnten, hatten Engels und Marx den Nutzen der bürgerlichen Erhebungen erkannt und keine Bedenken, die eigene Argumentation auf dem empirischen Datenmaterial aufzubauen, das die von ihnen kritisierten und verspotteten liberalen englischen Sozialreformer in ihren Enqueten zusammengetragen hatten. Mit ihrer Verwendung des Datenmaterials der Enqueten demonstrierten Engels und Marx, dass sich deren Ergebnisse subversiv verarbeiten und gegen die ursprünglichen Ziele der bürgerlichen Sozialforscher wenden ließen. Neu an der Vorgehensweise von Engels und Marx war, dass sie – ähnlich wie später Clara E. Collet – das empirische Datenmaterial nach einer soziologischen Fragestellung, d. h. nach den Merkmalen des Klassenkampfs, ordneten und dadurch anders akzentuierte Ergebnisse erhielten.43 Im Gegensatz zu Engels und Marx setzte die Historische Schule der Nationalökonomie bei ihren empirischen Untersuchungen in Deutschland auch zu Beginn des Wilhelminischen Kaiserreichs noch auf eine induktive Vorgehensweise; sie erfasste einzelne empirische Fakten, fasste sie zusammen und
41 Oberschall (1997), S. 27f. Zu Paul Göhres Studie siehe Kapitel II 2.2.1 der vorliegenden Arbeit. 42 Kern, Horst (1982), S. 79–83; vgl. Maus (1973), S. 27. 43 Zeisel (1975[1933]), S. 117; Kern, Horst (1982), S. 81.
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nahm dies als Grundlage für eine (sozialpolitische) Beurteilung und für Handlungsvorschläge. Die Mitarbeit von Frauen in der Nationalökonomie und der Nutzen ihrer Sozialforschung für die Wissenschaft wurde paradoxerweise mit Argumenten der Geschlechterdifferenz begründet: Beides wurde im Zusammenhang mit einer umfangreicheren Methodendebatte verhandelt, bei der es um die Frage einer größeren Objektivität und eines zurückhaltenden wissenschaftlichen Selbst durch neue Beobachtungstechniken und Instrumente ging.44 Die Vertreter der jüngeren Historischen Schule der Nationalökonomie mussten sich in dieser Diskussion gegenüber Positionen verteidigen, die in der Ausrichtung auf soziale Fragen und der sozialpolitischen Parteinahme eine Bedrohung des wissenschaftlichen Charakters des Fachs sahen.45 In den Augen vieler Kathedersozialisten war die Sozialforschung der kameralistischen Universitätsstatistiker und der Moralstatistik in der Tradition Quetelets mit ihrer Herangehensweise, wirtschaftliche und soziale Probleme allein durch mathematische Formeln lösen zu wollen, an ihre Grenzen gestoßen. Von der Mitarbeit der Frauen erhofften sie sich eine methodische Erweiterung und innovative Anstöße für die Weiterentwicklung der Disziplin. Die „Mütterlichkeit“ und die Soziale Arbeit der Frauen schien nötig zu sein, um die bürgerliche Sozialreform wirksam werden zu lassen. Nationalökonomen wie Gustav Schmoller wurden deshalb zu Unterstützern der Frauenbewegung und zu Mitstreitern für die Sozialforschung und den sozialen Beruf bürgerlicher Frauen.46 Einer der wichtigsten Mentoren des sozialwissenschaftlichen Frauenstudiums war Heinrich Herkner.47 In seiner eingangs erwähnten Antrittsvorlesung an der Züricher Universität verknüpfte er das nationalökonomische Frauenstudium und die Sozialforschung von Frauen ausdrücklich mit den Anliegen und dem historisch-qualitativen Methodenverständnis der jüngeren Historischen Schule der Nationalökonomie und begründete, weshalb gerade Frauen besonders geeignet seien, die sozialen Probleme der Modernisierung und Industrialisierung in der Perspektive der Geschlechterdifferenz zu untersuchen. Für Herkner war die klassische Nationalökonomie ein „studierstuben- oder büromäßiges, schablonenhaftes, kaltes, unwahres Gepräge“, das die Gesellschaft nicht als einen „von allen menschlichen Leidenschaften bewegten Organismus, sondern [nur] als ein starres Skelett“ erfassen könne. „In der entgegengesetzten Neigung der Frau, das Besondere, das Persönliche voranzustellen, die Dinge mehr mit dem Gefühle als mit dem Verstande zu packen“, sah Herkner das der Wissenschaft fehlende Mittel für die Ana-
44 Siehe hierzu ausführlich Daston/Galison (2007); siehe auch Kapitel III 1.3 der vorliegenden Arbeit. 45 Siehe in diesem Zusammenhang die Ausführungen von Schmoller (1897). 46 Peters (1984), S. 502. Zu den Förderern des nationalökonomischen Frauenstudiums siehe etwa Albisetti (1998), S. 204–237. 47 Vgl. z. B. den Nachruf auf Herkner von Leubuscher (1932).
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lyse und Diagnose der gesellschaftlichen Entwicklung.48 Frauen könnten, so Herkner, gerade deshalb „Tatsachen ermitteln, die männlichen Forschern zweifellos verborgen geblieben“ waren.49 Die spezifische Kompetenz der Frauen lag in seinen Augen in ihrem schärferen Blick und ihrem besseren Zugang zum Forschungsfeld der weiblichen Arbeits- und Lebensbedingungen. Zu einem ähnlichen Ergebnis kam auch Marianne Weber, die in ihrem Dialog mit Georg Simmel über die „objektive“ und „subjektive“ Kultur auf den eigenständigen und innovativen Beitrag der Frauen zur Entwicklung der Wissenschaften hinwies. In ihrer Argumentation ging Weber von methodischen und nicht von psychologisch-anthropologischen Überlegungen aus. Der „weibliche Standpunkt“ unterschied sich für sie vom männlichen durch die Art der Betrachtungsweise. Da Frauen andere Wertgesichtspunkte hätten, an denen sie ihre Arbeiten orientieren und das Tatsachenmaterial strukturieren, würden neue Fragen aufgeworfen und neue Wertmaßstäbe gesetzt. Dadurch erscheine Bekanntes in einem neuen Licht und werde Unbekanntes als kulturbedeutsam erkennbar.50 In den zeitgenössischen Diskussionen über die Beteiligung von Frauen an der Wissenschaft wurde davon ausgegangen, dass die Sozialpolitik und die empirische Sozialforschung das „adäquateste“ Arbeitsgebiet für Frauen in der Nationalökonomie seien, weil sie dort ihre „besten Leistungen“ erbringen könnten.51 1.3 Theoretische und politische Bezugspunkte Die Sozialforschung und die sozialpolitischen Konzepte von Elisabeth GnauckKühne und Gertrud Dyhrenfurth wurden von den zeitgenössischen sozial- und bildungspolitischen, philosophischen und wissenschaftlichen Debatten beeinflusst. In ihren sozialen Analysen und in ihrer Sicht auf gesellschaftliche Entwicklungen klingen die (sozial)darwinistischen Ideen und die Rhetorik von Charles Darwin und Herbert Spencer an, die damals das intellektuelle Klima an den und außerhalb der Universitäten bewegten.52 Gnauck-Kühne und Dyhrenfurth führten – wie Alice Salomon – in ihrem Werk die Idee des sozialen Friedens in der
48 Herkner (1899), S. 30–32. Viele Beiträge zur Geschichte von Frauen in der Nationalökonomie greifen die von Herkner in seinem Vortrag behandelten Fragen auf: Was haben Frauen bis jetzt auf dem Gebiete der wissenschaftlichen Nationalökonomie geleistet? Was ist das Studium der Nationalökonomie imstande, den Frauen zu bieten? Welchen Einfluss wird die zunehmende Beschäftigung der Frauen mit nationalökonomischen Problemen vermutlich auf die allgemeine gesellschaftliche Entwicklung ausüben? Siehe z. B. Altmann-Gottheiner (1931); Rudolph (1986); Bergmeier (1997). 49 Herkner (1899), S. 240; siehe hierzu auch Herkner (1912), S. 130; Bäumer (1914a), S. 157f.; Bergmeier (1997), S. 188–190. 50 Weber, Marianne (1919b[1904]), S. 5f.; Weber, Marianne (1919c[1913]), S. 108; vgl. Gilcher-Holtey (2004), S. 35. 51 Altmann-Gottheiner (1931), S. 218. 52 Zur zeitgenössischen Konjunktur sozialdarwinistischer Idee siehe Oberschall (1997), S. 29.
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Tradition der englischen Sozialphilosophie mit dem Konzept des Kathedersozialismus und der spezifisch deutschen Theorie der „geistigen Mütterlichkeit“ zusammen. Von der englischen Settlement-Bewegung übernahmen sie die Idee der Wiederherstellung persönlicher Kontakte zwischen Bürgertum und Arbeiterklasse.53 Wie die Kathedersozialisten und die englischen Sozialphilosophen waren Gnauck-Kühne und Dyhrenfurth davon überzeugt, dass die soziale Frage im Wesentlichen eine Bildungsfrage sei.54 An Thomas Carlyle (1795–1881) und Arnold Toynbee (1852–1883) anknüpfend gingen sie davon aus, dass der Weg zum sozialen Frieden in der Erziehung des „Volkes“ lag. Für Gnauck-Kühne ergab sich aus der sozial-christlichen Bildung die persönliche Verpflichtung, „an der Beseitigung des sozialen Spannungszustandes“ mitzuwirken. Die „soziale Versöhnung“ sollte durch auf sozial-christlicher Bildung basierende „soziale Gesinnung und soziale Arbeit“ erreicht werden.55 Sozialforscherinnen wie Gnauck-Kühne und Dyhrenfurth leiteten aus ihrer privilegierten sozialen Stellung die Verpflichtung zum Engagement für die Arbeiterinnen ab. Wissenschaftliche Arbeit war für sie nicht nur Medium ihres sozialen Einsatzes, sondern auch Ausdruck ihrer politisch-moralischen Überzeugungen.56 Sie und ihre Mitstreiterinnen aus der gemäßigten bürgerlichen Frauenbewegung fühlten sich deshalb besonders von der sozial-ethischen oder historisch-ethischen Ausrichtung der jüngeren Historischen Schule der Nationalökonomie angesprochen, die offenkundig und bewusst politisch ausgerichtet war.57 Sie analysierte und bewertete die empirischen Daten vor dem Hintergrund historisch-spezifischer Entwicklungen, vor allem jedoch unterlag die Deutung der Daten einer politischmoralischen Bewertung. In ihren wissenschaftlichen Untersuchungen lagen die politischen Urteile bereits in der Verallgemeinerung der wissenschaftlichen Ergebnisse und wurden nicht erst anschließend vorgenommen.58 Ihre Vertreter sahen sich in der Rolle eines Arztes, dessen Aufgabe es sein sollte, für die Gesundheit der Gesellschaft zu sorgen.59 Ihre sozialreformerische Aufklärungsarbeit richtete sich mehr an die politisch-soziale Moral des Großbürgertums und weniger an die fachwissenschaftliche Gelehrtenschaft.60 Sie befürworteten legislative Eingriffe des Staates in die Wirtschaft. Mit diesen sollte die Situation des Proletariats verbessert und die soziale Frage durch die wirtschaftliche und gesellschaftliche Emanzipation der Arbeiterklasse entschärft, vor allem aber ein weiteres Anwach-
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Vgl. Sachße (2003), S. 111–120. Bruch (1985), S. 115. Gnauck-Kühne (1909a), S. 124. Lepenies (1988), S. 26. Siehe z. B. Bäumer (1933), S. 199. Gorges (1986), S. 212; zur engen Verflechtung von Wissenschaft und Politik siehe Bruch (2006c). 59 Wilbrandt (1916). 60 Hinrichs (1981), S. 88.
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sen der sozialistischen und marxistischen Bewegung und ein revolutionärer Umsturz der bestehenden Gesellschaftsordnung verhindert werden.61 Vor allem Gnauck-Kühnes sozialpolitische Vorstellungen orientierten sich an den sozialkonservativen Positionen des VfS. In Abgrenzung zu sozialliberalen Positionen bezeichnete die sozialkonservative in diesem Zusammenhang einen gesellschaftspolitischen Standpunkt, für den Gustav Schmoller stand, die sozialliberale Richtung wurde durch Lujo Brentano und Max Weber vertreten. Die beiden Richtungen vertraten zum einen in der Frage nach der Trennung von wissenschaftlicher Analyse und sozialpolitischer Bewertung, zum anderen bei der Rolle und dem Umfang staatlicher (sozial)politischer Interventionen unterschiedliche Positionen. Der Konflikt um die „Werturteilsfreiheit“ war mit gegensätzlichen Einschätzungen des modernen Kapitalismus, der Rolle der preußisch-deutschen Bürokratie und vor allem der Ziele der Sozialpolitik verbunden. Gemeinsam kämpften beide Richtungen für die soziale Sache und richteten sich dabei gegen Reaktion und Revolution, d. h. sowohl gegen den Einfluss der sich aus Großindustriellen, Großgrundbesitzern, hohen Beamten und Militärs rekrutierenden konservativen Eliten als auch gegen eine dem revolutionären Umsturz verpflichtete sozialdemokratische Arbeiterbewegung. Während die Sozialkonservativen mehr die Wohlfahrt des Ganzen verfolgten, setzten die Sozialliberalen mehr auf die Wohlfahrt des Einzelnen.62 Gustav Schmoller sah in staatlichen Regelungen und Interventionen zum Schutz von sozial Schwachen den sozialpolitischen Ansatz zur Lösung der sozialen Frage. Er machte sich für die staatliche Regelung des Arbeitsvertrags, die Einführung von Fabrikgesetzen und die Kontrolle von Banken und Handel stark und forderte staatliche Bildungs- und soziale Wohnungsprogramme. Das Beamtentum als Vertreter der Staatsidee hatte in Schmollers Konzepten eine privilegierte Rolle. Seine Wirtschaftsethik der verteilenden Gerechtigkeit zielte nicht auf individuelle Lebenschancen, sondern auf Gemeinschaften, kollektive Zwecke und staatliche Wohlfahrtsbürokratien.63 Die Sozialliberalen um Lujo Brentano setzten sozialpolitisch dagegen mehr auf Gleichberechtigung von Kapital und Arbeit. Für sie war der Konflikt gesellschaftlicher Interessen weniger durch staatliche Intervention als vielmehr durch Integration aller Gesellschaftsgruppen auf der Grundlage der Rechtsgleichheit zu verhindern, sowie durch eine allmähliche Modernisierung und Anpassung des politischen Systems an den ökonomischen Wandel. Ihre Entwürfe zielten auf eine dem kapitalistischen Industriestaat adäquate Ordnung ab, d. h. auf geregelte Konkurrenz und politische Partizipation kollektiv organisierter gesellschaftlicher Interessen, vor allem aber auf die „Institutionalisierung des Klassenkonflikts“ (Dahrendorf) bei aufrechtzuerhaltender bürgerlicher Dominanz. Staatliche Eingriffe hatten sich in ihren Augen auf die Schaffung und Wahrung gleicher 61 Vgl. z. B. Weber, Marianne (1984[1926]), S. 135. 62 Zu den Unterschieden zwischen den sozialliberalen und sozialkonservativen Positionen im VfS siehe Krüger, Dieter (1983), S. 15–17; Lindenlaub (1967), S. 434ff. 63 Hübinger (1993), S. 31f.
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Bedingungen für den geregelten Konflikt gesellschaftlicher Gruppen zu beschränken und die wirtschaftliche Entwicklung auf keinen Fall zu behindern.64 Beiden Richtungen ging es um die Integration der Arbeiterklasse in die bürgerliche Gesellschaft. Für die sozialpolitischen Entwürfe bedeutete das, dass die soziale Frage mit der Arbeiterfrage identifiziert und von der Armenfrage – als dem Problem randständiger Gruppen – getrennt wurde. Bei der Betonung des Strebens nach sozialem Frieden und der Verbesserung der Situation der Arbeiter galt das Interesse nicht der Masse der Pauperisierten, sondern einer kleinen Elite der Arbeiterschaft. Bei der sozialen Unterstützung und Förderung wurde ein Unterschied zwischen „würdigen“ und „unwürdigen“ Armen bzw. Arbeitern gemacht. Die Förderung der „würdigen“ Arbeiter sollte die soziale Kluft zwischen besitzender und nicht-besitzender Klasse verringern und die Differenzen innerhalb der Arbeiterklasse betonen.65 Die Idee einer von der biologischen Mutterschaft losgelösten Mütterlichkeit war eine Metapher für spezifisch weibliche Eigenschaften und Fähigkeiten von Frauen, die diese außerhalb der Familie in der Gesellschaft zur Geltung bringen sollten.66 Sie wurzelte in den pädagogischen Reformideen Friedrich Fröbels (1782–1852), für den mütterliche Erziehungskompetenzen nicht an die leibliche Mutterschaft gebunden waren.67 Seit der Definition des im 17. Jahrhundert als Gegenbegriff zur Natur entwickelten Kulturbegriffs galten Frauen als der Natur verhaftet, während Männer als die alleinigen Kulturschaffenden angesehen wurden.68 Mit dem von der Frauenbewegung entwickelten Konzept der „organisierten Mütterlichkeit“, das an Fröbel anknüpfte, wurde eine vermeintlich spezifische Kulturleistung von Frauen begründet, indem der „natürlichen“ Disposition der Frauen zur Mutterschaft eine gesellschaftlich relevante „kulturschaffende“ Aufgabe zugeschrieben wurde. Diese bezog sich auf eine „geistige Mütterlichkeit“, die von der biologischen Mutterschaft abgekoppelt wurde. Das Konzept ermöglichte den Frauen die Erfüllung ihrer „wahren weiblichen Berufung“ ohne auf die Ehe angewiesen zu sein und öffnete ihnen unter anderem das weite Berufsfeld der Sozialen Arbeit.69 Gleichzeitig beinhaltete es eine Kritik am männlich konnotierten technischen Fortschrittsglauben, dem die Schuld an der sozialen Krise zugeschrieben wurde. Das Konzept der Mütterlichkeit stand in einem argumentativen Zusammenhang mit der Bewertung der Fabrikarbeit von Frauen, die in weiten Kreisen der Bevölkerung, aber auch von der bürgerlichen Frauenbewegung abge-
64 Dahrendorf (1957), S. 70ff. und S. 198ff. 65 Sachße (2003[1986]), S. 88f. und S. 134f. Die Aufteilung in „gute“ und „schlechte“ Arbeiter wurde bereits im 14. Jahrhundert von der christlichen Literatur eingeführt. 66 Zur „organisierten Mütterlichkeit“ im Kaiserreich siehe Allen (2000); Peters (1984); Sachße (2003); Stoehr (1983). 67 Siehe z. B. Becker, Liane (1911), S. 55. 68 Siehe in diesem Zusammenhang die grundlegenden feministischen Analysen zur Polarisierung und Ordnung der Geschlechter von Hausen (1976) und Honegger (1996[1991]). 69 Schneider-Ludorff (1995), S. 384 und S. 391–393.
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lehnt wurde. Helene Lange (1848–1930) diente beispielsweise die Arbeit von Müttern in der Fabrik als Argument für eine Modifizierung der Forderungen der Frauenbewegung: Es ging ihr weniger darum, (Erwerbs-)Arbeit als Menschenrecht für Frauen einzuklagen, sondern vielmehr um die Forderung nach (dem Recht) der Ausübung einer vermeintlich „weiblichen Kultur“.70 Die Sozialforscherinnen entwickelten ihre sozialen Analysen vor dem Hintergrund der zeitgenössischen Vorstellungen von Familie, Arbeit und Geschlecht. Sowohl ihre Biographien als auch ihre empirischen Studien und ihre sozialpolitische Arbeit waren, wie die Fallstudien in den nächsten Kapiteln zeigen, durch die Infragestellung von Traditionen und durch Grenzverschiebungen gekennzeichnet. Das lässt sich wegen ihrer gemäßigten Haltung und ihrem Lavieren zwischen modernen und antimodernen Positionen leicht übersehen. Wie Max Weber waren sie davon überzeugt, dass die „Brechung der Traditionen“ immer „am besten im Namen traditionell akzeptierter Wertvorstellungen“ gelang.71 Denn jede Neuerung unterliegt als abweichendes Verhalten, das im Widerspruch zu tradierten Normen steht, einem Sanktionsdruck und muss sich daher legitimieren. Dies gelingt am besten durch die Bezugnahme auf Traditionen, worauf Max Weber hingewiesen hat: „Einmal fühlt sich der Neuerer und Abweichler durch die Bezugnahme auf die Wertbegründung für sein Handeln selbst legitimiert, zum anderen kann er unter Umständen durch den Hinweis auf diese Wertvorstellungen den Sanktionsdruck der Umwelt auf sein Handeln abwehren, unterlaufen, entlegitimieren. Für die Durchsetzung einer Neuerung ist das Selbstbewusstsein des Neuerers von großer Bedeutung.“72
Die Arbeit der Sozialforscherinnen wurde von ihren Zeitgenossen als Traditionenbruch empfunden; das zeigen schon die Anmerkungen der Herausgeber, mit denen diese den Abdruck von Artikeln von Frauen rechtfertigten.73 Die Grenzverschiebungen und die vorsichtige Argumentation und Begründung der Sozialforscherinnen für erweiterte Handlungsspielräume von Frauen zeigten sich insbesondere in ihren Analysen zur Frauenarbeit, in denen die Auswirkungen der Erwerbstätigkeit von Frauen auf Familie und Gesellschaft eine zentrale Rolle einnahmen. Die Familie war im Rahmen des Strukturwandels der Öffentlichkeit seit Beginn der Moderne als elementarer Bestandteil der Durchsetzung einer bürgerlichpatriarchalen Ideologie nach den Vorstellungen einer hierarchischen Ordnung der Geschlechter neu strukturiert worden.74 Die restaurative und konservative Staatslehre und Philosophie sah in der Familie die Keimzelle des Staates und betonte die Bedeutung der Familie – hauptsächlich vermittelt über Eigentumsrechte im Zusammenhang mit der Vererbung – für die Stabilisierung des autoritären Staa-
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Weyrather (2003), S. 73f. Lepsius (1990), S. 38f. Weber, Max (1995), S. 168; vgl. Lepsius (1990), S. 39. Dyhrenfurth (1899a). Habermas (1999[1990]); vgl. Gerhard (1997).
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tes.75 Die Aufteilung zwischen öffentlichem und privatem Bereich, zwischen Produktions- und Reproduktionssphäre mit den entsprechenden geschlechtsspezifischen Zuständigkeiten und der damit einhergehende Ausschluss der Frauen aus der Öffentlichkeit sowie ihre Unterordnung unter den Mann, waren zu Beginn des Wilhelminischen Kaiserreichs weitgehend abgeschlossen.76 Die Arbeiten des Volkskundlers und Journalisten Wilhelm Heinrich Riehl (1823–1897) sind ein gutes Beispiel dafür, wie empirische Studien im 19. Jahrhundert zur Begründung eines normativen Bezugsrahmens für die Bewertung von Frauenarbeit und Familie und zur Durchsetzung patriarchal-konservativer Vorstellungen in Bezug auf die Familie und die Bestimmung der Frau dienten. Die Frauenarbeit wurde dabei zum Feld, auf dem die Bestimmung der Frau und ihre Disziplinierung in Form einer Verhäuslichung ausgehandelt wurde. Riehls mehrbändige empirische Reisestudie „Naturgeschichte des deutschen Volkes als Grundlage einer deutschen Social-Politik“ (1851–1869) entstand unter dem Eindruck der französischen Julirevolution sowie der Revolution von 1848. Sie war auch eine Reaktion auf die entstehende Frauenbewegung, die er ablehnte. Die empirischen Ergebnisse seiner Studien bildeten die Argumentationsgrundlage für seine sozialkonservativen Reformpläne, in deren Zentrum die Erhaltung der von ihm als gefährdet wahrgenommenen Familie als zentrale Institution der gesellschaftlichen Ordnung stand.77 Riehl entwarf ein für alle Familien in Deutschland geltendes Universalmodell, das er auf die empirischen Beobachtungen während seiner Reisen über die noch intakte patriarchale Ordnung der bäuerlichen Familie stützte. Dabei versuchte er, die ausschließliche Familienbestimmung des weiblichen Geschlechts zu belegen; der Frauenerwerbsarbeit lastete er dagegen die Auflösung und Desorganisation der Familie an. Mit seinem konservativen Familienbild und seinem Entwurf einer konservativen Sozialpolitik, deren Kernstück die Theorie der unangefochtenen väterlichen Autorität bildete, beeinflusste Riehl nachhaltig die Ideologie des deutschen Bürgertums. Lange Zeit bildete sie den nicht mehr hinterfragten normativen Bezugsrahmen für Untersuchungen, die sich mit den Auswirkungen der sozialen Frage und der Frauenerwerbsarbeit auf Familie und Geschlechterrollen befassten.78 Für die wissenschaftlich-fachliche Bewertung der Sozialforschung von Frauen spielten die Debatten über Geschlechtscharaktere, die das 19. Jahrhundert dominierten, eine wichtige Rolle. Der Nationalökonom Lorenz von Stein (1815–1890) betonte in seinem Vortrag über „Die Frau auf dem Gebiet der Nationalökonomie“ (1875) die gesellschaftliche und ökonomische Trennung von männlicher Produktions- und weiblicher Reproduktionssphäre. Mit seiner Idealisierung der Frauenarbeit im Haus wurde gleichzeitig die „unproduktive“ Rolle der Frauen für die 75 Gerhard (1978), S. 139–153. 76 Gerhard (1978), S. 139; Wagner (1995), S. 74ff. 77 Zeisel (1975[1933]), S. 123; zu Riehls Bedeutung für die Familiensoziologie siehe Gerhard (1978), S. 148–152. 78 Gerhard (1978), S. 81ff.; Gerhard (1998), S. 347.
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Zwecke der Nationalökonomie festgeschrieben.79 Die Wahrnehmung ihrer Arbeit nicht als Beitrag zum Allgemeinen, sondern zum Besonderen wirkte sich auch auf den Platz aus, der ihnen in der Wissenschaft zugestanden wurde. Sie führte zur Spaltung der Soziologie in eine allgemeine Gesellschafts- respektive Männerlehre und eine besondere, abgesonderte Familien- respektive Frauenlehre.80 Die Konsequenz dieser Arbeitsteilung war, dass bei der allgemeinen empirischen Soziologie die männlichen industriellen Arbeitsverhältnisse im Zentrum der zu erforschenden sozialen Frage standen; die unter dem Begriff der „Frauenfrage“ subsumierten weiblichen Arbeitsverhältnisse galten dagegen als eine fachspezifische Differenzierung und wurden damit zu einem (für die männlichen Experten) randständigen Themenfeld.81
79 Vgl. Gerhard (1978), S. 64–68. 80 Gerhard (1978), S. 150–152; Honegger (1994), S. 75f. 81 Rummler (1984), S. 15f.; vgl. Costas/Roß/Suchi (2000).
2 ELISABETH GNAUCK-KÜHNE (1850–1917) 2.1 Sozialwissenschaftlerin, Sozialpolitikerin und Pädagogin Elisabeth Gnauck-Kühne war als Frauenrechtlerin, Wissenschaftlerin und Sozialpolitikerin, die konfessions- und klassenübergreifend agierte und anerkannt wurde, im Wilhelminischen Kaiserreich eine Ausnahmeerscheinung.1 Sie gilt als Wegbereiterin der evangelischen und katholischen Frauenbewegung und als die „erste Sozialpolitikerin im modernen Sinn“.2 In Deutschland war sie die Erste, die sich mit der Frauenfrage im „wissenschaftlichen Geist des Kathedersozialismus“3 auseinandersetzte. Dabei verband sie empirische Sozialforschung mit sozialpolitischen Forderungen. Sie war auch eine der ersten Soziologinnen, denn es ging ihr um die „Durchdringung menschlicher Wechselbeziehungen in Geschichte und Gegenwart: der Geschlechter zueinander, der Klassen, der religiösen und weltlichen Gemeinschaftsbildung in ihrer Bedeutung für Individuum und Gesellschaft“.4 Ihre WegbegleiterInnen erlebten Gnauck-Kühne als impulsive, zwiespältige und widersprüchliche Persönlichkeit. Sie selbst bescheinigte sich, schon als Kind habe sie entweder „geliebt“ oder „gehasst, Mitteltöne gab es nicht“.5 Selbst engsten Freundinnen wie Gertrud Dyhrenfurth gelang es nicht, „ein übereinstimmendes Bild von ihrem Wesen zu gewinnen“.6 Gnauck-Kühne war eine Idealistin, die mit Leidenschaft für ihre Ideen und Überzeugungen kämpfte. Wenn sie „Übelstände“ aufdeckte, dann erwartete sie, dass sich „alle Welt“ dazu aufgerufen fühlen müsse, „ihnen abzuhelfen“.7 Früh selbstständig geworden, war sie selten bereit, sich unterzuordnen. „Ihre Kräfte“ schienen „am Widerstand und an Gegensätzen“ zu wachsen; manche ZeitgenossInnen hielten Gnauck-Kühne deshalb für „die geborene Opposition“.8 Gleichzeitig war sie schnell gekränkt und konnte mit Widerspruch und Kritik nur schlecht umgehen. Einerseits wollte sie keine öffent-
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Vgl. z. B. Dransfeld (1918); Hoeber (1917); Prégardier (1977), S. 15; Moltmann-Wendel (1988); Schmidbaur (1999). Lange, Helene (1925), S 229. Gertrud Bäumer, zitiert nach Simon, Helene (1929), S. 323. Simon, Helene (1928a), S. 39. Zu Gnauck-Kühne als Soziologin siehe auch Dietrich, Charlotte (1953). Gnauck-Kühne (1928[o. J.]), S. 191. Siehe auch Simon, Helene (1929), S. 173: Als 14Jährige hatte Gnauck-Kühne den Spitznamen „der Vulkan“. Dyhrenfurth am 14. April 1924 an Ida Ernst, in: Archiv des KDFB, Nachlass Gnauck-Kühne, 1–111–7. Zur Persönlichkeit Gnauck-Kühnes siehe auch Simon, Helene (1928a), S. 107 und S. 149; Simon, Helene (1928b); Monteglas (1930), S. 182f. Charlotte Broicher, zitiert nach Simon, Helene (1928a), S. 146. Spael (1964), S. 88.
2 Elisabeth Gnauck-Kühne (1850–1917)
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liche Aufmerksamkeit, anderseits fühlte sich schnell zurückgesetzt, wenn diese ausblieb.9
2.1.1 Kindheit, Lehrerinnenausbildung und selbstständige Unternehmerin Elisabeth Kühne, eigentlich Karoline Franziska Elsbeth Kühne, wurde am 2. Januar 1850 als drittes und jüngstes Kind einer protestantischen Gelehrten- und Beamtenfamilie in Vechelde bei Braunschweig geboren. Sie hatte eine drei Jahre ältere Schwester und einen ein Jahr älteren Bruder. Ihr Vater Friedrich August Kühne (18??–18??) war Jurist. Sie war sechs Jahre alt, als die Familie nach Blankenburg, eine ländliche Kleinstadt im Harz, zog, wohin ihr Vater als Staatsanwalt versetzt worden war. Für Elisabeth Kühne war Blankenburg der Ort, an den sie während ihres gesamten Lebens immer wieder zurückkehrte.10 In ihren Kindheitserinnerungen zeichnet sie ein sehr idyllisches Bild ihrer Kindheit. Ihren Vater erlebte sie als „weltabgewandt“ und „erdenfremd“11; im sei es am liebsten gewesen, „wenn er die Tagesarbeit am staubigen Aktentisch vergessen“ und nachts mit seinem Fernrohr Sterne beobachten konnte. Ihre Mutter Maria Dorothea Henriette, geb. Dünnhaupt (18??–1881), beschreibt Gnauck-Kühne als schön, geistreich und pädagogisch einfühlsam. Sie habe es verstanden, „die stürmische Natur der Tochter sanft zu leiten“.12 Ihr soziologischer Blick auf die eigene Kindheit wurde vermutlich von ihrer pädagogischen Ausbildung und der Lektüre Jean Jacques Rousseaus (1712–1778) beeinflusst, vor allem in Passagen, in denen sie sich als „leidenschaftliches, naturverbundenes und tierliebendes Kind“ schildert, das meist sich selbst überlassen wurde. Ihre spätere Freiheitsliebe führt sie auf das Milieu zurück, in dem sie aufgewachsen ist, und auf die als Kind erlebte Freiheit.13 Elisabeth Kühnes Weg in die berufliche Selbstständigkeit begann früh. Die bescheidenen finanziellen Verhältnisse ihrer Familie, ihr Wunsch Lehrerin zu werden und ihre ausgezeichneten schulischen Leistungen führten dazu, dass sie im Alter von 14 Jahren eine Lehrerinnenausbildung am Königlich Sächsischen Lehrerinnenseminar in Liechtenstein-Callenberg begann. Eine Ausbildung galt für Töchter aus bürgerlichen Familien damals als ein „höchst ungewöhnlicher und nicht standesgemäßer“ Schritt. Lehrerin war der einzige Erwerbsberuf, der für Frauen des Bürgertums und des verarmten Adels gesellschaftlich akzeptiert war.14 Die Ausbildung in Callenberg dauerte drei Jahre und war damit deutlich länger als der meist nur einjährigen Besuch eines Lehrerinnenseminars – wegen der kurzen
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Simon, Helene (1928a), S. 91. Simon, Helene (1928a), S. 166f. Schilderung Gnauck-Kühnes, zitiert nach Simon, Helene (1928a), S. 166. Broicher (1899), S. 391. Siehe auch Abbildung 1 und 2 im Bildanhang. Gnauck-Kühne (1910a), S. 126. Gnauck-Kühne (1910a), S. 128; Simon, Helene (1928a), S. 12f.
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Dauer und der schlechten Qualität der Ausbildung im zeitgenössischen Jargon häufig als „Lehrerinnenpresse“ bezeichnet – in Verbindung mit einer höheren Töchterschule. Kühne hielt sich nicht gern in Callenberg auf; die puritanische Strenge und Nüchternheit dort stand im schroffen Gegensatz zu ihrer als frei und glücklich empfundenen Kindheit. Das Lehrerinnenexamen bestand sie mit der Note „Gut mit Auszeichnung“; von nun an bestritt sie ihren Lebensunterhalt selbst. Auf ihre frühe ökonomische Selbstständigkeit war sie stolz; sie legte großen Wert darauf, dass sie ihren Besitz durch eigene Arbeit erworben hatte. Nach dem Lehrerinnenexamen arbeitete sie als Hauslehrerin bei einer deutsch-amerikanischen Familie, zunächst in Thüringen, später in Paris. Nach Ausbruch des Deutsch-Französischen Krieges 1870 zog die Familie nach London, wohin Kühne sie begleitete. Als die Familie ein Jahr später in die USA übersiedelte, kehrte sie nach Blankenburg zurück. Sie sprach inzwischen fließend Französisch und Englisch und plante, als Lehrerin nach Indien und China zu reisen. Als die Eltern ihr Veto einlegten, gab Kühne diesen Plan jedoch auf und trat eine Stelle als Hauslehrerin bei einem sächsischen Großindustriellen in Glauchau an.15 Nach einigen Jahren machte sie sich selbstständig. 1875 kehrte die 25-Jährige wieder in ihrer Heimatstadt Blankenburg zurück und gründete eine exklusive Lehr- und Erziehungsanstalt für Töchter höherer Stände, die sie mit Unterstützung ihrer Schwester Marie Kühne (1847–1902) leitete.16 Die Bildungseinrichtung hatte einen guten Ruf und war wirtschaftlich erfolgreich. Die Schülerinnen kamen aus angesehenen Familien des Bildungsbürgertums; zu ihnen gehörten u. a. alle drei Töchter des bekannten Historikers Theodor Mommsen (1817–1903). Der Unterricht umfasste neben den traditionellen Fächern Sprachen, Literatur, Geschichte, Religion, Musik, Handarbeiten, Wissenschaft und Mathematik auch Schwimmen und Spaziergänge. Bei ihren Schülerinnen hieß Kühne „die Gerechte“.17 Die Zahl der Schülerinnen war begrenzt (ca. 25), der Kontakt zwischen Kühne, den Schülerinnen und deren Familien eng; er blieb oft auch nach Ende der Schulzeit weiter bestehen. Als Nebenprodukt ihrer pädagogischen Arbeit entstanden ihre ersten literarischen Arbeiten: die historische Erzählung „Willram“ (1880) und die unter dem Pseudonym E. Blankenburg veröffentlichte Tragödie „Ekbert von Braunschweig“ (1885). Die Schrift „Proverbes à l’usage des familles et des écoles“ (1883) waren ein Ergebnis ihres fremdsprachlichen Unterrichts: Sie hatte Sprichwörter als kurze Dramen umgesetzt, die dann bei kleinen Theateraufführungen, die der Übung in französischer Konversation dienten, von den Schülerinnen aufgeführt wurden.18
15 Zum Auslandsaufenthalt siehe Simon, Helene (1928a), S. 13f.; Hoeber (1917), S. 24. 16 Siehe Abbildung 4 im Bildanhang. 17 Zum freundschaftlichen Kontakt zwischen Kühne und ihren Schülerinnen siehe Simon, Helene (1928a), S. 18–23; zur Freundschaft Kühnes mit der Familie Mommsen siehe ebenda, S. 16f. 18 Simon, Helene (1928a), S. 16ff.
2 Elisabeth Gnauck-Kühne (1850–1917)
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Nach 13 Jahren erfolgreicher Tätigkeit als selbstständige Geschäftsfrau kam es 1888 zu einem gravierenden Einschnitt: Elisabeth Kühne entschied sich, den Nervenarzt Rudolf Gnauck zu heiraten, den sie kurz zuvor kennengelernt hatte. Sie verkaufte ihr renommiertes Institut und zog mit ihrem Mann nach Berlin, wo er die Leitung eines Sanatoriums übernahm. Die Ehe scheiterte jedoch schon nach wenigen Wochen, was kaum jemand aus ihrem Umfeld überraschte. Der als frivol und leichtsinnig geltende Lebemann hatte sich durch den Kauf des Sanatoriums verschuldet und die erfolgreiche Geschäftsfrau wohl vor allem wegen ihres Vermögens geheiratet. Zum Streit kam es, als er das Geld aus dem Verkauf des Mädcheninstituts nicht wie abgesprochen auf Kühnes Konto einzahlte, sondern zum Ausgleich seiner Schulden verwendete. Durch das bestehende Eherecht hatte er mit der Heirat die Verfügungsgewalt über das Vermögen seiner Ehefrau und damit auch über den Verkaufserlös des Instituts erhalten. Bereits nach sechs Wochen flüchtete Elisabeth Gnauck-Kühne aus der gemeinsamen Wohnung und reichte die Scheidung ein. Die Zeit von Winter 1888 bis Juni 1890, dem Termin der endgültigen Scheidung, verbrachte sie in Italien und Frankreich, um den rechtlichen Auseinandersetzungen aus dem Weg zu gehen. Im Scheidungsurteil wurde ihrem Ehemann die alleinige Schuld zugesprochen.19 Eine Ehescheidung war damals unüblich und galt als gesellschaftlicher Makel. Gnauck-Kühne empfand das Scheitern ihrer Ehe als persönliches Scheitern; die Scheidung wurde zu einem Wendepunkt in ihrem Leben. Das folgende Jahrzehnt war durch einen großen persönlichen äußeren und inneren Wandel gekennzeichnet und wurde für sie zur „stürmereichste[n]“ Zeit ihres Lebens.20
2.1.2 Frauenrechtlerin und Nationalökonomin Nach ihrer Scheidung kehrte Elisabeth Gnauck-Kühne nicht in die „Weltabgeschiedenheit Blankenburgs“, sondern in das „Berliner Getriebe“21 zurück. Dort stürzte sie sich in Arbeit, um sich zu „betäuben“.22 Sie beteiligte sich zunächst an den Kampagnen der Frauenbewegung zur Verbesserung der Mädchen- und Frauenbildung und für die Öffnung der Universitäten für Frauen. Im Verein Frauenwohl arbeitete sie u. a. mit Helene Lange (1848–1930) sowie Minna Cauer (1841– 1922) zusammen.23 Ab Winter 1891 belegte Gnauck-Kühne die von Lange kurz
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Zur kurzen Ehe siehe Simon, Helene (1928a), S. 33ff. Dransfeld (1997[1917]), S. 94f.; Simon, Helene (1928a), S. 40f. Simon, Helene (1928a), S. 40. Gnauck-Kühne (1928[o. J.]), S. 195. Die Formulierung greift die damals in vielen Lebensbeschreibungen verwendete Maxime „Arbeiten und nicht verzweifeln!“ von Thomas Carlyle auf, siehe den Buchtitel der deutschen Ausgabe der Schriften von Carlyle (1902). 23 Vgl. Gnauck-Kühne (1908c), S. 10; Gnauck-Kühne (1928[o. J.]), S. 196f.: Sie weist ausdrücklich auf ihre Zusammenarbeit mit Minna Cauer, Helene Lange und der Lehrerin,
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zuvor eingerichteten Berliner Realkursen für Frauen, um die Voraussetzungen für ein wissenschaftliches Studium zu erwerben. Das war zu diesem Zeitpunkt für Frauen in Deutschland aber noch nicht möglich.24 Ihr Engagement knüpfte an ihre Arbeit und ihre Interessen als Lehrerin und Institutsleiterin an. Gnauck-Kühne war Mitglied im Allgemeinen Deutschen Lehrerinnenverein (ADLV)25, schon seit 1883 engagierte sie sich außerdem im Allgemeinen Deutschen Frauenverein (ADF).26 Frauenrechtlerin „mit vollem Bewusstsein“ sei sie, so Gnauck-Kühne, jedoch erst geworden, als sie während ihrer Ehe und bei der Scheidung erfahren musste, wie sehr das damalige Eherecht Frauen diskriminierte.27 Frauenemanzipation bedeutete für sie deshalb vor allem das „Ende des Hörigkeitsverhältnisses“, das für Gnauck-Kühne erst mit Inkrafttreten des Bürgerlichen Gesetzbuchs 1900 erreicht wurde, wodurch unverheiratete, geschiedene oder verwitwete Frauen juristisch als selbstständige und geschäftsfähige Personen galten.28 Die Frauenemanzipation war für sie Zeichen eines sozialen Kulturfortschritts, der jedoch nur mit Kämpfen durchzusetzen sei. Denn, so Gnauck-Kühne: „Die Frauen machen den Männern streitig, was gegenwärtig so gut wie ausschließlich in deren Besitze ist: Wissen, Erwerbsmöglichkeit, soziale Standesrechte.“ „Kampf“ war für sie ein positiv besetzter Begriff, denn ohne Kampf gab ihres Erachtens keinen Fortschritt.29 Erste öffentliche Bekanntheit erlangte Elisabeth Gnauck-Kühne mit der Streitschrift „Das Universitätsstudium der Frauen“ (1891). Mit dieser wandte sie sich an die Öffentlichkeit, nachdem mehrere Petitionen des ADF und des Frauenvereins Reform für die Zulassung von Frauen zum Universitätsstudium vom Preußischen Reichstag abgelehnt worden waren.30 Gnauck-Kühne forderte für die Frau „erweiterte Daseinsbedingungen“ und „das gleiche Recht auf Arbeit und Bildung, wie der Mann“, vor allem aber die Öffnung des „Durchgangstor[s] zur Zitadelle
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Schriftstellerin und Friedensaktivistin Marie Mellien (1851–1904) hin. Zum 1888 in Berlin gegründeten Verein Frauenwohl siehe Gerhard (1990), S. 155 und S. 164f. Bei der späteren Umwandlung der Realkurse in Gymnasialkurse gehörte Gnauck-Kühne zu den Gründungsmitgliedern des Trägervereins, der Vereinigung zur Veranstaltung von Gymnasialkursen für Frauen. Siehe hierzu Schaser (2000), S. 63. Simon, Helene (1928a), S. 46. Zum ADLV siehe z. B. Gerhard (1990), S. 166; Schaser (2000a), S. 65–75. Der 1890 gegründete pädagogische Dachverband war eine der erfolgreichsten Frauenberufsorganisationen. In ihm schlossen sich die seit 1869 bestehenden regionalen Vereine zusammen. Lange war bis 1921 Vorsitzende des ADLV. In einem Brief an Minna Bachem vom 23. Juli 1903 spricht Gnauck-Kühne von ihrer zwanzigjährigen Mitgliedschaft im ADF. Siehe Baumann, Ursula (1992a), S. 80 und S. 293, Endnote 67. Zur Gründung des ADF 1865 siehe Gerhard (1990), S. 76ff. Gnauck-Kühne (1928[o. J.]), S. 196. Gnauck-Kühne (1912d); Simon, Helene (1928a), S. 83. Gnauck-Kühne (1908c), S. 2. Gnauck-Kühne (1891), S. 2.
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der männlichen Vorrechte: Die Universität“.31 Diese Forderungen begründete sie folgendermaßen: „Versorgt die Frau – oder gebt sie frei! Gleiche Pflicht – gleiches Recht! Wenn 5 ½ Millionen Frauen sich selbst erhalten müssen wie die Männer, so müssen ihnen dieselben Wege zu diesem Ziele offen stehen. (…) Sie [die Frau] teilt die Pflicht auf Selbsterhaltung mit dem Manne, aber nicht das Recht auf Arbeit und geistigen Besitz. Dieses Recht fordert sie nun. Die Frauenbewegung ist der Kampf um das Recht der Frau. Ihre Bestrebungen gehen dahin, die eingebürgerte, ererbte, gewohnheitsmäßig bestehende Ungerechtigkeit der Mittelwelt zum Bewußtsein zu bringen und dadurch Wandel zu schaffen.“32
Die Schrift enthält bereits zentrale Elemente, die für Gnauck-Kühne in den darauffolgenden Jahrzehnten typisch sind. Ausgangspunkt ihrer Argumentation bildete meist der „Frauenüberschuss“, über den um 1900 viel diskutiert wurde. Die demographische Analyse verband Gnauck-Kühne, wie andere Vertreterinnen der Frauenbewegung, mit der Forderung nach dem Recht der Frauen auf Bildung und Erwerbsarbeit: „Die sozialen und wirtschaftlichen Verhältnisse der Gegenwart haben in langsamer, aber unaufhaltsamer Entwicklung eine Verschiebung in dem numerischen Verhältnisse der Geschlechter zueinander und außerdem eine Erschwerung in der Eheschließung herbeigeführt, welche dem von der Natur gewollten Zustande nicht entspricht. (…) zählt die Statistik auf 100 Männer 104 Frauen (…). Die Differenz ergibt einen beträchtlichen Überschuss an weiblicher Bevölkerung und schafft damit eine Notlage, welche eine reformatorische Bewegung in der Frauenwelt hervorgerufen hat. Die Frau fordert erweiterte Daseinsbedingungen, neue Arbeits- und Berufsgebiete, um sich in der wirtschaftlichen Selbstständigkeit, welche die erzwungene Ehelosigkeit ihr aufnötigt, behaupten zu können. Man faßt diese Tatsache mit dem Schlagworte ‚Frauenfrage‘ zusammen. Unter der Frauenfrage versteht man also die Notlage, welche die sozialen Verhältnisse für einen großen Bruchteil der weiblichen Bevölkerung geschaffen haben, und die Forderung der Frau: zum Zwecke der Selbsthilfe das gleiche Recht auf Arbeit und Bildung zu genießen wie der Mann.“33
Gnauck-Kühne erhielt später den Spitznamen „katholische Zetkin“, denn sie nahm gewissermaßen eine quasi-marxistische Perspektive ein, indem sie die Entstehung der Frauenfrage als soziale Krise in einen kausalen Zusammenhang mit den veränderten wirtschaftlich-sozialen Bedingungen setzte. Auch Clara Zetkin (1857– 1933) ging davon aus, dass der Frauenüberschuss die Frauenfrage schuf.34
31 Gnauck-Kühne (1891), S. 13–17. „Das Universitätsstudium der Frauen“ erreichte bis September 1893 drei Auflagen. 32 Gnauck-Kühne (1891), S. 13f. 33 Gnauck-Kühne (1891), S. 2. 34 Zu Zetkins Diskussion des Frauenüberschusses siehe Dollard (2009), S. 181. Die Sozialisten kämpften zwar schon sehr früh und nachdrücklich für Frauenrechte und das Frauenstimmrecht, die Erwerbsarbeit von Frauen war aber auch in der Arbeiterbewegung und der Sozialdemokratie umstritten. Der einflussreichste sozialistische Unterstützer der beruflichen Emanzipation der Frauen war August Bebel (1814–1913), dessen Buch „Die Frau und der Sozialismus“ (1879) ein zeitgenössischer Klassiker zur Frauenfrage war. Die 50. Auflage des Buchs erschien 1910, bis 1929 wurden über 200.000 Exemplare verkauft.
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II Die Autodidaktinnen
Die Streitschrift war – charakteristisch für Gnauck-Kühne – kämpferisch und vorsichtig taktierend zugleich, sie verzichtete auf Polarisierungen und verknüpfte emanzipatorische Forderungen mit konservativen Vorstellungen. Ihre Zielgruppe waren konservative gesellschaftliche Kreise, die die Frauenemanzipation ablehnten. Gnauck-Kühne war davon überzeugt, dass es mit dieser Vorgehensweise gelingen könne, die bestehende „Mauer von Vorurteilen“ zu überwinden und auch konservative Gruppen für frauenemanzipatorische Forderungen zu interessieren.35 Für ihre Zielgruppe war allerdings selbst die gemäßigte Rhetorik Gnauck-Kühnes meist noch zu „scharf und gewissermaßen männerfeindlich“.36 Durch die Streitschrift wurde Gustav Schmoller, den die wissenschaftlichen Leistungen von Beatrice Webb für sozialwissenschaftliche Arbeiten von Frauen sensibilisiert hatten, auf Gnauck-Kühne aufmerksam. Das war für ihre weitere Entwicklung von großer Bedeutung; Schmoller erkannte die „soziologische Begabung“ Gnauck-Kühnes und wurde zu ihrem Mentor.37 Da ihr als Frau der Zugang zur Universität verschlossen war, konnte sie zunächst nur an den Privatstunden Schmollers teilnehmen. Er galt als anregender Lehrer und wollte nicht nur Wissen vermitteln, sondern auch zum selbstständigen Arbeiten und Forschen anregen.38 Gnauck-Kühne blieb Schmoller bis zu ihrem Tod verbunden. Es war ihr immer wieder „ein Bedürfnis“, in ihren Publikationen „in verehrungsvoller Dankbarkeit des Gelehrten zu gedenken, der [sie] in selbstloser Güte in die Sozialwissenschaft eingeführt hat[te], als noch die Universität den Frauen verschlossen war“.39 Für Schmoller wiederum war Gnauck-Kühne die Expertin und „zuständige Persönlichkeit“ in der Frauenfrage, auf die er bei Anfragen zu Forschungsvorhaben zu „Frauenthemen“ verwies.40 Die gegenseitige Wertschätzung zeigte sich u. a. daran, dass sie die einzige Frau war, die mit einem Beitrag in der zweibändigen Festschrift zu Schmollers siebzigsten Geburtstag vertreten war. Für den Herausgeber der Festschrift war sie so dem Schmoller-Kreis zugehörig, dass er es „als etwas Unnatürliches empfunden hätte, wenn sie nicht diese Abhandlung beigetragen hätte“.41 Ihr Beitrag „Frauenbewegung und Frauenfrage“42 knüpfte an „Ursachen und Ziele der Frauenbewegung“ (1893) an. Diese Schrift, die sich mit Entstehung der Frauenbewegung als gesellschaftlich notwendige Reaktion auf die Frauenfrage befasste, war Gnauck-Kühnes erste während des Privatunterrichts bei 35 Gnauck-Kühne (1891), S. 4. 36 Witte (1917), S. 344. 37 Gnauck-Kühne (1928[o. J.]), S. 195; vgl. Simon, Helene (1914), S. 124; Broicher (1899), S. 292; Hoeber (1917), S. 51. 38 Zu Schmoller als Lehrer siehe Simon, Helene (1914), S. 131; Klöhn (1982), S. 174–177. 39 Gnauck-Kühne (1905a), S. 1; siehe auch Hoeber (1917), S. 42; Gnauck-Kühne (1928[o. J.]), S. 195. 40 So z. B. Helene Simon, die mit Adele Gerhard (1868–1956) eine Studie über „Mutterschaft und geistige Arbeit“ (Gerhard/Simon 1901) plante, siehe Simon, Helene (1929), S. 135f. 41 Arthur Spiethoff an Helene Simon am 25. Juni 1929, in: Archiv des KDFB, Nachlass Gnauck-Kühne, 1–111–2. 42 Gnauck-Kühne (1908c).
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Schmoller entstandene Arbeit. Sie wurde international beachtet und brachte ihr den Ruf ein, als Erste die Frauenfrage mit sozialwissenschaftlichen Methoden erforscht zu haben. Die englische Übersetzung wurde auf der Weltausstellung in Chicago 1893 mit einer Bronzemedaille nebst Zertifikat ausgezeichnet.43 Mit der Studie, die kurz vor der Gründung des BDF erschien, positionierte sich GnauckKühne gleichzeitig in der Frauenbewegung: Sie stellte den sozialen Aspekt der Frauenfrage in den Vordergrund und grenzte sich von den Forderungen des radikalen Flügels der bürgerlichen Frauenbewegung nach der rechtlichen Gleichstellung der Frauen und dem Frauenwahlrecht ab, sie würdigte die Verdienste der bürgerlichen Frauenbewegung und diskreditierte gleichzeitig deren über die soziale Frage hinausgehenden Forderungen als „weiblichen Radikalismus“ und als „falsche Gleichmacherei der Geschlechter“.44 Schmoller war für Gnauck-Kühnes Entwicklung noch unter einem weiteren Aspekt von Bedeutung: Über den Schmoller-Kreis knüpfte sie wichtige und dauerhafte Kontakte, so etwa zu den Schmoller-Schülern Fritz Stier-Somlo (1873– 1932) und Arthur Spiethoff (1873–1957)45 sowie zu ihren langjährigen Freundinnen Gertrud Dyhrenfurth und Helene Simon. Gnauck-Kühne lernte Dyhrenfurth bei einem gesellschaftlichen Treffen im Hause Schmoller kennen. Für GnauckKühne, die von Dyhrenfurths Schilderungen über die gewerkschaftliche Organisierung der Arbeiterinnen in England46 fasziniert war, war es „Love at first sight“, wie sie es später in einem Brief bezeichnete.47 Trotz der Gegensätzlichkeit der beiden Frauen war die eher zurückhaltende Dyhrenfurth wohl die Person, die Gnauck-Kühne lange Zeit am nächsten stand; Gnauck-Kühne sah in ihr eine See-
43 Der Titel der englischen Übersetzung von „Ursachen und Ziele der Frauenbewegung“ lautet: Social Statistics of Women in Germany. Diagrams and Text Dedicated to the Women of the United States by the General Association of German Women“ (1893) betont den sozialstatistischen Charakter der Schrift. Siehe hierzu Simon, Helene (1928a), S. 49f. 44 Zur Abgrenzung von Frauenfrage und Frauenbewegung siehe Gnauck-Kühne (1908c), S. 6; Gnauck-Kühne (1909c), S. 280; Kaiser (1993), S. 260; siehe auch Kaiser (1985). 45 Siehe z. B. Stier-Somlo an Gnauck-Kühne am 3. Dezember 1908, in: Simon, Helene (1929), S. 295f. Stier-Somlo war Mitglied des Kölner Vereins Frauenbildung-Frauenstudium und setzte sich aktiv für das Frauenhochschulstudium ein. Siehe Franken (1995), S. 66f.; Arthur Spiethoff an Helene Simon am 25. Juni 1929, in: Archiv des KDFB, Nachlass GnauckKühne, 1–111–2. 46 „Die gewerkschaftliche Bewegung unter den englischen Arbeiterinnen“ von Dyhrenfurth (1894) war der erste Artikel einer Frau, der in einer nationalökonomischen Fachzeitschrift in Deutschland erschien. 47 Gnauck-Kühne, zitiert nach Simon, Helene (1929), S. 129; siehe auch Gnauck-Kühne an Dyhrenfurth (ohne Datum, ca. 1903), in: Simon, Helene (1929), S. 216. Dyhrenfurth sah die Freundschaft wohl etwas distanzierter, vgl. Dyhrenfurth an Ida Ernst am 14. April 1924 (Archiv des KDFB, Nachlass Gnauck-Kühne, 1–111–7): „Die warme Freundesliebe, die die Briefe atmen, erscheint jedenfalls als ein starkes Element in Frau Gnauck’s Veranlagung. Nicht minder charakteristisch ist aber auch der Mangel an Einsicht in die wirkliche Natur des Anderen. Ich fühlte mich geliebt, aber nicht als der Mensch, der ich war, sondern als eine Kategorie, in die mich Frau Gnauck hineinversetzte.“
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lenverwandte. Das Fundament dieser Freundschaft bildete das gemeinsame Interesse an der Erforschung und Verbesserung der sozialen Situation der Arbeiterinnen. Gemeinsam mit Simon bildeten sie das „nationalökonomische Trio“, wie sie von ihren ZeitgenossInnen aufgrund ihrer wissenschaftlichen Leistungen anerkennend genannt wurden.48
2.1.3 ESK und Evangelisch-soziale Frauengruppe Vermutlich war es Gustav Schmoller, der Elisabeth Gnauck-Kühne auf den ESK aufmerksam machte.49 Sie gehörte zu den Frauen, die bereits unmittelbar nach der Gründung des ESK Anfang der 1890er Jahre an dessen Veranstaltungen teilnahm. Es war eine sehr heterogene Gruppe von Frauen, die sich für die Arbeit des ESK interessierte; neben Protagonistinnen des gemäßigten und des radikalen Flügels der Frauenbewegung, wie Helene Lange, Marianne Weber, Minna Cauer und der späteren Sozialistin Lily von Gizycki-Braun (1865–1916), waren darunter auch konservative Frauen, die die Frauenbewegung ablehnten. Sie alle fühlten sich von der Aufgabe, die sich der ESK auf seiner zweiten Tagung im Mai 1891 stellte, nämlich „die soziale Frage an dem Maßstabe der sittlichen Forderungen des evangelischen Christentums zu messen, und (…) von wissenschaftlich und praktisch erfahrenen Männern in Wort und Schrift erörtern zu lassen“, angesprochen. Die wissenschaftliche Analyse sozialer Gegenwartsprobleme, verbunden mit der Betonung christlich-ethischer Wertvorstellungen entsprach auch dem gerade erwachten sozialen und sozialwissenschaftlichen Interesse und der religiösen Haltung Gnauck-Kühnes.50 Schon ihre Streitschrift über „Das Universitätsstudium der Frau“ schloss mit einem christlichen Bekenntnis. Für Gnauck-Kühne war Glaube die treibende Kraft, die über die wissenschaftliche Analyse sozialpolitischer Probleme hinaus erst zum Reden und Handeln motivierte.51 Gnauck-Kühne scheint, wie viele andere auch, zunächst von Adolf Stoecker (1835–1909), dem Initiator und Gründungsmitglied des ESK, beeindruckt gewesen zu sein, obwohl der antisemitische Demagoge schon damals umstritten war.52 Die zeitgenössische Popularität des ehemaligen Hofpredigers (von 1874 bis 1890) des preußischen Königs und späteren Kaisers und Leiters der Berliner Stadtmissi-
48 Lüders, Else (1932a), Sp. 1161; siehe auch Altmann-Gottheiner (1931), S. 214–216. Simon studierte von 1895 bis 1897als eine der ersten Frauen an der London School of Economics and Political Science, danach an der Universität Berlin. 49 Baumann, Ursula (1992a), S. 82. 50 Zur Bedeutung des ESK für Gnauck-Kühne siehe Simon, Helene (1928a), S. 52–67. Zur zeitgenössischen Diskussion über Religiosität und Frauenfrage siehe z. B. Gnauck-Kühne (1893b); Gnauck-Kühne (1894a) und Elisabeth Mießner (1894). 51 Gnauck-Kühne an Augustin Rösler am 25. Oktober 1899, in: Simon, Helene (1929), S. 170. 52 Zur antisemitischen Demagogie Stoeckers siehe Puhle (1975), S. 118; Brakelmann/Greschat/ Jochmann (1982); siehe auch Gnauck-Kühnes „Nachruf auf Adolf Stoecker“ (1909d).
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on gründete sich auf den von Stoecker vertretenen, für die damalige Zeit neuartigen Verbandsprotestantismus, dessen politische Ausrichtung und Konzentration auf volksmissionarische und soziale Aufgaben für Kirchenmänner unüblich war.53 Sein Anliegen, die bestehenden ökonomischen und sozialen Strukturen zu ändern oder sie „wenigstens in ihrer bedrückenden Auswirkung auf das entstehende Proletariat“ abzumildern, bot Anknüpfungspunkte gerade auch für an sozialen Fragen interessierte Frauen wie Gnauck-Kühne.54 Stoecker versuchte, die Arbeiter mit dem Konzept eines antisemitischen Sozialismus für die evangelisch-soziale Bewegung zu gewinnen, weil er ihnen materiell nichts versprechen konnte und ihm das Christentum als alleiniges Argument nicht überzeugend genug schien. Während seine antisemitische Agitation die Arbeiter kaum erreichte, stieß sie in großen Teil des Bürgertums auf Resonanz.55 Auch Gnauck-Kühne war, wie Helene Simon später kritisch bemerkte, von Stoeckers Antisemitismus „zeitweilig stark infiziert“. Sie habe z. B. im Frühjahr 1894 die Mitarbeit in einer Kommission des Berliner Frauenvereins abgelehnt, sollte der beratende Rechtsanwalt Jude sein.56 Bei der Suche nach Referentinnen für Veranstaltungen des ESK schien es Gnauck-Kühne wichtig zu sein, auf die antisemitischen Ressentiments des Aktionskomitees des ESK Rücksicht zu nehmen. Denn sie wies beispielsweise andere Frauen im ESK darauf hin, es sei besser, „keine Jüdin (…) zum Vortrag auf[zu]fordern, selbst nicht die gute, treffliche Frau [Jeanette] Schwerin“.57 Die wichtigsten Bezugspersonen Gnauck-Kühnes im ESK waren Friedrich Naumann (1860–1919) und Paul Göhre (1864–1929), die für eine wissenschaftlichere Ausrichtung standen und sich bei der Gründung gegen Stoecker durchgesetzt hatten, der aus dem ESK einen antisozialdemokratischen Agitationsverein machen wollte. Gnauck-Kühne teilte mit Naumann und Göhre das Interesse an Sozialforschung und die Bereitschaft, auch mit Gewerkschaften und Sozialdemokratie zusammenzuarbeiten.58 Der liberale Politiker, Theologe und nationalökonomische Autodidakt Naumann war um die Jahrhundertwende ein wichtiges Bindeglied zwischen Kathedersozialismus und Sozialdemokratie; Gnauck-Kühne zählte zum „Inner Circle“ des Naumann-Kreises.59 Göhre war Theologe und Pfarrer, hatte Nationalökonomie studiert und war von 1890 bis 1895 der erste Generalsekretär des ESK. Gnauck-Kühne und Göhre entwickelten ähnliche Vorstellun53 54 55 56
Kaiser (1993), S. 254. Kaiser (1993), S. 257f.. Bach (1974), S. 208. Simon, Helene (1928a), S. 44; vgl. auch Baumann, Ursula (1992a), S. 84; Markert-Wizisla (1997), S. 219f. Zum Antisemitismus im Naumann-Kreis siehe z. B. Krey (1995), S. 72. 57 Gnauck-Kühne an Dyhrenfurth am 9. September 1895, in: Simon, Helene (1928a), S. 77. Die Frauenrechtlerin und Wegbereiterin der Sozialen Arbeit Jeanette Schwerin (1852–1899) leitete bis zu ihrem Tod die Mädchen- und Frauengruppen für soziale Hilfsarbeit. Zu Schwerin siehe Fassmann (1996), S. 247. 58 Simon, Helene (1928a), S. 104. 59 Krey (1995), S. 68. Zu den Frauen im Naumann-Kreis sowie zu Naumanns Haltung zur Frauenfrage siehe Baumann, Ursula (1992a), S. 94ff. und S. 234ff.
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gen, zum einen über den Beitrag des ESK zur Lösung der Arbeiterinnenfrage, zum anderen darüber, wie eine Mitarbeit von (bürgerlichen) Frauen im ESK aussehen könnte. Gemeinsam setzten sie diese in den Jahren zwischen 1893 und 1899 durch. Göhre war derjenige, der die wissenschaftliche Analyse sozialer Gegenwartsprobleme, ein Schwerpunkt des Programms des ESK, am intensivsten verfolgte. Bereits 1891 erschien seine viel beachtete Broschüre „Drei Monate als Fabrikarbeiter“. Für diese Feldstudie hatte er unerkannt unter Fabrikarbeitern gelebt, um sich ein Bild über „die tatsächliche Lage“ der Arbeiter zu machen.60 Anschließend führte er gemeinsam mit Max Weber für den ESK eine umfangreiche Enquete über die Verhältnisse der Landarbeiter (1893ff.) durch.61 Zur selben Zeit folgte Gnauck-Kühne dem Beispiel von Paul Göhre und Beatrice Webb und begann die soziale Lage der Arbeiterinnen zu erforschen. Im Herbst 1893 erhielt sie Einblick in die statistische Erhebung des Berliner Buchbinderverbandes über Arbeits- und Lohnverhältnisse der Buchbinderei und verwandter Gewerbe, die von Rudolf Wittrisch, einem sozialdemokratischen Redakteur, durchgeführt wurde. Gnauck-Kühne konnte Wittrisch davon überzeugen, dass sie „der Sache ernstliches Interesse entgegenbrachte“, über die notwendigen Kenntnisse verfügte und nicht, wie er befürchtete, wie andere „Damen“ lediglich „dilettierend in die Arbeiterbewegung“ hineinpfuschen würde.62 Aus der Zusammenarbeit mit Wittrisch entwickelte sich eine bis zum Tod Gnauck-Kühnes dauernde Freundschaft. Im Winter 1894/95 lebte sie, ähnlich wie Göhre, einige Wochen unerkannt als Fabrikarbeiterin, um einen realitätsnahen Einblick in die Welt der Arbeiterinnen und deren konkrete Lebens- und Arbeitsbedingungen zu gewinnen.63 Gewerkschaftsvertreter unterstützten sie bei der Planung ihrer teilnehmenden Beobachtung und der sich daran anschließenden statistischen Studie.64 Durch die Erfahrungen als Arbeiterin veränderte sich Gnauck-Kühnes Blick auf die gesellschaftlichen Verhältnisse und ihre Wahrnehmung der Arbeiterinnen. Seitdem empfand sie sich als „zwischen zwei Klassen“ stehend und wollte „Brücke“, „Verbindung, Vermittlerin“ zwischen den Klassen sein.65 Durch ihren Kontakt mit den Arbeiterinnen wurde ihr bewusst, dass bürgerliche Frauen wie sie keinen Grund dazu hatten, sich den Arbeiterinnen gegenüber moralisch überlegen zu fühlen, denn bürgerliche Frauen seien „nicht besser“, sondern hätten es „nur besser als die Arbeiterinnen“.66 Ihre eigenen Erfahrungen im direkten Kontakt mit ArbeiterInnen und Gewerkschaftern war vermutlich auch ein Grund dafür, weshalb
60 61 62 63 64 65
Göhre (1891), S. 1. Zur Landarbeiterstudie des ESK siehe Kapitel II 3.2.2 der vorliegenden Arbeit. Wittrisch (1997[1917]), S. 109. Gnauck-Kühne (1895a); Gnauck-Kühne (1895b). Gnauck-Kühne (1896a), S. 25. Wittrisch (1997[1917]), S. 117; siehe auch Held (1928); Simon, Helene (1928a), S. 123; Witte (1930). 66 Gnauck-Kühne, zitiert nach Simon, Helene (1929), S. 322. Gnauck-Kühne griff auf diese Formulierung immer wieder zurück, siehe etwa Gnauck-Kühne (1907c), S. 22.
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Gnauck-Kühne wesentlich offener für eine politische Zusammenarbeit mit Gewerkschaften und SozialdemokratInnen war als etwa Schmoller, dessen Sozialpolitik von der Furcht vor einer sozialistischen Revolution bestimmt wurde.67 Auch in der bürgerlichen Frauenbewegung gehörte Gnauck-Kühne mit dieser Haltung zu einer Minderheit; sie war beispielsweise eine der Wenigen, die bei der Gründung des BDF gegen den Ausschluss der als sozialistisch verdächtigen Arbeiterinnenvereine gestimmt hatte.68 Die durch die Feldforschung gewonnenen Einblicke und Erfahrungen, zu denen auch die Zusammenarbeit mit Gewerkschaften zählte, war ein verbindendes Element zwischen Elisabeth Gnauck-Kühne und Göhre, der als Generalsekretär eine Schlüsselposition im ESK inne hatte. Die Einblicke und Erfahrungen bildeten den Hintergrund, vor dem sich Gnauck-Kühnes Einfluss auf die Konstituierung und Gründung der Evangelisch-sozialen Frauengruppe entwickelte. Sie begann mit den Vorarbeiten zu ihrer Studie zu einem Zeitpunkt, als die Frage der Mitarbeit von Frauen im ESK gerade virulent wurde.69 Selbst diejenigen Frauen der heterogenen Gruppe, die die emanzipatorischen Forderungen der Frauenbewegung ablehnten, wollten sich nicht mehr mit der passiven Rolle als Zuhörerinnen abfinden. Im Sommer 1893 fragte Margarethe Behm (1868–1929), eine der konservativen Vertreterinnen, wegen der aktiven und gleichberechtigten Mitarbeit von Frauen im ESK bei Göhre als Generalsekretär des ESK an. Gnauck-Kühne beteiligte sich an der sich daran anschließenden öffentlichen Debatte, die in den Mitteilungen des Evangelisch-Sozialen Kongresses (MESK), dem Vereinsorgan, geführt wurde.70 Die Frage der Mitarbeit und Organisierung der Frauen im ESK zog sich länger hin, sie konkretisierte sich erst im Oktober 1893 während des ersten sozialen Kurses des ESK an der Berliner Universität. Die primär an Geistliche gerichtete, als Vorlesungsreihe konzipierte Veranstaltung vermittelte Grundlagen der Nationalökonomie. Göhre verhandelte am Rande des Kurses mit den teilnehmenden Frauen, unter ihnen Gnauck-Kühne, Minna Cauer, Helene Lange, Margarethe Behm und Elisabeth Malo (1855–1930), in welchem Rahmen eine aktive Beteiligung von Frauen im ESK möglich sei. Sie einigten sich auf eine Evangelischsoziale Frauengruppe und beschlossen ein gemeinsames Vorgehen bei deren Gründung. Schon bei den ersten Gesprächen zeigte sich aber, dass es sehr unterschiedliche Vorstellungen über die Ausgestaltung und Ziele einer solchen Gruppe
67 Zur Haltung Schmollers siehe z. B. Klöhn (1982), S. 176. 68 Vgl. Markert-Wizisla (1997), S. 227. Dies blieb weitgehend unbekannt, da Gnauck-Kühne im Gegensatz zu Lilli von Gizycki-Braun, Lina Morgenstern und Minna Cauer ihren Protest nicht im „Vorwärts“, dem Zentralorgan der Sozialdemokratie, abdrucken ließ. 69 Zur Frauenfrage und Frauenarbeit im ESK vgl. Schneider-Ludorff (1995); Naumann (1930). Zur Gründung der Evangelisch-Sozialen Frauengruppe und den Auseinandersetzungen mit Frauen der bürgerlichen Frauenbewegung siehe die grundlegende Arbeit von Baumann, Ursula (1992a), S. 79–88. 70 Gnauck-Kühne (1893b); Gnauck-Kühne (1894a), S. 368.
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gab und eine Gründung schwierig würde. Von den sich über zwei Jahre hinziehenden gruppeninternen Auseinandersetzungen sind insbesondere die Querelen zwischen Gnauck-Kühne und Elisabeth Malo gut dokumentiert. Sie zeigen, dass Gnauck-Kühne und Paul Göhre ihre Vorstellungen über das Programm der Frauengruppe durchsetzten, und wie in diesem Prozess progressivere frauenrechtlerische Positionen marginalisiert und ausgeschlossen wurden.71 Im Gegensatz zu Gnauck-Kühne war Malo hauptsächlich an einer theologischen Auseinandersetzung über die rechtliche Stellung der Frauen im Christentum interessiert72; während Malo ihre Analysen und Forderungen auf die Exegese entsprechender Passagen der Bibel stützte, war Gnauck-Kühnes Zugang zu konfessionellen Fragen mehr durch persönliche Glaubenserfahrungen und Frömmigkeit bestimmt. Wie die meisten anderen in den konfessionell-religiösen Frauenbewegungen engagierten Frauen verband Gnauck-Kühne verschiedene Glaubenselemente zu einer persönlichen religiösen Lehre.73 Malo vertrat hinsichtlich der inhaltlichen Ausrichtung der zu gründenden Frauengruppe und der Organisierung der christlichen Frauen andere Postionen als Gnauck-Kühne. Sie kritisierte Göhres strategisches und instrumentelles Interesse an der Frauenfrage und der Mitarbeit von Frauen im ESK.74 Während Malo sich für eine engere Zusammenarbeit mit der bürgerlichen Frauenbewegung aussprach, setzten Gnauck-Kühne und Göhre auf eine von der bürgerlich-liberalen Frauenbewegung getrennte Organisierung der christlichen Frauen. Gnauck-Kühne forderte, sich von ‚radikalen‘ Frauenrechtlerinnen wie Minna Cauer zu distanzieren und diese von weiteren Treffen auszuschließen.75 Dies war im Sinne Göhres, dem als Generalsekretär daran gelegen war, dass frauenrechtlerische Positionen, die von den meisten Kongressmitgliedern abgelehnt wurden, im ESK keinen Niederschlag fanden. Elisabeth Gnauck-Kühne und Paul Göhre brüskierten mehrfach die anderen Frauen im ESK mit der Art und Weise, wie sie ihre Vorstellungen über deren Köpfe hinweg durchsetzten. So beantragte Gnauck-Kühne entgegen der Absprachen schon unmittelbar nach Ende des ersten sozialen Kurses im Alleingang die Aufnahme von Frauen als ständige und gleichberechtigte Mitglieder im ESK.76 Als besonderer Affront wurde der im Februar 1894 im Verbandsorgan des ESK veröffentlichter Bericht Göhres empfunden. Göhre gab diesen fälschlicherweise als gemeinsames Werk mehrerer Frauen aus und stellte die von ihm verfasste anti-
71 Siehe dazu die Analyse von Markert-Wizisla (1997). Sie beurteilt die Rolle Gnauck-Kühnes im ESK wesentlich kritischer als Baumann, Ursula (1992a) und Moltmann-Wendel (1988). 72 Malo (1891). 73 Dies hat Britta Konz auch für die österreichisch-deutsche jüdische Frauenrechtlerin Bertha Pappenheim (1859–1936) festgestellt. Siehe hierzu Konz (2005), S. 219. 74 Markert-Wizisla (1997), S. 210. 75 Markert-Wizisla (1997), S. 212f. 76 Wer den Antrag eingereicht hat und ob es ein Alleingang Gnauck-Kühnes war, wird in der durchaus Literatur unterschiedlich beurteilt. Siehe dazu ausführlich Markert-Wizisla (1997), S. 207ff.
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feministische und gegen die bürgerliche Frauenbewegung gerichtete Passage des Textes als angebliche Meinung der Frauen im Kongress dar. In der fraglichen Passage wurde der Frauenbewegung Gottlosigkeit unterstellt und daraus die Notwendigkeit einer eigenständigen christlichen Frauenbewegung abgeleitet: „Die bisherige Frauenbewegung“ trage fast ausschließlich „politisch-radikalen und religiös-gleichgültigen oder gar feindlichen Charakter“. Deshalb sei es notwendig, so Göhre, dieser Bewegung „eine besonnenere, gründlichere, die religiös-sittlichen, ökonomischen und physischen Lebensbedingungen der Frau in gleicher Weise berücksichtigende Bewegung an die Seite, eventuell entgegenzusetzen“.77 Kurz darauf veröffentlichte Gnauck-Kühne den Gründungsaufruf einer Evangelisch-sozialen Frauengruppe, ohne sich mit den anderen Frauen abgestimmt oder die als Unterstützerinnen des Aufrufs namentlich angeführten Frauen nach deren Einwilligung gefragt zu haben. Zu diesen Frauen gehörte Helene Lange. Lange empörte sich sowohl über Gnauck-Kühnes Vorgehensweise als auch über den Aufruf selbst, weil darin die bürgerliche Frauenbewegung als „gottlos“ dargestellt werde. Sie forderte daraufhin von Gnauck-Kühne nicht nur eine öffentliche Richtigstellung, sondern trat auch aus dem ESK aus.78 Für Malo war die für eine streng konfessionell-theologische Richtung stehende Formulierung „christlich“ mit den Grundsätzen des liberalen Christentums und dem Programm des ESK unvereinbar. In der vor allem durch Adolf Stoecker geprägten Verwendung des Begriffs „christlich“ schwang außerdem eine antisemitische Tendenz mit.79 Im Mai 1894, ein halbes Jahr nach dem Antrag Gnauck-Kühnes, stimmte der ESK der gleichberechtigten Mitarbeit von Frauen zu und machte die Frauenfrage zu einem Arbeitsthema des Kongresses. Die Evangelisch-soziale Frauengruppe wurde nach der polizeilichen Genehmigung Ende 1894 in Berlin, nahezu zeitgleich mit dem BDF, offiziell gegründet. Gnauck-Kühne wurde Vorsitzende und von ihrer Freundin Gertrud Dyhrenfurth und der Publizistin Charlotte Broicher (1848–19??) unterstützt.80 Die 46 Mitglieder der überregionalen Gruppe stammten überwiegend aus den oberen Gesellschaftsschichten, allein 15 waren Adelige. Die Hälfte der Frauen war unverheiratet. Ein großer Teil waren Angehörige von Kongressmitgliedern, so z. B. die Ehefrauen von Gustav Schmoller, Max Sering und Max Weber.81 Zu ihren Mitgliedern gehörte auch die Begründerin der landwirtschaftlichen Frauenschulen in Deutschland, Ida von Kortzfleisch (1850–1915), 77 Zitiert nach Simon, Helene (1928a), S. 56. 78 Markert-Wizisla (1997), S. 223f. 79 Markert-Wizisla (1997), S. 219f. Der teilweise latente, teilweise öffentlich propagierte Antisemitismus war für Aktivistinnen wie Lange ein weiterer Grund gegen die Mitarbeit in der Evangelisch-sozialen Frauengruppe, siehe hierzu Baumann, Ursula (1992a), S. 84ff. In den Nachfolgeorganisationen, der Kirchlich-sozialen Frauengruppe und dem Deutsch-Evangelischen Frauenbund (DEF), waren antisemitische Positionen vergleichsweise stärker. 80 Broicher verfasste bereits 1899 den ersten biographischen Artikel über Gnauck-Kühne, siehe Broicher (1899). 81 Vgl. Gründungsaufruf, Mitgliederliste und Satzung, in: Archiv des KDFB, Nachlass GnauckKühne, 1–112–6.
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mit der Gnauck-Kühne das Interesse an der Einführung eines weiblichen Dienstjahrs verband. Der Beschluss des ESK, sich auch inhaltlich mit der Frauenfrage zu befassen, wurde öffentlichkeitswirksam umgesetzt und Gnauck-Kühne das Hauptreferat der Hauptversammlung 1895 in Erfurt übertragen. Die Entscheidung, einer Frau das Rederecht zu übertragen, war im ESK umstritten und führte zum Austritt mehrerer Kongressmitglieder. Gnauck-Kühne wurde durch ihre Rede zu einer öffentlichen Berühmtheit und zu einer der führenden Frauen im ESK, die als gewähltes Mitglied in den darauffolgenden Jahren in wichtigen Gremien des Kongresses mitarbeitete. Elisabeth Gnauck-Kühnes Vortrag „Die soziale Lage der Frau“ vor einem überwiegend bürgerlich-konservativen und überwiegend aus Theologen bestehenden Publikum war eine Sensation. Die Erlangung des Rederechts, der „Triumph over Silence“82, galt als Pioniertat83, denn Gnauck-Kühne war die erste Frau in Deutschland, die außerhalb der Sozialdemokratie auf einer öffentlichen, hauptsächlich von Männern veranstalteten und besuchten Versammlung als Rednerin auftrat.84 Dies war – wie bereits erwähnt – möglich, weil der ESK von den Behörden nicht als politischer Verein eingestuft wurde.85 Gnauck-Kühne sollte in ihrem Vortrag nur die Arbeiterinnenfrage behandeln und alle weitergehenden Forderungen der Frauenbewegung nach rechtlicher Gleichbehandlung, nach Reform des Eherechts usw. aussparen. Gnauck-Kühne überraschte dies nicht, zeigte es doch: „vor der eigenen Tür kehren die Herren nicht gern, sie selbst wollen ihre Ansichten und Beziehungen nicht ändern, nur in der Arbeiterklasse soll das Weib anders gestellt werden“.86 Sie hielt sich aber nicht an die Vorgabe, sondern verknüpfte in ihrem Vortrag die Arbeiterinnenfrage mit der bürgerlichen Frauenfrage und leitete daraus die Soziale Arbeit als Aufgabe und Berufsfeld der bürgerlichen Frauen ab: „In der Gegenwart ist unter veränderten Produktionsverhältnissen die wirtschaftliche Bedeutung der gebildeten Frau vermindert, ihre soziale Lage ungünstig verändert. (…) Von der Frauenfrage der sozial begünstigten Klassen zu der Frauenfrage der Arbeiterklasse ist’s nur ein Schritt; dieser Schritt führt uns aber in eine andere Welt. Die Lebensbedingungen der Frauen der gebildeten Klassen stehen in mehr als einer Hinsicht im Gegensatze zu denen der Proletarierinnen. (…) Wir sehen, die Frauen der oberen Klassen sind entlastet, die der unteren belastet. Darin liegt schon ein Wink: die gebildeten Frauen sollen den hart bedrängten Mit-
82 Greaves (1985). 83 Baumann, Ursula (1992a), S. 89. Zur Rede Gnauck-Kühnes siehe z. B. Kaiser (1993), S. 261f. 84 Zur zeitgenössischen Berichterstattung siehe ausführlich Simon, Helene (1928a), S. 71–77. 85 Noch 1902 wurde Helene Simon, die das Jahrestreffen der Gesellschaft für soziale Reform (GSR) eröffnen sollte, von der Polizei davon abgehalten, den Saal zu betreten, da die Tagung als politische Veranstaltung bewertet wurde. Ihre Rede wurde von einem männlichen Mitglied verlesen; Simon selbst durfte der Verlesung ihrer Rede nur als Zuhörerin, von einem für Frauen abgetrennten Bereich aus verfolgen. 86 Simon, Helene (1929), S. 240.
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schwestern zu Hilfe kommen. (…) Mitarbeit an der wirtschaftlichen, geistigen und sittlichen Hebung der Arbeiterinnen, das ist die Aufgabe, die der sozial höher gestellten Frau gestellt ist; aber die wirtschaftliche Hebung der Arbeiterinnen steht in erster Linie.“87
Grundgedanken ihres Vortrags hatte Gnauck-Kühne bereits in ihrem Artikel über „Christentum und Frauenfrage“ formuliert.88 Auf der Grundlage einer historischen Herleitung und Analyse der Frauenfrage formulierte sie ein auf dem Christentum basierendes Programm Sozialer Arbeit, das sie zunächst im ESK und später im Katholizismus weiter verfolgte. Dabei übertrug sie frauenemanzipatorische Ziele auf den protestantischen und katholischen Kontext.89 Durch die Verbindung von konservativen mit emanzipatorischen Elementen bot sie Anschlussmöglichkeiten für beide Seiten. Sie forderte Verständnis der konservativen christlich-sozialen Kreise für die Frauenfrage; diese sei nicht nur eine „Brotfrage“, sondern auch eine „Bildungs- und Sittlichkeitsfrage“.90 Mit ihrem Programm griff Gnauck-Kühne die Vorstellung einer klassenversöhnenden Mission auf, die sie in der Tradition Johann Hinrich Wicherns den bürgerlichen Frauen zuwies.91 Ausgehend von der Annahme der sozialpolitischen Bedeutung der Familie wurde Frauen dabei eine Schlüsselposition für die Lösung der zeitgenössischen sozialen Probleme zugewiesen. Sie sollten in der von sozialen Spannungen durchzogenen Gesellschaft für die Harmonie zwischen den Klassen und für die Aufrechterhaltung des Einflusses der Kirche sorgen. Die Soziale Arbeit (der Frauen) fungierte dabei als Bindeglied zwischen den Schichten.92 Mit ihrer historischen Analyse zeigte Elisabeth Gnauck-Kühne, wie sich im Zuge von Industrialisierung und Modernisierung das Arbeitsfeld „Familie“ verändert und zu einer proletarischen und bürgerlichen Frauenfrage geführt hatte, d. h. auf der einen Seite zu einer übermäßigen Arbeitsbelastung der (verheirateten) Arbeiterfrauen, auf der anderen Seite zu einer fehlenden Auslastung und Berufslosigkeit der (unverheirateten) Bürgertöchter. Gnauck-Kühne teilte die in den zeitgenössischen Debatten vorherrschende Perspektive, dass „das zerstörte Familienleben des Arbeiterstandes“ der dunkelste Punkt in der industriellen Entwicklung sei.93 Sie machte jedoch nicht die Arbeiterinnen dafür verantwortlich, sondern die industriellen Produktionsverhältnisse und forderte staatliche Schutzbestimmungen (u. a. die Einführung weiblicher Fabrikinspektoren nach englischem Vorbild) und ökonomische Gleichstellung. Die Verbesserung der Lebens- und Arbeitsbedingungen der Arbeiterinnen schien Gnauck-Kühne am ehesten durch Selbsthilfe und Selbstorganisation erreichbar. Ganz im Sinne von Friedrich Naumann und Paul
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Gnauck-Kühne (1895e), S. 24f. und S. 33. Gnauck-Kühne (1893b). Britta Konz (2005) kommt bei Bertha Pappenheim zu einem ähnlichen Ergebnis. Gnauck-Kühne (1895e), S 9. Gnauck-Kühne (1907d), S. 590; vgl. Schneider-Ludorff (1995), S. 384. Schon Lorenz von Stein (1880) ging von einer Vorbildfunktion und erzieherischen Aufgaben der „gebildeten“ Frauen gegenüber den Arbeiterinnen aus. 93 Gnauck-Kühne (1895e), S. 27; Schneider-Ludorff (1995), S. 384.
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Göhre betonte sie deshalb die Bedeutung von Gewerkvereinen und forderte die Organisationsfreiheit für Arbeiterinnen (damit die Abschaffung des § 8 des preußischen Vereinsrechts). Gleichzeitig betonte sie die Notwendigkeit eines religiösethischen Angebots an die Arbeiterinnen. Denn „wer Ketten zerbricht“, so Gnauck-Kühne, „soll und muss Gewissen binden, wer den Menschen frei macht, muss gleichzeitig bemüht sein, ihn zur Herrschaft über sich selbst zu befähigen“.94 Die Entlastung der Proletarierinnen sollte durch die Erweiterung der sozialen Arbeitsgebiete der bürgerlichen Frauen erreicht werden. Durch Soziale Arbeit sollten die unverheirateten bürgerlichen Frauen sowohl Erwerbsarbeit als auch Lebenszweck finden. Bei der Verknüpfung der Frauenfrage mit der sozialen Frage konnte GnauckKühne an eine in der bürgerlichen Frauenbewegung und im Protestantismus seit Mitte des 19. Jahrhunderts bestehende Tradition anknüpfen. Schon Louise Otto (-Peters) (1819–1895) hatte 1870 auf die Versöhnung der Klassen und die „Veredelung des Proletariats“ als Aufgabengebiet für Frauen hingewiesen und gefordert, dass Frauen den „traurigen“ Gegensatz zwischen „reich“ und „arm“ ausgleichen sollten, da Männer weniger „zart und fein empfinden“ würden und deshalb dazu nicht fähig oder willens seien.95 Dabei gab es allerdings auch Beispiele für die Vereinnahmung emanzipatorischer Ideen durch protestantische Kreise, wie z. B Amalie Sievekings (1794–1859) Konzept einer evangelischen Schwesternschaft, das die Vorstellung einer besonderen sozialen Mission des weiblichen Geschlechts mit der Forderung nach einer Erweiterung der Handlungsmöglichkeiten von Frauen verband. Johann Hinrich Wichern (1808–1881) und Theodor Fliedner (1800–1864) wiesen zwar ebenfalls den bürgerlichen Frauen eine Schlüsselrolle für die Lösung der zeitgenössischen sozialen Probleme zu und knüpften mit ihrem Konzept der Diakonissen an Sieveking an, sie ignorierten jedoch bei der Umsetzung dessen emanzipatorische Aspekte. Wichern und Fliedner betonten nicht die Erweiterung der Handlungsmöglichkeiten von Frauen, sondern den „Dienst der Frauen an der Kirche“ (Wichern) und die Unterordnung protestantischer sozialer Frauenarbeit unter die kirchliche Obrigkeit.96 Auf Fliedner geht die Einführung des (Kaiserwerther) Diakonissenwesens, die sogenannte „Mutterhausdiakonie“ zurück. Wichern wiederum war einer der Wegbereiter der evangelischen Sozialarbeit. Er gründete 1833 das Rauhe Haus, eine Einrichtung für gefährdete Kinder und Jugendliche, und 1849 den Centralausschuß für innere Mission der deutschen evangelischen Kirche, einen Dachverband der freien evangelischen Vereine und Einrichtungen.97 Im Gegensatz zu Fliedner und Wichern setzte Gnauck-Kühne in ihren Vorstellungen von sozialer Frauenarbeit auf eine weitgehende Unabhängig-
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Gnauck-Kühne (1895e), S. 100. Otto-Peters, zitiert nach Peters (1984), S. 114–117. Siehe dazu Baumann, Ursula (1992a), S. 45. Zur weibliche Diakonie und zur Inneren Mission sowie dem Beitrag der Diakonissen zur Verberuflichung und Professionalisierung weiblicher Sozialarbeit vgl. Baumann, Ursula (1992a), S. 39–45 und S. 54; Kaiser (1993), S. 260.
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keit von der kirchlichen Obrigkeit und deren Weisungsbefugnissen. Dabei konnte sie an die Vorarbeit von Gertrud Guillaume-Schack (1845–1903) anknüpfen, die 1885 mit der Kranken- und Begräbniskasse für Frauen und Mädchen in Deutschland eine erste emanzipatorische Organisation für Arbeiterinnen in Deutschland gegründet hatte.98 Die Grenzen der konservativen Zugeständnisse an die Frauenfrage sowie die Vereinnahmung der konstruktiven Vorschläge Gnauck-Kühnes zeigten sich auch im Koreferat von Adolf Stoecker auf der Kongresstagung 1895 in Erfurt. Stoecker, der als Vermittler zu den konservativen Mitgliedern im ESK fungierte, die die Mitarbeit von Frauen ablehnten, sanktionierte mit der Übernahme des Korreferats den Beschluss, Gnauck-Kühne als Hauptrednerin einzuladen.99 Stoecker war zwar von der physischen und psychischen Überlegenheit des Mannes überzeugt und lehnte die Frauenemanzipation ab, die Frauenfrage und die Frauenbewegung waren für ihn aber gesellschaftliche Phänomene, auf die reagiert werden musste. Er hielt es deshalb für wichtig, sich mit der Frauenfrage auseinanderzusetzen, um sie im konservativen Sinne beeinflussen zu können. In der bürgerlichen Frauenfrage sah er ein brachliegendes Potential von Arbeitskräften, das sich für kirchliche Sozialarbeit nutzen ließ. Er war deshalb bereit, eine christlichsoziale Frauenbewegung zu unterstützen, sofern diese zur Festigung der in Auflösung begriffenen Gesellschaftsordnung beitragen konnte.100 Stoeckers Koreferat zeigt, wie leicht sich Gnauck-Kühnes Konzept von Weiblichkeit, das an die „organisierte Mütterlichkeit“ der bürgerlichen Frauenbewegung anknüpfte, antiemanzipatorisch uminterpretieren ließ.101 Während GnauckKühne aus dem Theorem der „Weiblichkeit“ (Berufs- und) Handlungschancen für die Mitarbeit von Frauen in gesellschaftlichen Tätigkeitsfeldern ableitete, betonte Stoecker ausdrücklich die dem Geschlechterdualismus inhärenten Grenzen. Sein Koreferat zeigt, wie er Forderungen der Frauenbewegung nach Verdienstmöglichkeiten und beruflichen Perspektiven teilweise aufnahm, diese jedoch geschickt für den Erhalt konservativer Werte im Sinne der Durchdringung der Gesellschaft mit den fürsorglichen Eigenschaften der Frau instrumentalisierte.102 Das Ziel von Frauenbildung sah Stoecker in der Stärkung der Hausfrauen- und Mutterrolle, dem seines Erachtens eigentlichen Beruf der Frau. Die umfangreiche Berichterstattung über Elisabeth Gnauck-Kühnes Rede war überwiegend euphorisch, zeigt jedoch gleichzeitig die geschlechtsspezifische Bewertung und Verortung der Rede: „Der Eindruck war überwältigend. Niemand, der ihn gehabt hat, wird ihn sein Lebtag vergessen. Es war eine Rede gleich pa-
98 Vgl. Gerhard (2009), S. 60 f. Es handelte sich um eine Tarnorganisation, da Arbeiter(innen)vereine durch die Sozialistengesetze verboten waren. 99 Zum Koreferat Stoeckers siehe z. B. Wahlhäuser (1995), S. 365; Naumann (1930), S. 565. 100 Bericht über die Verhandlungen des ESK (1895), S. 101 und S. 110. 101 Zum Unterschied zwischen Gnauck-Kühnes und Stoeckers Auffassung der Gleichwertigkeit von Mann und Frau siehe Kaiser (1993), S. 260. 102 Wallhäuser (1995), S. 375; vgl. Schneider-Ludorff (1995), S. 383ff.; Kaiser (1985), S. 43f.
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ckend im Ethos wie zwingend in der Logik. Dazu von Formenschönheit, dass Jeder sich sagen musste: Kein Mann hätte Überlegenes, kaum einer hätte Ebenbürtiges bieten können.“103 Die Kathedersozialisten werteten den Vortrag als „epochemachendes Ereignis“.104 Gnauck-Kühne sei es gelungen, mit „viel Sachkenntnis, Scharfsinn und Begeisterung und doch zugleich mit so viel Geschmack, Feinheit und Anmut der Rede“ eine „überwiegend aus Pastoren bestehenden Versammlung“ von ihren Anliegen zu überzeugen und gleichzeitig bestehende Ängste vor dem „in Deutschland weithin allmächtige[n] Gespenst der russischen Nihilistin oder der amerikanischen Emanzipationsdame“ zu entkräften.105 Auch Gegner der Frauenemanzipation konnten Gnauck-Kühnes Überlegungen zur Frauenfrage zustimmen und sahen ihre Bedenken gegen die Mitarbeit von Frauen im ESK entkräftet.106 Gustav Schmoller war stolz auf die „formell und materiell gleich vorzüglich[e]“ Rede seines Protégés und nutzte die Gelegenheit, um darauf aufmerksam zu machen, dass er Gnauck-Kühne „ein klein wenig gefördert“ und deshalb Anteil an der erfolgreichen Rede hatte.107 Politische Auftritte sowie die wissenschaftliche und politische Arbeit von Frauen widersprachen den damaligen Vorstellungen von der Bestimmung der Frau. Auf Forderungen der Frauenbewegung wurde häufig mit der persönlicher Diskreditierung von Frauenrechtlerinnen reagiert. Öffentliche Auftritte von Frauen als Rednerinnen wurden entweder als unweiblich stigmatisiert oder mit dem Verweis auf die Weiblichkeit der Referentinnen gerechtfertigt. Es überrascht deshalb nicht, dass in den zeitgenössischen Darstellungen von Gnauck-Kühnes öffentlichen Auftritten und bei der Besprechung ihrer Veröffentlichungen auffällig häufig ihre „Weiblichkeit“ thematisiert wird.108 Ihre Rede auf dem ESK galt wegen ihrer moderaten Positionen als ein positives Beispiel für Frauenemanzipation. Nahezu übereinstimmend wurde in den Besprechungen darauf hingewiesen, dass die Form ihrer Argumentation sowie ihre optische Erscheinung den gängigen Vorstellungen von „Weiblichkeit“ entsprachen.109 Hedwig Dransfeld (1871–1925) beschreibt sie folgendermaßen: „Man vergaß ihre Erscheinung, ihr Gesicht nicht leicht. Die Verfechterin der ‚Mütterlichkeit‘ als des weiblichen Wesenstyps entsprach wohl im Allgemeinen nicht der Vorstellung, die man sich von der landläufig mütterlichen Frau macht. Dazu war sie zu sehr aufs Geistige ein-
103 Gerlach (1925), S. 123f. Zur Rede Gnauck-Kühnes siehe ausführlich Simon, Helene (1928a), S. 67–77. 104 Der 6. Evangelisch-Soziale Kongreß (1895); Adolf von Harnack und Adolph Wagner, zitiert nach Simon, Helene (1928a), S. 74f.; Bericht über die Verhandlungen des sechsten Evangelisch-Sozialen Kongresses (1895). 105 Cohn (1896), S. 43. 106 Cohn (1895), S. 44. 107 Zitiert nach Simon, Helene (1928a), S. 75. 108 Siehe z. B. Broicher (1899), S. 393f.; Cohn (1896), S. 43. Auch Gustav Schmoller (1893), betonte in seiner Besprechung von Beatrice Webbs Studie, dass Webb keine Suffragette, sondern „sehr weiblich“ sei. 109 Siehe z. B. Witte (1917), S. 341.
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gestellt. Dafür hatte das Gesicht ihre seelischen Charaktermerkmale zu sehr in markanten Linien herausgearbeitet. Aber ganz weiblich war sie trotzdem. Und immer ‚ganz Dame‘.“110
2.1.4 Frauengruppe, Konfektionsarbeiterinnenstreik und Gewerkschaften Die „Bismärckin“111, wie Elisabeth Gnauck-Kühne wegen ihres Führungsstils bezeichnet wurde, bestimmte das Programm und die Arbeit der Evangelischsozialen Frauengruppe. Die Sitzungen der Gruppe, bei denen nach dem Vorbild der sozialen Kurse des ESK über die Frauenfrage unter volkswirtschaftlichen und sozialen Aspekten diskutiert wurde, fanden bei Gnauck-Kühne statt.112 Sie versuchte durch eine Vielzahl von Artikeln, Vorträgen und Diskussionsbeiträgen, die Evangelisch-soziale Frauengruppe als eigenständige „christlich-soziale Frauenbewegung“ zu profilieren. Im „christlich-ethischen Geiste“ sollte sich diese für die Verbesserung der sozialen Lage der Arbeiterinnen (durch Einführung von Arbeiterinnenschutzgesetzen und Einstellung von Fabrikinspektorinnen), für die Erweiterung der Berufstätigkeit von bürgerlichen (unverheirateten) Frauen sowie für den Zugang von Frauen zur Bildung einsetzen. Die Zusammensetzung der Frauengruppe war immer noch sehr heterogen, obwohl viele der progressiven Frauen vor der Gründung ausgeschieden waren. Der versuchte Spagat zwischen Christentum, Frauenbewegung und Sozialdemokratie bildete einen wiederkehrenden Streitpunkt.113 Konservativen Mitgliedern wie Elisabeth von Knebel-Doeberitz (1857–1916) fehlte das gemeinsame, „den christlichen Glauben betonende Band“.114 Das Gros der Mitglieder der Frauengruppe war wie Knebel-Doeberitz konservativer und gegenüber Frauen- und Arbeiterbewegung ablehnender eingestellt als Gnauck-Kühne, die als Vorsitzende häufig zwischen den Fronten vermitteln musste; eine Rolle, die nicht ihrem Temperament entsprach.115 Bei Auseinandersetzungen war sie deshalb oft auf die Vermittlung von Dyhrenfurth und Broicher angewiesen. Von außen wurde die Frauengruppe von konservativer Seite als zu frauenrechtlerisch, von Seiten der bürgerlichen Frauenbewegung wegen ihrer Zurückhaltung in emanzipatorischen Fragen als zu vorsichtig kritisiert. Schmoller bestätigte dagegen Gnauck-Kühne in
110 Dransfeld (1918). 111 Kortzfleisch an Gnauck-Kühne am 15. Juni 1899, in: Simon, Helene (1929), S. 275. Die Bezeichnung meinte, dass sie wie Bismarck im Alleingang Lösungen durchsetzte, die sie erst nachträglich absegnen lies. 112 Baumann, Ursula (1992a), S. 89. 113 Der Spagat zwischen Christentum und Sozialdemokratie war auch im ESK selbst zwischen Friedrich Naumann und Adolf Stoecker ein zentraler Konflikt. Siehe hierzu Kouri (1983), S. 129ff. 114 Knebel-Doeberitz (1909), S. 7. Dieses fand sie in der Frauengruppe der FKS, die Stoecker nach seinem Ausscheiden aus dem ESK initiierte, und der sich Knebel-Doeberitz anschloss, ebenso wie weitere ehemalige Mitglieder der Evangelisch-sozialen Frauengruppe. 115 Vgl. Gnauck-Kühne an Dyhrenfurth im Juli 1895, in: Simon, Helene (1928a), S. 79.
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ihrem „gemäßigten“ Vorgehen, denn seines Erachtens konnte nur ein maßvolles Auftreten „unter den echt christlichen Frauen (…) Beifall finden“. Ihre Zugeständnisse an den konservativen Flügel der Gruppe hielt Schmoller für den richtigen Weg, weil die Gruppe nur so als „Filiale“ vom ESK akzeptiert werde.116 Die Evangelisch-soziale Frauengruppe trat nur einmal öffentlich in Erscheinung, bei ihrer Beteiligung am Streik der Konfektionsarbeiterinnen 1896. Der Berliner Konfektionsstreik war Teil einer größeren Streikbewegung, die sich gegen die miserablen Arbeitsbedingungen des sogenannten „Sweating-Systems“ richtete. An der Streikbewegung, die in Deutschland 1895 begonnen hatte, waren allein in Berlin ca. 30.000 Arbeiter und Arbeiterinnen der Konfektionsindustrie beteiligt.117 Gnauck-Kühne war als Vertreterin der Evangelisch-sozialen Frauengruppe schon an den außerparteilichen Vermittlungsversuchen zwischen Arbeiterinnen und Arbeitgebern eingebunden gewesen und war die erste Bürgerliche, die sich, ohne Sozialistin zu sein, nach Streikausbruch öffentlich sichtbar am Arbeitskampf beteiligte.118 Der Streik, der nach dem Scheitern der Vermittlungsversuche am 9. Februar 1896 in Berlin begann, war wegen des sehr hohen Frauenanteils außergewöhnlich; 70–75 % der Streikenden waren Frauen. Streiks waren zu diesem Zeitpunkt weder ein anerkanntes noch ein legales Mittel im Arbeitskampf, und nur wenige der überwiegend in der Hausindustrie beschäftigten unverheirateten Arbeiterinnen waren gewerkschaftlich organisiert. Ungewöhnlich war auch, dass Teile des Bürgertums und der Regierung Partei für die Streikenden ergriffen. Die Frauenbewegung nutzte die Gelegenheit, um politische und praktische Solidarität zu üben.119 Anders als bei anderen Streiks richtete sich die öffentliche Aufmerksamkeit vor allem auf das soziale Elend der Arbeiterinnen und nicht wie sonst auf die vermeintliche Gefahr eines revolutionären Umsturzes. Daran hatte die Frauenbewegung sowie Gnauck-Kühne und die Evangelisch-soziale Frauengruppe einen Anteil, denn sie unterstützten die Streikenden durch Öffentlichkeitsarbeit, mit der sie versuchten, die bürgerliche Öffentlichkeit und Politiker von der Sache der Streikenden zu überzeugen. Gnauck-Kühne und die Frauengruppe ging es um „Hilfe zur Selbsthilfe“; sie ordneten sich bei ihrer Unterstützungsarbeit der sozialdemokratischen Streikleitung unter und versuchten weder auf die Zielrichtung noch auf die Taktik des Streiks Einfluss zu nehmen. Die Evangelisch-soziale Frauengruppe erhoffte sich von der Beteiligung am Streik, Erkenntnisse über eine mögliche evangelisch-soziale Organisierung von Arbeiterinnen zu gewinnen. Gertrud Dyhrenfurth, mit der Gnauck-Kühne in die-
116 Schmoller, zitiert nach Simon, Helene (1928a), S. 79. 117 Vgl. Baumann, Ursula (1992a), S. 93f. Zur Lage der Arbeiterinnen in der Konfektionsindustrie und zum Streik siehe z. B. Baader, Ottilie (1931), S. 62–69; Olberg (1896); vgl. Beier (1983), S. 163ff. Zur Vorgeschichte des Streiks siehe z. B. Grandke (1899), S. 337; Timm (1895). 118 Siehe ausführlich Simon, Helene (1929a), S. 139ff.; Baadte (1979), S. 113. 119 Gerhard (1990), S. 236ff.
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ser Zeit eng zusammenarbeitete, galt durch ihre Berichte über die gewerkschaftliche Organisierung von Arbeiterinnen in England als Expertin in dieser Frage. Die Streikerfahrung war wohl für beide „eines der bedeutendsten Ereignisse im Leben“.120 Denn sie zeigte, dass eine konstruktive Zusammenarbeit mit ArbeiterInnen möglich war und vermittelte Gnauck-Kühne und Dyhrenfurth das Bewusstsein, gehört zu werden und etwas bewirken zu können. Der Streik dauerte nur 14 Tage; er wurde abgebrochen, nachdem das Ziel eines Mindestlohntarifs erreicht schien. Auch wenn der Streik langfristig gesehen ein Erfolg war – er bildete er den Ausgangspunkt für die Ausdehnung der Jugendarbeitsschutz- und Arbeiterinnenschutzgesetzgebung sowie für die späteren Maßnahmen des HeimarbeiterInnenschutzes121 –, war er für die konkrete Lage der ArbeiterInnen und der Gewerkschaften ein Misserfolg. Die Arbeitgeber hielten ihre Zusagen nicht ein, und die Verhandlungen vor dem Gewerbegericht über Mindestlöhne zogen sich hin. Der Streikausgang bestärkte die Arbeiterinnen in ihrer Abneigung gegen gewerkschaftliche Organisierung122, und er verschärfte außerdem die prekäre ökonomische Situation der beteiligten Arbeiterinnen, weil es wegen der fehlenden Organisierung keine Streikkasse und fast keine finanziellen Mittel zu ihrer Unterstützung gab. Gnauck-Kühne und die Evangelisch-soziale Frauengruppe führten deshalb eine Spendenaktion unter dem Berliner Bürgertum durch; die Spendengelder in Höhe von ca. 11.000 Mark verteilten sie, erneut in Kooperation mit den Gewerkschaften, unter den notleidendsten Frauen.123 Gnauck-Kühne war nach dem Streik überzeugt, dass reine Frauengewerkschaften für die Arbeiterinnenorganisierung nicht geeignet seien. Sowohl hinsichtlich der Mitgliederzahl als auch hinsichtlich der finanziellen Ausstattung könnten diese kaum die Stärke und Durchsetzungskraft der Männergewerkschaften erreichen und seien deshalb nicht in der Lage, einen Arbeitskampf durchzustehen.124 Sie selbst hatte mit der Zusammenarbeit mit Gewerkschaftsvertretern während des Streiks und bei ihrer empirischen Studie gute Erfahrungen gemacht. Im Januar 1896 wurde sie Mitglied im Verband der in Buchbindereien, der Papier- und Ledergalanteriewaren-Industrie beschäftigten Arbeiter und Arbeiterinnen und wurde zwei Jahre später zu einer von dessen Gewerkschaftssekretärinnen ernannt.125 Wie keine andere der im ESK organisierten Frauen stand Elisabeth GnauckKühne als Person und mit ihren Kontakten für die enge Verbindung zwischen Protestantismus und Sozialismus.126 Aus ihrer Zusammenarbeit mit Sozialdemo-
120 Simon, Helene (1928a), S. 100; vgl. Gnauck-Kühne an Dyhrenfurth am 20. September 1906, in: Simon, Helene (1929), S. 220. 121 Simon, Helene (1928a), S. 142. 122 Dyhrenfurth (1898), S 65 und S. 119. 123 MESK (1896), S. 56. 124 Gnauck-Kühne (1905a), S. 69f.; Gnauck-Kühne (1905b), S. 51f.; Gnauck-Kühne (1907c), S. 16. 125 Simon, Helene (1928a), S. 122. 126 Moltmann-Wendel (2005), S. 90; vgl. Dietrich, Charlotte (1953), S. 136.
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kraten und Gewerkschaftsvertretern während des Streik entwickelten sich dauerhafte Freundschaften, so z. B. mit dem Streikleiter und späteren bayerischen SPDAbgeordneten und Justizminister Johannes Timm (1866–1945) oder dem Redakteur des „Vorwärts“ Adolf Braun (1862–1929).127 Mit Clara Zetkin unterhielt Gnauck-Kühne einen freundschaftlichen Briefkontakt.128 Sie schätzte Zetkins Einsatz für Arbeiterinnenschutz und Frauenrechte, bewunderte ihre rhetorischen Fähigkeiten und die über die eigenen Kreise hinausreichende Ausstrahlung. Wie Gnauck-Kühne so polarisierte auch Zetkin, die als sozialistische Frauenrechtlerin bei der Frage nach Haupt- und Nebenwiderspruch „zwischen allen Stühlen“ stand.129 Wurde den beiden Frauen von der einen Seite ihr Engagement für Frauenemanzipation vorgeworfen, so vernachlässigten sie diese aus Sicht der bürgerlichen Frauenbewegung zugunsten evangelisch-sozialer bzw. sozialistischer Ziele. Gnauck-Kühne nahm Zetkin später gegen Angriffe aus den Reihen der Freien kirchlich-sozialen Konferenz (FKS), aber auch gegen deren eigene sozialistische Genossinnen in Schutz.130 Generell lehnte Gnauck-Kühne die sozialistische Frauenbewegung jedoch ab, da diese den „Kampf der Frau gegen den Mann“ zum Nebenwiderspruch erkläre, dem Klassenkampf unterordne und sich gegen die bestehende christliche Gesellschaftsordnung richte.131 Elisabeth Gnauck-Kühne wurde mehrfach wegen ihres aktiven Eintretens für die Arbeiterinnen und die Zusammenarbeit mit Gewerkschaften und Sozialdemokratie von Carl Ferdinand Freiherr von Stumm-Halberg (1836–1901) in öffentlichen Parlamentssitzungen im Reichstag und im preußischen Landtag angegriffen. In der bürgerlichen Presse wurde sie nach dem Streik als „Sozialdemokratin reinsten Wassers“ gebrandmarkt, ihr wurden „Gedankenlosigkeit, Klassenhass“ und „Umsturzgelüste“ attestiert.132 Bei den meisten Bürgerlichen stieß ihre Parteinahme für die Streikenden auf Ablehnung. Sie nahm dies zunächst wohl mit Humor und wertete es als Bestätigung ihrer Arbeit.133 Im ESK führten die während des Streiks offen zu Tage getretenen unterschiedlichen Ansichten über die Zusammenarbeit mit der Sozialdemokratie und die Koalitionsfreiheit der Arbeiter 1896 zum Austritt Stoeckers und zur Gründung der FKS. Gnauck-Kühnes und Dyhrenfurths Nähe zum Programm Friedrich Naumanns und ihre Ausnahmestellung in den evangelisch-sozialen Kreisen zeigte sich daran, dass sie bei der von Naumann initiierten Gründungsversammlung des Nationalso-
127 Siehe Simon, Helene (1928a), S. 96 und S. 102. 128 Zum freundschaftlichen Kontakt zwischen Gnauck-Kühne und Zetkin siehe z. B. Gerlach (1925), S. 124; Simon, Helene (1929), S. 135. 129 Hervé (2007), S. 7. 130 Gnauck-Kühne am 3. März 1900 an Wilhelm Hohn, in: Simon, Helene (1929), S. 233; Simon, Helene (1928a), S. 78. 131 Gnauck-Kühne (1908c), S. 8. 132 Simon, Helene (1928a), S. 144f. Zu den Angriffen Stumm-Halbergs gegen Friedrich Naumann und Elisabeth Gnauck-Kühne siehe Simon, Helene (1929a), S. 102ff. 133 Wittrisch (1997[1917]), S. 113; Witte (1930).
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zialen Vereins 1896 in Erfurt die einzigen teilnehmenden Frauen waren. Bei der geplanten parteipolitischen Synthese von Nationalismus, Sozialismus und Liberalismus sollten der Klassenkampf und der Internationalismus der Sozialdemokratie durch integrative Sozialpolitik und Imperialismus ersetzt werden; das sozialpolitische Programm war liberal, d. h. es setzte auf Selbsthilfe vor Staatshilfe, auf politische Partizipation und Organisationsfreiheit.134 Bei der Gründung zeigte sich erneut die ignorante Haltung evangelisch-sozialer Kreise gegenüber der Frauenfrage. Erst nach Gnauck-Kühnes Intervention wurde ein entsprechender Passus im Parteiprogramm aufgenommen.135 In diesem wurde die „Sicherung der persönlichen und wirtschaftlichen Stellung der Frau und ihre Zulassung zu solchen Berufen und öffentlich-rechtlichen Stellungen, in denen sie die fürsorgende und erziehende Tätigkeit für ihr eigenes Geschlecht wirksam entfalten kann“ als Ziel der politischen Arbeit des Vereins festgehalten.136 Selbst dieser aus heutiger Sicht eher unmodern und wenig emanzipatorisch scheinende Passus, der die Rolle und Arbeitssphäre der Frau(en) auf erzieherische und „mütterliche“ Aufgaben beschränkt, war bei den Nationalsozialen umstritten. Auch Naumann selbst hatte sich zunächst gegen dessen Aufnahme ins Parteiprogramm ausgesprochen und dies mit den unterschiedlichen schichtspezifischen Interessen von Kommerzienrätinnen und Fabrikarbeiterinnen begründet. Auch im ESK spielte die Frauenfrage trotz der öffentlichen Präsenz GnauckKühnes und deren Mitarbeit in Gremien des Kongresses sowohl im Hinblick auf die Themenwahl als auch auf die Referentinnen nur eine marginale Rolle. Erst acht Jahre nach Gnauck-Kühne war mit dem Referat von Dyhrenfurth über die Situation der Heimarbeiterinnen wieder eine Referentin und die Frauenfrage inhaltlicher Bestandteil einer Hauptverhandlung des ESK.137 Elisabeth Gnauck-Kühne hatte 1896, sechs Jahre nach ihrer Scheidung, viel erreicht: Nach langen Kämpfen war die Zulassung von Frauen als Gasthörerinnen an Universitäten endlich durchgesetzt worden und sie konnte ab dem Wintersemester 1895/96 Seminare an der Berliner Universität besuchen.138 Mit ihrer Rede auf dem ESK, ihren sozialwissenschaftlichen Studien und ihrer exponierten Stel-
134 Vgl. Krüger, Dieter (1983), S. 41 und S 44. 135 Zur Intervention Gnauck-Kühnes siehe z. B. Wenck (1905), S. 67; siehe auch Baumann, Ursula (1992a), S. 94ff. 136 § 6 der „Grundlinien“ des Nationalsozialen Vereins, abgedruckt in: Düding (1972), S. 201. 137 Vgl. Schneider-Ludorff (1995). Zur Haltung des ESK zur Frauenfrage zwischen „liberaler Halbheit“ und „konservativer Intransigenz“ vgl. Baumann, Ursula (1992a), S. 85; Planert (1998), S. 45; sowie das nüchterne Resümee über die Frauenarbeit im ESK von Naumann (1930). 138 Simon, Helene (1928a), S. 48f. Die Erlangung der für ihren Gasthörerinnenstatus notwendigen Sondererlaubnis war jedoch aufwendig; sie musste für jedes Seminar in jedem Semester beim preußischen Kultusminister neu beantragt werden. Siehe: Archiv des KDFB, Nachlass Gnauck-Kühne, 1–105–1, Kopie der vom Königlichen Universitäts-Kuratorium in Berlin ausgestellten Zulassung zu den Vorlesungen von Prof. Schmoller vom 15. November 1895. Zum umständlichen Prozedere siehe auch: Heller (1902), S. 68.
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lung beim Streik der Konfektionsarbeiterinnen hatte sie einen Höhepunkt an Popularität, aber auch an Anfeindungen erreicht. Auf diesem Höhepunkt erlitt Gnauck-Kühne, wohl als Folge der hohen Arbeitsbelastung und der öffentlichen Angriffe, einen Nervenzusammenbruch; hinzu kam eine Sinnkrise, die wohl aus der fehlenden Verarbeitung ihrer gescheiterten Ehe herrührte. In einer Zeit, in der Ehe und Mutterschaft als die Bestimmung der Frau galt, war es für Frauen schwierig, eine Begründung für ein Leben außerhalb dieser festgelegten Rolle zu finden. Auch Gnauck-Kühne war sich unklar, wie eine weitere, sinnerfüllte Arbeit aussehen könnte.139 Sie flüchtete erneut, wie schon vor ihrer Scheidung, nach Italien und Südfrankreich und begann gleichzeitig, sich aus der evangelisch-sozialen Arbeit und der Frauengruppe zurückzuziehen. Zwar trat sie auf der nichtöffentlichen Spezialkonferenz des ESK 1897 noch als Koreferentin auf und wurde im Dezember 1897 Mitglied der Redaktion der neu eingerichteten Beilage „Frauenarbeit“ der protestantischen Zeitschrift „Tägliche Rundschau“140, im Dezember 1899 legte sie jedoch den Vorsitz der Evangelisch-sozialen Frauengruppe endgültig nieder. Deren geplanter Ausbau zu einer eigenständigen Frauenbewegung hatte trotz Gnauck-Kühnes publizistischer Aktivität, ihren Agitationsreisen und der öffentlichkeitswirksamen Beteiligung am Streik der Konfektionsarbeiterinnen schon länger organisatorisch und inhaltlich stagniert.141 Die Bedeutung GnauckKühnes lag darin, dass es ihr über mehrere Jahre gelungen war, als Klammer zwischen liberalem und konservativem protestantischen Flügel zu fungieren.142
2.1.5 Konversion Die evangelisch-sozialen Kreise empfanden es als „Treuelosigkeit“ und „große Rücksichtslosigkeit“, als sie nur wenige Monate später aus der Tagespresse erfuhren, dass ihr prominentes Mitglied Elisabeth Gnauck-Kühne am 24. März 1900 in Mautern in der Steiermark zum Katholizismus konvertiert war.143 Selbst GnauckKühnes engstes Umfeld wurde von diesem Schritt überrascht. In den evangelischen Kreisen nahm man ihr übel, dass sie aus einer exponierten Position heraus konvertiert war und nicht abgewartet hatte, bis sie in einer weniger herausragenden Stellung war, weil der Konfessionswechsel dadurch eine größere Bedeutung erhielt.144 Trotz ihres Rückzugs hatte sich Gnauck-Kühne im Sommer 1899 noch
139 Briefe von Gnauck-Kühne an Dyhrenfurth aus den Jahren 1897 und 1898, in: Simon, Helene (1929), S. 214f.; Gnauck-Kühne an Dyhrenfurth am 16. August 1899, in: Archiv des KDFB, Nachlass Gnauck-Kühne, 1–109–10. 140 Zur Mitarbeit in der „Täglichen Rundschau“ siehe Simon, Helene (1928a), S. 84 und S. 91. 141 Simon, Helene (1928a), S. 92. 142 Kortzfleisch an Gnauck-Kühne am 15. Juni 1899, in: Simon, Helene (1929), S. 275. 143 Arthur Spiethoff an Ida Ernst am 25. Juni 1929, in: Archiv des KDFB, Nachlass GnauckKühne, 1–111–2. 144 Siehe ausführlich Simon, Helene (1928a), S. 92–94.
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einmal in das konservative Aktionskomitee des ESK wählen lassen und war Mitgründerin und Vorstandsmitglied des christlich-konservativen Deutsch-Evangelischen Frauenverbands (DEF), dem Gesamtverband der evangelischen Frauenvereine, geworden. Gnauck-Kühne versuchte später, ihren FreundInnen die Konversion zu erklären.145 Sie legte Wert darauf, dass die Entscheidung nicht das Ergebnis einer spontanen Laune gewesen sei, sondern der Endpunkt einer längeren Entwicklung. Ihre Konversion sei das Resultat der Suche nach einer Heimat und der Zugehörigkeit zu einer Gemeinschaft, die Schutz, Halt und gleichzeitig Lebensinn versprach. Im Katholizismus hoffte sie, die lange gesuchte „tiefe Frömmigkeit, ohne pietistische Engherzigkeit, Wärme, Schönheit und Gemeinschaft“ zu finden.146 Sie zog eine Parallele zu Paul Göhre, der sich – kurz zuvor aus dem ESK ausgetreten – den Sozialdemokraten angeschlossen und damit in evangelisch-sozialen Kreisen ebenfalls großes Aufsehen erregt hatte. Gnauck-Kühne, die mit Göhre die Nähe zur Sozialdemokratie teilte, stilisierte im Rückblick ihre eigene Konversion zum Katholizismus als Rettung: Sie habe sich wie ein „Schwimmer“ gefühlt, „der glücklich den Hafen erreicht“ habe und nun „zurücksieht auf solche, die der Strudel erfasste“.147 Mit dem Sozialismus war ihres Erachtens ein sozialer Friede nicht erreichbar; dafür schienen ihr „stärkere Bindungen“148, d. h. religiöse, notwendig. Als Hauptgrund für ihre Konversion führte Gnauck-Kühne das katholische Jungfräulichkeitsideal und dessen Implikationen für alleinstehende Frauen an.149 Während das Luthertum die unverheirateten Frauen diskriminiere, indem es in der Ehe den einzigen Beruf und die ausschließliche Bestimmung der Frauen sehe und ledige Frauen als „lächerliche oder boshafte ‚alte Jungfer[n]‘“150 stigmatisiere, sei die Emanzipation der Frauen im Katholizismus durch das Modell katholischer Nonnen und Schwesternschaft(en) – dessen Aufwertung gegenüber dem Ehestand durch das Konzil von Trient dogmatisch fixiert und 1899 von Papst Leo XIII. ausdrücklich bestärkt worden sei – grundsätzlich angelegt.151 Mit der Frage, was der Protestantismus und der Katholizismus unverheirateten Frauen zu bieten hatte, beschäftigte sich Gnauck-Kühne schon länger; sie griff sie bereits bei ihrer Rede auf der Tagung des ESK 1895 in Erfurt auf. Unmittelbar vor ihrer Konversion vertrat sie bei einer Kontroverse über evangelische Diakonissen und katholische Schwestern in der protestantischen „Täglichen Rundschau“ die Position, dass der 145 Siehe z. B. Gnauck-Kühne an Dyhrenfurth am 2. Juli 1903, in: Simon, Helene (1928a), S. 217f. 146 Gnauck-Kühne an Carl Hoeber am 30. März 1917, zitiert nach Hoeber (1917), S. 109f. 147 Gnauck-Kühne, zitiert nach Simon, Helene (1928a), S. 78. Göhre wurde 1900 Mitglied der SPD und verzichtete anschließend auf seine Rechte als Geistlicher. 148 Witte (1917), S. 345. 149 Gnauck-Kühne (1895e), S. 12; Simon, Helene (1928a), S. 209. 150 Gnauck-Kühne (1904a), S. 13. 151 Gnauck-Kühne (1909c), S. 294. Zur Bedeutung des Jungfräulichkeitsideals für alleinstehende, berufstätige Katholikinnen im Kaiserreich siehe Lion (1926), S. 159; Breuer (1998), S. 103f.
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Mangel an Diakonissen auf die fehlende religiöse Begründung für deren persönliche Armut zurückzuführen sei, denn dadurch fehle die ideelle Aufwertung und die gesellschaftliche Anerkennung. Im Gegensatz zur Diakonisse sei die katholische Schwester nicht Berufsarbeiterin, sondern „Himmelsbraut“.152 Gnauck-Kühnes Vorstellungen der katholischen Gemeinschaft orientierten sich an einem von ihr idealisierten Klosterleben, das auf einer Genossenschaft auf religiös-demokratischer Grundlage basieren sollte. Gnauck-Kühnes Auseinandersetzung mit dem katholischen Glauben war jedoch keine problemlose, sondern vielmehr eine konfliktreiche Suche nach einer neuen, mit Autorität ausgestatteten religiösen Bindung, wie sich schon beim Akt ihrer Konversion zeigte, bei dem sie die, für die Aufnahme in die katholische Kirche eigentlich notwendige, Abschwörung vom bisherigen Glauben verweigerte.153 Gnauck-Kühne hielt an ihren Freundschaften mit Dyhrenfurth, Schmoller, Naumann und anderen Personen aus der evangelisch-sozialen Bewegung wie und Moritz August Nobbe (1834–1910), dem ersten Vorsitzenden des ESK, fest, obwohl das von katholischer Seite nicht gerne gesehen wurde.154 Sie widmete Schmoller die „Einführung in die Arbeiterinnenfrage“ (1905), eines ihrer Hauptwerke für die katholische Frauenbewegung. Gnauck-Kühne veröffentlichte auch keine der für Konvertiten üblichen Rechtfertigungen, d. h. öffentliche Bekenntnisse zum katholischen Glauben, wie es von der katholischen Kirche erwartet wurde. Die ihren „protestantischen Freunden und Freundinnen [insbesondere der] Fr[auen]gr[upp]e des Ev[angelisch] Soz[ialen] Kongresses in herzlicher Liebe“ gewidmeten „Aufzeichnungen zum Glaubenswechsel“, die einem solchen Konversionsbericht entsprachen, erschienen erst nach ihrem Tod.155 Nach ihrer Konversion versuchte Elisabeth Gnauck-Kühne die katholischen Kreise für ihre Vorstellungen zur Frauenfrage und Frauenemanzipation zu begeistern; dabei hatte sie aber wohl die Chancen der Durchsetzung frauenpolitischen Engagements im Katholizismus überschätzt.156 Sie stieß schnell an die Grenzen, die das „fundamentalistische Offenbarungsverständnis allen innerkatholischen Bemühungen setzte, die auf die Gleichberechtigung von Mann und Frau“ zielten.157 Bereits im Winter 1900/1901 kam es zur ersten Auseinandersetzungen mit Kirchenvertretern, die als Experten für die Frauenfrage galten. Von Viktor Cathrein (1845–1931), einem Moral- und Rechtsphilosophen, wurde Gnauck-
152 Gnauck-Kühne (1899a). Zur Diskussion über den Artikel Gnauck-Kühnes und dessen Schlusswort, das in der „Täglichen Rundschau“ nicht abgedruckt wurde, siehe Simon, Helene (1928a), S. 166–185. 153 Simon, Helene (1928a), S. 161; Baadte (1979), S. 116. 154 Siehe z. B. die Briefe von Nobbe und Naumann an Gnauck-Kühne in: Simon, Helene (1929), S. 284f. 155 Gnauck-Kühne (1928[o. J.]); zur Einschätzung des Konversionsberichts siehe Schaser (2007), S. 17f. 156 Baadte (1979), S. 117. 157 Hafner (1989), S. 94.
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Kühne – auf ihr früheres Engagement für die Arbeiterinnen anspielend – mit der Frage angegriffen: „Stehen Sie nicht ungefähr auf demselben Boden wie Fräulein Zetkin?“158 Zur ersten „reichlich erbitterte[n] Zeitungsfehde“ über die „Einordnung“ oder „Unterordnung“ der Frauen kam es ausgerechnet mit Augustin Rösler (1851–1921), der als Seelsorger ihre Konversion begleitet und in dessen Pfarrkirche sie das katholische Glaubensbekenntnis abgelegt hatte.159 Rösler hatte eine katholische Gegenschrift zu August Bebels Werk über die Frauenfrage verfasst, „Die Frauenfrage vom Standpunkt der Geschichte, der Natur und Offenbarung“ (1893). Röslers Gesprächsbereitschaft und seine Beschäftigung mit der Frauenfrage weckten Gnauck-Kühnes Interesse und waren eine weiterer wichtiger Grund für ihren Religionswechsel. Sie nahm Kontakt zu Rösler auf, nachdem dieser sich mehrfach positiv auf ihre Erfurter Rede bezogen und auf Gemeinsamkeiten hingewiesen hatte. Beide referierten die Frauenfrage am Beispiel des Antagonismus zwischen der Fabrikarbeiterinnenfrage und der Frage nach der Erwerbstätigkeit der Frauen des Mittelstands. Rösler hatte wie Gnauck-Kühne den direkten Kontakt zu Arbeiterinnen gesucht, sich ebenfalls an einem Streik von Fabrikarbeiterinnen beteiligt und dadurch einen konkreten Einblick in deren Not erhalten. Er galt als wichtiger Wegbereiter einer größeren katholischen Offenheit gegenüber der Frauenfrage und unterstützte, ähnlich wie Naumann und Stoecker das evangelische, vor allem aus strategischen Gründen das katholische Frauenvereinswesen. Die bürgerliche und sozialistische Frauenbewegung sowie deren emanzipatorische Forderungen nach dem politische Wahlrecht und der politischen Gleichstellung der Frauen lehnte Rösler jedoch ab.160 Für Gnauck-Kühne war es Röslers Bereitschaft, sich überhaupt mit der Frauenfrage auseinanderzusetzen, die ihn positiv von den evangelischen Sozialreformern abhob; selbst im Werk von Schmoller spielte die Frauenfrage kaum eine Rolle. Nach der Durchsicht von Schmollers „Grundriss der Allgemeinen Volkswirtschaft“ (1900) stellte Gnauck-Kühne gegenüber Rösler mit großem Bedauern fest: „Das ist alles, was dieser Gelehrte hat finden können? Où est la femme – das passt auch hier.“161 Schuld an der fehlenden protestantischen Auseinandersetzung mit der ‚Frauenfrage‘ war für Gnauck-Kühne die seit Luther bestehende Festle-
158 Simon, Helene (1928a), S. 208. Zu weiteren Auseinandersetzungen siehe u. a. Simon, Helene (1928a), S. 222. 159 Zu Rösler und zur Konversion siehe z. B. Simon, Helene (1928a), S. 205–214; zur Auseinandersetzung zwischen Gnauck-Kühne und Rösler siehe ausführlich Hafner (1983), S. 100–104. Röslers Briefe an Gnauck-Kühne fehlen im Nachlass Gnauck-Kühne. 160 Vgl. Hafner (1983), S. 105f. Rösler (1899). Zum wachsenden Einfluss der katholischen Frauenbewegung auf die katholische Frauenpolitik und zum Gesinnungswandel katholischer Politiker und Kleriker bei der Frauenfrage siehe Hafner (1983), S. 328–333; Kall (1983), S. 273–286. 161 Gnauck-Kühne an Rösler am 12. Juli 1900, in: Simon, Helene (1929), S. 190f., hier S. 190: Die Frauenfrage behandelte Gustav Schmoller (1900b) im Kapitel über „Gegenwart und Zukunft der Familie. Frauenfrage“ auf nur dreieinhalb Seiten.
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gung der Frauen auf Ehe und Mutterschaft.162 Dagegen schien Röslers Haltung zur Frauenfrage bei einer oberflächlichen Gegenüberstellung trotz dessen überwiegend patriarchalisch-androzentristischen theologischen Sicht auf die Frau fast fortschrittlich. Rösler grenzte sich wie Gnauck-Kühne von Luther ab und setzte auf das „Prinzip der Mütterlichkeit“. Er hielt Luthers Auffassung, wonach „die Frau nur zum ehelichen Leben berufen“ sei und ansonsten „ihren Beruf verfehlt“ habe, für eine religiöse und soziale „Irrlehre“. Aus der Mütterlichkeit als der wesentlichen Aufgabe der Frauen, die für Rösler neben der physischen auch die transfamiliale gesellschaftlich-geistige Mütterlichkeit umfasste, leitete er wie Gnauck-Kühne die Bestimmung der unverheirateten Frauen für sozial-karitative Aufgaben ab. Es gab jedoch einen gravierenden Unterschied, den Gnauck-Kühne wohl zunächst übersehen hatte. Denn während Gnauck-Kühne aus der geschlechtsspezifischen Aufgabe der Frauen ihre soziale, politische und kulturelle Gleichwertigkeit herleitete und mit der Mütterlichkeit für das Frauenstimmrecht argumentierte, begründete Rösler damit die Minderwertigkeit und die soziale Unterordnung der Frau. Die sozial-karitative Begabung der Frau korrelierte in seiner Argumentation mit einem moralisch-intellektuellen Defizit, das die Anfälligkeit der Frauen für die „Sünde“ erkläre und sie ungeeignet für verantwortungsvolles öffentliches Wirken in Kirche und Gesellschaft mache.163
2.1.6 Katholische Frauenbewegung Als eine über einen räumlich eng begrenzten Wirkungskreis hinaus bekannte Expertin war Elisabeth Gnauck-Kühne vor allem in den ersten Jahren nach ihrer Konversion eine wichtige Repräsentantin der im Entstehen begriffenen katholischen Frauenbewegung. Sie schloss sich zunächst dem Kölner Frauenbund und dem Kreis um Minna Bachem-Sieger (1870–1939) an, die zu den engagiertesten Frauen der katholischen Frauenbewegung gehörte und später eine der Vorsitzenden des Kölner Katholischen Frauenbundes wurde.164 Enge persönliche Kontakte pflegte Gnauck-Kühne auch zum Bayerischen Landesverband des Katholischen Frauenbunds (KFB) in München, dessen Mitglieder ihr wesentlich mutiger und zielstrebiger schienen als die in der Kölner Zentrale, bei denen Gnauck-Kühne die Bereitschaft vermisste, sich in Streitfragen zu positionieren und unbequeme Entschlüsse zu fassen.165 In der katholischen Frauenbewegung war Gnauck-Kühne weniger die agitatorische und organisatorische, sondern mehr die programmatische Führerin, die als
162 Baumann, Ursula (1992a), S. 60. 163 Hafner (1983), S. 97f. 164 Simon, Helene (1929), S. 135; Dransfeld (1997[1917]). Zu Gnauck-Kühnes katholischem Frauen-Netzwerk siehe Monteglas (1930), S. 185f.; Simon, Helene (1929), S. 80f. 165 Gnauck-Kühne an Sophie Oettingen-Spielberg am [ohne Datum] 1906, in: Simon, Helene (1929), S. 244.
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bedeutende „Triebkraft“ hinter den Kulissen agierte.166 Sie nahm zwar auf die Entstehung des KFB beratend Einfluss167, die ihr zugedachte „Frontstellung“ im KFB sowie generell eine führende Stellung innerhalb der katholischen Frauenbewegung und deren Organisationen lehnte sie aber aus gesundheitlichen Gründen ab.168 Ihre Zurückhaltung lag wohl zum Teil auch daran, dass es schon kurz nach ihrer Konversion publizistische Auseinandersetzungen mit Vertretern der katholischen Kirche wegen ihrer Haltung in der Frauen- und Arbeiterinnenfrage gegeben hatte. Da sie als Konvertitin besonders unter Beobachtung stand und weitere Auseinandersetzungen vorprogrammiert waren, wollte Gnauck-Kühne wohl die mit einer exponierten Stellung verbundene größere öffentliche Aufmerksamkeit vermeiden.169 Mit dem KFB sollte ein übergreifender organisatorischer Zusammenschluss aller katholischer Frauen und Frauenvereine geschaffen werden. An der Gründung beteiligten sich auch katholische Sozialreformer wie der Zentrumspolitiker und Vorsitzende des Volksvereins, Karl Trimborn (1854–1921), der Gründer und erste Vorsitzende des Deutschen Caritasverbands, Lorenz Werthmann (1858–1921), und der elsässische Priester und Reiseschriftsteller Paul Müller-Simonis (1862– 1930). Die weiblichen Mitglieder des KFB stammten, wie bei der Frauengruppe des ESK, ausschließlich aus dem gehobenen Bürgertum und dem Adel.170 Wie bei der Evangelisch-sozialen Frauengruppe und dem DEF war die Gründung des KFB von Abwehr und Konkurrenzfurcht gegenüber liberalen und sozialistischen Emanzipationsbestrebungen motiviert.171 Schon bei der Gründung zeigte sich der enge Handlungsspielraum des KFB, dessen Politik, Programmatik und Strategie maßgeblich von den innerkatholischen Zusammenhängen und Konflikten bestimmt wurde.172 Als katholische Laienorganisation benötigte der KFB eine kirchenbehördliche Anerkennung, die aber erst im zweiten Anlauf erlangt wurde. Denn obwohl das deutsche Episkopat (Bischofskonferenz) die Anerkennung befürwortete, wurde sie im November 1903 durch den Einspruch des Kölner Erzbischofs und Kardinals Anton Fischer (1840–1912), der die Emanzipationstendenzen des Frauenbunds, aber vor allem die in der Satzung anklingende Bereitschaft
166 Simon, Helene (1929), S. 71. 167 Baadte (1979), S 117. 168 Gnauck-Kühne an Minna Bachem-Sieger am 17. September 1904, in: Simon, Helene (1929), S. 76; vgl. Kall (1983), S. 272: Gnauck-Kühne wurde 1916 zwar Mitglied des Zentralausschusses des KFB, sie übernahm aber weder die Leitung eines Arbeiterinnenvereins oder einer Patronage noch die eines Zweigvereins des Frauenbundes. 169 Dransfeld (1997[1917]). 170 Zur Sozialstruktur der Mitglieder und zur Mitgliederentwicklung des KFB siehe Baumann, Ursula (1992b), S. 174–178. 171 Zum KFB siehe Kall (1983), S. 172; Scherzberg (1991), S. 152–156. 172 Siehe dazu ausführlich Kall (1983), S. 198–299.
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zur Zusammenarbeit mit außerkatholischen Gruppen ablehnte, zunächst verhindert.173 Elisabeth Gnauck-Kühnes Bedeutung für die katholische Frauenbewegung lag in ihren programmatischen Schriften und in dem von ihr aus christlich-katholischer Sicht entwickelten theoretischen Konzept von „Weiblichkeit“ und „Mütterlichkeit“ begründet, auf das sich katholische Frauen zur Begründung des eigenen gesellschaftlichen und politischen Handelns stützten konnten und das als Leitbild bis in die 1950er Jahre Bestand hatte.174 Empirisch fundiert hat sie dieses Konzept mit ihrer sozialstatistischen Studie „Die deutsche Frau um die Jahrhundertwende“ (1904)175, ihr Patengeschenk an den gerade gegründeten KFB, die über Jahrzehnte als das katholische Buch zur Frauenfrage galt.176 Die daraus „bekannten Tabellen der Frau Gnauck-Kühne“177 galten sowohl in der Frauenbewegung als auch unter katholischen Gelehrten als „eines der wertvollsten Hilfsmittel zum Studium der Frauenfrage“.178 Der theoretische Entwurf von Weiblichkeit in Gnauck-Kühnes Studie entsprach dem Bedürfnis katholischer Frauen nach mehr Selbstbestimmung. Er wies Parallelen zum Konzept der „geistigen Mütterlichkeit“ des gemäßigten Flügels der bürgerlichen Frauenbewegung auf und integrierte das Bild einer modernen Frau in einen religiösen Bezugsrahmen, ohne das hierarchisch strukturierte Geschlechterverhältnis und die männliche Führungsrolle in Familie und Gesellschaft und damit katholische Ordnungsvorstellungen grundsätzlich in Frage zu stellen. Solange Frauen von der politischen Öffentlichkeit ausgeschlossen waren, diente der Entwurf als strategischer Begriff, um den weiblichen Einfluss auf die scheinbar politikfreie Kulturebene zu beanspruchen und so den gesellschaftlichen und politischen Handlungsspielraum von Frauen auszuweiten.179 Das von GnauckKühne entwickelte Konzept von „Weiblichkeit“ kam dem katholischen Leitbild der „Maria“ und damit traditionellen Orientierungsmustern sehr nahe, denn es beinhaltete Selbstaufgabe, Opferbereitschaft, die Bereitschaft zum Dienst sowie die Fähigkeit zur Unterordnung und Liebe.180 Mit ihrem Konzept versuchte Gnauck-Kühne, die gesellschaftliche Rolle von Frauen neu zu definieren. Da die
173 Heitzer (1983), S. 130ff. Siehe hierzu auch Gnauck-Kühne an Minna Bachem am 1. und 16. April 1904 in: Simon, Helene (1929), S. 73f. 174 Breuer (1998), S. 104 und S. 220f. 175 Baadte (1979), S. 117. Zur Studie siehe Kapitel II 2.2.3 der vorliegenden Arbeit. 176 Siehe z. B. Huppert (1904). 177 Zahn (1908). Josef Zahn, Professor in Straßburg, stützte sich in seiner Rede auf dem 55. Katholikentag in Düsseldorf 1908 ausdrücklich auf Gnauck-Kühnes Studie, vgl. Hafner (1983), S. 174, S. 183 und S. 190, Endnoten 2 und 7. 178 Vgl. Die Frau (1907). 179 Zur Bedeutung von Gnauck-Kühnes Weiblichkeitskonzept für die katholischen Frauen siehe Breuer (1998), S. 28–30, S. 221 und S. 109f. Im KFB gab es zu diesem Zeitpunkt aber auch progressivere Positionen, die für eine Gleichstellung von Männern und Frauen eintraten und die traditionelle Hierarchie der Geschlechter in Frage stellten. 180 Vgl. z. B. Gnauck-Kühne (1895e), S. 14; Gnauck-Kühne (1904a), S. 121.
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Existenzsicherung von Frauen durch die Ehe nicht mehr gewährleistet sei, sei eine Anpassung an die veränderten ökonomischen Bedingungen notwendig geworden. Die Ausbildung der Individualität sei für den neuen Frauentypus, der sich durch die Anpassung an die veränderten gesellschaftlichen Verhältnisse entwickele, zwingend. Die Individualisierung der Frauen stand allerdings im Widerspruch zum traditionellen hierarchischen Geschlechterverhältnis, denn sie setzte die Unabhängigkeit und Selbstständigkeit der Frauen voraus. Gnauck-Kühne löste diesen Widerspruch in ihrem Konzept jedoch nicht auf, sondern kam zu der paradoxen Überzeugung: „Ablehnung sozialer Unterordnung unter den Mann bei gleichzeitiger Anerkennung männlicher Führung.“181 Des Weiteren entwickelte Elisabeth Gnauck-Kühne das Programm des KFB zur Arbeiterinnenfrage und zur Sozialen Arbeit, das sie auf der ersten Generalversammlung des Frauenbunds 1904 und auf einer Delegiertentagung des Verbands süddeutscher katholischer Arbeitervereine in Aschaffenburg vorstellte. Ihre Schrift „Einführung in die Arbeiterinnenfrage“ (1905) wurde zum Lehrbuch für die Soziale Arbeit der Lehrerinnenvereine und des KFB.182 Wie schon beim ESK verknüpfte Gnauck-Kühne die Lösung der Arbeiterinnenfrage mit der bürgerlichen Frauenfrage. Sie begründete, weshalb die auf engagierter Nächstenliebe beruhende (katholische) Caritas, bei der es um die individuelle Hilfe bei eingetretener Not ging, zur Lösung der Arbeiterinnenfrage nicht mehr ausreiche und durch Soziale Arbeit ergänzt werden müsse. Soziale Arbeit unterschied sich von der karitativen Einzelhilfe nicht durch die Besoldung, sondern auch durch den „sittliche[n] Ernst“, die „Stellung zur Berufsethik“. Gnauck-Kühnes Vorstellung von Sozialer Arbeit hatte eine politische Dimension, mit der sie diese von der karitativen Arbeit abgrenzte. Soziale Arbeit war alles, was dazu beitrug, die Ursachen der Notlage einer ganzen Klasse zu beseitigen; dazu gehörten sozialpolitische und sozialreformerische Aspekte ebenso wie Selbsthilfe durch Organisation.183 Implizit knüpfte sie damit an den von Louise Otto-Peters geprägten Begriff der „weiblichen Selbsthilfe“ an, bei dem sich Frauen ohne die Mitwirkung von Männern gegenseitig in ihren Emanzipationsanliegen unterstützen und fördern sollten. Durch Selbsthilfe sollte eine Solidarisierung und kollektive Verbesserung des weiblichen Status erreicht und sozial unterprivilegierte Frauen unterstützt werden.184 Gnauck-Kühne ging es darum, „intelligente Arbeiterin[nen]“ zu erziehen, die über Wissen über ihre Arbeit und ihre Rechte verfügen.185 Gleichzeitig sollten Bildungs- und Berufsmöglichkeiten für (bürgerliche) Frauen erschlossen und die Professionalisierung Sozialer (Frauen-)Arbeit vorangetrieben werden, die auf theoretischem, volkswirtschaftlichem und geschichtlichem Wissen sowie auf prakti-
181 Breuer (1998), S. 106f. 182 Baadte (1979), S. 113; vgl. Simon, Helene (1929), S. 14f. Die Erstauflage von 5.000 Exemplaren war sofort vergriffen. 183 Gnauck-Kühne (1905a), S. 9ff. und S. 67ff. 184 Siehe Otto-Peters (1997[1866]), S. 76–99. 185 Gnauck-Kühne (1905a), S. 32 und S. 78.
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scher „Kenntnis der wirtschaftlichen Lage und der Gedankenwelt der Arbeiter“ basieren sollte.186 Gnauck-Kühne hatte als Dozentin, durch ihre Lehrbücher und als Beraterin im Hintergrund einen großen Anteil an der Entstehung der sozialen Berufsbildung und der Gründung von katholischen Sozialen Frauenschulen. Ihr gut besuchter Vortragszyklus über „Modernes Gemeinschaftsleben“ im März 1909 übte starken Einfluss auf die Einrichtung einer systematischen Sozial-caritativen Frauenschulung in München aus, deren sukzessiver Ausbau 1916 in der Gründung der Sozialen und caritativen Frauenschule des Katholischen Frauenbundes in Bayern mündete; Gnauck-Kühne galt als Patin dieser Schule.187 Das auf dem Vortragszyklus basierende Lehrbuch „Das soziale Gemeinschaftsleben im deutschen Reich“ (1909) wurde zum Bestseller.188 Auch an der Gründung und Entwicklung der Kölner Wohlfahrtsschule sowie der Frauenschule für soziale Berufe, die zur Hochschule für kommunale und soziale Verwaltung der Stadt Köln gehörte, war Gnauck-Kühne als Beraterin und Dozentin beteiligt.189 Die Kölner Wohlfahrtsschule bot nach Frankfurt als zweite Hochschule in Deutschland einen sozialen Studiengang an. Zum Netzwerk von Elisabeth Gnauck-Kühne gehörten auch viele prominente Vertreter der Bildungsreformbewegung, die sich für Mädchen- und Frauenbildung einsetzten. Sie diskutierte beispielsweise mit Jakob Wychgram (1858–1927) über die Rolle des Religionsunterrichts als Teil der ethischen Erziehung an den höheren Mädchenschulen.190 Die seit ca. 1904 bestehende Freundschaft mit dem Münchener Reformpädagogen und Gründer der Arbeitsschule, Georg (Michael) Kerschensteiner (1854–1932), den sie in ihren Briefen mit „lieber Lehrer“ ansprach, hielt bis zu ihrem Tod.191 Der zur katholischen Volksbildungsbewegung gehörende Kerschensteiner war ein wichtiger Unterstützer der bürgerlichen Frauenbewegung beim Kampf um die Einführung des obligatorischen Fortbildungsschulunterrichts für Mädchen. Er war außerdem an der Sozialen und caritativen Frauenschulung in München beteiligt und setzte sich für Gnauck-Kühne als Dozentin für den staatsbürgerlichen Unterricht der Schulungskurse an der Münchener Schule ein.192
186 Gnauck-Kühne (1905a), S. 80 187 Vgl. Breuer (1998), S. 154–158; Monteglas (1930), S. 185f. Zur Schulgründung siehe ausführlich Wosgien (2003), S. 72–79. 188 Simon, Helene (1929), S. 81 und S. 83; Baadte (1979), S. 118; Monteglas (1930), S. 186. Zu Gnauck-Kühnes Lehrbuch siehe auch Kapitel II 2.2.4 der vorliegenden Arbeit. 189 Krautwig an Gnauck-Kühne am 16. November 1915, in: Simon, Helene (1929), S. 276; Simon, Helene (1929); S. 151f.; siehe auch Gnauck-Kühne (1913h; 1916h). 190 Vgl. Simon, Helene (1929), S. 40 und S. 300f. 191 Simon, Helene (1929), S. 41f.; vgl. den Briefwechsel zwischen Kerschensteiner und GnauckKühne, in: Monacensia, Literaturarchiv der Stadtbibliothek München, Nachlass Georg Kerschensteiner. 192 Kerschensteiner an Gnauck-Kühne am 19. Oktober 1912, in: Simon, Helene (1929), S. 273.
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2.1.7 Katholische Sozialreform und Arbeiterinnenorganisierung Für Elisabeth Gnauck-Kühnes sozialpolitische Arbeit wurden der Volksverein für das katholische Deutschland, die „Kölnische Volkszeitung“ und die Zentrumspartei wichtige organisatorische und personelle Bezugspunkte. Geographisch verlagerte sich dadurch ihr Wirkungskreis vom protestantisch dominierten preußischen Berlin in die Zentren der katholischen Sozialreform, nach Köln, Mönchengladbach und München. Sie stand mit führenden Mitgliedern des Volksvereins und des Zentrums in langjährigem freundschaftlichem Austausch. Hierzu gehörten Carl Sonnenschein (1876–1929), Carl Muth (1867–1944), Wilhelm Hohn (1871– 1954), Karl Trimborn, Martin Spahn (1875–1945) und Karl Hoeber (1867–1942), seit 1907 Chefredakteur der „Kölnische Volkszeitung“. Sonnenschein und Hohn hatte sie bei einem Aufenthalt bei den Josephsschwestern in Berlin kennengelernt, wo sie sich auf ihre Konversion vorbereitete. Beide studierten damals Nationalökonomie und engagierten sich bei der sozialen Fürsorgearbeit des Klosters. Gnauck-Kühne fühlte sich mit dem Volksverein eng verbunden, was sich unter anderem dadurch bemerkbar machte, wie heftig sie auf eine vermeintliche Abwertung katholischer Reformbemühungen reagierte.193 Der in Mönchengladbach ansässige Volksverein für das katholische Deutschland wurde im Oktober 1890 in Köln vom Unternehmer Franz Brandt (1834– 1914), dem katholischen Geistlichen und Sozialpolitiker Franz Hitze (1851–1921) sowie den Zentrumspolitikern Ludwig Windhorst (1812–1891) und Franz Graf von Ballestrem (1834–1910) gegründet und war innerhalb des Katholizismus eine Modernisierungsinstanz. Der Verein knüpfte an die Arbeit des seit 1880 bestehenden katholischen Verbands Arbeiterwohl an und verstand sich als „Propagandaverein der christlichen Sozialreform“.194 Als schichtenübergreifende Massenorganisation der Zentrumswähler beeinflusste er maßgeblich die sozialpolitische Arbeit der Partei sowie die Ausrichtung und Praxis der katholischen Arbeitervereine und christlichen Gewerkvereine.195 Der Volksverein war gleichzeitig ein weitverzweigtes Unternehmen mit mehreren Verlagen, Buchhandlungen und Kunstwerkstätten, das Gnauck-Kühne ein breites Spektrum an Publikationsmöglichkeiten eröffnete. Sie war Mitherausgeberin von und Autorin in mehreren Zeitschriften des Vereins. Von den einflussreichen Netzwerken des Volksvereins er-
193 Vgl. etwa Gnauck-Kühnes scharfe Reaktion auf Marie Bernays’ negative Beschreibung von Mönchengladbach; siehe Kapitel III 3.2.1.4 der vorliegenden Arbeit. 194 Heitzer (1979), S. 24; vgl. das Kapitel „Vom Verband Arbeiterwohl zum Volksverein“ in Ritter (1954), S. 129–152. 195 Schoelen (1982), S. 7; Nipperdey (1961), S. 281. Zur Massenorganisation konnte sich der Volksverein u. a. durch den ausgesprochen niedrigen Jahresbeitrag von einer Reichsmark entwickeln. Vor dem Ersten Weltkrieg hatte er 805.000 Mitglieder und 15.000 ehrenamtliche Helfer. Zum Vergleich: Die SPD hatte zu diesem Zeitpunkt etwas mehr als eine Million Mitglieder.
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hoffte sich Gnauck-Kühne Unterstützung und eine starke Lobby bei der Verbreitung und Durchsetzung ihrer sozialpolitischen Vorstellungen. Auch wenn die Bezeichnung Volksverein für das katholische Deutschland seinen Charakter als Massenverein des katholischen Milieus betonte, war er dennoch hierarchisch organisiert. Als katholische Laienvereinigung standen Kirchenvertreter an der Spitze des dichten, über das gesamte Deutsche Reich gezogenen Netzes von Vertrauensmännern, Geschäftsführern, Bezirks- und Landesvertretern. Während des Kaiserreichs veränderte sich die patriarchale Haltung des Volksvereins gegenüber den Arbeitern, die von ihm immer weniger als „ein der Fürsorge bedürftiges Kind“ betrachtet, sondern die zunehmend als gleichberechtigte Mitglieder akzeptiert wurden, solange sie sich an seine Regeln hielten.196 Ein wesentlicher Unterschied zum ESK war die breit angelegte Erwachsenenbildung. Mit seinen Versammlungen, sozialpolitischen Kursen, Konferenzen und Publikationen richtete dich der Volksvereins hauptsächlich an Führer katholischer Arbeitervereine, christlicher Gewerkschaften und Handwerkerverbände. Als „Volkswirtschaftlerin und Lehrerin“197 fand Elisabeth Gnauck-Kühne in der Volksbildung, einem Arbeitsschwerpunkt des Volksvereins, Anknüpfungspunkte. Mit der auf die Arbeiterschaft ausgerichteten staatsbürgerlichen Schulung sollte die Inferiorität der durch den Kulturkampf politisch und sozial weitgehend isolierten katholischen Bevölkerungsminorität überwunden und ihr Anschluss an die moderne Gesellschaft gesichert werden.198 Das korrespondierte mit Vorstellungen der Frauenbildungsbewegung, für die Bildung ein wesentlicher Faktor der Frauenemanzipation war. Durch die „Volksbildung“ sollten Arbeiterinnen als „standesbewusste“ Staatsbürgerinnen in die bestehende Gesellschaftsordnung integriert werden und lernen, diese mitzutragen. Das „Standesbewusstsein“ fungierte dabei als Gegenkonzept zum marxistischen Klassenbewusstsein. Das Bewusstsein der Zugehörigkeit zu einem Stand galt nicht als Hindernis, sondern als Voraussetzung für die gesellschaftliche Harmonie: „Denn über die Standesgesinnung erweitere sich die Solidarität der verschiedenen Stände zur Staatsbürgergesinnung, der Verantwortlichkeit für das staatliche Ganze.“199 Die wissenschaftliche Orientierung des Volksvereins äußerte sich in seiner korporativen Mitgliedschaft im VfS und in der GfSR. Zwar gab es zwischen dem ESK und dem VfS mehr personelle Überschneidungen, der Volksverein bekannte sich jedoch weitaus deutlicher zum Programm des VfS.200 Die Mitglieder der Zentralstelle des Volksvereins mussten in Staatswissenschaften oder Nationalökonomie promoviert haben. Die Schriften der (überwiegend protestantischen)
196 Löhr (1990); Mergel (1994), S. 311; Loth (1984), S. 89f. 197 Gnauck-Kühne (1909e), S. 33. 198 Zur Volksbildungsarbeit des Volksvereins siehe Klein, Gotthard (1996), S. 49; Ritter (1954), S. 259; Heitzer (1979), S. 292; Mergel (1994), S. 311; Loth (1984), S. 89f. 199 Heitzer (1979), S. 294. 200 Hübinger (1994), S. 32.
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Vertreter des VfS zählten zur Standartliteratur der Arbeit des Volksvereins und waren in seinem lokalen Bibliotheksnetz präsent. Die Chancen auf die Durchsetzung frauenpolitischer Anliegen im Volksverein waren jedoch gering. Er war ein „Männerverein“; der Frauenanteil unter den Mitgliedern blieb vor dem Ersten Weltkrieg bei unter fünf Prozent. Einzelne Frauen wie Gnauck-Kühne spielten in seiner Geschichte keine Rolle. Anders als beim KFB, dessen Mitgliedsfrauen fast ausschließlich bürgerlicher Herkunft waren, kamen die weiblichen Mitglieder des Volksvereins überwiegend aus der Arbeiterschaft.201 Die Mehrheit des Volksvereins nahm bezüglich der Frauenfrage eine konservative Haltung ein. Auch diejenigen Vertreter, die sich wie Karl Trimborn für das katholische Frauenvereinswesen engagierten, lehnten weitergehende Forderungen, wie das Frauenstimmrecht oder die Mitarbeit von Frauen in der Zentrumspartei, noch 1912 ab. Zum KFB hatte der Volksverein ein strategisches und paternalistisches Verhältnis. Der als „Schwesterchen“ bezeichnete Frauenbund, zu dem enge persönliche Verbindungen bestanden, wurde von ihm finanziell und organisatorisch gefördert und „Frauenfragen und Fraueninteressen“ an ihn delegiert.202 Ab 1905 wurden „Frauentage“ in den sozialen Fortbildungskurs des Volksvereins aufgenommen und Fragen der Frauenbewegung thematisiert. Der Volksverein war einer der ersten katholischen Vereine, der Frauen und Männer gemeinschaftlich organisierte und schulte, wobei die Schulung von Frauen wegen des Mangels an Referentinnen ausschließlich von Männern übernommen wurde. Insbesondere die von Gnauck-Kühne geplante Organisierung der katholischen Arbeiterinnen, die einen Arbeitsschwerpunkt des KFB bilden sollte, konkurrierte mit dem Volksverein, der dies als seine Aufgabe betrachtete und dem KFB lediglich eine Unterstützung der bestehenden katholischen Arbeiterinnenvereine durch Haushaltungs-, Koch- und Flickschulen zugestand.203 In ihren Reden und Schriften richtete sich Gnauck-Kühne zwar vordergründig nach der Anweisung des Volksvereins und konzentrierte sich auf die dem KFB zugewiesene Unterstützung der Arbeiterinnenvereine. Sie betonte jedoch zum einen, dass der KFB (nur) wegen der fehlenden Vorbildung seiner Mitglieder zunächst noch auf ein Engagement bei der gewerkschaftlichen Organisierung verzichte, zum anderen erweiterte sie den zugestandenen Aufgabenbereich um einen politischen Aspekt. Sie behandelte die Arbeiterinnenvereine als eine „Vorschule für die Gewerkschaft“, in der die Mitglieder durch Vorträge und Debatten inhaltlich und rhetorisch geschult und auf die gleichberechtigte Mitarbeit in den Gewerkschaften vorbereitet werden sollten.204
201 Zur Mitgliederentwicklung und Statistik des Anteils der weiblichen Mitglieder des Volksvereins siehe Klein (1996), S. 65–67 und S. 424; zur Sozialstruktur im Volksverein siehe Loth (1984), S. 89f.; zur Sozialstruktur des KFB siehe Breuer (1998), S. 222. 202 Cosack (1928), S. 24; Kall (1983), S. 318. 203 Breuer (1998), S. 145. Zu den katholischen Arbeiterinnenvereinen siehe Hafner (1983), S. 185–188. 204 Gnauck-Kühne (1905b), S. 51.
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Für die praktische Umsetzung ihrer Vorstellungen zur Arbeiterinnenorganisierung war Gnauck-Kühne bereit, auch mit ausgesprochen paternalistischen Organisationen zusammenzuarbeiten. So unterstützte sie beispielsweise 1907 die von Vertreterinnen des Bayerischen Landesverbandes des KDFB in München geplante Gründung einer Dachorganisation der in Süddeutschland bestehenden „Patronagen“205, eine besonders bevormundende Sonderform der Arbeiterinnenvereine. Nur „katholische Damen“ konnten „Patronessen“, d. h. ordentliche Mitglieder werden. Die Arbeiterinnen wurden durch die Präsidentin des Lokalvereins aufgenommen und entlassen; sie bezahlten zwar einen Beitrag, waren nach dem Vereinsstatut jedoch keine vollen Mitglieder, sondern nur „Schützlinge“ des Vereins.206 Bei den Patronagen handelte es sich um ein mit einem „sittlichen“ Erziehungsanspruch verknüpftes Gemeinschafts- und Freizeitangebot, das in Konkurrenz zu den sozialdemokratischen Arbeitervereinen stand. Ihr Konzept war aber auch in fortschrittlicheren katholischen Kreisen umstritten. Schon der 1880 gegründete katholische Verband Arbeiterwohl, der Vorläufer des Volksvereins, grenzte sich vom Paternalismus des Patronagensystems ab und setzte mehr auf die Erziehung der Arbeiterschaft zu Selbstständigkeit und Selbstverwaltung207; eine Haltung, die Gnauck-Kühne im Grunde teilte. Ihr Engagement war zum Teil wohl Ausdruck ihrer Verbundenheit mit Mitgliedern des Bayerischen Landesverbandes des KDFB, die bei den Patronagen eine führende Rolle spielten. Die ersten Patronagen in Deutschland entstanden 1898 in München. Initiatorin war (Prinzessin) Sophie (Metternich zu Winneburg-Beilnstein, verheiratete Oettingen-Oettingen und) Oettingen-Spielberg (1857–1941), die 1903 zur Gründungskommission des KFB gehörte. Gnauck-Kühne stellt das Patronagensystem nicht grundsätzlich in Frage; sie sah darin eine Möglichkeit, die weibliche Arbeiterjugend beim Übergang von der Schule zum Arbeitsleben organisatorisch zu erfassen, d. h. eine Art Vorstufe der Arbeiterinnenvereine.208 Die Kritik an der Bevormundung der Jugendlichen durch die „Patronessen“ aufgreifend, formulierte Gnauck-Kühne das Ziel der Patronage um. Nach ihren Vorstellungen war die „Patronesse“ mehr eine Mentorin, deren Aufgabe es war, ihre „Schützlinge“ für den Arbeiterinnenverein und zur Mündigkeit zu erziehen.209 Sie sollte die junge Arbeiterin beim Einstieg in die Arbeitswelt begleiten und verhindern, dass diese unter sozialdemokratischen Einfluss geriet.210 Das Patronagensystem hatte wenig Erfolg, denn trotz der
205 Gnauck-Kühne (1905b), S. 50; vgl. Monteglas (1930), S. 186; Gnauck-Kühne um 1906 an Oettingen-Spielberg, in: Simon, Helene (1929), S. 241f. Zu den Patronagen siehe Breuer (1998), S. 156–158 und S. 280; Kall (1983), S. 209–214. 206 Gnauck-Kühne (1907c), S. 40. 207 Ritter (1954), S. 130. 208 Gnauck-Kühne (1907c), S. 33; Gnauck-Kühne am 24. Februar 1907 an Pauline von Monteglas, in: Simon, Helene (1929), S. 250–253, hier S. 252. 209 Gnauck-Kühne (1907c), S. 32f. 210 Gnauck-Kühne (1907c), S. 19f.
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rhetorischen Anstrengungen insbesondere Gnauck-Kühnes gelang es nicht, bürgerliche Frauen für die Mitarbeit zu gewinnen. Die Organisierung der katholischen Arbeiterinnen berührte die innerkatholische Auseinandersetzung über die Frage einer überkonfessionellen Zusammenarbeit, die zum in den Jahren von 1899 bis 1914 erbittert ausgetragenen innerkatholischen Köln-Berliner Gewerkschaftsstreit führte, an dem beinahe die Gründung des KFB gescheitert wäre. In diesem Streit galt Gnauck-Kühne wegen ihrer rhetorischen Fähigkeiten als wichtige Vertreterin der „Köln-Mönchengladbacher Richtung“, die von der Zentrumspartei, der Mehrheit des deutschen Episkopats, dem Volksverein und der „Kölnischen Volkszeitung“ getragen wurde. Diese lehnten das Primat der Theologie in der Bewältigung sozialer, sozialpolitischer und staatsbürgerlicher Fragen sowie den kirchenamtlichen Einfluss ab und traten für die gemeinsame konfessionsübergreifende gewerkschaftliche Organisierung von katholischen und evangelischen Arbeitern in christlichen Gewerkschaften ein.211 Die „Berlin-Trierer Richtung“ forderte dagegen die Gründung separater katholischer Gewerkschaften. Gnauck-Kühne hielt die konfessionelle Festlegung aber nur bei den Arbeiterinnenvereinen für sinnvoll, da es bei diesen darum ginge, die Arbeiterinnen wieder in den „kirchlichen Gemeinschaftskörper“ zu integrieren.212 Bei den Gewerkschaften als ökonomischen Interessenvertretungen sei dagegen eine konfessionelle Festlegung nicht notwendig, da die Arbeiterinnen durch die Mitarbeit in den Gewerkschaften nicht in den kirchlichen, sondern in den „staatlichen Gemeinschaftskörper“ integriert werden sollten.213 Beim gemeinsamen Kampf gegen die Sozialdemokratie gab es für Gnauck-Kühne zwischen den beiden christlichen Kirchen mehr Verbindendes als Trennendes, was ihr als Begründung für eine Zusammenarbeit ausreichte.214 Sie befürwortete deshalb eine (katholische) Mitarbeit bei dem von Stoecker und der Frauengruppe der FKS initiierten christlichen Gewerkvereins der Heimarbeiterinnen Deutschlands, an dem ihre evangelische Freundin Dyhrenfurth beteiligt war; Gnauck-Kühne wurde selbst jedoch kein Mitglied.215 Die Haltung des KFB in diesem Streit war wesentlich defensiver als die von Gnauck-Kühne. Aus Angst, seine Existenzberechtigung als katholische Organisation aberkannt zu bekommen und die Einheit der katholischen Frauenbewegung zu gefährden, wurde zwar den Mitgliedern freigestellt, sich als Privatpersonen für die christlichen Gewerkschaften zu engagieren, der Verband selbst verpflichtete sich gegenüber der klerikalen Führung aber zur Neut-
211 212 213 214 215
Heitzer (1979), S. 296; Kall (1983), S. 299–306; Simon, Helene (1929), S. 75f. Gnauck-Kühne (1905b), S. 50. Gnauck-Kühne (1905b), S. 50. Gnauck-Kühne an Rösler am 17. August 1905, in: Simon, Helene (1929), S. 206–208. Dyhrenfurth an Gnauck-Kühne am 29. September 1911 und ohne Datum, in: Archiv des KDFB, Nachlass Gnauck-Kühne, 1–106–5; Dyhrenfurth an Gnauck-Kühne am 10. April 1910, in: Simon, Helene (1929), S. 225.
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ralität.216 Anders als Gnauck-Kühne war die Kölner Zentrale des KFB deshalb auch nur zögerlich zu einer Zusammenarbeit mit politischen Frauenorganisationen in Frauenbildungs- und Rechtsfragen sowie der Arbeiterinnenfrage bereit. Erst auf wiederholtes Drängen des Münchener Verbands trat der KFB etwa dem Ständigen Ausschuss zur Förderung der Arbeiterinnen-Interessen bei. Eine Mitgliedschaft im BDF lehnte er wegen der „religiöse[n] Indifferenz“ der Frauenbewegung jedoch ab.217 Elisabeth Gnauck-Kühne trat nach ihrer Konversion öffentlich nicht mehr so stark in Erscheinung wie während ihrer Zeit im ESK und nahm in der katholischen Frauenbewegung nicht die bestimmende Rolle ein, die sie zuvor in der Evangelisch-sozialen Frauengruppe inne hatte.218 Ihrer Bedeutung als Programmatikerin für die katholische Frauen- und Sozialreformbewegung war man sich von katholischer Seite aber weiterhin bewusst, wie die Würdigungen zu ihrem sechzigsten Geburtstag 1910 zeigen. In der Zeitschrift „Die christliche Frau“ erschien einen Sonderteil zu ihrem Geburtstag, der auch ihre „Kindheitserinnerungen“ umfasste.219 Zu Ehren Gnauck-Kühnes wurde das von ihr verfasste Drama „Christine“ während der Generalversammlung des KFB im Stadttheater Düsseldorf uraufgeführt. Das vor ihrer Konversion begonnene und im Verlauf von zehn Jahren mehrfach umgearbeitete Stück hatte autobiographische Züge und verknüpfte thematisch Frauenbewegung und Arbeiterinnenfrage.220 Auf dem Katholikentag 1912 in Aachen erinnerte der Hauptredner an ihre Bedeutung für die katholische Sozialreformbewegung.221 Ihr Ansehen in katholischen Kreisen zeigt sich auch daran, dass sie die erste Frau war, die wegen eines Beitrags für die Neuauflage des renommierten katholischen „Staatslexikon der Görresgesellschaft“ angefragt wurde: Sie verfasste den Artikel zum Stichwort „Frauenfrage und Frauenbewegung“ und umriss darin den spezifischen Beitrag der katholischen Frauenbewegung zur Frauenfrage.222 Auch wenn sie nun weniger im Mittelpunkt stand, so belegen ihre Auftritte als Rednerin, ihre Studie „Die deutsche Frau um die Jahrhundertwende“, ihre Veröffentlichungen über die Organisierung der Arbeite-
216 Breuer (1998), S. 148–153; zum Streit im KDFB siehe Breuer (1998), S. 84–88; Kall (1983), S. 299–306. 217 Gerhard (1990), S. 205. 218 Dransfeld (1997[1917]), S. 85. 219 Siehe Dransfeld (1910); Gnauck-Kühne (1910a); Sonnenschein (1910). Siehe auch die Würdigung Reins (1910) in der „Zeitschrift für Philosophie und Pädagogik“, die Würdigung zum 25-jährigen Jubiläum des KDFB von Liane Becker (1928) sowie Tieschowitz (1929); Dietrich, Charlotte (1953). 220 Zur Uraufführung des Dramas siehe Dransfeld (1910); Dransfeld (1997[1917]), S. 93; Sonnenschein (1910); Simon, Helene (1928a), S. 159. 221 Vgl. Simon, Helene (1928a), S. 213; Witte (1930). 222 Gnauck-Kühne (1909c); vgl. Hoeber (1917), S. 42–44. Zur Rezension ihres Artikels siehe z. B. Hochland (1910); Die christliche Frau (1907). Ein biographischer Eintrag zu GnauckKühne wurde bereits 1932 in das „Lexikon für Theologie und Kirche“ aufgenommen, siehe Mayer-Montfort (1932).
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rinnen sowie ihre zahlreichen Aufsätze die fortwährende aktive Beteiligung an den Debatten der Frauenbewegung und der Sozialreform sowie ihre Anbindung an die entsprechenden Netzwerke. 1912 war sie eine von fünf katholischen Referentinnen auf dem Deutschen Frauenkongress in Berlin.223 Gnauck-Kühne war auch nach ihrer Konversion Mitglied in verschiedenen nicht konfessionell gebundenen Vereinen und Organisationen, wie der Zentralstelle für Volkswohlfahrt, dem VfS und des Reichsverbands für Kriegspatenschaften.224 Ihre sozialpolitischen Vorstellungen versuchte sie weiterhin sowohl über Presse- als auch über Lobbyarbeit durchzusetzen. Sie verfolgte interessiert die aktuellen wissenschaftlichen Debatten und entwickelte Pläne für neue Forschungsvorhaben, so z. B. für eine soziologische Studie über die einstigen Rittergüter bei Blankenburg im Harz, zu der sie von der Rittergutstudie ihrer Freundin Gertrud Dyhrenfurth angeregt worden war. Dyhrenfurth hatte auch versucht, sie für die Mitarbeit an der Enquete über die „Frauen in der Landwirtschaft“ zu gewinnen.225 Gnauck-Kühne war Mitglied der von Josephine Levy-Rathenau (1877– 1921) geleiteten Kommission des BDF, die eine Petition an das Kaiserlich Statistische Amt vorbereitete, bei der es um ergänzende Gesichtspunkte für die bevorstehenden Berufs- und Betriebszählungen ging.226 In mehreren Artikeln setzte sie sich für die Anerkennung des „Hausmutterberufs“ sowie für das weibliche Dienstjahr ein, in dessen Rahmen Frauen Kompetenzen sowohl für die Haus- als auch für die Erwerbsarbeit vermittelt werden sollten. Nachdem in Preußen die Zulassungsbeschränkung für das Universitätsstudium von Frauen gefallen war, spielte sie wohl kurzzeitig mit dem Gedanken, doch noch zu promovieren, was sie allerdings nicht umsetzte.227 Elisabeth GnauckKühne empfand es als besondere Anerkennung ihrer wissenschaftlichen Arbeit, dass sie und Helene Simon auf der Mitgliederversammlung der DGS am 19. Oktober 1910 in Frankfurt am Main zu ordentlichen Mitgliedern ernannt wurden. Sie hatte 1909 den Aufruf zur Gründung der DGS unterzeichnet und dieser zunächst als unterstützendes Mitglied angehört.228 1916 wurden Gnauck-Kühne, Dyhrenfurth und Simon als Ehrenmitglieder in die neugegründete Vereinigung der Nationalökonominnen aufgenommen. Dessen Gründung hatte die Autodidaktinnen zunächst verärgert, denn laut Satzung war Voraussetzung für Mitgliedschaft ein erfolgreich absolviertes Studium bzw. eine
223 Sie hielt einen Vortrag über das weibliche Dienstjahr, siehe Gnauck-Kühne (1912a). 224 Hoeber (1917), S. 74. 225 Vgl. Simon, Helene (1929), S. 227; zur Rittergutstudie und der Enquete siehe Kapitel II 3.2.2 und II 3.2.3 der vorliegenden Arbeit. 226 Vgl. Levy-Rathenau an Gnauck-Kühne am 23. Mai 1914, in: Simon, Helene (1929), S. 102. Als Mitglieder für die geplante Kommission wurden angefragt: Elisabeth Altmann-Gottheiner (1874–1930), Marie Elisabeth Lüders (1878–1966), Helene Simon, Rosa Kempf und Marie Bernays. 227 Simon, Helene (1929), S. 130f. 228 Gnauck-Kühne an Marie Mathis am 10. Februar 1911, in: Simon, Helene (1929), S. 255f.
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Promotion; wissenschaftlich profilierte Autodidaktinnen wie Gnauck-Kühne, Dyhrenfurth und Simon wurden durch diese Regelung diskriminiert.229 Als die Vereinsvorsitzende Elisabeth Altmann-Gottheiner ihnen die Ehrenmitgliedschaft anbot, reagierten sie zunächst mit Zurückhaltung. Sie waren zwar geschmeichelt und bereit, das Angebot anzunehmen, hielten aber an ihrer Kritik an der akademischen Exklusivität der Berufsvereinigung fest. Nach Meinung Dyhrenfurths hätte „eine Kategorie von Mitgliedern geschaffen werden sollen, die auf Grund ihrer wissenschaftlichen Leistungen Zutritt erhalten, umso mehr als gerade in unserer Disziplin immer wieder Persönlichkeiten auftreten werden, die ohne das Etikett des Doktortitels bedeutsame wissenschaftliche Arbeit leisten und geeignet sind, den Verein durch ihre Mitgliederschaft zu bereichern“.230 In einem von der Generalversammlung nach Befragung der Mitglieder nochmals bestätigten Beschluss, nur promovierte Berufsangehörige aufzunehmen, sah Simon eine „Herabwürdigung der geistigen Arbeit“ der Autodidaktinnen.231 Obwohl die drei ein gemeinsames Vorgehen abgesprochen hatten, nahm Gnauck-Kühne ohne Rücksprache mit ihren Freundinnen als Erste die Ehrenmitgliedschaft an.
2.1.8 Erster Weltkrieg und Tod Wie viele andere ihrer ZeitgenossInnen reagierte Elisabeth Gnauck-Kühne auf den Ausbruch des Ersten Weltkriegs mit einer heute schwer nachvollziehbaren nationalistischen Kriegsbegeisterung. Für sie war es „urgermanischer Geist, der jetzt mit Feuerodem durch deutsche Lande braust und die Männer das Schwert ziehen lässt“.232 Bei der Kriegshilfe in Blankenburg unterstützte sie die Arbeit der nach Kriegsausbruch eingerichteten Lazarette. Sie engagierte sich in von Frauenbewegung und Sozialreform getragenen Organisationen der Kriegswohlfahrt. So unterstützte sie die Bestrebungen des Arbeitsausschusses der Kriegerwitwen- und Waisenfürsorge und dessen Vorsitzende Helene Simon beim Ausbau der Kriegshinterbliebenenfürsorge. Gnauck-Kühne verfasste zahlreiche Artikel, die überwiegend in der katholischen Presse erschienen233 und sich mit den Auswirkungen des Krieges auf die Situation der Frauen befassten: Wie wirkt sich der Kriegsausbruch auf deren Alltag und Aufgaben aus? Welche Kriegspflichten gibt es für Frauen? Wie wirkt sich der Krieg auf Eheschließungen und Heiratsaussichten aus? Außerdem veröffentlichte sie Artikel, deren Ziel die Förderung der „Vaterlandsliebe“, so der Titel eines Artikels (1915), war. Dies versuchte sie vor allem durch die
229 Simon, Helene (1929), S. 129–131. 230 Entwurf einer Antwort von Dyhrenfurth, ohne Datum, in: Archiv des KDFB, Nachlass Gnauck-Kühne, 1–111–12 und 1–111–1. 231 Simon, Helene (1920), S. 45. 232 Gnauck-Kühne (1914m), S. 103. 233 Die Artikel erschienen z. B. in „Kölnische Volkszeitung“, „Hochland“, „Kunstwart“, „Der Tag“ und „Braunschweiger Blätter“, siehe Simon, Helene (1929), S. 141.
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Abwertung der Kriegsgegner zu erreichen. In ihren Artikeln reproduzierte sie die damals gängigen abwertenden nationalen Klischees über „die englische Moral“ und die „gesellschaftlichen Zustände in Paris“. Gnauck-Kühne beschränkte sich dabei nicht auf eine theoretische Erörterung, sondern verband diese mit politischen Handlungsanweisungen. Sie plädierte beispielsweise für einen Boykott der französischen Frauenmode, die für sie den sittlichen Verfall und die Bedrohung der deutschen Volkswirtschaft verkörperte. Ziel der von ihr und andern BefürworterInnen einer „deutschen Mode“ vor Kriegsausbruch begonnenen nationalistischen Modedebatte war die Unabhängigkeit vom englischen und französischen „Modediktat“.234 Elisabeth Gnauck-Kühne ging 1917 wohl von einem baldigen Ende des Krieges und dem Sieg Deutschlands aus. Wie ihr letzter, erst nach ihrem Tod erschienene Artikel zeigt, beschäftigte sie sich bereits mit der Rolle der Frauenerwerbstätigkeit in der Entwicklung Deutschlands nach dem Kriegsende. Angesichts der zu erwartenden Verdrängung der Frauen aus Arbeitsfeldern, in denen sie während des Krieges die Männer ersetzt hatten, betonte Gnauck-Kühne die „absolute Unersetzlichkeit“ der „Mütterlichkeit“, d. h. die Berücksichtigung sozialer Frauen(berufs)arbeit bei der Neugestaltung des Arbeitsmarktes.235 Unmittelbar vor ihrem Tod hatte sie auf Wunsch des Schmoller-Schülers Fritz Stier-Somlo (1873–1932), den sie seit ihrer Studienzeit kannte, noch an der Kölner Wohlfahrtsschule unterrichtet.236 Gnauck-Kühne starb kurz nach diesem Kurs am 12. April 1917 in ihrem Haus in Blankenburg im Alter von 67 Jahren an einer Lungenentzündung.237 In einer Vielzahl umfangreicher Nachrufe wurde auf ihre Verdienste und fortwährende Bedeutung für Sozialreform und Frauenbewegung hingewiesen.238 Das breite, klassen- und generationenübergreifende Spektrum der VerfasserInnen und Zeitschriften, in denen diese erschienen, entsprach der Heterogenität ihrer Freundschaften, ihrer Netzwerke sowie ihres Wirkungskreises.239 Es machte noch einmal die Anerkennung sichtbar, die sie sich durch ihre langjährige Arbeit erworben hatte. Die Nachrufe dokumentieren ihre Bekanntheit, auch unter der jüngeren Generation von Nationalökonominnen. Für die Sozialpolitikerin und katholische Frauenrechtlerin Amalie Lauer (1882–1950), die mit ihr an der Kölner Wohl234 Gnauck-Kühne (1915c); Gnauck-Kühne (1915d). Zur Debatte siehe Baadte (1979), S. 121; Scherzberg (1991), S. 147; zur antifeministischen Tendenz der Debatte siehe Planert (1998), S. 215–217; Guttmann (1989), S. 90f. 235 Gnauck-Kühne (1917a). 236 Simon, Helene (1929), S. 151f. und S. 163. 237 Sie lebte seit dem Tod ihrer Schwester 1902 wieder in Blankenburg. Ihr Bruder war bereits 1876 gestorben. 238 Dransfeld (1997[1917]), S. 86. 239 Siehe z. B. Altmann-Gottheiner (1917); Becker, Liane (1917; 1928); Behm (1917); Gräf (1918); Marschall (1917); Sonnenschein (1917) und Witte (1917). Eine Auswahl der Nachrufe, u. a. von Gertrud Bäumer, Hedwig Dransfeld und Liane Becker, sind abgedruckt in Simon, Helene (1929), S. 323–332.
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fahrtsschule gelehrt hatte, war Gnauck-Kühne eine mütterliche Freundin. Dora Landé (1861–1923) verwies auf Gnauck-Kühnes „Vorurteilslosigkeit und Duldsamkeit“ und deren Bereitschaft, „Anschauungen und Argumente auch solcher Kreise, die ihr geistig fernstanden zu würdigen und in sich zu verarbeiten“.240 Ida Ernst (1874–1965) als Nachlassverwalterin und Helene Simon als Biographin hatten großen Einfluss auf die spätere Wahrnehmung und Rezeption GnauckKühnes. Ernst war engste Vertraute und treue Freundin, aber auch Haushälterin und Sekretärin von Gnauck-Kühne gewesen. Sie hatten sich während Ernsts Musikstudiums 1903 in Berlin kennengelernt. Ernst stellte zwei Jahre später „ihr Leben völlig in den Dienst der bedeutenden und berühmten älteren Freundin“.241 Gnauck-Kühne war von Gertrud Dyhrenfurth mehrfach ermutigt worden, Ernst als Tochter anzunehmen, um eine dauerhafte und ständige Begleitung und Versorgung im Alter zu haben.242 Indem sie in ihrem Testament festlegte, dass Helene Simon ihre Biographie verfassen sollte, stellte Gnauck-Kühne die Weichen für das von ihr überlieferte Bild. Mit der Jüdin und überzeugten Sozialistin Simon fühlte sich Gnauck-Kühne „über alle ideologischen Grenzen hinweg (…) freundschaftlich verbunden, in der Wissenschaft seelen- und geistesverwandt, im soziapolitischen Engagement verschwistert, im Ringen um die Gleichberechtigung der Frau verbündet“.243 Von Simon, die mit einer erfolgreichen Biographie über Robert Owen ihr schriftstellerisches Können bewiesen hatte, konnte Gnauck-Kühne erwarten, eine breite und religionsübergreifende Resonanz auf ihr Werk zu erhalten. Der Nachlass GnauckKühnes war die Grundlage für das „literarische Denkmal“, mit dem Simon für die Nachwelt „Gnauck-Kühnes religiös begründetes, wissenschaftliches und sozialpolitisches Engagement für Frauen“ festhielt.244 Simon, die viele Interviews mit den FreundInnen und Bekannten Gnauck-Kühnes führte und deren Korrespondenz mit der Verstorbenen einsehen konnte, zeichnete ein differenziertes Bild von GnauckKühne und zeigte zugleich die Porträtierte so, wie sie gesehen werden wollte.245 Simon konnte dabei auf eine Reihe von veröffentlichten und unveröffentlichten Erinnerungen von WeggefährtInnen an Gnauck-Kühne zurückgreifen, die vor und
240 Landé (1917); Lauer (1917). 241 Witte (1930). 242 Vgl. Gnauck-Kühne an Dyhrenfurth am 17. Juli und 1. November 1912, in: Simon, Helene (1929), S. 226f.; siehe auch Simon, Helene (1929), S. 124 und S. 149. 243 Böhm (1997b), S. 150. 244 Böhm (1997a), S. 144. Simon, Helenes zweibändige Biographie über Gnauck-Kühne wurde umfangreich rezensiert, siehe z. B. die beiden sehr ausführlichen Besprechungen von Monteglas (1928a; 1930), die dies zum Anlass für eine erneute Würdigung Gnauck-Kühnes nahm. Siehe auch Salomon (1928); Dyhrenfurth (1929b; 1929c; 1929g). 245 Dyhrenfurth an Simon am 18. August 1928; Simon an Dyhrenfurth am 28. Mai 1929, in: Archiv des KDFB, Nachlass Gnauck-Kühne, 1–111–1. Siehe auch Klöhn (1982), S. 407 und S. 597–599.
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nach ihrem Tod entstanden waren246, sowie auf Gnauck-Kühnes „Kindheitserinnerungen“. Mit den von ihr ausgewählten und in der Biographie abgedruckten Briefwechseln Gnauck-Kühnes mit Personen aus Politik, Gesellschaft, Frauenbewegung und Kirche dokumentierte Simon die Kontexte und Netzwerke, von denen Gnauck-Kühne beeinflusst wurde und die sie wiederum selbst beeinflusste. Simon nahm eine erste ideen- und wissenschaftsgeschichtliche Einordnung von Gnauck-Kühnes sozialwissenschaftlichen Arbeiten vor; dabei arbeitete sie auch die Parallelen zwischen Gnauck-Kühne und Beatrice Webb heraus.247 Das Leitmotiv der zweibändigen Biographie ist die religiöse Suche und die Konversion Gnauck-Kühnes, wie die beiden Buchtitel „Eine Pilgerfahrt“ (Band 1) und „Heimat“ (Band 2) bereits andeuten. Ida Ernst unterstützte Simon als Nachlassverwalterin bei der Erstellung der Biographie. Sie setzte sich auch für die Überlieferung von Gnauck-Kühnes Werk für die Nachwelt ein und plante beispielsweise Anfang der 1930er Jahre eine überarbeitete Neuauflage der Studie über „Die deutsche Frau um die Jahrhundertwende“.248 2.2 Wissenschaftliches und publizistisches Werk Elisabeth Gnauck-Kühne war enorm produktiv; sie hat viel zu sozial- und bildungspolitischen Themen veröffentlicht, insbesondere zur Arbeiterinnenfrage, der Frauenfrage und Frauenbewegung. Für die empirische Sozialforschung sind vor allem ihre sozialen Studien „Lieder einer freiwilligen Arbeiterin“ (1895), „Erinnerungen einer freiwilligen Arbeiterin“ (1895), „Die Lage der Arbeiterinnen in der Berliner Papierwaren-Industrie“ (1896) und „Die deutsche Frau um die Jahrhundertwende“ (1904) interessant. Gnauck-Kühne beschritt bei diesen Untersuchungen methodisch neue Wege und beeinflusste die zeitgenössischen Diskurse über die Frauen- und Arbeiterinnenfrage. Ihre Untersuchungen bildeten gleichzeitig eine wissenschaftliche Basis für die Arbeit der evangelischen und katholischen Frauenbewegung.
2.2.1 Lieder und Erinnerungen einer freiwilligen Arbeiterin (1895) Als Elisabeth Gnauck-Kühne sich entschied, die Arbeits- und Lebensbedingungen der Berliner Fabrikarbeiterinnen zu erforschen, war über die Fabrikarbeit von
246 Etwa Broicher (1899); Dransfeld (1910); Sonnenschein (1910); Wittrisch (1997[1917]); Hoeber (1917). Hoebers Biographie erschien bereits wenige Monate nach Gnauck-Kühnes Tod. 247 Zu den Parallelen zwischen Gnauck-Kühne und Webb siehe Simon, Helene (1928a), S. 106f. und S. 137. 248 Vgl. Dyhrenfurth an Ernst am 1. November 1933, in: Archiv des KDFB, Nachlass GnauckKühne, 1–111–7.
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Frauen zwar öffentlich schon viel diskutiert worden, wissenschaftlich fundierte Daten zur Situation dieser Gruppe von Frauen lagen jedoch noch nicht vor. Gnauck-Kühne wurde von Gustav Schmoller und Friedrich Naumann bei diesem Forschungsvorhaben ermutigt und unterstützt.249 Die Idee dazu entstand 1893, in etwa in der Zeit, als Gnauck-Kühne am ersten sozialen Kurs des ESK an der Berliner Universität teilnahm, bei dem auch über eine aktive Mitarbeit von Frauen im ESK und die Gründung einer Evangelisch-sozialen Frauengruppe verhandelt wurde. Gnauck-Kühnes Vorhaben entsprach der selbstgewählten Aufgabe des ESK, die Arbeiterfrage wissenschaftlich zu erforschen, und knüpfte an Paul Göhres Studie „Drei Monate Fabrikarbeiter und Handwerksbursche“ (1891) an. Göhre, der Generalsekretär des ESK, war der erste bürgerliche Sozialforscher in Deutschland, der mit einem Inkognito-Aufenthalt versuchte, die subjektive Sicht der Arbeiter auf ihre Lebens- und Arbeitsverhältnisse zu erfassen. Er wurde dabei wie Gnauck-Kühne von Schmoller unterstützt. Sein Bericht über seine Zeit als Fabrikarbeiter war ein Verkaufserfolg und gilt als die erste deutsche Sozialreportage aus dem vierten Stand.250 Kurz vor Gnauck-Kühne war die Schriftstellerin und Frauenrechtlerin Minna Wettstein-Adelt (1869–19??) Göhres Beispiel gefolgt und hatte verdeckt unter Arbeiterinnen ermittelt.251 Wettstein-Adelt hatte dreieinhalb Monate in verschiedenen Fabriken geforscht, um die Landarbeiterbevölkerung und die Hausindustrie kennenzulernen. Sie fand jedoch kaum Zugang zum Feld; Arbeit fand sie nur mit Unterstützung von Fabrikbesitzern und es schien ihr nicht gelungen zu sein, ihre Voreingenommenheit gegenüber den Arbeiterinnen zu überwinden. Das zeigte sich u. a. darin, dass sie ihr Projekt für so gefährlich hielt, dass sie ihren Mann einbezog, der ihr „als Beschützer stets in angemessener Entfernung folgte“; ohne dessen „treue, aufopfernde Pflege“ und dessen Zuspruch hätte sie ihr Projekt vorzeitig beendet.252 Gnauck-Kühne war nicht nur wesentlich unvoreingenommener gegenüber der Arbeiterschaft, ihre Forschung zu den Berliner Fabrikarbeiterinnen war auch differenzierter und umfangreicher als die Berichte von Wettstein-Adelt und Göhre; sie erfolgte in mehreren Schritten, bestand aus mehreren Teilstudien und die Ergebnisse wurden in unterschiedlichen Textgattungen veröffentlicht.
249 Vgl. Naumann an Gnauck-Kühne im Juli 1894 und an Neujahr 1895, in: Simon, Helene (1928a), S. 102f. Naumann bot Gnauck-Kühne z. B. ein Honorar zur Unterstützung ihrer „Schützlinge“ an. 250 Das Buch erreichte hohe Auflagen und wurde in mehrere Sprachen übersetzt, vgl. Brenning/ Gremmels (1978), S. 119–121 und S. 129–133. Göhre orientierte sich an der methodischen Vorgehensweise eines Studiengenossen, der für eine Studienarbeit einen Inkognito-Aufenthalt in anarchistischen Kreisen Londons durchgeführt hatte. Vgl. Brenning (1980), S. 23; Brenning/Gremmels (1978), S. 133–139; Koch (1929), S. 130f. 251 Zu Wettstein-Adelt siehe Schröder (2001), S. 41–51; Weyrather (2003), S. 31ff. 252 Wettstein-Adelt (1893), S. 2.
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2.2.1.1 Methodische Vorgehensweise Elisabeth Gnauck-Kühne begann im Herbst 1893 mit der Vorbereitung ihrer Arbeiterinnenstudie; sie recherchierte und studierte die verfügbare Forschungsliteratur zum Thema, vor allem Göhres Bericht. Ungewöhnlich für die damalige bürgerliche Sozialforschung war, dass sie bei ihrer Untersuchung mit Gewerkschaften zusammenarbeitete. Während der gesamten Dauer ihrer Arbeit stand GnauckKühne in engem Kontakt mit Rudolf Wittrisch, der gerade für die Berliner Verwaltung des Buchbinderverbandes eine statistische Erhebung über die Arbeitsund Lohnverhältnisse der Buchbinderei und verwandter Gewerbe durchführte. Wittrisch und seine Kollegen arbeiteten freiwillig und unentgeltlich, weil die Verwaltungsstelle noch sehr klein war und kein Geld hatte, um die Erhebung zu finanzieren. Auf einen Aufruf zur Beteiligung an der Erhebung hatte sich auch Gnauck-Kühne gemeldet. Im Gespräch mit Wittrisch wurde ihr Forschungsgegenstand von der Erhebung des Buchbinderverbandes abgegrenzt; Gnauck-Kühne sollte sich nicht direkt beteiligen, aber Einblick in die Organisation der Verbandserhebung erhalten und sich mit dem Thema und den Personen vertraut machen. Wittrisch unterstützte sie außerdem bei ihrer eigenen Studie beim Zugang zum Feld und bei der Beschaffung von statistischen Daten.253 Gnauck-Kühne wollte einen möglichst konkreten Einblick in die Arbeitsbedingungen und das subjektive Erleben der Arbeiterinnen erhalten. Sie mietete sich deshalb im Winter 1894/1895 ein Zimmer in einem der Arbeiterstadtteile im Südosten Berlins und begab sich auf die Arbeitsplatzsuche, bei der sie von Arbeiterinnen unterstützt wurde, die sie von Gewerkschaftstreffen kannte. Aber erst mit der Unterstützung von Hermann Greifenberg (18??–19??), einem sozialdemokratischen Gewerkschafter, gelang es ihr, Arbeit in der Kartonageindustrie zu finden.254 Sie arbeitete ein paar Wochen inkognito in einer Fabriketage in einem Berliner Hinterhof. Nicht bekannt ist, ob ihr Arbeitgeber über ihre eigentliche Intention informiert war. Mit den später geprägten Begriffen der empirischen Sozialforschung führte sie eine direkte, verdeckte, unstrukturierte und aktiv-teilnehmende Beobachtung durch. „Direkt“, weil die zu erhebenden Daten unmittelbar nach der Beobachtungsperiode niedergeschrieben wurden, „verdeckt“, weil sie als Beobachterin ihre Identität als Forscherin nicht preisgab, „unstrukturiert“, weil sie die Beobachtungskategorien nicht vorab festgelegt hatte. „Aktiv-teilnehmend“ war ihre Beobachtung, weil Gnauck-Kühne „für einen bestimmten Zeitraum am Leben und Treiben der zu beobachtenden Gruppe“ aktiv teilnahm, „um auf diese Weise als integriertes Gruppenmitglied möglichst unauffällig die gewünschten Daten und Fakten sammeln zu können“.255 Während die Feldforschung heute zu 253 Gnauck-Kühne (1896a), S. 25; Wittrisch (1997[1917]), S. 111f. 254 Simon, Helene (1928a), S. 97–99. Zu Unterstützung durch das Ehepaar Greifenberg beim Zugang zum Feld und bei der Datenerhebung siehe Simon, Helene (1928a), S. 127; Wittrisch (1997[1917]), S. 111. 255 Atteslander/Cromm (2006), S. 88–95; Brenning (1980), S. 2 und S. 186.
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den etablierten qualitativen Methoden empirischer Sozialforschung gehört, war damals vor allem die verdeckt teilnehmende Beobachtung ein aufsehenerregendes Novum.256 2.2.1.2 Ergebnisse der teilnehmenden Beobachtung Die Ergebnisse von Elisabeth Gnauck-Kühnes Inkognito-Aufenthalt erschienen im Januar und Februar 1895 in den ersten Ausgaben der von Friedrich Naumann gerade neu gegründeten Zeitschrift „Die Hilfe“. In den „Liedern einer freiwilligen Arbeiterin“ und den „Erinnerungen einer freiwilligen Arbeiterin“ verarbeitete Gnauck-Kühne ihr subjektives Erleben der Arbeit „im stumpfen, staubigen Saal der Fabrik“ und klagte die dort herrschenden miserablen Arbeitsbedingungen an.257 Gnauck-Kühne hatte für die Veröffentlichung Textformen gewählt, die ihr eine empathische Darstellung ermöglichten und den Eindruck von Authentizität vermittelten: Die „Lieder“ waren ein zweistrophiges Gedicht mit insgesamt neun Versen, die „Erinnerungen“ waren im Stil einer Sozialreportage geschrieben. Mit den „Liedern“ griff sie auf eine im Arbeitermilieu am Ende des 19. Jahrhunderts wichtigen Ausdrucksformen für Überlieferungen zurück. Arbeitermemoiren oder autobiographische Texte von ArbeiterInnen lagen zu diesem Zeitpunkt (in Deutschland) noch nicht vor; Lieder waren damals die Textform, in der lebensgeschichtliche Erfahrungen von Arbeitern literarisch verarbeitetet wurden. Sowohl die „Lieder“ als auch die „Erinnerungen“ evozierten einen autobiographischen Eindruck und die Zugehörigkeit zur Gattung der Arbeitermemoiren. GnauckKühnes Schilderungen wirkten authentisch und verstärkten ihre Parteinahme für die Arbeiterinnen.258 Die „Erinnerungen“ beginnen mit einem stilisierten Erweckungserlebnis, mit dem Gnauck-Kühne ihr Interesse an der Erforschung der sozialen Lage der Arbeiterinnen begründete. Sie verlieh ihrem Interesse damit Glaubwürdigkeit und verhinderte, dass ihr Entschluss in der Fabrik zu arbeiten als reine Suche nach empirischem Material für ihre wissenschaftliche Studie abgewertet wurde. Gnauck-Kühne schildert, wie sich ihre Haltung durch die erste Begegnung mit Arbeiterinnen bei einer Gewerkschaftsveranstaltung komplett verändert hatte: „Es war über mich gekommen und hatte mich gepackt, ich weiß selbst nicht wie. Immer wieder zog es mich hin; der Wunsch, meinen bedrängten, unterdrückten fleißigen Geschlechtsgenossinnen näher zu treten, ihr Los zu teilen, beherrschte mich schließlich völlig.“259
Während Gnauck-Kühne als Motivation ihrer Forschung ihr soziales Interesse, ihren Wunsch, sich ein eigenes Urteil bilden zu können, herausstellte, war der
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Siehe ausführlich Oberschall (1997), S. 117ff. Gnauck-Kühne (1895b). Vgl. z. B. Koch (1929), S. 152. Gnauck-Kühne (1895a), Teil 1, S. 4.
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Hauptgrund für Paul Göhres Inkognitoaufenthalt zunächst die religiöse Mission(ierung). Göhre wollte auf seine berufliche Stellung als Pfarrer verzichten und „sich sein eigenes Brot“ als Fabrikarbeiter verdienen, um „nach Apostelart Christentum unter den Arbeitern zu lehren und zu leben“.260 Aus gesundheitlichen Gründen musste er seinen ursprünglichen Plan, „zeitlebens [als] Arbeiter“ zu leben, nach kurzer Zeit abbrechen. Statt auf die geplante Missionierung der Arbeiter richtete sich sein Experiment und sein Interesse nun wie bei Gnauck-Kühne hauptsächlich darauf, „die Menschen und Verhältnisse in ihrer ganzen Wirklichkeit zu erkennen“.261 Denn während seines kurzen Lebens als Fabrikarbeiter war Göhre zu der Erkenntnis gelangt, dass an eine Missionierung der Arbeiter erst dann zu denken sei, wenn sich deren soziale Lage grundlegend verbessert hatte. Elisabeth Gnauck-Kühne schilderte in den „Erinnerungen“ durchgängig – und in sehr dramatischen Bildern – ihre subjektiven Erfahrungen und Einschätzungen, wodurch sich die soziale Distanz zwischen dem Subjekt der Forscherin und den Arbeiterinnen als den Objekten ihrer Untersuchung in Mitgefühl aufzulösen scheint: „Am schlimmsten war die Stunde von sechs bis sieben. Heißer Kaffee spornte die Nerven in der Vesperpause noch einmal an; bald war die Wirkung aber verflogen, und dann wurde das erste Seufzen hörbar, hier und da auch ein – ach! – ich kann nicht mehr –; die Gesichter wurden matter die Augen bekamen tiefe Ringe – bei einigen glühten die Wangen wie im Fieber, dann war es vorbei mit Singen und Scherzen – und der Tod ging um.“262
Dagegen wechselte Beatrice Webb in ihrem „Tagebuch einer Arbeiterin“ innerhalb einer Situationsbeschreibung häufig zwischen ihrer Perspektive als Arbeiterin – und damit der persönlich Betroffenen und Empörten – und der einer objektiv beobachtenden Sozialforscherin. Anders als Gnauck-Kühne benannte sie ihre Rolle als Sozialforscherin deutlich; die von ihr als Wissenschaftlerin vorgenommene Bewertung wurde sichtbar. Webb dokumentierte beispielsweise die beiden Ebenen ihrer Identität, als sie am Morgen ihres ersten Arbeitstages vor dem Geschäft ihres Arbeitsgebers steht. Während die ‚Arbeiterin‘ „an der Tür zaudert“, konstatiert die ‚Soziologin‘: „Röcke augenscheinlich nicht im Hause angefertigt; möchte wissen, wo und zu welchem Preise“.263 Gnauck-Kühnes Darstellung vermittelte dagegen den Eindruck, dass sie während ihres Aufenthalts die distanzierte Position einer wissenschaftlichen Beobachterin verlassen hatte und es ihr mehr um den freundschaftlichen, klassenübergreifenden Kontakt zu ihren Kolleginnen und dem Werkmeister ging. Auch in ihren späteren Berichten über diese Zeit spielte die erlebte Verbundenheit mit den Arbeiterinnen eine zentrale Rolle. Die „Zwanzig-Pfennig-Kaffeekanne, in der sie
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Göhre an Naumann am 1. Januar 1890, zitiert nach Brenning/Gremmels (1978), S. 121. Göhre an Naumann am 1. Januar 1890, zitiert nach Brenning/Gremmels (1978), S. 122f. Gnauck-Kühne (1895a), Teil 2, S. 3. Webb (1897[1888]), S. 467.
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ihren Kaffee zum Arbeitsplatz“ in die Fabrik mitnahm, gehörte bis zum Tod zu ihrem Kücheninventar.264 Im Aufbau ähneln Gnauck-Kühnes „Erinnerungen einer freiwilligen Arbeiterin“ den Berichten von Webb und Göhre. Sie stellte zunächst ihre Motivation und den Ausgangspunkt ihrer Forschung dar, dann schilderte sie detailliert den ihr unerträglich lang erscheinenden Arbeitstag, die schlechten Arbeitsbedingungen, die Gespräche und die prekäre Lebenssituation ihrer Kolleginnen. Ihr Bericht vermittelt einen Eindruck der Arbeitsatmosphäre, der hektischen, nicht enden wollenden Arbeit und wie mühsam es für sie war, die ungewohnten Handgriffe zu erlernen. Als eine der für sie unangenehmsten Arbeitsaufgaben beschreibt Gnauck-Kühne etwas ausführlicher das „Abziehen“ des Papiers, mit dem die Kartons beklebt wurden. Dazu mussten Papierstreifen oder -platten über eine mit Leim bestrichene Zinkplatte gezogen werden, weshalb die Hände permanent mit Leim verschmutzt waren. Durch die ätzenden Substanzen, mit denen der Leim bei seiner Herstellung behandelt wurde, und weil Waschmöglichkeiten fehlten, löste sich nach einer Woche die Haut an den Händen ab.265 Sie beschreibt mit eindrücklichen Bildern nicht nur die bedrückenden Seiten des Arbeitsalltags der Fabrikarbeiterinnen, sondern geht auch auf positive Aspekte ein: auf das solidarische Verhalten einzelner Kolleginnen und die Stimmung unter den Arbeiterinnen sowie auf den väterlich für die Arbeiterinnen sorgenden sozialdemokratischen Werkmeister, der ihre Arbeit beaufsichtigte und den Gnauck-Kühne sehr idealisierend beschreibt. Dadurch entsteht das Bild einer durch den gemeinsamen Arbeitsplatz und das gemeinsame Erleiden der schlechten Arbeits- und Lebensbedingungen verbundenen harmonischen Schicksalsgemeinschaft. Gnauck-Kühne zeichnete ein überwiegend sympathisches Bild ihrer Kolleginnen; ein positiv(er)es Gegenbild zum vorherrschenden negativen Bild der Fabrikarbeiterinnen, das diese als vergnügungs- und genusssüchtig, „unsittlich“ und ohne Bildung, Kultur und Religion stigmatisierte. Gnauck-Kühnes empathisches Bild der Arbeiterinnen hinterfragte die „spießbürgerliche Vorstellung“, nach der in der Arbeiterklasse „finstere und geheimnisvolle Mächte am Werk“ waren, „die es zu ‚enthüllen‘“ galt266 und die noch in Werner Sombarts (1863– 1944) Studie über „Das Proletariat“ (1906) anklang. Für Gnauck-Kühne waren die Arbeiterinnen in erster Linie „Mitmenschen“; sie wandte sich deshalb wie Alice Salomon dagegen, in den „unteren Klassen“ nur „Proletarier, vielleicht sogar die Revolutionäre zu suchen“.267 Die Armut und sittliche Gefährdung der Arbeiterinnen war für Gnauck-Kühne nicht das Ergebnis des individuellen Versagens der einzelnen Arbeiterinnen, sondern eine Folge der widrigen sozialen und ökonomischen Verhältnisse. Indem sie den Blick auf individuelle, durch Armut gekennzeichnete Schicksale lenkte, versuchte sie, die bürgerliche Voreingenommenheit und Angst 264 265 266 267
Baadte (1979), S. 112. Gnauck-Kühne (1895a), Teil 2, S. 3. Weber, Max (1892b). Engel-Reimers (1913), S. 680.
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vor der bedrohlich wirkenden „Masse ohne Persönlichkeitsbezüge“ des Proletariats abzubauen: „Wenn ich abends müde durch die belebten Straßen nach Hause ging, stellte ich mir unschwer vor, was eine Arbeiterin empfinden müsse, welche nicht nur – wie ich – die Niedergeschlagenheit einer immer wieder getäuschten Hoffnung trüge, sondern auch mit Hunger zu kämpfen hatte. Das Wort: Arbeitslosigkeit hatte plötzlich Sinn bekommen. (…) In der großen Stadt arbeitslos und ohne Rückhalt sein, einem Sandkorn gleichen, das achtlos zertreten wird, oder einem Spreuhalm, den der Wind verweht, dabei die zunehmende Schwäche fühlen, die der Hunger im Gefolge hat – das ist eine Prüfung, welche nur das charaktervollste Mädchen besteht.“268
2.2.1.3 Rezension und Einordnung Mit den „Liedern“ und den „Erinnerungen einer freiwilligen Arbeiterin“ erregte Elisabeth Gnauck-Kühne großes öffentliches Aufsehen; viele bürgerliche ZeitgenossInnen waren beeindruckt, dass eine „Dame“ diesen Schritt gewagt hatte.269 Auch ihre späteren Schriften galten als „interessant, lebhaft“ und glaubwürdig, weil sie „den Stempel des Unmittelbaren, Selbsterfahrenen“ trugen.270 GewerkschafterInnen widmeten ihr als Dank für die „Lieder einer freiwilligen Arbeiterin“ das „Liederbuch für das werktätige Volk“ (1895).271 Wegen der „Lieder“ und der „Erinnerungen“ wurden Gnauck-Kühne und ihr Herausgeber Friedrich Naumann jedoch in der Presse und im Preußischen Landtag auch angegriffen; vor allem Freiherr von Stumm unterstellte ihnen eine sozialdemokratische Tendenz und Parteinahme. Hans Delbrück (1848–1929) kritisierte an den „Erinnerungen“ den „leidenschaftlichen“ und wenig wissenschaftlichen Stil sowie den seines Erachtens mangelhaften Umgang mit den empirischen Daten und die Fehlinterpretation des Datenmaterials.272 Gnauck-Kühnes Darstellung zeige nur, „was eine feine und verwöhnte Dame empfindet, wenn sie plötzlich als Fabrikmädchen arbeitet“ und nicht wie diejenigen empfinden, die an die harte Fabrikarbeit gewohnt seine.273 Die wissenschaftlichen Kritikpunkte waren jedoch vorgeschoben, denn seine Besprechung richtete sich hauptsächlich gegen Gnauck-Kühnes Forderung nach dem Achtstundentag.
268 269 270 271 272
Gnauck-Kühne (1895a), Teil 1, S. 3. Bonus (1899), S. 21; Hoeber (1917), S. 52; Gremmels/Brenning (1978), S. 129. Dransfeld (1905), S. 426. Simon, Helene (1928a), S. 106. Delbrück (1895), S. 3. Zur Diskussion zwischen Gnauck-Kühne und Delbrück siehe Delbrück (1895) und Gnauck-Kühne (1895c). Der einflussreiche liberal-konservative Historiker Delbrück stand den Kathedersozialisten nahe. Er zählte zu den Unterstützern der bürgerlichen Frauenbewegung und der Forderung nach Zulassung der Frauen zum Universitätsstudium. Zu Delbrück siehe Bruch (1980). 273 Delbrück (1895), S. 3.
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Gnauck-Kühnes Reaktion auf Delbrücks Kritik zeigt das Selbstbewusstsein, mit dem sie sich gegen Angriffe und gegen die Bevormundung von Koryphäen wie Delbrück zu Wehr setzte. Sie fühlte sich zu Unrecht kritisiert und verwies schnippisch auf die bald erscheinende wissenschaftlich fundierte Studie, in der, so Gnauck-Kühne, „alle von Professor Delbrück angeregten Fragen ihre eingehende Erörterung finden werden“. Der von ihm kritisierte Artikel habe nicht den Anspruch einer wissenschaftlichen Abhandlung; sie habe ihn bewusst in einem unterhaltenden Stil verfasst, um möglichst viele LeserInnen anzusprechen. Er sei, so Gnauck-Kühne, „nichts als ein kleiner Ausschnitt aus dem Arbeiterinnenleben, ein Stimmungsbild, dessen Wert lediglich in der wahrheitsgetreuen Schilderung der Unmittelbarkeit beruht. Von diesen einfachen Berichten in einem populären Blatte verlangen, dass sie eine sozialpolitische Abhandlung sein sollen, heißt nicht, Gegebenes kritisieren, sondern dem Verfasser willkürlich Vorschriften machen. (…) Ich werde noch eine sozialpolitische Abhandlung geben, deren Nüchternheit nichts zu wünschen übrig lassen soll, aber ich werde dies tun, wann und wie es mir passt. Hätte Herr Professor Delbrück sich damit begnügt, das Gegebene zu kritisieren und den Wunsch geäußert, eingehender Auskunft über einige ihm fraglich erscheinende Punkte zu haben, so würde ich seinem Winke gern nachgekommen sein. Einem Kritiker aber, der einfach das Gegebene als ‚vollständig unwahr‘ und ‚falsch‘ bezeichnet, ohne im Stande zu sein, dies zu beweisen, stehe ich nicht Red’ und Antwort.“274
Die wissenschaftliche Aussagekraft von Studien, die auf einer verdeckt teilnehmender Beobachtung basierten, wurde schon bei Göhre diskutiert. In zeitgenössischen Besprechungen wurde daran gezweifelt, dass ein so kurzer Aufenthalt dazu befähige, ein realistisches Bild der Situation der Arbeiter zu zeichnen. Max Weber widersprach dieser Ansicht; für ihn war Göhres Bericht eine respektable Pionierleistung und er rechtfertigte Göhres (methodische) Vorgehensweise als „autoptische Recherche“. Webers Argumente lassen sich auch auf die „Erinnerungen einer freiwilligen Arbeiterin“ von Gnauck-Kühne übertragen: „Berücksichtigt man, dass es hier an einer erprobten Methodik bisher vollkommen fehlt, so wird man gestehen müssen, dass dieser erste Anfang als solcher eine recht respektable Leistung darstellt, und dass es ein äußerst wohlfeiles, aber nichts weniger als fruchtbares Beginnen ist, aus der Tiefe irgendeines Tintenfasses heraus den Pionier zu belehren, dass man in ‚nur drei Monaten‘ nicht alles Wissenswerte zuverlässig erfahren könne, und dass es ‚doch noch etwas andres‘ sei, um sein tägliches Brot dauernd schwere Fabrikarbeit tun zu müssen.“275
Bei der teilnehmenden Beobachtung stellt sich die Frage nach der Position der SozialforscherInnen im Forschungsfeld und im Forschungsprozess sowie nach ihrer Perspektive auf das Forschungsfeld. Gnauck-Kühne verglich in den „Erinnerungen“ ihre Arbeit als Sozialforscherin mit der einer Ethnologin, die „fremde“ Welten erkundet:
274 Gnauck-Kühne (1895c), S. 3. Zur Reaktion Delbrücks siehe Delbrück (1895), S. 5. 275 Weber (1892b), Sp. 1105. Zu Göhre siehe Brenning/Gremmels (1978), S. 139–141.
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„Eine neue Welt war’s, in die ich eintrat, eine fremde Welt. Welchen Vorwurf birgt dieses Wort! Fremd war mir die Arbeit wie die Erholung, unbekannt waren mir die Anschauungen und Gewohnheiten der Menschen in dieser Welt. Ich hatte thatsächlich von den Schneehütten der Eskimos und den Wigwams der Indianer eine klarere Vorstellung, als von den Wohnungen und Arbeitsräumen meiner Volksgenossinnen. In der Schule war jeder Erdteil beschrieben worden – nur die Welt in der nächsten Nähe nicht. – Nun galt es, aus der gleichen Lebenslage heraus diese fremde Welt verstehen zu lernen und sich ein Urteil zu bilden.“276
„Fremde Welt“ war damals eine gängige Metapher, wenn es darum ging, die als Fremdheit bezeichnete soziale Distanz zwischen Bürgertum und Arbeiterschaft, die ihre Entsprechung in geographisch separierten Lebenswelten hatte, zu beschreiben.277 Bei Gnauck-Kühne beinhaltet der Vergleich eine Kritik an der sozialen Gleichgültigkeit des Bürgertums angesichts der Not der Arbeiterinnen. Die Metapher der „fremden Welt“ stellte eine Analogie zu Forschungsreisen auf fremde Kontinente her, die in diesem Fall direkt an der nächsten Straßenecke begannen. Die frühen Sozialforscherinnen verließen nicht nur das „Haus“ als den „weiblichen Standort“ in der (wilhelminischen) Gesellschaft, sondern auch ihre bürgerlichen Wohnviertel.278 Für sie, wie auch für die ersten Lehrerinnen und bürgerlichen Frauen in der praktischen Sozialen Arbeit, bedeutete dies einen konkreten Aufbruch in eine „fremde Welt“. So beschrieb Gertrud Bäumer, die 1894 als Lehrerin an eine Mädchenvolksschule in einem Arbeiterviertel versetzt worden war, ihren neuen Arbeitsplatz als „Kolonie in einem fremden sozialen Land“, die „keine organische Verbindung mit der Bevölkerung“ hatte.279 Bei der sozialen Distanz, die zwischen bürgerlichen SozialforscherInnen wie Gnauck-Kühne, Webb und Göhre und deren Forschungsfeld bestand, stellt sich die Frage, ob ihr Inkognito überhaupt erfolgreich war. Denn das Trennende zwischen den Klassen manifestierte sich nicht nur im Kleidungsstil und dem Leben in unterschiedlichen Stadtvierteln, sondern auch in schichtspezifisch unterschiedlichem Sprachvermögen und unterschiedlichen Dialekten. Anders als bei Webb und Göhre scheint das Inkognito von Gnauck-Kühne keine Irritation oder Misstrauen unter den Arbeiterinnen hervorgerufen zu haben.280 Ihre Kolleginnen hätten sich zwar nach Gnauck-Kühnes Herkunft erkundigt; ihre dialektfreie und bürgerliche Sprache habe jedoch kein Misstrauen erregt, denn die Arbeitskolleginnen hätten
276 Gnauck-Kühne (1895a), S. 4, Hervorhebung im Original; siehe auch Gnauck-Kühne (1896a), S. 352. In späteren Veröffentlichungen ersetzte Gnauck-Kühne bei dieser Analogie „Eskimos“ durch „Hottentotten und Südsee-Insulaner“ oder durch die „alten Römer und Griechen“. 277 Vgl. Lindner (1997), S. 9f. 278 Peters (1984), S. 212. Zum Selbstbild der Forscherinnen, Entdeckungsreisende im eigenen Land zu sein, siehe Geisthövel/Siebert/Finkbeiner (1997), S. 39f. Diese Selbststilisierung wurde damals aber auch kritisch gesehen, siehe z. B. den satirischen Kommentar auf Paul Göhres „Entdeckungsreise“ von Rudolf Lavant (1965[1891]), S. 51f., erschienen in „Der wahre Jakob“ 279 Bäumer (1933), S. 127f. 280 Zum Misstrauen der ArbeiterInnen bei den Inkognito-Aufenthalten von Webb und Göhre siehe Webb (1888), S. 476; Göhre (1891), S. 19f.; Brenning/Gremmels (1978), S. 125f.
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sich das damit erklärt, dass Gnauck-Kühne nicht aus Berlin kam und ihre korrektere Ausdrucksweise mit den besseren Schulen an ihrem Heimatort zusammenhing.281 Elisabeth Gnauck-Kühne reflektierte ein Jahrzehnt nach ihrer teilnehmenden Beobachtung die methodischen Schwierigkeiten bürgerlicher Sozialforschung bei der Erfassung und Bewertung des Empfindens der Arbeiterschaft. Grundsätzlich schien es ihr möglich, dass bürgerliche Frauen die „Psyche der Arbeiterin“ erfassen können. Dies setze jedoch voraus, „dass die Arbeiterin sich zwanglos gibt und dass Gelegenheit ist, sie gerade dann zu beobachten“. Es setze „aber auch bei dem Beobachtenden genügende Kenntnis der weiblichen Psyche voraus, um Lebensäußerungen zu deuten“. Generell sei es für bürgerliche Frauen jedoch schwierig, das „Erleben“ der Arbeiterinnen einzuordnen, da ihnen vergleichbare Erfahrungen fehlten.282 Die Aussagekraft ihrer eigenen Sozialforschung beurteilte GnauckKühne deshalb rückblickend verhältnismäßig kritisch. Ihre Untersuchung der Arbeitsverhältnisse habe sich „mehr oder weniger mit dem Milieu der Arbeiterin, nicht mit ihr selbst“ beschäftigt und sei an der „Peripherie des Menschen“ stehen geblieben.283
2.2.2 „Die Lage der Arbeiterinnen in der Berliner Papierwarenindustrie“ (1896) Die Studie „Die Lage der Arbeiterinnen in der Berliner Papierwarenindustrie“, die Elisabeth Gnauck-Kühne bei der Auseinandersetzung mit Hans Delbrück angekündigt hatte, erschien ein Jahr nach ihrer Rede auf dem ESK und nach dem Ende des Konfektionsarbeiterstreiks. Während sie ihren Inkognito-Aufenthalt vorbereitete, führte sie zunächst im November 1894 eine Fragebogenerhebung über die Arbeitsverhältnisse von Arbeiterinnen in 72 unterschiedlich großen Betrieben der Berliner Kartonageindustrie durch.284 Kurz vor der Fertigstellung der Arbeit über „Die Lage der Arbeiterinnen in der Berliner Papierwarenindustrie“ war die Zulassung von Frauen als Gasthörerinnen an der Berliner Universität gelungen. Gnauck-Kühne hörte im Wintersemester 1895/96 an der Universität die Vorlesungen „Praktische und theoretische Nationalökonomie“, „Sozialismus“ und „Unternehmungsformen“ bei Gustav Schmoller. Sie nahm an Seminaren von Ignaz Jastrow (1856–1937) zum Arbeiterschutz sowie von Max Sering zur Agrarfrage teil und besuchte Vorlesungen von Georg Simmel.285 Ihre Kenntnisse in
281 282 283 284 285
Gnauck-Kühne (1895a), Teil 2, S. 2. Gnauck-Kühne (1905a), S. 34. Gnauck-Kühne (1905a), S 33. Gnauck-Kühne (1896a), S. 29. Simon, Helene (1928a), S. 48f. Zu den Erinnerungen eines ehemaligen Kommilitonen Gnauck-Kühnes siehe Simon, Helene (1928a), S. 145: „Ich saß im Wintersemester 1895/96 in Gustav Schmollers Vorlesung mit dem jetzigen Professor Hugo Sinzheimer in Frankfurt in ihrer Nähe. Frau Gnauck war damals eine elegante, auffallende Erscheinung, und da sie große
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Statistik vertiefte Gnauck-Kühne in den Lehrveranstaltungen des renommierten Statistikers August Meitzen (1822–1910), der nach einer Laufbahn im Verwaltungsdienst seit 1875 als außerordentlicher Professor für Statistik und Nationalökonomie an der Universität Berlin lehrte. Gnauck-Kühnes Untersuchung über „Die Lage der Arbeiterinnen in der Berliner Papierwarenindustrie“ gilt als die beste empirische Studie, die direkt aus dem Berliner Seminar von Schmoller hervorging.286 Das Besondere und für die damalige bürgerliche Sozialforschung und die damaligen amtlichen Erhebungen Ungewöhnliche war, dass Gnauck-Kühnes Studie überwiegend auf der Befragung von Arbeiterinnen basierte und nur zu einem kleinen Teil auf den Angaben von Arbeitgebern, da diese eine Mitarbeit überwiegend abgelehnt hatten.287 Während Gnauck-Kühne die Arbeiterinnen direkt befragte, handelte es sich bei amtlichen Untersuchungen meist um reine Expertenbefragungen. Bei einer Enquete über Frauen- und Kinderarbeit des Bundesrats 1876 wurden beispielsweise nicht die Frauen und Kinder zu ihren tatsächlichen Arbeitsbedingungen befragt, sondern lediglich die Einschätzung von Experten –in der Regel Fabrikbesitzer – zum aktuellen Stand und Veränderungsmöglichkeiten eingeholt.288 2.2.2.1 Methodische Vorgehensweise Die Studie umfasste eine Branchenanalyse und eine Fragebogenerhebung. Bei der Auswertung bezog Gnauck-Kühne weitere statistische Quellen mit ein, hierzu gehörten die Stammrollen der Berliner Ortskrankenkasse der Buchbinder, Jahresberichte der Verwaltungsstelle des Centralvereins für Arbeitsnachweis für den weiblichen Arbeitsnachweis sowie Informationen aus Gewerkschaftskreisen. In die Auswertung eingeflossen sind weiter die Ergebnisse ihrer teilnehmenden Beobachtung und Gespräche mit Vertretern der Buchbindergewerkschaft.289 In der Branchenanalyse, die Schmollers Vorgehensweise entsprach, rekonstruierte GnauckKühne die historische Entwicklung der Frauenarbeit in der Papierindustrie, die Veränderungen in der Produktionsweise und der damit korrespondierenden Arbeitsbereiche; sie bildete den Hintergrund, vor dem Gnauck-Kühne die Ergebnisse der Fragebogenerhebung ihrer Untersuchung darstellte und analysierte. Die von Gnauck-Kühne untersuchten Betriebe hatten einen sehr hohen Frauenanteil von 70 % der Beschäftigten.290 Ziel der Befragung war es, konkrete Angaben über Lohn, Arbeitsbedingungen und Lebenshaltung (Wohnung, Nahrung,
286 287 288 289 290
Mühe hatte, einen dicken schwarzen Pelzkragen in den engen Bänken des Hörsaals unterzubringen, so waren wir ihr gelegentlich behilflich.“ Hoeber (1917), S. 53. Gnauck-Kühne (1896a), S. 30 und S. 25. Vgl. Weyrather (2003), S. 24–26. Gnauck-Kühne (1896a), S. 40 und S. 5. Gnauck-Kühne (1896a), S. 32.
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Kleidung) der Arbeiterinnen zu erhalten. Dem damals gängigen Vorgehen entsprechend verwendete Gnauck-Kühne zwei Fragebogen, den „Werkstubenbogen“ und den „Personalbogen“. Der „Werkstubenbogen“ richtete sich an Vorarbeiter oder Fabrikbesitzer. Er umfasste 40 Fragen, in denen nach den allgemeinen Arbeitsverhältnissen, der räumlichen und sanitären Ausstattung, Koch- und Versorgungsmöglichkeiten sowie nach Unterschieden bei der Bezahlung des männlichen und weiblichen Personals gefragt wurden. Der „Personalbogen“ umfasste 35 Fragen; er wandte sich direkt an die Arbeiterinnen und wurde an alle 2.725 weiblichen Beschäftigten der untersuchten Betriebe verteilt. Gefragt wurde nach demographischen Daten (Alter, Familienstand und Kinder) und nach der Dauer der Erwerbstätigkeit (insgesamt, im gegenwärtigen Beruf und im gegenwärtigen Betrieb). Ein Schwerpunkt der Fragen lag auf den Rahmenbedingungen der Arbeit, wie dem Lohnsystem (Lohnform und -höhe, saisonale Schwankungen im Beschäftigungsverhältnis), der Kündigungsfrist, der Arbeitszeit, den Überstunden sowie den hygienischen Einrichtungen und den Arbeitsschutzbedingungen. Gefragt wurde auch nach den Wohnungs- und Mietverhältnissen.291 Gnauck-Kühne versuchte außerdem, die „geistige Stimmung“, d. h. die Umgangsformen und das Vorhandensein von kulturellen Interessen bei den Arbeiterinnen sowie deren Einstellung zu Kirche und Glauben zu erfassen.292 Denn es ging ihr nicht nur um eine auf quantitativen Daten beruhende Bestandsaufnahme der Situation der Fabrikarbeiterinnen. Ihr Erkenntnisinteresse richtete sich vielmehr auf die Wechselbeziehungen zwischen den bestehenden Produktionstypen, der ökonomischen Situation und dem sittlichen Verhalten der Arbeiterinnen. Von den 2.725 an die Arbeiterinnen verteilten Fragebogen kamen 2.000 beantwortet zurück, davon waren aber nur 822 für die Auswertung zu verwenden. Gnauck-Kühne bewertete diesen Rücklauf trotzdem als Erfolg, weil sich ihre Auswertung auf ein Siebtel aller Arbeiterinnen der Berliner Papierwarenindustrie stützen konnte und somit die Repräsentativität der Ergebnisse gewährleistet war. 2.2.2.2 Ergebnisse der statistischen Studie Elisabeth Gnauck-Kühne vermittelte mit ihrer Studie ein detailliertes Bild der bedrückenden sozialen Lage der Kartonagearbeiterinnen. In der Branchenanalyse zeigte sie, dass Frauenarbeit in der Papierbranche schon immer vor allem ungelernte Arbeit mit einem niedrigen Einkommen war293 und die Männer meist besser ausgebildet waren und besser bezahlt wurden. Als Werkführer und Zuschneider der Kartons waren sie diejenigen, die den weiblichen Arbeitskräften die Aufgaben
291 Gnauck-Kühne (1896a), S. 29f.. Die Fragebogen sind abgedruckt in Gnauck-Kühne (1896a), S. 90–92. 292 Gnauck-Kühne (1895a), Teil 1, S. 4. 293 Gnauck-Kühne (1896a), S. 36.
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erteilten.294 Die Daten ihrer Fragebogenerhebung und die der Berliner Ortskrankenkasse der Buchbinder zur aktuellen Situation der Arbeiterinnen wertete Gnauck-Kühne in Kreuztabellen aus, deren Ergebnisse sie anschließend ausführlich diskutierte. Ihre eigenen subjektiven Einschätzungen und Erfahrungen als Fabrikarbeiterin, mit denen sie die Ergebnisse veranschaulichte, verifizierte sie durch Gespräche zwischen Arbeiterinnen, an die sie sich erinnerte.295 Einen Schwerpunkt ihrer Darstellung legte Gnauck-Kühne auf die schlechten hygienischen und gesundheitlichen Rahmenbedingungen der Fabrikarbeit, die sie für den schlechten Gesundheitszustand der Arbeiterinnen verantwortlich machte.296 Die Arbeitsstätten der untersuchten Betriebe verfügten kaum über sanitäre Einrichtungen. Ihre Arbeiterinnen litten schon seit ihrer Kindheit an Mangelernährung; sie hatten weder genug Geld, noch genug Zeit und Raum für eine ausreichende Ernährung. Selbst minimale Verbesserungen, wie „mittags nach anstrengender Arbeit etwas Warmes zu genießen“, seien vom Wohlwollen der jeweiligen Arbeitgeber abhängig.297 Für Gnauck-Kühne belegten die Ergebnisse ihrer Befragung und die Statistiken der Berliner Ortskrankenkasse der Buchbinder, dass die Fabrikarbeit für die Gesundheit der Frauen schädlich war und sich negativ auf ihre Reproduktionsfähigkeit auswirkte. In der hohen Kindersterblichkeitsrate sah Gnauck-Kühne einen weiteren Beleg für die negativen Auswirkungen der Fabrikarbeit von Frauen. Von den 812 Arbeiterinnen ihres Samples wurden 175 Mütter von insgesamt 421 Kindern, von denen 204 starben und nur 217 überlebten. Das entsprach einer Sterblichkeitsrate von 48,46 %. Überraschenderweise lag die Kindersterblichkeitsrate bei den verheirateten Frauen weit über der bei ledigen Mütter (49,27 % zu 32,88 %; bei den Verheirateten ohne Versorger betrug die Rate 60,81 %).298 Mit Tabellen und Diagrammen veranschaulichte Gnauck-Kühne, wie Eheschließung und Geburt die Erwerbskurve der Arbeiterinnen beeinflusste:299 Die Beschäftigungsquote der weiblichen Beschäftigten nahm zwischen dem 16. und 21. Lebensjahr zu und fiel nach Heirat und Geburt von Kinder vom 21. bis zum 24. Lebensjahr stark ab. Gnauck-Kühne ging davon aus, dass die verheirateten Arbeiterinnen lieber zu Hause blieben und nicht freiwillig erwerbstätig seien. Aus dem Anstieg der Erwerbskurve zwischen dem 24. und 30. Lebensjahr schloss sie, dass der Verdienst der Ehemänner nicht zum Unterhalt der Familie genügte und die Arbeiterinnen deshalb aus ökonomischen Gründen erneut gezwungen waren, (in der Fabrik) zu arbeiten. Für Gnauck-Kühne war das ein gesellschaftlicher Missstand, weil dies die Zeit sei, in der Frauen als „Familienmutter“, wie sie es nannte, daheim am nötigsten seien. Dass die Zahl der weiblichen Beschäftigten im
294 295 296 297 298 299
Gnauck-Kühne (1896a), S. 6. Siehe z. B. Gnauck-Kühne (1896a), S. 60, S. 71 und S. 83. Gnauck-Kühne (1896a), S. 77. Gnauck-Kühne (1896a), S. 82. Vgl. Gnauck-Kühne (1896a), S. 54f. Gnauck-Kühne (1896a), S. 38–40.
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Alter zwischen 30 und 40 Jahren erneut zurückging, erklärte sich Gnauck-Kühne damit, dass die Frauen entweder auf andere Einnahmequellen wie die Heimarbeit zurückgriffen oder auf die Arbeit in der Fabrik verzichteten, wenn es die familiäre Situation ökonomisch ermöglichte. Die Lohn- und Einkommensfrage, die als das „zentralste Problem der Arbeiterfrage“ galt300, nahm auch in Gnauck-Kühnes Untersuchung großen Raum ein. Ausführlich schilderte sie die prekäre Lage der Arbeiterinnen, deren Beschäftigung und Einkommen von den saisonalen Schwankungen der Auftragslage abhängig waren. Selbst während der beschäftigungsreichen, der sogenannten „flotten Zeit“, reichte der Verdienst für den Lebensunterhalt kaum aus. Gnauck-Kühne wies auch auf die verschiedenen Formen der Lohndiskriminierung hin: Frauen erhielten lediglich die Hälfte des Lohns der Männer301; für die Arbeiterinnen gab es kaum Aufstiegsmöglichkeiten, da weder Alter noch Dauer der Erwerbstätigkeit oder der Zugehörigkeit zum Betrieb einen nennenswerten Einfluss auf die Lohnhöhe hatte.302 Insgesamt beurteilte Gnauck-Kühne in der Studie bei der Lohnfrage die Arbeiterinnen kritischer als in den „Erinnerungen einer freiwilligen Arbeiterin“. Ihre Darstellung wirkt oft, als habe sie die Sicht der Buchbindergewerkschaft übernommen, mit der sie während der Untersuchung zusammenarbeitete. Sie kritisiert die Fabrikarbeiterinnen dafür, dass sie zu wenig über ihre Rechte wüssten und unfähig seien, sich gewerkschaftlich zu organisieren.303 Viele Missstände führte sie auf den fehlenden gewerkschaftlichen Organisierungsgrad bei Betrieben mit überwiegend weiblichem Personal zurück.304 Dadurch erscheinen die unorganisierten Arbeiterinnen als unsolidarische Konkurrenz zu den männlichen Kollegen. Wie die männlichen Gewerkschafter kritisierte Gnauck-Kühne, dass die Arbeiterinnen schnell zu Überstunden bereit seien und den Akkord- oder Stücklohn wegen der besseren Verdienstmöglichkeiten bevorzugten. Für Gnauck-Kühne war das kurzsichtig und zeigte, dass die Arbeiterinnen nicht in der Lage waren, die langfristige „Einbuße an Lebenskraft durch Überanstrengung gegen den augenblicklichen Vorteil einer vorübergehenden erhöhten Einnahme abzuwägen“.305 Für Gnauck-Kühne war „Akkordarbeit – Mordarbeit“.306 Der Stücklohn förderte ihres Erachtens den Egoismus und zerstörte das Gefühl der Zusammengehörigkeit und den Gemeinsinn.307
300 301 302 303 304
Koch (1929), S. 153. Gnauck-Kühne (1896a), S. 75. Gnauck-Kühne (1896a), S. 44. Gnauck-Kühne (1896a), S. 66. Auch Clara Zetkin kritisierte das fehlende Interesse der Arbeiterinnen an Organisierung. Vgl. Zetkin (1979[1898/1901]), S. 153 und S. 160. 305 Gnauck-Kühne (1896a), S. 46. 306 Gnauck-Kühne (1896a), S. 47; Koch (1929), S. 153. Sie griff hier die (Karl Marx zugeschriebene) Parole der Gewerkschaften „Akkord ist Mord“ auf. 307 Gnauck-Kühne (1896a), S. 48.
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Ein weiterer thematischer Schwerpunkt ihrer Darstellung war die Sittlichkeitsfrage. In diesem Punkt gingen ihre Einschätzungen und Interpretationen über die durch die Befragung erhobenen Daten hinaus. Die „Unsicherheit des Erwerbs“ war für Gnauck-Kühne die Hauptursache für die sittliche Gefährdung der meist unverheirateten Fabrikarbeiterinnen. Von den 812 befragten Frauen ihres Samples waren 639 nicht verheiratet, von diesen wiederum waren 56 Mütter von insgesamt 73 Kindern.308 Gnauck-Kühne wertete die Ehelosigkeit zwar als Zeichen für die fehlende Moral der Arbeiterinnen, jedoch nicht für deren Unsittlichkeit. Denn die Arbeiterinnen selbst würden moralisch durchaus zwischen „einem vorehelichen Liebesverhältnis“ und „Prostitution“ im weitesten Sinne unterscheiden. Letztere gelte auch unter den Arbeiterinnen als Makel und als verwerflich.309 GnauckKühne thematisierte in diesem Zusammenhang auch Fälle von sexueller Belästigung am Arbeitsplatz durch Arbeitgeber oder Vorgesetzte, von denen sie in Gesprächen von Arbeiterinnen gehört hatte, die sie aber mit dem Verweis auf das eigene Schamgefühl nicht weiter auszuführte.310 Sie kritisierte die Unternehmer, die keine Vorkehrungen wie z. B. getrennte Umkleidekabinen trafen, um die Arbeiterinnen vor Übergriffen der männlichen Kollegen und Vorgesetzten zu schützen.311 Gnauck-Kühne ging davon aus, dass vor allem bei unverheirateten Arbeiterinnen, die nicht bei ihren Eltern oder Verwandten wohnten konnten, die Gefahr von sexueller Belästigung und Übergriffen sowie die „sittliche Gefährdung“ groß war. Denn sie lebten unter sehr prekären Wohnverhältnissen: 20 % der unverheirateten Arbeiterinnen konnten sich nur eine „Schlafstelle bei Fremden“ leisten, die ihnen nur stundenweise und selten an Sonn- und Feiertagen zur Verfügung stand. Sie hatten keine privaten Rückzugsmöglichkeiten und waren an Sonn- und Feiertagen obdachlos.312 Gnauck-Kühnes sozialpolitische Forderungen lehnten sich an die Forderungen der Gewerkschaften und der Sozialdemokratie an. Sie forderte den Achtstundentag und die Einführung von Arbeitshygiene- und Arbeitsschutzmaßnahmen. Frauenpolitisch motiviert war ihre Forderung, mehr und vor allem weibliche Gewerbeinspektoren einzustellen, die die Einhaltung der gesetzlichen Vorschriften durch regelmäßige Kontrollen durchsetzen bzw. gewährleisten sollten.313 Sie berichtete von ersten Ansätzen genossenschaftlichen Vorgehens in den Fabriken, die zur Verbesserung der Arbeitsbedingungen beitragen sollten, wie die Einrichtung eines Konsumvereins; Konsumvereine sollten den Arbeiterinnen eine kostengünstige Versorgung mit Lebensmitteln während der Pausen ermöglichen.314 GnauckKühne schilderte außerdem die ersten Initiativen der Gewerkschaften gegen sexu-
308 309 310 311 312 313 314
Gnauck-Kühne (1896a), S. 54f. Gnauck-Kühne (1896a), S. 86f. Gnauck-Kühne (1896a), S. 84. Gnauck-Kühne (1896a), S. 83. Gnauck-Kühne (1896a), S. 62. Gnauck-Kühne (1896a), S. 79. Gnauck-Kühne (1896a), S. 80.
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elle Diskriminierung, wie die geplanten Maßnahmen der Buchbindergewerkschaft, um Arbeiterinnen vor sexuellen Übergriffen am Arbeitsplatz zu schützen (u. a. indem diese öffentlich gemacht wurden). Gnauck-Kühnes sozialpolitische Argumentation war „modern“ in einem humanistischen Sinn, weil sie über die bestehenden Arbeitsverhältnisse hinaus eine bessere Zukunft für die Arbeiterschaft anstrebte.315 Eine Verbesserung der Arbeitsbedingungen der Arbeiterinnen schien ihr nur möglich, wenn sich diese (gewerkschaftlich) organisierten. Denn nur die organisierte Arbeiterin hatte, so Gnauck-Kühne, „an der Organisation einen Rückhalt“ und war „kein verwehtes Blatt, kein Sandkorn, das achtlos zertreten“ werden konnte.316 Zwar sah auch Gnauck-Kühne in der Frauenfabrikarbeit einen Grund für das „zerstörte Familienleben des Arbeiterstandes“, das von konservativer Seite geforderte Fabrikarbeitsverbot für verheiratete Frauen lehnte sie jedoch ab. Denn dieses verletzte das Selbstbestimmungsrecht der Einzelnen, das für Gnauck-Kühne zu den grundlegenden Werten jeglicher Reform gehörte.317 2.2.2.3 Rezension und Rezeption Bei Elisabeth Gnauck-Kühne scheinen die „Erinnerungen einer freiwillige Arbeiterin“ eine wesentliche größere Aufmerksamkeit erregt zu haben als ihre wissenschaftliche Studie, ähnlich wie bei Beatrice Webb. Das unterschiedliche Interesse lag nicht an der zeitlichen Abfolge des Erscheinens, sondern an den unterschiedlichen Textgattungen. Das Interesse der bürgerlichen LeserInnenschaft an der sozialen Lage der Arbeiterinnen konnte über Erfahrungsberichte eher geweckt und vermittelt werden als durch wissenschaftliche Abhandlungen. Schriftstellerisch gewandte, anschauliche Schilderungen konkreter Einzelschicksale erzielten eine tiefere Wirkung als statistische Folianten.318 Lebensnahe Forschung hatte zudem einen Hauch von Abenteuer an sich, barg aber auch die Gefahr in sich, dass Frauen, die sich damit beschäftigten, als exzentrisch abgetan wurden.319 Eine wichtige Rolle bei der Rezeption der Untersuchungen spielte die geschlechtsspezifische Wahrnehmung und Zuordnung der wissenschaftlichen Leistung, die von einer vermeintlich unterschiedlichen Eignung von Frauen und Männern für die wissenschaftliche Arbeit ausging. Sowohl bei Gnauck-Kühne als auch bei Webb richtete sich die Aufmerksamkeit weniger auf ihre wissenschaftliche Arbeit als vielmehr auf das Wagnis ihres Aufenthalts in der Welt der Arbeiterinnen. Im Gegensatz zur Philanthropie vor Ort galt Sozialforschung von Frauen nicht als weibliche Domäne und war gesellschaftlich deshalb nicht oder nur wenig 315 316 317 318 319
Vgl. Weyrather (2003), S. 75. Gnauck-Kühne (1895a), Teil 1, S. 4. Gnauck-Kühne (1895e), S. 28. Herkner (1910), S. 393. Lepenies (1988), S. 25.
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akzeptiert. Aus ihrem „minderen Status“ konnten Frauen in der empirischen Sozialforschung aber auch Vorteile ziehen. Da sie nicht ernstgenommen wurden und auf die „unemancipated females“ nicht geachtet wurde, war es für sie häufig einfacher eine teilnehmende Beobachtung durchzuführen als für ihre männlichen Kollegen.320 Anders als Gnauck-Kühne bedauerte Webb ausdrücklich die fehlende Resonanz auf ihre wissenschaftliche Monographie über das „Schneidergewerbe im East End“, die – verglichen mit ihrem „Tagebuch einer Arbeiterin“ – eher „kühl aufgenommen“ wurde.321 Webb hatte, im Gegensatz zu Gnauck-Kühne, zuerst die quantitative empirische Studie und anschließend den Erfahrungsbericht veröffentlicht. Für die Wiederveröffentlichung des „Tagebuchs einer Arbeiterin“ wählte Webb den Titel „Diary of an Investigator“, um den wissenschaftlichen Charakter des Experiments zu betonen. Webb fand es zudem merkwürdig, dass sie für den wissenschaftlicheren Artikel weniger Honorar erhielt als „für die dramatisierte Version eines kleinen Teils derselben Fakten“.322
2.2.3 „Die deutsche Frau um die Jahrhundertwende“ (1904) „Die deutsche Frau um die Jahrhundertwende“ (1904) ist Elisabeth GnauckKühnes statistisches Hauptwerk und die Studie, die am stärksten beachtet, besprochen, diskutiert und rezipiert wurde. Sie zählt neben der „Frauenfrage“ (1901) von Lily Braun (1865–1916) und „Die deutsche Frau im Beruf“ (1902) von Robert (1875–1954) und Lisbeth Wilbrandts (1878–1917) zu den Grundlagenwerken der Frauenbewegung über die Frauenberufsfrage. Gnauck-Kühne war von der Wirkungsmacht der Statistik als deskriptiver Tatsachenwissenschaft, deren Funktion als bevölkerungspolitisches Werkzeug, vor allem aber von der Beweiskraft statistischer Analysen überzeugt.323 Sie nutzte diese, um ihre Forderungen nach dem Recht von Frauen auf Erwerb und nach der gesellschaftlichen Anerkennung von Frauenarbeit wissenschaftlich zu begründen. Wie schon bei „Das Universitätsstudium der Frauen“ (1891), ihrer ersten wissenschaftlichen Veröffentlichung, bildete der Frauenüberschuss den Ausgangspunkt für Gnauck-Kühnes Argumentation und statistische Analyse.
320 321 322 323
Lepenies (1988), S. 25. Webb (1988[1926]), S 358. Webb (1988[1926]), S. 358f. Gnauck-Kühne (1904a), S. 2f. thematisierte die bevölkerungspolitische Dimension der Statistik: „Die Statistik dient als chemische Retorte, in der die Bevölkerung in ihre Bestandteile zerlegt wird, und sie dient als Pegel, der die Zu- oder Abnahme aufzeigt, sie wird zum Wächter, der spornen oder warnen kann.“
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2.2.3.1 Vorgehensweise und Ergebnisse Elisabeth Gnauck-Kühne hatte etwa vier Jahre an dieser Studie gearbeitet. Sie begann mit dem ersten Teil kurz nach ihrer Konversion, während eines mehrmonatigen Aufenthalts in einem katholischen Arbeiterinnenheim der Genossenschaft der Schwestern vom heiligen Joseph, und stellte sie, unterstützt von Ida Ernst, in Blankenburg fertig.324 Für diese Studie führte sie keine eigene Datenerhebung durch, sondern nahm eine umfangreiche und aufwendige Auswertung amtlicher Statistiken vor: der Berufszählung vom 5. Juni 1882, der Berufsstatistik vom 14. Juni 1895, der Volkszählung vom 1. Dezember 1900 und der „Statistischen Jahrbücher für das Deutsche Reich“. Die Analyse amtlicher Statistiken, wie GnauckKühne sie durchführte, war damals noch neu; sie war erst durch die 1882 in Deutschland eingeführten regelmäßigen Berufs- und Betriebszählungen möglich geworden, die die Datengrundlage für Analysen lieferten.325 Für geschlechtsspezifische Fragestellungen waren die amtlichen Statistiken nicht aussagekräftig, denn die Lebensverhältnisse von Frauen wurden kaum erfasst; ein Problem, das Gnauck-Kühne gleich zu Beginn ihrer Studie thematisierte. Die Studie beginnt mit einer historischen Darstellung, in der Gnauck-Kühne auf die Entstehung der Frauenfrage eingeht und auf die Analogie zwischen der Arbeiterfrage und der Frauenfrage hinweist: „Fasst man mit dem Ausdrucke ‚soziale ‚Frage‘ die Schwierigkeiten zusammen, die da entstehen, wenn eine Klasse der Gesellschaft in Widerspruch zu ihren überlieferten Lebensbedingungen gerät und um Besserstellung kämpft, so gibt es zweifelsohne eine FrauenFrage.“326
Gnauck-Kühne arbeitet heraus, wie die gesellschaftlichen Umbrüche – trotz der (vermeintlich) naturgegebenen geschlechtsspezifischen „Eigenarten“ und der daraus folgenden Arbeitsteilung – zur zunehmenden Erwerbstätigkeit von Frauen geführt hatten und wie sich die soziale Stellung von Frauen in der Gesellschaft verändert hatte. Anschließend beleuchtet sie aus einer sozial-, wirtschafts- und ideengeschichtlichen Perspektive, wie die Frauenbewegung als eine Reaktion auf die Frauenfrage entstanden war und entwickelt hatte. Die historischen Darstellung bildete den Rahmen für den Hauptteil der Studie, in dem Gnauck-Kühne die amtlichen Statistiken im Hinblick auf folgende Aspekten auswertete: „Der weibliche Überschuss“, „der Altersaufbau des weiblichen Geschlechts am Eheberuf“, „der Anteil des ehemündigen weiblichen Geschlechts an der Erwerbstätigkeit“, „der Wettbewerb zwischen Mann und Weib“. GnauckKühne ging es einerseits darum, den Zusammenhang zwischen dem Frauenüberschuss und dem Bedeutungsverlust der Ehe als Versorgungseinrichtung für Frau-
324 Simon, Helene (1928a), S. 225. Gnauck-Kühne lebte seit dem Tod ihrer Schwester 1902 wieder in Blankenburg. 325 Schäfer, Ulla (1971), S. 209ff. 326 Gnauck-Kühne (1904a), S. 1.
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en statistisch zu belegen und wollte anderseits untersuchen, welche Konsequenzen das für die Stellung der Frauen im Berufsleben hatte. Sie wertete deshalb die Daten der Berufs- und Betriebszählungen nach der Verteilung der Frauenerwerbsarbeit (nach Familienstand, Altersklassen und auf die einzelnen Berufssparten) aus und untersuchte zusätzlich die Veränderung der Altersgruppen in den einzelnen Berufssparten. Gnauck-Kühne gelang es, mit ihrer anschaulichen und allgemeinverständlichen Darstellung ein breites, über enge Fachkreise hinausgehendes Publikum für eine statistische Studie über die Frauenfrage zu interessieren. Das lag weniger an den einzelnen statistischen Auswertungen, denn diese brachten vor allem für die mit der amtlichen Statistik vertrauten wissenschaftlichen Experten wenig Neues. Innovativ war vor allem ihre These vom „Dualismus des Frauenlebens“, die sie ausgehend von ihrer Fragestellung, einer sozialgeschichtlichen Perspektive und einer Analyse der statistischen Daten entwickelte sowie die Schlussfolgerungen, die sie daraus zog.327 Ihre Studie war eine erste empirisch fundierte Analyse der für weibliche Erwerbsbiographien auch heute noch charakteristischen Brüche und Diskontinuitäten. Ausgehend vom Zusammenhang zwischen weiblicher Erwerbstätigkeit, Familienstand und Alter entwickelte Gnauck-Kühne ihre These von der dualistischen Struktur der weiblichen Existenz. Durch die Gegenüberstellung der Heiratskurve und der Erwerbskurve veranschaulichte sie den Einfluss der Ehe auf die Erwerbsarbeit von Frauen. Denn die beiden Kurven standen in einem umgekehrten Verhältnis zueinander: Wenn die Anzahl der Eheschließungen zunahm, nahm der Anteil der Frauenerwerbstätigkeit ab und umgekehrt.328 Die graphische Darstellung durch Kurven zeigte deutlich, dass die Erwerbstätigkeit von Frauen – anders als bei Männern – episodenhaft verlief, denn, so Gnauck-Kühne, „sie wird wesentlich von der Eheschließung beeinflusst. Das Weib geht nicht, wie der Mann, ein dauerndes, meist lebenslängliches Bündnis mit der erwählten Erwerbstätigkeit ein, es hat vielmehr zwei Eisen im Feuer, neben der Erwerbstätigkeit den Hausmutterberuf. Sein Leben ist dualistisch gespalten. Das geht schon daraus hervor, dass die Erwerbstätigkeit in jungen Jahren von ledigen, später von Witwen getragen wird, somit von denen, die noch nicht, und von denen, die nicht mehr verheiratet sind.“329
Mit der Eheschließung endete für Frauen in der Regel zunächst die Phase der Erwerbsarbeit. Sie wechselten in den „Hausmutterberuf“ oder in den „Eheberuf“, wie Gnauck-Kühne es nannte. Doch dieser bildete auch bei den verheirateten Frauen nur eine vorübergehende Phase, denn über ein Achtel von ihnen sei aus
327 Braun (1904): „Nicht diese Tatsachen sind das Interessante an Frau Gnauck-Kühne’s Schrift (…), sondern die Ursachen, auf die sie sie zurückzuführen sucht und die Folgerungen, die sie daran anknüpft.“ Vgl. Gnauck-Kühne an Dyhrenfurth am 15. Oktober 1903, in: Simon, Helene (1928a), S. 219. Siehe auch Baadte (1979), S. 118: Der ursprünglich geplante Titel „Der Dualismus im Frauenleben“ griff die Hauptthese der Studie auf. Der Verlag hatte diesen jedoch als zu eng gefasst abgelehnt. 328 Gnauck-Kühne (1904a), S. 94. 329 Gnauck-Kühne (1904a), S. 98.
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ökonomischen Gründen gezwungen, nach kurzer Zeit wieder erwerbstätig zu werden. Gnauck-Kühnes statistische Auswertungen belegten den zunehmenden Bedeutungsverlust der Ehe als alleinige Versorgungsinstanz sowohl für die verheirateten, vor allem aber für die unverheirateten Frauen.330 Im Gegensatz zu vielen sozialpolitischen Stellungnahmen, die den Millionenüberschuss des weiblichen Geschlechts zu einem Überschuss im heiratsfähigen Alter machten, zeigte Gnauck-Kühnes Analyse, dass es sich dabei vor allem um ältere Frauen jenseits des „heiratsfähigen Alters“ handelte. Für Gnauck-Kühne wurden diese älteren unverheirateten Frauen zusätzlich durch Reformbewegungen wie die „Neue Ethik“ diskriminiert, die das Recht auf Sexualität für alle Erwachsenen forderten.331 Ein wichtiger gesellschaftspolitischer Punkt von Gnauck-Kühnes Analyse war, dass sie den Fokus auf die Variable Alter und die Situation von älteren Frauen richte. Durch die kritische Auseinandersetzung mit den demographischen Daten konnte sie nachweisen, dass der episodenhafte Charakter der Erwerbsarbeit von Frauen, die Annahme, Mutterschaft und Ehe seien Altersvorsorge genug und das Fehlen einer angemessenen und ausreichenden Alterssicherung das Risiko der Altersarmut bei Frauen enorm erhöhte.332 Elisabeth (Altmann-)Gottheiner begrüßte ausdrücklich Gnauck-Kühnes daraus abgeleitete Plädoyer für die Einführung einer Witwen- und Waisenversicherung.333 Bei Gnauck-Kühnes Analyse der weiblichen Lebensverhältnisse spielten ihre Vorstellungen von Weiblichkeit und Mütterlichkeit eine zentrale Rolle. Sie knüpfte dabei an Georg Simmels Ausführungen zur subjektiven Kultur der Frau und an das Konzept der Mütterlichkeit der gemäßigten bürgerlichen Frauenbewegung an. Sich auf Simmel berufend betonte Gnauck-Kühne, dass nicht Ähnlichkeit, sondern Unterschiedlichkeit, Entwicklung und Differenzierung Vorbedingungen und Zeichen des Fortschrittes seien. Jedes Geschlecht habe deshalb die Aufgabe, die in ihm verkörperte besondere göttliche Idee zu einer möglichst vollendeten Darstellung zu bringen.334 Nur so sei Kulturfortschritt möglich: „Verleugnet das Weib seine innerste Natur, will es in möglichster Mannähnlichkeit außerhalb seines Geschlechts stehen, so kann es auch bei der besten Begabung der Welt keinen neuen Kulturwert geben, dann kann nur ‚eine Multiplikation dabei herauskommen‘ (Simmel), die Multiplikation der männlichen Persönlichkeit. Nur die vollentwickelte, durchgebildete Weibspersönlichkeit, die den Mut hat, ganz sie selbst zu sein, kann uns – vielleicht – eine neue Seite des Menschentums offenbaren.“335
Die „ideale“ Weiblichkeit kam für Gnauck-Kühne in der Mütterlichkeit zum Ausdruck. Wie bei der gemäßigt-bürgerlichen Frauenbewegung war Mütterlichkeit bei Gnauck-Kühne nicht an die biologische Mutterschaft gebunden, sondern um330 331 332 333 334 335
Gnauck-Kühne (1904a), S. 103. Gnauck-Kühne (1905e). Gnauck-Kühne (1904a), S. 77f. Altmann-Gottheiner (1904), S. 556. Gnauck-Kühne (1904a), S. 121. Gnauck-Kühne (1904a), S. 163.
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fasste auch eine geistige Mutterschaft. Nach dieser konnten auch unverheiratete Frauen im Berufsleben und durch Bildung einen Lebenszweck finden. Für Gnauck-Kühne machte ihre statistische Auswertung deutlich, dass auch verheiratete Frauen und Mütter sich darauf einstellen mussten, erwerbstätig zu sein. Sie ging davon aus, dass diese unfreiwillig und ein gesellschaftlich notwendiges Übel war und zu einer Zerrissenheit der Frauen zwischen Beruf und Mutterschaft führte. Wenn die Frau ihren Schwerpunkt im Erwerbsleben habe, könne sie „die große Aufgabe der Mutterschaft und Mütterlichkeit“, die im Hausmutterberuf zum Ausdruck komme, nicht erfüllen. Sie sei deshalb „immer mit geteilten Gefühlen erwerbstätig“.336 Bis zu diesem Punkt konnten sich auch konservativer katholische Gelehrte wie Joseph Mausbach (1861–1931) ihrer Analyse der Lebensverhältnisse von Frauen anschließen; der Unterschied zeigte sich in den Schlussfolgerungen. Denn Gnauck-Kühne, wie auch andere Frauenrechtlerinnen, gab auf die „dualistische Frage“, also die Zerrissenheit der Frauen zwischen Beruf und Mutterschaft, eine dualistische Antwort: Sie betonte die Notwendigkeit, alle Frauen sowohl zu erwerbsmäßiger Arbeit als auch zum Ehe- und Mutterberuf bestmöglich auszubilden. Die Antwort Mausbachs blieb dagegen eindimensional, denn sein Konzept weiblicher Bildung orientierte sich nahezu ausschließlich an seinem hausmütterlichen Frauenbild.337 Im Kapitel über den „Wettbewerb zwischen Mann und Frau“ befasste sich Gnauck-Kühne mit der Frage, wie es mit der gesellschaftlichen Anerkennung, dem Status der Frauenerwerbsarbeit aussieht. Mit einem historischen Rückblick auf die Entwicklung der Frauenarbeit und einer Vielzahl statistischer Tabellen zeigte Gnauck-Kühne, dass sich zwar die Stellung der Frauen im Produktionsprozess sowie die gesellschaftlichen Vorstellungen über die Erwerbsarbeit von Frauen verändert haben, die geschlechtsspezifische hierarchische Arbeitsteilung jedoch gleichgeblieben sind. Immer noch gelte der Mann als Maßstab und die Frau als die Abweichung, als das inferiore Geschlecht. Im Erwerbsleben schnitten Frauen in der Konkurrenz zu Männern immer schlechter ab; die weibliche Erwerbstätigkeit sei überwiegend ungelernte Arbeit und ihr werde gesellschaftlich keine Bedeutung zugemessen. Die Hauptursache für die Schlechterststellung der Frauen in der Erwerbswelt sah Gnauck-Kühne im unterschiedlichen Stellenwert, den die Erwerbsarbeit im Leben der Frauen und der Männer hatte: Während das Leben der Männer sich nach dieser ausrichtete, werde die Lebensplanung der Frauen von Ehe und Mutterschaft dominiert.338 Für Gnauck-Kühne waren Erwerbsberuf und Hausfrauenberuf gleichwertig. Die grundsätzliche Frage war ihres Erachtens nicht, ob Frauen dasselbe leisten konnten wie Männer, sondern ob sie es überhaupt tun sollten. Die statistischen Ergebnisse, die sinkende Erwerbskurve der Frauen nach der Heirat interpretierte Gnauck-Kühne als empirischen Beleg 336 Gnauck-Kühne (1904a), S. 126. 337 Hafner (1983), S. 306. Siehe auch Gnauck-Kühne (1904a), S. 132 und S. 137; Mausbach (1911). 338 Gnauck-Kühne (1904a), S. 113f..
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dafür, dass die Entscheidung der Frauen für oder gegen Erwerbsarbeit weniger rational, sondern instinktgeleitet getroffen werde: „Die Statistik hat uns gezeigt, dass der Mutterinstinkt des weiblichen Geschlechts sich dafür entscheidet, das Seine zu tun. Er wählt den Hausmutterberuf. (…) Zu diesem Opfer zwingt sie keine äußere Gewalt, kein brutaler Geschlechtsegoismus der Männer, sondern der nicht irrende Mutterinstinkt.“339
Gnauck-Kühne wertete dies als vernünftige Entscheidung, denn so lange Frauen für familiale Arbeit allein zuständig seien, so lange wäre die Erwerbstätigkeit eine zusätzliche Belastung und würde bedeuten, „die Kerze an beiden Enden an[zu]zünden“.340 Was die Erwerbstätigkeit selbst betraf, vertrat Gnauck-Kühne die Position, dass Frauen wie Männer das gleiche Recht zur Arbeit, nicht aber das Recht zur gleichen Arbeit hätten; damit grenzte sie sich von den Forderungen der radikal-bürgerlichen Frauenbewegung ab. Sie ging außerdem davon aus, dass Frauen (als Gruppe) Männern im beruflichen Wettbewerb in der Regel unterlegen seien. Der Beruf des Damenschneiders oder des Kochs zeigte für Gnauck-Kühne, dass Frauen nicht in der Lage seien, ihre ursprünglichen Arbeitsbereiche zu behaupten. Während sich die Betätigung von Männern in Frauenberufen nur auf die Frauen negativ auswirke, bewirke das Eindringen von Frauen in männliche Arbeitsbereiche, dass sich die Lage für beide verschlechtere. Gnauck-Kühne empörte sich gleichzeitig darüber, dass die Fabrikarbeiterinnen als „Schmutzkonkurrenz“ diffamiert wurden341, denn dies entwarf ihrer Meinung ein falsches Bild der Realität und machte Opfer zu Täterinnen. Als Konkurrenz könnten Frauen nicht bezeichnet werden, da sie in einer viel zu schlechten Position seien. Sie „konkurrieren nicht mit den Männern“, so Gnauck-Kühne, sondern würden sie unterbieten: „Gleiche Arbeit für weniger Lohn, heißt unterbieten. Schwäche ist es, nicht Kraft, die solches Vorgehen diktiert.“342 Als Lösung schlug Gnauck-Kühne die staatliche Einrichtung von Zünften als Schutzorganisationen für weibliche Arbeitsbereiche vor. Dort müssten Frauen dann nicht mehr mit Männern, sondern nur „mit Ihresgleichen“ konkurrieren.343 Gnauck-Kühnes in Anlehnung an Schmoller entwickelte Idee zeigt, wie sehr sie auf den Einfluss und die Machtbefugnisse des Staates setzte und diese überschätzte.344 Ihre Forderung, alle weiblichen Erwerbstätigen zwangsweise in staatlich organisierten „weiblichen Zünften“ zu erfassen, stieß bei Frauenrechtlerinnen und Nationalökonomen auf Widerspruch. Elisabeth Altmann-Gottheiner konnte dieser Forderung nur „kopfschüttelnd gegenüberstehen“: Sie bewirke nicht die Stärkung der Selbstbehauptung der Frauen und eine Hebung des Vertrauens in die eigene
339 340 341 342 343 344
Gnauck-Kühne (1904a), S. 116f. Gnauck-Kühne (1904a), S. 117. Gnauck-Kühne (1904a), S. 130. Gnauck-Kühne (1904a), S. 120. Gnauck-Kühne (1904a), S. 128f. Vgl. Seibt (1904), S. 802.
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Kraft; nur auf Schutz und nicht auf unterstützende Hilfe zu setzen, würde dazu führen, dass die eigene Schwäche nie überwunden werde.345 Auch Franz Oppenheimer (1864–1943) hielt diesen Vorschlag für problematisch und unrealisierbar.346 Ein Schwerpunkt der Studie lag auf der Forderung nach der gesellschaftlichen Anerkennung von Hausarbeit und familialer Arbeit als Beruf. Gnauck-Kühne führte daher den von ihr geschaffenen Begriff „des Eheberufs“ ein, der sonst in statistischen Erhebungen nicht verwendet wurde.347 Dabei ging es ihr nicht um Lohn für Hausarbeit, wie ihn Marianne Weber forderte, sondern um die Berücksichtigung nicht erwerbstätiger Hausfrauen in der Gruppe der „Erwerbslos-Produktiven“ innerhalb der Berufsstatistik348; Gnauck-Kühne erhoffte sich davon die gesellschaftliche Aufwertung der Hausarbeit und der familialen Arbeit. In den dadurch gewonnenen statistischen Daten sah sie eine Argumentationsgrundlage für weitergehende Forderungen nach hauswirtschaftlicher Ausbildung und Schulung (auch) für den Privathaushalt. Dies entsprach den Anliegen und der Arbeit der Hausfrauenvereine und den von Ida von Kortzfleisch gegründeten landwirtschaftlichen Frauenschulen. 2.2.3.2 Rezension und Rezeption „Die deutsche Frau um die Jahrhundertwende“ war, wie bereits erwähnt, GnauckKühnes Patengeschenk zur Gründung des KFB. Ihr Konzept von Mütterlichkeit und Weiblichkeit wurde zu einem wichtigen und beständigen Leitbild der katholischen Frauenverbände.349 Das Buch stieß aber auch außerhalb katholischer Kreise auf große Resonanz; das zeigen sein buchhändlerischer Erfolg und die umfangreichen, sowohl nationalen als auch internationalen Rezensionen und Diskussionen in nationalökonomischen Fachzeitschriften, Zeitschriften der Frauenbewegung und der Tagespresse. Alle drei Auflagen der Studie waren schnell vergriffen. In der zweiten, überarbeiteten Auflage von 1907 hatte Gnauck-Kühne die Ergebnisse der Volkszählung des Jahres 1905 eingearbeitet. Nach der dritten, unveränderten Auflage 1914 gab es keine weiteren Neuauflagen, denn nach der Betriebszählung von 1907 hätte die Studie grundlegend überarbeitet werden müssen, da die Zählungen von 1895 und 1907 von unterschiedlichen Variablen ausgegangen waren. Das war Gnauck-Kühne jedoch zu aufwendig. Besprochen wurde die Studie von exponierten Vertreterinnen der Frauenbewegung, von evangelischen Theologen und Kirchenhistorikern wie Adolf von Harnack (1851–1930), katholischen Theologen, Politikern und Schriftstellern wie 345 346 347 348 349
Altmann-Gottheiner (1904), S. 556; siehe auch Altmann-Gottheiner (1905), S. 728f. Oppenheimer (1904); siehe auch Schmidt (1907), S. 701. Altmann-Gottheiner (1904), S. 349. Gnauck-Kühne (1915h), S. 295. Dauzenroth (1964) wählte sie deshalb für seine Quellentextsammlung aus.
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Joseph Mausbach und Wilhelm Liese (1876–1956), von Bildungsexperten wie Jakob Wychgram (1858–1927) und von renommierten Nationalökonomen wie Gustav Seibt (18??–19??) und Franz Oppenheimer.350 Die männlichen Experten fanden Gnauck-Kühnes Argumentation überzeugend und äußerten sich anerkennend über den umsichtigen und geschickten Umgang mit dem statistischen Material. Übereinstimmend strichen sie die stilistische Qualität der Studie heraus, die – wie es Oppenheimer bezeichnete – „prächtige, warmherzige Darstellung bei voller wissenschaftlicher Beherrschung des Stoffs“. Für ihn gab es nur wenige Volkswirte, „die der Dürre der statistischen Zahlen so viele lebendige und interessante Aufschlüsse abzugewinnen verstehen“.351 Gnauck-Kühnes Umgang mit statistischen Daten war methodisch gründlich und gleichzeitig kreativ. Durch andere und wechselnde Perspektiven kam sie vielfach zu ganz anderen Ergebnissen, als es der erste Blick auf die statistische Tabellen vermuten ließ.352 Durch die anschauliche und populäre Darstellung der statistischen Ergebnisse in Diagrammen und Kurven gelinge es Gnauck-Kühne – so die Meinung vieler RezensentInnen –, auch komplexere Zusammenhänge wie die dualistische Struktur weiblicher Erwerbsbiographien sichtbar und auch für nichtwissenschaftliche Kreise nachvollziehbar zu machen. Durch ihren Stil werde „die trockene Zahl“ zum „Kunstwerk“, aus „den Spalten der Statistik“ steige „wirkliches Leben“, und es entstehe, „wie auf einer Theaterbühne, die beleuchtete Welt, und die Figuren kommen eine nach der andern aus den Kulissen hervor“. Dadurch gewinne man den Eindruck: „Wir sehen sie. Wir sprechen mit ihnen. Ja, so sind sie gekleidet; so geben sie sich; so denken und empfinden sie.“353 Für viele RezensentInnen war es die bedeutendste Arbeit Gnauck-Kühnes. Dabei spielte es keine Rolle, ob sie den Thesen Gnauck-Kühnes zustimmten oder sie ablehnten.354 Die Studie wurde als spezifisch weiblicher Beitrag zur Wissenschaft wahrgenommen; sie galt als eines der „wenigen Bücher hohen wissenschaftlichen Ranges, das kein Mann in gleicher Wesenhaftigkeit hätte schreiben können“ und war gleichzeitig ein „gültiger Beweis der Möglichkeit wissenschaftlicher Schöpfung weiblichen Gepräges“.355 Vor allem die Rezensionen von Frauen nahmen neben den statistischen Analysen ausdrücklich auf den „ausgezeichnet zusammenfassenden historischen Teil“ über die Entwicklung der Frauenbewegung seit dem 18. Jahrhundert Bezug.356 Das Buch wurde von den führenden Ver350 Seibt (1904); Oppenheimer (1904); Gerok (1904); Harnack (1904); Mausbach (1904); Schmidt (1907); Wychgram (1904); Liese (1904). Der promovierte Theologe Wilhelm Liese war bei Erscheinen der Studie einer der engsten Mitarbeiter von Prälat Lorenz Werthmann, dem Gründer des Caritasverbandes. 351 Oppenheimer (1904). 352 Dransfeld (1997[1917]), S 98. 353 Sonnenschein (1910), S. 129f. 354 Siehe z. B. Simon, Helene (1928a), S. 227. Für Huppert (1904) war es Gnauck-Kühnes bedeutendstes Buch und gleichzeitig „ein Markstein in der Literatur der Frauenbewegung“. 355 Huppert (1904). 356 Bäumer (1905), S. 828.
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treterinnen der verschiedenen Richtungen der Frauenbewegung ausführlich besprochen: Elisabeth Altmann-Gottheiner und Gertrud Bäumer (liberale gemäßigtbürgerliche Frauenbewegung), Anita Augspurg (radikal-bürgerliche Frauenbewegung), Lily Braun (sozialistische Frauenbewegung), E. M. Hamann (katholische Frauenbewegung) und Elisabeth Malo, Gnauck-Kühnes ehemaliger Kontrahentin in der Evangelisch-sozialen Frauengruppe.357 Die Frauenrechtlerinnen unterstrichen den bleibenden Wert der Studie, die klare und sorgsame Verarbeitung der Statistik, den großzügigen Aufbau und die wissenschaftliche Analyse. Kritik übten sie vor allem an den Lösungsvorschlägen Gnauck-Kühnes zur Frauenfrage und ihrer Idealisierung des katholischen Klosterlebens. Gnauck-Kühne idealisierte das Modell des Klosters als eine Gemeinschafts- und GenossenschaftsUnternehmung, die unverheirateten Frauen einen vollwertigen Familienersatz bieten könne.358 Dabei blende sie, wie kritisch bemerkt wurde, vollständig aus, dass hinter der Institution des Klosters der Klerus und damit die „furchtbarste Männerherrschaft, die ganze Autorität der katholischen Kirche“ stehe, „die nicht Freiheit für die Frau, sondern unbedingte Unterwerfung“ bedeute.359 (Altmann-) Gottheiner und Braun hielten Gnauck-Kühnes „Gedanke, die Frauenfrage dadurch zu lösen, dass man alle überzähligen Frauen ins Kloster steckt“, für indiskutabel.360 Sie und Braun kritisierten außerdem Gnauck-Kühnes Überhöhung der „Mütterlichkeit“, ihre Idealisierung der lebenslangen Einehe, mit der sie sich gegen die Vorstellungen von Gleichheit (der radikal-bürgerlichen Frauenbewegung und der sogenannten „Neuen Ethik“) abgrenzte, sowie Gnauck-Kühnes These, dass Frauen sich mit der Eheschließung bewusst für den Hausfrauenberuf entschieden. Braun, die kurz zuvor selbst ein Standartwerk zur Frauenfrage veröffentlicht hatte,361 ärgerte sich darüber, dass Gnauck-Kühne die Verdienste der Sozialisten in der Frauenfrage in der Arbeit ausblendete. Mit Gnauck-Kühnes Konzeption eines Hausmutterberufs konnte Braun nichts anfangen. Sie bemerkte deshalb spitz: „Das Kloster und die Ehe – so löst Frau Gnauck die Frauenfrage, und preist die lebenslange Einehe, als wäre sie Schutz und Hort der Frauen. Auch hier verschließt sie die Augen vor der Wirklichkeit: In der bürgerlichen Welt wird die Ehe immer mehr zum Geschäft und in Proletarierkreisen wird ihr Glück nur zu oft durch die Not zerstört. (…) Nebenbei bemerkt: den Hausmutterberuf ‚wählt‘ keine Frau, wenn sie heiratet. Sie wählt, sofern sie sich nicht wie eine Prostituierte verkauft, nur den Mann, den sie liebt, und die Gemeinschaft mit ihm. Manch Eine denkt dabei vielleicht auch des Kindes und ersehnt es, aber dass sie der Arbeit der Haus-
357 Siehe z. B. Altmann-Gottheiner (1904); Altmann-Gottheiner (1905); Augspurg (1904); Bäumer (1905); Braun (1904); Hamann (1904); Malo (1904a; 1904b; 1905b). 358 Zur Idealisierung des Klosterlebens siehe z. B. Gnauck-Kühne (1904a), S. 155f. Zum Versuch, die Klostertradition mit der Frauenbewegung zu verknüpfen, siehe Lion (1926), S. 118. 359 So der evangelische Stuttgarter Stadtpfarrer Gustav Gerok (1845–1929) in seiner Rezension. 360 Altmann-Gottheiner (1905), S 728f.; Altmann-Gottheiner (1904); Braun (1904). 361 Siehe Braun (1901).
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II Die Autodidaktinnen frau dabei dächte oder sie gar als das Wünschenswerte ansieht, dürfte doch nur in sehr seltenen Fällen vorkommen.“362
Trotz der Kritik war „Die deutsche Frau um die Jahrhundertwende“ ein Schlüsselwerk zur Frauenfrage, auf das sich Vertreterinnen der Frauenbewegung richtungsübergreifend in ihrer Argumentation stützten.363 Auf der großen Ausstellung „Die Frau in Haus und Beruf“ der Frauenbewegungsverbände im Jahr 1912 wurden Tabellen und Diagramme und die Gegenüberstellung der Heirats- und Erwerbskurve aus Gnauck-Kühnes Studie präsentiert. Nach dem Ende der Ausstellung erwarb das Soziale Museum in Budapest die Ausstellungstafeln.364 „Die deutsche Frau um die Jahrhundertwende“ förderte Gnauck-Kühnes internationales Renommee und ihren Ruf als „größte Autorität in der Frauenfrage“.365 Die englische Nationalökonomin und Mitglied der Fabian Society Beatrice Leigh Hutchins (1858–1935) belegte durch ihre Auswertung der englischen amtlichen Statistik die internationale Gültigkeit der Dualismus-These von GnauckKühne.366 Hutchins übersetzte dabei „Dualismus“ mit „Spalte“ (cleft). GnauckKühne griff diese Übersetzung in späteren Artikeln auf, so z. B. in ihrem Essay „Die Frau in der Statistik“ (1914), der auf einer Auswertung der Ergebnisse der Berufs- und Gewerbezählung von 1907 und der Volkszählung von 1910 basierte, und in dem sie ihre Dualismus-These zuspitzte. An Hutchins Übersetzung anknüpfend, ersetzte Gnauck-Kühne die „dualistische Spaltung“ durch den Begriff der „Zwiespältigkeit“, der die aufreibende Belastung der erwerbstätigen Frauen stärker betonte. Der „Dualismus des Frauenlebens“ führte für Gnauck-Kühne zur „Zerrissenheit“ der Frauen zwischen Ehe oder Beruf. Die Doppelbelastung der erwerbstätigen Ehefrau veranschaulichte sie mit dem Bild einer an beiden Enden brennenden Kerze.367 Gnauck-Kühne verwendete nicht nur Statistiken für ihre wissenschaftliche Arbeit, sondern setzte sich auch für die bessere statistische Erfassung der beruflichen und sozialen Situation der Frauen ein. Denn die Berufs- und Volkszählungen belegten zwar die Zunahme der Frauenerwerbsarbeit, waren aber sonst zu ungenau und nicht aussagekräftig genug. Das lag zum Teil an der Definition des Erhebungsmerkmals Beruf. Das Hauptkriterium von Beruf war der Erwerb bzw. Lohn. Haus- und Sorgearbeit, so die heutigen Begriffe, galten und gelten als volkswirtschaftlich unproduktive Arbeit und wurden von den Berufsstatistiken nicht erfasst. Gnauck-Kühne setzte auf eine Erweiterung der Berufsstatistik um den „Hausmutterberuf“ oder „Eheberuf“, wie sie es nannte. Dadurch sollte die Arbeit der Haus-
362 Braun (1904). 363 So beispielsweise Gertrud Bäumer bei ihrem Vortrag auf der Tagung des ESK, siehe Bäumer (1906) S. 122; siehe auch Bäumer (1917), S. 507. 364 Seibt (1904), S. 801; Simon, Helene (1928a), S. 234f. 365 Simon, Helene (1928a), S. 234. 366 Hutchins (1909), S. 236. 367 Gnauck-Kühne (1910b), S. 60; Gnauck-Kühne (1914b), S. 2.
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frauen und Mütter als Produzentinnen und Konsumentinnen in der Volkswirtschaft sichtbar gemacht und gesellschaftlich anerkannt werden. Die statistische Berücksichtigung der Hausfrauentätigkeit gehörte seit der Berufszählung von 1895 zu den Forderungen der Frauenbewegung. Gnauck-Kühne machte um 1905 eine Eingabe an das Kaiserliche Statistische Amt, die weit darüber hinausging: Sie forderte, bei der Volkszählung 1910 eine ergänzende reichsweite Erhebung zur sozialen Lage aller Frauen durchzuführen. Zur Eingabe veröffentlichte sie einen Artikel mit dem bezeichnenden Titel „Frauenzählung – nicht Volkszählung. Ein Bittgang zu dem Statistischen Amte des Deutschen Reiches“ (1907). Sie entwickelte außerdem ein Konzept für eine solche „Frauenzählung“. Gustav Schmoller, mit dem sie ihren Plan diskutierte, aber auch Expertinnen wie Josephine Levy-Rathenau aus dem Frauenberufsamt des BDF hielten GnauckKühnes Idee für utopisch und wiegelten eine weitere Diskussion mit Hinweis „unbezahlbar!“ ab.368 Levy-Rathenau und Gauck-Kühne blieben in Verbindung; aus ihrem Briefwechsel entstand Anfang 1914 die Idee zu einem kleineren Projekt, das sich leichter realisieren ließ und finanzierbar war. Sie planten eine Kommission des Frauenberufsamtes des BDF zu bilden, die eine Petition an das Reichsamt des Inneren und einen Fragebogen zur Frauenberufsarbeit ausarbeiten sollte.369 Nachdem der Plan durch den Kriegsausbruch unterbrochen wurde, arbeiteten Gnauck-Kühne und Levy-Rathenau noch einige Zeit alleine weiter. Sie diskutierten über die Klassifizierung der Tätigkeiten der Hausfrauen, die genaue Definition der Berufsgruppe, den Fragenkatalog370 und wie vermieden werden konnte, dass Hausfrauen mit Erwerb doppelt erfasst würden. Nach den ersten Kriegserfahrungen war vor allem Gnauck-Kühne noch mehr davon überzeugt, dass eine systematische Schulung für die Hausarbeit eingeführt und die Hausfrauentätigkeit als Beruf ausgestaltet werden müsse. Sie investierte viel Energie in die geplante Petition und verfasste zwei Artikel über die „Stellung der Hausmutter“ (1915) und „Das weibliche Geschlecht in der Berufsstatistik des deutschen Reichs“ (1915), die als Diskussionsgrundlage für die Kommission gedacht waren, die während des Krieges aber nicht mehr tagte.
368 Schmoller an Gnauck-Kühne am 12. Dezember 1907, in: Simon, Helene (1929), S. 99; LevyRathenau (1920), S. 71. 369 Zu den Briefen von Levy-Rathenau an Gnauck-Kühne siehe Simon, Helene (1929), S. 99– 111. 370 Gnauck-Kühne (1915g), S. 67. Bei der Erhebung sollte festgestellt werden: Alter, Familienstand, Schulbildung, Beruf des Vaters, Beruf des Gatten, Zahl der Kinder, sonstige Haushaltsangehörige (Kostgänger, Schlafgänger, Gehilfen, Sommerfremde, Pensionäre, Zöglinge, Dienstboten, Hausbeamtinnen). Die Art der erwerbslosen Tätigkeit im Haus und außer Haus. Wie viel Zeit nimmt sie in Anspruch? Vorhandene oder fehlende Vorbildung für die erwerbslose Tätigkeit? Wie lange hat die Vorbildung gedauert? Wie viel hat sie gekostet? Welche Arbeit ist gelernt? Ist die erwerbslose Tätigkeit vor/in/nach der Ehe verübt worden? LevyRathenau fand das zu viel und zu privat und ging davon aus, dass das niemand beantworten werde.
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Levy-Rathenau griff nach dem Tod Gnauck-Kühnes – als Ausdruck der Wertschätzung ihrer Vorarbeiten –den Plan im Frauenberufsamt des BDF nach Kriegsende wieder auf. Bei der Berufs- und Betriebszählung vom 6. Juni 1925 wurde erstmals in der Gruppe der Angehörigen die „Ehefrauen ohne Haupterwerb“ getrennt erfasst.371 Für Gnauck-Kühne, die gefordert hatte, die „Nur-Hausfrauen“ als eigene Gruppe der „Konsumleiterinnen und Erwerbslos-Produktiven“ geführt werden, war dies posthum ein Teilerfolg.
2.2.4 Das weitere publizistische Werk Elisabeth Gnauck-Kühne verfasste eine Vielzahl von Abhandlungen und Artikel zu sozial- und bildungspolitischen Themen, zur Frauenfrage und Frauenbewegung. Viele ihrer Bücher und Schriften wurden Verkaufserfolge und erreichten mehrere Auflagen. Sie veröffentlichte mehrere Artikel und Lehrbücher zur Staatsbürgerkunde, die vor allem für Lehrgänge zur Sozialen Arbeit verwendet werden sollten. Schon ihre „Einführung in die Arbeiterinnenfrage“ (1905) war als Richtlinie und Handlungsanleitung für die Soziale Arbeit der Lehrerinnenvereine und des KFB gedacht. Sehr erfolgreich war ihr Lehrbuch „Das soziale Gemeinschaftsleben im Deutschen Reich. Leitfaden für Wirtschafts- und Bürgerkunde“ (1909). Das Lehrbuch wurde für den Unterricht bei sozialen Einführungskursen, Oberlyzeen und wirtschaftlichen Frauenschulen verwendet und basierte auf dem volkswirtschaftlichen Kurs, den Gnauck-Kühne bei den sozial-karitativen Lehrgängen des KFB in München in den Jahren 1904 und 1905 gehalten hat. Die erste Auflage von 1.000 Exemplaren war schon nach wenigen Tagen vergriffen, nach sechs Monaten waren 4.000 Exemplare verkauft, bis 1915 erreichte das Lehrbuch zwanzig Auflagen, bis 1928 weitere neun überarbeitete und erweiterte Ausgaben mit insgesamt über fünfzig Auflagen.372 Gnauck-Kühne war die erste, die in ihrem Lehrbuch Volkswirtschaftslehre und Bürgerkunde verband, denn als „erfahrener Pädagogin erschien ihr Bürgerkunde allein ein Unding als Lehrstoff für die weibliche Jugend“.373 Ihr Leitfaden galt als eines der methodisch besten bürgerkundlichen Lehrbücher von Frauen374, die um 1910 erschienen. Zu diesen gehörten auch Alice Salomons und Margarete Treuges „Einführung in die Volkswirtschaftslehre“ (1909) und Elly HeussKnapps „Bürgerkunde und Volkswirtschaftslehre für Frauen“ (1910). Die Lehr-
371 Simon, Helene (1929), S. 112. 372 Der Untertitel des Lehrbuchs änderte sich mit den Auflagen: 1909: Leitfaden der Volkswirtschaftslehre und Bürgerkunde in sozialgeschichtlichem Aufbau für höhere Schulen und zum Selbstunterricht; ab 1918: Leitfaden der Wirtschafts- und Bürgerkunde für höhere Schulen, Kurse und zum Selbstunterricht. 373 Eckert (1912), S. 1352. 374 Bäumer (1917), S. 507; siehe auch die Besprechung von Gräf (1918).
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bücher entstanden nach dem preußischen Erlass vom 18. August 1908 zur höheren Mädchenbildung, der Bürgerkunde und Volkswirtschaft als obligatorische Fächer im Lehrplan vorschrieb und verbindliche Richtlinien für den Unterricht des Faches festlegte.375 Nationalökonomie und Bürgerkunde zählten auch zu den grundlegenden Fächern der sozialen Bildung, mit denen die Voraussetzungen für soziales Denken vermittelt werden sollte. Mit ihren Lehrbüchern konnten GnauckKühne, Salomon, die Leiterin der Sozialen Frauenschule Berlin, und HeussKnapp (1881–1952), eine liberale, in protestantischen Kreisen aktive Sozialreformerin, Einfluss auf die Ausgestaltung des Unterrichts nehmen. Sie maßen der Volkswirtschaftslehre als Fach große Bedeutung bei, denn sie gingen davon aus, dass aus der Kenntnis der volkswirtschaftlichen Zusammenhänge die Bereitschaft folgte, sich sozial zu engagieren oder zumindest soziale Ungerechtigkeiten zu reflektieren.376 Wie Salomon und Heuss-Knapp begann Gnauck-Kühne ihr Lehrbuch mit einem sozialgeschichtlichen Rückblick in die Wirtschaftsgeschichte. In Anlehnung an Schmoller erklärte sie zunächst die drei „Wirtschaftsstufen“ („geschlossene Hauswirtschaft“, „Eigenwirtschaft“, „Stadtwirtschaft“); darauf aufbauend erläuterte sie die Entstehung des modernen Wirtschaftslebens und wie sich der mit der Industrialisierung einhergehende wirtschaftliche und soziale Wandel in den verschiedenen wirtschaftlichen Sektoren ausgewirkt hatte. Vor diesem Hintergrund erörterte sie anschließend in gesonderten Kapiteln die Entstehung der sozialen Frage, der Arbeiterfrage und des Sozialismus, der Sozialreform, der Selbsthilfe durch Organisation, der Agrarfrage, der Mittelstandsfragen, der Frauenfrage, der Versicherungsgesetzgebung und Wohlfahrtspflege sowie der öffentlichen und privaten Fürsorge. In drei weiteren Kapiteln behandelte sie staatsbürgerliches Grundwissen über „Das Deutsche Reich“, „Die Rechtspflege“ und „De[n] Staat“. Für Gertrud Bäumer war Gnauck-Kühnes Lehrbuch „ganz ausgezeichnet, sowohl wissenschaftlich als pädagogisch“. Sie bemängelte aber die „zu stark betonte katholische Tendenz“, die die historische Darstellung einseitig mache.377 Bäumer und andere RezensentInnen machten ihre Kritik, den Vorwurf der katholischen Tendenz, vor allem am Schlusskapitel „Sozial-christliche Bildung“ und an der historischen Darstellung der wirtschaftlichen Entwicklung fest, bei der GnauckKühne, wie schon in „Die deutsche Frau um die Jahrhundertwende“, den Anteil der katholischen Kirche an den mittelalterlichen Städtegründungen in Deutschland ihres Erachtens überbewertete. Sowohl Gnauck-Kühne als auch Helene Simon, Hedwig Dransfeld und der Rektor der Kölner Handelshochschule Christian Eckert (1874–1952) wiesen diese Kritik als unberechtigt zurück; Gnauck-Kühnes Ein-
375 Simon, Helene (1929), S. 29f. Zur Popularität und zur zeitgenössischen Resonanz des Lehrbuchs siehe Simon, Helene (1929), S. 33–40; zur Bedeutung des Lehrbuchs für den Unterricht an Frauenschulen vgl. Hoeber (1917), S. 37. 376 Schröder (2001), S. 241. Zum Vergleich der drei Lehrbücher siehe Schröder (2001), S. 238– 250. 377 Bäumer (1909), zitiert nach Simon, Helene (1929), S. 35f.; Bäumer (1917), S. 507.
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schätzung sei durch historische Quellen gerechtfertigt.378 Für Gnauck-Kühne kam in der Kritik Bäumers die protestantische „Voreingenommenheit“ zum Ausdruck, „mit der fast jedes Buch katholischer Herkunft, gleichviel wovon es handelt, durch den Vorwurf tendenziöser Mache weiteren Kreisen verleidet wird“; dadurch würden „günstige Gelegenheiten zu gegenseitigem Verstehen vernichtet“.379 Ihre Darstellung entspreche der gängigen wissenschaftlichen Vorgehensweise und sei im Sinne des historisch-ethischen Vorgehens von Schmoller. Gnauck-Kühne betrachtete ihre historische Analyse als eine Korrektur der hegemonialen, ihres Erachtens protestantisch dominierten Geschichtsdarstellung, die die Rolle der Kirchen und Klöster in der Wirtschaftsgeschichte Deutschlands nicht berücksichtige. Ein Thema, für das sich Gnauck-Kühne seit Beginn der 1890er Jahre einsetzte, und das sie vor allem mit Ida von Kortzfleisch verband, war die gesellschaftliche Höherbewertung und volkswirtschaftliche Anerkennung der Hausarbeit, die sie mit der Einführung eines „weiblichen Dienstjahrs“, d. h. einer obligatorischen systematischen Schulung von Frauen für häusliche Pflichten, erreichen wollten.380 Schon in ihrer Rede auf dem ESK wies Gnauck-Kühne auf Kortzfleischs Plan, solche hauswirtschaftlichen Schulungskurse einzurichten, hin. Über die Einführung eines weiblichen Dienstjahrs gab es eine größere Debatte in der Frauenbewegung und unterschiedliche Vorstellungen über dessen Ausgestaltung. GnauckKühne und Kortzfleisch propagierten es als Maßnahme zur Erhaltung der Familie und legten den Fokus auf die Ausbildung in hauswirtschaftlichen Pflichten. Wie bei ihren anderen Texten zur Frauenfrage hat Gnauck-Kühne bei diesem Thema ihre früheren Thesen nach 1904 lediglich weiter ausgearbeitet oder neu akzentuiert. Von der Idee eines weiblichen Dienstjahrs scheint sie so fasziniert zu sein, dass sie ihre Vorstellungen bis in die Einzelheiten der Organisation ausgearbeitet hat. Ihre umfangreichste Abhandlung zu diesem Thema erschien 1915 im renommierten Tübinger Verlag Mohr.381 Zu diesem Zeitpunkt erlebte das Thema gerade eine Konjunktur. Durch den Ersten Weltkrieg und der damit einhergehenden Militarisierung des Denkens schien die Idee einer hauswirtschaftlichen Grundausbildung der Frauen gerade auch im Hinblick auf die Versorgungslage eine zusätzliche Plausibilität zu erhalten. Gnauck-Kühne hatte schon vor dem Krieg, auf dem Deutschen Frauenkongress in Berlin 1912, ihr Konzept eines weiblichen Dienstjahrs vorgestellt. Es konzentrierte sich auf den Ausbau eines obligatorischen theoretischen und praktischen Haushaltungsunterrichts an Schulen, der die gesamte Schulzeit der Mädchen aller Schichten umfassen sollte.
378 Vgl. Simon, Helene (1929), S. 35–40. Das letzte Kapitel „Sozial-christliche Bildung“ entfiel in späteren Auflagen. 379 Gnauck-Kühne (1909e); siehe auch Gnauck-Kühne (1909f). 380 Kortzfleisch an Gnauck-Kühne am 16. Juli 1894, in: Simon, Helene (1929), S. 274. 381 Simon, Helene (1929), S. 60; siehe Hoeber (1917), S. 80–84. Zur Debatte über das weibliche Dienstjahr siehe z. B. Zahn-Harnack (1928), S. 228–236.
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Gnauck-Kühne wollte das Abgangszeugnis sogar zu einem erforderlichen „Befähigungsnachweis“ für die standesamtliche Eheschließung machen.382 Sowohl katholische Kreise als auch Frauenrechtlerinnen wie Helene Lange lehnten, wenn auch aus unterschiedlichen Gründen, Gnauck-Kühnes Forderung ab, die Mädchen während des Dienstjahrs zwangsweise in Internaten unterzubringen.383 Das 1912 vom BDF beschlossene Konzept des weiblichen Dienstjahrs zeigt, wie sehr sich Gnauck-Kühnes Vorstellungen von denen des BDF unterschieden. Der Akzent des Konzepts des BDF lag auf einer wohlfahrtspflegerischen Ausbildung im Rahmen Sozialer Frauenschulen und nicht auf der Ausbildung für den häuslichen Bereich, wie bei Gnauck-Kühne. Die Zielgruppe des eigentlichen Dienstjahrs waren beim BDF höher gebildete Mädchen; Mädchen mit Volksschulabschluss sollten eine dem Dienstjahr gleichzustellende obligatorische hauswirtschaftliche Ausbildung erhalten.384 Elisabeth Gnauck-Kühnes Artikel über das Frauenstimmrecht dokumentieren, wie sich ihre Haltung in dieser Frage mit den Jahren sukzessive veränderte.385 1893 lehnte sie das Frauenstimmrecht mit dem Zerrbild der „politisierenden Mutter“ ab.386 Die Teilnahme am politischen Kampf gefährdete ihres Erachtens die Sittlichkeit der Frauen. Vier Jahre später befürwortete sie zwar das aktive Wahlrecht für Frauen, das sich für sie aus der Mutterschaft legitimierte, das passive Wahlrecht für Frauen lehnte sie aber weiter ab, mit der Begründung, politische Arbeit und Abgeordnetentätigkeit erfordere eine lange Abwesenheit von zu Hause und widerspreche deshalb den „Mutterpflichten“ der Frauen.387 Als das Vereinsgesetz von 1908 die politische Entmündigung der Frauen beendete und die Mitarbeit von Frauen in politischen Vereinen nicht mehr verboten war, forderte Gnauck-Kühne ein Umdenken der christlichen Kirchen bei der Wahlrechtsfrage und das aktive und passive Stimmrecht für Frauen.388 GnauckKühnes Artikel in der „Kölnischen Volkszeitung“ und in „Die christliche Frau“ waren zugleich die ersten deutlichen Stellungnahmen einer Akteurin der katholischen Frauenbewegung für das Frauenstimmrecht.389 Bei ihrer Forderung wurde sie von den Herausgeberinnen der Zeitschrift unterstützt. Die Stimmrechtsforderung begründete Gnauck-Kühne mit der karitativen Arbeit der Frauen; das Stimmrecht war für sie, wie für die Vertreterinnen der bürgerlich-gemäßigten Frauenbewegung, Bestandteil der weiblichen Kulturaufgabe, und wie diese ging sie davon 382 Zum Vortrag siehe Gnauck-Kühne (1912a); siehe auch die Besprechung des Vortrags in Hochland, 9. Jg., Bd. 2, Mai 1912, S. 243–246. 383 Altmann-Gottheiner (1917), S. 61; Baadte (1979), S. 120; Lange, Helene (1913); vgl. Hafner (1983), S. 337f. Zu Gnauck-Kühnes Idee der Internatsunterbringung siehe Gnauck-Kühne (1916g), S. 479; Gnauck-Kühne (1916f). 384 Schaser (2000a), S. 152. 385 Vgl. Hoeber (1917), S. 66 und S. 78ff.; Simon, Helene (1928a), S. 242–246. 386 Simon, Helene (1928a), S. 51f. 387 Gnauck-Kühne (1902a). 388 Gnauck-Kühne (1908f). 389 Baumann, Ursula (1992b), S. 193f.
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aus, dass die Belange der Frauen nur von Frauen wahrgenommen werden könnten. Gnauck-Kühnes Stellungnahme führte zu einer größeren publizistischen Auseinandersetzung mit Kirchenvertretern, denn aus deren Sicht ließ sich die politische Emanzipation der Frau mit der Kirchenlehre nicht vereinbaren.390 Elisabeth Gnauck-Kühne wollte mit ihren Anliegen eine möglichst breite Leserschaft erreichen. Durch ihren metaphorischen Schreibstil und die Veranschaulichung komplexer Zusammenhänge durch Alltagsbeispiele gelang ihr auch in ihren wissenschaftlichen Arbeiten eine allgemeinverständliche Darstellung soziologischer und volkswirtschaftlicher Fragen. Von ihren ZeitgenossInnen wurde wiederholt auf Gnauck-Kühnes doppelte Begabung als Soziologin und „Dichterin“ hingewiesen.391 Zu den Textgattungen, die sie verwendete, gehörten auch literarische Formen; nach ihrem psychischen Zusammenbruch Mitte der 1890er Jahre verfasste sie eine Vielzahl von Märchen. Diese hatten zum einen wohl eine therapeutische Funktion und waren ein Mittel zur Verarbeitung ihrer Erfahrungen. Mit dieser Textform konnte sie aber auch andere Zielgruppen als mit wissenschaftlichen Studien erreichen. Vor dem eigentlichen Schreibprozess beschäftigte sich Gnauck-Kühne theoretisch mit der Textgattung und mit den Unterschieden zwischen Volksmärchen und Kunstmärchen.392 Ihre Kunstmärchen erreichten eine enorme Auflagenhöhe; die ersten Märchen erschienen in den Jahren von 1897 bis 1900 in Maximilian Hardens (1861– 1927) „Die Zukunft“, einem wichtigen Forum der zeitgenössischen jungen, noch nicht etablierten Literatur. Harden war nicht nur ein Herausgeber Gnauck-Kühnes, sondern auch ein großer Bewunderer ihres schriftstellerischen Talents.393 Mit seiner Unterstützung entstanden zwei Sammelbände mit bereits veröffentlichten Märchen: „Aus Wald und Flur. Märchen für sinnige Leute“ (1900) und die erweiterte Fassung „Goldene Früchte aus dem Märchenland“ (1904), die 1910 bei der Weltausstellung in Brüssel im deutschen Pavillon ausgestellt wurde.394 Viele der Märchen beschäftigen sich mit der sozialen Lage der Frauen und den Problemen, mit denen die nach Bildung und Erwerbsarbeit strebenden Frauen konfrontiert waren. In „Die Nachtigall“ geht es beispielsweise um die Einsamkeit und das (frei gewählte) Zölibat begabter Frauen, das diese zu künstlerischen
390 Gnauck-Kühne (1908h). Die Redaktion der Zeitschrift „Die christliche Frau“ erklärte in einer Fußnote zum Artikel Gnauck-Kühnes, dass sie den Forderungen der Autorin nach politischer Mitarbeit der Frauen zustimme. Zur Auseinandersetzung Gnauck-Kühnes mit Kirchenvertretern siehe Simon, Helene (1928a), S. 244–255 und S. 298. 391 Hoeber (1917), S. 85–102. 392 Gnauck-Kühne (1897b). 393 Maximilian Harden gehörte zu den Förderern von Heinrich (1871–195) und Thomas Mann (1875–1955) und zu den Entdeckern von Hendrik Ibsen (1828–1906). Zu seiner Bewunderung für Gnauck-Kühnes literarischer Begabung siehe Simon, Helene (1928a), S. 149–151. 394 Simon, Helene (1928a), S. 153f. Die zweite Auflage des Buchs mit 15.000 Exemplaren war schnell vergriffen. Eine dritte, überarbeitete Auflage erschien 1927.
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Höchstleistungen veranlasse.395 Ein Sinnbild für das eigene soziale Engagement Gnauck-Kühnes war „Der Weg in den Himmel“, ein Märchen über eine wildwachsende Geraniumpflanze, das in mehreren Zeitschriften abgedruckt wurde. Gnauck-Kühne verklärte darin den humanistischen christlichen Gedanken der Nächstenliebe zum Grundmotiv Sozialer Arbeit. Soziales Engagement bedeutete danach Verzicht im Diesseits und Belohnung im Jenseits. Die Idee zu diesem Märchen war Gnauck-Kühne beim Anblick einer Geranie entstanden, die „aus einem herrlichen Garten in die heiße staubige Straße hinuntergeklettert war“.396 Sie entwickelte daraus die Geschichte einer Geranie, die „sich nicht vor der Hässlichkeit und der Krankheit der Armen fürchtete“ und „die stolzen Gefährten des prachtvollen Parks, in dem es stand“ verließ. Sie „wuchs über die Mauer, um die Mühseligen und Beladenen zu sehen und ihnen Liebe und Freude zu bringen. Und zum Lohne für [ihre] Menschenfreundlichkeit trugen Engel [sie] in der Hand des armen Lazarus ins Paradies“.397
2.2.5 Publikationsorgane Elisabeth Gnauck-Kühne gelang es, sich an sozialpolitischen Diskussionen in renommierten nationalökonomischen Fachzeitschriften, Zeitschriften mit sozialpolitischem Charakter, Kulturzeitschriften, der Frauenbewegungspresse und in anerkannten überregionalen Tageszeitungen zu einem Zeitpunkt zu beteiligen, als Frauen in Deutschland im Pressewesen nur eine unbedeutende Rolle spielten. Sie war mit prominenten Verlegern und Herausgebern wie Friedrich Naumann, Maximilian Harden, Carl Muth, Wilhelm Hohn und Ferdinand Avenarius (1856– 1923) befreundet, die an ihrer Mitarbeit als Autorin, aber auch als Mitherausgeberin interessiert waren. Bei den nationalökonomischen Fachzeitschriften war es vor allem Gustav Schmoller, der mehrere Artikel von Gnauck-Kühne in seinem renommierten „Jahrbuch für Gesetzgebung, Verwaltung und Volkswirtschaft im Deutschen Reich“ veröffentlichte und sie mehrfach aufforderte, Neuerscheinungen für seine Zeitschrift „Soziale Praxis“ zu besprechen.398 Gnauck-Kühne nutzte die Zeitschrift, um sich an sozialpolitischen Diskussionen zum Arbeiterinnenschutz und zur Organisierung von Arbeiterinnen zu beteiligen. Ein Zeichen für die wissenschaftlich-fachliche Anerkennung ihrer statistischen Studien war, dass das „Deutsche Statistische Zentralblatt“ einen Beitrag Gnauck-Kühnes über die unzureichende Erfassung weiblicher Arbeit durch die bestehende Berufsstatistik abge-
395 Gnauck-Kühne an Augustin Rösler am 16. September 1900, in: Simon, Helene (1929), S. 196f. 396 Elisabeth Gnauck-Kühne an Dyhrenfurth am 21. Februar 1897, in: Simon, Helene (1928a), S. 148; Gnauck-Kühne (1897j). Zum Märchen siehe Gnauck-Kühne (1897d; 1899c; 1910l). 397 Hoeber (1917), S. 98. 398 Zu Gnauck-Kühnes Artikel und Buchbesprechungen, die zwischen 1896 und 1910 in Schmollers Jahrbuch erschienen, siehe das Schriftenverzeichnis von Gnauck-Kühne im Anhang.
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druckte.399 Kurz vor ihrem Tode erschien ein von ihr anlässlich des 25-jährigen Jubiläums der Zentralstelle für Volkswohlfahrt verfasster Artikel über „Wohlfahrtspflege, Caritas und soziale Arbeit“ (1917) in den „Jahrbüchern für Nationalökonomie und Statistik“, in dem sie die berufliche Entwicklung der Wohlfahrtspflege untersuchte.400 Vor ihrer Konversion veröffentlichte Gnauck-Kühne hauptsächlich in sozialpolitischen Zeitschriften der evangelisch-sozialen Kreise. Sie war sowohl in Friedrich Naumanns „Die Hilfe“ als auch in seinem zweiten Zeitschriftenprojekt „Die Zeit“ mit Artikeln vertreten.401 Ab Dezember 1897 war sie Redaktionsmitglied der neu eingerichteten Beilage „Frauenarbeit“ der protestantischen „Täglichen Rundschau“.402 Maximilian Harden, der zu Gnauck-Kühne nach ihrer Rede auf dem ESK Kontakt aufgenommen hatte, veröffentlichte nicht nur den überwiegenden Teil ihrer Märchen, sondern auch einige ihrer politischen Artikel.403 Harden war einer der bedeutendsten und einflussreichsten Publizisten des Kaiserreichs und Gründungsmitglied der Nationalsozialen Partei. Seine Wochenschrift „Die Zukunft“ war ein wichtiges Forum für nationale und internationale Literaten, Politiker und Wissenschaftler, Männer wie Frauen. Sie erreichte eine Auflage von bis zu 22.000 Exemplaren und war das meist gelesene politische Kommentarblatt in Deutschland. Nach Gnauck-Kühnes Konfessionswechsel veröffentlichte er noch einen ihrer Artikel über das Frauenwahlrecht, mit dem sie die katholischen Kirchenkreise verärgerte, weil sie sich darin ausdrücklich für das Frauenstimmrecht aussprach.404 Danach brach sowohl ihre Mitarbeit in der Zeitschrift als auch der freundschaftliche Kontakt zu Harden ab. Die prominente Konvertitin galt auch in den Kreisen der katholischen Herausgeber als willkommene Mitarbeiterin, wie ihre Beteiligung am „Staatslexikon der Görresgesellschaft“ zeigte.405 Nach ihrer Konversion wechselte sie nahtlos von evangelischen zu katholischen Zeitschriften; anstatt für die „Täglichen Rundschau“ schreib sie nun für deren katholisches Pendant, die überregionale, der Zentrumspartei nahe stehende „Kölnische Volkszeitung“, wo sie sich schon nach wenigen Wochen mit Augustin Rösler (1851–1922) über die „Einordnung oder Unterordnung“ der Frauen stritt. Die „Kölnische Volkszeitung“ war bis kurz vor ihrem Tod die Tageszeitung, in der Gnauck-Kühne bevorzugt Kontroversen austrug. Sie war außerdem vor allem in den katholischen Zeitschriften präsent, die dem Volksverein nahe standen: Ersatz für „Die Zukunft“ fand sie in der von Carl
399 Gnauck-Kühne an Dyhrenfurth am 3. April 1915, in: Simon, Helene (1929), S. 104. 400 Gnauck-Kühne (1917b). 401 Zu Naumanns Interesse an der Mitarbeit Gnauck-Kühnes siehe z. B. Naumann an GnauckKühne im Juli 1894 und an Neujahr 1895, in: Simon, Helene (1928a), S. 102. 402 Simon, Helene (1928a), S. 84 und S. 204. 403 Simon, Helene (1928a), S. 75; Gnauck-Kühne (1897e; 1902a). 404 Gnauck-Kühne (1902a). 405 Siehe in diesem Zusammenhang die Anmerkung der Redaktion in: Kölnische Volkszeitung, Nr. 35, 11. Januar 1901.
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Muth herausgegebene Monatsschrift „Hochland“, in der bis zu ihrem Tod sowohl ihre sozialpolitischen Artikel als auch ihre Märchen erschienen. Auch mit Muth war Gnauck-Kühne befreundet.406 „Hochland“ gehörte zu den führenden konservativen Zeitschriften des späten Kaiserreichs. Sie repräsentierte den politisch offenen und kulturell arrivierten deutschen Katholizismus, der sich gegen klerikale Bevormundung und ultramontane Abschottung wehrte.407 Der „Verlag der Zentralstelle des Volksvereins für das katholische Deutschland“ in Mönchengladbach wurde zum katholischen Hausverlag Gnauck-Kühnes. Hier erschienen die „Einführung in die Arbeiterinnenfrage“ und „Das soziale Gemeinschafsleben im Deutschen Reich“. Auf Aufforderung des Verlagsdirektors Wilhelm Hohn, ebenfalls ein guter Bekannter Gnauck-Kühnes, verfasste sie mehrere Artikel für die von ihm herausgegebenen Zeitschriften „Soziale Kultur und Arbeiterwohl“ und „Die Hauswirtschaft. Zeitschrift für das hauswirtschaftliche und gewerbliche Bildungswesen“.408 Auch in „Frauenwirtschaft“, das im Volksverein erscheinende Organ des von Hedwig Heyl (1850–1934) geleiteten Verbands für wirtschaftliche Frauenbildung, war Gnauck-Kühne mit Artikeln vertreten. Anliegen des Verbands und der Zeitschrift war es, Lehrstoff, Lehrpläne und Prüfungen der hauswirtschaftlichen Schulen und Kurse zu vereinheitlichen.409 Mit Johannes Mohnen (18??–19??), dem Redakteur von „Die Wacht“, einer Zeitschrift der katholischen deutschen Jugend, arbeitete Gnauck-Kühne seit 1915 zusammen. Sie verfasste regelmäßig allgemeinverständliche Beiträge zu sozialen und sozialpolitischen Themen für die auflagenstarke Zeitschrift.410 Mohnen gab außerdem einen Sammelband mit Artikel von Gnauck-Kühne zur Geschichte und Funktion des Geldes im modernen Wirtschaftsleben heraus, die in der katholischen Tageszeitung „Der Tag“ erschienen waren: „Das Geld“ (1917), so der Titel des Sammelbands, war der erste Band der „Wachtbücherei“, eine für den staatsbürgerlichen Unterricht (männlicher) Jugendlicher konzipierte Broschürenreihe.411 Zu den Herausgebern, die sich um die Mitarbeit Gnauck-Kühnes als Autorin bemühten, aber weder den evangelisch-sozialen Kreisen angehörten noch katholisch waren, gehörte Ferdinand Avenarius, ein Neffe Richard Wagners (1813– 1883).412 Avenarius, der Gnauck-Kühne wegen ihrer moderaten Haltung zur Frauenemanzipation schätzte, veröffentlichte zwischen 1910 und 1914 mehrere 406 Simon, Helene (1929), S. 281f. 407 Dirsch (2003). 408 Siehe z. B. Hohn an Gnauck-Kühne am 15. Februar 1904, in: Simon, Helene (1929), S. 268; Hohn an Gnauck-Kühne am 8. November 1909, in: Simon, Helene (1929), S. 270f; GnauckKühne an Hohn am 12. Februar 1915, in: Simon, Helene (1929), S. 104. Zu den Zeitschriften des Volksvereins siehe Klein, Gotthard (1996), S. 434. 409 „Frauenwirtschaft“ gehörte zu den auflagenschwächeren Zeitschriften des Verlags. 410 Vgl. Simon, Helene (1929), S. 46–51; Mohnen an Gnauck-Kühne am 2. Januar 1915, 30. April 1915, 8. Juli 1915 und 20. Juli 1915, in: Simon, Helene (1929), S. 278f., hier S. 279: Im Oktober 1915 hatte „Die Wacht“ 150.000 Abonnenten. 411 Vgl. Hoeber (1917), S. 37f.; Simon, Helene (1929), S. 46. 412 Avenarius an Gnauck-Kühne (ohne Datum), in: Simon, Helene (1929), S. 258.
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ihrer Artikel zum Themenbereich Beruf, Mutterschaft und Ehe in seiner Zeitschrift „Der Kunstwart“. Avenarius ist ein Beispiel dafür, dass es Gnauck-Kühne gelang, auch ein konservatives (männliches) skeptisches Publikum für die Frauenfrage zu interessieren. Avenarius, ein Bewunderer Bismarcks, lehnte Etiketten wie „konservativ“ oder „kulturkonservativ“ ab. Er bezeichnete sich selbst als Demokrat und die Haltung seiner Zeitschrift als „deutschnational bis auf die Knochen“.413 Keine andere Kulturzeitschrift hatte vor dem Ersten Weltkrieg in Deutschland eine vergleichbare Verbreitung wie „Der Kunstwart“, der mit seinen Themen in Kultur und Kulturpolitik meinungsbildend wirkte. Gnauck-Kühne machte sich bis zu ihrem Tod für die Anliegen der Frauenbewegung stark, sie trat bei Kongressen der Frauenbewegung auf und veröffentlichte zahlreiche Beiträge zur Frauenfrage und zur Frauenbewegung. Aber: Nimmt man die regelmäßige Präsenz in Zeitschriften als Zeichen für die Zugehörigkeit und die Integration in Netzwerke, dann fällt auf, dass sie in den Hauptorganen der Frauenbewegung vergleichsweise wenig vertreten war. Ihr Artikel über „Religiosität und Frauenfrage“ vom März 1894 abgesehen von einem Leserbrief GnauckKühnes einziger Beitrag in der von Helene Lange und Gertrud Bäumer herausgegebenen Zeitschrift „Die Frau“.414 Das könnte ein Ergebnis von Gnauck-Kühnes Alleingang bei der Gründung der Evangelisch-sozialen Frauengruppe gewesen sein, der zum Bruch mit Lange geführt hatte. Auffallend spät – erst 1907 – erschien Gnauck-Kühnes erster Artikel in „Die christliche Frau“, der vom Deutschen Caritasverband gegründeten Zeitschrift der katholischen Frauenbewegung, die seit 1902 von Lorenz Werthmann und ab 1904 von Hedwig Dransfeld herausgegeben wurde und die sich laut Untertitel als „Zeitschrift für höhere weibliche Bildung und christliche Frauentätigkeit in Familie und Gesellschaft“ verstand.415 2.3 Zwischenresümee Elisabeth Gnauck-Kühne hat mit ihren methodisch innovativen empirischen Studien ihren ZeitgenossInnen neue Perspektiven auf die Frauen- und Arbeiterinnenfrage eröffnet und gleichzeitig die Forderungen und die Arbeit der evangelischen und katholischen der Frauenbewegung wissenschaftlich fundiert. Für die Frauenbewegung war sie vor allem als Wissenschaftlerin bedeutend. Die Rolle einer politischen Aktivistin lag ihr dagegen weniger, denn für eine langfristige politische Arbeit war sie zu impulsiv und ihr fehlte die „diplomatische Geschmeidigkeit“, wie Helene Lange sie besaß.416
413 Bruch (2003), S. 362f. 414 Gnauck-Kühne (1911c). 415 Zur Zeitschrift und der Bedeutung des Caritasverbands für den KFB siehe Kall (1983), S. 280–286, hier S. 282. Das zweite Heft der Zeitschrift hatte ca. 4.000 Abonnentinnen. 416 Simon, Helene (1928a), S. 44.
2 Elisabeth Gnauck-Kühne (1850–1917)
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Eine Gegenüberstellung der Biographien von Elisabeth Gnauck-Kühne und Beatrice Webb zeigt die unterschiedlichen nationalen Ausgangs- und Rahmenbedingungen sowie Möglichkeitsräume für die sozialwissenschaftliche Forschung von Frauen, die es Frauen in England bereits früher als in Deutschland möglich machten, sich wissenschaftlich zu betätigen. Das beeinflusste nicht nur das Selbstverständnis von Webb, sondern hatte auch Auswirkungen auf ihre wissenschaftliche Laufbahn.417 Anders als Gnauck-Kühne, die erst in „reiferen“ Jahren mit nationalökonomischen Studien begann, hatte Webb schon früh Kontakt zur Scientific Community. Das „Tagebuch einer Arbeiterin“, in dem sie sich selbstbewusst als Soziologin bezeichnete, ohne je eine Universität besucht zu haben, entstand zudem im größeren Forschungszusammenhang der Survey „Life and Labour of the People of London“ (1886–1889).418 Während Gnauck-Kühne programmatische Texte für die Arbeit der evangelischen und katholischen Frauenbewegung verfasste und im Hintergrund an der Gründung von katholischen Sozialen Frauenschulen mitwirkte, profilierte sich Webb als Wissenschaftsmanagerin. Gemeinsam mit ihrem Ehemann Sidney James Webb (1859–1947) gründete sie 1895 mit den finanziellen Mitteln der Fabian Society die London School of Economics and Political Science und leistete damit einen wichtigen Beitrag zur Etablierung der Soziologie als Wissenschaft in England.419 Webb gehörte außerdem 1913 zu den Mitbegründerinnen des Fabian Research Departements. Gnauck-Kühne gehörte zwar 1909 zu den Gründungsmitgliedern der DGS, trat im Rahmen der Gesellschaft aber nicht weiter in Erscheinung. Der unmittelbare Kontakt mit den Arbeiterinnen und ihre Erfahrungen als Fabrikarbeiterinnen prägten das Selbstbewusstsein von Webb und von GnauckKühne.420 Das Wissen um die eigene Ausnahmestellung als Sozialforscherin machte sich bei Gnauck-Kühne in sehr selbstbewussten Reaktionen auf Äußerungen oder Kritik männlicher Experten bemerkbar, gleichgültig ob es sich dabei um Koryphäen der Wissenschaft oder Repräsentanten der Kirche handelte. Polemisch kommentierte sie deren Veröffentlichungen zur Frauenfrage: „Wer immer den Mut hat, über Frauenfrage und soziale Bewegung zu schreiben, noch dazu mit dem Anspruche, wissenschaftlich zu sein, der sollte doch so viel wissenschaftliches Gewissen haben, vorher wenigstens das kleine ABC der Volkswirtschaft und Statistik durchzuarbeiten.“421
Anders als bei Gnauck-Kühne blieb das „Tagebuch einer Arbeiterin“ bei Beatrice Webb einer ihrer wenigen Ausflüge in die Frauen- und Arbeiterinnenfrage. Das Kapitel über „Women’s Work“ im ersten Band von „Labour and Life of the Peop-
417 Zu den unterschiedlichen nationalen Rahmenbedingungen akademischer Berufswege von Frauen siehe den internationalen Überblick von Costas (1997). 418 Lepenies (1988), S. 11. 419 Lepenies (1988), S. 34. 420 Lepenies (1988), S. 14. 421 Gnauck-Kühne (1907f), S. 833.
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II Die Autodidaktinnen
le“ stammte nicht von Webb, sondern von Clara E. Collet. Webb hatte die Kapitel über „The Docks“ und „The Jewish Community“ übernommen. 1888 wurde ihr von dem einflussreichen englischen Nationalökonom Alfred Marshall (1842– 1924) das noch unerforschte Gebiet der Frauenarbeit als wissenschaftliches Betätigungsfeld mit dem Argument nahegelegt, dass sie als Frau für diesen Themenbereich besonders geeignet sei. Doch Webb lehnte diese thematische Festlegung ab. Zwar fiel ihr die Entscheidung, die Soziale Arbeit hinter sich zu lassen, schon deshalb nicht leicht, weil sie selbst, wie auch ihre Umgebung, diese als vorrangige Frauenarbeit ansah.422 Sie war jedoch zu der Erkenntnis gelangt, dass die Lösung der sozialen Frage eher durch empirische Untersuchungen als durch Soziale Arbeit mit Einzelnen erreicht würde.423 Gnauck-Kühne sah, wie Webb, in der empirischen Sozialforschung die Grundlage für Sozialpolitik und beide betonten den Praxisbezug von Wissenschaft.424 Ein Unterschied bestand jedoch im wissenschaftlichen Selbstverständnis. Während Webb sehr entschieden auf die Notwendigkeit des „hard thinking“ in den Sozialwissenschaften als Voraussetzung für sozialpolitischen Fortschritt hinwies425, ging es Gnauck-Kühne mehr um die Durchsetzung ihrer sozialpolitischen Vorstellungen. Ihr Anspruch war weniger, „gelehrte Untersuchungen“ vorzulegen; ihr ging es mehr darum, empirische Ergebnisse anschaulich und allgemeinverständlich darzustellen, um sie für möglichst Viele nachvollziehbar zu machen. Wie sie es bei einer Auseinandersetzung mit Kirchenvertretern ablehnte, theologisch zu argumentieren, so beharrte Gnauck-Kühne in der Wissenschaft auf einem „weiblichen“ Sonderweg. Ohne sich explizit auf die Diskussion zwischen Georg Simmel und Marianne Weber über die objektive und subjektive Kultur zu beziehen, ordnete sich Gnauck-Kühne der als weiblich konnotierten subjektiven Kultur zu und grenzte sich von Veröffentlichungen von Frauenrechtlerinnen ab, die ihr zu männlich-abstrakt erschienen.426 Eine rein abstrakte Auseinandersetzung ohne persönliche Erfahrung und Praxisbezug (und damit ohne einen eigenen Standpunkt) gab es für sie nicht. Ihre eigene Herangehensweise erklärte sie folgendermaßen: „Mich interessierte die Reformationsgeschichte nicht. Erst seitdem ich ihre Wirkungen sehe und fühle und erlebe, wird sie mir aktuell. Ein Interesse ohne persönliches Erlebnis gibt’s für mich nicht. Das ist absolut unwissenschaftlich, aber es ist weiblich“.427
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Webb (1988[1926]); vgl. Lewis (1991), S. 151 und S. 154. Webb (1988[1926]), S. 387. Zu Webb siehe Lepenies (1988), S. 15. Lepenies (1988), S. 26 und S. 30f. Gnauck-Kühne an Rösler am 5. Dezember 1899, in: Simon, Helene (1929), S. 174f. GnauckKühne nennt als Beispiele Elisabeth Malo und Anita Augspurg. Siehe hierzu auch Kapitel III 1.3 der vorliegenden Arbeit. 427 Gnauck-Kühne an Rösler am 5. Dezember 1899, in: Simon, Helene (1929), S. 174.
2 Elisabeth Gnauck-Kühne (1850–1917)
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Gnauck-Kühne war überzeugt, dass die Statistik eine „Wirkmacht“ hatte.428 Sozialstatistische Analysen waren ihres Erachtens nicht nur ein Mittel zur Beschreibung der Welt, sondern konnten gleichzeitig zu deren Neugestaltung beitragen. Statistik war, so Gnauck-Kühne, nicht nur „die Wissenschaft, die uns zahlenmäßig sagt, was ist“, sondern auch eine „Bahnbrecherin“ dessen, „was sein soll“.429 Mit ihren statistischen Analysen erbrachte Gnauck-Kühne den Beweis für die bestehenden sozialen Ungleichheiten in den Geschlechterverhältnissen und kritisierte damit die bestehende gesellschaftliche geschlechtshierarchisch-patriarchale Ordnung. Auf Grundlage der Statistik argumentierte sie für die gesellschaftliche Akzeptanz weiblicher Erwerbstätigkeit und die Berufsausbildung und Bildung von Frauen. Diese wollte sie durch sozialpolitische Maßnahmen, die Erweiterung der amtlichen Statistik und die (Neu-)Strukturierung demographischen Wissens erreichen. Gnauck-Kühne kritisierte nicht nur die mangelnde Erfassung weiblicher Lebensverhältnisse und die Nichtberücksichtigung der – heute würde man sagen – Care-Arbeit durch die Berufs- und Gewerbezählungen430, sondern setzte sich auch dafür ein, Care-Arbeit als „Hauptberuf“ der Frauen statistisch zu berücksichtigen. Dadurch sollte sie als produktive Arbeit sichtbar gemacht und ihre gesellschaftliche Anerkennung erreicht werden.431 Richtungweisend war die dualistische Struktur des Frauenlebens, die Elisabeth Gnauck-Kühne auf Grundlage amtlicher Statistiken nachwies und mit der sie die immer noch bestehenden Brüche und Diskontinuitäten weiblicher Erwerbsbiographien beschrieb. Dies macht sie als Soziologin noch heute relevant.
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Gnauck-Kühne (1905a), S. 13. Gnauck-Kühne (1915h), S. 208; Gnauck-Kühne (1905a), S. 13. Gnauck-Kühne (1905a), S. 13–21; Gnauck-Kühne (1904a), S. IIIf. Levy-Rathenau an Gnauck-Kühne am 4. Februar 1915, in: Simon, Helene (1929), S. 103.
3 GERTRUD DYHRENFURTH (1862–1946) 3.1 Sozialwissenschaftlerin, Sozialreformerin und Gutsfrau Gertrud Dyhrenfurth hat mehrfach auf die Widerstände und Barrieren hingewiesen, die Frauen bei ihrer wissenschaftlichen Arbeit zu überwinden hatten. Sie schilderte beispielsweise ihre erste Begegnung mit den Mitarbeitern des preußisch-statistischen Amts, wo sie 1895 nach Datensätzen für eine empirische Studie zum Thema Arbeiterinnen nachfragt hatte. Man habe sie, so Dyhrenfurth, „wie ein Monstrum angesehen, und die Beamten hätten ein Kalb mit drei Köpfen kaum mit mehr Grauen betrachten können, als den weiblichen Nationalökonomen“.1 Trotz dieser Widerstände gelang es ihr, sich sowohl als Wissenschaftlerin und Sozialpolitikerin als auch als praktische Sozialreformerin, Gutsfrau und Landwirtin zu profilieren. Wie keine andere Frau war sie vor dem Ersten Weltkrieg in der (deutschsprachigen) nationalökonomischen Fachpresse präsent. Sie war eine der ersten Frauen, die in Deutschland mit einem Ehrendoktortitel ausgezeichnet wurde. Anders als ihre extrovertierte Freundin Elisabeth Gnauck-Kühne blieb Dyhrenfurth mehr im Hintergrund und geriet wohl deshalb schneller in Vergessenheit. Sie musste bereits zu Lebzeiten darauf hinweisen, dass sie – und nicht GnauckKühne – als erste Frau in Deutschland die Arbeiterinnenfrage wissenschaftlich erforscht hatte.2 Dyhrenfurth wurde von ihren MitstreiterInnen und FreundInnen mit den als preußisch geltenden Tugenden „sparsam“, „fromm“ und „bescheiden“ beschrieben, als ein „stattliche Dame“ mit „strenger Arbeitsdisziplin und einem herrlichen Humor“, die auch von Jüngeren für ihren Kampf gegen soziale Missstände bewundert worden sei.3 Sie schienen überrascht, dass Dyhrenfurth, auch nachdem sie große Anerkennung durch ihre wissenschaftlichen Arbeiten erworben hatte, weiterhin eine „rührende Hochachtung vor akademischen Leistungen“ und „innere Unsicherheit“ gegenüber der Scientific Community an den Tag legte.4 Dies mag ein Ausdruck ihres Gefühls der Fremdheit im wissenschaftlichen Feld gewesen sein. Die eigene Rolle und Position als Wissenschaftlerin, die sich zwischen Land und Stadt, zwischen evangelisch-sozialer Bewegung, bürgerlicher und evangelischer Frauenbewegung und ländlichen Frauenorganisationen bewegte, hat Dyhrenfurth schon früh reflektiert. Ihre Beschreibung und Selbstwahrnehmung erinnert zum einen an die „etablierten Außenseiter“ (Norbert Elias), zum anderen an 1 2 3 4
Dyhrenfurth (1919b). Vgl. Simon (1928c). Erdberg (1994), S. 64; Gnauck-Kühne an Dyhrenfurth am 22. November 1911, in: Simon (1929), S. 24; Randall (1964), S. 92; Velsen (1956), S. 186; siehe auch Consten (1955). Velsen (1956), S. 186.
3 Gertrud Dyhrenfurth (1862–1946)
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den „[jüdischen] Fremden“ (Georg Simmel). Dyhrenfurths Vater war zwar bereits Mitte des 19. Jahrhunderts zum Protestantismus übergetreten und ihre jüdische Herkunft stand bis 1933 wohl nie zur Diskussion; dennoch vermitteln die wenigen von ihr überlieferten Äußerungen in Briefen und Texten ein Gefühl von Fremdheit und fehlender Zugehörigkeit. Dyhrenfurth hatte lange Zeit einen Wohnsitz in Berlin und betonte stets, wie wichtig die Stadt für den kulturellen Fortschritt sei. Und obwohl ihr die Stadt als Zentrum ihrer Netzwerke der Sozialreform und der Frauenorganisationen den Austausch mit Gleichgesinnten ermöglichte, scheint sie in der „kalten, großstädtischen Welt“ Berlins nie ganz heimisch geworden zu sein.5 Die Verbundenheit mit ihrem Geburtsort Jakobsdorf war nicht ungebrochen; mit dieser ländlichen Gegend assoziierte Dyhrenfurth einerseits Wärme und Verbindlichkeit, andererseits beklagte sie deren Rückständigkeit. Mit ihren städtischen Ansichten, ihrer bürgerlichen und jüdischen Herkunft blieb sie vermutlich außerhalb ihres Guts auch dort eine Fremde.
3.1.1 Familiärer Hintergrund Gertrud Dyhrenfurth wurde am 19. Juli 1862 auf dem Rittergut Jakobsdorf in Niederschlesien (heute Polen) als jüngstes von drei Kindern von Ludwig Robert Dyhrenfurth (1821–1899) und Marie Dyhrenfurth, geb. Beyersdorf (18??–??) geboren. Jakobsdorf (Jakubowice) war bis zwei Wochen vor Gertrud Dyhrenfurths Tod ihr ständiger Wohnsitz. Die Familie Dyhrenfurth gehörte zum jüdischen, in der Generation ihres Vaters teilweise zum Protestantismus konvertierten, wohlhabenden Groß- und Bildungsbürgertum. Sie waren bürgerliche „Newcomer“ ohne breitere Basis im alten kaufmännisch-patrizischen Bürgertum der städtischen Oberschicht. Ihr gesellschaftlicher Aufstieg gründete sich primär auf ihren wirtschaftlichen Erfolg, auf die schöpferische Ausnutzung neuer Möglichkeiten und Chancen in diesem Bereich.6 Dyhrenfurths Vater war der Sohn eines Großkaufmanns aus Breslau (Wroclaw), der eine Filiale in Manchester besaß. Ludwig Robert Dyhrenfurth folgte dem Berufsweg seines Vaters und verbrachte in den 1840er Jahren sieben Jahre als Eigentümer einer Fabrik in Lancashire im Nordwesten Englands. Während dieser Zeit konvertierte er zum Protestantismus. Nach seiner Rückkehr nach Deutschland erwarb er 1852 das ehemalige Rittergut Jakobsdorf.7 Über Gertrud Dyhrenfurths Mutter ist nichts, von ihren beiden Geschwistern kaum etwas bekannt. Ihr Bruder Walter (18??–1919) studierte Jura und übernahm 1894 als Assessor a. D. das elterliche Gut. Wie Gertrud blieb auch er unverheiratet. Ihre ältere Schwester, Elisabeth (Marie Elisabeth Fancis Gertrud) 5 6 7
Vgl. Gnauck-Kühne an Dyhrenfurth am 13. Dezember 1912, in: Simon (1929), S. 228. Gall (1989), S. 23. Rittergüter waren in Preußen bis zu den Stein-Hardenberg’schen Reformen 1811 kommunalrechtlich meist eigene, mit Sonderrechten ausgestattete Gutsbezirke (Dominium). Zur Rittergutsbesitzerklasse siehe z. B. Schissler (1980).
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II Die Autodidaktinnen
Dyhrenfurth (1856–1928), heiratete General (Heinrich Wilhelm) Kurt von Knobelsdorff (1850–1935), der aus der Familie des berühmten Baumeisters Friedrichs des Großen stammte. Sie lebte mit ihrer Familie in Potsdam und später in Berlin-Charlottenburg.8 Gertrud Dyhrenfurth hatte eine enge Verbindung zu deren Tochter Elisabeth (1877–1959), die 1922 den Diplomaten Kurt Wilhelm Viktor Baron von Tippelskirch (1880–1947), einen Nachkommen von Martin Luther, heiratete. Ein enger Kontakt bestand außerdem zur Familie ihrer Tante väterlicherseits, die häufig in Jakobsdorf zu Besuch war.9 Das ehemalige Rittergut gehörte zur Gemeinde Jakobsdorf, die zwischen Liegnitz (Legnica) und Breslau (Wroclaw) im damaligen Niederschlesien lag. Im Gegensatz zur Industrieregion Oberschlesien war es eine ländliche Region mit einer Vielzahl von Gütern und landwirtschaftlichen Betrieben. 1910 hatte der Gutsbezirk 117, die Gemeinde 185 Einwohner. Anders als in Süddeutschland gab es dort keine selbstständigen Bauern, sondern nur Stellenbesitzer, Häusler und Inlieger (Mieter), die für das Gut arbeiteten und von denen einige ein Handwerk betrieben. Mit seinen ca. 400 ha gehörte Jakobsdorf zu den mittelgroßen Gütern; verglichen mit dem schlesischen Großgrundbesitz, mit zum Teil mehr als 30.000 ha, war seine Größe bescheiden.10 Mit ihrer empirischen Studie „Ein schlesisches Dorf und Rittergut“ (1906) hat Gertrud Dyhrenfurth die detailreichste Darstellung über den Familienbesitz selbst verfasst. Sie und ihre Familie wohnten herrschaftlich in dem zum Gut gehörenden, von einem der Vorbesitzer 1801 erbauten „Schloss“, wie das herrschaftliche Gutshaus bezeichnet wurde. In Dyhrenfurths Augen war es unsozial, dass dieser Vorbesitzer trotz der um 1800 herrschenden prekären Wohnverhältnisse der Gutsarbeiter ein derart großes Gebäude errichtet hatte, und sie empfand es als bedrückend, „in einem so schönen Schloss zu wohnen“, solange sie ihren Arbeitern „keine besseren Wohnungen geben“ konnte.11 Ihr soziales Gewissen ging freilich nicht so weit, dass sie auf ihr Wohnrecht in den zahlreichen weiten und hohen Räumen verzichtete oder diese mit den GutsarbeiterInnen teilte. Die hierarchische gesellschaftliche Ordnung und die bestehenden sozialen Grenzen blieben (auch) in Jakobsdorf in der schichtspezifischen Organisation und Trennung der Räume bestehen. Denn zu Schloss und Gar-
8
Adelstitel gelten seit 1919 als Teil des Namens (Art. 109 der Weimarer Reichsverfassung). In der vorliegenden Arbeit werden sie aus Gründen der Stringenz nicht immer in vollem Umfang genannt, sondern meist nur die Familiennamen. 9 Zum Rittergut und der Familie Dyhrenfurth siehe die Abbildungen 8 bis 19 im Bildanhang. Laura (1823–1905), die Schwester von Gertrud Dyhrenfurths Vater, war mit Adolph Dyhrenfurth (1822–1875) verheiratet; sie hatten drei Kinder: Hermine (Mimi) (1852–1918), Oskar (1852–1932) und Alfred (1860–1923). Häufig zu Besuch waren Laura, ihr Sohn Oskar, dessen Frau Käthe, geb. Bayer (1860–1942), und deren Sohn Günter Oskar (1886–1975), der als Himalaya- und Filmpionier bekannt wurde. Zur faszinierenden Geschichte dieser Familie siehe Nickel (2007). 10 Zur Größe der Gutsbezirke siehe Heß (1990), S. 41–43. 11 Ausspruch von Gertrud Dyhrenfurth, zitiert nach Barchewitz (1932a), S. 292. Die Grundfläche des Schlosses betrug 29,4 x 21,4 m, sein Feuerkassenwert 1904 45.000 Mark.
3 Gertrud Dyhrenfurth (1862–1946)
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ten des Ritterguts erhielten die Bewohner des Dominiums und der Gemeinde nur bei speziellen Anlässen Zutritt. Von diesen Ausnahmen abgesehen war für sie der Sitz der Gutsherrschaft tabu. Güter wie Jakobsdorf, die meist den überschuldeten adligen Vorbesitzern von kapitalkräftigen, unternehmerisch leistungsfähigen und gesellschaftlich ambitionierten Bürgern abgekauft wurden, verschafften den neuen Besitzern die nötigen Wirkungs- und Aufstiegsmöglichkeiten. Jakobsdorf war eines von mehreren Gütern, das die Familie von Gertrud Dyhrenfurth sowie die Familien ihrer Tanten und Onkel erworben hatten. Der Wunsch der Familie nach gesellschaftlicher Anerkennung und Etablierung zeigte sich auch im politischen Engagement ihres Vaters: Ludwig Robert Dyhrenfurth war nach der Reichsgründung jahrzehntelang Kreistagsabgeordneter, Amtsvorsteher, Standesbeamter und Mitglied der nationalliberalen Partei. Die Regierungspartei Bismarcks (bis 1875) unterstützte die Reichsgründung und vertrat die Interessen des protestantischen Bildungsbürgertums und des industriellen Großbürgertums.12 Trotz der Konversion des Vaters, seiner politischen Arbeit und dem erworbenen Gutsbesitz blieben die Dyhrenfurths wegen ihrer Herkunft in der überwiegend agrarisch-reaktionären und antisemitisch geprägten junkerlichen Welt Mittelschlesiens vermutlich Fremde.13 Gertrud Dyhrenfurth führte ihre Offenheit gegenüber sozialen Fragen auf das Vorbild ihrer Eltern zurück. Deren Umgang mit den „Gutsleuten“, wie die auf dem Gut Beschäftigten und Wohnenden bezeichnet wurden, war für die damalige Zeit und für Gutsbesitzer fortschrittlich. Sie hat ihre Eltern als „warme humane Naturen“ beschrieben, die als eine der besten „Herrschaften“ weit und breit galten. Die „große[n] Härten im Leben der arbeitenden Frauen“ hätten das soziale Gewissen ihrer Mutter, die bei der üblichen Wöchnerinnen- und Krankensuppe und bei der Unterstützung in besonderen Notlagen sehr großzügig war, belastet. Neben der humanistischen und sozialen Einstellung seiner Besitzer hob sich Jakobsdorf auch durch den Einsatz moderner landwirtschaftlicher Erkenntnisse und durch die vielseitige Bewirtschaftung in lukrativen und anspruchsvollen Produktionszweigen von anderen ostelbischen14 Gütern ab. Dyhrenfurths Vater setzte in Jakobsdorf viel von dem um, was er während seines Aufenthalts in England kennengelernt hatte. Dort war der Einsatz landwirtschaftlicher Neuerungen zur Erhöhung der landwirtschaftlichen Produktivität fortgeschrittener als in Deutschland. Während seiner Zeit in England war er auch auf die Idee gekommen, ein landwirtschaftliches Gut zu kaufen. Denn durch die zu seiner Fabrik in Lancashire gehörende Farm war ihm bewusst geworden, dass Landwirtschaft nicht nur ein Hobby, sondern auch eine Einnahmequelle sein konnte. Jakobsdorf gehörte zu den ersten Gütern in Schlesien, die Kunstdünger einsetzten, der in einer Knochenmühle
12 Born (1976), S. 27. 13 Zur junkerlichen Welt siehe Jacoby (1909), S. 107; Gerlach (1925), S. 107. 14 Bis 1945 gebräuchliche Bezeichnung für die zu Deutschland zählenden Gebiete östlich der Elbe.
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selbst produziert wurde. Der größte Gewerbebetrieb des Dorfes, eine Brennerei, wurde 1864 von der Familie Dyhrenfurth errichtet.15 Das Gut war ökonomisch rentabel und hatte selbst während der landwirtschaftlichen Krisenzeiten Mitte der 1920er Jahre keine finanziellen Probleme. Neben dem Saatgutverkauf bildeten die Viehzucht und -haltung die Haupteinnahmequelle des Guts. Seit 1898 hatten die Dyhrenfurths die Leitung des landwirtschaftlichen Bereichs einem Gutsinspektor übertragen, einem Betriebswirt mit spezifisch landwirtschaftlichem Expertenwissen.
3.1.2 Frauenbewegung und ESK Gertrud Dyhrenfurth kam Ende der 1880er Jahre nach Berlin, um dort eine höhere Töchterschule und anschließend die neu eingerichteten Realkurse von Helene Lange zu besuchen. Anders als Elisabeth Gnauck-Kühne, Rosa Kempf und Marie Bernays scheint sie keine Lehrerinnenausbildung absolviert zu haben; sie war wohl auf diesen „Brotberuf“ nicht angewiesen, weil sie auf finanzielle Ressourcen ihrer Familie zurückgreifen konnte. Auch Dyhrenfurth wurde von der in Berlin herrschenden sozialpolitischen Aufbruchsstimmung angesteckt. Sie begann, wie Gnauck-Kühne, sich mit der Frauenfrage auseinanderzusetzen und suchte den Kontakt zur bürgerlichen Frauenbewegung. Sie engagierte sich bei deren Veranstaltungen und in deren Projekten, grenzte sich gleichzeitig aber gegen die ihres Erachtens zu radikalen Forderungen der Frauenbewegung nach Gleichheit ab. Diese erschienen der von der konservativen und patriarchalen ländlichen Gesellschaft geprägten Dyhrenfurth als zu „einseitig“.16 Wie Gnauck-Kühne sah auch Dyhrenfurth in der Frauenfrage vor allem eine soziale Frage, die nicht durch die Gleichheitsforderungen des sogenannten „radikalen“ Flügels der bürgerlichen Frauenbewegung oder durch die Militanz der englischen Suffragetten gelöst werden könne, sondern nur durch ein gemäßigtes Vorgehen.17 Das Programm und die Zielsetzung der Mädchen- und Frauengruppen für soziale Hilfsarbeit entsprachen mehr den gemäßigten Vorstellungen Dyhrenfurths; sie gehörte Ende 1893 deren Gründungskomitee an. Ein wesentlicher Impuls zur Gründung ging von Minna Cauer, einer Protagonistin des radikalen Flügels der Frauenbewegung, und „ihrem“ Verein Frauenwohl aus. Die Mädchen- und Frauengruppen für soziale Hilfsarbeit wurden zum organisatorischen Ausgangspunkt der Ausbildung zur sozialen Berufsarbeit. Im Programm wurde auf die „soziale Mission“ der bürgerlichen Frauen hingewiesen, Klassengegensätze zu überwin-
15 Dyhrenfurth (1919b), S. 3. 16 Dyhrenfurth (1919b), S. 3; Velsen (1956), S. 186. 17 Siehe z. B. Dyhrenfurth an Gnauck-Kühne (ohne Datum), in: Archiv des KDFB, Nachlass Gnauck-Kühne, 1–106–5: „Sehen Sie doch, wie viel wir erreicht haben dadurch, dass wir die führenden Männer von der Berechtigung unserer Wünsche überzeugt haben, ohne dass wir wie die Suffragetten den Ministern die Fenster eingeschlagen haben.“
3 Gertrud Dyhrenfurth (1862–1946)
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den, zur Reform der sozialen Zustände und somit zur Versöhnung der Klassen beizutragen.18 In der Satzung wurde betont, dass es sich um keinerlei „Emanzipationsbestrebungen“ handele, sondern es lediglich darum ginge, „junge Mädchen und Frauen zu ernster Pflichterfüllung im Dienste der Gesamtheit heranzuziehen“.19 Durch eine systematische theoretische und praktische Schulung sollten junge bürgerliche Frauen für ehrenamtliche Hilfsleistungen auf verschiedenen Gebieten der Wohlfahrtspflege ausgebildet werden, die dann die „dilettantische“ Arbeit der „Wohlfahrtsdamen“ ersetzten sollten. Die Gruppen wurden zunächst von Jeanette Schwerin und nach deren Tod von Alice Salomon geleitet. Der Erfolg der Gruppen, aus denen die Soziale Frauenschule Berlin hervorging, war vor allem das Verdienst der beiden Leiterinnen. Dyhrenfurth bewegte sich, wie Gnauck-Kühne und andere sozial interessierte Frauen, in den gesellschaftlichen Kreisen um Gustav Schmoller und Max Sering und fand in der evangelisch-sozialen Reformbewegung Anknüpfungspunkte für ihre wissenschaftliche Auseinandersetzung mit der Frauenfrage. Bis zum Ersten Weltkrieg war sie eine der aktivsten Frauen im ESK.20 Sie bildete mit GnauckKühne und Charlotte Broicher den Vorstand der Evangelisch-sozialen Frauengruppe und vermittelte bei Konflikten innerhalb der Gruppe. Laut Helene Simon war es Dyhrenfurth, die für Friedrich Naumann eine Frauengruppe für den Nationalsozialen Verein sammelte. Das Renommee, das sie in evangelisch-sozialen Kreisen genoss, zeigte sich zum einen darin, dass Dyhrenfurth 1904 – neun Jahre nach Gnauck-Kühne – als zweiter Frau das Hauptreferat auf der Jahrestagung des ESK übertragen wurde. Zum anderen wurde sie mit dem Eintrag über „Frauenarbeit“ für das fünfbändige Handwörterbuch „Religion in Geschichte und Gegenwart“ beauftragt. Das kam einer Aufnahme in den evangelischen Kanon gleich, denn das Handwörterbuch des Tübinger Mohr-Verlags war die Enzyklopädie des kulturprotestantischen Bildungswissens der Jahrhundertwende.21 Mit einigen Mitgliedern des ESK war Dyhrenfurth durch langjährige intellektuelle Freundschaften verbunden. Ihre Freundschaft mit der zwölf Jahre älteren Gnauck-Kühne bestand, wie erwähnt, trotz einer zunehmenden Distanz nach 1911 bis zum Tod Gnauck-Kühnes.22 Dyhrenfurth war ferner mit den Generalsekretären des ESK, Wilhelm Christoph Schneemelcher (1872–1928)23 und Immanuel [Erhard] 18 Salomon (1908), S. 12. Zur Gründung der Mädchen- und Frauengruppen für soziale Hilfsarbeit siehe z. B. Schüler (2004), S. 187–204; Salomon (1983), S. 40ff. Zu den Gründungsmitgliedern gehörten auch Gustav Schmoller, Max Sering und Max Weber. Zur Rolle des VfS bei der Gründung siehe z. B. Riemann (1984), S. 214. 19 Salomon (1913), S. 8. Zur Ablehnung jeglicher Emanzipationsbestrebungen im Gründungsaufruf vgl. Sachße (1986), S. 116ff.; Stoehr (1990), S. 12ff.; Dyhrenfurth (1928), S. 156. 20 Vgl. z. B. Kretschmar (1972), S. 116; Naumann (1930), S. 568. 21 Dyhrenfurth (1910d). Zum Handwörterbuch vgl. Hübinger (1993), S. 282; Hübinger (1994), S. 199–203; Özen/Wolfes (2001). 22 Simon (1929), S. 136. 23 Der Theologe und Pfarrer Schneemelcher war von 1902 bis 1923 nebenamtlicher Generalsekretär des ESK und Herausgeber der Monatszeitschrift „Evangelisch-sozial“ des ESK.
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Voelter (1867–19??) befreundet. Von 1897 bis 1919 war sie außerdem Mitglied im VfS.24 Seit Ende der 1890er Jahre war Gertrud Dyhrenfurth aktives Mitglied der Vaterländischen Frauenvereine (VFV), was für eine ostelbische Gutsfrau nicht überraschend war. Sie war nicht die Einzige, die in ihren Veröffentlichungen auf deren „nachhaltige“ und „segensreiche“ Arbeit im sozialen Bereich hinwies.25 Die VFV hätten lange Zeit eine führende Stellung in der sozialen Frauenarbeit innegehabt und auf den verschiedensten Gebieten der Armen- und Wohlfahrtspflege anregend und fördernd gewirkt. Dies belegten zahlreiche erfolgreiche Aktivitäten und Formen der Zusammenarbeit zwischen Gemeinden und Landkreisen und den VFV.26 Auch Dyhrenfurth griff bei der Schaffung sozialer Einrichtungen in Jakobsdorf auf die finanzielle und organisatorische Unterstützung der VFV zurück; ermöglicht wurde dies durch deren enormes Vermögen. Die VFV waren zudem an der Zentralstelle für Volkswohlfahrt beteiligt, eine für Dyhrenfurths sozialreformerische Arbeit wichtige Institution. Die Mitglieder- und Ortsgruppenzahlen der VFV überstiegen die der bürgerlichen Frauenbewegung um ein Vielfaches.27 Die VFV gelten als ein problematisches Kapitel der Frauen(bewegungs)geschichte, denn das konservative Frauenbild des antifeministischen, chauvinistischen, hierarchisch organisierten und königstreuen Vereins bildete einen Gegenentwurf zu der sich als politisches und emanzipatorisches Projekt verstehenden Frauenbewegung.28 An der Spitze des Zentralvereins stand Kaiserin Auguste Viktoria (1858–1921), an der Spitze der Landesverbände die jeweilige Landesfürstin. Zwar war die ordentliche Mitgliedschaft ausschließlich Frauen vorbehalten, die zentralen Vorstandsposten, wie die des Schriftführers und des Schatzmeisters, waren jedoch von Männern besetzt. Gertrud Dyhrenfurth gründete in Jakobsdorf einen Zweigverein der VFV, weil es ihres Erachtens die einzige Art Frauenorganisation war, die sich in den konservativen ländlichen Regionen realisieren ließ. Die auf eine karitative Arbeit und Wohlfahrtspflege ausgerichtete Tätigkeit in den Zweigvereinen führte zumindest teilweise zur gesellschaftlichen Akzeptanz bürgerlicher Frauen und zur Aner-
24 Laut Mitgliedslisten war Dyhrenfurth von 1897 bis 1919 Mitglied des VfS. Die Mitgliedslisten sind abgedruckt in: Verein für Sozialpolitik (1898; 1910; 1912; 1920). 25 Dyhrenfurth (1906a), S. 154f. Auch Alice Salomon stellte anerkennend fest, dass die VFV um 1900 zu einem wesentlichen Faktor für das soziale Leben in Deutschland geworden seien, vgl. Salomon (1901), S. 28. 26 Dyhrenfurth (1906a), S. 154f.; siehe auch Lippe (1908), S. 298. 27 Gerhard (1990), S. 91. Zu Beginn des Jahres 1914 hatten die VFV 600.000 Mitglieder, vgl. Süchting-Hänger (2000), S. 134. Dagegen betrug die offizielle Mitgliederzahl des gesamten BDF im Jahr 1912 328.000, vgl. Greven-Aschoff (1981), S. 148. Siehe auch Riemann (1984), S. 206 und S. 221. Die VFV waren nie Mitglied im BDF. 28 Bei der politischen Beurteilung der Frage, inwieweit die VFV den radikalnationalistischen rechtsextremen Agitationsverbänden vor dem Ersten Weltkrieg zuzuordnen sind, kommt die Forschungsliteratur zu unterschiedlichen Ergebnissen, vgl. z. B. Süchting-Hänger (2000; 2002, S. 134); Riemann (1984).
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kennung von deren öffentlicher und außerhäuslicher Tätigkeit. Ausgehend von einem zunächst konservativen Frauenbild entstanden dabei neue Handlungsräume und Rollenbilder, die eine eigene Dynamik entwickelten.29 Schwierig zu beurteilen ist, wie stark Dyhrenfurth mit der konservativen Haltung der VFV übereinstimmte oder ob ihr Engagement überwiegend strategisch motiviert war und es ihr, wie Gnauck-Kühne, vor allem darum ging, auch konservative Kreise für die Frauen- und Arbeiterinnenfrage zu interessieren und die Handlungsräume für Frauen zu erweitern. Ihr Hinweis, dass wegen der konservativen Haltung des Vereins nur ein sehr vorsichtiges Vorgehen nach bewährten Methoden möglich sei, könnte ein Beleg für ein überwiegend strategisches Verhältnis sein.30 Mehr ihrem gesellschaftlichen Interesse entsprach wohl Dyhrenfurths Mitgliedschaft im Deutschen Lyceum-Club Berlin, einem Zweigverein der internationalen Lyceum-Club-Gesellschaft, auf die im Eintrag zu Dyhrenfurth in Degeners „Wer ist’s?“ ausdrücklich hingewiesen wurde.31 Ziel des exklusiven gesellschaftlichen Clubs war es, im Rahmen von Veranstaltungen das internationale Networking von Frauen zu fördern und durch international ausgerichtete Veröffentlichungs- und Ausstellungsmöglichkeiten ein Forum für künstlerisch und wissenschaftlich tätige Frauen zu schaffen. Dem Berliner Zweigverein gehörten neben Frauen aus Adelskreisen auch Protagonistinnen der bürgerlichen Frauenbewegung wie Helene Lange, Gertrud Bäumer, Alice Salomon, Künstlerinnen wie Käthe Kollwitz (1867–1945) und Pazifistinnen wie Bertha von Suttner (1843–1914) an.32 Insgesamt war er allerdings weniger international, sondern wie die Mehrheit seiner Mitglieder eher konservativ und deutschnational ausgerichtet. Unter der Leitung seiner langjährigen Vorsitzenden Hedwig Heyl (1850–1934) beteiligte sich der Lyceum-Club 1912 an der Ausstellung „Die Frau in Haus und Beruf“. Sein Versuch, dem Salonpublikum die soziale Frage näher zu bringen, wurde insbesondere von Vertreterinnen der radikalen bürgerlichen Frauenbewegung stark kritisiert. Er sei zwar „gut gemeint“, werde aber dem Ernst der Situation und den zu bewältigenden Problemen nicht gerecht, sondern schade vielmehr.33 Auch Dyhrenfurths soziales Interesse und Engagement wurde in ihren Anfangsjahren in Berlin von Frauenrechtlerinnen wie Lange als dilettantisches Bemühen einer behüteten Gutsbesitzertochter abgetan.34
29 Riemann (1984), S. 206f.; Süchting-Hänger (2000), S. 131; vgl. Bridenthal (1993). 30 Dyhrenfurth (1906a), S. 154f. 31 Siehe Degener (1909–1935). Zur Bedeutung von selbstgestalteten Frauenräumen wie dem Deutschen Lyceum-Club Berlin für die Mobilisierung der Frauenbewegung siehe Wischermann (2004), S. 156–160. 32 Marelle (1918); Zahn-Harnack (1928), S. 370. 33 Cauer (1908). 34 Erdberg (1994), S. 63f.
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3.1.3 Studienreise nach England und Studium an der Berliner Universität In der Gründungsphase der Evangelisch-sozialen Frauengruppe trat Gertrud Dyhrenfurth mit Artikeln über die Arbeit englischer Sozialreformerinnen und die englische Gewerkvereinsbewegung öffentlich in Erscheinung, die ab 1894 in nationalökonomischen Fachorganen erschienen und ihren bis zum Ersten Weltkrieg anhaltenden Ruf als Expertin für Arbeiterinnenorganisation und englische Sozialreform begründeten. Während Gnauck-Kühne ihre Forschungsreise in die Welt der Arbeiterinnen plante, hatte sich Dyhrenfurth im Juni 1894 auf eine sechswöchige Studienreise nach England begeben und die Zentren der Textilindustrie besucht, um sich ein eigenes Bild über die Arbeitsbedingungen der Fabrikarbeiterinnen und die englischen Reformbemühungen zu verschaffen. Die Reise führt sie auch an die Orte, an denen ihr Vater ein halbes Jahrhundert vorher seine Fabrik aufgebaut hatte. Bemerkenswert für die damalige Zeit war die wissenschaftliche Vorgehensweise, mit der Dyhrenfurth die Reise vor- und aufbereitete. Vor der Reise wertete sie die Forschungsliteratur über die englischen Fabrikgesetzgebung, den Arbeiterinnenschutz und die Gewerkschaftsbewegung aus. Sie studierte den gerade erschienen Enquete-Bericht „The Employment of Women“ (1893) der Lady Assistant Commissioners der Royal Commission on Labour35 und das Grundlagenwerk über „Die britische Genossenschaftsbewegung“ von Beatrice und Sidney Webb (1893). Die beiden Webbs traf sie auf ihrer Reise auch persönlich.36 Die Studienreise ermöglichte es Dyhrenfurth, die durch wissenschaftliche Lektüre gewonnenen Erkenntnisse durch den direkten persönlichen Kontakt zu Vertreterinnen der Arbeiterinnenschutzbewegung, durch Gespräche und durch eigene Anschauung zu erweitern. Informationsreisen nach England hatten damals Konjunktur. Fast zur selben Zeit wie Dyhrenfurth informierte sich Jeanette Schwerin, die Leiterin der Mädchen- und Frauengruppen für soziale Hilfsarbeit, im englischen Southwark über die vom Women University Settlement angebotenen Ausbildungsgänge zur sozialen Berufsarbeit.37 Dyhrenfurths Exkursion stand in der Tradition der Reisen deutscher Nationalökonomen wie Max Sering, Lujo Brentano und Gerhart SchulzeGaevernitz (1864–1943). Wie diese wollte sie sich über die in England bereits geschaffenen sozialen Einrichtungen zur Verbesserung der sozialen Lage der Arbeiterschaft und über die Arbeit der britischen Gewerkschaftsbewegung, hier vor allem die Gewerkvereinsbewegung, vor Ort informieren.38 Brentano hatte sich in einer mehrbändigen Untersuchung mit der Übertragung des englischen Gewerkschaftsmodells auf deutsche Verhältnisse befasst. Entscheidende Impulse für Dyhrenfurths Interesse an der englischen Sozialreform sind vermutlich von Max 35 36 37 38
Orme (1893). Dyhrenfurth (1895a), S. 224 und S. 237. Schwerin (1894). Dyhrenfurth (1918a), S. 6.
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Serings Antrittsvorlesung über „Die soziale Frage in England und Deutschland“ (1890) an der Berliner Universität und von der zweibändigen Studie „Zum sozialen Frieden“ (1890) von Gerhart Schulze-Gaevernitz ausgegangen. In seiner Vorlesung behandelte Sering die unterschiedlichen Voraussetzungen der gewerkschaftlichen Organisierung der Arbeiter in beiden Ländern, die in Deutschland erst seit dem Ende des Sozialistengesetzes möglich geworden war. Schulze-Gaevernitz beeinflusste mit seinem Plädoyer für die englischen Gewerkvereine und seiner Rezeption der „sozialpolitischen Erziehung des englischen Volkes“ von Thomas Carlyle die zeitgenössische Sozialreformbewegung in Deutschland. In den gesellschaftspolitischen Vorstellungen Carlyles sah SchulzeGaevernitz einen geeigneten Ansatz zur Lösung der sozialen Frage. Durch die Erziehung von Bürgertum und Arbeiterschaft im Sinne eines umfassenden gemeinsamen Glaubens- und Wertesystem sollte wieder eine in Führung und Gefolgschaft gegliederte Gemeinschaft entstehen.39 Wie Schulze-Gaevernitz übernahm Dyhrenfurth von Carlyle den Gedanken, dass ein Wertesystem als tragendes Moment der Gesellschaft unabdingbar sei.40 Im Gegensatz zu den liberalen Vorstellungen Brentanos hielt Dyhrenfurth das System der Vermittlung zwischen gegensätzlicher Interessen, das sich durch die Verfolgung individueller Interessen in seinem institutionalisierten Bezugsrahmen ständig reproduziere, als alleinige Klammer der bürgerlichen Gesellschaft für nicht ausreichend. Das Interesse deutscher Nationalökonomen an den englischen Gewerkvereinen wurde durch den erfolgreichen Aufstand der Dockarbeiter 1889 in London geweckt, der fast zeitgleich mit dem großen Streik der Bergarbeiter im Ruhrgebiet stattfand. Der Streik der Dockarbeiter und sein erfolgreicher Ausgang waren außergewöhnlich, weil sich an ihm erstmals auch viele nicht gewerkschaftlich organisierte Arbeiter beteiligt hatten. Es galt als Verdienst der Gewerkvereine, diese Gruppe erreicht und zur Beteiligung am Streik motiviert zu haben.41 Für sozial interessierte bürgerliche Frauen wie Dyhrenfurth war er aus mehreren Gründen interessant: Zum einen hatte er in England einen Mobilisierungsschub bei der Organisierung der gewerkschaftlich nahezu unerreichbaren ungelernten Arbeiterinnen in Gewerkvereinen ausgelöst.42 Zum anderen versprach er ein Betätigungsfeld, denn seine Arbeit basierte auf der Unterstützung der Arbeiterinnen durch bürgerliche Frauen. Schulze-Gaevernitz berichtete in seiner Studie ausführlich über die aktive Mitarbeit bürgerlicher und adliger Frauen in Gewerkvereinen, deren politische Ausrichtung – im Gegensatz zu den sozialdemokratischen Gewerkschaften – aus kathedersozialistischer Sicht akzeptabel war: Mit den Gewerkvereinen sollten die ArbeiterInnen im Kampf um bessere Arbeitsbedingungen unter-
39 Krüger , Dieter (1983), S. 33. Siehe auch Bernstein (1891). Eduard Bernstein (1850–1932) zählte Thomas Carlyle, Adolf Stoecker und Heinrich von Treitschke (1834–1896) zu den von Marx und Engels im Kommunistischen Manifest skizzierten „reaktionären Sozialisten“. 40 Schulze-Gaevernitz (1897), S. 167. 41 Vgl. Schulze-Gaevernitz (1890), Band 2, S. 459 und S. 470ff.; Brentano (1931), S 157. 42 Vgl. Schulze-Gaevernitz (1890), Band 2, S. 464–471; Dyhrenfurth (1895a).
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stützt werden, ohne dabei die bestehende Wirtschafts- und Gesellschaftsordnung in Frage zu stellen. Wie die Kathedersozialisten grenzten sich die Gewerkvereine gegen den Sozialismus, aber auch gegen die koalitionsfeindliche Haltung der Unternehmer ab. In Deutschland wurden sie deshalb sowohl von sozialistischen als auch von industriellen Kreisen sowie von der Regierung abgelehnt.43 Wie Brentano und Schulze-Gaevernitz setzte sich Dyhrenfurth aktiv für eine Organisierung der ArbeiterInnen in Gewerkvereinen ein. Schmoller lehnte Gewerkvereine hingegen ab, weil für ihn die Regelung der Arbeiter- und Unternehmerinteressen in den Aufgabenbereich des Staates und seiner Beamten fiel. Gertrud Dyhrenfurth nahm schon vor ihrer Studienreise Kontakt mit tonangebenden Vertreterinnen der englischen Frauen-Gewerkschaftsbewegung auf. Von Emilia Dilke (1840–1904) von der Women’s Trade Union League wurde sie bei der Organisierung der Reise unterstützt. Über die Ergebnisse ihrer Reise berichtete Dyhrenfurth in mehreren Artikeln, die in verschiedenen nationalökonomischen Fachzeitschriften sowie in der Frauenbewegungspresse erschienen. Sie schilderte und reflektierte ihre Treffen mit Gewerkschaftsführerinnen und ArbeiterInnen sowie das Vorgehen der Gewerkschafterin Annie Buckley Marland (später Marland-Brodie) (1861–1947) bei Gründung neuer Gewerkvereine. Die ehemalige Textilarbeiterin war damals wegen ihres Erfolgs bei der Neugründung von Gewerkvereinen berühmt geworden.44 In ihren Berichten schildert Dyhrenfurth, dass sie nach einem kurzen Aufenthalt in London über Blackburn nach Dundee gereist sei. In Blackburn habe sie als ausländischer Gast an einer großen Demonstration der Gewerkschaften teilgenommen und beim anschließenden informellen Arbeitsessen mit Arbeiterführern erste Erfahrungen mit einer klassenübergreifenden Zusammenarbeit gemacht. Sie habe dabei den Eindruck gewonnen, dass verglichen mit Deutschland die Vorurteile und Verhältnisse des „Klassenkampfes“ in England weitaus friedlicher seien und es anscheinend keinen „Klassenhass“ gebe. Von der friedlichen und produktiven Atmosphäre des Treffens, den „guten Manieren“ der Arbeiter und dem respektvollen Umgang der sozialistischen Gewerkschaftsvertreter mit den bürgerlichen Vertreterinnen der Frauengewerkschaft war sie überrascht.45 Dyhrenfurths Schilderungen zeigen einerseits ihre Offenheit, ihre Bereitschaft, die eigenen Vorurteile kritisch zu überdenken und ihr Bild von der Arbeiterklasse zu revidieren. Gleichzeitig spiegeln sie aber auch die zeittypische gesellschaftliche Kluft zwischen Bürgertum und Arbeiterklasse wider. Sie zeigen, wie fremd ihr die Arbeiterinnen und deren Lebenswelt waren, und wie stark sie diese aus einer Perspektive bürgerlicher Wertvorstellungen heraus betrachtete. Dyhrenfurth unterschied zwischen „guten“ und „schlechten“ Arbeiterinnen; die „guten“ waren für sie die ver43 Vgl. Schulze-Gaevernitz (1890), Band 2, S. 141f.; Brentano (1931), S. 50 und S. 54f.; Krüger, Dieter (1983), S. 29–32; Lindenlaub (1967), S. 53f. 44 Dyhrenfurth (1894), S. 219; Dyhrenfurth (1895a), S. 227. Zu Annie Marland-Brodie siehe Schwarzkopf (2004), S. 92 und S. 96. 45 Dyhrenfurth (1895a), S. 223.
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bürgerlichten Arbeiterinnen, die eine nationale Einstellung sowie eine christliche, sittliche Lebensführung hatten. Marland gehörte für Dyhrenfurth zur „Aristokratie der Arbeiterschaft“, denn sie war religiös und ihr war durch Bildung der gesellschaftliche Aufstieg von einer Textilarbeiterin zu einer führenden Gewerkschaftsfunktionärin gelungen.46 Nach der Rückkehr von ihrer Studienreise begann Dyhrenfurth, die Arbeitsbedingungen der Heimarbeiterinnen in der Berliner Bekleidungs- und Konfektionsindustrie zu erforschen. Bei der methodischen Vorgehensweise orientierte sie sich an sozialpolitischen Erhebungen englischer Sozialwissenschaftlerinnen, mit denen sie sich während ihrer Reise intensiv auseinandergesetzt hatte und über die sie in mehreren Artikeln berichtete.47 Sie hatte sich bereits mit einigen Artikeln wissenschaftlich profiliert, hatte mit Gnauck-Kühne und der Evangelisch-sozialen Frauengruppe beim Berliner Konfektionsarbeiterstreik die Heimarbeiterinnen unterstützt und hatte ihre Studie fast abgeschlossen, als sie an der Berliner Universität als Gasthörerin zugelassen wurde. Dyhrenfurth und Gnauck-Kühne waren zu diesem Zeitpunkt bereits zum Vorbild für jüngere Frauen wie Emily Greene Balch (1867–1961) geworden. Die Nationalökonomin, Pazifistin und spätere Nobelpreisträgerin war eine von zwei US-Amerikanerinnen, die 1895/96 mit einer Ausnahmegenehmigung bei Schmoller studieren konnten und die Dyhrenfurth und Gnauck-Kühne wegen ihrer wissenschaftlichen Leistungen bewunderten.48 Dyhrenfurth war zwei Semester Gasthörerin, aber trotz ihres großen wissenschaftlichen Interesses blieb ihr die Welt der Universität, in der Frauen als exotische Ausnahmeerscheinungen lediglich geduldet waren, fremd. Sie sei damals wohl nicht mehr jung genug gewesen, um in ein rechtes Verhältnis zur Alma Mater zu kommen, stellte sie später in einem Brief an ihre Freundin Gnauck-Kühne fest.49 Wissenschaftlichen Austausch mit und die Unterstützung von Professoren hat Gertrud Dyhrenfurth wohl eher im direkten Kontakt gesucht. Ihr wichtigster akademischer Lehrer war Max Sering, zu dem sie noch bis kurz vor seinem Tod in Verbindung stand. Sering war nur wenige Jahre älter als Dyhrenfurth, er war ein Schüler von Schmoller und Georg Friedrich Knapp (1842–1926) und gehörte schon wegen seines (physischen) Auftretens und seiner Erscheinung zu den imposanten Gestalten in der deutschen Wissenschaftslandschaft des frühen 20. Jahrhunderts.50 Der nationalkonservative Professor war von den 1890er Jahren bis 1933 einer der einflussreichsten Wissenschaftler auf siedlungs- und agrarpolitischen Gebiet und war weit über seine Fachkreise hinaus bekannt. Er befasste sich
46 Dyhrenfurth (1895a), S. 241f. Zu Dyhrenfurths Ablehnung der sozialistisch und kommunistisch organisierten Arbeiterinnen siehe Dyhrenfurth (1914a), S. 258f. 47 Dyhrenfurth (1895b, c). Zu Dyhrenfurths Studie siehe Kapitel II 3.2.1 der vorliegenden Arbeit. 48 Randall (1964), S. 92. 49 Dyhrenfurth an Gnauck-Kühne im Herbst 1906, in: Archiv des KDFB, Nachlass GnauckKühne, 1–111–12. 50 Siehe z. B. die Beschreibung von Marie Elisabeth Lüders (1937), S. 290.
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überwiegend mit internationalen Entwicklungen in der Agrarpolitik, deren Auswirkungen und deren möglicher Vorbildfunktion für Deutschland. Wie Schmoller trat er für die Reform- und Praxisorientierung der Wissenschaft ein und verteidigte diese gegen Max Webers Forderung nach einer Trennung von Wissenschaft und Werturteil. Sering war einer der nachdrücklichsten Förderer und Mentoren des nationalökonomischen Frauenstudiums in Deutschland. Bis zu seinem Tod ermutigte er Frauen zum Studium und zur wissenschaftlichen Arbeit, er unterstützte sie aktiv bei ihrem Wunsch zu habilitieren und band sie in seine wissenschaftlichen Forschungsprojekte ein.51 Sering war derjenige, der Alice Salomon trotz bestehender Hürden zur Promotion ermutigte.52 Bei ihm promovierten bekannte Akteurinnen der Frauenbewegung wie Marie Elisabeth Lüders und Gertrud Bäumer und er protegierte Charlotte Engel-Reimers (1870–1930), eine der ersten habilitierten Nationalökonominnen Deutschlands.53 Sering unterstützte begabte Frauen wohl aus ähnlichen Gründen wie Schmoller, über den Helene Simon rückblickend bemerkte, dass seine Förderung von Frauen „sicher nicht aus einer Vorliebe für das Frauenstudium“ erfolgte, sondern auf sein „feines Gespür für Zeiterfordernisse“ zurückzuführen sei.54
3.1.4 Gewerkverein der Heimarbeiterinnen und Ständiger Ausschuss zur Förderung der Arbeiterinnen-Interessen In den 1890er Jahren konzentrierte sich Gertrud Dyhrenfurths wissenschaftliches und sozialpolitisches Engagement auf die Gruppe der Heimarbeiterinnen. Sie führte eine aufwendige empirische Studie über die Situation der Berliner Heimarbeiterinnen durch und unterstützte die Heimarbeiterinnen gemeinsam mit Elisabeth Gnauck-Kühne und der Evangelisch-soziale Frauengruppe beim Streik in der Berliner Konfektionsindustrie.55 Dyhrenfurth arbeitete während des Streiks mit den Gewerkschaften zusammen, obwohl diese bei der Bewertung der Heimarbeit einen anderen Standpunkt vertraten. Aus Sicht der Gewerkschaften war die Hausindustrie, zu der auch die Heimarbeit zählte, eine vorindustrielle und veraltete Arbeitsform, die den Arbeitgebern die Ausbeutung der Arbeitskräfte und die 51 Vgl. z. B, Stoehr (2003), S. 31. 52 Salomon (2003[1928]), S. 392–397. 53 Zu Engel-Reimers siehe Vogt (2007), S. 95. Engel-Reimers war seit 1914 Serings wissenschaftliche Assistentin. Ihr Antrag auf Habilitation wurde 1928 genehmigt. Sie war zu diesem Zeitpunkt schon schwer krank und starb vor Abschluss des Habilitationsverfahrens im Oktober 1930. Ihre Arbeit wurde posthum von Sering herausgegeben. 54 Simon (1914), S. 124f. 55 Zu Dyhrenfurths Heimarbeiterinnenstudie siehe Kapitel II 3.2.1, zum Streik Kapitel II 2.1.4 der vorliegenden Arbeit. Zum Heimarbeiterinnenschutz und zum Konfektionsstreik siehe die grundlegenden Arbeiten von Schöck-Quinteros (1998b) und Beier (1983), hier insbesondere S. 163–166.
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Umgehung von Arbeits- und Krankenschutz erleichterte. Mit dem Streik wollten die Gewerkschaften u. a. die Einrichtung von Betriebswerkstätten durchsetzen, durch die Arbeitsschutzmaßnahmen besser kontrolliert werden konnten. Mit der Einführung von Werkstätten sollte auch die Heimarbeit in privaten Haushalt beendet werden. Für Dyhrenfurth widersprach dies jedoch den Interessen der Heimarbeiterinnen, die auf diese Form der Erwerbsarbeit als Lebensunterhalt angewiesen waren. Die hohe Beteiligung von nicht organisierten Frauen beim Streik war wohl ein Grund dafür, dass die gewerkschaftlich organisierten Männer ihre Forderung nicht durchsetzen konnten. Dyhrenfurth sah in der Heimarbeit einen schützenswerten weiblichen Arbeitssektor. Sie wollte nicht, dass dieser abgeschafft wurde, sondern dass die Arbeitsbedingungen verbessert wurden. Ein Vorgehen, das an die heutige Arbeit von NGOs erinnert, die versuchen, Arbeitsbedingungen in Asien oder Osteuropa nicht durch Boykott, sondern durch öffentlichen und politischen Druck auf Firmen zu verbessern. Dyhrenfurth kämpfte in den folgenden Jahren für die Einführung einer Mindestlohngarantie. Sie und Alice Salomon waren die Ersten, die in Deutschland eine gesetzliche Regelung der Heimarbeit durch Mindeststücklöhne (sogenannte Tarifämter) forderten, die es bis dahin nur in der englischen Kolonie Australien gab.56 Zur gleichen Zeit setzten sich auch Beatrice und Sidney Webb in England für die Einführung von Tarifämtern ein. Von Dyhrenfurths Studie über die Berliner Konfektionsindustrie ging ein wesentlicher Impuls zur Organisierung der Heimarbeiterinnen aus; die Studie wurde zum „Leitstern“ des Gewerkvereins der Heimarbeiterinnen Deutschlands. Adolf Stoecker, der nach seinem Austritt aus dem ESK als Gegenbewegung die FKS gegründet hatte, suchte nach einem Aufgabengebiet für deren von ihm geplante Frauengruppe. Dieses fand er in Dyhrenfurths Heimarbeiterinnenstudie. Auf einer Versammlung der FKS im Frühjahr 1899 griff Stoecker Dyhrenfurths Forderung nach der Gründung eines Gewerkvereins auf und appellierte an die anwesenden Frauen: „Wenn sie etwas tun wollen, was im besten Sinne christlich-sozial ist, dann organisieren sie die Heimarbeiterinnen.“57 Die Frauen in der FKS folgten seiner Aufforderung und begannen, nach dem Vorbild englischer Gewerkvereine ab Sommer 1899 ehrenamtlich Hausbesuche und Informationsveranstaltungen durchzuführen, bei denen die Heimarbeiterinnen über ihre Rechte aufgeklärt wurden. Der erste Gewerkverein der Heimarbeiterinnen wurde Anfang Oktober 1900 in Berlin gegründet und war eine reine Frauenorganisation. Als Gründungsmitglied dieses Gewerkvereins rechtfertigte Dyhrenfurth die getrennte Organisierung mit den geschlechtsspezifischen Aspekten des Arbeitslebens der Frauen, die in
56 Vgl. Wilbrandt (1904), S. 394 und Simon (1928a), S. 137. 57 Zur Gründung des Gewerkvereins der Heimarbeiterinnen Deutschlands vgl. Mumm (1901a; 1901b); Ohlmann (1925), S. 28; Baumann (1992a), S. 120–124 und S. 174–178.
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den gemeinsamen großen Organisationen nicht berücksichtigt würden.58 Im Frühjahr 1901 wurde der Berliner Gewerkverein Mitglied im Dachverband der christlichen Gewerkschaften. Als nationalkonservativer Verband, dessen grundlegender Gedanke die Berechtigung der Heimarbeit war, die es gerade für Mütter zu erhalten galt, fügte der Gewerkverein sich in die konservative Sozialbewegung des Kaiserreichs ein, deren Anliegen es war, Weiblichkeit, Mütterlichkeit und das Heim als schützenswertes Gut zu definieren. Der Gewerkverein setzte zum einen auf praktische Hilfsmaßnahmen für seine Mitglieder, wie unentgeltlichen Rechtschutz in allen gewerblichen Streitigkeiten, Beratung im Umgang mit Behörden, Krankengeldzuschuss, unentgeltliche Arbeitsnachweise, gewerbliche und bildende Vorträge, geselliges Zusammensein, Leihbücherei und Vereinszeitschriften. Zum anderen versuchte er, d. h in erster Linie Dyhrenfurth, durch Petitionen und Appellationen staatliche Schutzmaßnahmen und Reformen durchzusetzen. Innerhalb der gewerkschaftlichen Organisationen nahm er der Gewerkverein eine Sonderstellung ein, da er vom Prinzip der Selbsthilfe abwich. Die praktische Vereinsarbeit wurde von den außerordentlichen Mitgliedern, den bürgerlichen Frauen ausgeführt, nicht von den Heimarbeiterinnen selbst. Er war weniger eine berufliche Interessensvertretung, wie die sozialistischen Gewerkschaften, sondern eher eine Art Wohlfahrtsverein. Für Dyhrenfurth war der Gewerkverein der Heimarbeiterinnen Deutschlands eine Art „Schwesternschaft“ und „Volksgemeinschaft“, eine „Interessen- und Gesinnungsgemeinschaft“, die von nationalem und christlichem Glauben getragen wurde.59 Wegen seiner sozialmonarchischen Haltung hatte der Gewerkverein auch die „tatkräftige Sympathie“ der Kaiserin. Zwischen 1900 und 1914 wuchs er von 150 auf über 10.000 Mitglieder an; 1918 gab es ca. 100 Ortsgruppen.60 Einen wesentlichen Anteil am Erfolg des Gewerkvereins der Heimarbeiterinnen Deutschlands hatte die seit der Gründung bestehende, „exzellent funktionierende Arbeitsteilung“ zwischen Dyhrenfurth und der Volksschullehrerin Margarethe Behm, die mit einem Brief an Paul Göhre die Diskussion über die Mitarbeit von Frauen im ESK angestoßen hatte.61 Dyhrenfurth, die spätere Ehrenvorsitzende62 des Gewerkvereins der Heimarbeiterinnen Deutschlands, war die wissenschaftliche Expertin; sie formulierte das Programm und verfasste schriftliche Anträge, wie beispielsweise eine umfangreiche Eingabe zur gesetzlichen Regelung 58 Vgl. z. B. Dyhrenfurth (1918a), S. 6. Dyhrenfurth wurde wegen ihres Engagements im Gewerkverein und ihrem Eintreten für Frauengewerkschaften von der sozialistischen Frauenbewegung mehrfach angegriffen, vgl. z. B. Lion (1926), S. 91. Zur Diskussion über Frauengewerkschaften in der Frauenbewegung siehe etwa Schöck-Quinteros (1998c). 59 Dyhrenfurth (1923). 60 Lüders, Else (1979[1902]), S. 173f.; Beier (1983), S. 153–155; Schöck-Quinteros (1998b), S. 188. 61 Zur Arbeitsteilung zwischen Dyhrenfurth und Behm im Gewerkverein siehe Mumm (1924), S. 5ff.; Ohlmann (1925); Heyde (1929); Wolff (1930), S. 43; Schöck-Quinteros (1998b), S. 189 und S. 201. 62 Gnauck-Kühne (1909d).
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der Heimarbeit durch eine Novelle der Gewerbeordnung, die sie Ende 1908 im Reichstag einreichte. Dyhrenfurth vertrat außerdem die Anliegen und Forderungen des Gewerkvereins auf Tagungen und in der Fachpresse.63 Unterstützt wurde sie dabei von Reinhard Mumm (1873–1932), dem Generalsekretär der FKS. Behm wiederum war die Vereinsvorsitzende, Aktivistin und Networkerin. Sie führte die mündlichen Verhandlungen, übersetzte das von Dyhrenfurth formulierte Programm in die politische Praxis des Gewerkvereins und knüpfte enge Kontakte zu den Vertretern der bürgerlichen Sozialreform, u den bürgerlichen Parteien und zu den Behörden. Über die Heimarbeit und die Situation der Heimarbeiterinnen wurde auch nach dem Streik in der Konfektionsindustrie noch viel und kontrovers diskutiert. Allein im Jahr 1904 gab es im Deutschen Reich drei große Konferenzen, auf denen der „Heimarbeiterinnenschutz“ ein zentrales Thema war. Auf allen drei Konferenzen waren Gertrud Dyhrenfurth und der Gewerkverein präsent. Im März 1904 fand der Allgemeine Heimarbeiterschutz-Kongress der (sozialdemokratischen) Gewerkschaften im Gewerkschaftshaus in Berlin statt.64 Die christlichen Gewerkschaften hatten unter Protest auf eine Teilnahme verzichtet, weil die VeranstalterInnen auf dem vorangegangenen Kongress eine Resolution verabschiedet hatten, die auf das völlige Verbot der Heimarbeit zielte. Dyhrenfurth und Behm konnten deshalb nur als inoffizielle Besucherinnen und nicht im Namen des Gewerkvereins teilnehmen. Trotz des Boykotts durch die christlichen Gewerkschaften wurde der Kongress zu einer bis dahin einzigartigen und eindrucksvollen Zusammenarbeit bürgerlicher Sozialreformer mit den sozialdemokratischen Gewerkschaften. Es waren außerdem viele Frauenvereine vertreten und fast die Hälfte der Teilnehmenden waren Frauen, was äußerst unüblich für diese Art von Veranstaltungen war. Eine Besonderheit für die bürgerlichen TeilnehmerInnen war schon der Veranstaltungsort. Der Kongress fand in einem Arbeiterviertel im Südosten Berlins statt und nicht wie sonst üblich in einem bürgerlichen Viertel. Vielen bürgerlichen KongressbesucherInnen erschien schon die Fahrt zur Veranstaltung wie eine Reise in ein anderes Land.65 Dyhrenfurth und Behm beteiligten sich an den Diskussionen und machten in ihren Wortmeldungen Propaganda für die Positionen und die Arbeit des Gewerkvereins der Heimarbeiterinnen Deutschlands. Dyhrenfurths Positionen wurden auf dem Kongress durch Robert Wilbrandt, einen der Hauptreferenten, vertreten. Er hielt später als wichtigstes Ergebnis des Kongresses fest, dass bei der endgültig beschlossenen Resolution die Forderung nach
63 Zu Dyhrenfurths programmatischem Referat auf dem 4. Verbandstag des Gewerkvereins der Heimarbeiterinnen Deutschlands im Februar 1913 siehe Die christliche Frau (1913); Die Hilfe (1914). Siehe auch die Rezensionen zu Dyhrenfurths Heimarbeiterinnenschriften von Meerwarth (1906); Bücher (1914) und Stieger (1918). 64 Vgl. Schöck-Quinteros (1998b), S. 194–201. 65 Vgl. Wilbrandt (1904). Zum „anderen Land“ im Südosten Berlins siehe Lindner (1997); Heuss-Knapp (1961), S. 54.
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rechtsverbindlichen Mindeststücklohntarifen, eine Forderung Dyhrenfurths, an erster Stelle stand.66 Wilbrandt war einer der wichtigsten Mitstreiter Dyhrenfurths in der Heimarbeiterinnenfrage. Er war Koreferent auf der Tagung des ESK am 26. Mai 1904 in Breslau, bei der Dyhrenfurth das Hauptreferat übertragen worden war.67 Mit ihrem Bericht über die miserable Situation der Heimarbeiterinn weckte sie bei den Zuhörenden großes Interesse und Betroffenheit. Anders als beim Gewerkschaftskongress wurde in der anschließenden Diskussion die von ihr und Wilbrandt geforderte Einführung von Mindeststücklöhnen jedoch als in Deutschland nicht praktikabel und nicht realisierbar zurückgewiesen. Kurz danach, im Juni 1904, wurde über die Heimarbeiterinnenfrage auf dem großen internationalen Frauen-Kongress in Berlin verhandelt, an dem Dyhrenfurth als Mitorganisatorin beteiligt war. Der Frauenweltbund umfasste damals etwa sieben Millionen Mitglieder in 24 Ländern, von denen am Berliner Kongress mehrere tausend teilnahmen. Der Kongress war ein Beweis für die Bedeutung und die Stärke der Frauenbewegung; die inhaltliche Gestaltung des Programms hatte der BDF übernommen, Hedwig Heyl und der Lyceum-Club die organisatorische Vorbereitung und Spendenbeschaffung sowie das gesellschaftliche Rahmenprogramm.68 In vier Sektionen mit jeweils sechs Unterteilungen wurde über die nationalstaatlichen Ausformungen von verschiedenen Arbeitsbereichen der Frauenbildung, der Frauenarbeit, der Frauenrechte und der Sozialen Arbeit diskutiert. Dyhrenfurth leitete das Panel über „Berufsorganisationen und Genossenschaftsbewegungen“ ein, auf dem sich praxiserfahrene Expertinnen aus europäischen und nordamerikanischen Ländern über die in ihren Ländern bestehenden Organisierungsversuche austauschten.69 Für den Gewerkverein der Heimarbeiterinnen Deutschlands sprach Else Lüders. In ihrem Referat stellte sie die Arbeiterinnenorganisationen vor, die es in Deutschland gab, verglich sie miteinander und kam zu dem Ergebnis, dass die Organisierung nach Berufen, wie im konservativ-protestantischen Gewerkverein, die geeignetste Form der Arbeiterinnenorganisierung sei. Die sozialdemokratischen Arbeiter(innen)gewerkschaften lehnte sie ab, denn diese gefährdeten ihres Erachtens die Einheit und Neutralität der Gewerkschaftsbewegung.70 Im Anschluss an ihren Vortrag kam es zu einer Kontroverse zwischen Lily Braun und Margarete Behm. Braun kritisierte die paternalistische Struktur des Gewerkvereins und dessen Bevormundung der Heimarbeiterinnen. Behm versuchte dagegen, die leitende Funktion der (groß)bürgerlichen Frauen im Gewerkverein herunterzu-
66 Wilbrandt (1904), S. 394. 67 Dyhrenfurth (1904). 68 Zur Einordnung des Kongresses und zur Kritik am Kongress siehe ausführlich Gerhard (1990), S. 210f. 69 Dyhrenfurth (1905d). 70 Else Lüders, in Stritt (1905), S. 361.
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spielen und verwies auf „den ethischen Wert“ der Zusammenarbeit zwischen Arbeiterinnen und bürgerlichen Frauen, die zur „Erziehung beider Teile“ beitrage.71 Gertrud Dyhrenfurth war eine der RednerInnen bei der Eröffnungsveranstaltung der Heimarbeiterinnen-Ausstellung 1906 in Berlin. Die überaus erfolgreiche Ausstellung, mit der das öffentliche Interesse an der Not der Heimarbeiterinnen geweckt werden konnte, war ein Ergebnis der und ein Beleg für die erfolgreiche Arbeitsteilung zwischen Dyhrenfurth und Behm, den beiden Hauptorganisatorinnen.72 Im Frühjahr 1909 war Dyhrenfurth Mitveranstalterin und – neben Alice Salomon – eine der drei Referentinnen der Tagung des Ständigen Ausschusses zur Förderung der Arbeiterinnen-Interessen zum Thema „Die Lohnfrage in der Heimarbeit“. Die Presse der bürgerlichen Sozialreform und der Frauenbewegung betonte, dass dies die erste Tagung in Deutschland war, bei der die Forderung nach gesetzlichen Mindestlöhnen in der Heimarbeit im Mittelpunkt stand.73 Dyhrenfurth konnte in ihrem Vortrag auf die erfolgreiche Einführung von Tarifämtern in England nach australischem Vorbild verweisen. Sie selbst versuchte zwischen 1909 bis 1912 durch Lobbyarbeit, rechtliche Eingaben und Öffentlichkeitsarbeit, die gesetzliche Verankerung von Mindestlöhnen in der Hausindustrie durchzusetzen. Sie holte Einschätzungen von englischen Experten und Angehörigen des Unterhauses ein, in denen über die positiven Erfahrungen mit dem am 1. Januar 1910 in England in Kraft getreten Gesetz über die Tarifämter berichtet wurde. Die Antworten präsentierte sie in der „Sozialen Praxis“ und auf dem Deutschen Heimarbeitertag 1910.74 Die Kampagnen, an denen sie mitwirkte, brachten für die in der Hausindustrie Beschäftigten zwar einzelne Fortschritte, wie die 19. Juli 1911 beschlossene Einbeziehung aller Heimarbeiterinnen in die gesetzliche Krankenversicherung. Das im Dezember verabschiedete Hausarbeitsgesetz klammerte die rechtsverbindliche Festlegung von Mindestlöhnen aber weiter aus.75 Erst das Heimarbeiterlohngesetz von 1923 (ein Abänderungsgesetz zum ursprünglichen, dem Schutz der Heimarbeiter dienenden Gesetz von 1911) verankerte diesen Gedanken schließlich in der Gesetzgebung.76 Dyhrenfurths sozialpolitische Positionen in der Heimarbeiterinnenfrage waren aus heutiger Sicht niedrigschwellig. Sie zielten darauf, Frauen/Arbeiterinnen dort abzuholen, wo sie standen. Dyhrenfurth hatte einen Anteil daran, dass Heimarbeit nach der Jahrhundertwende zunehmend als schützenswerter „weiblicher“ Arbeitsbereich wahrgenommen wurde. Darüber hinaus setzten Dyhrenfurth und Behm den Gewerkverein als die von der gemäßigten bürgerlichen Frauenbewegung und
71 Stritt (1905), S. 380. 72 Schöck-Quinteros (1998b), S. 201. Siehe auch die Rede Dyhrenfurths (1906b). 73 Vgl. Lüders, Else (1909). Die Referate sind abgedruckt in Schmidt/Dyhrenfurth/Salomon (1909). Dyhrenfurth konnte wegen Heiserkeit nicht selbst sprechen, sondern musste ihren Vortrag vorlesen lassen. 74 Dyhrenfurth (1910c); Dilke (1910); Birmingham (1910); Askwith (1910). 75 Vgl. Behm (1912); Sombart/Meerwarth (1923). 76 Lüders, Else (1932b).
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der Sozialreformbewegung akzeptierte Organisierungsform von Heimarbeiterinnen durch. Der VfS, der zunächst noch wie die Gewerkschaften die Abschaffung der Hausindustrie gefordert hatte, kam in seiner Bewertung im Jahr 1900 der Einschätzung von Dyhrenfurth nahe.77 Dyhrenfurth war in den Jahren bis zum Ersten Weltkrieg an mehreren Projekten der Frauenbewegung beteiligt. Sie gehörte zu den Gründerinnern und Vorstandsmitgliedern des Ständigen Ausschusses zur Förderung der ArbeiterinnenInteressen, einem Zusammenschluss von Gruppen der bürgerlich-liberalen und konfessionellen Frauenbewegung, sozialreformerischen und -karitativen Vereinen sowie einzelner Sozialpolitiker. Er wurde am 30. September 1907 gegründet, zu einem Zeitpunkt, als die Sozialpolitik im VfS als zentrales Thema an Bedeutung verlor. Vorsitzende und finanzielle Trägerin des Ständigen Ausschusses war Margarete Friedenthal (1871–1957). Seine Programmatik erinnerte sowohl an das Programm des ESK als auch an das (sozialpolitische) Selbstverständnis des VfS vor 1906, das Gustav Schmoller folgendermaßen zusammenfasste: „[Der VfS ist eine] Art Publikationsgesellschaft, d. h. wir sammeln wissenschaftliche Beiträge und Untersuchungen über die großen praktischen, volkswirtschaftlichen und sozialen Fragen der Gegenwart und publizieren sie in regelmäßiger Schriftenfolge. Und wir streben durch sie, wie durch unsere Generalversammlungen und unsere Debatten, die unparteiische Wahrheit zu fördern, gegenüber dem Kampf der Klassen und Parteien die Billigkeit und Gerechtigkeit zum Ausdruck zu bringen, der friedlichen sozialen Reform die Wege zu bahnen.“78
Wie dem VfS ging es dem Ständigen Ausschuss sowohl um die wissenschaftliche Diskussion als auch um die sozialpolitische Agitation.79 Anders als der VfS war er aber kein Zusammenschluss „sachverständiger und sozialpolitisch eifriger Männer“80, sondern von sozialpolitisch interessierten Frauen. Sein Ziel war zum einen, durch das Studium der Arbeiterinnenfrage im In- und Ausland, durch die Sammlung und Bearbeitung des einschlägigen Materials, durch die Veranstaltung von Enqueten und Statistiken und durch die praktische Mitarbeit in den gewerkschaftlichen Organisationen die weiblichen Vereinsmitglieder theoretisch und praktisch zu schulen. Zum anderen sollte durch Anregung und Vorbereitung von gesetzlichen Reformen und die Einwirkung auf Gemeindevertretungen und Parlamente die soziale Lage der Arbeiterinnen verbessert werden.81 Dyhrenfurth gehörte zu den aktivsten Mitgliedern. Sie war in zwei der drei vom Ständigen Ausschuss in den Jahren 1907 bis 1914 durchgeführten „Deutschen Konferenzen zur Förderung der Arbeiterinnen-Interessen“ als Referentin involviert; 1909 bei der bereits erwähnten Tagung über die Lohnfrage in der Heimarbeit und 1914 zu ihrem zweiten Arbeitsschwerpunkt, der Frage der „Frauen in der Landwirtschaft“. Sie arbeitete in der Kommission Frauenarbeit auf dem Lande des Ständigen Ausschusses mit, 77 78 79 80 81
Zur veränderten Haltung des VfS zur Heimarbeit siehe Sombart (1900), S. 1160f. Schmoller (1900a), S. 2. Rummler (1984), S. 45. Brentano (1931), S. 93. Concordia (1907). Zu den Zielen siehe auch Lüders, Else (1907).
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in deren Rahmen sie mehrfach Projekte anregte und durchführte. Hierzu gehörten die Einführung der ländlichen Pflichtfortbildungsschule für Mädchen und die Enquete über die Frauen in der Landwirtschaft. Dyhrenfurth arbeitete auch bei der Ausstellung „Die Frau in Haus und Beruf“ mit, bei der es darum ging zu zeigen, wie breit und heterogen die Arbeitsfelder und Berufe von Frauen und wie vielfältig die Aspekte ihres Arbeitslebens im Haus und im Beruf inzwischen waren. Dyhrenfurths Arbeitsgruppe „Die Frau in der Landwirtschaft“ stellte für die Ausstellung beispielsweise Exponate zu den regional und thematisch unterschiedlichen Facetten von Frauenarbeit in der ländlichen Wohlfahrts- und Heimatpflege zusammen.82 Die Ausstellung, die von den großen Frauenverbänden gemeinsam veranstaltet wurde, fand vom 24. Februar bis 24. März 1912 in den Hallen des Zoologischen Gartens in Berlin statt. Sie war die bis dahin größte Leistungsschau der Frauenbewegung in Deutschland, wurde von mehr als einer halben Million Menschen besucht und hatte ein breites Echo in der Presse. Der BDF organisierte als Begleitprogramm, das die Ausstellung inhaltlich fundieren sollte, den fünftägigen Deutschen Frauenkongress. Aus der Arbeit für die Ausstellung, die unter anderem im Erstellen umfangreicher Statistiken bestand, entstand die Idee zu einer umfassenden Untersuchung der Lage der Frauen in der Landwirtschaft, die Dyhrenfurth anschließend im Rahmen des Ständigen Ausschusses durchführte.83 Die Ausstellung gilt als Zeichen für eine konservative Wende im BDF. Während sich die Frauenbewegung in England radikalisierte und die englischen Suffragetten versuchten, mit militanten Mitteln das Stimmrecht zu erkämpfen, entschied sich die bürgerliche Frauenbewegung in Deutschland, sowohl beim Thema der Ausstellung und des Kongresses als auch bei dessen Präsentation für einen sehr beschwichtigenden Charakter. Aus Angst vor dem Verlust der positiven öffentlichen Stimmung gegenüber den vielzitierten „berechtigten“ Forderungen der Frauenbewegung betonten deren gemäßigte Vertreterinnen wie Dyhrenfurth noch stärker einen vermeintlich genuin weiblichen Kulturbeitrag und rückten anstelle von Rechtsforderungen die Übernahme von Frauenpflichten in den Vordergrund. Aus gutem Grund wurde der Ausstellung das „Haus“ im Titel vorangestellt84 und die Gleichwertigkeit von Haus- und Berufsarbeit ausdrücklich betont.85
3.1.5 Gutsfrau und Sozialreformerin Nach dem Tod ihres Vaters 1899 bewirtschaftete Gertrud Dyhrenfurth gemeinsam mit ihrem Bruder Walter das Gut Jakobsdorf. Seitdem richtete sich ihr wissenschaftliches und sozialpolitisches Interesse immer mehr auch auf die in der Land82 83 84 85
Zur Abteilung „Die Frau in der Landwirtschaft“ siehe die Ankündigung in: Das Land (1912). Velsen (1956), S. 114. Zur Untersuchung siehe Kapitel II 3.2.3 der vorliegenden Arbeit. Planert (1998), S. 111. Siehe. z. B. Peyser (1958), S. 52.
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wirtschaft arbeitenden Frauen. Bei der ländlichen sozialen Frage gelang es ihr, ihre verschiedenen Rollen als Gutsfrau, praktische Sozialreformerin, Wissenschaftlerin und Sozialpolitikerin zu verbinden und produktiv zu nutzen. Ihre empirischen Studien – „Ein schlesisches Dorf und Rittergut“ (1906) und die Enquete „Frauen in der Landwirtschaft“ (1913ff.) – und Artikel, die in dieser Zeit entstanden, ermöglichten es ihr, über ihr Selbstverständnis als Gutsfrau und die praktische Umsetzung sozialer Einrichtung in Jakobsdorf zu reflektieren. Dyhrenfurth hatte den Ruf einer erfahrenen Gutsfrau und Landwirtin, sie und Bruder galten als „Sozialpolitiker ersten Ranges“.86 Von ihren Gutsleuten wurde Dyhrenfurth als soziale und mütterliche Gutsherrin beschrieben, die sich – bescheiden und auf eigene hohe Ansprüche verzichtend – stets vorrangig um die sozialen und kulturellen Belange der ihr anvertrauten Gefolgschaft kümmerte und stets für alle Guts- und Dorfleute ansprechbar war.87 Als Einzelperson realisierte Dyhrenfurth in Jakobsdorf überwiegend auf eigene Kosten und fast ohne institutionelle Unterstützung soziale Projekte zur Verbesserung der Lage der auf dem Gut und in der Gemeinde arbeitenden und lebenden Erwachsenen und Kinder. Zwar gehörte ein gewisses Maß an sozialen Standards seit der Jahrhundertwende immer mehr zum Selbstverständnis aufgeklärter, gebildeter Gutseigentümer88, trotzdem blieb Dyhrenfurth mit ihren in Jakobsdorf geschaffenen sozialen Bildungs- und Kultureinrichtungen bis zum Ende des Zweiten Weltkrieges eine Ausnahmeerscheinung. Das Ausmaß ihrer sozialen Neuerungen wird deutlich, wenn man sich die damaligen Arbeitsverhältnisse der Landarbeiter in Schlesien vergegenwärtigt. Diese glichen um 1890, wie Max Weber feststellte, selbst „bei optimistischer Beurteilung“, „einem Trümmerfelde“. Den adligen Gutsbesitzern Mittelschlesiens fehle jegliches Interesses an einer menschenwürdigen Existenz der Arbeiter; sexuelle Übergriffe und Missbrauch als Teil der patriarchalen Tradition hätten weiterhin Bestand. Nur dort, wo Großindustrielle Gutsbesitzer waren, gebe es überhaupt menschenwürdige Wohnungen und eine angemessene Behandlung der Arbeiter.89 Das paternalistische Herrschaftssystem blieb in den durch Großgrundbesitz geprägten östlichen Provinzen Preußens bis zum Zweiten Weltkrieg weitgehend intakt. Bis zur Auflösung der Gutsbezirke im Jahr 1927 verkörperte die Gutsherrschaft die zentrale lokale Instanz von Rechtsprechung und Verwaltung.90 In dieser Sozialordnung blieben die Landarbeiter bis 1918 eine durch Arbeits- und Lebensumstände sowie Sondergesetze besonders benachteiligte Arbeitergruppe. Die Familie Dyhrenfurth errichtete in Jakobsdorf schon während der Kaiserzeit eine Infrastruktur, die soziale Einrichtungen wie Kinderbetreuung, Bildungs-
86 Siehe z. B. Velsen (1956), S. 185; Barchwitz (1932). 87 Ernst Preuß an Eberhard Marcon am 15. August 1982, in: UAT 359, Nr. 2000; Velsen (1956), S. 185. 88 Zu diesen gehörte Marie von Kramsta (1843–1923). Zu Kramsta siehe dazu Hofmann (1926). 89 Weber, Max (1984[1892]), S. 738ff. 90 Puhle (1975), S. 45; Zollitsch (1992), S. 242f.
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und kulturelle Angebote umfasste. Für die damalige Zeit besonders modern war das von Gertrud Dyhrenfurth und ihrem Bruder gestiftete Gemeindehaus, das zentral im Dorf lag und eines der ersten seiner Art in einer ländlichen Gegend war. Gemessen an seiner räumlichen Größe gehörte es zu den kleineren Gemeindehäusern. Geplant wurde es von Dyhrenfurths Nichte, der Architektin Elisabeth von Knobelsdorff und eingeweiht am 1. Januar 1916; verwaltet wurde es von Dyhrenfurth. Träger und zuständig für die laufenden Kosten war der Vaterländische Frauenverein Kreis Neumarkt, dem Dyhrenfurth „das ganze Besitztum nebst kleinem Unterhaltskapital“ überschrieben hatte.91 Das Gemeindehaus war multifunktional, es war gleichermaßen soziales wie kulturelles Zentrum.92 In ihm waren die Krankenpflege- bzw. Schwesternstation, der Kindergarten, die Vorschule und ab 1920 die Fortbildungsschule für Mädchen untergebracht. Es gab ein Krankenzimmer und im Sommer wurde ein Raum für den mehrwöchigen Aufenthalt von erholungsbedürftigen Arbeiterinnen aus der Stadt zur Verfügung gestellt. Eine Kleinkinderbetreuung in Form einer sogenannten „Spielschule“ hatten die Dyhrenfurths bereits 1894 eingeführt. Dort sollten die Kinder von haupt- und ehrenamtlichen Kräften beaufsichtigt werden, wenn ihre Eltern arbeiteten. Die Vorschulkinder wurden seit 1904 von einer Schwester des Frankensteiner Diakonissenhauses betreut, die im Gemeindehaus wohnte. Sie war ausgebildete Landpflegerin und auch für die Gemeinde- und Krankenpflege zuständig.93 Mit dem Gemeindehaus sollte Platz für ein dörfliches Gemeindeleben und eine räumliche Alternative zum sozialen Treffpunkt des Wirtshauses geschaffen werden. Im Gemeindehaus fand einmal im Monat ein protestantischer Gottesdienst statt. Es gab eine Leihbibliothek, deren Grundstock vom Verein für Volksbildung (Berlin) stammte und die hauptsächlich von älteren Jugendlichen genutzt wurde. Die Küche wurde sowohl von der Landpflegeschwester als auch als Lehrküche für Kochkurse genutzt, die im Rahmen von Wanderhaushaltungsschulen und dem Fortbildungsunterricht stattfanden. Der Kindergarten war im 50 qm großen Versammlungsraum untergebracht, der auch für kulturelle Aktivitäten wie Theateraufführungen sowie Informationsveranstaltungen und Schulungen genutzt wurde. Städtische BesucherInnen aus den Kreisen der Frauenbewegung und der Sozialreform, die häufig in Jakobsdorf zu Gast waren, zeigten sich vom Gemeindehaus beeindruckt. Dorothee von Velsen (1893–1970) fühlte sich bei ihren Besuchen der Women’s Institutes in England oft an „das rosa Häuschen“ in Jakobsdorf erinnert und bedauerte, dass es „ohne nennenswerte Nachfolge“ blieb.94 Die Konzeption des Gemeindehauses erinnert etwas an die angloamerikanischen Settlements, die ab den 1880er Jahren in den Arbeitervierteln der Großstädte entstande91 92 93 94
Dyhrenfurth (1925a); Handbuch des Vaterländischen Frauenvereins (1917), S. 526. Zur Nutzung des Gemeindehauses siehe Berndt (1997[1924]). Siehe die Abbildungen 17 und 19 im Bildanhang. Velsen (1956), S. 185f. Zu Dorothee von Velsens häufigen und teilweise längeren Besuchen in Jakobsdorf siehe Velsen (1956), S. 185f. und S. 291.
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nen Nachbarschaftszentren. Die ländlichen Gemeindehäuser erfüllten ähnliche soziale und kulturelle Funktionen. Allerdings war das Jakobsdorfer Gemeindehaus nicht gleichzeitig Wohn- und Wirkungsort einer Gruppe von SozialreformerInnen, wie etwa das Hull House in Chicago, denn im Gemeindehaus wohnte lediglich die Gemeindeschwester. Die anderen sozialreformerischen Kräfte, Gertrud Dyhrenfurth und das Lehrerehepaar des Dorfes, lebten in der Nachbarschaft. SozialreformerInnen und NutzerInnen waren sich nicht unbekannt, ihr Verhältnis war jedoch durch soziale Hierarchie und ökonomische Abhängigkeit gekennzeichnet, denn Dyhrenfurth war Arbeitgeberin der meisten BewohnerInnen der Gemeinde und des Dominiums. Das Gutshaus bildete das Zentrum, von dem gemeinschaftstiftende Impulse für das gesamte Dorf ausgingen. Die gutsherrschaftliche Fürsorge war allerdings auch in Jakobsdorf nicht nur humanistischer Selbstzweck, sondern als „the softer side of domination“ auch Teil von Herrschaft und Mittel zur sozialen Kontrolle.95 Dies zeigte sich an Dyhrenfurths Selbstverständnis und Praxis als Gutsfrau und am sozialen Leben in Jakobsdorf. „Die ideale Gutsfrau“ war für Dyhrenfurth „die Mutter ihrer Umgebung“.96 Sie sah in ihr „die berufene Pflegerin ländlicher Wohlfahrt“, die mit Rat und Hilfe den Kranken und Hilfsbedürftigen zur Seite stand, die jedes Kind von Geburt an kannte und die „auf die heranwachsende Jugend einen leitenden, bewahrenden Einfluss“ ausübte.97 Ein „Vertrauensverhältnis“ zu ihren Untergebenen schien Dyhrenfurth wichtig, um „Einfluss üben zu können“.98 Wie den städtischen Sozialreformern ging es Dyhrenfurth um den „sozialen Frieden“, d. h. sie wollte die Arbeits- und Lebensumstände der ArbeiterInnen verbessern, ohne die bestehende Gesellschaftsordnung mit ihren sozialen Ungleichheiten und Machtasymmetrien zu gefährden. Gerade wegen der von ihr geschaffenen modernen sozialen Einrichtungen irritiert es, wie sehr Dyhrenfurths Vorstellung einer „guten Gutsherrschaft“ an den Paternalismus der feudalen Gesellschaftsordnung erinnert: Sie impliziert Wärme und unmittelbare Beziehungen, verklärt gesellschaftliche Realität und vermischt gesellschaftliche Realität und Ideal. Verbunden mit der Autarkie des Guts und der Einheit von Gut und Dorf wurde so eine harmonische Gemeinschaft suggeriert, die der Idee des „ganzen Hauses“ (Otto Brunner)99 entsprach, die im Zuge der Industrialisierung und Verstädterung scheinbar verloren gegangen war. Die Kultur- und Wertgemeinschaft wurde als natürliche Ordnung empfunden, bei der alle ihren Platz kannten und wussten, wo oben und wo unten ist. Eine wichtige Rolle spielte dabei die „symbolische Herrschaft“, die sich in Sprache, Verhalten und wechselseitigen Pflichten, aber auch in vielen kleinen Dingen des Alltags manifestierte. Durch die dadurch
95 Zum Verhältnis von Dorf und Gutsherrschaft allgemein siehe Baranowski (1995), S. 71f.; Pyta (1996), S. 58–78; Hempe (2002), S. 271–316. 96 Dyhrenfurth (1920a), S. 23. 97 Lippe (1907), S. 257. 98 Dyhrenfurth (1913b), S. 117. 99 Brunner (1966).
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aufrechterhaltene soziale Distanz bei gleichzeitiger enger physischer Nähe geriet nie in Vergessenheit, dass die Herrschenden sich von den Beherrschten als Menschen grundsätzlich unterschieden.100 Die Erinnerungen ehemaliger Jakobsdorfer zeigen, dass auch die Beschäftigten des Guts die hierarchische Gesellschaftsordnung kaum hinterfragten. Die Weihnachtsfeier, eine der wenigen Gelegenheiten, bei der sie von Dyhrenfurth ins Schloss eingeladen wurden, erweckte bei ihnen „ein besonderes Zugehörigkeitsgefühl“. Es war, so einer der Gutsleute, „wie in einer großen Familie. Jeder wusste, wo er hingehörte und brauchte sich um seine Zukunft keine Sorgen zu machen“.101 Trotz der bestehenden sozialen Unterschiede und der gesellschaftlichen Hierarchie nahmen sich Herrschaft und Gefolgschaft in Jakobsdorf als eine große Familie wahr. Auch das Gruppenbild, das Dyhrenfurth mit der Belegschaft ihres Dominiums zeigt, vermittelt den Eindruck der familienähnlichen Ordnung.102 Auf dem Foto sind 138 Bewohner des Guts unterschiedlichen Alters und Geschlechts im Garten des Gemeindehauses als Gruppe arrangiert. Dyhrenfurth als Oberhaupt der Gemeinschaft in der Mitte, links und rechts neben ihr die ihr in der gesellschaftlichen Hierarchie am nächsten Stehenden, mit denen sie jahrzehntelang eng zusammenarbeitete: der Lehrer Paul Berndt (18??–1941) und der Gutsverwalter Martin Preuß (18??–1937) mit ihren Ehefrauen. Die Vereine, die das Gemeindehaus nutzten, waren keine selbstständigen Vereine im heutigen Sinn. Ihre Vereinstreffen standen – wie die meisten anderen Veranstaltungen – unter der Leitung und Aufsicht von Gertrud Dyhrenfurth oder der von ihr beauftragten Honoratioren. Die Veranstaltungen und Vereinstreffen, die sich überwiegend an Frauen und Jugendliche richteten, sollten das dörfliche Gemeinschaftsgefühl, aber auch das Interesse der Landbevölkerung an Bildung und Kultur fördern. Die kulturellen Veranstaltungen im Gemeindehaus wurden von einem Ausschuss für Volksbildung, dem Dyhrenfurth und der Dorflehrer angehörten, initiiert und geleitet. Es gab z. B. eine Laientheatergruppe, bei der fast ausschließlich die Frauen des Guts und des Dorfes mitwirkten. Dyhrenfurth stellte eine Auswahl von in ihren Augen geeigneten Theaterstücken, wie etwa „Hänsel und Gretel“ in der Bearbeitung von Engelbert Humperdinck (1854–1921), zur Verfügung und stiftete die Kostüme für die Aufführungen.103 Die Auswahl der Stücke und die Proben dazu fanden im Schloss unter der Regie des Lehrers statt. Stolz war Dyhrenfurth, dass ihr 1900 die Gründung eines Jakobsdorfer Zweigvereins der VFV gelungen war. Zu den Mitgliedern gehörten Frauen des Dominiums und des Dorfes im Alter von 18 bis 80 Jahren sowie der Lehrer. Daneben gab es zwei Untervereine mit wöchentlichem Unterhaltungsprogramm, die von der Landpflegeschwester geführt wurden, einen Jungmädchenverein (11–15 Jahre) und einen Mädchenverein (16–18 Jahre). Die Vereinsabende des Jakobs100 101 102 103
Berdahl (1980), S 123–145. Simon, Willi (1997), S. 11. Siehe Abbildung 17 im Bildanhang. Dyhrenfurth (1918c).
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dorfer Frauenvereins fanden im Sommer selten, in den Winterhalbjahren vierzehntägig statt. Bei den Treffen handelte es sich um kulturelle Veranstaltungen wie Lesungen und Theateraufführungen oder Informationsveranstaltungen über hauswirtschaftliche und landwirtschaftliche Themen oder über hygienische Fragen wie die Säuglingspflege. Die Informationsveranstaltungen war Dyhrenfurth wichtig, denn sie wollte, dass auch die Jakobsdorfer Hausfrauen und Mütter in der Gesundheitspflege, den Erziehungsmethoden und der Wirtschaftsführung auf dem neuesten Stand waren.104 Diese Aktivitäten des Frauenvereins waren auch als Ersatz für das vielfältige städtische Kultur- und Freizeitangebot gedacht und sollten den Frauen eine Abwechslung zum Arbeitsalltag bieten.105 Entsprechend den Maximen der VFV verstand sich der Jakobsdorfer Zweigvereins als interkonfessionell, überparteilich und ausschließlich der Humanität verpflichtet.106 Anders als bei den zentralen, protestantisch geprägten Gruppen der VFV, die diesen Anspruch in der Praxis meist nicht einlösten, gehörten dem Jakobsdorfer Frauenverein sowohl evangelische als auch katholische Mitglieder an. Das entsprach den konfessionellen Anteilen in Gemeinde und Gutsbezirk (zwei Drittel evangelisch, ein Drittel katholisch). Die Organisationstruktur des Vereins war hierarchisch und paternalistisch bzw. maternalistisch: An der Spitze standen Dyhrenfurth und das Lehrerehepaar als Honoratioren des Dorfes. Der Frauenverein war für Dyhrenfurth „eine Handhabe, um auf das soziale Leben im Dorfe einzuwirken“ und der zum sozialen Frieden zwischen Gutsherrschaft und Gutsleuten beitrug.107 An der Geschäftsleitung war zwar ein aus allgemeinen Wahlen hervorgegangener Vorstand beteiligt, mit diesem pseudodemokratischen Angebot sollte jedoch hauptsächlich das Interesse am Verein geweckt werden, Dyhrenfurth hielt die Landarbeiterschaft für noch nicht demokratiefähig. Mit der Beteiligung an der Entscheidungsfindung des Vereins wollte sie, sozusagen als ersten Schritt, den Gutsleuten und Dorfbewohnern das „Gefühl der Mitverantwortung, die erste Voraussetzung für demokratische Gestaltung“ vermitteln.108 Eine weitere soziokulturelle Einrichtung in Jakobsdorf, über die Gertrud Dyhrenfurth mehrfach berichtete und die als Mittel zur Herstellung und Aufrechterhaltung symbolischer Herrschaft betrachtet werden kann, waren die von ihr initiier-
104 Dyhrenfurth (1898), S. 29. 105 Zum Jakobsdorfer Frauenverein siehe Dyhrenfurth (1913b; 1921a). Zur Praxis der VFV siehe Süchting-Hänger (2002), S. 136. 106 Dyhrenfurth (1913b). Als interkonfessionelle Tendenz wird auch „die bewusste Überwindung der Scheidung in lutherisch und reformiert zugunsten eines neuartigen evangelischen Prinzips“ bezeichnet, die für den Verbandsprotestantismus charakteristisch war, vgl. Kaiser (1993), S. 258f. Zur Divergenz zwischen Anspruch und politischer Praxis der VFV im Hinblick auf Interkonfessionalität siehe Süchting-Hänger (2000), S. 132f. Um 1917 hatten die VFV in Schlesien 64 städtische Ortsgruppen mit etwa 30.000 Mitgliedern und 114 ländliche Ortsgruppen mit ca. 130.000 Mitgliedern. 107 Dyhrenfurth (1921a; 1913b). 108 Dyhrenfurth (1921a).
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ten jahreszeitlichen Dorffeste.109 Für Dyhrenfurth ermöglichten sie das gemeinschaftliche Erleben einer harmonischen Gemeinschaft jenseits sozialer Differenzen und bestehender Klassenantagonismen. Dorffeste waren ein Teil der von der ländlichen Reformbewegung seit der Jahrhundertwende propagierten „Heimatpflege“; mit der Neubelebung und Pflege von traditionellen Feiern und Volkskunst sollte eine spezifisch ländliche kulturelle Identität geschaffen werden. Der ländlichen Bevölkerung sollte ein auf das Dorf und die Region bezogenes klassenund schichtübergreifendes Gemeinschaftsgefühl angeboten werden. Als Gegenoder Alternativentwurf zur städtischen Arbeiterbewegung und deren Arbeitervereinen sollte mit der Dorfgemeinschaft ein Ersatz für die möglicherweise als defizitär empfundene fehlende Gruppenidentität und Gemeinschaft einer städtischen Arbeiterschaft geschaffen und die LandarbeiterInnen so gegen sozialdemokratische Agitation immunisiert werden. Differenzen und Klassengegensätze wurden in diesem Entwurf einer ländlichen Gemeinschaft verleugnet, soziale Kämpfe schienen in dem hierarchischen, von oben bestimmten Szenario einer großen harmonischen Familie ausgeschlossen: „Kein hässlicher oder roher Ton störte die helle Festesfreude, und von ihren Wogen getragen“, so verklärte Dyhrenfurth, „fühlte sich einer dem anderen genähert und die ganze Gemeinde wie eine große glückliche Familie.“110 Dyhrenfurth führte in Jakobsdorf beispielsweise den Brauch des Erntefestes wieder ein, eine alte gutsherrschaftliche Tradition. Vor der Bauernbefreiung hatte die Gutsherrschaft gemeinsam mit allen an der Ernte beteiligten Personen deren Abschluss gefeiert. Denn vom Ausgang der Ernte waren alle gleichermaßen betroffen, da der (Natural-)Lohn der Gutsleute nach dem Umfang des Ernteertrags berechnet wurde. Dyhrenfurth bedauerte, dass es seit dem Wechsel vom Naturalzum Geldlohn für die Landarbeiter nicht mehr so wichtig war, ob es eine gute oder schlechte Ernte gab. Dadurch sei auch das Gefühl einer klassenübergreifenden Schicksalsgemeinschaft verlorengegangen; dieses Gefühl hoffte sie durch die Erntefeste zu erneuern. Der Erntekranz war für sie ein Symbol der klassenübergreifenden Einigkeit; die bäuerliche Tracht, für deren Wiederbelebung sie sich einsetzte, sollte ein Gemeinschaftsgefühl jenseits sozialer Hierarchien fördern; die generationsübergreifende Beteiligung aller den Charakter eines Familienfestes vermitteln. Dyhrenfurth stand als Gutsherrin im Mittelpunkt des ritualisierten Ablaufs, der die bestehende soziale Hierarchie sanktionierte und ihr, wie ehemals den feudalen Gutsbesitzern, ein gewisses Maß an paternalistischer Intimität ermöglichte. Soziale Konflikte gab es laut Dyhrenfurth weniger zwischen Herrschaft und Gutsleuten, sondern mehr zwischen Gutsleute untereinander. Ihre eigene Beteiligung hatte ihres Erachtens eine ausgleichende, harmonisierende Wirkung auf die bestehenden sozialen Differenzen innerhalb ihrer Gemeinde.111
109 Siehe hierzu Bourdieu (1976), S. 329; vgl. Berdahl (1980), S. 140. 110 Dyhrenfurth (1906a), S. 151; siehe auch Dyhrenfurth (1922b). 111 Dyhrenfurth (1913b), S. 116.
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3.1.6 Deutscher Verein für ländliche Wohlfahrts- und Heimatpflege und Landfrauenorganisationen Gertrud Dyhrenfurths Arbeit als Gutsfrau und ihr wissenschaftliches und sozialreformerisches Interesse für die ländliche Thematik entwickelte sich vor dem Hintergrund zeitgenössischer Debatten, die sich mit den Ursachen und Folgen des technisch-industriellen Umbruchs und Strukturwandels in der Landwirtschaft befassten. Seit Mitte des 18. Jahrhunderts gab es, zunächst vor allem in England, ein großes Interesse an der Landwirtschaft; die Beschäftigung mit landwirtschaftlichen Themen gehörte zum guten Ton der herrschenden Klassen. Mit der zunehmenden Technisierung der Landwirtschaft sollte eine Produktivitätssteigerung erreicht werden, um die ausreichende Versorgung der wachsenden Bevölkerung mit Nahrungsmitteln zu gewährleisten.112 Die Innovationsbereitschaft der Familie Dyhrenfurth bei der Bewirtschaftung ihres Guts ist dafür beispielhaft. Für die Arbeit und das Selbstverständnis von Gertrud Dyhrenfurth spielte aber weniger die technische Seite, sondern vielmehr die seit Ende des 19. Jahrhunderts einsetzende, auf die ländlichen Verhältnisse zugeschnittene soziale Reformbewegung eine zentrale Rolle, die auf die Folgen des sich in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts beschleunigenden Strukturwandels reagierte. Dieser Strukturwandel, der sich in einer Land-Stadt-Binnenwanderung, einer Verstädterung und einer Verschiebung vom agrarischen zum industriellen Beschäftigungssektor manifestierte, wurde von den ZeitgenossInnen als existenzielle Bedrohung wahrgenommen. Im Zeitraum von knapp hundert Jahren (zwischen 1816 und 1910) hatte sich die Bevölkerungszahl Deutschlands verdreifacht, und innerhalb von etwas mehr als zwei Jahrzehnten hatte ein Umbruch vom Agrar- zum Industriestaat stattgefunden. Im Zuge der Industrialisierung war der Anteil der Bevölkerung, der von der Landwirtschaft lebte, kontinuierlich zurückgegangen; ab 1900 gab es in Deutschland mehr Beschäftigte in der Industrie und im Dienstleistungssektor als in der Landwirtschaft.113 Seit Ende des 19. Jahrhunderts wurde die Abwanderung landwirtschaftlicher Arbeitskräften – vor allem aus den ostelbischen Agrargebieten in die industriellen Ballungszentren des Westens – als „Landflucht“ bezeichnet. Der sich rasch durchsetzende wertende Begriff ignorierte die objektive Notwendigkeit der Land-StadtBinnenwanderung als Folge des industriellen Arbeitskräftebedarfs.114 Für agrarkonservative Denker wie Wilhelm Heinrich Riehl wurde die bestehende gesell-
112 Zur Geschlechterfrage in der Agrartechnik, zum Agrarwissen und zur Agrarsoziologie siehe z. B. Schmitt (2005); Schlude (2007). 113 Zur Binnenwanderung und Urbanisierung in Deutschland in der Zeit von 1880 bis 1914 siehe z. B. Wehler (1995), S. 503–545. 114 Vgl. Bergmann (1970), S. 17. Land-Stadt-Migration war als eine Folge der Industrialisierung ein internationales Phänomen und wurde auch in anderen Ländern als „Landflucht“ bewertet. Der politisch-ideologische Kern des Begriffs verstärkte sich während des Ersten Weltkriegs in der Gleichsetzung von „Landflucht“ und „Fahnenflucht“.
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schaftliche Ordnung durch die Land-Stadt-Migration destabilisiert und zerstört. Politisch wurde die als Folge der Binnenwanderung befürchtete Entsiedelung großer Teile der Gebiete östlich der Elbe als Bedrohung der deutschen Ostgrenze empfunden. Die Landarbeiterfrage galt deshalb als soziale Frage von großer Bedeutung und als zentrale Machtfrage des preußischen Staates.115 Dyhrenfurth begann um 1897, sich mit den Lebensumständen der ländlichen Bevölkerung und den Gründen der „Landflucht“ auseinanderzusetzen. Sie führte eine Studie über Jakobsdorf durch und initiierte später eine Enquete über „Frauen in der Landwirtschaft“.116 Dyhrenfurth ging davon aus, dass die Hauptgründe für die „Landflucht“ die schlechten sozialen Bedingungen, die fehlenden sozialen Aufstiegsmöglichkeiten und die Rückständigkeit der ländlichen Regionen waren.117 Ihre Analyse und ihre Lösungsvorschläge korrespondierten mit den (sozial)politischen Bestrebungen der bürgerlichen Sozialreform und der im Zuge der sogenannten „Inneren Kolonisation“ verfolgten Bodenreform. Forderungen nach sozialen Reformen auf dem Land hatten damals jedoch keine große Lobby und waren gegen den Widerstand des protestantisch-rechtsgerichteten Bunds der Landwirte (BdL) kaum durchsetzbar. Der 1893 gegründete Landwirtschaftsverband war eine der Vorfeldorganisationen des Konservatismus; er war die bedeutendste Interessensvertretung der Agrarier und eine der mächtigsten Lobbygruppen im Kaiserreich. Wegen der möglicherweise davon ausgehenden Veränderungen der Struktur der ländlichen Herrschaftsverhältnisse lehnte der BdL die Sozialreform ab: „Statt wirksame Maßnahmen einzuleiten, durch Verbesserung der Löhne, der Arbeits- und Lebensbedingungen und der Bildungsmöglichkeiten die Arbeiter auf dem Land zu halten und sie durch Schaffung neuer Bauernstellen im Rahmen der Inneren Kolonisation sesshaft zu machen, klagten die Agrarier unentwegt über die ‚Leutenot‘, jammerten über die ‚Landflucht‘ und schoben die Schuld auf die Juden und auf die Regierung, die angeblich zu wenig Zwang ausübe, die Arbeiter auf dem Lande festzuhalten.“118 „Trägheit“ und „Beharren“ waren die Eigenschaften, mit denen damals wohl am häufigsten die ländliche Gesellschaftsordnung charakterisiert wurde; auch Dyhrenfurth hat diese Begriffe mehrfach verwendet. Anders als die Agrarkonservativen bewertete sie das „Beharren“ aber eher negativ, als Stillstand und Fatalismus, der überwunden werden musste: Die „aus grauer Vergangenheit“ emporgewachsenen „Verhältnisse auf dem Lande“ hätten, so Dyhrenfurth, zu einer „gewissen trägen Beharrung“ geführt. Auch sie selbst sei „kritiklos und die gegebenen Zustände für unabänderlich haltend“ aufgewachsen. Aber durch die Nationalökonomie und die Kontakte zu Sozialreform und Frauenbewegung habe sie eine kritische Distanz und den Willen zur Veränderung entwickelt.119 Während es 115 116 117 118 119
Puhle (1975), S. 251. Zu den beiden Studien siehe Kapitel II 3.2.2 und II 3.2.3 der vorliegenden Arbeit. Dyhrenfurth (1919b), S. 4. Puhle (1975), S. 251. Dyhrenfurth (1919b), S. 3.
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Dyhrenfurth um eine Veränderung der gegebenen Zustände ging, idealisierten Agrarkonservative wie Riehl den Bauern als den „beharrenden Stand“, die „erhaltende“ und die gesellschaftliche Ordnung stabilisierende Macht, die es auch weiterhin zu bewahren galt.120 Zentrale Fragen, die Dyhrenfurth beschäftigten, waren: Wie lassen sich die Lebensbedingungen der ArbeiterInnen in den ländlichen Regionen verbessern? Wie lassen sich die für städtische Verhältnisse entwickelten sozialen Konzepte auf die ländliche Regionen übertragen? In einem Rückblick auf den Beginn ihres sozialen Engagements für das Land erinnerte Dyhrenfurth an ihre isolierte Stellung und die schwierigen Ausgangsbedingungen der ländlichen Sozialreform: „Doch wie sollte man in die Weiterentwicklung eingreifen? In welche Richtung und mit welchen Mitteln konnte man wirken? Dass die Formen, in denen die Sozialpolitik für die industrielle Arbeiterschaft arbeitete, nur bedingt für das Landvolk passten, und teilweise ganz unwirksam sein würden, lag für mich auf der Hand. Aber wie die passenden Formen für das Land finden? Mein Erfahrungskreis war so klein, eine allgemeine Orientierung so schwer. In der Stadt arbeitete ich mit vielen Gleichstrebenden zusammen, hier stand ich allein gegenüber dem Gesetz der Trägheit, das das Land nur allzu sehr beherrscht.“121
Gleichgesinnte MitsteiterInnen fand Dyhrenfurth im Umfeld des Deutschen Vereins für ländliche Wohlfahrts- und Heimatpflege und in der Landfrauenbewegung. Deren zentrale Organisationen waren die Wirtschaftlichen Frauenschulen auf dem Lande und die Landwirtschaftlichen Hausfrauenvereine (LHV), ihre öffentlich präsentesten Vertreterinnen waren Elisabet Boehm (1859–1943), die „Mutter der Landfrauenbewegung“, und Ida von Kortzfleisch, die Gründerin der Wirtschaftlichen Frauenschulen auf dem Lande. Die ostpreußische Gutsbesitzerin Boehm hatte 1898 den ersten landwirtschaftlichen Hausfrauenverein gegründet und war (ab 1916) langjährige Vorsitzende des Reichsverbands Landwirtschaftlicher Hausfrauenvereine, dem Vorläufer des heutigen Deutschen Landfrauenverbands.122 Diese Organisationen wollten die Stellung der Frau auf dem Land durch mehr Bildung, durch die Zusammenarbeit zwischen den Frauen auf dem Land und durch die Zusammenarbeit zwischen Land und Stadt verbessern. Es ging ihnen um die Systematisierung, den Ausbau und die Professionalisierung des Arbeitsfelds der Hausfrauen auf dem Land, das neben dem Haushalt auch die weiblich konnotierten Teile der landwirtschaftlichen Produktion umfasste, wie etwa die Geflügelzucht. Ein Schwerpunkt der Arbeit der ländlichen Frauenorganisationen war die Verbesserung der Erzeugung und des Absatzes landwirtschaftlicher Produkte. Die ländlichen Frauenorganisationen waren zwar von der städtischen bürgerlichen Frauenbewegung inspiriert, bildeten jedoch deren konservativen Gegenpart. Sie knüpften an die politisch konnotierte Wohlfahrtsarbeit der VFV an und
120 Riehl (1854[1851]), S. 41, S. 108 und S. 119. 121 Dyhrenfurth (1919b), S. 4. 122 Zu Elisabet Boehm und den LHV siehe ausführlich Schwarz (1990); Sawahn (2009a; 2009b).
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orientierten sich an der Standespolitik agrarischer Männerbünde wie dem BdL, zu denen auch personell eine große Nähe bestand. Die Aktivitäten der Landfrauenbewegung entfalteten sich vor dem Hintergrund der und in Abhängigkeit zu den strukturellen standespolitischen Machthierarchien der geschlossenen Männergesellschaft(en) der Landwirtschaftskammern und landwirtschaftlichen Vereine.123 Zwar suggerierte die Bezeichnung Landfrauen, Mitglieder seien alle auf dem Lande lebende Frauen, doch es organisierten sich – neben Ehefrauen einflussreicher Bürger – fast ausschließlich privilegierte Frauen der gutswirtschaftlichen Großbetriebe in den ländlichen Frauenvereinen. Sie einte ihr gemeinsames Weltbild und ihre gemeinsame politische Überzeugung. Kleinbäuerinnen, Landarbeiterinnen und Mägde waren aufgrund mangelnder Bildung und prekärer materieller Verhältnisse selten in der Lage, am Vereinsleben teilzunehmen, das sich schon zeitlich kaum mit ihrem Arbeitsalltag vereinbaren ließ.124 Obwohl Dyhrenfurth bei den Veranstaltungen der Landfrauenorganisationen meist als Vertreterin des Ständigen Ausschusses auftrat, zählte sie dennoch den führenden Vertreterinnen der Landfrauenbewegung.125 Wie schon bei der Heimarbeiterinnenfrage übernahm sie die Rolle einer wissenschaftlichen Expertin, die sich punktuell an Projekten beteiligte oder solche initiierte. Mit ihrer von Sozialreform und Frauenbewegung beeinflussten Sichtweise sowie ihrer wissenschaftlichen Argumentation blieb sie unter den Landfrauen aber eine Außenstehende. Ihre sozialpolitischen Vorschläge wurden mehrfach als zu städtisch und den ländlichen Interessen widersprechend abgetan. Sie selbst wiederum empfand die organisierten Landfrauen, mit denen sie zusammenarbeitete, oft als zu unsachlich.126 Dyhrenfurth verstand sich – ähnlich wie Margarete Gräfin von Keyserlingk (1879– 1958), die Vertreterin der Landfrauen im BDF – als Vermittlerin zwischen den berufsständisch-konservativen Interessen der Landfrauen und den liberaldemokratischen Zielen der gemäßigten bürgerlichen Frauenbewegung.127 Wie viele Protagonistinnen der Landfrauenbewegung fand Dyhrenfurth ihre organisatorische Heimat im Deutschen Verein für ländliche Wohlfahrts- und Heimatpflege. Ihr Bruder war bereits unmittelbar nach der Gründung 1897 Vereinsmitglied geworden, sie selbst gehörte ab 1902 zu den aktiven Mitgliedern und war seit 1917 eine von zwei Frauen im Vereinsvorstand.128 Der Verein war für Dyhrenfurth ein Forum, in dem sie ihre wissenschaftlichen Studien zu ländlichen Themen, deren Ergebnisse und sozialpolitischen Schlussfolgerungen sowie die Umsetzung sozialreformerischer Konzepte präsentieren und mit anderen ExpertInnen diskutieren konnte. Der Austausch mit den anderen Vereinsmitgliedern
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Sawahn (2009b), S. 72. Sawahn (2009a), S. 69. Wenck-Rüggeberg (1918). Siehe die Abbildungen 20 bis 22 im Bildanhang. Vgl. Dyhrenfurth (1911b). Zu Keyserlingk siehe Sawahn (2009a), S. 181. Dyhrenfurths Name wird erstmals in der Teilnehmerliste der 6. Hauptversammlung des Vereins 1902 erwähnt.
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beeinflusste ihre Arbeit als Sozialreformerin und Gutsfrau; vor allem in Bezug auf ihr Gemeindehaus hat Dyhrenfurth mehrfach auf die ideelle Vaterschaft des Vereins hingewiesen.129 Für Akteurinnen der VFV, zu denen Dyhrenfurth gehörte, war das Programm des Deutschen Vereins für ländliche Wohlfahrts- und Heimatpflege attraktiv, weil sein Anliegen einer ländlichen Wohlfahrtspflege an die Arbeit der VFV anknüpfte. Selbstbewusst wiesen sie auf eine Vorgängerin und Wegbereiterin der Wohlfahrtspflege aus ihren eigenen Reihen hin: Luise von Baden (1838–1923) hatte 1859 den ersten Badischen Frauenverein gegründet.130 Der Deutsche Verein für ländliche Wohlfahrts- und Heimatpflege wiederum war an der Mitarbeit der organisierten Landfrauen und der Mitgliedsfrauen der VFV interessiert. Es gab regelmäßig Berichte über deren Arbeit in den Zeitschriften des Vereins. Und er warb aktiv um die Mitarbeit von Frauen des bildungsbürgerlichen ländlichen Mittelstands, d. h. von Gutsfrauen, Pastoren- und Lehrerfrauen, an seinem Projekt der ländlichen Wohlfahrtspflege. Für Dyhrenfurth und viele andere Frauen war Heinrich Sohnrey (1859–1948) die maßgebliche Persönlichkeit des Vereins131, der aus der von Sohnrey gegründeten Halbmonatszeitschrift „Das Land“ hervorgegangen war. „Das Land“ verstand sich als christlich-soziales Zeitungsprojekt und wurde von evangelisch-sozialen Kreisen unterstützt, darunter auch Max Weber.132 Beim Deutschen Verein für ländliche Wohlfahrts- und Heimatpflege gab es zahlreiche personelle Überschneidungen mit dem ESK. Sohnrey war durch eine agrarromantische Artikelserie über den „Zug vom Lande und die soziale Revolution“ (ab 1890) bekannt geworden. Der sich daran anschließende Diskurs, der sich bis in die NS-Zeit zog, beeinflusste nachhaltig das Bewusstsein weiter Kreise in Stadt und Land.133 Sohnrey griff die zeitgenössische Diskussion über die „Landflucht“ auf und vertrat die These, dass es vor allem die ländliche Unterschicht sei, die wegen ihrer schlechten wirtschaftlichen und sozialen Stellung und wegen der fehlenden kulturellen und Bildungsangeboten aus den ländlichen Regionen abwandere.134 Das war damals zwar keine neue Erkenntnis, sie wurde jedoch durch die Ergebnisse der empirischen
129 Dyhrenfurth (1919b), S. 4. 130 Bartz (1909), S. 113. 131 Die Verbundenheit der Frauen zu Heinrich Sohnrey zeigen die Beiträge zu den Festschriften zu seinem 50., 60. und 70. Geburtstag, siehe z. B. Bartz (1909); Dyhrenfurth (1919b; 1929f). 132 Das erste Heft der Zeitschrift „Das Land“ erschien am 1. Januar 1893 und damit ein Jahr vor Friedrich Naumanns „Die Hilfe“ (deren erstes Heft bzw. eine Probenummer erschien im Januar 1894 bzw. Dezember 1893). Zur Mitarbeit Max Webers vgl. Weber, Max (1893a-c) sowie Flitner (2007[o. J.]), S. 52–54. Die Vereinsgründung fand drei Jahre nach der ersten Ausgabe von „Das Land“ statt. Im Oktober 1896 wurde in Berlin ein Ausschuss für Wohlfahrtspflege auf dem Lande gegründet, der 1903 in Deutscher Verein für ländliche Wohlfahrts- und Heimatpflege umbenannt wurde. Zur Anerkennung Sohnreys in evangelisch-sozialen Kreise siehe z. B. Baumgarten (1929), S. 251. 133 Bergmann (1970), S. 89. Zur Biographie Sohnreys siehe Kröger (1995). 134 Sohnrey (1894), S. 136. Zum Erfolg der Artikelserie siehe Bergmann (1970), S. 74.
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Untersuchungen von Theodor von der Goltz (1836–1905) (1893), Max Weber (1892, 1893) und Max Sering (1893), die kurz darauf erschienen waren, wissenschaftlich untermauert. Für Dyhrenfurth war Sohnrey schon deshalb von Bedeutung, weil er mit seinen Veröffentlichungen nicht nur die gebildeten ländlichen Kreise, sondern auch ausdrücklich den von ihm so bezeichneten „kleinen Mann“ auf dem Lande erreichen wollte.135 Das scheint ihm zum Teil gelungen zu sein: Wegen der enormen Auflagenhöhen seiner volkstümlichen Erzählungen und Märchen galt er als „Volksschriftsteller“. Zu beachten ist jedoch, dass seine Veröffentlichungen durch zivilisationskritische und rückwärtsgewandte Wert- und Lebensvorstellungen gekennzeichnet waren.136 Mit Artikeln und Erzählungen über die Land-Stadt-Migration junger Frauen, die eine hohe Auflage und eine breite LeserInnenschaft erreichten, entwarf Sohnrey ein antiurbanes und antimodernes Schreckensszenario, das die „Landmädchen in [der] Großstadt“ erwartete.137 Vermutlich fühlte sich nicht nur Dyhrenfurth von der Energie und Entschlossenheit angezogen, mit der Sohnrey das Projekt einer ländlichen Wohlfahrtspflege verfolgte.138 Auf seine Initiative hin wurde der Deutsche Verein für ländliche Wohlfahrts- und Heimatpflege gegründet, der den Eindruck einer sozialen Bewegung erweckte. Mit Unterstützung des Vereins entfaltete Sohnrey innerhalb von nur einem Jahrzehnt eine umfangreiche publizistische Aktivität. Neben seiner schriftstellerischen Tätigkeit gehörte dazu die Gründung des Verlags Deutsche Landbuchhandlung, die Gründung und Herausgabe mehrerer Zeitschriften und die Herausgabe mehrerer Sammelbände und Jahrbücher, die teilweise mehrere Auflagen erreichten und fast das gesamte Spektrum ländlicher Reformbemühungen und ländlichen Lebens abdeckten.139 Zu den Gründungsmitgliedern des Deutschen Vereins für ländliche Wohlfahrts- und Heimatpflege gehörte der erste Vorsitzende des ESK, der Landwirt und Reichstagsabgeordnete Moritz (August) Nobbe (1834–1910). Es gab außerdem gute Verbindungen zur staatlichen Bürokratie; der Agrarexperten Hugo Thiel (1839–1918), Politiker und Ministerialdirektor im Landwirtschaftsministerium, war ein wichtiger Unterstützer des Vereins, was den Zugang zu staatlichen finanziellen Mitteln erleichterte.140 Thiel gehörte zu den Gründern des VfS und wirkte
135 Dyhrenfurth (1919b). 136 Zu der mit Fortschrittskritik und Großstadtfeindlichkeit einhergehenden romantischen Verklärung ländlicher Kultur siehe Bergmann (1970); Weber-Kellermann (1989[1987]), S. 388– 394. 137 Sohnrey (1910). „Friedesinchens Lebenslauf“, Sohnreys populärstes „Frauenbuch“, erreichte bis 1947 mehrere Auflagen mit insgesamt knapp 120.000 Exemplaren. 138 Siehe Bergmann (1970), S. 91. 139 Hierzu gehörten u. a. die „Deutsche Dorfzeitung“ und der „Dorfkalender“. Der „Wegweiser für ländliche Wohlfahrtspflege“ erschien 1900 in einer ersten Auflage von 2.000 Exemplaren, die dritte, erweiterte Auflage erschien 1908. Für die vorliegende Arbeit wurde „Das Land“, das „Archiv für innere Kolonisation“ und „Die Gutsfrau“ ausgewertet. 140 Der Verein wurde vom Preußischen Landwirtschaftsministerium, vom Reichsamt des Inneren und von der oldenburgischen Regierung finanziell unterstützt.
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maßgeblich an mehreren Vereinsenqueten mit, z. B. an der Landarbeiter-Enquete. Seit 1873 war er Herausgeber der „Landwirtschaftlichen Jahrbücher“, war ein einflussreicher Wissenschaftspolitiker und war neben Gustav Schmoller der wichtigste Förderer von Max Sering.141 Erst mit der von Thiel vermittelten staatlichen Unterstützung hatte Sohnrey das Zeitungsprojekt „Das Land“ realisieren können, das jahrzehntelang die Arbeit des Vereins dokumentierte. Die populär gehaltene Mitglieder- und Vereinszeitschrift mit hohem Praxisbezug war für damalige Verhältnisse sehr offen für die Mitarbeit von Frauen und für „Frauenthemen“. Sie war aber auch ein zentrales Organ der Großstadtfeinde und Agrarkonservativen.142 Die vom Deutschen Verein für Wohlfahrts- und Heimatpflege propagierten sozialen Reformen in den ländlichen Regionen blieben trotz ihres reformistischen Ansatzes vor dem Ersten Weltkrieg ohne nennenswerte Resonanz. Gutsfrauen, die wie Dyhrenfurth auf dem eigenen Gut sozialreformerische Kosmetik betrieben, blieben Ausnahmeerscheinungen. Von den begeisterten, aus den Reihen der Mitglieder stammenden Berichten und Äußerungen hinsichtlich der Arbeit und des Erfolges des Vereins lässt sich kaum eine Aussage über dessen reale zeitgenössische Relevanz und Wirksamkeit ableiten. Seine Mitgliedszahlen (ca. 1.100 um 1906; die Hauptversammlungen hatten jeweils ca. 500 TeilnehmerInnen) entsprachen in etwa denen des ESK. Verglichen mit dem BdL, den VFV oder dem Volksverein waren sie dagegen sehr niedrig, auch wenn die öffentliche Präsenz des Deutschen Vereins für Wohlfahrts- und Heimatpflege und die Vielzahl der Projekte seiner Mitglieder einen anderen Eindruck erweckten. Gertrud Dyhrenfurth war in zwei Projekte involviert, an deren Entstehung der Deutsche Verein für ländliche Wohlfahrts- und Heimatpflege zumindest indirekt beteiligt war. Das war zum einen die Entwicklung, Institutionalisierung und Etablierung des Ausbildungsberufs der „Landpflegerin“, einer Mischung aus städtischer Wohlfahrtspflegerin, Gemeindeschwester und Lehrerin. Dyhrenfurth gehörte zu dem exklusiven Kreis von 37 Personen – überwiegend Rittergutsbesitzer –, der 1907 im Rahmen der Jahresversammlung des Deutschen Vereins für ländliche Wohlfahrts- und Heimatpflege den Deutschen Landpflegeverband gründete.143 Dessen Hauptziel war die Schaffung von Ausbildungseinrichtungen für den auf die ländlichen Verhältnisse zugeschnittenen Beruf, der als Schwesternschaft organisiert war.144 Die Landpflegerin sollte die – ursprünglich in den Aufgaben- und Zuständigkeitsbereich der Gutsherrschaft fallenden – Landpflege- und Fürsorgeaufgaben übernehmen und als soziale Allroundkraft auf den Gütern oder in ländli-
141 Tennstedt (1988), S. 532 und S. 534–537. 142 Bergmann (1970), S. 76f. 143 Siehe die Mitteilung über den Eintrag des Deutschen Landpflege-Verbandes in das VereinsRegister, in: Das Land, 16. Jg., H. 3, 1. November 1907, S. 53. Über die Arbeit des Verbands wurde regelmäßig auf den Hauptversammlungen des Deutschen Vereins für ländliche Wohlfahrts- und Heimatpflege diskutiert, siehe z. B. Lippe (1908). 144 Zur Schwesternordnung für die Schwesternschaft des Deutschen Landpflegeverbandes siehe Das Land, 16. Jg., H. 15, 1. Mai 1908, S. 313f.
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chen Gemeinden eingesetzt werden. Dyhrenfurth beschäftigte später selbst eine der Absolventinnen. Das Aufgabengebiet der Landpflegerinnen war sehr heterogen und nicht genau definiert, sondern vom jeweiligen Einsatzort abhängig. Zu den Aufgaben gehörten der ländlich-hauswirtschaftliche Unterricht, die Krankenpflege und Fürsorgetätigkeit, die Leitung von einfachen ländlichen Haushaltungsschulen, die Beratung in hauswirtschaftlichen, landwirtschaftlichen (z. B. Geflügel- und Bienenzucht) und Ernährungsfragen, die Verwaltung einer Volksbibliothek, die Leitung eines Jungfrauenvereins und einer Kleinkinder- und Sonntagsschule.145 Mit der Landpflegerin wurde ein neues Berufsfeld für Frauen in ländlichen Regionen erschlossen und die Fürsorgearbeit von Frauen auf dem Land professionalisiert; die Ausbildungseinrichtungen waren in privater Trägerschaft. Dyhrenfurth begleitete sich an der Diskussion über das Berufsbild der Landpflegerin. Sie sprach sich für eine Ausdifferenzierung und Professionalisierung ländlicher sozialer Frauenberufe und für die inhaltliche und personelle Trennung der Aufgabengebiete der ländlichen Wohlfahrtspflege auf zwei Berufe aus: die Landpflegerin, zuständig für die (Kranken-)Pflege, und die Fortbildungslehrerin, zuständig für die erzieherischen sozialen Aufgaben. Mit den beiden Berufsbildern wurden verschiedene Schichten angesprochen; die Landpflegerinnen kamen meist aus den „kleinsten Erwerbsstände[n]“, die Fortbildungslehrerinnen aus dem ländlichen Mittelstand. Für die Organisation und Leitung der Wohlfahrtspflege der Landkreise sollte eine sozial-theoretisch gebildete Beamtin mit Fachkenntnissen (akademischem Abschluss) zuständig sein.146 Die Halbmonatszeitschrift „Die Gutsfrau“ war das zweite größere Projekt, an dem sich Dyhrenfurth beteiligte. Sie war Mitbegründerin und Mitherausgeberin der Zeitschrift, mit der die Arbeit des Deutschen Landpflegeverbands unterstützt und der Ausbau der Landfrauenorganisationen gefördert werden sollte. Zwischen dem Deutschen Landpflegeverband und den Herausgeberinnen der „Gutsfrau“ gab es viele personelle Überschneidungen; auffallend war der hohe Anteil von Adeligen. Mehrere Herausgeberinnen hatten sich bereits im weiblich-ländlichen Bildungsbereich profiliert.147 „Die Gutsfrau“ erschien erstmals im Oktober 1912 im Verlag des Deutschen Vereins für ländliche Wohlfahrts- und Heimatpflege. Später wurde sie, bei gleichbleibender Adresse, vom Deutschen Schriftenverlag im Haus des BdL herausgegeben und bei der reaktionären „Deutschen Tageszeitung“ gedruckt. „Die Gutsfrau“ war einer der spärlichen Möglichkeiten der Landfrauen zur
145 Die zu vielseitigen Arbeitsinhalte, die Arbeitsbelastung und die schlechte Bezahlung der Landpflegerinnen wurde u. a. von der Leiterin der Zentralstelle für Armen- und Waisenpflege vom Verband Fortschrittlicher Frauenvereine, Adelheid von Welczeck (1856–19??), kritisiert; vgl. Welczeck (1910). 146 Dyhrenfurth (1920a), S. 24f.; vgl. Dyhrenfurth (1916i; 1916l). 147 Hierzu gehörten Elisabet Boehm, Ida von Kortzfleisch, Frida Gräfin zur Lippe (1867–1945), Marie Gräfin von Schwerin-Löwitz (1858–1932), Elisabeth Freiin von PawelRammingen(1864–1946) und Marie Gräfin von Keyserlingk. Zu den Biografien der Funktionärinnen der Landfrauenbewegung siehe ausführlich Sawahn (2009a)
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Weiterbildung und zum Austausch148 und bis 1917 das einzige Publikationsorgan der Landfrauen mit reichsweitem Einfluss.149 Bis zum Januar 1923, als die Zeitschrift während der Inflation aus finanziellen Gründen ihr Erscheinen einstellen musste, war sie das offizielle Organ der LHV. Diese nutzten „Die Gutsfrau“ für inhaltliche Diskussionen, aber auch als Forum für praktische Anleitungen und praktische Unterstützung. „Die Gutsfrau“ informierte über die Arbeit der LHV und der VFV, über die Fortbildung der landwirtschaftlichen Produzentin und über die Schaffung von frauenspezifischen ländlichen Bildungs- und Ausbildungseinrichtungen. Ebenso wurde über wirtschaftliche, wissenschaftliche und künstlerische Themen aus dem ländlichen Bereich der Heimatpflege berichtet. Zielgruppe der „Gutsfrau“ waren aber nicht alle Landfrauen; als „Blätter für die sozialen und wirtschaftlichen Aufgaben der gebildeten Frauen auf dem Lande“, so der Untertitel der Zeitschrift, richtete sie sich statusbewusst exkludierend primär an mögliche Multiplikatorinnen, an weibliche Honoratioren wie Gutsfrauen, Frauen von Fabrikbesitzern und Verwaltungsangestellten, Pfarrer-, Lehreroder Arztfrauen. In den Augen der Herausgeberinnen trugen diese Frauen durch ihren Besitz und ihre Bildung eine soziale gesellschaftliche Verantwortung. In ihrer politischen und weltanschaulichen Ausrichtung gab sich die Zeitschrift christlich-national. Dyhrenfurth hoffte, dass sich durch den Meinungsaustausch in der Zeitschrift gemeinsame Stellungnahmen und Forderungen der Landfrauen zu sozialpolitischen ländlichen Frauenfragen entwickelten, mit denen dann Einfluss auf Behörden und Körperschaften ausgeübt werden konnte.150 Politisch verstand sich „Die Gutsfrau“ als Sprachrohr der national-konservativen Positionen der Landfrauen und als Gegenpol zu den liberalen und „frauenrechtlerischen“ Positionen der „Stadtdamen“. Dyhrenfurth nahm hier eine vermittelnde Position ein. Dyhrenfurth verfasste auch mehrere Beiträge für die Zeitschrift „Land und Frau“, die sich ebenfalls an die Landfrauen wendete. „Land und Frau“ entstand aus der zweiseitigen Rubrik „Aus dem Bereich der Landfrau“ in der populären Wochenzeitschrift „Deutsche Landwirtschaftliche Presse“ des Berliner Landwirtschaftsverlags Paul Parey, die ab April 1917 zunächst als Beilage und schließlich als eigene Zeitschrift erschien. Innerhalb kürzester Zeit erreichte sie einen Um-
148 Wohlgemuth (1913), S. 147; Bidlingmaier (1990[1918]), S. 141f. und S. 153. 149 Zum reichsweiten Einfluss siehe Die Gutsfrau, 3. Jg., H. 9, 1. Februar 1915, S. 173. Zur Rolle von Sohnrey bei der Gründung der Zeitschrift siehe Lembke (1916), S. 22; WenckRüggeberg (1919), S. 215. Es gab zwar enge persönliche Verbindungen zwischen den Herausgeberinnen und Funktionären des BdL, „Die Gutsfrau“ war aber dennoch weder ein BdLFrauenblatt (siehe dagegen Planert 1998, S. 177) noch das Organ der LHV (siehe dagegen Sawahn 2009b). Funktionärinnen der LHV gehörten zwar zum Kreis der Herausgeberinnen und zur Zentrale der Deutschen Landfrauen, sie hatten aber mit der Zeitschrift „Deutsche Frauenarbeit“, die von Elisabet Boehm herausgegeben wurde, ein eigenes Publikationsorgan, das später als Beilage in „Land und Frau. Illustrierte Wochenschrift für deutsche LandfrauenArbeit“ aufging. 150 Dyhrenfurth (1912d).
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fang von teilweise über 900 Seiten pro Jahrgang.151 Im Vergleich zu „Die Gutsfrau“ war „Land und Frau“ thematisch stärker auf die Arbeit der Hausfrauenvereine und die praktische hauswirtschaftliche und landwirtschaftliche Arbeit der Landfrauen ausgerichtet. „Die Gutsfrau“ war inhaltlich gehaltvoller, erreichte aber – anders als „Land und Frau“ – wesentlich weniger Frauen auf dem Land. In „Land und Frau“ nahmen praktische landwirtschaftliche Fragen rund um den landwirtschaftlichen Haushalt und der Geflügelzucht einen größeren Raum ein. Auch ungeübte Schreiberinnen hatten in „Land und Frau“ die Möglichkeit, sich über Vereinsbelange, politische Ansichten, Rezepte und Arbeitstipps für Haus, Hof und Garten auszutauschen.
3.1.7 Erster Weltkrieg Während des Ersten Weltkriegs verfasste Gertrud Dyhrenfurth mehrere Artikel, die in „Die Gutsfrau“ und in „Land und Frau“ erschienen, mit denen Frauen in ländlichen Gegenden über die Aufgaben, die sie nach Kriegsausbruch zu bewältigen hatten, informiert werden sollten. Die Zeitschriften gehörten während des Krieges zu den wenigen Möglichkeiten, die im Vergleich zur Stadt nur schwer zu erreichenden Frauen auf dem Land über alltagspraktische und aktuelle kriegswirtschaftliche Aspekte zu informieren. Da es kaum Referentinnen für Veranstaltungen auf dem Land gab, wurden mehrere Vorträge und Artikel Dyhrenfurths vervielfältigt und als gedruckte Broschüren an die ländlichen Frauenvereine zur weiteren Verbreitung verteilt.152 Der politische Ton der „Gutsfrau“ veränderte sich nach Kriegsausbruch von zurückhaltend konservativ zu zunehmend chauvinistisch und reaktionär-nationalistisch. Das war zum Teil eine Reaktion der Herausgeberinnen auf die russische Besetzung der östlichen Teile Ostpreußens (ab Mitte August 1914), wo die meisten Leserinnen der Zeitschrift lebten.153 Der nationalistische Umschwung machte sich auch in den Texten von Dyhrenfurth bemerkbar, die nun die Leserinnen an ihre vaterländischen Pflichten erinnerte. Sie appellierte an die Frauen, „auf dem Posten [zu] bleiben“. Es sei wichtig, „die Scholle, die uns ernährt, die Leute, die uns dienen, nicht [zu] verlassen“.154 Auf dem Land hielt die Kriegseuphorie sich zu diesem Zeitpunkt jedoch in Grenzen, denn die Bauern und Landarbeiter mussten mitten in der Ernte Ende Juli 1914 in die Kasernen und an die Front. Die gutsbesitzenden Frauen blieben allein und überfordert mit Kindern, Alten, weiblichem Gesinde und der Feldarbeit zu-
151 Zur ländlichen Frauenpresse vgl. Sawahn (2009b); Schwarz (1990), S. 58f. 152 Sonderdrucke: Dyhrenfurth (1916c; 1916j; 1917a); Artikel: Dyhrenfurth (1914b; 1915a–d; 1916d; 1916e; 1916h; 1916i; 1917e; 1917f). 153 Zu den Reaktionen der Bevölkerung auf die russische Besetzung und zur Fluchtbewegung nach Westen siehe Kruse (1997), S. 147–155; Sawahn (2009a), S. 192f. 154 Dyhrenfurth (1914b), S. 362.
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rück.155 Dyhrenfurth, die in ihren Artikeln überlegte, wie die auf sich allein gestellten Gutsbesitzerinnen bei der Führung ihrer landwirtschaftlichen Güter unterstützt werden konnten, schlug eine reichsweite Einführung von ehrenamtlichen Beratern für die allein wirtschaftenden Gutsfrauen vor.156 Neben der üblichen patriotischen und vaterländischen Rhetorik ging es in ihren Beiträgen überwiegend um praktische Ratschläge zur Kriegsküche und um teilweise sehr konkrete Vorschläge zur wirtschaftlichen und sozialen Führung von Gut und Gemeinde während des Krieges. Dyhrenfurth regte beispielsweise an, die gemeinschafts- und loyalitätsstiftenden Aspekte der „mütterlichen“ Fürsorge zu nutzen, bei Veranstaltungen und Treffen mit den Gutsleuten die individuellen Verluste und Ängste zu gemeinschaftlichen zu machen und dadurch die Verbindung zwischen Gutsherrschaft und Gutsleuten zu stärken. Durch eine Landkarte im Gemeinschaftsraum könnten die Gutsfrauen, so Dyhrenfurth, mit den Gemeindemitgliedern den Frontverlauf und die Stationierung ihrer Angehörigen gemeinsam nachvollziehen. Dyhrenfurth fungierte während des Krieges als „unentbehrliche Ratgeberin“ und Kontaktperson des Referats Frauenarbeit im Kriegsdienst des Nationalen Frauendienstes (NFD) für die Region Nord- und Niederschlesiens. Mit der Leiterin des Referats, Dorothee von Velsen, hatte Dyhrenfurth bei der Enquete über „Frauen in der Landwirtschaft“ zusammengearbeitet.157 Dyhrenfurth unterstützte, wie Gnauck-Kühne, die Arbeit des Arbeitsausschusses der Kriegerwitwen- und Waisenfürsorge.158 Mit den schwierigen Lebensumständen der Witwen und Waisen hatten sie sich schon zuvor, in ihren empirischen Studien, beschäftigt. Dyhrenfurth trat für eine individualisierte Hinterbliebenenfürsorge und für siedlungspolitischen Maßnahmen ein. Mit der Umsiedlung von städtischen Kriegswitwen und ihren Kindern aufs Land wollte sie die ökonomische Notlage der Witwen verbessern und gleichzeitig die „Landflucht“ bekämpfen. Dyhrenfurth erstellte ein Gutachten, das auf Grundlage der Jakobsdorfer Verhältnisse den ökonomischen Nutzen einer Umsiedlung von Kriegswitwen untersuchte.159 Ihre Idee stieß bei den Landfrauen jedoch auf Ablehnung. Es war nicht das einzige Mal, dass ihre Vorschläge als zu städtisch abgetan und ihre Kompetenz in Fragen der „realen“ ländlichen Lebensbedingungen sowie die Aussagekraft ihrer Gutachten in Frage gestellt wurden.160 Die Kritik der Landfrauen basierte dabei nicht auf sachlichen Argumenten, sondern auf ihren Ressentiments gegenüber Stadtfrauen: Die städtische Kriegswitwe, so der Tenor, solle dort bleiben, wo sie hingehöre. Für das
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Sawahn (2009a), S. 191. Dyhrenfurth (1915b). Velsen (1956), S. 186. Zu dessen Arbeit siehe Klöhn (1982), S. 462–476. Dyhrenfurth (1915e; 1916e; 1917e; 1917f). Zur Diskussion des Gutachtens siehe z. B. Arbeitsausschuss der Kriegerwitwen- und Waisenfürsorge (1917), S. 44–47. Dyhrenfurth ging es um städtische Kriegswitwen, die auf dem Land geboren waren. 160 Vgl. z. B. die Kritik von Stieger (1922), S. 239f.
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„Landvolk“ seien die nur konsumierenden und nicht produzierenden Stadtfrauen lediglich eine Belastung und eine Bedrohung der sittlichen Zustände.161 Gertrud Dyhrenfurth gehörte außerdem zu den Organisatorinnen der Kriegslehrgänge für landwirtschaftliche Haushaltungs- und Wanderlehrerinnen, Landpflegerinnen und Hausfrauen und Töchter auf dem Lande.162 Die Kriegslehrgänge, bei denen die Landfrauenvereine zum ersten Mal gemeinsam auftraten, machen deutlich, wie breit das Spektrum der Frauenorganisationen war, die das Netzwerk konservativer überwiegend protestantischer (Frauen-)Gruppen am Ende des Kaiserreichs umfasste. An den Kriegstagungen beteiligten sich einzelne Vertreterinnen der bürgerlichen Frauenbewegung – Margarete Friedenthal für den Ständigen Ausschuss zur Förderung der Arbeiterinnen-Interessen und Hertha Siemering (1883–1966) für die Zentrale der Volkswohlfahrt –, sowie Vertreter landwirtschaftlicher Organisationen und des Landwirtschaftsministeriums. Dyhrenfurth erstellte einen allgemeinverständlichen Ergebnisbericht des ersten Kriegslehrgangs, der dann, so die Idee der Organisatorinnen, bei weiteren kleineren regionalen Kriegslehrgängen verwendet werden konnte. Nach dem Vorbild von Musterkursen von Wanderlehrerinnen sollten Schulungen für Landfrauen in Kleinstädten und Dörfern durchgeführt werden. Dyhrenfurth skizzierte in ihrem Bericht sehr detailliert einen solchen Musterkurs, angefangen vom organisatorischen Rahmen bis hin zu Inhalt, Umfang und Abfolge des Lehrprogramms. Sie verfasste einen Mustervortrag, der als Einleitung zu diesen Kursen verwendet werden konnte. Mit dem Vortrag sollten die Landfrauen zur Teilnahme an der Schulung motiviert und die Männer von der Teilnahme ihrer Ehefrauen überzeugt werden. Dyhrenfurth kombinierte in diesem Mustervortrag eine verhältnismäßig sachliche Zustandsbeschreibung der Kriegsarbeit in der Landwirtschaft mit Kriegshetze und platten Durchhalteparolen. Auf Phrasen wie „Landflucht ist Fahnenflucht!“ und zivilisationskritische großstadtfeindliche Bilder zurückgreifend, argumentierte sie für die Anerkennung und Aufwertung der landwirtschaftlichen Kriegsarbeit von Frauen sowie für den Erhalt und die Neugewinnung landwirtschaftlicher Arbeitskräfte.163 Dyhrenfurth und die organisierten Landfrauen nutzten die Kriegslehrgänge aber auch als Forum, um über landwirtschaftliche Frauenbildung, soziale Berufsbildung und die Modernisierung der landwirtschaftlichen Frauenarbeit zu diskutieren und für diese zu werben.164 Während des dritten Kriegslehrgangs am 25. Oktober 1917 in Berlin schlossen sich die ländlichen Frauenorganisationen zur
161 Haarbeck (1916). Zur Besprechung der Tagung siehe z. B. Levy-Rathenau (1917); Stieger. M. (1917); Berge (1917). 162 Siehe Abbildung 20 im Bildanhang. An den drei Kriegstagungen (1915, 1916 und 1917), über die ausführlich in „Die Gutsfrau“ berichtet wurde, nahmen zwischen 600 und 1.000 Personen teil, etwa ein Drittel der Zuhörerinnen waren Wanderlehrerinnen und Landpflegerinnen. Siehe z. B. Der Kriegslehrgang für Frauen (1915). 163 Vgl. Dyhrenfurth (1917b), S. 285f. 164 Dyhrenfurth (1916j).
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Zentrale deutscher Landfrauen zusammen. Die Zentrale sollte eine gemeinschaftliche Interessensvertretung und ein gemeinsames Auftreten bei der Zusammenarbeit mit landwirtschaftlichen Vertretungen und Landwirtschaftskammern erleichtern. Im Gründungsjahr gehörten ihr 16 Frauenverbände mit überwiegend karitativem Charakter und insgesamt über eine Million Mitglieder an, darunter Gertrud Dyhrenfurth, Margarete Friedenthal und Rosa Kempf als Vertreterinnen des Ständigen Ausschusses.165 Während des Krieges befasste sich die Zentrale deutscher Landfrauen mit der Ernährungsfrage, der landwirtschaftlichen Produktion und Arbeitsvermittlung sowie mit der ländlichen sozialen Frage. Nach Kriegsende machte sie Eingaben an das Reichsministerium für das Frauenwahlrecht in den Landwirtschaftskammern. Die „Einheitsfront“ der deutschen Landfrauen hielt aber nicht lange. Ab 1921 gab es mehrere Auseinandersetzungen, bei denen es um die inhaltliche Ausrichtung und um Machtstreitigkeiten ging. Dyhrenfurth vertrat dabei die Interessen des Ständigen Ausschusses und des Deutschen Vereins für ländliche Wohlfahrts- und Heimatpflege. Auf einer Krisensitzung im Februar 1922 sprachen sich Dyhrenfurth und Kempf für die Beibehaltung eines ländlich-sozialen und kulturellen Arbeitsschwerpunkts aus. Elisabet Boehm plädierte dagegen eine stärkere Betonung der (haus)wirtschaftlichen Arbeit. Einen Streitpunkt bildete auch der Anspruch der Zentrale bzw. ihrer Vorsitzenden, der DEF- und VFK-Funktionärin Marie von Schwerin-Löwitz, das einzige Sprachrohr landwirtschaftlicher Fraueninteressen zu sein. Das widersprach aber den Interessen des Deutschen Vereins für ländliche Wohlfahrts- und Heimatpflege, den LHV und den städtischen Organisationen wie dem Ständigen Ausschuss zur Förderung der Arbeiterinnen-Interessen. Vor allem Dyhrenfurth, als Vertreterin des Ständigen Ausschusses und des Deutschen Vereins für ländliche Wohlfahrts- und Heimatpflege, und Boehm, als Vertreterin der LHV, lehnten den Alleinvertretungsanspruch der Zentrale ab.166 Die LHV traten 1923 aus, danach wurde die Zentrale aufgelöst. Damit war der Versuch eines Koordinierungsgremiums von im ländlichen Raum wirkenden kirchlichen und karitativen Vereinen gescheitert. Dessen Arbeit wurde zum Teil vom Reichsausschuss ländlicher Frauenverbände fortgesetzt, der zum Deutschen Verein für ländliche Wohlfahrts- und Heimatpflege gehörte.167 Während des Krieges wurde Gertrud Dyhrenfurth zunehmend nationalkonservativer, was sich vor allem bei ihrer Haltung zum Frauenwahlrecht und bei ihrem parteipolitischen Engagement bemerkbar machte. Als gegen Kriegsende die Forderungen nach einer Beteiligung von Frauen an der politisch-sozialen Neugestaltung Deutschlands lauter wurden, grenzte Dyhrenfurth sich davon ab. Sie hielt zwar einen stärkeren weiblichen Einfluss in sittlichen und Bildungsfragen für 165 Zur Gründung siehe Richert (1919; 1920); Schwarz (1990), S. 72ff. 166 Siehe Land und Frau (1922). 167 Zur Auflösung der Zentrale siehe Land und Frau (1923). Zum Vertrag zwischen dem Deutschen Verein für ländliche Wohlfahrts- und Heimatpflege und der Zentrale deutscher Landfrauen zur Fortsetzung der Koordinierungsarbeit siehe Das Land (1923).
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notwendig, dies allein war ihrer Meinung nach aber keine ausreichende Begründung für eine politische Tätigkeit von Frauen. Das Frauenwahlrecht gefährdete ihres Erachtens vielmehr den Bestand der Familie. Sie gestand dem „Frauengeschlecht“ nur wenig politisches Verständnis zu und teilte die Angst national-konservativer Kreise, dass von einem allgemeinen Wahlrecht vor allem die Sozialdemokratie profitieren könnte.168 Als Frauen am 30. November 1918 in Deutschland das aktive und passive Wahlrecht erhielten, wurde die Beteiligung an Politik und Wahlkampf aber auch für Dyhrenfurth zur „patriotischen Pflicht“.169 Wie viele Funktionärinnen aus den Kreisen der organisierten Landfrauen, des DEF, der VFV und des Gewerkvereins der Heimarbeiterinnen Deutschlands leistete sie Wahlhilfe für die im ostelbischen evangelischen Gutsbesitz beheimatete Deutschnationale Volkspartei (DNVP). Dyhrenfurth verfasste für den Reichsfrauenausschuss der Partei einen Musterwahlvortrag, der in „Die Gutsfrau“ veröffentlicht wurde und vor allem in den ostund westpreußischen ländlich-agrarischen Gebieten beim Kampf um die weiblichen Wählerstimmen eingesetzt werden sollte.170 Mit den drei Grundideen „national“, „christlich“ und „sozial“ entsprach die sich als protestantisches, nationalistisches Äquivalent zur katholischen Zentrumspartei verstehende DNVP dem politischen Selbstverständnis Dyhrenfurths und vieler ihrer demokratiefeindlichen Mitstreiterinnen. Da sie das Wahlrecht als auferlegten Zwang empfanden, fanden sie sich in den monarchistischen, christlichen und sozialen Grundsätzen des Parteiprogramms wieder.171 Dyhrenfurth war wie die anderen DNVP-Mitglieder der Meinung, dass Freiheit (und Schutz) des Bürgers (und der Frauen) nur in einem autoritären System gewährleistet seien.172 Für sie garantierte die auf christlichen Werten basierende Politik der DNVP die Ordnung im Inneren, die Sicherung der Einheit Deutschlands und seiner Grenzen, den Schutz des Eigentums, eine gesunde Volkswirtschaft, Wohlstand und den Erhalt der Institution der Ehe und Familie. Dyhrenfurth greift mit dieser Argumentation das häufig verwendete Bild der „drei Perlen“ – „Familie, Kirche, Vaterland“ – auf, die die deutschen Frauen bis zur Wiedereinführung der Monarchie stellvertretend für die Kaiserin treuhänderisch verwalten sollten.173 Dyhrenfurths Unterstützung der DNVP scheint sich auf die Mobilisierung zu den ersten Wahlen beschränkt zu haben. Im Gegensatz zu Margarete Behm oder 168 Dyhrenfurth (1919a), S. 91f. 169 Dyhrenfurth (1919a), S. 86. 170 Dyhrenfurth (1919a). Zur Beteiligung von Frauen an den konservativen Parteien siehe ausführlich Heinsohn (2000), S. 215–221. 171 Zur politischen Praxis der DNVP-Frauen von 1918 bis 1924 siehe Süchting-Hänger (2002), S. 127–239; Scheck (2001), (2004), S. 65–84; Bridenthal (1993); Reagin (2007); Kaiser (1993), S. 268. Zum Reichsfrauenausschuss der DNVP siehe Scheck (1997), S. 41f. Zur existenziellen Krise der evangelischen Frauenbewegung nach Kriegsniederlage und Revolution und ihrer Wahlarbeit für die DNVP siehe Kaufmann, Doris (1988), S. 37–42 und S. 51–59. 172 Dyhrenfurth (1919a), S. 87. 173 Vgl. Heinsohn (2000), S. 228; Sawahn (2009), S. 100–103.
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Margarete Keyerlingk übernahm sie keine parteipolitischen Funktionen. Fraglich ist, wie sie zu der offen antisemitischen und völkischen Haltung großer Teile der DNVP stand. Klar positioniert hat sich Dyhrenfurths Mitstreiterin Behm, die sich selbst als „leidenschaftlicher Feind des Antisemitismus“ sah, aber ebenfalls nicht gänzlich frei von antisemitischem Denken war: Sie zeigte keine Bedenken, als die Forderung nach einem Einwanderungsstopp für Ostjuden in das Programm der DNVP aufgenommen wurde.174
3.1.8 Ehrendoktortitel, Mädchenbildung und ländliche Eigenheime Zu Beginn der Weimarer Republik starb Gertrud Dyhrenfurths Bruder Walter. Das bedeutete für sie eine einschneidende Veränderung, da sie nun allein für die Bewirtschaftung und Verwaltung von Jakobsdorf verantwortlich war und keine Zeit mehr für wissenschaftliche Arbeit und wissenschaftlichen Austausch hatte.175 Dyhrenfurth bedauerte sehr, dass sie die Studie über die Frauen in der Landwirtschaft in Niederschlesien, die sie vor dem Krieg begonnen hatte, nicht mehr abschließen und die geplante regional vergleichende Studie über die Ansiedlung städtischer Arbeitskräfte auf dem Land nicht mehr realisieren konnte.176 Nur wenige Jahre nach dem unfreiwilligen Rückzug auf ihr Gut wurde „der feinsinnigen Erforscherin moderner Arbeitsverhältnisse in Stadt und Land, der Erweckerin sozialer Arbeit, der ersten Vorkämpferin eines wirksamen Heimarbeiterschutzes aus Anlass des siegreichen Durchdringens ihres Grundgedanken“, so der Wortlaut der Urkunde, von der Staatswissenschaftlichen Fakultät der Eberhard-Karls-Universität zu Tübingen am 3. Juni 1921 der Ehrendoktortitel verliehen.177 Die Auszeichnung hat vermutlich Robert Wilbrandt angeregt, der seit 1908 eine Professur für Nationalökonomie in Tübingen innehatte.178 Dyhrenfurth war eine der ersten Frauen, die in Deutschland mit diesem wissenschaftlichen Ehrentitel ausgezeichnet wurde. Sie erhielt die Auszeichnung der Fakultät zwei Jahre vor der vierzehn Jahre älteren und sehr viel prominenteren Helene Lange, die sich darüber wohl sehr ärgerte.179 Für Dyhrenfurth war es eine späte Genugtuung: Sie
174 Vgl. Süchting-Hänger (2002), S. 208ff. 175 Dyhrenfurth an Ida Ernst am 14. April 1924, in: Archiv des KDFB, Nachlass Gnauck-Kühne, 1–111–7; siehe auch Lüders, Else (1932b), Sp. 1329. 176 Dyhrenfurth (1920b). 177 UAT 127, Bd.. 5, S. 75; UAT 132, Nr. 42–1921, 3; vgl. Eberl/Marcon (1984), S. 582f. Zur Verleihung des Ehrendoktortitels an Dyhrenfurth siehe auch Die Gutsfrau (1921); Das Land (1921). 178 Auskunft des Rektors der Universität Tübingen vom 25. Juli 1932 an Egloff von Tippelskirch, in: UAT 117c, Nr. 165. 179 Von 1830 bis 1983 wurde nur drei weiteren Frauen der Dr. h. c. der Staatswissenschaftlichen Fakultät der Universität Tübingen verliehen, 1923 Margarete Hermine Pauline Roller (1881– 1945) und Helene Lange und 1924 die englische Sozialreformerin und Quäkerin Joan Mary
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war in ihrer Anfangszeit in Berlin von Lange beim Versuch der Kontaktaufnahme abgefertigt worden.180 Lange hatte wohl nur wenig Sympathie für das soziale Engagement der behüteten Gutsbesitzertochter und bescheinigte dieser herablassend: „Fräulein Dyhrenfurth, Sie kommen mir vor wie ein Maultier, das sich im Nebel seinen Weg sucht, auf einem schmalen Grat, zwischen Abgründen.“181 In den 1920er Jahren stand Gertrud Dyhrenfurth zwar weiterhin in Kontakt mit evangelisch-sozialen Kreisen und der Frauenbewegung; zu den regelmäßigen Gästen in Jakobsdorf gehörten Dorothee von Velsen, Robert von Erdberg (1826– 1929), ein Pionier der Erwachsenenbildung und des Volkshochschulwesens, und die Familie des ehemaligen Generalsekretärs des ESK, Immanuel Voelter. Voelters Sohn war Ende der 1920er Jahre Assistent des Gutsinspektors in Jakobsdorf.182 Dyhrenfurths öffentliche Auftritte und ihre Beiträge in Zeitschriften konzentrierten sich in diesem Jahrzehnt aber auf die ländliche Wohlfahrtspflege und auf Bildungs- und Siedlungsfragen. Bis Ende der 1920er Jahre gehörte sie dem Vorstandsgremium des Deutschen Vereins für ländliche Wohlfahrts- und Heimatpflege an. Sie profilierte sich während dieser Zeit mit der Realisierung ländlicher Reformkonzepte auf ihrem Gut. Als mustergültig galten die von ihr geschaffenen Einrichtungen zur Mädchenbildung sowie ihre Maßnahmen zur Verbesserung der Wohnverhältnisse der ländlichen Arbeiterschaft, deren Umsetzung sie und Gertrud Zeigermann, die Landpflegerin von Jakobsdorf, bei Veranstaltungen des Deutschen Vereins für ländliche Wohlfahrts- und Heimatpflege vorstellten.183 Bei den ersten „Dorftagen“ des Vereins wurden die von Dyhrenfurth in Jakobsdorf geschaffenen sozialen Einrichtungen besichtigt.184 Mit den Dorftagen, einer dezentralen Veranstaltungsreihe, wollte der Verein für direkt vor Ort, vor allem aber bei den für die Fürsorge zuständigen lokalen Institutionen, die eigene Arbeit werben. Inwieweit es dem Verein gelang, über die eigenen Strukturen hinaus Interessierte zu erreichen, erscheint aber schon im Hinblick auf die Arbeitsüberlastung seiner Zielgruppen (wie die der Gemeindeschwestern) fraglich.185 Jakobsdorf war seit 1922 anerkannter Lehrbetrieb für die zweijährige Ausbildung zum Landwirt. Die Ausbildung der landwirtschaftlichen Eleven gehörte zum Aufgabenbereich des Gutsinspektors, der über die notwendige Lehrbefähigung verfügte. Gertrud Dyhrenfurth hatte einen wesentlichen Anteil an der Einführung
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Fry (1862–1955), vgl. Eberl/Marcon (1984), S. 85, S. 586, S. 588f. und S. 592. Zu Langes Reaktion siehe Schaser (2000a), S. 261; Lange, Helene (1957), S. 141. Velsen (1956), S. 186. Zitiert nach Erdberg (1994), S. 63f. Siehe Archiv des KDFB, Nachlass Gnauck-Kühne, 1–111–2: Briefwechsel Emma Elisabeth Voelter, geb. Fink (1884–1975) und Ida Ernst. Zum kurzen Bericht von Zeigermann über die von Dyhrenfurth eingerichtete Mädchenfortbildungsschule auf der Mitgliederversammlung des Deutschen Vereins für ländliche Wohlfahrts- und Heimatpflege am 18. Februar 1924 siehe Das Land (1924a). Zeigermann war von 1920 bis 1936 Landpflegerin in Jakobsdorf und leitete dort den Fortbildungsunterricht. Vgl. Dyhrenfurth (1925a, b). Vgl. Lemke (1924), S. 145.
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der hauswirtschaftlich-landwirtschaftlichen Pflichtfortbildungsschule für Mädchen.186 Sie war zum einen Vorsitzende der Kommission Frauenarbeit auf dem Lande des Ständigen Ausschusses, die während des Krieges konzeptionell die Einführung der Fortbildungsschule vorbereitete. Rosa Kempf arbeitete für die Kommission einen Vorschlag aus und reichte ihn beim Landwirtschaftsministerium ein.187 Fortbildungsschulen sind die Vorläuferinnen der heutigen Berufsschulen; sie zielten auf die Verlängerung der bis dahin sehr kurzen Schulpflicht für Jugendliche ab. In den agrarischen Kreisen im Umfeld des BdL, die schon die Verlängerung der Schulzeit der männlichen Jugendlichen als überflüssig ablehnten, stieß die Einbeziehung von Mädchen in dieses Schulkonzept auf noch größeren Widerstand.188 Zum anderen richtete Dyhrenfurth in Jakobsdorf 1920 selbst eine der ersten hauswirtschaftlich-landwirtschaftlichen Mädchenfortbildungsschulen ein. Der erste Kurs begann am 1. Januar 1921 und dauerte fünf Monate. Bei seiner Gestaltung hatte sie sich an dem von Kempf ausgearbeiteten Konzept orientiert. Die praktischen Erfahrungswerte mit dem Kurs wurden für Dyhrenfurth in der Folgezeit zu einer wichtigen Referenz. Ihre Motivation, pädagogisches Neuland zu betreten, begründete Dyhrenfurth damit, dass auf diesem Gebiet „wohl immer zuerst die private Initiative eingesetzt und mit Versuchen begonnen“ habe. Die „in voller Freiheit gesammelten Erfahrung“ könnten dann verallgemeinert und von Staat und Gemeinde übernommen werden.189 Die Jakobsdorfer Fortbildungsschule setzte sich aus drei aufeinander aufbauenden Kursen zusammen, die aus Rücksicht auf den Arbeitsrhythmus in der Landwirtschaft während der Wintermonate stattfanden. Der Stundenplan umfasste neben hauswirtschaftlichen auch theoretische und allgemeinbildende Fächer wie Gemeinschaftskunde, Deutsch und Naturkunde. Finanziell gefördert wurde die Schule von staatlichen Stellen und der Landwirtschaftskammer.190 Der Vaterländische Frauenverein Neumarkt stellte eine Kücheneinrichtung für die Kochkurse zur Verfügung. Die restliche Infrastruktur sowie fast alle darüber hinaus anfallenden Kosten übernahm Dyhrenfurth. Lehrkräfte waren die Landpflegeschwester und der Volksschullehrer von Jakobsdorf. Zumindest in den ersten Jahren musste die Schule um Schülerinnen kämpfen, da die Teilnahme freiwillig war. Viele Eltern sahen keinen Grund für einen weiteren Schulbesuch ihrer Töchter, der zudem den ökonomischen und zeitlichen Rahmen einer Landarbeiterfamilie sprengte. Die Schülerinnen kamen in den ersten Jahren ausschließlich aus Handwerker- und Bauernfamilien mit kleinerem und mittlerem Grundbesitz. Dyhrenfurth ging es aber explizit auch um die Bildung von Landar-
186 Wenck-Rüggeberg (1918). Zum Bericht siehe die Abbildungen 21 und 22 im Bildanhang. 187 Vgl. Dyhrenfurth (1920a), (1922c). 188 Zur Bildungsfeindlichkeit der Agrarier siehe Puhle (1975), S. 94. Zu den Widerständen gegen die Mädchenfortbildungsschulen auf dem Land siehe z. B. Kerkerink (1925). 189 Dyhrenfurth (1922c), S. 58; siehe auch Dyhrenfurth (1921b) und den Kommentar Fechners (1921). 190 Zum Bericht Gertrud Zeigermanns siehe Das Land (1924a), S. 86f.
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beitertöchtern. Diese waren jedoch nach ihrer Erfahrung nur mit einem obligatorischen Fortbildungsunterricht zu erreichen, der mit dem von ihr unterstützten Gesetzentwurf über die erweiterte Berufsschulpflicht geplant war.191 Eine weitere Vorreiterinnenrolle übernahm Dyhrenfurth mit der Errichtung eines sogenannten „Mädchenheims“ in Jakobsdorf. Dabei handelte es sich um einen zweijährigen Kurs für arbeitslose weibliche Jugendliche aus der Stadt, die von einer Lehrerin der Landwirtschaftskammer in ländlicher hauswirtschaftlicher Arbeit geschult wurden und im Mädchenheim, einem Gebäude neben dem Gemeindehaus, untergebracht waren. 1932 nahmen neun Schülerinnen daran teil. Aus heutiger Sicht ist diese Einrichtung wegen der Verknüpfung von humanistischen mit ideologischen Intentionen fragwürdig, um 1930 galten diese Mädchenheime aber als eine moderne Einrichtung.192 Mit ihnen sollten gleich mehrere soziale Probleme auf einmal gelöst werden. Mit den arbeitslosen Städterinnen sollten die Lücken gefüllt werden, durch die Abwanderung jüngerer weiblicher Arbeitskräfte die der Landwirtschaft entstanden waren. Aus Sicht der städtischen Jugendfürsorge erhielten die arbeitslosen Jugendlichen eine sinnvolle Beschäftigung; die Umsiedlung aufs Land sollte sie vor einer in der Stadt drohenden „sittlichen Verwahrlosung“ schützen, wie es im zeitgenössischen Jargon hieß. Soziale Kontrolle und Bevormundung waren zentrale Bestandteile fast aller Bildungs- und Fürsorgekonzepte der damaligen Zeit. Auch bei den von Gertrud Dyhrenfurth geschaffenen Einrichtungen spielten sie eine Rolle. Das klang auch in ihrer Argumentation an. Für eine längere Schulzeit sprach ihres Erachtens, dass dadurch länger ein „erzieherischer Einfluss“ auf die Schülerinnen ausgeübt werden konnte. Für Dyhrenfurth lag ein Vorteil ortsansässiger Lehrkräfte darin, dass diese wegen der fehlenden Anonymität einen größeren (autoritären) Einfluss auf die Schülerinnen ausüben konnten. Bildung und Erziehung waren Teil eines hierarchisch strukturierten familiären Systems, das allerdings auch an die Lehrkräfte hohe Erwartungen stellte. Die Landpflegeschwestern und Lehrerinnen sollten „gereifte“ und „bodenständige“ Frauen sein und sollten Vorbild, „Führerin und Erzieherin“ für die Schülerinnen sein.193 Der Bau von Eigenheimen war eine weitere soziale Neuerung, die Gertrud Dyhrenfurth in Jakobsdorf förderte. Schon vor dem Krieg hatte sie die Schaffung rechtlicher Grundlagen gefordert, die den Erwerb von „Heimstätten auf Grund von Sparrücklagen“ und die „Erstellung von Kleinwohnungen mit verfügbarem Pachtlande“ ermöglichten.194 Seit 1918 gehörten Eigenheime zu den zentralen Bestandteilen des staatlich geförderten sozialen Wohnungsbaus. Mit dem sozialen
191 Dyhrenfurth (1922c), S. 58. 192 Siehe z. B. Lüders, Else (1932b); Barchewitz (1932a); Walter (1932), S. 215. Zur Diskussion über die Unterbringung städtischer arbeitsloser Jugendlicher auf dem Land Mitte der 1920er Jahre auf der Tagung des Reichsausschusses ländlicher Frauenverbände siehe Das Land (1924b). 193 Dyhrenfurth (1922c), S. 56; siehe auch Dyhrenfurth (1917a).. 194 Sachs (1914), S. 26.
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Wohnungsbau der 1920er Jahren werden heute meist die von VertreterInnen des sogenannten „Neuen Bauens“ geplanten großen städtischen Wohnanlagen und Siedlungen in Verbindung gebracht. Diese waren jedoch eine, wenn auch exponierte, Randerscheinung. Das gesetzlich verankerte wohnungspolitische Leitbild aber war das „Eigenheim auf der grünen Scholle“. Mit der gesetzlichen Bevorzugung des Eigenheims wurden die bis heute gültigen wohnungspolitischen Rahmenbedingungen geschaffen, durch die die kleinbürgerliche Idylle auch für ArbeiterInnen erschwinglich wurde. Denn die Gesetze von 1918 legten den rechtlichen Anspruch auf eine („gesunde“ Wohnung) und eine den Grundbedürfnissen entsprechende Wohn- und Wirtschaftsheimstätte fest.195 Im Gegensatz zu den Agrariern erkannte Dyhrenfurth frühzeitig, dass die mit Eigenheimbesitz verbundene Selbstständigkeit der Gutsarbeiterschaft nicht zwingend deren Loslösung vom Gut und damit den Verlust von Arbeitskräften bedeuten musste, sondern dass im Gegenteil mit dem Angebot eines eigenen „wohnlichen Heims“, mit einem dazugehörenden kleinen Garten und Ackerland, die Arbeiterfamilie an das Land gebunden und ihr Wegzug in die Stadt aufgehalten werden konnte. Die Ergebnisse von Dyhrenfurths Enquete über die „Frauen in der Landwirtschaft“ hatte die Ergebnisse vorangegangener Landarbeiter-Enqueten bestätigt, wonach das „Sehnen nach eigenem Grund und Boden, nach einem kleinen Besitztum“ und die fehlenden sozialen Aufstiegsmöglichkeiten durch Bodenerwerb zu den wichtigsten Motiven für die „Landflucht“ gehörten.196 Wie ließen sich solche Eigenheime in Jakobsdorf realisieren? Dyhrenfurth, die sich mit dieser Frage schon länger beschäftigt hatte, konkretisierte nach der Bodenreform 1927 ihre Pläne. Für die Beschäftigten ihres Guts, aber auch für Gemeindemitglieder von Jakobsdorf organisierte sie eine Informationsveranstaltung mit einem Referenten der Siedlungsgesellschaft Schlesische Heimstätten im Gemeindehaus.197 Nachdem im Juni 1928 die Vergabe von zinsfreien staatlichen Darlehen für den Bau von Eigenheimen beschlossen und damit die Voraussetzungen für den Eigenheimbau (fast) ohne Eigenkapital geschaffen worden waren, erstellte Dyhrenfurth eine Modellrechnung für den Bau eines Eigenheims. Da Landarbeiter über kein Vermögen verfügten und sie aufgrund ihres niedrigen Einkommens nicht in der Lage waren, Zinsen zu zahlen, ermöglichten ihnen erst die zinsfreien Darlehen die Finanzierung eines Eigenheims. Bei den staatlich geförderten Eigenheimen gab es genaue Vorgaben über Größe, Art und Nutzung der Räume. Nach Dyhrenfurths Berechnung betrug die finanzielle Belastung bei einem zinslosen Darlehen für den kleinsten Eigenheimtyp (70 qm Wohnfläche,
195 Zum Wohnungsgesetz und zur staatlichen Einflussnahme auf das ländliche Bauen zwischen 1880 und 1930 siehe Schimek (2004); Zell (2000). 196 Dyhrenfurth (1916b), S. 31, S. 58 und S. 43f.; Dyhrenfurth (1916k). 197 Die Schlesische Heimstätte war eine nach dem Preußischen Wohnungsgesetz von 1918 gegründete sogenannte Wohnungsfürsorgegesellschaft. Sie übernahm u. a. die technische Betreuung der ländlichen Siedlungen und sollte auf die Einhaltung der „örtlichen Bausitten“ achten. Zur vergleichbaren Niedersächsischen Heimstätte siehe Zell (2000).
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3 Zimmer, Küche und Flur) unter den günstigen Voraussetzungen etwa 25 Reichsmark pro Monat auf 30 Jahre. Für einen „tüchtigen, sparsamen“ Arbeiterhaushalt erschien ihr dies realisierbar. Dyhrenfurth wollte mit der Unterstützung eines Eigenheimbaus besonders verdienstvolle Arbeitskräfte belohnen. Sie schenkte fünfzehn Arbeitern, die im Ersten Weltkrieg gekämpft und sich anschließend zehn Jahre als Landarbeiter auf ihrem Gut bewährt hatten, jeweils einen halben Morgen Bauland.198 Weil ihr das uniforme Erscheinungsbild der gängigen Eigenheimsiedlungen missfiel, ließ sie von ihrer Nichte Elisabeth von Knobelsdorff (später Tippelskirch) alternative Pläne für die Jakobsdorfer Eigenheime entwerfen.199 1932, am Ende der Weimarer Republik, wurde Gertrud Dyhrenfurths 70. Geburtstag mit einem mehrtägigen Dorffest gefeiert, an dem auch die gesamte Arbeiterschaft und die Bevölkerung von Jakobsdorf teilnahm.200 Glückwünsche von offizieller Seite erhielt sie u. a. vom Preußischen Ministerium für Volkswohlfahrt und vom Deutschen Verein für ländliche Wohlfahrts- und Heimatpflege, den beiden Institutionen, mit denen Dyhrenfurth in den 1920er Jahren am engsten zusammengearbeitet hatte. In „Das Land“ wurde ausführlich ihre langjährige Arbeit für die ländliche Wohlfahrtspflege gewürdigt. Mit dieser habe Dyhrenfurth „in schwerer Zeit gewiss unter manchen persönlichen Opfern ein Werk geschaffen, das vorbildlich in seiner Art ist und dessen hoher Kulturwert unbedingt anerkannt werden muss“.201
3.1.9 Nationalsozialismus und Vertreibung „So paradox es klingen mag“, erinnerte sich Ernst Preuß, der Sohn des ehemaligen Gutsverwalters, nach einem halben Jahrhundert, „war die Halbjüdin Dr. Dyhrenfurth anfangs eine begeisterte Anhängerin des Nationalsozialismus, weil sie glaubte und hoffte, dass durch ihn ihre sozialen Vorstellungen auf breiter Basis realisiert würden“.202 Diese Einschätzung teilte sie mit Max Sering und Heinrich Sohnrey, die ebenfalls in der NS-Herrschaft einen geeigneten politischen Rahmen für die Umsetzung ihrer ländlichen Reformkonzepte und ihrer Siedlungspolitik sahen und davon ausgingen, dass sie ihre Arbeit bruchlos weiterführen könnten.203 198 Dyhrenfurth (1929e). Zu den ersten Überlegungen Knobelsdorffs zum Bau von Häusern für Siedlerinnen siehe Knobelsdorff (1920). 199 Dyhrenfurth (1929f): 200 Emma Voelter an Ida Ernst am 16. August 1932, in: Archiv des KDFB, Nachlass GnauckKühne, 1–111–2. Zu den Feierlichkeiten siehe Barchewitz (1932b). 201 Barchewitz (1932a), S. 292. Eine kurze Mitteilung in „Die Frau“ (39. Jg., H. 12, September 1932, S. 777) sowie ein Artikel von Else Lüders (1932b) zu Dyhrenfurths 70. Geburtstag erschienen erst mit zweimonatigen Verspätung. 202 Ernst Preuß an Eberhard Marcon am 15. August 1982, in: UAT 359, Nr. 2000. 203 Die politischen Einschätzungen über Heinrich Sohnrey gehen weit auseinander. Seine Nachlassverwalter (Sohnrey-Archiv in Jühnde) stilisieren ihn zu Unrecht zu einem Opfer des Nati-
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Dyhrenfurths Haltung war für eine deutschnationale schlesische Gutsbesitzerin nicht überraschend. Sie entsprach dem allgemeinen „Rechtsruck“ bürgerlichkonservativer Kreise Ende der 1920er Jahre, die die „nationale Erhebung“ als glückhaften Rausch erlebten.204 Und sie korrespondierte mit den Wahlergebnissen in Schlesien, bei den Reichstagswahlen am 5. März 1933 erreichte die Nationalsozialistische Deutsche Arbeiterpartei (NSDAP) im Kreis Neumarkt, zu dem Jakobsdorf gehörte, 53,4 % der abgegebenen Stimmen. Das waren zehn Prozent mehr als das durchschnittliche reichsweite Wahlergebnis der Partei. Die DNVP erhielt demgegenüber nur 10,4 % der abgegebenen Stimmen. Eine offen ablehnende Haltung gegenüber dem Nationalsozialismus scheint es im direkten Umfeld Dyhrenfurths nicht gegeben zu haben. Auch bei ihren Verwandten bildete sie die Ausnahme.205 Ob sich Dyhrenfurths Haltung während der NS-Herrschaft veränderte, wie groß ihre Sympathie für den Nationalsozialismus war und wie sie auf den Umbau ihrer Bildungseinrichtungen während der NS-Zeit reagierte, ist wegen fehlender Quellen kaum zu beantworten und lässt sich nur indirekt erahnen. Erhalten ist ein kurzer Brief Dyhrenfurths an Ida Ernst vom November 1933. Danach scheint sie sich auch weiterhin auf ihren Alltag als Gutsfrau konzentriert zu haben; den nationalsozialistischen Machtantritt erwähnte sie nicht. Dyhrenfurth berichtet über Alltägliches, klagte über ihre altersbedingten Krankheiten und über die schlechte Ernte, einer Folge großer Dürre. Sie berichtet über eine Einquartierung, die viel Mühe bereite und die vermutlich im Zusammenhang mit Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen stand. Der Brief zeigt, dass Dyhrenfurth sich immer noch sozial engagierte, denn sie informierte sich bei Ernst über eine Aufnahme von Saarkindern.206 Auch die zweite schriftliche Äußerung, die von Gertrud Dyhrenfurth für die Zeit nach 1933 recherchiert werden konnte, stammt aus den Anfangsjahren der NS-Herrschaft. Dyhrenfurth war die einzige Frau, die eine ausführliche schriftliche Stellungnahme zu Max Serings Denkschrift über das Reicherbhofgesetz von
onalsozialismus. Im Gegensatz zu Puschner (2001, S. 19 und S. 151) kommt Rusinek (2003, S. 579) zu dem Ergebnis, dass Sohnrey als völkischer Schriftsteller zu werten ist, der mit zunehmendem Alter immer rechtsextremer wurde. 204 Vgl. z. B. Schildt, Axel (2003), S. 38; Scheck (2000), S. 246. 205 Zu diesen gehörte Günter Oskar Dyhrenfurth, ein Großneffe von Gertrud Dyhrenfurth; vgl. Nickel (2007). 206 Dyhrenfurth an Ida Ernst vom 1. November 1933, in: Archiv des KDFB, Nachlass GnauckKühne, 1–111–7. Zu den Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen in Jakobsdorf siehe Simon, Willi (1997), S. 22. Bei der Aufnahme von Saarkindern ging es vermutlich um die als „Kinderlandverschickung“ bezeichnete und bereits vor der NS-Zeit praktizierte gesundheitsfürsorgerische Verschickung von (Stadt-)Kindern in ländliche Gebiete. Siehe den Hinweis Simons (1997), S. 19. Schon während der Ruhrbesetzung Mitte der 1920er Jahre hatten sich Dyhrenfurth und die Gemeinde Jakobsdorf an der Unterbringung von Stadtkindern aus dem Ruhrgebiet in Jakobsdorf beteiligt.
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1933 verfasste.207 Sering hatte 1919 an der Abfassung des Reichssiedlungsgesetzes mitgewirkt; in seiner Denkschrift setzt er sich kritisch mit der nationalsozialistischen Neufassung des Gesetzes auseinander. Dyhrenfurth war eine von etwa hundert Personen, die er um Anregung und Kritik zu seiner Denkschrift angefragt hatte. Dyhrenfurth kritisierte wie Sering und andere Sachverständige die Diskriminierung von Frauen durch das neue nationalsozialistische Reichserbhofgesetz. Denn dieses schloss Ehefrauen und Töchter von der Erbfolge aus und bedeutete faktisch die „Aufhebung des Selbstbestimmungsrechts der Familie“.208 Davon abgesehen waren die siedlungspolitischen Vorstellungen von Sering, die Dyhrenfurth teilte, mit denen von Rudolph Walter Darré (1895–1953), dem NSLandwirtschaftsminister, kaum vereinbar. Denn Sering und Dyhrenfurth setzten sich für ein staatlich gefördertes Kleinbauerntum ein. Dagegen war das Ziel Darrés, „einen rassezüchterisch kreierten ‚Neuadel aus Blut und Boden‘ entstehen zu lassen“; Darré war dabei „ausschließlich auf das Vollbauerntum mit Hofgrößen von 7,5 bis ca. 120 Hektar fixiert“.209 Abgesehen von diesem Gesetz knüpfte das NS-Agrarprogramm jedoch an grundsätzliche Vorstellungen des Agrarkonservatismus der Wilhelminischen Zeit an und propagierte Maßnahmen, für die sich zuvor auch der Deutsche Verein für ländliche Wohlfahrts- und Heimatpflege stark gemacht hatte.210 Vermutlich sah Sering deshalb noch 1934, trotz seiner Kritik am Reichserbhofgesetz, in der NS-Politik die politischen Voraussetzungen für „die Festigung der Rechtsgrundlagen des deutschen Bauerntums“, die „die Reformbewegung eines halben Jahrhunderts nur regional und bruchstückweise erreicht hatte“.211 Darré nahm Serings Kritik zum Anlass für eine gegen ihn gerichtete antisemitische Kampagne. Sering wurde 1934 seiner Ämter enthoben, seine Lehre als „internationale, jüdisch-kapitalistische Gedankengänge“ verleumdet und er selbst wegen der jüdischen Herkunft seiner Mutter diffamiert.212 Trotz der Auflösung seines Deutschen Forschungsinstituts für Agrar- und Siedlungswissenschaft arbeitete Sering weiter an agrarpolitischen Themen. Von ihm gefördert entstanden Ende der 1930er Jahre Untersuchungen zur Situation von Frauen in der Landwirtschaft, die zum Teil an die Arbeiten Dyhrenfurths vor dem Ersten Weltkrieg anknüpften.213 Wie wirkte sich die NS-Zeit auf die sozialen Einrichtungen in Jakobsdorf aus? Einige Anhaltspunkte gibt ein Sammelband mit Erinnerungen ehemaliger Dorf-
207 Sering (1934). Zum Reichserbhofgesetz von 1933 und seiner Modifizierung nach 1943 siehe Mai (2002), S. 48ff.; Lovin (1986), S. 113ff. und S. 122. Zum Reichssiedlungsgesetz vom 11. August 1919 siehe Mai (2002), S. 22–29. 208 So eine Kapitelüberschrift bei Sering (1934), S. 19. Zu Dyhrenfurths Kommentar siehe Dyhrenfurth an Sering am 11. März 1934, in: BArchK, Nachlass Sering, N 1210, Nr. 63. 209 Oberkrome (2008), S. 117. 210 Bergmann (1970), S. 331. 211 Sering (1934), S. 5. 212 Siehe Stoehr (2002); Oberkrome (2007). 213 Siehe Kapitel II 2.2.3.3 der vorliegenden Arbeit.
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bewohner, der aber aus mehreren Gründen eine problematische Quelle ist: Zum einen wegen der begrenzten Aussagekraft der subjektiven, mehrere Jahrzehnte zurückliegenden Erinnerungen der ZeitzeugInnen, die die NS-Zeit als Kinder erlebten. Zum anderen wegen revanchistischen und einseitig beschönigenden Haltung der ZeitzeugInnen gegenüber der NS-Zeit. Die Judenverfolgung und der Holocaust werden ausgeblendet, dagegen nehmen der als traumatisch erlebte Einmarsch der Roten Armee, die Zeit unter sowjetischer Besatzung und polnischer Verwaltung sowie die „Vertreibung“ einen großen Raum ein. Nach den Erinnerungen der ZeitzeugInnen wurden die von Dyhrenfurth in Jakobsdorf geschaffenen Bildungseinrichtungen und das Vereinsleben der Gemeinde unmittelbar nach dem Machtantritt nach NS-Vorstellungen umgestaltet: Die Ausbildung der schulentlassenen Mädchen aus der Stadt konnte nach der Streichung der staatlichen Zuschüsse für das Mädchenheim ab Ostern 1933 nicht mehr fortgesetzt werden. Die Räume des Mädchenheims wurden danach teilweise vom Bund Deutscher Mädel, dem weiblichen Zweig der Hitler-Jugend, genutzt oder dienten als Unterkunft für die „Landjahrmädchen“, die das 1933 vom NS-Regime eingeführte „Pflichtjahr“, einen freiwilligen Frauen-Arbeitsdienst, in Jakobsdorf ableisteten.214 Ab 1939, also unmittelbar nach dem deutschen Überfall auf Polen, wurden im ehemaligen Mädchenheim die von zwei Soldaten bewachten polnischen Kriegsgefangenen, die in Jakobsdorf zur Feldarbeit eingesetzt wurden, untergebracht.215 Der Kindergarten wurde 1936 von der Nationalsozialistischen Volkswohlfahrt übernommen. Die für die Kinderbetreuung zuständige Landpflegeschwester wurde durch eine Angehörige des NFD ersetzt. Dies entsprach der allgemeinen Entwicklung, bei der die Wohlfahrtsarbeit des Deutschen Roten Kreuzes (DRK) und der VFV, nach sukzessivem Übergang und immer engerer Anbindung an die Nationalsozialistischen Volkswohlfahrt, mit dem DRK-Gesetz vom 9. Dezember 1937 und der neuen Satzung des DRK vom 24. Dezember 1937 nach dem Führerprinzip gänzlich umgestaltet wurde.216 Dyhrenfurths Jakobsdorfer Zweigvereins der VFV war bereits 1933 von der NS-Frauenschaft abgelöst worden.217 Schon im Mai 1933 hatte der Dorflehrer ein Jakobsdorfer Jungvolk, eine Jugendorganisation der Hitler-Jugend für Jungen im Alter von 10 bis 14 Jahren, gegründet.218 Die von Dyhrenfurth wiederbelebten Dorffeste wurden der nationalsozialistischen Ideologie angepasst so wurden etwa aus den Johannisfeuern nach 1933 nationalsozialistische Sonnwendfeiern.219 Dass der Nationalsozialismus für sie selbst eine Gefahr darstellen könnte, scheint Gertrud Dyhrenfurth nicht in Erwägung gezogen zu haben. In den ersten
214 Dyhrenfurth an Ida Ernst am 1. November 1933, in: Archiv des KDFB, Nachlass GnauckKühne, 1–111–7; Simon, Willi (1997), S. 27. Zum Pflichtjahr siehe z B. Walter (1933). 215 Simon (1997), S. 27 und S. 226. 216 Seithe/Hagemann (1993), S. 101–112. 217 Simon (1997), S. 53. 218 Simon (1997), S. 57. 219 Simon (1997), S. 58.
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Jahren der NS-Zeit wurde sie von den regionalen Parteistellen wohl „nicht weiter behelligt“. Vielleicht schützte sie, wie ehemalige Jakobsdorfer vermuteten, zunächst die „Anerkennung ihrer Verdienste auf sozialem Gebiet“220 oder die „besondere (…) Fürsprache hochstehender Persönlichkeiten“.221 Vielleicht war aber auch ihre jüdische Herkunft einfach nicht bekannt, zumal der Name Dyhrenfurth nicht sofort als „jüdisch“ erkennbar war.222 Trotzdem stellt sich die Frage, ob und inwieweit sich der schon während des Kaiserreichs bestehende und gerade für die ländlichen Gebiete östlich der Elbe und deren agrarische Interessensverbände charakteristische Antisemitismus auf Dyhrenfurth auswirkte und sie beeinflusste.223 Denn nicht nur der BdL bediente sich antisemitischer Argumente zur Forcierung seiner Interessen und seiner Politik, Antisemitismus war auch in den meisten der Organisationen präsent, an denen sich Dyhrenfurth beteiligte. In „Das Land“ erschienen beispielsweise schon vor 1933 mehrere antisemitische Hetzartikel, bei denen es meist um das Thema „Wucher“ ging.224 Bei den Landfrauen hatte Dyhrenfurth mit Elisabet Boehm zusammengearbeitet, einer überzeugten Rassistin und Antisemitin, die schon lange vor 1933 mit dem Nationalsozialismus sympathisiert und diesen aktiv unterstützt hatte.225 Der Antisemitismus trat auf dem Land meist stärker und offensichtlicher in Erscheinung als in der Stadt; Dyhrenfurth musste sich deshalb – trotz der Konversion ihres Vaters –ihrer jüdischen Herkunft (gezwungenermaßen) bewusst gewesen sein. Im Zuge der „Ausschaltung der Juden aus der Wirtschaft“ wurde auch Gertrud Dyhrenfurth Opfer der nationalsozialistischen Judenpolitik. Im Rahmen der sogenannten „Arisierung von oben“ wurde zunächst das gesamte Vermögen der vom NS-Regime als jüdisch definierten Bevölkerung registriert, um von ihr anschließend auf dieser Grundlage eine zynischerweise als „Sühneleistung“ bezeichnete Strafzahlung zu fordern. Die erlassenen Sondergesetze ermöglichten dem NS-Regime die zwangsweise Veräußerung jüdischen Vermögens und legalisierten den Raub jüdischen Besitzes.226 Als „Halbjüdin“ musste auch Dyhrenfurth mit Strafzahlungen und dem Verlust ihres Guts rechnen. Um dies zu umgehen, überschrieb sie ihren Anteil des Guts auf Kurt von Tippelskirch. Ihre Nichte, die seit 1928 als Miteigentümerin eingetragen war, kam als alleinige Besitzerin nicht in Frage, da ihr als „Vierteljüdin“ ebenfalls Enteignung und Strafzahlungen gedroht hätten. Das Ehepaar Tippelskirch lebte ab 1938 dauerhaft in Jakobsdorf,
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Ernst Preuß an Eberhard Marcon am 15. August 1982, in: UAT 359, Nr. 2000. Berndt (1997[1924]), S. 79. Vgl. Mierau (2006), S. 61–64, hier S. 62f.; Nickel (2007). Zum Antisemitismus der Agrarier im Kaiserreich und in der Weimarer Republik siehe Puhle (1975[1967]), S. 111–140; Reif (1994). 224 Siehe etwa den antisemitischen Artikel von Sohnrey (1895). 225 Vgl. z. B. Schwarz (1990); Hinkelmann (1998). 226 Hierzu gehört die Verordnung über den Einsatz des jüdischen Vermögens vom 3. Dezember 1938. Zur „Arisierung“ jüdischen Vermögens in Schlesien 1933–1945 vgl. Polomski (1995).
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nachdem Kurt von Tippelskirch vom NS-Regime von seinem Posten als Generalkonsul in Boston abgelöst worden war.227 Wie die übrigen Güter, die sich zu diesem Zeitpunkt noch im Besitz des Dyhrenfurth’schen Familienverbands befanden, wurde auch Jakobsdorf mit einer Geldbuße belegt. Die Strafzahlung aber blieb anscheinend die einzige Maßnahme gegen Gertrud Dyhrenfurth als Jüdin; verglichen mit anderen Familienmitgliedern überstand Gertrud Dyhrenfurth die NS-Zeit verhältnismäßig „unbeschadet“. Günter Oskar Dyhrenfurth, ihr Großneffe, war wohl der einzige Verwandte, der frühzeitig die Gefahren der NS-Herrschaft für „Halb- oder Vierteljuden“ erkannte und deshalb versuchte, andere Familienmitglieder zur Ausreise bzw. zur Flucht zu bewegen. Er selbst lebte mit seiner Familie seit den 1920er Jahren in Zürich. Nach dem Machtantritt der Nationalsozialisten hatte er die Schweizer Staatsbürgerschaft angenommen, seine Professur an der Universität Breslau niedergelegt und war aus Protest gegen dessen nationalsozialistische Ausrichtung aus dem Deutschen Alpenverein ausgetreten.228 Opfer der nationalsozialistischen Vernichtungspolitik wurden Werner (1900–1943) und Ella Dyhrenfurth (1870–1942), entfernte Verwandte, die in der Nähe auf dem Gut Petersdorf lebten. Sie wurden in die Konzentrationslager Auschwitz und Theresienstadt deportiert und ermordet.229 Auch in der Nähe von Jakobsdorf entstanden Ende der 1930er Jahre Konzentrationslager. Nur etwa 40 km Luftlinie südwestlich von Jakobsdorf entfernt befand sich das Konzentrationslager Groß-Rosen und 30 km nördlich befanden sich zwei Außenlager des Konzentrationslagers, Dyhernfurth I und II. Groß-Rosen war gegen Kriegsende eines der größten der noch bestehenden Konzentrationslager.230 Nicht bekannt ist, ob Gertrud Dyhrenfurth die Lager wahrgenommen und sich eine Meinung dazu gebildet hat. Gertrud Dyhrenfurth und Elisabeth von Tippelskirch schlossen sich nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs nicht den nach Westen ziehenden Flüchtlingstrecks an, sondern blieben gemeinsam mit den meisten Guts- und Dorfbewohnern in Jakobsdorf. Als ehemaliger NS-Diplomat kam Kurt von Tippelskirch in russische Kriegsgefangenschaft; er starb am 17. Mai 1946 in einem Arbeitslager in Sibirien. Dyhrenfurth, ihre Nichte Elisabeth und die deutschstämmigen Dorfbewohner wurden im Juni 1946 aus Polen ausgewiesen. Nach der sieben Tage dauernden Fahrt in einem Güterwagen starb Gertrud Dyhrenfurth nur wenige Tage nach der Ankunft in Bassum bei Bremen am 20. Juni 1946 im Alter von vierundachtzig Jahren.
227 Zu Tippelskirch als deutschem Generalkonsul in Boston siehe Norwood (2004), S. 207. 228 Vgl. Nickel (2007), S. 197–200; Zebhauser (1998), S. 194. Günter Oskar Dyhrenfurth war mit seinen Eltern häufig in Jakobsdorf zu Besuch, die meisten Fotos im Bildanhang stammen aus dem Fotoalbum „Jakobsdorf“ seiner Familie. 229 Vgl. Nickel (2007), S. 200–209. 230 Zum Konzentrationslager Groß-Rosen, den Außenlagern in Dyhernfurth und dem Einsatz von KZ-Häftlingen in der dortigen Fabrik der I. G. Farben zur Herstellung des Nervengases Tabun siehe Sprenger (1996), S. 236–256; Schmaltz (2005), S. 443–459.
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3.2 Empirische Studien über Heimarbeiterinnen und Frauen in der Landwirtschaft Gertrud Dyhrenfurth war als empirische Sozialforscherin und sozialpolitische Publizistin vor dem Ersten Weltkrieg in mehrfacher Hinsicht eine Ausnahmeerscheinung. Sie veröffentlichte in knapp zehn Jahren zwei umfangreiche Monographien zu zwei verschiedenen Themengebieten, den Heimarbeiterinnen und der Landarbeiterschaft im damaligen Niederschlesien und sie initiierte und leitete eine große Enquete über die Lage der Frauen in der Landwirtschaft in den verschiedenen Regionen Deutschlands. Mit ihren empirischen Studien betrat sie sowohl thematisch als auch methodisch Neuland. Die bis dahin unerforschte Frauenarbeit in der Hausindustrie und in Landwirtschaft war – im Gegensatz zur etwas besser erforschten Fabrikarbeit von Frauen – keine außerhäusliche Erwerbstätigkeit und erforderte daher neue Methoden der Datenerhebung. Ihre Studien waren mustergültig und wurden zum Vorbild für weitere Untersuchungen, die explizit an Dyhrenfurths Fragestellungen und methodische Vorgehensweisen anknüpften. Dyhrenfurth war außerdem die einzige Frau, die vor 1918 in allen relevanten (deutschen) sozialwissenschaftlichen Fachzeitschriften, zum Teil mehrfach, mit Aufsätzen vertreten war.231 Ihre Beiträge wurden im „Archiv für soziale Gesetzgebung und Statistik“, im „Jahrbuch für Gesetzgebung, Verwaltung und Volkswirtschaft im Deutschen Reich“ sowie in den „Jahrbüchern für Nationalökonomie und Statistik“ veröffentlicht. Dyhrenfurth verfasste Artikel für die „Soziale Praxis“, die Zeitschrift der Gesellschaft für soziale Reform, und „Concordia“, die Zeitschrift der Zentralstelle für Arbeiter-Wohlfahrtseinrichtungen (später Zentralstelle für Volkswohlfahrt). Auch in der Zeitschrift „Ethische Kultur“ des Sozialdemokraten Heinrich Braun und in „Die Zukunft“ war sie mit Aufsätzen vertreten. Ihre Veröffentlichungen wurden in diesen Fachzeitschriften sowie in der „Zeitschrift für Sozialwissenschaft“ und der „Zeitschrift für die gesamte Staatswissenschaft“ rezensiert. Die Artikel Dyhrenfurths sowie Besprechungen ihrer Veröffentlichungen erschienen außerdem in den Zeitschriften der bürgerlichen Frauenbewegung, in „Die Frau“, „Die Frauenbewegung“ und „Die Heimarbeiterin“ sowie in den Organen der ländlichen Frauenorganisationen und der ländlichen Wohlfahrtspflege. Ihre empirischen Studien sind allein schon wegen des interessanten Quellenmaterials von sozialgeschichtlicher Bedeutung, auch wenn es kaum noch möglich ist, „zwischen den erkenntnisleitenden Vorstellungen“ der Forscherin und den von ihr „beobachteten und schreibend dargestellten Wirklichkeiten, denen ihr Interesse gegolten“ hat, zu unterscheiden. Denn es gibt kein quellenkritisches Werkzeug, mit dessen Hilfe sich erschließen lässt, inwieweit die Untersuchungen nur die
231 Zu diesem Ergebnis kommt Wallgärtner bei ihrer Auswertung des soziologischen Diskurses im Kaiserreich, siehe Wallgärtner (1991), S. 428–444.
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Wahrnehmung der Forscherin widerspiegeln oder inwieweit sie dem entsprechen, wie die „beforschten Menschen ihr Leben gedeutet und gelebt haben“.232
3.2.1 „Die hausindustriellen Arbeiterinnen der Berliner Blusen-, Unterrock-, Schürzen- und Tricotkonfektion“ (1898) Gertrud Dyhrenfurth war die Erste, die sich einer gründlichen Erforschung der sozialen Lage der Heimarbeiterinnen in Deutschland widmete. Unmittelbar nach der Rückkehr von ihrer Studienreise nach England begann sie 1895 mit den Vorarbeiten zu ihrer Studie über die hausindustriellen Arbeiterinnen in der Berliner Konfektionsindustrie, die zum „Leitstern“ des Gewerkvereins der Heimarbeiterinnen wurde. In der Zeit vom Beginn der Studie bis zu ihrer Veröffentlichung war Dyhrenfurth am Aufbau der Evangelisch-sozialen Frauengruppe, am Berliner Konfektionsarbeiterstreik und an der Gründung der Mädchen- und Frauengruppen für soziale Hilfsarbeit beteiligt und war Gasthörerin an der Universität Berlin. Mit der Studie griff sie ein tagespolitisch aktuelles und sozialpolitisches Dauerthema auf; über Hausindustrie und Heimarbeit wurde um 1900 viel diskutiert und veröffentlicht.233 Die Heimarbeit galt als „Sorgenkind der deutschen Sozialpolitik“234, denn sie war einer der Erwerbszweige, die von der Sozialgesetzgebung nicht erfasst wurden. Im Zentrum der politischen Auseinandersetzung stand deshalb zum einen das Elend der von der Heimarbeit lebenden Familien. Ein Streitpunkt in den Diskussionen war u. a. die Frage, ob die Hausindustrie als nicht mehr zeitgemäße und nicht mehr wettbewerbsfähige gewerbliche Produktionsform überhaupt noch beibehalten und staatlich reguliert werden sollte, oder ob es nicht besser wäre, sie abzuschaffen. Die männlichen nationalökonomischen Experten, die von einem baldigen Ende der – meist in ländlichen Regionen vorkommenden – Hausindustrie ausgingen, wurden von einem gegenläufigen Trend überrascht, dem schnellen Anwachsen der städtischen Heimarbeit, die fast ausnahmslos von Frauen ausgeführt wurde.235 Durch den bereits erwähnten Streik in der Berliner Konfektionsindustrie von 1896 geriet das soziale Elend dieser Gruppe von Arbeiterinnen in den Fokus der öffentlichen Aufmerksamkeit. Der VfS reagierte auf diese Entwicklungen und Debatten mit einer Enquete über die Hausindustrie in Deutschland, die 1896 von Gustav Schmoller angestoßen und 1898 durchgeführt wurde. Zu diesem Zeitpunkt war Dyhrenfurths Studie bereits abgeschlossen und in der von Schmoller herausgegebenen Reihe „Staatsund sozialwissenschaftliche Forschungen“ im renommierten Verlag Duncker & Humblot erschienen.236 Dyhrenfurths Ergebnisse flossen in Enquete des VfS ein; 232 233 234 235 236
Hausen (1998), S. 222. Zur Abgrenzung zwischen Hausindustrie und Heimarbeit siehe z. B. Kriedtke (1998). Dyhrenfurth (1918f), S. 130 Hausen (1998), S. 217. Sie widmete die Studie „ihrem geliebten Vater“, siehe Dyhrenfurth (1898), S. V.
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ein Kapitel basiert überwiegend auf ihrer „sorgfältigen“ Studie.237 Die Erkenntnisinteressen von Dyhrenfurth und dem VfS waren jedoch sehr unterschiedlich. Dyhrenfurth ging es vor allem um die soziale Situation der Heimarbeiterinnen. In der Sparte der Textilindustrie, die sie untersuchte, waren überdurchschnittlich viele Frauen beschäftigt. Den VfS interessierten dagegen vor allem neuere Daten über die Betriebsform Heimarbeit. Nur die Beiträge im Teilband „Hausindustrie und Heimarbeit in Deutschland und Österreich: Süddeutschland und Schlesien“ (1898) befassten sich mit der sozialen Lage der Arbeiter und Arbeiterinnen. An diesem Band waren – zum ersten Mal in der Geschichte des VfS – auch Frauen beteiligt, Gasthörerinnen der Berliner Universität. Wie bei den meisten Vereinserhebungen wurden die Teilstudien als Seminararbeiten vergeben, die beteiligten Gasthörerinnen kamen aus den Seminaren von Schmoller und Max Sering: Helene Simon und Else (Jaffé) von Richthofen (1874–1973)238 studierten bei Schmoller, Luise von Benda (18??–19??) und Marie Amalie Lipszyc (18??–19??) bei Sering. Die prekären Arbeits- und Lebensbedingungen der hausindustriellen Arbeiterschaft wurden nach dem Konfektionsarbeiterstreik auch zum Dauerthema in der Frauenbewegung. Neben Dyhrenfurth beteiligten sich weitere nationalökonomisch geschulte Vertreterinnen der Frauenbewegung mit wissenschaftlichen Artikeln und Untersuchungen an der Debatte. Zu diesen gehörten die Sozialistinnen Ottilie Baader (1847–1925), Oda Olberg (1872–1955) und Henriette Fürth (1861– 1938). Baader, selbst Näherin und Heimarbeiterin, engagierte sich seit den 1860er Jahren in der Arbeiterinnenbewegung. Sie schilderte in einer Artikelreihe die prekäre Lage der Heimarbeiterinnen in verschiedenen Sparten der Konfektionsindustrie.239 Der Bericht der österreichischen Sozialdemokratin und Journalistin Olberg über „Das Elend der Hausindustrie in der Konfektion“ (1896) entstand unmittelbar nach dem Streik. Sich überwiegend auf Artikel von Gewerkschaftsvertretern und die Erhebungen des VfS stützend, illustrierte Olberg die „trockenen“ Fakten mit ihren Beobachtungen der sozialen Not, die sie während mehrerer Besuchen bei einer Heimarbeiterin gemacht hatte. Fürth, die im Auftrag der Sektion für soziale Ökonomie des Freien Deutschen Hochstifts in Frankfurt am Main tätig war, führte schließlich eine Erhebung über „Die Frauenarbeit in der Herrenschneiderei“ (1896) durch, die erste Arbeit der Frankfurter Enquete.240 Verglichen mit dem etwa 20 Seiten umfassenden Ergebnisbericht von Fürth, der sich auf die Befragung von sieben Arbeiterinnen stützte, war Dyhrenfurths Studie jedoch deutlich umfangreicher und in der methodischen Vorgehensweise differenzierter; ihr Fragebogen umfasste wesentlich mehr Punkte und ihr Sample war größer.
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Das Kapitel von Georg Neuhaus (1899). Jaffé (1986), S. 187. Baader, Ottilie (1896a-d). Stein (1896), S. 10; Fürth (1896); vgl. Fürth (2010[o. J.]), S. 140.
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3.2.1.1 Methodische Vorgehensweise Wie war das methodische Vorgehen, was waren die Ziele und das Innovative an Gertrud Dyhrenfurths Studie? Es war eine Monographie im Stil der Historischen Schule der Nationalökonomie, mit der Dyhrenfurth eine Datenbasis zur sozialen Lage der Heimarbeiterinnen in der Konfektionsindustrie schaffen wollte, weil damals für diese Branche kaum aussagekräftige Quellen und Untersuchungen vorlagen. Auch die Berufs- und Gewerbezählung von 1895 hatte die Situation der Heimarbeiterinnen kaum erfasst.241 Dyhrenfurth wollte außerdem etwas über die Motivation und die Gründe herausfinden, die dazu führten, dass Frauen als Heimarbeiterinnen arbeiteten. Ihre Studie basierte auf unterschiedlichen Quellen und einem Methodenmix. Für die Branchenanalyse, die Entwicklung der Konfektionsindustrie und der Frauenarbeit in der Konfektionsindustrie stützte sich Dyhrenfurth auf Handelskammerberichte sowie lokale und überregionale (Handels-) Adressbücher. Für die Situation der Heimarbeiterinnen wertete sie die statistischen Datensätze der Berufs- und Gewerbezählung des preußisch-statistischen Amtes aus. Innovativ war Dyhrenfurths Erhebungsmethode. Sie war die Erste, die in Deutschland eine direkte Befragung im persönlichen Umfeld durchführte und die Arbeiterinnen in ihren Wohnungen befragte. Auf diese Weise sollte die „innige Wechselwirkung“ zwischen Erwerbs- und Hausarbeit empirisch erfasst werden. Denn die Arbeitssphäre und die private Lebenssphäre waren bei der Heimarbeit – im Gegensatz zur Arbeit in den Fabriken, im Bergbau oder Handelsgewerbe – kaum voneinander zu trennen. Die herkömmlichen Erhebungsmethoden konnten deshalb keine empirisch fundierten Aussagen darüber liefern, „welche Rückwirkung die Arbeit auf das Heim hat, in dem sie sich abspielt“. Besonders war auch Dyhrenfurths für die damaligen Verhältnisse sehr differenzierte Reflektion der Befragungssituation: „Neben allgemeinen sozialen Einflüssen wirken hier solche persönlicher Natur derart stark mit, dass man sie kennen und ausscheiden muss, wenn man zu einer richtigen Beurteilung der ökonomischen Lage kommen will. Selbstverständlich erfordert dies ein gewisses Eindringen in das private Leben der Familie, ein Ausforschen der Nebenumstände, die, den Betreffenden oft unbewusst, ihren Erwerb beeinflussen. Der Heimarbeiter muss in seinem Milieu aufgesucht werden, damit aus diesem heraus die Angaben, die er macht, ergänzt und korrigiert werden können. Lässt man ihn, losgelöst von dem Hintergrund seines häuslichen Lebens, etwa an einem dritten Ort, seine Aussagen machen, so ist man auf seine eigene Erkenntnis von den mannigfaltigen Ursachen, die auf seine individuelle Lage mit einwirken, angewiesen. (…) Auch kann man annehmen, dass diejenigen Personen, die sich zur Auskunft vor einer Kommission melden, den intelligentesten und rührigsten Teil, die Elite der Arbeiterschaft repräsentieren, und dass daher die Aussagen, die sie über ihre Lage machen, nicht ganz den Durchschnitt der Verhältnisse kennzeichnen.“242
241 Vgl. Beier (1983), S. 36–40. 242 Dyhrenfurth (1898), S. 2.
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Dyhrenfurth orientierte sich bei ihrer Erhebungsmethode an den sozialpolitischen Erhebungen englischer Frauen und den Berichten englischer Fabrik- und Gewerbeinspektorinnen, die sie während ihrer Studienreise kennengelernt und über die sie in mehreren Artikeln berichtet hatte.243 Sie griff zudem die Praxis der englischen Labour Commission auf, die zur Prüfung der ländlichen und weiblichen Arbeitsverhältnisse von „Spezialkommissären“ Hausbesuche durchführen ließ. Diese Vorgehensweise wurde auch bei Charles Booths Survey angewandt, an dem Beatrice Webb und Clara Collet mitgewirkt hatten. Gemessen an der absoluten Zahl von Heimarbeiterinnen in Berlin war das Sample von Dyhrenfurths Studie nicht besonders groß, es umfasste aber dennoch ein breites und ihres Erachtens repräsentatives Spektrum von Heimarbeiterinnen aus den verschiedenen Sparten und Statusebenen der Konfektionsindustrie. Insgesamt wurden 261 Personen befragt, 200 Arbeiterinnen, 55 Zwischenmeisterinnen (Frauen, die fremde Lohnarbeiterinnen beschäftigten) und 6 Experten. Es galt bereits als Erfolg, dass es Dyhrenfurth überhaupt gelungen war, so viele Heimarbeiterinnen für die Interviews zu gewinnen. Denn im Vergleich zu GnauckKühnes Fabrikarbeiterinnenstudie war es bei den Heimarbeiterinnen sehr viel schwieriger, an Kontaktdaten von möglichen Interviewpartnerinnen zu kommen. Die Gewerkschaft konnte ihr fast keine Kontakte vermitteln, da die Heimarbeiterinnen, wie bereits erwähnt, nicht gewerkschaftlich organisiert waren. Einen Teil der Adressen erhielt Dyhrenfurth von Arbeitgebern, Unterstützungsvereinen und Stadtmissionaren. Einen weiteren Teil der Adressen gewann sie auf sehr ungewöhnliche Weise: Sie ging während der Mittagszeit in die Straßen der Arbeiterviertel und fragte dort Frauen, die ihren Männern das Mittagessen brachten, nach Adressen von Heimarbeiterinnen. Eine weitere Hürde für die Befragungen war deren zeitlicher Umfang. Eine Befragung dauerte ungefähr zwei Stunden, was für die Arbeiterinnen aufgrund der großen Arbeitsbelastung einen enorm hohen Zeitaufwand bedeutete. Es ist deshalb erstaunlich, bei den 100 Interview-Anfragen wohl nur eine Heimarbeiterin eine Befragung abgelehnt hatte.244 Dyhrenfurths Leitfaden umfasste insgesamt 45 Fragen zu persönlichen Daten, zum Familienstand, zur Wohnsituation, zur sozialen Absicherung, zur Krankenversicherung und zur Armenunterstützung. Gefragt wurde nach dem allgemeinen Gesundheitszustand der Arbeiterinnen und nach den Auswirkungen der maschinellen Arbeit auf den weiblichen Körper. Etwas mehr als die Hälfte der Fragen
243 Dyhrenfurth (1895b; 1895c; 1896a; 1896b). 244 Dyhrenfurth (1898), S. 4. Zu Henriette Fürths Schwierigkeiten, Interviewpartnerinnen zu finden siehe Fürth (2010[o. J.]), S. 140. Zu den Schwierigkeiten von Charlotte Engel-Reimers bei der Befragung von Heimarbeiterinnen in der Filzschuhindustrie zehn Jahre später siehe Engel-Reimers (1906), S. 37f. Viele Arbeiterinnen lehnte eine Befragung aus Zeitgründen ab. Diejenigen, die teilnahmen, gaben nur wenig Auskunft, weil sie in der ständigen Angst vor Arbeitsplatzverlust und Lohnkürzungen lebten. Engel-Reimers konnte nie das Gefühl des unerwünschten Eindringens überwinden und empfand die Interviewsituation in den Wohnungen der Arbeiterinnen als Verletzung der Privatsphäre der Interviewten.
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zielte auf die Arbeit an sich: Welchen Artikel stellt die Befragte her? Wie lange arbeitet sie schon in der Branche? Wird sie direkt oder über einen Zwischenmeister beschäftigt? Wie viele Stunden arbeitet sie täglich? Wie hoch sind ihre Unkosten, wie hoch ist ihr Stücklohn und ihr wöchentlicher Verdienst? Wie regelmäßig ist ihre Arbeit? Arbeitet sie an Sonntagen? In welchem Rhythmus wird ihr die Arbeit geliefert? Treten bei der Abnahme der Arbeit Schwierigkeiten auf? Wie lange muss sie bei der Abnahme warten? Gibt es Lohnabzüge? Wie ist die Behandlung generell? Bevorzugt sie die Beschäftigung im Haus oder eine Beschäftigung in der Werkstatt? Gertrud Dyhrenfurth verteilte die Fragebogen nicht direkt an die Arbeiterinnen – diese seien ihres Erachtens mit der direkten Beantwortung der Fragen überfordert –, sondern führte, aus heutiger Sicht, problemzentrierte leitfadengestützte Interviews durch. Bei der Erhebung wurde sie von ehrenamtlichen und für die Befragung geschulten Interviewerinnen unterstützt. Sie befragten die Heimarbeiterinnen und machten sich Notizen über die Wohnungen der Arbeiterinnen.245 Mit dem sogenannten Beobachtungsbogen sollten weitere Informationen erhoben und die Sichtweise der Interviewten überprüft und ggf. korrigiert werden. Als Interviewerinnen wurden ausschließlich Frauen eingesetzt, denn (auch) Dyhrenfurth war davon überzeugt, dass es mehr der Natur der Frau entsprach, „derartig in die Intimität der Häuslichkeit einzudringen und so vertrauliche Mitteilungen von den Arbeiterinnen zu erlangen“. Frauen sei, so Dyhrenfurth, „die Gabe, das herauszufühlen, was an dem weiblichen Arbeitsleben besser und gesünder zu gestalten sei (…), von Natur aus mehr gegeben“. Mit ihrem Einfühlungsvermögen gelänge es Frauen besser, Vertrauen zu gewinnen und dadurch mögliche Widerstände bei einer Befragung zu überwinden. „Was den Zweck der Recherche betrifft“, so Dyhrenfurth, „konnte man natürlich nur selten auf Verständnis dafür rechnen; das Gefühl aber war vorherrschend, dass man im Interesse der Arbeiterin käme, und eine misstrauische Regung hie und da wurde schließlich von dem Wunsch unterdrückt, sich durch eine Aussprache das Herz zu erleichtern.“246 Ein wesentlicher Grund für den Erfolg der Datenerhebung war wohl die Gesprächsführung, die über eine reine Befragung hinausging.247 Die befragten Heimarbeiterinnen schienen dankbar dafür zu sein, dass sich überhaupt jemand für ihre Lage interessierte. Die Interviewerinnen übernahmen mit Gewerbeinspektorinnen vergleichbare Aufgaben und vermittelten in einzelnen Notfällen sogar soziale Unterstützung.
245 Dyhrenfurth (1898), S. 3. 246 Dyhrenfurth (1898), S. 3. 247 Lange, Helene (1898), S. 619.
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3.2.1.2 Ergebnisse Gertrud Dyhrenfurths Heimarbeiterinnenstudie entspricht vom Aufbau und der Darstellung her weitgehend den Monographien der Historischen Schule der Nationalökonomie. Ungewöhnlich war, dass sie ihre methodische Vorgehensweise ausführlich darstellte und begründete. Das lag daran, dass sie mit ihrer Studie ein Muster für weitere Erhebungen schaffen wollte. Gleichzeitig wollte sie die amtlichen Stellen davon überzeugen, bei zukünftigen Enqueten über die Hausindustrie die in Deutschland üblichen reinen Expertenbefragungen durch die Befragung von Arbeiterinnen und Arbeitern zu erweitern, wie es in England üblich war. Dabei sollten wie bei ihrer Erhebung weibliche Fachkräfte, Gewerbeinspektorinnen, bei der Befragung vor Ort, in den Wohnungen der Arbeiterinnen, eingesetzt werden.248 Mit ihrer Branchenanalyse der Berliner Konfektionsindustrie wies Dyhrenfurth nach, dass die prekäre Lage der Heimarbeiterinnen ein Ergebnis der Flexibilisierung der Konfektionsindustrie war. Die Branche war durch Dezentralisierung, Auslagerung der Produktion und zahlreiche Firmenneugründungen gekennzeichnet. Es gab konjunkturellen Schwankungen und es bestand immer die Gefahr einer Überproduktion. Die Produktion war nicht langfristig planbar, da schnell auf neue Modetrends reagiert werden musste. Die Dezentralisierung der Arbeitsorganisation ermöglichte es den Unternehmern, auf Konjunkturentwicklungen flexibel zu reagieren und die Kosten für Arbeitskräfte durch das Umgehen der Arbeiterschutz- und Versicherungsgesetzgebung zu minimieren. Für die Heimarbeiterinnen bedeutete das, dass sie unregelmäßig beschäftigt wurden und entweder überlastet oder arbeitslos waren.249 Sie wurden durch dieses System zu einer großen, immer einsatzbereiten „industrielle[n] Reservearmee“ degradiert. Das Hilfsmittel der Arbeit, eine Nähmaschine, wie auch die Fähigkeit damit umzugehen, war fast in jedem Haushalt vorhanden, ebenso wie die Bereitschaft, Aufträge zu übernehmen.250 Die Heimarbeiterinnen waren kurzfristig mobilisierbar und verschwanden wieder, wenn keine Arbeit mehr vorhanden war und ohne dass die Firmen mehr von ihnen zur Kenntnis nehmen mussten als ihre Adresse, um sie bei Bedarf erneut zu mobilisieren.251 In weiteren Kapiteln präsentierte Dyhrenfurth die Ergebnisse ihrer Erhebung der demographischen Daten, der Aus- und Vorbildung der Heimarbeiterinnen, der Auswirkungen der Heimarbeit auf den Haushalt der Arbeiterinnen, der Wohnverhältnisse, der Rahmenbedingungen der Arbeit (Dauer und Art der Beschäftigung, Lohn, Arbeitszeit und Sonntagsarbeit), der Arbeitslosigkeit und Arbeitsvermittlung, der Gesundheit und Krankenversicherung, der Zwischenmeister und der Heimarbeitsschutzgesetzgebung. 248 249 250 251
Dyhrenfurth (1898), S. 5. Dyhrenfurth (1898), S. 76. Dyhrenfurth (1898), S. 75. Dyhrenfurth (1898), S. 82.
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In Kreuztabellen korrelierte Dyhrenfurth die sozialen Daten der Arbeiterinnen mit Branchenzweig, Einkommen und Wohnverhältnissen und untersuchte den Zusammenhang zwischen Alter und Familienstand und der Zugehörigkeit und Verweildauer in den verschiedenen Sparten der Konfektionsindustrie. Ihre deskriptive Zusammenfassung der Tabellen veranschaulichte sie mit empirischen Beispielen. Bei der Darstellung stützte sich Dyhrenfurth überwiegend auf die Ergebnisse ihrer Befragungen. Ihre darüber hinausgehenden Vermutungen, Bewertungen und Einschätzungen kennzeichnete sie als solche. Dyhrenfurths Auswertungen deckten auf, wie disparat die Beschäftigungsverhältnisse in der Heimarbeit waren. Es ließ sich kaum rekonstruieren, wie hoch das Einkommen, wie hoch die Anzahl und wie lange Dauer der Arbeitsunterbrechungen während des Tages war und damit, wie lang die reale tägliche Arbeitszeit war. Ein Arbeitsbuch, in dem Arbeitszeit und Lohn dokumentiert wurden, gab es selten und wenn doch war es nicht aussagekräftig, weil es entweder nicht systematisch geführt wurde oder wegen der vielen verschiedenen Aufträge zu unübersichtlich war. Nur wenige Heimarbeiterinnen wussten, wie hoch ihr realer Lohn tatsächlich war. Dyhrenfurths Auswertung zeigte dagegen, dass der Verdienst von fast allen Heimarbeiterinnen ihres Samples unter dem Existenzminimum lag.252 Nur jede zehnte Arbeiterin erreichte bei einer zehnstündigen täglichen Arbeitszeit ein wöchentliches Nettoeinkommen von 7 Mark, was als Existenzminimum galt.253 Die prekäre Situation wurde außerdem durch die stark schwankende saisonale Beschäftigung verschärft. Was bedeutete es für die Frauen und ihre Kinder, wenn die Wohnung gleichzeitig als Arbeitsplatz genutzt wurde? Mit ihrer Auswertung, den Haushaltsbudgetrechnungen und den Tabellen zu Größe und Belegung der mehrfach genutzten Wohnräume dokumentierte Dyhrenfurth die bittere Armut der Heimarbeiterinnen. Die ohnehin dürftigen Wohnbedingungen der Arbeiterschaft wurden bei den Heimarbeiterinnen durch die fehlende Trennung von Arbeitsplatz und Wohnraum noch zusätzlich verschlechtert. Eine sechsköpfige Familie ihres Samples lebte und arbeitete beispielsweise auf 26,55 qm, eine Mutter mit zwei Kindern auf 11,25 qm. Dyhrenfurths Darstellung vermittelte einen sehr plastischen Eindruck von den Bedingungen, unter denen die Heimarbeiterinnen und ihre Familien lebten und arbeiteten. Wie bei einer Wohnungsbesichtigung beschrieb sie den Weg zur Wohnung und durch die einzelnen Zimmer sowie die dort herrschende bedrückende Enge: „Von der Treppe aus betritt man einen schmalen, dunklen Gang, an dem mehrere Parteien, meist zwei bis vier, wohnen und der die einfenstrigen Küchen von den gegenüberliegenden Stuben trennt. Je nachdem es der Platz erlaubt, sitzt die arbeitende Frau nun in einem oder dem anderen der beiden Räume. Ist die Stube an Schlafgänger vermietet oder durch die eigene Familie in Beschlag genommen, so steht die Nähmaschine zwischen Kochherd, Vorräten, Betten, eingeweichter Wäsche in der Küche. (…) In den sogenannten Kochstuben, von Ehe-
252 Dyhrenfurth (1898), S. 50. 253 Dyhrenfurth (1898), S. 59.
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paaren mit drei und vier Kindern bewohnt, trifft man inmitten des unbeschreiblichen häuslichen Chaos die Frauen an der Nähmaschine sitzend an. Das Arbeitsmaterial liegt auf den Betten verstreut und wird aufs ängstliche vor Unsauberkeit geschützt. Aber die Luft mit allem, was sich ihr mitteilt, wenn in einem Raume gesunde und kranke Menschen Tag und Tag atmen, sich reinigen, ihre Speisen zubereiten, die Überreste und die gebrauchte Wäsche aufbewahren – diese Luft ist von den Waren, die hier hergestellt werden nicht abzuschließen“254
Wieso arbeiteten Frauen als Heimarbeiterinnern und weshalb hielten sie trotz der schlechten Bedingungen an dieser Arbeit fest? Die Ergebnisse von Dyhrenfurths Untersuchung zeigten, dass es in erster Linie verheiratete Frauen und kinderreiche Mütter waren, die die „Physiognomie“ der Heimarbeit bestimmten.255 Trotz der schlechten Bedingungen arbeiteten sie meist schon sehr lange in der hausindustriellen Produktion. Manche hatten bereits als Fünfjährige begonnen, für die Textilindustrie zu arbeiten und banden nun ihrerseits ihre Kinder in diese Arbeitsform mit ein. Die „ansteckende Wirkung der Heimarbeit“ schien sich „fast unwillkürlich von einem Familienangehörigen auf den anderen“ zu übertragen.256 Selbst die Ehemänner unterstützten in Zeiten der Arbeitslosigkeit ihre Frauen bei der Heimarbeit.257 Mit ihren Fallbeispielen entwarf Gertrud Dyhrenfurth ein Gegenbild zu den zeitgenössischen Vorurteilen gegenüber Arbeiterinnen. Die typische Heimarbeiterin in Dyhrenfurths Untersuchung war keine vergnügungssüchtige, überwiegend junge städtische Arbeiterin, sondern die „sorgenvolle, Tag und Nacht arbeitende Frau an der Nähmaschine“, von deren Verdienst das „Wohl und Weh einer Familie“ abhing.258 Ihre Darstellungen widerlegten das Vorurteil, Heimarbeiterinnen wollten nur ihr Taschengeld aufbessern und seien deshalb bereit, zu einem Hungerlohn zu arbeiten. Mit diesem Vorurteil argumentierten Gewerkschaften und bürgerliche Nationalökonomen wie Alfred Weber (1868–1958) für ein Verbot der Heimarbeit. Für sie waren Heimarbeiterinnen „Lohndrückerinnen“, die nur für ihre Luxusbedürfnisse arbeiteten und dafür verantwortlich waren, dass die auf bessere Löhne Angewiesenen langsam verhungern mussten. Mit einem Verbot der Heimarbeit wollten sie die „lohndrückende[n] Frauen ausschließen“ und dadurch gleichzeitig die „Arbeiterinnen von ihren ärgsten Feindinnen im eigenen Lager befreien“.259 Verglichen mit Vertretern der Arbeiterbewegung, die sich über die „Schmutzkonkurrenz“ und die Organisationsunlust der Heimarbeiterinnen beschwerten,
254 Dyhrenfurth (1898), S. 43f. 255 Diese Gruppe machte etwas mehr als die Hälfte ihres Samples aus, war aber nicht repräsentativ für die gesamte Hausindustrie. Die erwähnte Enquete des VfS über „Die Hausindustrie“ zeigte, dass in anderen Sparten der Konfektionsindustrie weniger Ehefrauen und Mütter und mehr unverheiratete und kinderlose Frauen beschäftigt waren. 256 Dyhrenfurth (1898), S. 24. 257 Dyhrenfurth (1898), S. 25. 258 Dyhrenfurth (1898), S. 20. 259 Weber, Alfred (1899). Zur Funktion von Heimarbeit als Zuverdienst vgl. z. B. Beier (1983), S. 48–50.
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zeigte Gertrud Dyhrenfurth mehr Verständnis für deren Situation.260 Bei ihrer grundsätzlichen Haltung zur Heimarbeit lavierte Dyhrenfurth allerdings zwischen den sozialpolitischen Linien; sie war keine unkritische Befürworterin der Heimarbeit. Mit ihrer Studie dokumentierte sie deren negative Begleiterscheinungen und stellte dar, wie die Heimarbeit in den engen Wohnungen die Qualität der Arbeit, die Gesundheit der Beteiligten sowie die Haushaltsführung und die mütterlichen Pflichten der Arbeiterinnen beeinträchtigte.261 Dyhrenfurth kam jedoch zu dem Ergebnis, dass die Heimarbeit für die meisten Frauen eine „bittere Notwendigkeit“ sei und dass der „familienzersetzende“ Einfluss größer sei, wenn die Frauen in der Fabrik oder in einer (hausindustriellen) Werkstatt arbeiteten. Mit ihren Fallbeispielen lenkte Dyhrenfurth die Aufmerksamkeit auf diejenigen Frauen, die auf ein Erwerbseinkommen angewiesen waren, jedoch wegen ihrer Kinder, wegen pflegebedürftiger Angehöriger oder aus gesundheitlichen Gründen nicht außerhalb des Hauses arbeiten konnten. Die Heimarbeit war für diese Frauen daher die einzige Erwerbsarbeit, die sie verrichten konnten. Ein Verbot der Heimarbeit würde, so Dyhrenfurth, nur die ökonomische Not dieser Frauen verschlimmern. Bei den Heimarbeiterinnen in Dyhrenfurths Studie handelte es sich meist um ältere Frauen oder alleinstehende Mütter, die aus Angst, ihre Arbeit zu verlieren, bereit waren, zu den schlechtesten Bedingungen zu arbeiten. Durch ihre isolierte Arbeitsweise war es den Heimarbeiterinnen kaum möglich, ein Solidaritätsgefühl zu entwickeln, das zu einem Zusammenschluss und zum Kampf gegen die schlechten Arbeitsbedingungen hätte führen konnte. Zwar gebe es unter den Heimarbeiterinnen, so Dyhrenfurth, vereinzelt auch „weibliche […] Revolutionäre“, ihr überwiegender Teil machte auf sie aber den Eindruck von „hilflosen, gehetzten Tieren“, die viel zu abgestumpft waren, „um überhaupt nur zu einer Kritik ihrer Verhältnisse zu kommen“.262 Gertrud Dyhrenfurth machte sich mit ihrer Studie auch für eine Verbesserung der Rahmenbedingungen von Heimarbeit durch sozialpolitische Maßnahmen stark, die sie seit dem Konfektionsarbeiterinnenstreik bei Tagungen und im Gewerkverein der Heimarbeiterinnen propagierte. Hierzu gehörte die gesetzliche Schaffung von „häuslichen Werkstätten“, die der Anmeldepflicht und der Gewerbeinspektion unterliegen sollten, die gesetzliche Regelung von Mindestanforderungen wie die räumliche Trennung von Arbeitsplatz und Wohnraum sowie die gesetzliche Festlegung verbindlicher Mindeststücklöhne, den bereits erwähnten Tarifämtern. Dyhrenfurth forderte die Einführung weiblicher Gewerbeinspekto-
260 Vgl. Kerchner/Koch-Baumgarten (1998). Studien zu den zeitgenössischen Geschlechterbildern in den Gewerkschaften zeigen, dass deren auf Gleichheit, Frauenemanzipation und -organisation zielende Programmatik durch eine geringe Akzeptanz von Arbeiterinnen als Erwerbstätige, als Organisationsmitglieder und Funktionsträgerinnen gekennzeichnet war. Dies fand u. a. in den abwertenden Frauenbildern der „Lohndrückerinnen“ und „Streikbrecherinnen“ bemerkbar. 261 Siehe z. B. Dyhrenfurth (1898), S. 29–30, S. 69 und S. 109. 262 Dyhrenfurth (1898), S. 64.
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rinnen, die Einführung einer obligatorischen Krankenversicherung und obligatorischer Arbeitsbücher. Sie hielt es für notwendig, durch die korporative Zusammenfassung der drei Gruppen Grossist, Zwischenmeister und Arbeiter einen geordneten Arbeitsnachweis einzurichten.263 Dyhrenfurth überprüfte außerdem die Forschungsergebnisse von Beatrice Webb über die Zwischenmeister an ihrem Sample. Webb war zu dem Ergebnis gekommen, dass die ZwischenmeisterInnen nicht die Unterdrücker und Ausbeuter waren, als die sie dargestellt wurden, sondern dass deren negative Wahrnehmung eher darauf beruhte, dass sie die „Personifikation eines schlechten Lohnsystems in der Volksphantasie“ waren.264 Dyhrenfurths Befragungen bestätigten Webbs These. Die Zwischenmeisterinnen in der Berliner Konfektionsindustrie waren überwiegend einfache Arbeiterinnen, denen es wirtschaftlich kaum besser ging als den Arbeiterinnen, die sie beschäftigten. Ihre Tätigkeit war zwar körperlich weniger anstrengend, dafür aber mit mehr Verantwortung verbunden. Mit ihren Arbeiterinnen standen sie meist in freundlichem Kontakt. Dyhrenfurth blendete in diesem Zusammenhang allerdings aus, dass das Zwischenpersonal der Branche überwiegend aus Männern bestand, obwohl dies ebenfalls ein Ergebnis ihrer Erhebung war.265 3.2.1.3 Rezension und Rezeption Gertrud Dyhrenfurths Heimarbeiterinnenstudie wurde nicht nur in allen wichtigen nationalökonomischen Zeitschriften und Organen der Frauenbewegung positiv und umfangreich besprochen, sondern auch international beachtet.266 Die nationalökonomischen Experten und die Vertreterinnen der bürgerlichen und sozialistischen Frauenbewegung kamen übereinstimmend zu dem Ergebnis, dass Dyhrenfurths Arbeit „besonders hervorragend“, „ein Muster exakter Forschung“267 und eine „der beachtenswertesten Erscheinungen der reichhaltigen und immer mehr anschwellenden Literatur über die moderne Hausindustrie“268 sei. Die Verarbeitung des Materials sei „methodisch vortrefflich“ und mit „Kritik, Sachkenntnis und sorgfältiger Objektivität durchgeführt“ worden. Ihre Darstellung sei „klar und trotz des oft spröden Stoffes fließend und angenehm zu lesen“.269 Clara Elben (18??–19??) stellte die „scharfe Beobachtungsgabe“ und den „ungemeinen Fleiß“ heraus, mit dem Dyhrenfurth das umfangreiche Material gesammelt und mit systematischer Gründlichkeit analysiert hatte. „Nicht trocken und langatmig“, so
263 264 265 266 267 268 269
Dyhrenfurth (1898), S. 121. Dyhrenfurth (1898), S. 95. Dyhrenfurth (1898), S. 93f. Siehe z. B. die Rezension von Veen (1898). Lange, Helene (1898). Voigt (1898), Sp. 840. Conrad, J. (1898), S. 268; vgl. Huber (1898).
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Elben, „sondern voll anschaulicher Lebendigkeit und mitfühlender Wärme, gepaart mit gründlicher Sachkenntnis“ werde hier ein Stück Arbeiterinnendasein vorgeführt, dessen Verhältnisse und Ursachen kennenzulernen im Interesse jeder fortgeschrittenen Frauenrechtlerin liege.270 Dyhrenfurth sei es gelungen, so Helene Lange, ohne „Gefühlsergießungen“, mit einer „durch bloße Tatsachen (…) beredte[n] Sprache“ das Elend der Heimarbeiterinnen sichtbar zu machen. Für Lange lag die Bedeutung der Arbeit in der Darstellung der individuellen Fälle.271 Elben und Lange befürworteten Dyhrenfurths sozialpolitische Forderungen, deren Durchsetzung hielten sie nach den Erfahrungen des Konfektionsarbeiterstreiks aber für unwahrscheinlich. Lange unterstütze lediglich Dyhrenfurths Forderung nach der Einrichtung obligatorischer Fortbildungsschulen und nach der Unterstützung der gewerkschaftlichen Organisierung der Arbeiterinnen durch bürgerliche Frauen,272 wie sie kurz darauf im Gewerkverein der Heimarbeiterinnen realisiert wurde. Kritik kam hingegen von Henriette Fürth. Sie konnte nicht nachvollziehen, wie Dyhrenfurth trotz ihrer realistischen Einschätzung der katastrophalen Verhältnisse in der Heimarbeit zu dem Schluss kommen konnte, die Heimarbeit sei zu erhalten, weil der „familienzersetzende Einfluss“ der Fabrikarbeit von Frauen größer wäre.273 Zu den Rezensenten der Studie gehörte auch Alfred Weber. Er betonte, dass es „außerordentlich“ wünschenswert sei, „wenn die Verfasserin ihre Untersuchungen fortsetzen und vielleicht in etwas veränderter Form auf das ganze Gebiet der großstädtischen Konfektion ausdehnen würde“.274 Weber, der kurz zuvor an der Berliner Universität bei Schmoller mit einer Arbeit über „Hausindustrielle Gesetzgebung und Sweating-System in der Konfektionsindustrie“ promoviert hatte, hatte daran ein konkretes Interesse. Denn er führte gerade eine Teilstudie für die Enquete des VfS zur Heimarbeit und Hausindustrie durch. Er verfasste außerdem die Vorbemerkung und den einleitenden Aufsatz über „Die Entwicklungsgrundlagen der großstädtischen Frauenhausindustrie“ für den Teilband der Enquete über „Die Hausindustrie der Frauen in Berlin“, in dem, wie bereits erwähnt, auch Dyhrenfurths Ergebnisse durch einen zusammenfassenden Artikel berücksichtigt wurden.275 Anders als Dyhrenfurth und die meisten Mitgliedern des VfS hielt Weber die Heimarbeit aber für eine veraltete Arbeitsform, die er durch eine Reglementierung der Arbeitserlaubnisse einschränken und langfristig ganz abschaffen wollte. Die vom BDF angeregte Untersuchung des Dresdner Rechtsschutzvereins für Frauen über die Arbeitsverhältnisse in der Dresdner Strohhutnäherei, einem In-
270 271 272 273 274
Elben (1899), S. 4. Lange, Helene (1898), S. 620. Lange, Helene (1898), S. 626. Fürth (1898), S. 179f. Weber, Alfred (1898), S. 411. Zu Alfred Webers Mitarbeit bei der Enquete siehe Boese (1939), S. 85–89; Gorges (1986), S. 145; Demm (1990), S. 33–37. 275 Siehe Neuhaus (1899).
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dustriezweig mit fast ausschließlich weiblichen Beschäftigten, knüpfte an Dyhrenfurths methodische Vorgehensweise an. Dyhrenfurth Vorgehensweise bei der Adressengewinnung wurde ebenso wie ihr Fragebogen übernommen, und auch in Dresden wurden die Heimarbeiterinnen zuhause befragt. Die Untersuchung sollte die Forderung nach Heimarbeitsschutzbestimmungen unterstützen. Sie war von der Arbeiterinnenschutzkommission des BDF und deren Vorsitzenden Jeanette Schwerin angeregt worden. Mit dem von Dyhrenfurth entwickelten Fragebogen gelang es den Interviewerinnen, ein anschauliches Bild der Arbeitsund Lohnverhältnisse und der Lebensführung der Heim- und Fabrikarbeiterinnen der Strohhutbrache zu zeichnen.276 Auch die Erhebung des Gewerkvereins der Heimarbeiterinnen Deutschlands 1907 orientierte sich an Dyhrenfurths Musterstudie und verwendete deren Fragebogen.277 An die Studie von Dyhrenfurth knüpfte auch Käthe Gaebel (1879–1962) an. Die ehemalige Mitarbeiterin des Gewerkvereins der Heimarbeiterinnen promovierte 1912 bei Wilbrandt an der Universität Tübingen über „Die Heimarbeit als jüngstes Problem des Arbeitsschutzes“.278 In ihrer Doktorarbeit und ihren anschließenden Publikationen spitzte Gaebel die Argumentation Dyhrenfurths zu. Sie vertrat durchgängig, dass die Heimarbeit für Mütter die bessere Lösung sei, da die Fabrikarbeit und die damit verbundene Abwesenheit der Mutter den Tod von Säuglingen und Kleinkindern sowie die Verwahrlosung und Kriminalität von Kindern und Jugendlichen zur Folge habe.279
3.2.2 „Ein schlesisches Dorf und Rittergut“ (1906) Schon kurz nach der Veröffentlichung der Heimarbeiterinnenstudie begann Gertrud Dyhrenfurth mit den Recherchen zu ihrer zweiten Monographie, der Untersuchung über „Ein schlesisches Dorf und Rittergut“. Geplant war eine agrarsoziale Untersuchung über die Auswirkungen der Agrarreformen in Jakobsdorf auf Grundlage von Dokumenten über die Geschichte des Guts Jakobsdorf, die sich im Besitz ihrer Familie befanden, und die durch Befragungen der Arbeiterinnen ergänzt werden sollten. Nachdem sie bei Recherchen im Breslauer Staatsarchiv auf umfangreiches Quellenmaterial über die Geschichte Jakobsdorfs gestoßen war, entschied sich Dyhrenfurth für die Erweiterung der Arbeit um einen agrarhistorischen Teil. Mit ihrer Monographie knüpfte Dyhrenfurth an die Tradition agrarsozialer Untersuchungen an, die die Auswirkungen von Agrarreformen, Modernisierung und Industrialisierung auf die ökonomische und soziale Struktur ländlicher Regionen und der Landwirtschaft untersuchten. Als Untersuchungsgebiet wählte sie den eigenen Gutsbezirk und die Gemeinde Jakobsdorf. Ihr Ziel war es, eine 276 277 278 279
Vgl. Schneider/Salinger (1902); siehe auch Geisel (1997), S. 107–109. Gaebel (1912), S. 5. Gaebel (1913). Schöck-Quinteros (1998b), S. 193.
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repräsentative Fallstudie als Grundlage für die Umsetzung sozialpolitischer Forderungen zu schaffen. Dyhrenfurth widmete die Studie ihren „geliebten Eltern“ und dem von ihr bewunderten und „verehrten, akademischen Lehrer Max Sering“, ihrem Ansprechpartner für agrarpolitische Fragen.280 Unmittelbare Vorbilder ihrer Arbeit waren die Landarbeiter-Enqueten, die der VfS und der ESK zu Beginn der 1890er Jahre durchgeführt hatten, und mit denen eine reichsweit vergleichbare Datenbasis über die Arbeitsverhältnisse in der Landwirtschaft geschaffen werden sollte.281 Die Erhebung des VfS über „Die Verhältnisse der Landarbeiter in Deutschland“ (1892) wurde von Hugo Thiel und Max Sering initiiert, die an fast allen Untersuchungen des VfS zu diesem Themenbereich mitwirkten. Bekannt wurde die Landarbeiter-Enquete durch Max Webers Teilstudie über die „Verhältnisse der Landarbeiter im ostelbischen Deutschland“ (1891/92).282 Für Weber, damals noch Rechtshistoriker und Privatdozent an der Berliner Universität, wurden die Beteiligung an der Vereinserhebung und die akademische Anerkennung seiner Arbeit zum Sprungbrett für seine weitere wissenschaftliche Karriere und seine anschließende Berufung auf den Lehrstuhl für Nationalökonomie an der Freiburger Universität.283 Bei der methodischen Herangehensweise orientierte sich Dyhrenfurth aber mehr an der von Weber und Paul Göhre für den ESK bearbeitete Enquete über „Die deutschen Landarbeiter“ (1892), gewissermaßen eine Ergänzung zur Landarbeiter-Enquete des VfS, die sich nur auf die Befragung von Arbeitgebern stützte.284 Bei der Enquete des ESK wurden hingegen nicht die Gutsbesitzer befragt, sondern auch Landpfarrer eingesetzt, die als soziale Beobachter über die Situation der Landarbeiter berichten sollten.285 Die soziale Lage der in der Landwirtschaft arbeitenden Frauen wurde von den agrarsozialen Untersuchungen und den Landarbeiter-Enqueten jedoch nicht erforscht. Über das Leben dieser sehr heterogenen Gruppe von Arbeiterinnen war um die Jahrhundertwende kaum etwas bekannt, ihre Existenz und ihr Anteil an der landwirtschaftlichen Produktion wurde ignoriert. Dyhrenfurths Anliegen war es, diese Leerstelle zu füllen. „Als in Kanada die Bewegung zur Hebung der Bäuerinnen einsetzte“, konstatierte sie später, war „die größte Überraschung (…), als man auf der Farm außer dem Bauer, den Gebäuden und Maschinen auch die Bäuerin“ entdeckte.286 Dyhrenfurths Rittergutstudie erweiterte die Erhebungsmethoden vorangegangener agrarsozialer Untersuchungen und war gleichzeitig die erste
280 Dyhrenfurth (1906a); Gnauck-Kühne an Dyhrenfurth am 1. November 1912, in: Simon (1929), S. 228. 281 Zur den Landarbeiter-Enqueten des VfS und des ESK als Beginn einer ländlichen Sozialforschung in Deutschland siehe z. B. Vonderach (1997). 282 Weber, Max (1892a; 1984[1892). 283 Zur Bedeutung der Landarbeiter-Enquete von Max Weber vgl. Bruch (2006b). 284 Weber, Max (1984[1892]). 285 Zur Kritik an der Enquete des VfS vgl. Gorges (1986), S. 240ff. 286 Dyhrenfurth (1916b), S. 50.
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sozialwissenschaftliche Untersuchung in Deutschland, die sich mit den Auswirkungen der landwirtschaftlichen Berufsarbeit auf die Gesundheit der Frauen beschäftigte. Nachdem Dyhrenfurth mit der Studie begonnen hatte, wurden in Deutschland als Reaktion auf den befürchteten Arbeitskräftemangel von Frauen in der Landwirtschaft erste regionale amtliche Erhebungen über die weibliche Land-StadtMigration durchgeführt.287 Auch die neu gegründeten Organisationen der Landfrauen und die ländlichen Sozialreformer begannen, sich mit der Frauenfrage auf dem Land auseinanderzusetzen. Die überwiegend städtische Frauenbewegung zeigte dagegen kaum Interesse daran; zu stark wurde der Stadt-Land-Gegensatz und die Divergenz der ländlichen Interessen und Anschauungen zu den städtischen empfunden. Aus städtischer Sicht wurde eine eigenständige ländliche Frauenbewegung zwar für notwendig gehalten, ein Mobilisierungserfolg erschien aber eher unwahrscheinlich.288 Es war wohl ein Ergebnis der erstarkenden ländlichen Frauenorganisationen, dass „Die Frau als Landwirtin, Landarbeiterin und Gärtnerin“ mit einem eigenen Panel mit internationalen Referentinnen auf dem Internationalen Frauenkongress 1904 in Berlin vertreten war und dass die Landarbeiterinnenfrage auf der Generalversammlung des BDF verhandelt wurde.289 3.2.2.1 Themen und methodische Vorgehensweise Für den agrarhistorischen Teil der Arbeit wertete Gertrud Dyhrenfurth die im Familienbesitz befindlichen Dokumente über die Geschichte des Ritterguts Jakobsdorf sowie Akten des Breslauer Staatsarchivs aus. Hierzu gehörten Urkunden, Gerichtsakten und Schriftverkehr aus dem Guts- und Gemeindebezirk Jakobsdorf. Auf Basis der historischen und betriebswirtschaftlichen Quellen rekonstruierte sie die historische und wirtschaftliche Entwicklung von Jakobsdorf seit dem 13. Jahrhundert sowie die aktuelle wirtschaftliche Lage des Guts. Bei der Aufbereitung der Quellen wurde sie von dem renommierten Statistiker August Meitzen unterstützt, der als Experte in Siedlungs- und Agrarfragen galt.290 Im agrarsozialen Teil ging es um die Arbeits- und Lebensverhältnisse der Jakobsdorfer LandarbeiterInnen. Auf Basis verschiedener Quellen und Erhebungsmethoden untersuchte Dyhrenfurth folgende Punkte: Wie lange müssen die LandarbeiterInnen arbeiten? Wie gestalten sich ihre Einkommensverhältnisse, ihre
287 Die erste umfangreichere Untersuchung über die „Abwanderung der weiblichen Jugend“ wurde vom Deutschen Landwirtschaftsrat veranlasst, vgl. Bindewald (1905). Zur „Landflucht“ siehe Jones (2004), S. 355. 288 Siehe z. B. Salomon (1906), S. 578. 289 Siehe Stritt (1905), S. 159–165. Der Vortrag von Marie Wegner (1859–1920) über „Die Lage der Landarbeiterinnen“ (1905) ist eine der am häufigsten zitierten Quellen zum Thema Landarbeiterinnen im Kaiserreich. 290 Dyhrenfurth (1906a), S. 3.
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Haushaltsbudgets und ihre Wohnverhältnisse? Wie ist es um ihre gesundheitliche Versorgung, ihre Bildung und ihre „Sittlichkeit“ bestellt? Wie hat sich ihre soziale Lage in den vergangenen fünfzig Jahren verändert? Dyhrenfurth führte zum einen Einzelbefragungen von Guts- und DorfbewohnerInnen durch. Wie schon bei der Heimarbeiterinnenstudie begründet sie auch bei der Rittergutstudie ihre methodische Herangehensweise. Dabei reflektierte sie erneut sehr differenziert ihren Standpunkt sowie ihre Kompetenz als Forscherin im Forschungsprozess. Ausführlich erklärte sie, weshalb die Datenerhebung auf dem Land diffizil war: In ländlichen Regionen sei es sehr viel schwieriger, „geeignete“ Mitarbeiter für soziale Erhebungen zu finden.291 Anders als in der Stadt gebe es auf dem Land keine sozial interessierte bürgerliche Mittelschicht, deren Mitglieder als unabhängige InterviewerInnen eingesetzt werden könnten. Pfarrer und Lehrer als Angehörige der ländlichen Mittelschicht waren nicht unabhängig, sondern von ihren Arbeitgebern, den Grundbesitzenden, abhängig. Kritische Beobachtungen und kritische Äußerungen seien von ihnen deshalb kaum zu erwarten. Die Guts- und Landbesitzer waren als Arbeitgeber parteiisch; sie kamen als Interviewer daher nur bedingt in Frage. Die Landarbeiter wiederum waren, so die damalige Meinung, als Teil der „große[n] Masse der besitzlosen Armut“ noch stumm auf das zum Überleben Notwendige beschränkt und unfähig, „sich selbständig zu äußern“.292 Die eigene Qualifikation als Sozialforscherin beruhte für Dyhrenfurth darauf, dass sie sowohl über die notwendige Distanz und den objektiven Blick von außen verfügte als auch über die Kompetenz, das Gesehene richtig zu bewerten. Da sie auf dem Land aufgewachsen war, seien ihr die spezifischen ländlichen Gegebenheiten bekannt. Durch das Studium wiederum habe sie das bürgerlich-städtische Leben kennengelernt und durch ihre Heimarbeiterinnenstudie einen Einblick in das städtische Proletariat gewonnen. Diese Erfahrungen würden es ihr ermöglichen, die ländlichen Verhältnisse „im Lichte dieser neuen Erfahrungen“ zu betrachten und würden ihr eine „innere Unabhängigkeit“ gegenüber ihrer früheren Umgebung und deren Denkgewohnheiten garantieren.293 An der sozioökonomischen Situation der ArbeiterInnen interessierte Gertrud Dyhrenfurth: Wie hoch ist deren Realeinkommen? Reicht es für die Befriedigung ihrer Grundbedürfnisse aus? Wie verhalten sich Männer- und Frauenlöhne zueinander? Wie gestalten sich die Einkommensverhältnisse der Arbeiterwitwen? Wie hat sich das Einkommen und der Anteil der Naturalbezüge daran verändert? Wirkt sich der Rückgang der Naturalbezüge positiv oder negativ auf die sozioökonomische Lage der ArbeiterInnen aus? Wie hoch wären die Jakobsdorfer Einkommen und Budgets, wenn sie auf Berliner Verhältnisse übertragen würden? Zu den Naturalbezügen zählte Dyhrenfurth neben der Bezahlung durch Lebensmittel auch die Bereitstellung kostenloser Unterkünfte oder kostenloser Mahlzeiten.294 Die 291 292 293 294
Vgl. Velsen (1914a), S. 337. Dyhrenfurth (1906a), S. 2; Winter (1897); Weber, Max (1894), S. 63. Dyhrenfurth (1906a), S. 2. Vgl. Dyhrenfurth (1916a), S. 15; (1916b), S. 42f.
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nach der Bauernbefreiung erfolgte sukzessive Ablösung des Natural- durch den Geldlohn galt als Index für den Umbruch von der feudalen zur kapitalistischen Organisation auf dem Land. Für die ökonomische Situation der ArbeiterInnen wertete Dyhrenfurth das Einkommen der auf dem Gut Beschäftigten aus den Jahren 1855/56 und 1902 aus. Die Einkommensverhältnisse rekonstruierte sie u. a. anhand der Geldjournale (seit 1852) und Wirtschaftsbücher (seit 1856) des Dominiums295 und erstellte Haushaltsbudgetrechnungen für die einzelnen Kategorien der Landarbeiter und Landarbeiterinnen. Schon 1895, vermutlich parallel zu ihrer Heimarbeiterinnenstudie, hatte Dyhrenfurth außerdem eine Knechts- und eine Gärtnerfamilie veranlasst, ein Jahr lang über ihre Einnahmen und Ausgaben Buch zu führen, um ein Bild vom jährlichen Verbrauch eines Jakobsdorfer Arbeiterhaushalts zu gewinnen. Sie bezog die Ergebnisse der agrarsozialen Klassiker als Vergleichswerte zu ihrer eigenen Erhebung und als Anhaltspunkte für die Entwicklung der sozialen Lage der Landarbeiter in den vergangenen Jahrzehnten mit ein: Alexander von Lengerkes (1802–1853) Enquete über „Die ländliche Arbeiterfrage“ (1849), Theodor von der Goltz’ Untersuchung über „Die Lage der ländlichen Arbeiter im Deutschen Reich“ (1873), Georg Friedrich Knapps „Bauernbefreiung und den Ursprung der Landarbeiter“ (1887) sowie Alfred Klees Teilstudie der Landarbeiter-Enquete des ESK über die Arbeiter Nieder- und Mittelschlesiens.296 Gertrud Dyhrenfurth untersuchte die Wohnverhältnisse und berechnete die Wohnkosten der GutsarbeiterInnen, die im Gesindehaus, im alten und neuen Lohngärtnerhaus, im Brennereigebäude, in Wohnungen über dem Kuhstall und in der früheren „Schweizer-Wohnung“ lebten.297 Für die Datenerhebung verwendete sie den von der Arbeiterwohlfahrt entwickelten Fragebogen „Die ländlichen Arbeiterwohnungen in Preußen“. Mit diesem erfasste sie die Anzahl der Bewohner, die Anzahl, Größe und Beschaffenheit der Räume, die sanitären Verhältnisse sowie den Eindruck, den die Wohnungen auf sie als Befragende machten.298 Mit Fotos dokumentierte sie die Wohngebäude, die ihr Vater nach dem Kauf von Jakobsdorf für die ArbeiterInnen gebaut hatte: das Gesindehaus und das das alte und neue Lohngärtnerhaus.299
295 Dyhrenfurth (1906a), S. 66. 296 Dyhrenfurth (1906a), S. 65 und S. 93. Zu den agrarsozialen Klassikern siehe Oberschall (1997), S. 26. 297 Als „Schweizer“ wurden (Stall-)Knechte und Mägde in der Milch- und Viehwirtschaft bezeichnet. 298 Vgl. Dyhrenfurth (1906a), S. 120–132. 299 Siehe die Abbildungen 13 und 14 im Bildanhang sowie Dyhrenfurth (1906a), S. 122ff. Zum Zeitpunkt der Studie wohnten im Gesindehaus 60–70 Personen (zehn Knechte mit ihren Familien, zwei Mägde, eine Witwe mit Kind und zwei Witwen ohne Kinder sowie im Sommer ErntehelferInnen aus Polen), im alten Lohngärtnerhaus wohnten 16 Personen (vier Lohngärtner mit ihren Familien) und , im neuen Lohngärtnerhaus 28 Personen (weitere vier Lohngärtner mit Familien). Die Familien im Gesindehaus und im alten Lohngärtnerhaus bewohnten
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Bei den Arbeitsbedingungen interessierten Dyhrenfurth vor allem die Auswirkungen der landwirtschaftlichen Arbeit auf die Gesundheit der Frauen. Richtungsweisend war der 18 Punkte umfassende Gesundheitsfragebogen, den sie mit der Unterstützung von zwei Ärzten für die Studie konzipierte. Elf Fragen standen in direktem Zusammenhang mit Schwangerschaft und Geburt. Gefragt wurde außerdem nach den Auswirkungen der Menstruation auf die Arbeitsfähigkeit und nach Krampfadern, Unterschenkelgeschwüren und Unterleibserkrankungen. Mit zwei Fragen wurde die subjektive Einschätzung der Arbeiterinnen erfasst. Sie wurden nach ihrem allgemeinen Gesundheitszustand gefragt und danach, welche Arbeit ihnen am schwersten und gesundheitsschädlichsten erschien.300 Dyhrenfurth konnte den Fragebogen zwar nur bei den 31 Arbeiterinnen ihres Samples (im Alter zwischen 23 und 86 Jahren) einsetzen, die Ergebnisse waren aber dennoch bedeutend, da ihre Befragung die erste zusammenhängende Untersuchung zum Thema Frauengesundheit in der Landwirtschaft war. Denn auf dem Land fehlten Instanzen wie die Gewerbeaufsicht und die Krankenkassen, die sonst Statistiken über hygienische und gesundheitliche Verhältnisse der Arbeiterinnen erstellten. Dyhrenfurths Fragebogen wurde mehrfach von nachfolgenden Untersuchungen verwendet.301 3.2.2.2 Ergebnisse Mit ihrer Mikrostudie zu Jakobsdorf zeichnete Gertrud Dyhrenfurth ein detailreiches Bild der miserablen sozialen Lage der Landarbeiterschaft Schlesiens, das sie mit vielen historischen Quellen und Dokumenten sowie mit empirischen Beispielen aus ihrer Befragung illustrierte. Durch die um eine agrargeschichtliche Betrachtung erweiterte wirtschaftliche Branchenanalyse stellte sie die Ergebnisse zu den sozialen Verhältnissen in einen größeren Zusammenhang. Das interessanteste Ergebnis ihrer agrargeschichtlichen Analyse war der durch ihre Quellen belegte häufige Besitzerwechsel des Guts, schon lange vor den Stein-Hardenberg’schen Reformen. Zwischen 1461 und 1468 wurde Jakobsdorf viermal verkauft, in den Jahren von 1730 bis 1852 wechselte es insgesamt fünfzehnmal den Besitzer, d. h. ca. alle fünf Jahre.302 Ein weiterer interessanter Aspekt war, dass das Rittergut schon seit Anfang des 15. Jahrhunderts bürgerliche Besitzer hatte. Diese Erkennt-
jeweils einen Raum (ca. 15–20 qm), die Familien im neuen Lohngärtnerhaus jeweils zwei Räume (zusammen ca. 20 qm). 300 Zu den Ergebnissen siehe Dyhrenfurth (1906a), S. 104–113. 301 Dyhrenfurth (1906a), S. 103. Zur Bedeutung sozialmedizinischer Untersuchungen bei der Entwicklung der empirischen Sozialforschung siehe Oberschall (1997), S. 72ff.; Maus (1973), S. 27f. 302 Dyhrenfurth (1906a), S. 27, S. 31, S. 39f.; vgl. Below (1907), S. 838.
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nis stellte das Selbstbild des ostelbischen Adels, die Überzeugung „von seiner AltAnsässigkeit“303 in Frage. Wie hatten sich die Agrarreformen auf die verschiedenen Gruppen der LandarbeiterInnen und auf deren sozialen Status ausgewirkt? Die von Dyhrenfurth erstellten und mit Fallbeispielen veranschaulichten Haushaltsbudgets vermitteln ein eindrückliches Bild des sozialen und ökonomischen Elends der Gärtner-, Knechtsund Häuslerfamilien sowie der Rentnerinnen in Schlesien. Ihre Ergebnisse zeigen, dass sich die soziale Lage der landwirtschaftlichen Arbeiter seit der Bauernbefreiung kaum verbessert, sondern durch den Verlust der Naturalbezüge als Bestandteil des Lohns teilweise sogar verschlechtert hatte. Trotz gestiegener Löhne war der niederschlesische Landarbeiter um 1900 wirtschaftlich schlechter gestellt als der fronende Dreschgärtner der Feudalzeit; sein Einkommen erreichte selten das Existenzminimum. Das Haushaltsbudget der Jakobsdorfer Familien lag im Jahr 1902 immer noch unter dem Budget, das Theodor von der Goltz bereits 1875 für Familien im Regierungsbezirk Königsberg ausgerechnet hatte.304 Ohne sich direkt auf die von Max Weber eingeführten Begriffe und dessen Unterscheidung zwischen einer „patriarchalen“ und einer „kapitalistisch desorganisierten“ Arbeitsverfassung in den Gutsbetrieben zu beziehen, spielt diese Unterscheidung bei Dyhrenfurths Ausführungen dennoch eine Rolle. Sie beschreibt, wie der Naturallohn zunehmend durch den Geldlohn ersetzt wurde, ohne seine Bedeutung jedoch völlig zu verlieren. Diese Entwicklung wurde begleitet von einer sukzessiven Lösung der personalen Bindungen zwischen Arbeitgebern und Arbeitnehmern bei gleichzeitigem Fortbestand alter feudaler Strukturen und Relikte.305 Dyhrenfurths Auswertung zeigte, dass sich die seit der Agrarreform veränderte Zusammensetzung der Einkommen auf die verschiedenen Gruppen der Landarbeiter unterschiedlich ausgewirkt und sich dadurch das soziale Gefüge verändert hatte. Während das Einkommen der Knechtsfamilien verglichen mit 1848 gestiegen war, hatte sich das Einkommen der früher bessergestellten Gärtnerfamilien in derselben Zeit verschlechtert; der Gärtner war dadurch auf die soziale Stufe des Knechts gesunken.306 Auch wenn durch die Versachlichung der ländlichen Arbeitsverhältnisse seit der Bauernbefreiung die feudale Verantwortung und Versorgungspflicht der Gutsherrschaft gegenüber den Bauern und Landarbeitern beendet worden war, bestand für Dyhrenfurth dennoch weiterhin eine soziale und moralische Verpflichtung der ländlichen Arbeitgeber gegenüber der ländlichen Arbeiterschaft. Ein Schwerpunkt von Dyhrenfurths Darstellung lag auf der Situation der Mütter, der älteren, alleinstehenden Frauen und der Witwen. Diesen Gruppen galt ihr sozialpolitisches Interesse. Die von ihr erstellten Haushaltsbudgets einer unverheirateten alten, nicht mehr erwerbstätigen Magd und einer Häusler- und Lohngärt303 304 305 306
Skalweit (1907), S. 404. Dyhrenfurth (1906a), S. 93. Weber, Max (1984[1892]), S. 735 und S. 738ff. Dyhrenfurth (1906a), S. 67.
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nerwitwe sind bedrückende Beispiele für die bittere Armut dieser Frauen. Sie zeigen die bis heute bestehenden strukturellen Defizite und Benachteiligungen von Frauen in der Altersabsicherung. Dyhrenfurths Auswertung zeigte: „Altersarmut ist weiblich“.307 Sie forderte deshalb die Einführung entsprechender Sozialversicherungen für Frauen. Einen weiteren Schwerpunkt bildete die Frauenerwerbsarbeit und deren Auswirkung auf Reproduktionsfähigkeit und Gesundheit. Dyhrenfurths Erhebung in Jakobsdorf bestätigte die Zunahme der Erwerbstätigkeit verheirateter Frauen (auch) in der Landwirtschaft. Das war eine Folge der Intensivierung der Landwirtschaft und der Land-Stadt-Migration der jüngeren Generation. Dyhrenfurths Haushaltbudgetrechnungen zeigten jedoch auch, dass diese Erwerbstätigkeit ökonomisch notwendig war, denn das Einkommen der Männer reichte für den Lebensunterhalt der Familie nicht aus. Zwar lehnte Dyhrenfurth die Erwerbsarbeit verheirateter Frauen und Mütter wegen der Doppelbelastung durch Erwerbs- und Hausarbeit ab, wenn sie aber ökonomisch notwendig war, so war nach ihrem Ermessen die landwirtschaftliche Erwerbsarbeit der Fabrikarbeit vorzuziehen. Denn die landwirtschaftliche Erwerbsarbeit fand in unmittelbarer Nähe der Wohnung statt und war der Hausarbeit ähnlich.308 Die Ergebnisse des Gesundheitsfragebogens verglich Dyhrenfurth mit den Ergebnissen ihrer Heimarbeiterinnenstudie. Trotz der schweren körperlichen Arbeit schien der allgemeine Gesundheitszustand der Landarbeiterinnen verglichen mit den Heimarbeiterinnen besser zu sein. Während die Hälfte der Heimarbeiterinnen an Blutarmut, Nervenschwäche, Rückenschmerzen, Ischias und viele der Näherinnen außerdem an Erkrankungen der Atemwege litten, fühlten sich die meisten der in Jakobsdorf arbeitenden Frauen, abgesehen von „Frauenleiden“, gesund und „rüstig“.309 Die Befragung in Jakobsdorf erbrachte, dass es auf dem Land zwar eine hohe Geburtenrate, aber auch eine überraschend hohe Säuglings- und Kindersterblichkeit gab. Von den 31 Befragten Frauen hatten zehn Frauen mindestens zehn Kinder geboren; zum Zeitpunkt der Erhebung waren von den 162 geborenen Kindern aber nur noch 85 am Leben.310 Dyhrenfurth führte die hohe Sterblichkeit auf die schlechte Versorgung der Säuglinge zurück, eine Folge von ökonomischer Not, Unwissen und Leichtsinn der Mütter. Ein Hauptgrund war für Dyhrenfurth jedoch der fehlende Mutterschutz311; sie forderte deshalb die Ausdehnung des für die Industriearbeiterinnen bestehenden Wöchnerinnenschutzes auf die Frauen in der Landwirtschaft sowie die Ein-
307 308 309 310
Dyhrenfurth (1906a), S. 92. Dyhrenfurth (1906a), S. 100. Dyhrenfurth (1906a), S. 115. Im europäischen Vergleich hatte Deutschland eine sehr hohe Säuglingssterblichkeit. Die Milchküchen, Beratungsstellen und Wöchnerinnenheime der VFV galten während des Kaiserreichs als wichtige Mutterschutzmaßnahmen, siehe Dietrich (1910), S. 447ff. 311 Skalweit (1907), S. 405.
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führung einer Gewerbeaufsicht, von Krankenkassen und einer Wohnungsinspektion.312 Vor allem im Schlusskapitel reflektierte Dyhrenfurth ihre Arbeit als Sozialreformerin in Jakobsdorf vor dem Hintergrund der Entstehung und Entwicklung sozialer Einrichtungen auf dem Land sowie vor dem Hintergrund der Erfolge der ländlichen Sozialreform- und Frauenbewegung. Mit der Studie dokumentierte sie die von ihr und ihrer Familie in Jakobsdorf geschaffenen sozialen Einrichtungen; sie skizzierte ein Programm für die Durchsetzung und Weiterentwicklung ländlicher Sozialreform und überlegte, wie eine ländliche Frauenbewegung zu organisieren sei und wie sich Frauen zur Mitarbeit mobilisieren ließen. Ihre Forderung, eine eigenständige Presse zur Mobilisierung der Frauen auf dem Land zu schaffen, setzte sie durch ihre Beteiligung an der Gründung der Zeitschrift „Die Gutsfrau“ mit um. 3.2.2.3 Rezension und Rezeption Die Rittergutstudie wurde in allen wichtigen sozialwissenschaftlichen Fachzeitschriften sowie in der Frauenbewegungspresse besprochen. Ihre Arbeit wurde als „wichtiger Beitrag zur Agrargeschichte“ gewertet.313 Die durchgängig positive Bewertung ist bemerkenswert, denn Dyhrenfurth hatte sich auf ein Forschungsfeld begeben, das Frauen bis dahin verschlossen gewesen war und das durch eine hohe Resistenz gegenüber dem Frauenstudium gekennzeichnet war. Zu den Rezensenten gehörten zwei agrargeschichtliche Experten: Georg Heinrich Kaufmann (1842–1929), ein Experte für die schlesische Agrargeschichte, und der renommierte Historiker Georg von Below (1858–1927), der eine der grundlegenden Studien über die unterschiedlichen territorialen Entstehungsbedingungen der Gutsherrschaft in Deutschland verfasst und daraus eine allgemeine Theorie der Gutsherrschaft entwickelt hatte. Below kam zu dem Ergebnis, dass Dyhrenfurths Studie ihren Platz in den Arbeiten zur schlesischen Agrargeschichte behaupten könne. Er begrüßte auch Dyhrenfurths methodische Vorgehensweise, die Entwicklung der Guts- und Grundherrschaft und des landwirtschaftlichen Betriebs anhand der Geschichte einer einzelnen Institution zu untersuchen.314 Belows positive Reaktion erscheint schon wegen seiner konservativen Haltung bemerkenswert. In den 1920er Jahren lehnte er die Einrichtung von Lehrstühlen für Soziologie an deutschen Hochschulen ab, weil diese seines Erachtens sozialdemokratische und sozialistische Tendenzen verstärkten.315 Der Agrarpolitiker August Skalweit (1879–1960) fand vor allem Dyhrenfurths Ergebnisse über die Veränderungen der sozialen Verfassung seit den Agrar312 313 314 315
Dyhrenfurth (1906a), S. 116f. und S. 135. K. (1907), S. 466. Below (1907), S. 838.; vgl. Kaufmann, Georg (1907); B. (1906). Vgl. Käsler (1984), S. 255.
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reformen, ihre Schilderung der sozialen Zustände sowie ihre Darstellung des schlesischen Landarbeiters bedeutsam.316 In den Besprechungen wurde ausdrücklich auf Dyhrenfurths Beobachtungsgabe, ihr „durch langjährige Beobachtung geschulte[s] Auge“, hingewiesen und ihr „feines Verständnis“ für das Leben des niederschlesischen Landarbeiters und „sein primitives Fühlen und Denken“ gewürdigt.317 Für Alice Salomon zeigte sich Dyhrenfurth mit dieser Studie als „vorurteilslose, objektive, uneigennützige“ Beobachterin und Kritikerin, der es um das Wohl des ganzen Volkes und nicht um den eigenen Vorteil ging. Dyhrenfurths Schilderungen vermittelten, so Salomon, „einen tieferen Einblick in die Not und in die Bedürfnisse der Landarbeiterinnen als (…) alles, was bisher darüber geschrieben worden ist“. Anders als die männlichen Rezensenten interessierten sich die Frauen in ihren Besprechungen überwiegend für Dyhrenfurths Darstellung der Frauenfrage auf dem Land. Dyhrenfurths Studie wurde dabei als wichtiger Schritt zur Mobilsierung einer Frauenbewegung auf dem Land gewertet.318
3.2.3 Die Enquete „Die Frauen in der Landwirtschaft“ Gertrud Dyhrenfurth gilt als geistige Urheberin und treibende Kraft der Enquete über „Frauen in der Landwirtschaft“.319 Sie war die erste empirische Bestandsaufnahme des damals noch größten weiblichen Beschäftigungssektors. Anlass für die Enquete war neben den miserablen Arbeitsbedingungen in der Landwirtschaft vor allem die Berufsstatistik von 1907. Denn deren Ergebnisse, oder wie es Dyhrenfurth formulierte, deren „höchst überraschendes Zahlenbild“, hatte den „Umfang der Frauenarbeit auf dem Lande (…) mit voller Deutlichkeit zum Bewusstsein“ gebracht.320 Anders als bei früheren Berufszählungen waren erstmals auch die Bäuerinnen und die mithelfenden weiblichen Familienangehörigen in der Landwirtschaft erfasst worden.321 Dadurch war sichtbar geworden, dass in der Landwirtschaft immer noch mehr Frauen arbeiteten als in den „häuslichen Diensten“ und mehr als doppelt so viele wie in der Industrie. 1914 betrug das Verhältnis der weiblichen Arbeitskräfte in der Landwirtschaft und zu denen in der Industrie 4,6 zu 2,1 Millionen.322 Ein weiterer Anlass für die Enquete war, dass durch die Abwanderung von Frauen aus den ländlichen Regionen ein weiblicher Arbeitskräf316 317 318 319 320
Skalweit (1907). Skalweit (1907), S. 405. Salomon (1906), S. 588; Heller (1907). Siehe z. B. Gnauck-Kühne an Dyhrenfurth am 25. Dezember 1913, in: Simon (1929), S. 231. Dyhrenfurth (1916a), S. 9. Diese Formulierung Dyhrenfurths wird sehr häufig zitiert, siehe z. B. Köhle-Hezinger (1993), S. 280; Inhetveen/Blasche (1983), S. 60. 321 Die unzureichende Erfassung landwirtschaftlicher Frauenarbeit ist bis heute ein Thema. Immer noch wird eine Erweiterung der Berufsstatistik gefordert, durch die die Arbeit der Bäuerin als eigenständige Kategorie, als Berufsbild, erfasst werden soll und nicht nur unter dem Begriff der mithelfenden Familienangehörigen, siehe z. B. Schimpf (1997) S. 17 und S. 61–63. 322 Velsen (1914a), S. 337; vgl. Stieger (1922), S. 233–236.
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temangel befürchtet wurde und die „Landarbeiterfrage“ deshalb zunehmend auch als „Frauenfrage“ problematisiert wurde.323 Wie bei den Landarbeiter-Enqueten des VfS und des ESK plante Dyhrenfurth eine vergleichende reichsweite Erhebung. Ihr Ziel war, „eine möglichst vollständige und objektive Darstellung des Lebens und der Erwerbsverhältnisse der Frau auf dem Lande“ zu erhalten, „aus der sich klare Richtlinien für die allgemeine Sozialpolitik und für die ländliche Wohlfahrtsarbeit ziehen ließen“.324 Dabei sollten nicht nur Daten über die ökonomische Situation, sondern auch über „das Dasein der arbeitenden Frauen (…), in all’ seinen Beziehungen“ erhoben werden.325 Aus den heterogenen, regional sehr unterschiedlichen und kaum vergleichbaren Agrarverhältnissen in Deutschland sollten die Gemeinsamkeiten des ländlichen Frauenlebens herausgearbeitet werden, um die „wahren“ Ursachen der „Landflucht“ von Frauen zu ergründen.326 Eine reichsweite Studie über landwirtschaftliche Frauenarbeit war ein sehr ehrgeiziges Projekt; es galt damals als nahezu unrealisierbar. Denn in keinem anderen Berufsfeld waren die Arbeitsbedingungen, die Art der Beschäftigung und die Art der Entlohnung sowie die persönlichen Erfahrungen derart verschieden, so dass sich allgemeine Aussagen – wenn überhaupt – nur über einzelne Landesteile in verschiedenen Provinzen treffen ließen. Die Verhältnisse in der kleinbäuerlich strukturierten Landwirtschaft Bayerns waren kaum mit den landwirtschaftlichen Großbetrieben Ostpreußens vergleichbar. Und es existierten weder amtliche Statistiken noch aktuelle Forschungsliteratur, die verwendet werden konnte.327 Den organisatorischen Rahmen der Enquete bildete der Ständige Ausschuss zur Förderung der Arbeiterinnen-Interessen, der sich während den Arbeiten zur Ausstellung „Die Frau in Haus und Beruf“ im Herbst 1910 für die Durchführung der Enquete entschieden hatte. Beauftragt wurde ein aus 30 Personen bestehendes Gremium, die Kommission Frauenarbeit auf dem Lande, die sich aus Vertreterinnen des Ständigen Ausschusses, der konfessionellen Frauenbewegungen, der Landfrauenorganisationen und aus Vertretern des ESK und des VfS zusammensetzte. Max Sering, Heinrich Sohnrey und Hugo Thiel unterstützten die Kommission als beratende Ehrenmitglieder.328 Die wissenschaftliche Leitung übernahmen Gertrud Dyhrenfurth und Otto Auhagen (1869–1945), die Koordination der organisatorischen Arbeiten übernahm Margarete Friedenthal. Thiel, Sering und Auhagen hatten bereits bei der Landarbeiter-Enquete des VfS mitgearbeitet und galten als erfahrene Experten in der Landarbeiterfrage. Thiel hatte die Fragebogen
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Stieger (1903), S. 362; vgl. Berge (1919), S. 57. Dyhrenfurth (1916a), S. 10. Dyhrenfurth (1916a), S. 11. Dyhrenfurth (1916a), S. 10. Müller, Karl (1913), S. 7. Der Deutsche Verein für ländliche Wohlfahrts- und Heimatpflege beteiligte sich als Organisation nicht an der Enquete, das Engagement seiner Vorsitzenden Sohnrey und Thiel wurde auf Vereinstagungen mehrfach kritisiert, siehe z. B. Sohnrey (1912), S. 233.
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für die Enquete des VfS entworfen und war für deren technische Durchführung verantwortlich gewesen. Auhagen hatte wie Max Weber eine der regionalen Teilstudie bearbeitet. Die organisatorische Kärrnerarbeit der Erhebung des Ständigen Ausschusses übernahm Dorothee von Velsen. Sie nahm an allen Sitzungen der Kommission teil und war für den Versand der Fragebogen sowie für Zusammenstellung der Ergebnisse der beantworteten Fragebogen verantwortlich.329 Viele der an der Enquete beteiligten Frauen und Männer hatten an der Hauptversammlung des Deutschen Vereins für ländliche Wohlfahrts- und Heimatpflege Ende Februar 1910 in Berlin teilgenommen, auf der Sohnrey über den „Zug der Landmädchen nach der Großstadt“ und deren „sittliche Gefährdung“ in der Stadt sehr dramatisch berichtet hatte und damit die Notwendigkeit der geplanten Untersuchung indirekt bestätigte.330 Der Ständige Ausschuss zur Förderung der Arbeiterinnen-Interessen führte im Frühjahr 1911 zunächst eine Probeerhebung durch. Diese sollte überprüfen, ob die entwickelten Fragebogen die regional unterschiedlich verbreiteten landwirtschaftlichen Beschäftigungsverhältnisse ausreichend erfassten.331 Die eigentliche Erhebung begann im Februar 1912. Vor allem Gertrud Dyhrenfurth warb auf Kongressen und in Zeitschriften für die Mitarbeit an der Enquete.332 Konzeption und Ziele wurden auf der Hauptversammlung des Deutschen Vereins für ländliche Wohlfahrts- und Heimatpflege, beim ESK und auf dem Deutschen Frauenkongress 1912 in Berlin vorgestellt. Mit der Werbekampagne wurde versucht, die Widerstände gegen die Erhebung von Seiten der Agrarier zu überwinden; diese hatten schon die Enquete des ESK als „Verrat an der Landwirtschaft“ abgelehnt. Auch die Frauenenquete blieb trotz aller Versuche, deren Vorurteile zu entkräften, für die Agrarier ein „verhülltes Attentat auf die Interessen der ländlichen Arbeitgeber“ und ein Versuch, „die Arbeiterinnen gegen ihre Brotherren aufzuhetzen“.333 Während der Erhebung wurde die Landarbeiterinnen-Enquete auf Anraten Serings in „Frauenarbeit auf dem Lande“ umbenannt334, da es im Gegensatz zu den Landarbeiter-Enqueten nicht nur um die „im Lohnverhältnis“ stehenden Frauen, sondern auch um die Frauen und Töchter selbstständiger Kleinbauern – sofern diese körperliche Arbeit auf dem Bauernhof leisteten – ging. Das war ein Novum, denn sonst wurde in der Regel entweder die Lage der ArbeiternehmerInnen oder
329 330 331 332 333
Velsen (1956), S. 114 und S. 124. Sohnrey (1910), S. 302. Dyhrenfurth (1912b), S. 206. Vgl. Dyhrenfurth (1916a), S. 13; Dyhrenfurth (1912b; 1912c). Auhagen (1912); Sohnrey (1911), S. 239f. Zu den Reaktionen der Agrarier auf Max Webers und Paul Göhres Präsentation auf der Tagung des ESK in Frankfurt 1894 siehe z. B. Wenck (1905), S. 20. 334 Protokoll der Sitzung des außerordentlichen Komitees für die Landarbeiterinnen-Enquete am 3. Dezember 1912, in: BArchK, Nachlass Sering, N 1210, Nr. 42/1.
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die der Arbeitgeber untersucht.335 Die Herangehensweise, nach strukturellen Besonderheiten landwirtschaftlicher Frauenarbeit zu fragen, war innovativ. Auf diesem Wege konnte die komplexe soziale Schichtung der Arbeiterinnenschaft auf dem Land erfasst und gezeigt werden, wie diese durch soziale und Agrargesetzgebung beeinflusst wurde.336 Gleichzeitig vermittelte die Enquete den Eindruck einer klassenübergreifende Gemeinschaft von „Frauen in der Landwirtschaft“. Das Erkenntnisinteresse der Enquete richtete sich weniger auf die Situation der besitzlosen, vor allem auf den großen Gütern Ostpreußens beschäftigten Landarbeiterinnen, sondern vor allem auf eine neu entstehende bzw. zu schaffende ländliche Mittelschicht in Form landbesitzender Kleinbauern und Landarbeiterinnen. 3.2.3.1 Methodische Vorgehensweise Die Untersuchung „Frauen in der Landwirtschaft“ orientierte sich an der seit Mitte des 19. Jahrhunderts gängigen methodischen Vorgehensweise der Preußischen Landarbeiter-Enqueten, erweiterte diese aber um einige wesentliche Aspekte.337 Wie die Preußischen Landarbeiter-Enqueten war die Untersuchung eine regional vergleichende empirische Studie. Durch repräsentative Stichproben aus den verschiedenen Regionen sollte aussagekräftiges Datenmaterial über die unterschiedliche regionale Verbreitung der verschiedenen landwirtschaftlichen Arbeitstypen gewonnen werden. Anders als bei den Landarbeiter-Enqueten wollte Dyhrenfurths Enquete außerdem ergründen, wie sich die Arbeitsbelastung der Frauen in den verschiedenen Arbeitstypen und in den verschiedenen regionalen Gebieten unterschied. Die Datenerhebung in den einzelnen Provinzen wurde ExpertInnen übertragen, sogenannten Generalberichterstattern, die mit den regionalen Bedingungen vertraut waren. Diese wählten die InterviewerInnen aus und schulten sie, verteilten die Fragebogen an die InterviewerInnen, sammelten sie wieder ein und kontrollierten die Durchführung der Datenerhebung. Die ExpertInnen sollten außerdem einen allgemeinen Bericht über ihre Bezirke verfassen, der sich an einem fünfzig Fragen umfassenden Leitfaden orientierte. Beschrieben werden sollte die strukturelle Beschaffenheit des Untersuchungsgebiets: dessen Größe, ob Viehoder Weidewirtschaft betrieben wurde, welche Typen von Arbeiterinnen beschäftigt wurden, ob und aus welchen Gründen die Frauenarbeit zugenommen hatte, ob Veränderungen in der ökonomischen Situation der Arbeiterinnen zu verzeichnen sind (Lohn und Lebenshaltungskosten). Welche Unterschiede gab es zwischen Arbeiterinnen und Kleinbäuerinnen? Wie wirkte sich die Lohnarbeit der Frauen auf das Familienleben aus? Gab es noch patriarchalische Beziehungen? Wie war 335 Sohnrey (1913), S. 190. 336 Zum Vorgehen der Landarbeiter-Enqueten im 19. Jahrhundert siehe Schildt (1996), S. 2f. 337 Dyhrenfurth (1916g); siehe auch Velsen (1914a), S. 336. Zur Untersuchung des VfS siehe Gorges (1986), S 226 und S. 240–243; Oberschall (1997), S. 26ff.
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das Verhältnis zwischen Arbeiterinnen und Aufsichtspersonal? Welche sozialen und kulturellen Einrichtungen gab es? Wie sah die Versorgung der Witwen und Waisen aus? Gab es Hausindustrie und Hauswerk? Wurden Wanderarbeiterinnen beschäftigt? Gab es eine Abwanderung der Arbeiterinnen in die Städte? Welche Maßnahmen gegen die „Landflucht“ schlugen die BerichterstatterInnen vor? Das Fragebogenpaket, das die Generalberichterstatter an die InterviewerInnen verteilen sollten, war sehr umfangreich, weil es sämtliche auf die verschiedenen Berufsgruppen zugeschnittenen Fragebogen enthielt. Entsprechend der in der Berufsstatistik vorgenommenen Unterteilung wurden fünf Haupttypen von landwirtschaftlichen Arbeiterinnen unterschieden: die kontraktlich gebundene Arbeiterin; die einheimische, freie Tagelöhnerin; die Magd, ledige Hofgängerin oder Scharwerkerin; die Wanderarbeiterin; die Frau oder Tochter selbstständiger Kleinbauern.338 Wie bei den Landarbeiter-Enqueten wurden für die verschiedenen Statusgruppen die Beschäftigungs-, Einkommens-, Besitz-, Wohn- und Familienverhältnisse getrennt erfasst und nach Bildungs-, Konsum-, Spar- und Freizeitangeboten gefragt. Da die Verbreitung der Arbeitstypen regional unterschiedlich war, sollten die Berichterstatter die für ihre Region relevanten Fragebogen und für die jeweiligen Gruppen typische Arbeiterinnen als Interviewpartnerinnen auswählen. Anders als bei den gängigen Erhebungen sollten bei der Befragung vor allem Frauen als InterviewerInnen eingesetzt werden. Denn ohne „deren verständnisvolle Mitwirkung“ könne „das Frauenleben (…) nicht voll erfasst werden.“339 Die Anweisungen für die Durchführung der Interviews waren sehr genau340: Befragungen sollten nicht systematisch entlang der Fragebogen erfolgen, sondern im „vertraulichen Zwiegespräch“ bei einem persönlichen Besuch im Haus oder in der Wohnung der zu befragenden Frauen. Die Befragung sei „in vielen Fällen nur mit großer Vorsicht“ und „vielleicht nur in der Form einer gelegentlichen, unauffälligen Unterhaltung“ durchführbar.341 Dem Vorgehen nach handelte es sich also um ein problemzentriertes leitfadengestütztes Interview. Während des Besuchs sollten nur wenige schriftliche Aufzeichnungen gemach und die Fragebogen am besten erst nachträglich ausgefüllt werden. Wie bei der Erhebung des ESK und bei Dyhrenfurths vorangegangenen Untersuchungen sollten die InterviewerInnen anhand von Beobachtungs- und Frageleitfäden die Situation einschätzen und darüber Berichte verfassen. Im Beobachtungsbogen sollten die Auskunftspersonen ihre eigenen, bei der Befragung gewonnenen Erkenntnisse und Urteile festhalten. Dadurch sollte sowohl die Sichtweise der fragenden als auch der befragten Person festgehalten werden. Die Dokumentation der Antworten sollte sich nicht nur auf die eigenen Anschauungen, sondern vor allem auf die Auskünfte der Landarbeiterinnen stützen.
338 339 340 341
Zu den landwirtschaftlichen Arbeitstypen siehe z. B. Kocka (1990), S. 151f. Dyhrenfurth (1912b), S. 207. Siehe die „Erläuterung der Fragebogen“, in: Dyhrenfurth (1916k), S. 114–116. Auhagen (1912).
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Die Fragebogen waren äußerst detailgenau. Sie umfassten je nach Arbeitstyp zwischen 30 und 75 Fragen.342 Die hohe Anzahl der Fragen begründete Gertrud Dyhrenfurth damit, dass zur Beurteilung der sozialen Lage und der Arbeitsbelastung der Frauen, auch deren Gesamtsituation berücksichtigt werden müsse. Denn anders als beim Mann würde das Leben der Frauen weniger durch die Erwerbsarbeit, sondern viel stärker durch die familiäre Arbeit in Ehe und Familie geprägt.343 Der Fragebogenumfang, die Komplexität der Fragen und die schwierige Berechnung des Reallohns (aufgrund der Einbeziehung des Naturallohns) führte Dyhrenfurth als Gründe an, weshalb die Fragebogen nicht direkt an Landarbeiterinnen verteilt werden sollten.344 Gefragt wurde nach Herkunft, familiären Verhältnissen, Art und Umfang der Erwerbsarbeit, Zusammensetzung des Lohns, Arbeitszeit und nach Beschaffenheit und Ausstattung der Wohnung. Wie bei der Rittergutstudie lag ein Schwerpunkt der Fragen auf der Gesundheit der Frauen, dem Mutterschutz, der Anzahl der Kinder und ihrer Versorgung sowie auf dem Vorhandensein sozialer Sicherungssysteme.345 Gefragt wurde nach der Ernährung und nach der Eigenproduktion für den Haushalt; ein Themengebiet, mit dem sich vor allem die LHV befassten. Eine weitere Neuerung zu den Landarbeiter-Enqueten war, dass – wie bei der gerade abgeschlossen Enquete des VfS über die „Auslese und Anpassung (Berufswahl und Berufsschicksal) der Arbeiterschaftschaft der geschlossenen Großindustrie“ – mit einem Teil der Fragen die Zufriedenheit und die Perspektiven, die (soziale) Herkunft und das Berufsschicksal der Frauen, ihre Zukunftspläne und ihre Wünsche nach Veränderung sowie die beruflichen Perspektive der Kinder erfasst werden sollte.346 Wie bei der Landarbeiter-Enquete des ESK wurden auch sozialethische Aspekte erhoben. Über die gängigen Erhebungen hinausgehend waren außerdem Fragen nach Veränderungen der geschlechtsspezifischen Zuständigkeiten und nach der Arbeitsteilung in der Landwirtschaft. Gefragt wurde beispielsweise, ob die Frauen Arbeiten zu leisten hätten, die früher als Männerarbeit gegolten hatten und ob die Männer nun ehemals weiblich konnotierte Arbeiten übernommen hätten. Für die Berechnung der Haushaltsbudgets wurde die Fragebogenerhebung durch Haushaltungsbücher ergänzt, die von den Arbeiter- und kleinbäuerlichen Familien unter Aufsicht der InterviewerInnen ein Jahr lang geführt werden soll-
342 Die Fragebogen und Kriterien für die Auswertung der Daten sind abgedruckt in Dyhrenfurth (1916k), S. 114–161; vgl. auch Velsen (1914a), S. 339. 343 Dyhrenfurth (1916a), S. 11. 344 Dyhrenfurth (1916a), S. 12. An der Landarbeiter-Enquete des VfS wurde kritisiert, dass die Befragung auf dem Postweg erfolgte und keine direkten Befragungen stattgefunden hatten, vgl. Weber, Max (1984[1892]), S. 13. 345 Auhagen (1912), S. 293. 346 Zur Enquete des VfS über die „Auslese und Anpassung (Berufswahl und Berufsschicksal) der Arbeiter in den verschiedenen Zweigen der Großindustrie“ (1909–1912) siehe Kapitel III 1.2 der vorliegenden Arbeit.
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ten. Zudem wurden Lebensläufe und Wohnungsgrundrisse in die Datenerhebung mit einbezogen. Wie schon bei der Enquete des ESK sollten die InterviewerInnen durch die Befragungen für die sozioökonomische Situation in ihren Gemeinden sensibilisiert werden. Mit dem auf sozialwissenschaftlichen Fragen basierenden Beobachtungsleitfaden wurden sie angeleitet, über eine Art teilnehmende Beobachtung die sozioökonomischen Verhältnisse in ihren Gemeinden und Gutsbezirken zu erfassen. Dieses soziale Selbststudium entsprach dem Vorgehen des ESK, der mit seinen ökonomisch-sozialen Weiterbildungskursen und Zeitschriften die soziale Aufklärung und Schulung seiner TeilnehmerInnen und LeserInnen erreichen wollte.347 Die Datenerhebung war im Frühjahr 1913 abgeschlossen; der Rücklauf war regional sehr unterschiedlich. Sein Erfolg war wohl teilweise vom Engagement der GeneralberichterstatterInnen abhängig, vor allem aber von der sozialreformerischen Infrastruktur, die in den einzelnen Provinzen vorhanden war: Der Rücklauf war in Preußen durch die Unterstützung der ländlichen Frauenvereine Ostpreußens und der Landwirtschaftslehrer Westpreußens gut ausgefallen. Dagegen fiel der Rücklauf aus Posen und Mecklenburg und aus den bäuerlichen Gebieten mit wenig oder gar keinem Großgrundbesitz – wie Westfalen oder Hannover – geringer aus, weil es dort keine unterstützenden Gruppen gab.348 Dyhrenfurth versuchte deshalb noch nachträglich, Elisabeth Gnauck-Kühne als Berichterstatterin für die Region Braunschweig zu gewinnen.349 Reichsweit betrug der Rücklauf etwa 25 %. Von insgesamt 4.000 ausgegebenen Fragebogen waren ca. 850 Generalberichte (Beobachtungsbogen) und ca. 2.200 Einzelfragebogen ausgefüllt worden.350 Schon wegen der vergleichsweise schlechten Ausgangsbedingungen der Erhebung war dies ein enormer Erfolg; Dyhrenfurth war jedenfalls angesichts der „zeitraubenden Schürfarbeit“, die jede einzelne Befragung erfordert hatte, mit diesem Ergebnis zufrieden.351 Zwar hatte ihre Erhebung den überraschend hohen Rücklauf der Landarbeiter-Enquete des VfS von knapp 69 % nicht erreicht, deren Ausgangsbedingungen waren aber auch deutlich günstiger gewesen: Bei der Enquete des VfS handelte es sich um eine reine Arbeitgeberbefragung, die deshalb von den Agrarier unterstützt wurde. Der VfS hatte von den landwirtschaftlichen Zentralvereinen 4.000 Adressen erhalten und musste nicht wie der Ständige Aus347 348 349 350
Zum Bildungsaspekt der Enquete des ESK vgl. Flitner (2007[o. J.]), S. 34. Sohnrey (1913), S. 190; vgl. Velsen (1914a), S. 339f. Vgl. Gnauck-Kühne an Dyhrenfurth am 20. April 1913, in: Simon (1929), S. 229f. Dyhrenfurth (1916a), S. 12. Siehe auch den „Bericht von Fräulein Dyhrenfurth in der Sitzung vom 3. Dezember 1912 über den Erfolg ihrer Tätigkeit“, in: BArchK, Nachlass Sering, N 1210, Nr. 42/1. Von den 260 in Schlesien ausgegebenen Fragebogenpaketen, die einen Leitfaden für den Allgemeinbericht und verschiedene Fragebogen für Einzelbefragungen enthielten, waren bis Dezember 1912 80 Pakete mit 78 beantworteten Allgemeinberichten und 260 Einzelinterviews zurückgekommen. Für weitere 24 bearbeitete Fragebogenpakete war Dyhrenfurth die Rücksendung bereits angekündigt worden. 351 Dyhrenfurth (1916a), S. 11. Auch Sohnrey wertete den Rücklauf als Erfolg, vgl. Sohnrey (1913), S. 190; Velsen (1914a), S. 339.
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schuss erst mühsam Adressen suchen. Auch der ESK konnte bei seiner Erhebung auf einen vorhandenen Adressenbestand zurückgreifen; trotzdem erreichte er nur einen Rücklauf von unter sieben Prozent: Von den ca. 15.000 an alle evangelischen Geistlichen des Deutschen Reichs verschickten Fragebogen kamen lediglich ca. 1.000 beantwortet zurück. Als Hauptgrund für den schlechten Rücklauf der Enquete des Ständigen Ausschusses galt – wie bei der Landarbeiter-Enquete des ESK – der Widerstand der Gutsbesitzer, die nicht bereit waren, über die Arbeitsverhältnisse auf ihren Gütern Auskunft zu geben. Ihre Ablehnung war vielleicht auch eine Reaktion darauf, dass Max Weber und Paul Göhre bei der Präsentation der Ergebnisse der LandarbeiterEnquete des ESK die Bedeutung und weitere Aufrechterhaltung des Großgrundbesitzes in Frage gestellt hatten. Ein weiterer Grund für den schlechten Rücklauf bei der Enquete des Ständigen Ausschusses war die Überforderung durch das umfangreiche Fragebogenpaket.352 Durch die Spezifizierung auf die landwirtschaftlichen Berufsgruppen, die in den verschiedenen Regionen unterschiedlich stark verbreitet waren, waren die Fragebogen unübersichtlich und ihr realer Umfang war nur schwer durchschaubar, ein Problem, das schon bei der Erhebung des VfS aufgetaucht war.353 Der Hinweis, dass viele Fragebogen für die Verhältnisse der eigenen Gegend nicht in Betracht kamen und nur die in Frage kommenden Bogen berücksichtigt werden sollten, war nur bedingt hilfreich.354 Denn viele BerichterstatterInnen hatten Probleme, aus dem Fragenkatalog die für die eigene Gegend relevanten Fragen auszuwählen. In Südwestdeutschland hatte beispielsweise der Fragebogen über „kontraktlich gebundene Landarbeiterinnen“ für Verwirrung gesorgt, weil dieses Beschäftigungsverhältnis dort kaum vorkam. Die InterviewerInnen, die diesen Begriff nicht zuordnen konnten, sortierten aber diesen Bogen nicht aus, sondern interpretierten ihn als Frage nach dem Vorhandensein von Fabrikarbeiterinnen.355 Die veröffentlichten regionalen Endberichte sind interessante historische Quellen für die frühe Phase der empirischen Sozialforschung in Deutschland, denn sie dokumentieren zum Teil sehr ausführlich die zugrundeliegenden Datenerhebungen und zeigen, wer sich daran beteiligte. Seuferts Bericht für das Königreich Württemberg erfasste in Tabellen sehr genau den Rücklauf der Fragebogen, in welchem Umfang welche Berufsgruppen in den jeweiligen Landkreisen befragt werden konnten und von wem die Befragungen durchgeführt wurden.356 Sein Bericht stützte sich auf 40 Allgemeinberichte und 91 Einzelfragebogen. Von den Einzelfragebogen waren zwei Bogen für kontraktlich gebundene Arbeiterinnen, 25 Bogen für Tagelöhnerinnen, 23 Bogen für Mägde auf dem Guts- oder Bauernhöfen, sechs Bogen für die Wanderarbeiterinnen und 35 Bogen für Bäuerinnen 352 353 354 355 356
Velsen (1914a), S. 339f. Vgl. Gorges (1986), S. 241. Auhagen (1912), S. 293. Vgl. Seufert (1914), S. 12f. Seufert (1914), S. IV–XII.
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oder deren Töchter beantwortet worden. Dazu lagen ihm noch sechs Notizen über Lohnverhältnisse, Arbeitszeit u. ä. vor. Die Allgemeinberichte wurden von 33 Pfarrern, zwei Lehrern, zwei Gutspächtern, einem Direktor einer landwirtschaftlichen Anstalt, einem Historiker, einem Bürgermeister und von zwei Bäuerinnen und einer Pfarrfrau verfasst. Weshalb von dieser Gruppe nur die männlichen Auskunftspersonen auch Einzelbefragungen durchgeführt hatten, ist aus Seufers Bericht nicht zu erfahren. Den Anspruch, vor allem Frauen bei der Befragung einzusetzen, erfüllte Seufert nicht. Unter den 133 InterviewerInnen seines Berichtsgebiets waren nur zwei Frauen, beides Pfarrfrauen. Seine Befragung wurde zu 77 % von Pfarrern und Lehrern durchgeführt. Seufert, der selbst Pfarrer war, scheint für die Befragung vor allem seine Netzwerke aktiviert zu haben. Der hohe Anteil an weiblichen Berichterstattern in Mecklenburg und Brandenburg zeigt, dass die dafür zuständigen Generalberichterstatterinnen, Elly (Gans Edle Herrin) zu Putlitz (1869–1924) und Helene Wenck (18?? –19??), sich bei der Datenerhebung sich an die eigenen Netzwerke der Landfrauenbewegung wandten.357 Von den 60 BerichterstatterInnen Mecklenburgs waren immerhin die Hälfte Frauen, zum überwiegenden Teil Arbeitgeberinnen, aber auch eine Tagelöhnerfrau.358 Elly zu Putlitz hatte für die Mitarbeit bei der Datenerhebung 94 Personen, darunter 47 Frauen gewinnen können. Zum größten Teil handelte es sich dabei um Gutsfrauen, Gutstöchter und Pfarrfrauen. Bei den männlichen Mitarbeitern überwog wiederum der Anteil von Pastoren und Lehrern.359 Dyhrenfurth hatte 48 Männer und 32 Frauen als Auskunftspersonen gewinnen können. Bei den Frauen waren es überwiegend Gutsbesitzerinnen, bei den Männern überwiegend Lehrer.360 Die Auswertung und die Abfassung der regionalen Endberichte erfolgte nach den von der Kommission festgelegten Kriterien.361 Einführend sollte das Berichtsgebiet vorgestellt und anschließend die soziale Lage der verschiedenen Kategorien von Arbeiterinnen dargestellt und miteinander verglichen werden. Ergänzend sollten in weiteren Kapiteln die Ergebnisse unter verschiedenen thematischen Aspekten ausgewertet werden: Wie war das Verhältnis von Erwerbs- und
357 Helene Wenck(-Rüggeberg) war Schriftführerin der Zeitschrift „Die Gutsfrau“. 358 Priester (1914), S. 3. Das Berichtsgebiet umfasste 130 Ortschaften. Die Berichterstatterinnen setzten sich zusammen aus zehn Frauen von Rittergutsbesitzern, elf Gutspächterfrauen, zwei Frauen von Erbpachthofbesitzern, drei Erbpächterfrauen, einer Forstfrau, einer Pfarrfrau, einer Statthalterfrau und einer Tagelöhnerfrau. Zur Besprechung der Studie siehe Bachmann (1915). 359 Zum Rücklauf vgl. Putlitz (1914), S. 2. 360 Bericht von Fräulein Dyhrenfurth in der Sitzung vom 3. Dezember 1912 über den Erfolg ihrer Tätigkeit, in: BArchK, Nachlass Sering, N 1210, Nr. 42/1. Beteiligt hatten sich als Auskunftspersonen 32 Frauen (25 Gutsbesitzerinnen, eine Pfarrfrau, vier Lehrerinnen, eine Krankenpflegerin, ein Postfräulein) und 48 Männer (elf Gutsbesitzer, ein Domänenpächter, ein Generaldirektor, zwei Obergärtner, ein Förster, 17 Geistliche und 15 Lehrer). 361 Zu den Richtlinien für die Bearbeitung siehe Dyhrenfurth (1916k), S. 154–161.
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Hausarbeit? Welchen Einfluss haben die modernen Verkehrsverhältnisse? Gab es Industrie und/oder Hausindustrie? Wie wirkte sich diese auf das Dorfleben aus? Wie stark war die „Landflucht“? Gründe für die „Landflucht“? Welche soziale Infrastruktur gab es? Welche Stellung hatten die Gutsbesitzer im Dorfleben? Die Bearbeitungsrichtlinien waren – verglichen mit den Vorgaben bei den Enqueten des VfS – sehr genau. Bei der Enquete des VfS über die „Auslese und Anpassung der Arbeiterschaft der geschlossenen Großindustrie“ war den Mitarbeitern zwar ein Arbeitsplan und die Fragebogen ausgehändigt worden, bei der weiteren Vorgehensweise wurden ihnen allerdings mehr Freiheiten zugestanden.362 3.2.3.2 Darstellung und Ergebnisse Die Ergebnisse der Enquete wurden ein Jahr nach Abschluss der Datenerhebung von Gertrud Dyhrenfurth auf der Konferenz des Ständigen Ausschusses zur Förderung der Arbeiterinnen-Interessen am 19. und 20. Februar 1914 vorgestellt. Dyhrenfurth hatte sowohl die regionale Teilstudie für Schlesien als auch – gemeinsam mit Otto Auhagen – die statistische Auswertung des Datenmaterials mit einer regionalvergleichenden Perspektive für das gesamte Kaiserreich übernommen. Ihre Präsentation wurde von Vorträgen von Expertinnen zum Thema Bildung, Arbeit und die Organisierung von Frauen in der Landwirtschaft gerahmt: Freiin Elly zu Putlitz referierte über „De[n] Einfluss der Gebildeten auf dem Lande“, Rosa Kempf über die „Ausbildungsmöglichkeiten für Mädchen und Frauen auf dem Lande“ und Elisabet Boehm-Lamgarben (1859–1943) über „Die Bedeutung des Vereinslebens für die Kleinbäuerinnen und Landarbeiterinnen“.363 Die ersten drei der zehn geplanten Endberichte erschienen ein Jahr später, die Regionalstudie von Seufert über Südwestdeutschland, die Regionalstudie von Putlitz über Brandenburg und die Regionalstudie von Priester über Mecklenburg.364 Wie beim VfS handelte es sich bei den Einzelstudien um einheitliche, nur wenig voneinander abweichende monographische Darstellungen, jedoch von unterschiedlicher Qualität. Der wissenschaftlich fundierteste Bericht war der von Seufert über Südwestdeutschland.365 Sowohl Seufert als auch Priester, der nach Abschluss der Datenerhebung die Ausarbeitung des Berichts für Mecklenburg von 362 Gorges (1986), S. 458. Zu den Vorgaben bei der Landarbeiter-Enquete des VfS siehe Gorges (1986), S. 242f. Zur Konzeption der und zur Kritik an der Enquete siehe ebenda, S. 457–477. 363 Außer Auhagens Vortrag sind sämtliche Beiträge sowie der Fragebogen der Erhebung im Konferenzband abgedruckt, der von Dyhrenfurth herausgegeben wurde. Vgl. Dyhrenfurth (1916k). 364 Beim VfS sollten die Bearbeiter der Endberichte aus dem Kreis der Landwirte selbst kommen. Aufgrund des Materialumfangs und der knappen Zeit wurden jedoch vom Ausschuss kurzfristig sechs Universitätsassistenten für die Bearbeitung ausgewählt. Die Abschlussberichte der Landarbeiter-Enquete des ESK bearbeiteten Max Weber und Paul Göhre. 365 J. (1916). Das Untersuchungsgebiet Südwestdeutschland umfasste das Königreich Württemberg, das Großherzogtum Baden, Elsass-Lothringen und die Rheinpfalz.
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Helene Wenck übernommen hatte, hatten das Datenmaterial nach den vorgegebenen Leitlinien systematisch aufgearbeitet. Im Gegensatz zu Seufert und Priester beschränkte sich Putlitz in ihrem Bericht auf eine rein deskriptive Zusammenstellung des erhobenen Datenmaterials, die sie durch einen umfangreichen Tabellenanhang ergänzte. Sie verzichtete wohl wegen des unzureichenden Datenmaterials auf die Beantwortung der allgemeinen Fragen und die Bildung von Durchschnittstypen der verschiedenen Gruppen der in der Landwirtschaft arbeitenden Frauen. Der Ausbruch des Ersten Weltkriegs verzögerte und verhinderte die Fertigstellung und Publikation der restlichen Teilstudien, eine weitere Präsentation und Diskussion der Ergebnisse sowie die Rezension der Enquete. Als letzte Regionalstudie erschien 1918 Rosa Kempfs Arbeit über die „Arbeits- und Lebensverhältnisse der Frauen in der Landwirtschaft Bayerns“.366 Die Teilstudie zur Region Westfalen wurde von einer Studentin fertiggestellt, nachdem der ursprüngliche Bearbeiter, Adolph Wrasman, im Krieg gefallen war.367 Dyhrenfurth gelang es aus gesundheitlichen Gründen und wegen ihrer Arbeitsüberlastung während des Krieges nicht, ihre Teilstudie über Schlesien abzuschließen.368 Auch den Plan, die Arbeit später fertigzustellen, musste sie aufgeben. Als Alleinverantwortliche für das Gut hatte sie nach dem Tod ihres Bruders keine Zeit mehr; außerdem waren die Daten nach dem Krieg veraltet. Ihr Datenmaterial wurde allerdings knapp zwanzig Jahre später für eine Studie von Toni Walter verwendet, die während der NS-Zeit erschien.369 Zu welchen Ergebnissen kam Gertrud Dyhrenfurth bei ihrer regionalvergleichenden Auswertung, die sie 1914 in Berlin vorstellte? Eines der wichtigsten Ergebnisse war ihres Erachtens, dass aus den Interviews „zum ersten Male Stimmen aus einer Frauenschicht“ zu hören waren, die bis dahin „nie vernommen wurden“.370 In ihrem Bericht zeichnete Dyhrenfurth die soziale Lage und die typischen „Berufsschicksale“ der verschiedenen landwirtschaftlichen Arbeitstypen nach. Mit vielen Fallbeispielen veranschaulichte sie, wie sich die Arbeits- und Lebensbedingungen der Frauen je nach regionaler Ausprägung der verschiedenen Arbeitstypen unterschieden, wo es Gemeinsamkeiten gab und wie sie sich verändert hatten. Wie bei der Enquete „Untersuchungen über Auslese und Anpassung (Berufswahl und Berufsschicksal) der Arbeiter in den verschiedenen Zweigen der Großindustrie“ (1909–1912) des VfS analysierte sie die Berufsschicksale der Einzelnen vor dem Hintergrund ihrer sozialen Herkunft, dem Beruf der Eltern und dem eigenen Beruf oder den Berufswünsche für die Kinder.
366 Zur Studie von Rosa Kempf siehe Kapitel III 2.2.2 der vorliegenden Arbeit. 367 Vgl. Dyhrenfurth (1916a), S. 16; Beckmann (1917). Nicht fertiggestellt wurden die Regionalberichte über Pommern, Ostpreußen, Westpreußen und Posen sowie der Regionalberichte von Ida Kisker (1881–1967) über das Rheinland, siehe dazu weiter unten. 368 Vgl. Pappritz (1914). Die schlesische Teilstudie sollte eigentlich im Herbst 1914 erscheinen. 369 Dyhrenfurth an Ida Ernst am 14. April 1924, in: Archiv des KDFB, Nachlass Gnauck-Kühne, 1–111–7. Zur Studie von Walter (1936) siehe weiter unten. 370 Dyhrenfurth (1916a), S. 12.
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Dyhrenfurths Vortrag gibt einen Einblick in die Auswirkungen des Strukturwandels auf die verschiedenen Gruppen der in der Landwirtschaft arbeitenden Frauen. Aus der Perspektive der ländlichen Sozialreform interessierte sie, welche Arbeitsgruppen aus welchen Gründen vermehrt in die Städte abwanderten und welche sozial- und siedlungspolitischen Programme zur Stabilisierung der Sozialstruktur auf dem Land beitragen könnten. Dyhrenfurth ging es um die Wechselwirkungen von ökonomischen, sozialen, politischen und psychologischen Entstehungs- und Bedingungszusammenhängen der Binnenwanderung. Sie wollte monokausale Erklärungen vermeiden, da sie hatte früh erkannt hatte, dass die Lohnhöhe nicht der alleinige Grund für die „Landflucht“ war. Am Beispiel der drei Gruppen, die am häufigsten in die Stadt „flüchteten“, veranschaulichte Dyhrenfurth, dass ein komplexes Zusammenspiel mehrerer Ursachen für die Binnenwanderung verantwortlich war. Da war zum einen die Kleinbäuerin. Die Entdeckung ihrer enormen Arbeitsbelastung zählte für Gertrud Dyhrenfurth zu den wichtigsten Ergebnissen der Erhebung. Die Enquete erbrachte den Beweis, dass es entgegen verbreiteter Annahmen nicht die landlosen Arbeiterinnen aus den Regionen des Großgrundbesitzes im Osten Deutschlands waren, die am stärksten in die Städte drängten, sondern die Ehefrauen und Töchter der Kleinbauern Süd- und Südwestdeutschlands. Die Kleinbäuerinnen waren die Gruppe, deren Arbeitsbelastung am stärksten und deren gesundheitliche Situation am schlechtesten war. Einen Ansatzpunkt für sozialpolitische Maßnahmen war kaum zu finden, denn die kleinbäuerlichen Verhältnisse waren je nach Betriebsweise und Anbauverhältnissen zu unterschiedlich für eine Typenbildung, die für sozialpolitische Forderungen aber notwendig war. Das „Berufsschicksal“ dieser Frauen wurde von dem Verhältnis von Größe des Bauernhofs und Anzahl der Arbeitskräfte bestimmt. Danach entschied sich, so Dyhrenfurth, ob die Kleinbäuerin ein „abgehetztes Lasttier, das mehr leisten muss, als es kann“, oder eine „selbstbewusste Meisterin“ war, „die ihre Arbeit ruhig beherrscht[e]“.371 Am Beispiel der Ergebnisse aus Württemberg schilderte Dyhrenfurth den nahezu ausweglosen Teufelskreis der Arbeitsüberlastung und dessen generationsspezifische Dimension. Der kleinbäuerliche Grundbesitz unter 5 ha reichte für die Ernährung der Familie nicht aus, weshalb ein zusätzliches Einkommen des Mannes aus industriellem Nebenerwerb notwendig war. Dies führte zu einer höheren Arbeitsbelastung der Bäuerinnen, die die Arbeit ihrer Männer mit übernehmen mussten. Die Arbeitsbelastung der Mütter wirkte auf die Töchter abschreckend, für sie war ein solches Berufsschicksal nicht erstrebenswert. Sie verließen den Hof der Eltern und suchten sich eine Arbeit in der Stadt. Ihr Weggang wiederum führte zu einer noch höheren Arbeitsbelastung der Mütter und zu einer erneuten Abschreckung der Töchter. Die Arbeitsbelastung, das konnte Dyhrenfurth mit ihren Beispielen nachweisen, wurde durch die strukturelle und rechtliche Benachteiligung der Frauen in der bäuerlichen Familienwirtschaft, vor allem der Töchter
371 Dyhrenfurth (1916b), S. 51.
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gegenüber den Söhnen, verstärkt. Die Töchter waren nicht erbberechtigt und mussten die Rolle unbezahlter Dienstboten übernehmen. Für sie wurde weder in die Unfallversicherung noch in eine Aussteuerkasse eingezahlt. Die zweite Gruppe, für die das Leben in der Stadt attraktiver schien als auf dem Land und die Dyhrenfurth ausführlicher behandelte, waren die Mägde. Die Mägde waren außerdem eine Gruppe, die im Zentrum der öffentlichen Diskussionen über Sittlichkeit und „Landflucht“ stand. Die agrarischen Kreise unterstellten jungen Arbeiterinnen wie den Mägden, dass sie aus einer spontanen Laune heraus, aus Vergnügungssucht, Drang nach Freiheit oder reiner Bequemlichkeit in die Städte abwanderten. Sie seien meist unfähig, Gründe für ihren Weggang vom Land zu benennen.372 Dyhrenfurth widersprach mit den Ergebnissen der Enquete diesem Vorurteil.373 Sie zeigte zum einen, dass es „die Magd“ nicht gab, sondern lediglich regional unterschiedliche Ausprägungen dieser Berufsgruppe. Im Süden und Westen Deutschlands stammte die Bauernmagd aus Arbeiter- und Bauernfamilien, im Osten ausschließlich aus der Gruppe der Knechte, Tagelöhner, Häusler und Handwerker. Während im Südwesten die Mägde meist zur Familie gerechnet wurden, d. h. gemeinsam mit der Bauernfamilie das Essen einnahmen und Aufenthaltsrecht in Küchen und Wohnräumen hatten, gab es im Osten und Nordosten eine klare Trennung zwischen Herrschaft und Gesinde. Die Gesundheit der meisten Mägde war zwar trotz der Länge und Schwere ihres Arbeitstags verhältnismäßig gut. Die schwere und schmutzige Stallarbeit, die fehlende soziale Anerkennung und das Gefühl der Erniedrigung durch die Arbeit waren, so Dyhrenfurth, der Grund für ihre Abwanderung in die Städte.374 Eine weitere Gruppe, für die es wenig Anreize für einen Verbleib auf dem Land gab, war die der alleinstehenden besitzlosen Tagelöhnerinnen. Es seien, so Dyhrenfurth, die „kümmerlichsten Existenzen“ der befragten landwirtschaftlichen Arbeiterinnen.375 Zwar trete einem bei dieser Gruppe nicht das krasse Elend der Städte entgegen, doch „nirgends schmeckt[e] das Armenbrot so bitter wie auf dem Lande, wo der Almosenempfänger für jedermann gekennzeichnet“ war.376 Die Gegenüberstellung der Tagelöhnerinnen mit und ohne Naturalbezüge bestätigte für Gertrud Dyhrenfurth die Vorteile von Naturalbezügen als Bestandteil des ländlichen Einkommens.377 Die sozio-ökonomische Lage der Tagelöhnerinnen hing stark davon ab, so das Ergebnis der Erhebung, ob sie über Land- und Wohnungs372 Vgl. z. B. die Wortmeldung des Rittergutsbesitzers und Politikers der Deutschkonservativen Partei Karl Hans Henning aus dem Winckel-Glogau (1869–1925) zu Sohnreys Bericht „Der Zug der Landmädchen nach der Stadt“ auf der 14. Hauptversammlung des Deutschen Vereins für ländliche Wohlfahrts- und Heimatpflege: Winckel (1910). 373 Zur zeitgenössischen Diskussion über „die Magd“ siehe Jones (2004), S. 355. 374 Vgl. Jones (2005), S. 469. 375 Dyhrenfurth (1916b), S. 46. 376 Dyhrenfurth (1916b), S. 48. 377 Dyhrenfurth (1916b), S. 43. Für Dyhrenfurth brachte der Anteil von Naturalien am Lohn den Landarbeiterinnen während des Ersten Weltkriegs einen Vorteil gegenüber den städtischen Arbeiterinnen. Siehe Dyhrenfurth (1917b), S. 286.
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besitz verfügten oder ob sie Miete zahlen mussten.378 (Kleinst-)Landbesitz in Form eines kleinen Gartens ermöglichte ihnen Gemüseanbau und Viehhaltung für den Eigenbedarf; war dieser nicht vorhanden, mussten sie zu sehr gestiegenen Preisen alle Erzeugnisse des täglichen Bedarfs kaufen. Dyhrenfurth diskutierte die Ergebnisse der Enquete vor dem Hintergrund der historischen Entwicklung landwirtschaftlicher Frauenarbeit. Sie zeigte, wie geschlechtsspezifisch segmentiert die Arbeitsbereiche in der Landwirtschaft waren und wahrgenommen wurden. Die landwirtschaftliche Arbeitsteilung galt als universell, und jegliche Veränderung wurde als Bedrohung der „natürlichen Ordnung“ wahrgenommen.379 Die Zuständigkeiten wurden mit normativen Vorstellungen von Weiblichkeit, mit der „Kultur der Frau“ begründet. Landwirtschaftliche Arbeit galt für die Gesundheit der Frauen nicht als schädlich, solange sie der vorgegebenen Arbeitsteilung entsprach. Dagegen wertete es Dyhrenfurth beispielsweise als Missstand, dass verheiratete Frauen zu körperlich schweren Arbeiten wie dem Dreschen oder dem Pflügen mit Ochsengespannen herangezogen wurden, die in den männlichen Arbeitsbereich fielen. Nationalökonomen wie August Skalweit sahen in der zunehmenden Belastung durch Erwerbsarbeit und in der Übernahme von landwirtschaftlichen Arbeiten, die sich nicht „mit dem weiblichen Organismus“ vertrugen, die Gefahr der „Auflösung des Familienlebens, Verwahrlosung der Kinder und Schädigung der Gesundheit der Frauen“.380 Für Dyhrenfurth erbrachte die Enquete den Nachweis, dass die Arbeitsmotivation und Arbeitszufriedenheit der Frauen davon abhing, ob sie im eigenen oder in einem fremden Betrieb arbeiteten. Während im eigenen Betrieb selbst die unbeliebten, schweren und unsauberen Arbeiten gern übernommen würden, sei die schmutzige, unbeliebte Arbeit in fremden Betrieben und deren schlechtes Prestige einer der Hauptgründe für die Abwanderung jüngerer Arbeitskräfte. Dyhrenfurth hielt deshalb eine Siedlungspolitik für sinnvoll, die die Errichtung landwirtschaftlicher (kleinbäuerlicher) Eigenbetriebe förderte. Diese biete den Frauen Gelegenheit zu eigener Vieh- und Milchwirtschaft und zu Gemüse- und Obstkultur. Dyhrenfurths Vision war die einer selbstständigen, tüchtigen und sparsamen Landfrau, die sich ein eigenes „Heim mit Pachtacker“ erwirtschaftete.381 In ihrem Vortrag zeichnete Gertrud Dyhrenfurth ein idealisierendes Bild der privilegierten Stellung der Frauen der Landarbeiter- und Bauernfamilien in der Vormoderne. Damals hätten die Frauen die Einnahmen verwaltet, denn die größte Einnahmequelle der Familie sei nicht der Geldlohn des Mannes, sondern die Viehwirtschaft der Frauen gewesen. Das Machtverhältnis habe sich aufgrund der Ablösung der Naturalwirtschaft durch die kapitalistische Geldwirtschaft und durch die Technisierung zu Ungunsten der Frauen verändert. Aus dem Bauer sei 378 Dyhrenfurth (1916b), S. 45. 379 Zur Universalität der geschlechtsspezifischen Arbeitsteilung in der Landwirtschaft siehe auch Wilbrandt/Wilbrandt (1902), S. 76f. 380 Skalweit (1907), S. 405; vgl. Salomon (1906). 381 Dyhrenfurth (1916b), S. 58.
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im Zuge der Professionalisierung (durch Literatur, Versammlungen, Genossenschaften und die Organisation in Vereinen) ein moderner Berufsmensch geworden, dessen Leistungen in der volkswirtschaftlichen Produktion als vollwertig anerkannt würden. Seine Frau dagegen sei der Vormoderne verhaftet geblieben; sie verfüge weder über Bildungsmöglichkeiten für ihren Beruf noch über eine Vertretung ihrer Interessen oder über eine feste Eingliederung in den Berufsstand, in dem sie arbeite.382 Während der Bauer zunehmend den Fortschritt verkörpere, werde die Bäuerin zum Inbegriff des Stillstands: „Was an Fortschritt in den Bauernhof dringt, das bringt der Mann. Auf den Arbeitsgebieten der Frau aber herrscht stumpf und dumpf die Empirie. Sie tut, was ihre Vorgängerin auf dem Hofe getan; es ist als hätte sie den Anbruch des wissenschaftlichen Zeitalters in der Landwirtschaft nicht miterlebt. (…) Das Neue, was in den Haushalt dringt, aber sind nicht die arbeitsersparenden Einrichtungen, die das Frauenleben erleichtern! Wasserleitung und elektrisches Licht legt der Bauer in die Ställe, aber beileibe nicht in das Haus.“383
Verglichen mit Max Webers Teilstudie über „Die Verhältnisse der Landarbeiter im ostelbischen Deutschland“ ist Dyhrenfurths Darstellung sowie ihre Rittergutstudie eine ausgesprochen attraktive Lektüre. Weber orientierte sich bei seiner umfangreichen Aneinanderreihung der Umfrageergebnisse an der Systematik des Fragebogens des VfS. Er präsentierte schematisch Provinz für Provinz die Ergebnisse der auf der statistischen Auswertung basierenden Tabellen. In den jeweiligen Schlussberichten der Provinzen stellte er die regional unterschiedlichen Grundtendenzen der Auflösung der patriarchalen Arbeitsverfassung in einer historischen Perspektive dar und mahnte sozialpolitische Konsequenzen an. Damit zog er vordergründig eine Trennung zwischen der Darstellung der Ergebnisse und ihrer sozialpolitischen Bewertung. Dyhrenfurth dagegen präsentierte ihre Ergebnisse entlang ihrer Fragestellung(en), illustrierte diese mit Fallbeispielen und verknüpft sie unmittelbar mit einer sozialpolitischen Bewertung. Mit den Ergebnissen der Enquete begründete Gertrud Dyhrenfurth ihre Forderungen nach Professionalisierung und Modernisierung der landwirtschaftlichen Frauenarbeit. Hierzu gehörten eine stufenweise, geordnete Ausbildung und das zu schaffende Berufsbild einer landwirtschaftlichen Hausfrau, das alle Generationen der in der Landwirtschaft arbeitenden Frauen umfasste. Als berufsständische Interessensvertretung forderte Dyhrenfurth einen erweiterten Hausfrauenverein, dem sich nicht nur die Hausfrauen mit landwirtschaftlichem (Groß-)Grundbesitz anschließen sollten. In dieser „sich von unten, auf breitester Grundlage aufbauenden Organisation“ sollten die Gutsfrau, die Bäuerin, die Tagelöhnerin und die Magd gemeinsam für ihre Interessen zusammenarbeiten.384 Dieser Hausfrauenverein sollte organisatorisch an die landwirtschaftlichen Vereine angegliedert und gleichzeitig sollte die Mitarbeit von Frauen in den Landwirtschaftskammern aus-
382 Dyhrenfurth (1916b), S. 55; siehe auch Wohlgemuth (1913), S. 31 und S. 65f. 383 Dyhrenfurth (1916b), S. 54f. 384 Dyhrenfurth (1916b), S. 64.
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gebaut werden. Darüber hinaus forderte Dyhrenfurth die Einrichtung von staatlichen Stellen für Kreiswohlfahrtsbeamtinnen, Landpflegerinnen und Fortbildungsschullehrerinnen sowie die Ausdehnung der Wohnungsinspektion auf ländliche Regionen. Dyhrenfurths Auswertung zeigte, dass seit der Landarbeiter-Enquete des VfS ein, wenn auch minimaler, Ausbau der sozialen und kulturellen Infrastruktur auf dem Land feststellbar war, den sie auf das Engagement Heinrich Sohnreys, Hugo Thiels und des VFV zurückführte.385 Die in ihrem Ergebnisbericht aufgestellten Forderungen griff Dyhrenfurth später erneut auf, so z. B. in einem Artikel zum Arbeitsschutz für Frauen in der Landwirtschaft zu Beginn der Weimarer Republik.386 3.2.3.3 Rezension und Rezeption Nicht nur Else Lüders bedauerte rückblickend, dass „die umfangreiche wertvolle Erhebung des Ständigen Ausschusses“ wegen des Ersten Weltkriegs „nicht die Beachtung gefunden“ hatte, die sie verdiene.387 Denn die Enquete erbringe den empirischen Beweis, so der Tenor vieler Besprechungen, dass „die Agrarfrage in hohem Maße eine Frauenfrage“ sei.388 Die Besprechung der Enquete war zumindest kurz nach ihrem Abschluss verhältnismäßig umfangreich: Sowohl über die Ergebniskonferenz in Berlin 1914 als auch über die Regionalberichte und den publizierten Tagungsband wurden in Zeitschriften der Frauenbewegung, der Landfrauenbewegung, der ländlichen Reformbewegung und in den nationalökonomischen bzw. sozialwissenschaftlichen und sozialpolitischen Fachzeitschriften ausführlich berichtet. Rezensionen erschienen in „Conrads Jahrbuch“, in der „Zeitschrift für Sozialwissenschaft“, im „Archiv für Frauenheilkunde und Eugenetik“ und in „Die Frau“.389 In den Besprechungen wurde Gertrud Dyhrenfurths richtungweisende Arbeit bei der Enquete herausgestellt. Es wurde auf die „sorgsam“ ausgearbeiteten Fragebogen hingewiesen, mit denen auch sozial ungeschulte Interviewer brauchbares Material hätten erheben können. Dyhrenfurths Ergebnisbericht zeichnete sich in den Augen der RezensentInnen durch eine sowohl in die Tiefe als auch in die 385 Dyhrenfurth (1916b), S. 65f.; vgl. auch Dyhrenfurth (1916g). Die Enquete des VfS hatte zehn Jahre zuvor festgestellt, dass die fehlende bzw. kaum vorhandene soziokulturelle Infrastruktur auf dem Land eine der Hauptursachen für die „Landflucht“ war. Zur Landarbeiter-Enquete des VfS siehe. Flemming (1978), S. 53–61. 386 Dyhrenfurth (1922a). 387 Lüders, Else (1932b), Sp. 1329. 388 Vgl. z. B. Pappritz (1914). 389 Siehe z. B. die Besprechungen Velsen (1914a; 1914b); Dalwigk (1914); Hirsch (1914), S. 396; Ichenhäuser (1914); Sachs (1914); Winkelmann (1915a); Kesten-Conrad (1916); Landsberg (1916); Mohrat (1916); J. (1916); Beckmann (1917); Pappritz (1917); Leonhard (1917), S. 830–834; Winkelmann (1917). Die Rezensentinnen Anna Pappritz, Else KestenConrad und Dorothee von Velsen waren selbst an der Enquete beteiligt.
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Breite gehende Darstellung aus. Für Elisabeth Landsberg (1874–1951), die wie Dyhrenfurth als Gutsbesitzerin soziale Einrichtungen auf ihrem Gut eingerichtet hatte und die sich in der Heimarbeiterinnenfrage engagierte, zeichnete sich die Studie durch die „feine[…], ins einzelne dringende[…] Beobachtung“ und einen „vorurteilslosen“ Blick aus.390 Dyhrenfurth sei es gelungen, so Gertrud Bäumer, die unterschiedlichen landwirtschaftlichen Arbeitstypen der Reichsstatistik „als lebendige Menschen im Rahmen ihrer tatsächlichen Lebensverhältnisse und in der Farbigkeit ihrer Beschäftigungen und Stimmungen darzustellen“.391 Gleichzeitig arbeite Dyhrenfurth, so Landsberg, aus den gewonnen Einzeleindrücken das Grundlegende heraus und entfalte daraus ein umfassendes Entwicklungsprogramm für den ländlichen Raum, das auf die Verbesserung der Arbeits- und Lebensverhältnisse der landwirtschaftlichen Arbeiterinnen abzielte. Fern von allen Utopien knüpfe sie dabei eng an die gegebenen Verhältnisse an, beschränke sich aber nicht auf kleine Verbesserungsvorschläge, sondern richte ihre Vorschläge aufs Ganze.392 Zu den wichtigsten Punkten von Dyhrenfurths Darstellung zählte für Bäumer die Forderung nach Modernisierung der Arbeitssphäre der Kleinbäuerinnen.393 Wie bei ihren anderen Studien wollte Dyhrenfurth mit der Enquete ein Vorbild für weitere Untersuchungen konzipieren, was ihr teilweise gelungen ist.394 Bis in die NS-Zeit lassen sich Arbeiten finden, die sich mit dem Thema „Frauen in der Landwirtschaft“ befassten; einzelne dieser Arbeiten griffen die Vorgehensweise Dyhrenfurths auf oder verwendeten ihre Fragebogen. Überwiegend waren es Frauen, die sich, meist im Rahmen ihrer Dissertationen, mit diesem „Frauenthema“ wissenschaftlich profilierten.395 Hierzu gehören die empirisch aufwendigen Arbeiten von Marta Wohlgemuth (18??–19??) und Maria Bidlingmaier (1882–1917), die noch während des Ersten Weltkriegs entstanden. Wohlgemuth studierte Nationalökonomie an der Freiburger Universität. Sie war von ihrem Lehrer Gerhart von Schulze-Gaevernitz aufgefordert worden, über „die Bäuerin“ zu promovieren und zu versuchen, „einen Typus der badischen Bäuerin“ zu finden.396 Bidlingmaier studierte in Tübingen; mit ihrer Arbeit über die „Bäuerinnen in zwei Gemeinden Württembergs“ war sie 1917 die erste Promovendin mit einem Frauenthema bei dem renommierten Staatswissenschaftler Carl Johannes
390 391 392 393 394 395 396
Landsberg (1916). Bäumer (1914b), S. 156. Landsberg (1916). Bäumer (1914b), S. 156. Dyhrenfurth (1916a), S. 11. Siehe hierzu auch Beckmann (1917), S. 193. Wohlgemuth (1913), S. V. Besprochen wurde die Studie von Bernays (1914g); Feld (1914)¸ Hirsch (1914); Lange, Auguste (1914); Berger (1915); Fürth (1915) und Winkelmann (1915b).
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Fuchs (1865–1934), der sich wie Gertrud Dyhrenfurth im Deutschen Verein für ländliche Wohlfahrts- und Heimatpflege engagierte.397 Beide Dissertationen untersuchen den Einfluss moderner Infrastruktur auf die die in der Landwirtschaft arbeitenden Frauen. Dazu vergleichen sie zwei unterschiedlich entwickelte Landgemeinden: eine Gemeinde mit Industrie, mit Verkehrsanbindung und in der Nähe einer größeren Stadt und eine Gemeinde ohne Industrie, ohne Verkehrsanbindung und ohne Nähe zu einer größeren Stadt. Anders als Dyhrenfurth konzentrierten sich Bidlingmaier und Wohlgemuth auf die Bäuerin, den landwirtschaftliche Arbeitstyp, der in Südwestdeutschland am häufigsten vorkam. Sowohl Wohlgemuth als auch Bidlingmaier stellten sich rhetorisch ausdrücklich in die Tradition der von Max Weber postulierten „Objektivität sozialwissenschaftlicher Erkenntnis“. Bei ihrer Suche nach dem charakteristischen Typus der Bäuerinnen in den beiden Gemeinden orientierten sie sich methodisch ausdrücklich an Webers Konzept des „Ideal-Typus“.398 Für die Dissertationen führten Maria Bidlingmaier und Martha Wohlgemuth aufwendige und umfangreiche Datenerhebungen durch. Sie umfassten Befragungen und teilnehmende Beobachtungen, die mit längeren Aufenthalten in den untersuchten Gemeinden, persönlicher Bekanntschaft mit den Befragten sowie der Mitarbeit bei den bäuerlichen Familien ihres Samples verbunden waren.399 Wegen des enormen Zeitaufwands und der Schwierigkeit, Interviewpartnerinnen zu finden, konnte Bidlingmaier von den ursprünglich geplanten 323 Befragungen nur 113 durchführen. Eine Befragung dauerte zwischen vier und fünf Stunden und konnte deshalb nur an den Abenden, sonntags oder im Winterhalbjahr stattfinden. Bidlingmaier hatte Schwierigkeiten, das Misstrauen der Bauern zu überwinden, vor allem, wenn es um wirtschaftliche Fragen ging. In ihrem Heimatdorf, einer der beiden Gemeinden ihres Untersuchungssamples, gelang es ihr leichter, diese Schwierigkeiten zu überwinden, weil sie einen Vertrauensvorschuss genoss. Im Vergleichsdorf, wo sie persönlich nicht bekannt war, musste sie sich dieses Vertrauen durch einen längeren Aufenthalt und durch Mitarbeit in den einzelnen Familien erst mühsam erarbeiten.400 Im Zentrum der Dissertationen standen der Arbeitsalltag und die Hauswirtschaft der Bäuerinnen. Erstmals nahm der Themenbereich „Konsumtion“ einen größeren Raum ein, der bei Dyhrenfurths Studien bereits angeklungen war und aus dem sich während der Weimarer Republik ein ganzes Forschungsfeld entwickelte. Gewissermaßen als Fortsetzung zu Dyhrenfurths Bestandsaufnahme untersuchten Bidlingmaier und Wohlgemut, welche Rolle die von der Landfrauenbewegung vorangetriebene Modernisierung und Rationalisierung des bäuerlichen Haushalts in der Alltagspraxis der Bäuerinnen spielte. 397 Zu Bidlingmaiers Biographie und zur Geschichte der Dissertation siehe Köhle-Hezinger (1993); zur Neuauflage siehe Glaser (1991). 398 Weber, Max (1904). 399 Wohlgemuth (1913), S. VI. 400 Bidlingmaier (1990[1918]), S. XXI.
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Wohlgemuth orientierte sich beim Fragenkomplex „Die Bäuerin als Mutter“ an dem von Dyhrenfurth für die Rittergutstudie entwickelten Fragenschema.401 Durch die synchrone Darstellung der erhobenen Daten aus den Gemeinden kommen Wohlgemuth und Bidlingmaier zu einem erstaunlichen Ergebnis: Hatte Dyhrenfurth für Jakobsdorf noch allgemein eine hohe Geburtenrate für die auf dem Land lebenden Frauen festgestellt, so implizierten die Ergebnisse von Bidlingmaier und Wohlgemuth eine Art von „natürlicher“ Geburtenkontrolle. Bei beiden Studien gab es eine Gemeinde mit einer höheren und eine Gemeinde mit einer vergleichsweise niedrigen Geburtenrate. Daraus ließ sich ein Zusammenhang zwischen der Geburtenzahl und der Arbeitsbelastung der Frauen ableiten.402 Während der Weimarer Republik hatten Dissertationsthemen zu Frauen in der Landwirtschaft nur eine schwache Konjunktur, lediglich in den Anfangsjahren und nach der Agrarkrise 1928 wurde dazu gearbeitet. Wilhelm Hammeke war einer der wenigen Männer, der sich – 1922 an der Wirtschafts- und Sozialwissenschaftlichen Fakultät der Universität Köln – in seiner Dissertation mit diesem Thema befasste.403 Eine weitere Dissertation entstand am Ende der Weimarer Republik bei August Skalweit, dem ehemaligen Kommissionsmitglied der Enquete „Frauen in der Landwirtschaft“. Elisabeth Baldauf (1904–1952) kritisierte in ihrer Arbeit über „Die Frauenarbeit in der Landwirtschaft“, dass in allen landwirtschaftlichen Arbeitsbereichen die Frauenlöhne sehr viel niedriger seien als die Löhne der Männer.404 Zu Beginn der NS-Zeit wurden wieder mehr Studien zum heterogenen Themenfeld Land und Landwirtschaft durchgeführt. Dazu gehört auch die Arbeit von Toni Walter über „Die Frauen in der schlesischen Landwirtschaft“ (1936), eine unrühmliche Fortsetzung von Dyhrenfurths nicht fertiggestellter Teilstudie der Landarbeiterinnen-Enquete. Walter verwendete sowohl den Fragebogen als auch die Daten, die Dyhrenfurth für die schlesische Teilstudie der Enquete erhoben hatte.405 Walter verglich und bewertete die Entwicklung landwirtschaftlicher Frauenarbeit 1912 (auf Grundlage der Daten von Dyhrenfurth) und der Weimarer Republik mit der NS-Zeit. Für die NS-Zeit hatte sie eine nicht näher beschriebene Befragung durchgeführt, bei der sie die Fragebogen von Dyhrenfurth verwendet hatte. Walter stellt ihre Arbeit im Vorwort in den Dienst des Nationalsozialis-
401 402 403 404 405
Wohlgemuth (1913), S. 114. Siehe hierzu Hirsch (1914), der auch auf Dyhrenfurths Rittergutstudie hinweist. Siehe z. B. Hammeke (1922); Rheindorf (1923); Völger-Hoppe (1925). Baldauf (1932), S. 81. Walter dankte im Vorwort Dyhrenfurth dafür, dass sie „in langer wissenschaftlicher und praktischer Lebensarbeit ihre Kräfte immer wieder für die Lebens- und Arbeitsinteressen der ländlichen Frauen“ eingesetzt habe. 1932 und 1933 erschienen mehrere Artikel von Walter in den Zeitschriften „Land und Frau“ und „Das Land“, außerdem publizierte Walter während der NS-Zeit und nach 1945 weiter über landwirtschaftliche Frauenarbeit. Siehe auch Walter (1949; 1954). Zur Besprechung von Walters Studie siehe Lüders, Else (1937).
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mus.406 Bei ihrer Bewertung der einzelnen Zeitabschnitte präsentiert sie sich als Anhängerin der nationalsozialistischen Agrarpolitik und als Gegnerin der Weimarer Republik, der sie die Benachteiligung des landwirtschaftlichen Berufsstands anlastete. In der Studie argumentiert sie kaum empirisch und wissenschaftlich fundiert, sondern meist populistisch, mit den gängigen Verleumdungen: Mit der „reich bemessene[n] Arbeitslosenunterstützung“ sei während der Weimarer Republik die Arbeitsunlust der landwirtschaftlichen Hausangestellten (der Mägde) gefördert worden. Diese hätten lachend zugesehen, wenn die Bäuerin „die Stallarbeit allein machen musste“.407 Walter ignorierte Statistiken, die belegten, dass sich die schlechten Arbeits- und Lebensbedingungen von Frauen in der Landwirtschaft nach 1933 keineswegs verbessert hatten. Unkritisch verklärt sie die vom NS-Regime geschaffenen agrarpolitischen Einrichtungen und Maßnahmen, wie den Reichsnährstand. Sie ging davon aus, dass Einrichtungen und Maßnahmen zur Anerkennung und Förderung landwirtschaftlicher (Berufs-)Arbeit von Frauen beitrugen. Walter befürwortete die NS-Gesetzgebung zur Einschränkung der Erwerbsarbeit verheirateter Frauen408 und das Programm der nationalsozialistischen Wohlfahrtspflege, hier insbesondere das „Gesetz zur Verhütung erbkranken Nachwuchses“.409 Ihre Zustimmung ging so weit, dass sie vorbeugende Maßnahmen gegen eine Ausnutzung der Erholungsfürsorge durch „minderwertige Elemente“ empfahl.410 Ende der 1930er Jahre erschien die von Max Sering initiierte und herausgegebene, aus mehreren Teilstudien bestehende Bestandsaufnahme „Die Frau in der deutschen Landwirtschaft“ (1939). Der Sammelband war der zweite Teil der von Sering konzipierten mehrbändige Reihe „Deutsche Agrarpolitik“, die nach dessen Tod 1939 allerdings nicht weitergeführt wurde. Die Bestandsaufnahme erinnert wegen des frauenspezifischen Schwerpunkts und der hohen Beteiligung von Frauen an die Landarbeiterinnen-Enquete.411 Eine der Autorinnen war Ida Kisker, die schon bei der Enquete über „Frauen in der Landwirtschaft“ beteiligt gewesen war, die ihre Regionalstudie über das Rheinland jedoch nicht abgeschlossen hatte. In ihrem Artikel über die Situation des weiblichen Gesindes in der rheinischen und westfälischen Landwirtschaft und die Einführung des weiblichen Dienstjahrs verwertete sie auch die damaligen Ergebnisse.412 Der Band belegte nochmals Max Serings Bedeutung als Förderer des nationalökonomischen Frauenstudiums – auch während der NS-Zeit.
406 Walter (1936): „Möchte in dem großen Zuge des nationalsozialistischen Neubaus die vorliegende Arbeit beim Werdenden zum Verständnis und zur Auswirkung helfen.“ 407 Walter (1936), S. 35. 408 Walter (1936), S. 47. 409 Walter (1936), S. 39; vgl. ebenda, S. 41. 410 Walter (1936), S. 40. 411 Walter bearbeitete die Teile über „Die Frau in der Landwirtschaft Ost- und Norddeutschlands“ und „Mitteldeutschland, dargestellt an der Provinz Sachsen“. 412 Vgl. Kisker (1939).
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Zu den Autorinnen des Sammelbandes „Die Frau in der deutschen Landwirtschaft“ gehörten neben Toni Walter und Ida Kisker413 auch Lucie Roeske414 und Marie Berta von Brand (1899–1977).415 In den Beiträgen geht es um die Auswirkungen der NS-Agrarpolitik, insbesondere der des Reichsnährstands, und um die Auswirkungen der Einführung des weiblichen Pflichtjahrs (durch eine Anordnung vom 15. Februar 1938) auf die landwirtschaftliche Frauenarbeit. Der Anlass für die Untersuchung und die Diskussion um die agrarpolitischen Maßnahmen seit 1933 bildeten die Ergebnisse einer Erhebung des Reichsnährstands über die Entwicklung des ländlichen Arbeitseinsatzes von 1933 bis 1938, die indirekt die NSLandwirtschaftspolitik in Frage stellten, denn sie belegten, dass die in der Landwirtschaft arbeitende Bevölkerung seit Beginn der NS-Zeit stark zurückgegangen war und sich die Lage der Landarbeiterinnen und ihrer Familien enorm verschlechtert hatte.416 Die Autorinnen des Sammelbands äußerten in ihren Beiträgen jedoch keine grundlegende Kritik an der nationalsozialistischen „Bauernpolitik“. Bei den empirischen Analysen ging es ihnen um eine Bewertung der Wirksamkeit der sozialpolitischen Gesetzgebung und um die Kritik daran. Diese Vorgehensweise entsprach der Tradition der Historischen Schule der Nationalökonomie und ihrem akademischen Lehrer Max Sering wie auch der Vorgehensweise von Gertrud Dyhrenfurth; eine grundlegende Kritik am politischen System war dabei nicht vorgesehen. Die Beiträge sind weitgehend in einem sachlichen Duktus verfasst, ihre Haltung zur NS-Agrarpolitik ist indifferent bis zustimmend. Deren Ziel, die Umgestaltung Deutschlands zum Agrarland, kam den Vorstellungen von Sering und der Autorinnen entgegen. Sie erhofften sich die Durchsetzung einer ländlichen Sozialpolitik sowie die gesellschaftliche Aufwertung und Anerkennung landwirtschaftlicher, bäuerlicher Arbeit. Die Autorinnen distanzierten sich nicht nur nicht von der NS-Politik, zum Teil sind ihre Berichte auch durch die Übernahme nationalsozialistischer Raum- und Rasseideologie gekennzeichnet.417 Im Gegensatz zum deutschen Landfrauenbuch und den gleichgeschalteten landwirtschaftlichen Wochenblättern, die das Bild einer glücklichen und von ihrer Arbeit erfüllten Bäuerin zeichneten, wiesen die Autorinnen jedoch auf die weiterhin bestehende schlechte Situation der Bäuerinnen und einen möglichen Zusammenhang
413 Kisker promovierte 1911 an der Universität Heidelberg mit der Dissertation „Die Frauenarbeit in den Kontoren einer Großstadt. Eine Studie über die Leipziger Kontoristinnen“. 414 Vgl. Boedeker (1937), S. 115, Eintrag 1468. Roeske promovierte 1924 an der Universität Jena mit der Dissertation „Die Landfrauen des Artlandes im wirtschaftlichen und sozialen Leben“. 415 Die Kapitel von Brand und Roeske sind aktualisierte und gekürzte Fassungen ihrer Dissertationen. Brand promovierte 1933 an der Landwirtschaftlichen Hochschule Hohenheim zum Thema „Die wirtschaftliche und kulturelle Lage der Bäuerin auf den Fildern“, vgl. Fellmeth/Hosseinzadeh (1998). 416 Vgl. Becker, Heinrich (2005), S. 181. 417 Vor allem Brand übernahm in ihrem Beitrag „Die Landfrau im Reichsnährstand, im weiblichen Bildungswesen, in der Rechtsordnung“ das nationalsozialistische Bild der Bäuerin, vgl. Brand (1939a), S. 2.
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mit der NS-Agrargesetzgebung hin.418 Das von ihnen dokumentierte unattraktive Leben der Bäuerinnen stand im Widerspruch zu dem vom NS-Regime und insbesondere von Walther Darré propagierten Bild. Für Darré war die Bäuerin, die auf dem Feld arbeitete, sich um den Acker und das Geflügel kümmerte, kochte, ihr Haus sauber hielt und zahlreiche starke, gesunde Kinder gebar, der Inbegriff des nationalsozialistischen Mutterideals.419
3.2.4 Das weitere publizistische Werk Bei Gertrud Dyhrenfurths Publikationsliste fällt auf, dass sie sich bei ihren Veröffentlichungen, anders als Elisabeth Gnauck-Kühne, auf ihre beide Arbeitsschwerpunkte, die Heimarbeiterinnen und die soziale Lage der weiblichen Arbeiterschaft in ländlichen Regionen, konzentrierte und sie fast ausschließlich in Fachzeitschriften publizierte. Das war eine bewusste Entscheidung Dyhrenfurths, wie ein Briefwechsel mit Gnauck-Kühne aus dem Jahr 1911 zeigt. Die beiden Freundinnen hatten sehr unterschiedliche Vorstellungen darüber, wie sich sozialpolitische Forderungen am besten durchsetzen ließen. Dyhrenfurth verstand ihre Arbeit wesentlich stärker als Gnauck-Kühne als Politikberatung im Schmoller’schen Sinne und setzte auf die Überzeugungskraft wissenschaftlicher Argumentation. Im Gegensatz zu Gnauck-Kühne veröffentlichte sie bevorzugt in der überwiegend von den Beamten gelesenen Zeitschrift „Sozialen Praxis“ und hoffte, auf diesem Weg die gesetzgebenden Gremien in ihrem Sinne beeinflussen zu können.420 Für Gnauck-Kühne dagegen machte es mehr Sinn, öffentlichen Druck zu erzeugen, wenn es darum ging, ihre Forderungen durchzusetzen. Sie versuchte deshalb, die breite Masse durch populärere Darstellungen für sozialpolitische Anliegen zu sensibilisieren und zu mobilisieren. Der von Dyhrenfurth gewählte Weg, über die Zeitschrift „Soziale Praxis“ „an die Geheimratsschreibtische heranzukommen“, schien Gnauck-Kühne wenig erfolgsversprechend, da deren Lesern die sozialen Probleme bereits bekannt seien.421 Gnauck-Kühne forderte ihre Freundin auf, bereits veröffentlichte wissenschaftliche Artikel umzuschreiben und bildlich auszuschmücken, um sie dann in Tageszeitungen zu veröffentlichen: „Erzählen sie doch von Ihrer Fahrt nach England. – Ihr köstlicher Humor könnte dabei ausfließen, der ja in Ihren wissenschaftlichen Essays selbstredend nie zutage tritt. (…) Dann
418 Lovin (1986), S. 110; Meyer-Harter (1999), S. 102–105. 419 Rupp (1977), S. 378. Mit der zunehmenden „Landflucht“ von Frauen gab es allerdings auch in nationalsozialistischen Zeitschriften und Büchern vereinzelt Darstellungen, die die schlechte Situation der Frauen auf dem Land thematisierten, vgl. Lovin (1986), S. 116f. 420 Dyhrenfurth an Gnauck-Kühne am 21. November 1911, in: Archiv des KDFB, Nachlass Gnauck-Kühne, 1–106–5. 421 Gemeint ist der Artikel „Die Entwicklung der englischen Trade-Boards“ (Dyhrenfurth 1910a). Die „Soziale Praxis“ war die Zeitschrift der Gesellschaft für soziale Reform und galt als das führende Organ der praktischen Sozialreform in Deutschland.
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II Die Autodidaktinnen schildern Sie das in Farben, malen mit Worten – wie die Frauen am Feuer stehen – wie es loht – ihre Gesichter und entblößten Arme in Glut taucht – wie die Muskeln arbeiten – so wird’s für die Tagespresse, diese große, große Macht.“422
Dyhrenfurth ist dieser Aufforderung nie nachgekommen; bis zum Ersten Weltkrieg erschienen ihre Artikel zur Heimarbeiterinnenfrage weiterhin überwiegend in der „Sozialen Praxis“ und in den „Jahrbüchern für Nationalökonomie und Statistik“. Nach dem Ersten Weltkrieg war sie – bedingt durch die Konzentration auf ländliche Fragen – fast ausschließlich in Zeitschriften aus dem Umfeld der ländlichen Reformbewegung(en) und der Landfrauenorganisationen vertreten, wie „Das Land“, „Die Gutsfrau“ und „Land und Frau“. Für Dyhrenfurth waren diese Zeitschriften ein wichtiges Forum, in dem sie für ihre sozial- und bildungspolitischen Vorstellungen werben und sie zur Diskussion stellen konnte. Die Rolle einer sozialpolitischen Expertin und Wissenschaftlerin verließ sie dabei nicht, wie ihre Beiträge für die massenkompatible Zeitschrift „Land und Frau“ zeigen; keiner von Dyhrenfurths Artikeln beschäftigte sich mit den für diese Zeitschrift typischen praktischen hauswirtschaftlichen und landwirtschaftlichen Fragen. Selbst ihr kleiner Beitrag für die Rubrik „Fragekasten“ war kulturell-pädagogischer Art: Sie machte den Leserinnen Vorschläge für Theaterstücke, die sich zur Aufführung bei ländlichen Gemeindeabenden eigneten.423 Bis 1912 veröffentlichte Dyhrenfurth fast ausschließlich zur sozialen Lage und der Organisierung von Heimarbeiterinnen, zur Gewerkvereinsbewegung in England, zur englischen und australischen Heimarbeiterschutzgesetzgebung und zu englischen Sozialforscherinnen, Sozialpolitikerinnen und Gewerkschafterinnen. Nach Beginn der Enquete „Frauen in der Landwirtschaft“ 1912 ging es in ihren Artikeln um Konzepte der Wohlfahrtspflege und der Bildung, die zur Entwicklung des ländlichen Raums und zur Verbesserung der sozialen Lage der ländlichen Arbeiterschaft beitragen sollten, und um deren Umsetzung in den ländlichen Regionen. Dyhrenfurth beschäftigte sich mit der Schul- und Berufsbildung der Jugendlichen auf dem Land, mit dem Arbeiterinnen- und Kinderschutz in der Landwirtschaft und mit ländlichen Eigenheimen. Sie beteiligte sich an Diskussionen über die Modernisierung des landwirtschaftlichen Haushalts sowie über die Einrichtung und Systematisierung sozialer Frauenberufe in der ländlichen Wohlfahrtspflege. Auch beim Themenfeld Frauen in der Landwirtschaft griff Dyhrenfurth internationale Entwicklungen auf. Zu Beginn der Weimarer Republik stieß sie beispielsweise in der Zeitschrift „Land und Frau“ eine Diskussion über die Rationalisierung und Modernisierung der Arbeitsausstattung und der Arbeitsabläufe der landwirtschaftlichen Haushalte an; ein Thema, das sie schon bei der Landarbeite-
422 Gnauck-Kühne an Dyhrenfurth am 23. November 1911, in: Simon, Helene (1929), S. 24f.; Dyhrenfurth an Gnauck-Kühne am 21. November 1911, in: Archiv des KDFB, Nachlass Gnauck-Kühne, 1–106–5. 423 Dyhrenfurth (1918c).
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rinnen-Enquete beschäftigt hatte. Dyhrenfurth erläuterte, wie durch den Einsatz moderner technischer Maschinen nach US-amerikanischem Vorbild der Arbeitsalltag der Frauen auf dem Land erleichtert werden könnte. In der Rationalisierung und dem Einsatz von Technik sah sie eine Chance, die Überlastung und die daraus folgende schlechte körperliche Verfassung der Landfrauen zu verringern. Die dadurch mögliche Erhöhung der Arbeitsleistung spielte in Dyhrenfurths Argumentation hingegen keine Rolle. In der Alltagspraxis der Kleinbäuerinnen setzten sich die von Dyhrenfurth und den LHV propagierten Arbeitserleichterungen jedoch kaum durch. Noch zu Beginn der 1930er Jahre stand der überwiegende Teil der deutschen Landfrauen den Empfehlungen zur Modernisierung und Rationalisierung der Hausarbeit und den technologischen Neuerungen eher misstrauisch als enthusiastisch gegenüber.424 Mit ihren Forderungen nach Bildung, Modernisierung und dem Abbau von sozialen Ungleichheiten in ländlichen Gebieten ging Dyhrenfurth sehr pragmatisch um. Wenn es um die Einführung und Verstetigung einer sozialen Infrastruktur auf dem Land ging, stellte sie ihre emanzipatorischen Ansprüche zurück, wie ihre Äußerungen zur Diskussion um Lehrkräfte für ländliche Kindergärten und Fortbildungsschulen zeigen. Nachdem eine Studie Ende der 1920er Jahre darauf aufmerksam gemacht hatte, dass es immer weniger „Kinderverwahranstalten“ (heute: Kinderhorte und Kindergärten) gab, weil die Personalkosten für ausgebildete Lehrerinnen die Güter finanziell zu sehr belasten würden, hinterfragte Dyhrenfurth diese Ergebnisse nicht, sondern schlug vor, auf die kostenintensiven ausgebildeten Kräfte zu verzichten und den Mangel durch nicht ausgebildete (bezahlte) oder ehrenamtliche Kräfte auszugleichen. Die Laienkräfte könnten durch kurze, von den Wohlfahrtsämtern finanzierte Schulungen auf die Arbeit vorbereitet werden. Ihre Bezahlung würde der einer besseren Hausangestellten entsprechen und könne durch den für die Betreuung der Kinder zu leistenden Beitrag finanziert werden.425 Dyhrenfurth setzte sich, wie ihre Artikel zeigen, für die Gestaltung einer systematischen Berufsordnung ein, mit der über die Schulpflicht hinaus die Schulund Ausbildung der ländlichen Arbeiter- und Unterschicht gewährleistet werden sollte.426 Wie eng in dieser Debatte Fürsorge- und Bildungsargumente mit Siedlungs- und nationalpolitischen Interessen verknüpft waren, zeigt ein Artikel Dyhrenfurths in der Vierteljahresschrift „Archiv für Innere Kolonisation“, die sich an ein männliches Fachpublikum aus Verwaltung und Ministerien richtete und in der Dyhrenfurth als Autorin eine Ausnahme bildete.427 Den Anlass für den Artikel
424 Dyhrenfurth (1918d; 1918e); vgl. Stieger (1922), S. 239f.; Jones (2005), S. 473f. 425 Dyhrenfurth (1929a). 426 Dyhrenfurth (1928). Zu Dyhrenfurths Verdienst um die landwirtschaftliche Berufsausbildung siehe Barchewitz (1932a). 427 Dyhrenfurth (1929e). Die Zeitschrift wurde von Heinrich Sohnrey gegründet und war später das Vereinsorgan der konservativ-reaktionären Gesellschaft zur Förderung der inneren Kolonisation.
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lieferte 1929 ein geplantes Gesetz zur Berufsausbildung, mit dem ein rechtlicher Rahmen für verschiedene Berufsgruppen geschaffen werden sollte und bei dem erneut die Landwirtschaft von den rechtlichen Regelungen ausschlossen wurde. Die fehlenden Ausbildungs- und Aufstiegsmöglichkeiten auf dem Land galten jedoch als Ursache für die Abwanderung der unverheirateten Landjugend von der Landwirtschaft in die Industrie. Für Dyhrenfurth schrieb das geplante Rahmengesetz die schichtspezifische Benachteiligung der jugendlichen ländlichen Arbeiter weiter fest, für die es bis dahin keine systematische Berufsausbildung gab. Sie forderte deshalb, dass die obligatorische Lehrzeit und die Gehilfenprüfung auch für die Landjugend rechtlich geregelt werde sollte sowie eine systematische Ordnung der Berufsbildung für alle jugendlichen Arbeitskräfte in der Landwirtschaft(aus Bauernfamilien und aus Landarbeiterfamilien). In ihrer Argumentation verknüpfte Dyhrenfurth bildungs- mit siedlungspolitischen Ideen und schlug vor, mit einer erfolgreich bestandenen Meisterprüfung das Anrecht auf eine „ländliche Heimstätte“ zu verknüpfen und die Absolventen mit einem Niederlassungsrecht zu belohnen. Damit hätten selbst die Besitzlosen die Möglichkeit, mit geringem Aufwand ein eigenes Haus zu erwerben.428 Vor allem Ende der 1920er Jahre bemühte auch Dyhrenfurth nationalpolitische Argumente bei ihren Forderungen nach staatlicher Förderung von siedlungspolitischen Maßnahmen. Dabei griff sie auf für diese Debatte charakteristische antipolnische und antislawische Ressentiments zurück. Sie rechtfertigte beispielsweise ihre Forderung nach zinslosen Darlehen zur Eigenheimfinanzierung trotz schwieriger Staatsfinanzen mit der Notwendigkeit, „die leeren Räume im Osten unbedingt auffüllen“ zu müssen, „damit das Slawentum ringsum sie nicht einzudrücken“ vermöge.429 In Dyhrenfurths Äußerungen zur Wohnungsfürsorge und Siedlungspolitik spiegeln die die zeitgenössischen Debatten und die an agrarromantische Vorstellungen anknüpfende Idealisierung von Eigenheim und Landleben wider. Dem Landleben wurden dabei Qualitäten zugeschrieben, die nach bürgerlichen Vorstellungen ein besseres und gesünderes Leben versprachen als das Leben in den Städten. Gerade das ländliche Eigenheim war für Dyhrenfurth ein Ideal von „geräumige[m] Wohnen in lichten, luftigen Räumen mit dem Auslauf ins eigene Gärtchen für die Kinder“. Eigenheime entsprachen nicht nur den Vorstellungen der bürgerlichen Kleinfamilie und förderten diese, sie waren auch eine Maßnahme zur Förderung des sozialen Aufstiegs der besitzlosen Arbeiterschaft, die zum Erhalt des sozialen Friedens beitragen sollte. Mit dem Entschluss zum Bau eines Eigenheims gewannen, so Dyhrenfurths Einschätzung, die Landarbeiter und ihre Familien ein motivierendes Lebensziel, das dazu führte, dass ihr
428 Dyhrenfurth (1929e), S. 164. 429 Dyhrenfurth (1929f). Zum nationalpolitischen Hintergrund und zur fremdenfeindlichen Ausrichtung der Siedlungspolitik siehe Mai (2002), S. 16–29. Zu den siedlungspolitischen Positionen der Kathedersozialisten siehe Baier (1980), S. 57. Zum Begriff der „Inneren Kolonisation“ siehe ebenda, S. 34–45.
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„gleichgültiges, oft mürrisches Wesen“ von einer „gestrafften, freudigen Haltung“ abgelöst wurde. In Dyhrenfurths Argumentation machte sich gegen Ende der Weimarer Republik der zunehmende Einfluss völkischer Ideologie und deren Vorstellung vom Land als „Jungbrunnen des Volkes“ bemerkbar.430 So beispielsweise wenn Dyhrenfurth davon sprach, dass sie mit den Eigenheimen, die sie in Jakobsdorf errichtet hatte, nicht nur ihren „Gutsleuten die Möglichkeit der Siedlung“ geben, sondern gleichzeitig „ein paar tüchtige, deutsche Familienstämme mit dem Land (…) verwurzeln“ wolle.431 3.3 Zwischenresümee Gertrud Dyhrenfurth hat, vor allem mit ihrer Rezeption der Erhebungsmethoden englischer Sozialforscherinnen, Impulse für die Sozialforschung bürgerlicher Frauen über Heimarbeiterinnen, Landarbeiterinnen und Bäuerinnen gesetzt. Innovativ und wegweisend waren insbesondere ihre Untersuchungen über die soziale Lage der in den ländlichen Regionen lebenden weiblichen Bevölkerung, die am Schnittpunkt von Agrarsoziologie, empirischer Sozialforschung, Nationalökonomie, Gemeindesoziologie und Frauenforschung entstanden. Sie markieren den Beginn der wissenschaftlichen Auseinandersetzung mit dem Thema „Frauen auf dem Land“ und der ländlichen Frauenforschung. Diese interessiert sich noch heute für die spezifischen Bedingungen und die spezifische Situation der auf dem Land lebenden Frauen im Vergleich zu den städtischen Verhältnissen.432 Mit ihren Untersuchungen leistete Dyhrenfurth auch einen frühen Beitrag zur Ungleichheitsforschung. Dabei interessierte sie sich sowohl für die soziale Ungleichheit zwischen Männern und Frauen als auch für die soziale Ungleichheit der verschiedenen Gruppen der in der Landwirtschaft arbeitenden Frauen. Indem sich ihr Erkenntnisinteresse auf die Frauen in der Landwirtschaft richtete, machte Dyhrenfurth die Lebens- und Arbeitsbedingungen einer doppelt benachteiligten Gruppe sichtbar. Diese Herangehensweise ist noch heute grundlegend für Untersuchungen über den ländlichen Raum. Mit der Konzentration auf „die Bäuerin“ war Dyhrenfurth maßgeblich an der Etablierung eines neuen Forschungsfeldes beteiligt. Während „die Bäuerin“ in hochindustrialisierten Ländern als Forschungsthema heute kaum mehr eine Rolle spielt, zieht sie in den agrarischen Entwicklungsländern auch heute noch das Interesse wissenschaftlicher und entwicklungspolitischer Auseinandersetzung(en) auf sich. Unter veränderten Fragestellungen bleibt
430 Zur Sichtweise des Bauerntums als „Jungbrunnen des Volkes“ und „Blutsquell der Rasse“ in der völkischen Bewegung und im Nationalsozialismus vgl. Mai (2002), S. 35–46. 431 Dyhrenfurth (1929f). 432 So z. B. Schimpf (1997).
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II Die Autodidaktinnen
die Situation von Frauen in der ländlichen Gesellschaft allerdings auch in Deutschland weiterhin forschungsrelevant.433 Mit der Frage nach den Motiven für die Binnenwanderung stellte Dyhrenfurth kollektive und individuelle Einstellungs-, Handlungs- und Verarbeitungsmuster von Frauen in den Mittelpunkt ihrer Analyse. Sie untersuchte, wie die Frauen den Strukturwandel der Landwirtschaft erfahren und wie sie darauf reagieren, wie sich die Rollenzuweisungen für Frauen in diesem Bereich ausweiten und verändern. Dem Anspruch der heutigen interpretativen Sozialforschung, der Erfassung „sozialer Realität“ aus der Perspektive der Handelnden, werden ihre Untersuchungen allerdings nur bedingt gerecht.434 Anders als der überwiegende Teil der männlichen Sozialforscher hatte sie zwar bei den Befragungen persönlichen Kontakt zu den Befragten, dennoch ist die von ihr beschriebene soziale Realität der Handelnden eine aus der Perspektive der bürgerlichen Interviewerinnen bewertete. Ein so umfangreiches Frauenforschungsprojekt wie die von Dyhrenfurth initiierte Landarbeiterinnen-Enquete war lange Zeit einzigartig und wurde erst zwei Jahrzehnte später unter der Leitung von Alice Salomon im Rahmen der Deutschen Akademie für soziale und pädagogische Frauenarbeit mit der Untersuchung über „Bestand und Erschütterung der Familie in der Gegenwart“ erneut in Angriff genommen.435 Die Landarbeiterinnen-Enquete verweist außerdem auf die Bedeutung des Ständigen Ausschusses zur Förderung der Arbeiterinnen-Interessen als institutionellen Rahmen für sozialpolitisch motivierte Forschung von Frauen, der auch umfangreiche empirische Erhebungen zum Thema Frauenarbeit ermöglichte. Wieso geriet Gertrud Dyhrenfurth also trotz dieser beachtlichen wissenschaftlichen Leistung und ihren sozialpolitischen Verdienste schon während der Weimarer Republik zunehmend in Vergessenheit? Wieso blieb ihr die disziplinäre Anerkennung, die Aufnahme in den Kanon verwehrt?436 Gertrud Dyhrenfurth und Elisabeth Gnauck-Kühne sind beispielhaft dafür, dass (Frauen-)Forschung Frauen um 1900 zwar die Tür zur Wissenschaft öffnete, sie aber gleichzeitig auf einen Zuständigkeitsbereich festschrieb, der infolge der wissenschaftlichen Arbeitsteilung randständig blieb. Selbst in den Veröffentlichungen von Förderern des nationalökonomischen Frauenstudiums wie Gustav Schmoller und Max Sering findet sich keine Spur von der Existenz der Arbeiten ihrer Schülerinnen. Sering erwähnte in der Einleitung zu „Die Frau in der deutschen Landwirtschaft“ mit keinem Wort die bereits vorliegende beachtliche Forschung von Frauen. Mit ihrer thematischen Festlegung auf Frauen in der Heimarbeit und der Landwirtschaft bot Gertrud Dyhrenfurth bereits während der Weimarer Republik
433 Siehe z. B. Schlude (2007) sowie den Überblick von Schmitt (2005). 434 Vgl. z. B. Schimpf (1997), S. 78f. 435 Zur Forschungstätigkeit der Deutschen Akademie für soziale und pädagogische Frauenarbeit siehe Kapitel III 3.2.2.2 der vorliegenden Arbeit. 436 In der Leseliste der „Sektion Land- und Agrarsoziologie“ der DGS werden beispielsweise nur Bidlingmaier (1990[1918]), Max Weber (1984[1892]) und Schnapper-Arndt (1975[1883]) als Beispiele für frühe land- und agrarsoziologische Studien angeführt.
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kaum noch Anknüpfungspunkte, weil sich die gesellschaftlichen und sozialen Probleme inzwischen anders gestalteten; ein Schicksal, das sie in begrenztem Maße mit ihrem Lehrer Sering teilte. Auch bei ihm führten die veränderte Schwerpunktsetzung der Volkswirtschaftslehre nach dem Zweiten Weltkrieg und der Bedeutungsverlust von Landwirtschaft und Siedlungswesen dazu, dass er fast nur noch in Fußnoten zur Kenntnis genommen wurde.437 Agrarsoziale Fragen spielten in der Forschung kaum noch eine Rolle, und damit gerieten auch die Gelehrten und Politiker, die sich mit diesen Fragen beschäftigt hatten, in Vergessenheit.438 Neben Sering gehörten hierzu auch die agrar- und siedlungspolitischen Studien von Max Weber; die Entwicklung von Nationalökonomie, empirischer Sozialwissenschaft, Soziologie und Agrarsoziologie nach dem Ersten Weltkrieg erschwerte deren Rezeption.439 Die mangelnde Attraktivität des eher unmodern und konservativ wirkenden Themas der „Bäuerin“ gehört zu den weiteren Gründen, weshalb sich auch die Frauen- und Geschlechterforschung bisher kaum für die frühen empirischen Studien über die Lebens- und Arbeitsbedingungen von Frauen in der Landwirtschaft interessiert hat. Anders als die Industriearbeiter entwickelte die Landarbeiterschaft kein revolutionäres Potential und versuchte nicht, in den Gang der Geschichte einzugreifen.440 Die ländliche Arbeiterschaft wurde selbst von Dyhrenfurth als politisch völlig lebloser Teil der Nation beschrieben, der hinsichtlich seiner Unterdrückung kein „Klassenbewusstsein“ entwickelt habe.441 In der Marx’schen Terminologie waren die Landarbeiter durch ihre gemeinsame Klassenlage zwar eine Klasse „an sich“, da ihnen aber gemeinsames Klassenbewusstsein fehlte und sie keinen „Klassenkampf“ führten, bildeten sie jedoch keine Klasse „für sich“.442 Wie bei den Heimarbeiterinnen, so machte Dyhrenfurth auch bei den Landarbeiterinnen nachvollziehbar, weshalb diese kaum Interesse zeigten, an einer Veränderung der gesellschaftlichen Machtverhältnisse auf dem Land mitzuwirken. Auch Dyhrenfurth wollte diese Machtverhältnisse nicht grundlegend ändern; mit ihrer Arbeit wollte sie jedoch zur Stärkung der Position von Frauen in ländlichen (und städtischen) Gesellschaften beitragen.
437 Stoehr (2002), S. 57. Sering wurde erst kürzlich im Zusammenhang mit der Aufarbeitung der NS-Siedlungspolitik und Agrarwissenschaft wiederentdeckt. 438 Tennstedt (1988), S. 525. Zu Dyhrenfurth erschienen nach ihrem Tod noch zwei Lexikoneinträge und zwei kurze Nachrufe, verfasst von ehemaligen Mitstreiterinnen aus der bürgerlichen Frauenbewegung und den ländlichen Frauenorganisationen, vgl. Velsen (1955); Lexikon der Frau (1953); Walter (1952); Consten (1955). 439 Zur Ausblendung der Land- und Agrarsoziologie aus der sich etablierenden Soziologie in der Weimarer Republik und zu deren Konjunktur im Nationalsozialismus siehe Becker, Heinrich (2005). 440 Schildt, Gerhard (1996), S. 2. 441 Dyhrenfurth (1906a), S. 149. „Das Bewusstsein für seine Klassenlage ist ihm [dem Landarbeiter] noch wenig aufgegangen, und wo er den Druck dieser Lage dumpf empfindet, entzieht er sich ihr schweigend durch Flucht vom Lande.“ 442 Schildt, Gerhard (1996), S. 2f. und S. 25f.
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II Die Autodidaktinnen
Gertrud Dyhrenfurth wandte sich mit ihren Arbeiten nicht an ein Massenpublikum, sondern an einen kleinen, exklusiven Kreis von SozialreformerInnen; das erschwerte eine breitere zeitgenössische Rezeption.443 Bemerkenswert ist, dass Dyhrenfurth nicht nur als Wissenschaftlerin und Sozialpolitikerin tätig war, sondern gleichzeitig auch als Sozialreformerin, Gutsbesitzerin und Landwirtin. Ausgehend von ihrer wissenschaftlichen Forschung realisierte Dyhrenfurth auf ihrem Gut – weitgehend im Alleingang – ländliche Reformkonzepte und überprüfte auf diese Weise die Praxisrelevanz ihrer Forschungsergebnisse. Das hob sie von anderen Wissenschaftlern ihrer Zeit – wie Gustav Schmoller, Max Sering oder Max Weber – ab und macht Gertrud Dyhrenfurth für die Geschichte von Frauen in der Wissenschaft auch heute noch relevant.
443 Die Auflage der monatlich (ab 1912 nur noch elfmal jährlich) in einer Stärke von 24 Bogen im Verlag Artur Glaue (Berlin) erscheinenden Zeitschrift „Evangelisch-Sozial“ betrug lediglich 1.800 Exemplare; die Mitgliedszahl des ESK blieb immer unter 2.000.
III DIE PROMOVENDINNEN 1 EMPIRISCHE SOZIALFORSCHUNG VON FRAUEN AM ENDE DES WILHELMINISCHEN KAISERREICHS 1.1 Rahmenbedingungen und Entstehungskontexte Als Rosa Kempf und Marie Bernays um 1908 ihre ersten Untersuchungen durchführten, hatten sich die Rahmenbedingungen für die empirische Sozialforschung von Frauen verglichen mit ihren Anfängen in den 1890er Jahren merklich verändert. Dies betraf vor allem den Zugang von Frauen zur höheren Bildung, denn nach 1900 hatten sich die Universitäten in den Ländern des deutschen Kaiserreichs sukzessive für das Frauenstudium geöffnet. In Baden konnten Frauen seit 1900 regulär studieren, in Bayern seit 1904 und in Preußen seit dem Wintersemester 1908/09. Anders als Elisabeth Gnauck-Kühne und Gertrud Dyhrenfurth konnten Rosa Kempf und Marie Bernays mit ihren empirischen Studien regulär promovieren. Wie viele ihrer Mitstudentinnen mussten sie, weil auch die Gymnasialbildung für Mädchen erst 1908 geregelt wurde, einen Umweg zum Studium nehmen. Sie absolvierten zuerst eine Lehrerinnenausbildung und mussten vor dem Beginn des Studiums noch die Abiturprüfung nachholen. Die Lehrerinnenausbildung stellte auch eine ökonomische Absicherung dar, denn die freiberufliche wissenschaftliche Arbeit brachte in der Regel kaum Verdienst.1 Wie ihre Vorgängerinnen waren Kempf und Bernays deshalb schon in „reiferen Jahren“ – worauf in der zeitgenössischen Literatur wiederholt hingewiesen wurde – und hatten jeweils bereits eine mehrjährige Berufserfahrung gesammelt, als sie anfingen zu forschen.2 Das soziale Interesse spielte bei Kempf und Bernays zwar weiterhin eine Rolle, mit den empirischen Studien, die sie als Dissertationen einreichten, wollten sie sich aber auch für einen weiteren Verbleib in Akademie und Wissenschaft qualifizieren. Die Nationalökonominnen, zu denen die beiden Sozialforscherinnen gehörten, waren die öffentlich präsenteste Gruppe von Wissenschaftlerinnen in der Zeit des Wilhelminischen Kaiserreichs, wohl auch deshalb, weil ihre wissenschaftlichen Beiträge am „greifbarsten“ waren.3 Wie Elisabeth Gnauck-Kühne und Gertrud Dyhrenfurth, die vor 1900 sozialwissenschaftlich geforscht hatten, arbeiteten die ersten promovierten Nationalökonominnen überwiegend zur Arbeiterinnen- und 1 2 3
Zur prekären beruflichen Situation der promovierten Nationalökonominnen vgl. Bernhard, Margarete (1912); siehe auch Förder-Hoff (1992); Huerkamp (1996), S. 282–287. Altmann-Gottheiner (1931); vgl. Lüders (1932a), Sp. 1161; Schöck-Quinteros (1998a). Bäumer (1914a), S. 157
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III Die Promovendinnen
Frauenfrage. Dabei griffen sie in ihren Studien neue Themenfelder auf; so wurden beispielsweise ab 1910 vermehrt Studien über die neu entstandenen „weiblich“ konnotierten Berufsfelder der Handelsgehilfinnen und der Verkäuferinnen durchgeführt.4 Schwer zu beurteilen ist, inwieweit die Festlegung auf „Frauenthemen“ den persönlichen Interessen der Nationalökonominnen entsprach, wie es in den zeitgenössischen Debatten meist angenommen wurde. Verfassten Studentinnen der Nationalökonomie Dissertationen zu allgemeineren und der sozialen Frage entfernteren Gebieten der Staatswissenschaft, wurde davon ausgegangen, dass diese Themen nicht ihren Interessen entsprachen und sie diese nicht selbst gewählt, sondern sich nach den Wünschen und Arbeitsschwerpunkten ihrer Professoren gerichtet hätten.5 Gertrud Bäumer bemerkte rückblickend, dass studierende Frauen es „in diesen Anfängen (…) selbstverständlich nicht ablehnen [konnten], auch solche spröden Gegenstände [wie Großhandelsversteigerungen] zu behandeln, wenn es von ihnen verlangt wurde“.6 Der öffentlichen Präsenz von Nationalökonominnen stand jedoch ein zunehmender Bedeutungsverlust sozialer Fragen in der Nationalökonomie gegenüber. Denn nach der Jahrhundertwende hatte die soziale Aufbruchsstimmung ihren Höhepunkt überschritten und es hatte eine „Flaute“ eingesetzt, die 1911 in sozialpolitischer Stagnation mündete.7 Der Zeitgeist hatte sich verändert und mit ihm das öffentliche Interesse. Schien sich um 1900 noch nahezu jeder für die soziale Frage zu interessieren, so war sie nach 1910 nur noch ein Problem unter vielen. Die Vertreter der jüngeren Historischen Schule der Nationalökonomie mit ihrer sozialpolitischen Schwerpunktsetzung verloren in der Nationalökonomie und im VfS ihre tonangebende Stellung. Kathedersozialisten wie Heinrich Herkner beklagten, dass viele der neuen und jüngeren Mitglieder kaum noch Interesse an sozialpolitischen Fragen zeigten und den VfS wohl am liebsten „in einen Verein gegen Sozialpolitik“ verwandeln wollten.8 1.2 Die Beteiligung von Frauen an den Auslese- und Anpassungsstudien des VfS Der VfS blieb dennoch bis zum Ersten Weltkrieg eine wichtige Institution für die empirische Sozialforschung von Frauen. Das zeigt u. a. die Enquete „Untersu-
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5 6 7 8
Zu den Arbeitsschwerpunkten der Frauen, die von 1906 bis 1936 an der Berliner Universität in Nationalökonomie promovierten, siehe Bertram (2008). Beispiele für solche Dissertationen sind Kisker (1911); Mende (1912); Reimann (1915); Sittel (1911). Es gab aber auch Studenten, die zu den neuen Frauenberufen wie „Verkäuferin“ und „Handlungsgehilfin“ promovierten, siehe z. B. Kern (1910); Potthoff (1910). Vgl. Boedeker (1937), S. VIII. Bäumer (1937), S. 587. Lindenlaub (1967), S. 419 und S. 423ff. Herkner (1923); vgl. Brentano (1931), S. 399f. Zum veränderten Selbstverständnis des VfS nach 1906 siehe Verein für Sozialpolitik (1910), S. 1; Gorges (1986), S. 411.
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chungen über Auslese und Anpassung (Berufswahl und Berufsschicksal) der Arbeiter in den verschiedenen Zweigen der Großindustrie“ (1909–1912; im Folgenden: Auslese- und Anpassungsstudien), in deren Rahmen sowohl die Dissertationen von Rosa Kempf und Marie Bernays als auch die von Dora Landé und weiteren Studentinnen entstanden. Daher sind die Auslese- und Anpassungsstudien nicht nur wegen ihres innovativen Beitrags zur empirischen Sozialforschung, sondern auch wegen der Einbindung von qualifizierten Studentinnen in das Forschungsprojekt interessant. Zu Recht gelten die Auslese- und Anpassungsstudien als der erste Ansatz einer systematischen empirischen Sozialforschung in Deutschland und wegen ihrer methodischen Herangehensweise als bedeutendste Enquete des VfS.9 Darüber hinaus belegen sie erneut die Bedeutung des VfS als außeruniversitäre Institution für die Entwicklung empirischer Forschung. Die vom VfS während der Zeit des Kaiserreichs durchgeführten Untersuchungen zeigen, dass er zur Ausweitung des empirischen Forschungsfelds und der empirischen Methoden entscheidend beigetragen hat. An den Untersuchungen lässt sich die Entwicklung der empirischen Forschung von einer „aktuell-politischer Reformorientierung“ zu Beginn des Kaiserreichs „hin zu einer wissenschaftlichen Erkenntnisorientierung“ verfolgen, die „auf eine strikte Scheidung von Sozialwissenschaft und Politik als Interessensbereiche und auf die Herausbildung einer arbeitsteilig abgegrenzten sozialwissenschaftlichen Fachexpertise“ abzielte und die sich im sogenannten Werturteilsstreit niederschlug.10 Während zu Beginn des Kaiserreichs die ethische Beurteilung der Daten zu einer methodischen Weiterentwicklung geführt hatte, so gehörte zur Weiterentwicklung des Methodenverständnisses des VfS nach der Jahrhundertwende der Versuch, die Vermengung von sozialpolitischer Praxis und Untersuchungstätigkeit aufzulösen.11 Das hat sich vor allem in den Auslese- und Anpassungsstudien niedergeschlagen, die sowohl wegen ihres Umfangs und ihrer methodischen Herangehensweise als auch aufgrund der Themenwahl zum Zeitpunkt ihrer Durchführung eine Ausnahmeerscheinung in der Arbeit des VfS darstellen.12 Die Besonderheit dieses Großprojekts des VfS bestand darin, dass die sozioökonomische Situation der ArbeiterInnen zwar eine Rolle spielte, das Erkenntnisinteresse sich jedoch vor allem auf die neuen Aspekte der industriellen Arbeit richtete. Verglichen mit den vorangegangenen Enqueten des VfS über die industrielle Entwicklung waren die Auslese- und Anpassungsstudien von einer stärkeren Beschäftigung mit den Problemen der Industrie und des Industriebetriebs gekennzeichnet, die den Betrieb als
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Demm (2000), S. 15; Kern (1982), S. 90; Gorges (1986), S. 467 und S. 486; Rummler (1984), S. 9; Scheuch (1978), S. 187; Heckmann (1979). Zur Entstehung, dem wissenschaftshistorischen Hintergrund und der Bedeutung der Studien siehe außerdem Frommer/Schluchter (1995), S. VII–X; Zwiedineck-Südenhorst (2000), S. 95. 10 Lutz/Schmidt (1977), S. 110. 11 Kern (1982), S. 15. 12 Zur Sozialforschung des VfS von 1905 bis zum Ersten Weltkrieg vgl. Gorges (1986), S. 442– 457.
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III Die Promovendinnen
soziales Gebilde und den menschlichen Faktor, d. h. die Realität nicht-ökonomischer Strukturen und Phänomene, bestimmen wollte. Diese neuen Aspekte versuchte Max Weber mit einer Verfeinerung der Methoden zu ergründen, die überwiegend in der Übertragung und Anwendung von Methoden aus der naturwissenschaftlich ausgerichteten Experimentalpsychologie von Wilhelm Wundt (1932– 1920) und Emil Kraepelin (1856–1926) bestand.13 Der Begriff „Beruf“ wurde nun in einem erweiterten Sinn verwendet; er bezeichnete ähnliche Tätigkeiten in einer Berufskategorie. Mit dem „Berufsschicksal“ war die berufliche Laufbahn der ArbeiterInnen gemeint: Wann hatten sie begonnen zu arbeiten? In welchen Berufssparten arbeiteten sie? Worin bestanden ihre beruflichen Tätigkeiten? Wie häufig wechselten sie die Arbeitsorte, die Firmen, die Arbeitsstellen innerhalb der Firmen? Die im Titel der Untersuchung verwendete Bezeichnung „Auslese und Anpassung der Arbeiterschaft“ war mit ihrer Bezugnahme auf den Sozialdarwinismus irreführend14, denn die Frage der „Vererbung“ der Berufsqualifikation im sozialdarwinistischen Sinne spielte keine Rolle bei den Auslese- und Anpassungsstudien. Es ging auch nicht um eine mechanistische Deutung der Arbeitskräfte wie bei der von Frederick W. Taylor (1856–1915) entwickelten „wissenschaftlichen Betriebsführung“, die darauf abzielte, ArbeiterInnen im Betrieb unter eine rationalisierte Kontrolle zu bringen.15 Mit den Begriffen „Auslese“ und „Anpassung“ sollte bei den Studien jedoch deutlich gemacht werden, dass naturwissenschaftliche bzw. experimentalpsychologische Methoden und Erkenntnisse mit einbezogen wurden und es um den prozesshaften Charakter der Entwicklung der Arbeitskräfte und ihrer Berufsverläufe ging, sowohl aus Sicht des Betriebs als auch aus der Perspektive der ArbeiterInnen.16 Mit der Enquete sollte untersucht werden, welche Anforderungen die Großindustrie an die intellektuellen und psychischen Fähigkeiten der Arbeiterschaft stellte und wie sich die Fabrikorganisation auf die Persönlichkeitsentwicklung der Arbeiter auswirkte. Der Hauptinitiator der Auslese- und Anpassungsstudien war Alfred Weber. Nach seiner Berufung an die Heidelberger Universität gelang es ihm, das Interesse seines Bruders Max für die Arbeit an einem größeren gemeinsamen Forschungsprojekt über das Berufsschicksal der Industriearbeiter zu wecken.17 Auf einer Sitzung des VfS im September 1907 wurde schließlich entschieden, dass eine solche Enquete unter der Leitung von Heinrich Herkner, Gustav Schmoller und Alfred Weber durchgeführt werden sollte und 10.000 Mark für deren Durchführung bewilligt.
13 Rummler (1984), S. 9. 14 Zum Sozialdarwinismus als „Grundlagenwissenschaft“ der wissenschaftlichen Betriebsführung industrieller Arbeit vgl. Ebbinghaus (1984), S. 191–195. 15 Schuster (1987), S. 227. Zu Taylor siehe Ebbinghaus (1984), S. 62–69. 16 Weber, Max (1912), S. 190; vgl. Schuster (1987), S. 479, Endnote 255. 17 Vgl. Weber, Marianne (1984[1926]), S. 367.
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Bei der Vereinserhebung arbeiteten Alfred und Max Weber nicht nur eng zusammen,18 sondern konnten bei dem Projekt auch beide ihre jeweiligen Forschungsinteressen verfolgen. Das Forschungsdesign wurde durch die „Methodologische Einleitung“ von Max Weber dargelegt, in der er auch die Fragestellung konkretisierte. Seine Einleitung umfasste außerdem einen Arbeitsplan, der festlegte, wie bei der Datenerhebung und Datenauswertung vorgegangen werden sollte, sowie den Fragebogenleitfaden. Die Anweisungen für die BearbeiterInnen waren bis ins kleinste Detail ausformuliert; so wurde beispielsweise darauf hingewiesen, dass beim Versand der Fragebogen adressierte und frankierte Rückumschläge beizufügen seien.19 Die Fragebogen sollten nicht durch die Arbeiter selbst, sondern von den BearbeiterInnen ausgefüllt werden.20 Die Durchführung des anspruchsvollen Forschungsprojekts gestaltete sich aber schwierig. Der Projektleitung gelang es trotz umfangreicher Bemühungen und trotz großzügiger Honorarangebote nicht, erfahrenere ältere volkswirtschaftliche Gelehrte für eine Mitarbeit zu gewinnen.21 Die Untersuchungen wurden daher überwiegend vom Nachwuchs deutscher, österreichischer und schweizerischer Universitätsseminare durchgeführt.22 Aufgrund der geringen Beteiligung musste auf die ursprünglich geplante systematische Verteilung der Erhebungen auf die verschiedenen Industriezweige verzichtet werden. Letztendlich wurden auch Studien herangezogen, die mehr oder weniger zufällig (etwa als Qualifikationsarbeiten in den Universitätsseminaren) entstanden waren. Viele besonders interessierende Industriezweige wurden gar nicht erforscht; mehrere Bearbeiter scheiterten bei ihrer Datenerhebungen am schlechten Rücklauf der Fragebogen. Entgegen der Anweisungen hatten viele Bearbeiter auf eine direkte Befragung verzichtet und stattdessen Tausende von Fragebogen direkt an Arbeiter verteilen lassen, mit der Aufforderung, diese ausgefüllt zurückzusenden. Von den 22 ursprünglich geplanten Untersuchungen wurden schließlich 18 realisiert; 1916 wurde die Enquete aus finanziellen Gründen für beendet erklärt.23 Es galt als Verdienst der beteiligten Studentinnen Rosa Kempf und Marie Bernays, dass das Großvorhaben nicht gänzlich scheiterte. Ihre Untersuchungen standen, von den Vorarbeiten Max Webers abgesehen, bei der Rezension und Re-
18 Weber, Marianne (1984[1926]), S. 329; vgl. Demm (2000), S. 14 und S. 40. 19 Weber, Marianne (1984[1926]), S. 344f.; Max Weber (1924[1908]). Zur Entstehung der Enquete sowie zum Arbeitsplan und den Fragebogen siehe Herkner/Schmoller/Weber (1910). 20 Gorges (1986), S. 458. Zur Konzeption und zur Kritik an der Enquete siehe ebd., S. 457–477. 21 Herkner/Schmoller/Weber (1910), S. XV; vgl. Hinrichs (1981), S. 93. 22 Bei Alfred Weber in Heidelberg, Lujo Brentano in München, Eugen Phillipovich (1858– 1917) in Wien, Gustav Schmoller und Max Sering in Berlin, Heinrich Dietzel (1857–1935) in Bonn, Heinrich Herkner in Zürich, Gerhart von Schulze-Gaevernitz (1864–1943) in Freiburg, Karl Bücher (1847–1930) in Leipzig und Eberhard Gothein (1853–1923) in Heidelberg. Zur regionalen und thematischen Verteilung siehe Schuster (1987), S. 219. 23 Vgl. die Übersichten zu den geplanten und abgeschlossenen Einzelstudien bei Rummler (1984), S. 194–196 und Schuster (1987), S. 217f.
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zeption der Auslese- und Anpassungsstudien im Mittelpunkt.24 Heinrich Herkner hob bei der Präsentation der Ergebnisse der Auslese- und Anpassungsstudien auf der Tagung des VfS 1911 hervor, dass der hervorragenden Mitarbeit der beiden Studentinnen „eine Fülle neuer Einsichten in die Verhältnisse der Arbeiterinnen“ zu verdanken sei, „und zwar so weitgehende Einsichten, wie sie“, so Herkner, „eben nur durch Frauen selbst“ hätten vermittelt werden können.25 Gleichzeitig wies er darauf, dass ein wichtiger Impuls für die Auslese- und Anpassungsstudien von der Untersuchung der badischen Fabrikinspektorin Marie Baum (1874–1964) über die „Drei Klassen von Lohnarbeiterinnen in Industrie und Handel der Stadt Karlsruhe“ (1906) ausgegangen sei.26 Baums Studie ist ein bemerkenswertes Beispiel für den damals bestehenden Austausch und die produktiven Wechselwirkungen zwischen Soziologie und Frauenbewegung. Baum gehörte zum Freundeskreis von Max und Marianne Weber; Max Weber hatte ihr die Stelle als Badische Fabrikinspektorin vermittelt. Bei den freundschaftlichen Treffen wurde vermutlich sowohl über ihre Studie als auch über die geplanten Auslese- und Anpassungsstudien diskutiert. In Baums fragebogengestützter Umfrage über die Arbeits- und Lebensbedingungen weiblicher Lohnarbeiter machte sich methodisch der wissenschaftliche Einfluss von bzw. der Austausch mit Vertretern des VfS bemerkbar. Für diese wiederum war die praxisorientierte Untersuchung Baums vor allem methodisch interessant. Inhaltlich ging es Baum allerdings um Themen, die die (männlichen) Mitglieder des VfS nicht interessierten: die Vereinbarkeit von weiblicher Erwerbstätigkeit mit Ehe und Familie, der Gesundheitszustand der Arbeiterinnen sowie die Ursachen der hohen Säuglingssterblichkeit. Baum griff in ihren Fragen auch tabuisierte Bereiche wie die körperliche Belastbarkeit der jungen Arbeiterinnen während der Menstruation auf.27 Die im Rahmen der Auslese- und Anpassungsstudien entstandenen wissenschaftlichen Arbeiten von Frauen fielen sehr unterschiedlich aus; nicht alle beteiligten Studentinnen waren gleichermaßen erfolgreich, wie etwa die im Seminar von Brentano entstandene Studie von Elise Herrmann (1885–19??) zeigt. Hermann, die ihre Erhebung in der Wollhutfabrik ihres Bruders durchführen wollte, hatte – aus heutiger Sicht wenig überraschend –große Schwierigkeiten beim Zugang zum Feld und bei der Datenerhebung. Beim ersten Anlauf musste sie ihre Befragung wegen des großen Misstrauens der Arbeiter abbrechen. Sie setzte ihre Befragung schließlich in einer anderen Fabrik fort, wo sie etwas erfolgreicher war. Ihre auf 224 Fragebogen, auf Gesprächen mit Arbeitern, Angestellten und der Firmenleitung sowie auf einer Auswertung der Lohnlisten basierende Arbeit geht jedoch nicht über eine quantitative Zusammenstellung des Materials hinaus.28 Da-
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Siehe z. B. Herkner (1912), S. 120; vgl. Schuster (1987), S. 219. Herkner (1912), S. 130. Herkner (1912), S. 117. Vgl. Baum (1906), S. 211. Zu Marie Baum, ihrer Verbindung zu Marianne und Max Weber und ihre Studie siehe Lauterer (1997; 2004). 28 Herrmann (1912).
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gegen war die im Seminar von Schmoller entstandene Dissertation von Dora Landé über die Arbeits- und Lohnverhältnisse in der Berliner Maschinenindustrie erfolgreicher. Landé, die wie Dyhrenfurth 1862 geboren wurde, war die älteste der an der Enquete beteiligten Studentinnen. Sie hatte nach einer Ausbildung zur Lehrerin als Übersetzerin und Journalistin gearbeitet und war bereits eine in der Arbeiterinnenfrage profilierte Expertin, als sie mit 48 Jahren im Oktober 1910 an der Berliner Universität promovierte.29 Für ihre Studie untersuche sie die Arbeits- und Lohnverhältnisse von ArbeiterInnen in 13 Mittel- und Großbetrieben der Berliner Maschinenindustrie. Neben einer direkten Befragung der ArbeiterInnen führte sie Expertengespräche mit Vertretern verschiedener Statusgruppen durch. In ihrem Ergebnisbericht reflektierte Landé in einem abschließenden Kapitel die Ergebnisse ihrer Untersuchung unter dem Aspekt der Entwicklung und Bedeutung der Frauenarbeit in der Maschinenindustrie.30 1.3 Der Werturteilsstreit und die Sozialforschung von Frauen Die Auslese- und Anpassungsstudien fielen in die Hochphase der als Werturteilsstreit bekannt gewordenen Auseinandersetzung, die im VfS als der wichtigsten Standesvereinigung der Nationalökonomen im Kaiserreich geführt wurde und die fast zur Spaltung des VfS geführt hätte. Der Streit brach 1905 auf der Generalversammlung des VfS in Mannheim aus, eskalierte 1909 in Wien und gipfelte Anfang Januar 1914 in der Werturteilsdiskussion des VfS. Bei der Vereinstagung 1911 war die Problematik zwar mehrfach angesprochen, jedoch zugunsten der Diskussion der Ergebnisse der Auslese- und Anpassungsstudien zurückgestellt worden.31 Die Frage nach dem Verhältnis von Methodenwahl und Werturteilsfreiheit wurde zwar schon seit Bestehen des VfS in der deutschsprachigen nationalökonomischen Presse intensiv diskutiert, im VfS war die Diskussion über diese Frage aber immer wieder aufgeschoben worden. Da die Verflochtenheit zwischen empirischer Sozialforschung und sozialpolitischem Engagement ein Charakteristikum der Enqueten des VfS war, rührte sie an dessen Selbstverständnis.32 Die Vertreter der sozialliberalen Richtung im VfS, wie Max und Alfred Weber, waren für eine Trennung von wissenschaftlicher Analyse und sozialpolitischer Wertung und nahmen damit eine gegensätzliche Position zur sozialkonservativen Richtung von Gustav Schmoller ein. Der zur älteren Generation gehören-
29 Landé (1910). Landé hatte 1903, noch mit einer zu diesem Zeitpunkt erforderlichen Ausnahmegenehmigung begonnen, Nationalökonomie, Geschichte und Philosophie an der Berliner Universität zu studieren. Von der Promotion erhoffte sie sich bessere Chancen in der Publizistik. Zur Promotion von Landé siehe Vogt (2007), S. 81. 30 Zu Landés Studie siehe Rummler (1984), S. 221f; siehe auch Bernays (1920a), S. 87. 31 Vgl. Boese (1939), S. 145–147; Gorges (1986), S. 477–486. 32 Nau (1996), S. 11. Zu den Debatten über die Werturteilsfreiheit in den Sozialwissenschaften bis in die 1960er Jahre siehe Albert/Topitsch (1979); Hennis (1994).
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III Die Promovendinnen
de Lujo Brentano, der schon seit den 1880er Jahren eine klare Trennung von Wissenschaft und Politik in wissenschaftlichen Untersuchungen gefordert und sich gegen Schmollers Richtung positioniert hatte, nahm eine Zwischenstellung ein. Zwar hielt auch Brentano eine (sozial)politische Stellungnahme für unabdingbar, anders als bei Schmoller erfolgte diese in seinen Arbeiten aber erst im Anschluss an die wissenschaftliche Analyse und damit getrennt von ihr. Der zur jüngeren Generation des VfS zählende Max Weber war derjenige, der sich mit seiner Forderung nach der Werturteilsfreiheit wissenschaftlicher Forschung (die über die Forderung Brentanos hinausging) am stärksten exponierte. Er war derjenige, der den als „Werturteilsstreit“ bekannt gewordenen Methodenstreit zwischen den Mitgliedern des VfS anstieß. Seinen Standpunkt legte Max Weber zuerst mit seinem Artikel über „Die Objektivität sozialwissenschaftlicher Erkenntnis“ (1904) dar. Der Artikel gab gleichzeitig die Programmatik der Zeitschrift „Archiv für Sozialwissenschaft und Sozialpolitik“ vor, an der Weber seit 1904 – seit dem Tod des Gründers Heinrich Braun – als Mitherausgeber beteiligt war und die als Organ einer modernen akademischen Nationalökonomie gelten kann. Der Werturteilsstreit eskalierte auf der Wiener Tagung des VfS 1909; Max Weber trat dort nicht nur für eine klare Trennung von Theorie und Praxis, von wissenschaftlicher Forschung, ethischer Bewertung und sozialpolitischen Forderungen ein, sondern griff gleichzeitig Schmoller und „seine“ ethische Schule der Nationalökonomie direkt an. Max Weber wertete die von Schmoller vertretene wissenschaftliche Forschung als unwissenschaftlich und als „Gesinnungs- und Tendenzwissenschaft“ ab, weil sie nicht dem Postulat der „Objektivität sozialwissenschaftlicher und sozialpolitischer Erkenntnis“ folge und weil sie Politik und Wissenschaft nicht wertneutral scheide.33 Wie einschneidend Max Webers Angriff auf Gustav Schmoller während der Wiener Tagung von ZeitgenossInnen wahrgenommen wurde, zeigen die pathetischen Erinnerungen des Schmoller-Schülers und Kathedersozialisten Robert Wilbrandt. Für ihn blieb nach der Wiener Tagung „nichts von dem, wofür man lebte“ bestehen; der „ganze Kathedersozialismus war“, so Wilbrandt, „plötzlich keine Wissenschaft mehr“.34 Mit der Forderung nach Werturteilsfreiheit war jedoch weder eine grundsätzliche politische Abstinenz von WissenschaftlerInnen noch eine gänzliche Absage an die Sozialpolitik gemeint. Max Weber selbst stand als Person sowohl für strenge Wissenschaftlichkeit als auch für das Eintreten für politische Ideale; eine Vermischung lehnte er aber als „unreinlich“ und „unerträglich“ ab. Als abschreckende Beispiele führte Weber meist Gustav Schmoller und den Historiker und Reichstagsabgeordneten Heinrich von Treitschke (1834–1896) an. Treitschke hatte aus Webers Sicht „vom Katheder aus nicht Wissenschaft gelehrt, sondern Propaganda getrieben“ und damit einen „verheerenden Einfluss
33 Vgl. z. B. Tönnies (1912); Wolf (1912). 34 Wilbrandt (1947), S. 341.
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(…) auf die akademische Jugend“ ausgeübt. „Schmollers mehr unbemerkte Kathedersuggestion“ fand Weber allerdings noch unerträglicher.35 Die Auslese- und Anpassungsstudien boten für Max Weber die Möglichkeit, seine Vorstellungen einer wertfreien empirischen Wissenschaft umzusetzen und sein Interesse an exakten Methoden arbeitspsychologischer Forschung zu verfolgen. In seiner methodologischen Einleitung versuchte er, eine Neubestimmung der Arbeit des VfS zu entwickeln. Der Verein trete, so Weber, „mit dieser Erhebung auf den Boden der ausschließlich wissenschaftlichen Zwecken dienenden Arbeit. Den beabsichtigten Publikationen und ebenso den möglicherweise sich daran anschließenden Erörterungen liegt jegliche unmittelbar praktische ‚sozialpolitische‘ Tendenz fern; ihr Zweck ist ein rein ‚sozialwissenschaftlicher‘.“36 Der Werturteilsstreit war ein Anzeichen für den disziplinären Umbruch in der Nationalökonomie. Die Bedeutung, die er gewann, wurde durch die „Krise des Historismus“37 möglich; die dabei verhandelten epistemologischen und methodologischen Probleme betrafen jedoch alle Geisteswissenschaften. Der Streit kann als ein Versuch der jungen, noch nicht etablierten Wissenschaften verstanden werden, ihre Grundpostionen in Abgrenzung zu den bestehenden Fächern zu bestimmen.38 Die Forderung, wissenschaftliche Forschung und ethisch-politische Wertung zu trennen, mündete 1909 in der Gründung der Deutschen Gesellschaft für Soziologie (DGS), die sich zur „reinen“ Wissenschaft bekannte und sich von der Praxisorientierung des VfS abgrenzte.39 Mehr als die Hälfte der Gründungsmitglieder kamen aus der Nationalökonomie. Den Unterschied zwischen dem VfS und der DGS veranschaulichte das Gründungsmitglied Ferdinand Tönnies (1855– 1936) mit einer Analogie: Anders als der Nationalökonom verhalte sich „der Soziologe“, so Tönnies, „nicht als Arzt, sondern als Anatom und Physiologe zu den Vorgängen im ‚sozialen Körper‘“, d. h. er sieht seine Aufgabe in der Analyse und nicht in gesundheitlichen Ratschlägen und der Heilung.40 Max Weber hoffte – allerdings vergeblich –, mit der Gründung der DGS eine Institution für umfangreichere empirische Forschungsvorhaben geschaffen zu haben. Seine Bemühungen um die Einheit von Soziologie und Sozialforschung blieben ohne Erfolg.41 Wie haben sich die Sozialforscherinnen in dieser Auseinandersetzung positioniert und welche Auswirkungen hatte sie auf die Sozialforschung von Frauen? Von den hier vorgestellten vier Nationalökonominnen schlossen sich drei – Elisa-
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Wilbrandt (1947), S. 339. Weber, Max (1924[1908]), S. 2. Bruch/Graf/Hübinger (1989), S. 9–24. Nau (1996), S. 13. Konkrete sozialpolitische Fragen fanden nach 1905 überwiegend Raum in Zeitschriften wie „Soziale Praxis“, dem Verbandsorgan der Gesellschaft für soziale Reform. Für die Fachdebatten waren neben dem „Archiv für Sozialwissenschaft und Sozialpolitik“ die „Vierteljahreshefte für Soziologie“ von Bedeutung. 40 Tönnies (1912), S. 7. 41 Rummler (1984), S. 240.
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III Die Promovendinnen
beth Gnauck-Kühne, Gertrud Dyhrenfurth und Marie Bernays – der DGS an, aber lediglich Bernays hat sich zum Werturteilsstreit etwas ausführlicher geäußert. Ein Artikel, in dem sie sich mit der Entwicklung der Nationalökonomie zur „reinen Wissenschaft“ befasst, lässt vermuten, dass sie weitgehend mit den Positionen Max Webers übereinstimmte. Bernays skizzierte die Entstehung der Nationalökonomie aus der Kameralistik, die zunächst noch eher „Kunst“ oder „Technik“ und weniger Wissenschaft gewesen sei. Zu einer „reinen Wissenschaft“ habe sich die Nationalökonomie erst nach der Jahrhundertwende durch sozialwissenschaftliche Tagungen und durch die Werturteilsdebatte entwickelt. Als Ergebnis dieser Entwicklung sei die Nationalökonomie, so Bernays, als Volkswirtschaftslehre nun wesentlich theoretischer und deshalb von Laien nicht mehr so leicht mit der mehr praxisbezogenen Sozialpolitik zu verwechseln.42 Gnauck-Kühne und vermutlich auch Dyhrenfurth verfolgten den Werturteilsstreit zwar mit großem Interesse, mischten sich jedoch öffentlich nicht ein.43 Im Gegensatz zu Bernays zeigte die Schmoller-Schülerin Gnauck-Kühne kein Verständnis für die Forderung nach einer Werturteilsfreiheit der Wissenschaft und lehnte diese ab.44 Welche Haltung Dyhrenfurth eingenommen hat, ist schwer einzuschätzen; die methodische Vorgehensweise ihrer Landarbeiterinnen-Enquete, die fast zeitglich mit den Ausleseund Anpassungsstudien durchgeführt wurde und an der mehrere Kathedersozialisten beratend mitwirkten, orientierte sich jedenfalls am bis dahin gültigen ethischen Vorgehen der Enqueten des VfS. Der „Werturteilsstreit“ stand in Zusammenhang mit der bereits weiter oben erwähnten größeren Methodendebatte, bei der es um die Frage nach wissenschaftlicher „Objektivität“ und um das Zurücktreten des wissenschaftlichen Selbst durch neue Beobachtungstechniken und Instrumente ging.45 Während sich vom „besonderen Blick“ der Frauen in den 1890er Jahren eine Weiterentwicklung und Bereicherung der Methoden erhofft und damit die Beteiligung von Frauen an der Sozialforschung begründet worden war, führte die Annahme einer geschlechterdifferenten Qualifikation nun zum Ausschluss der Frauen aus der „objektiven“ Wissenschaft. Für Max Weber und die Befürworter der Werturteilsfreiheit bedrohte sowohl die auf soziale Fragen und die sozialpolitische Parteinahme ausgerichtete Nationalökonomie als auch die besondere Herangehensweisen der Frauen den wissenschaftlichen Charakter des Fachs. Auch die Diskussion über die objektive und subjektive Kultur, die Georg Simmel und Marianne Weber zur selben Zeit führten, kann in diesem Zusammenhang gesehen werden.46 Marianne Weber
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Bernays (1913), S. 273. Vgl. Simon (1929), S. 138. Simon (1928a), S. 161. Zum wissenschaftlichen Selbst siehe Daston/Galison (2007), S. 191–202. Vgl. Wobbe (2004).
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sprach sich dabei mit Hinweis auf die subjektive Kultur gegen die Habilitation von Frauen aus.47 Eine akademische Laufbahn war für Frauen zu diesem Zeitpunkt allerdings schon rein formal kaum möglich, denn mit der Zulassung von Frauen zum Studium war das sogenannte „Habilitationsverbot“ erlassen worden, das bis 1919 galt. Die seit 1908 neu entstehenden Sozialen Frauenschulen, deren Gründung häufig von Protagonistinnen der bürgerlichen und konfessionellen Frauenbewegung initiiert wurde, wurden ein Tätigkeitsfeld für zahlreiche Wissenschaftlerinnen, die mit empirischen Untersuchungen promoviert hatten, denen aber ein weiterer Weg in Akademie und Wissenschaft versperrt geblieben war. Hierzu gehörten Rosa Kempf und Marie Bernays.
47 Vgl. Weber, Marianne (1919a[1904]); 1919b[1913]). Siehe dazu ausführlich Kapitel III 3.1.3 der vorliegenden Arbeit.
2 ROSA KEMPF (1874–1948)1 2.1 Frauenrechtlerin, Sozialwissenschaftlerin und Pädagogin Rosa Kempf war eine Sozialwissenschaftlerin und Pädagogin, die sich selbst als Frauenrechtlerin und Liberale bezeichnete und sich durch eine moderne und fortschrittliche Haltung auszeichnete.2 Es gab Wenige in der damaligen Zeit, die sich so deutlich wie Kempf für die Berufstätigkeit von Frauen aussprachen und sich für die Bildung und Ausbildung von Frauen einsetzten, unabhängig davon, ob es sich um Arbeiterinnen oder um bürgerliche Frauen handelte. Denn nur durch Bildung und Ausbildung, so Kempfs Überzeugung, konnten Frauen ökonomisch unabhängig werden, und das wiederum bildete das Fundament für ihre soziale Absicherung. Kempfs Motto, das sie auch ihren Schülerinnen mitgab, lautete: „Wer auf eigenen Füßen stehen kann, der kann in jeder Lebenslage stehen bleiben.“3 Rosa Kempf war wie Elisabeth Gnauck-Kühne stolz darauf, dass sie früh begonnen hatte, für ihren Lebensunterhalt selbst zu sorgen. Sie nahm in Kauf, dass sie mit ihrem selbstbewussten Auftreten, mit dem sie für frauenpolitische Anliegen eintrat und auch ihre eigenen Rechte einforderte, für Irritationen sorgte. So beispielsweise, als sie zu Beginn ihrer Arbeit als Direktorin des Frauenseminars für soziale Berufsarbeit in Frankfurt am Main den Schulvorstand aufforderte, sie zukünftig mit „Frau Kempf“ anzusprechen, weil ihr dieser Titel als Leiterin einer Mädchenschuleinrichtung nach den preußischen Richtlinien rechtlich zustand: „Darf ich Sie auch bitten, bei der Anrede ‚Frau‘ zu bleiben? Ich lege aus bestimmten Gründen Wert auf diese Anrede, und Sie selbst haben wahrscheinlich kein gegenteiliges Interesse. (…) einerlei, welches die Gründe für die Einführung (…), für die Bewegung um den Einheitstitel ‚Frau‘ sind, wichtig ist nur die Tatsache, dass dieses Recht besteht. Ich nenne nie eine Frau, die reiferen Alters ist und eine selbständige Position im Leben hat, aus freien Stücken ‚Fräulein‘, da mir diese Anrede höchstens für Backfische zu passen scheint. Ich glaube es macht Ihnen keine besonderen Unannehmlichkeiten diesem meinem Wunsche entgegenzukommen.“4
Mit der Begründung ihrer Forderung machte Kempf auf die implizite Diskriminierung von Frauen aufmerksam, die in der Bezeichnung „Fräulein“ für ältere unverheiratete Frauen zum Ausdruck kam. Das Selbstbewusstsein, mit dem sie ihre Forderung vorbrachte, war charakteristisch für die erste Generation von Akademikerinnen, die als Bahnbereiterinnen daran gewöhnt waren, dass es neben Sach-
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Das Kapitel zu Rosa Kempf ist in gekürzter und abgeänderter Form in der Festschrift zum hundertjährigen Jubiläum der Ausbildung für soziale Berufe in Frankfurt am Main erschienen, siehe Keller (2014). Kempf (1933a), S. 306f. Kempf (1931a), S. 94. Kempf an Frau Direktor Rössler am 10. Oktober 1913, in: IfS FFM, Vereine V 6, Nr. 11.
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kenntnis auch eine enorme Portion Zähigkeit und Durchsetzungsvermögen nötig war, um frauenpolitische Ziele und Schwerpunkte in die öffentliche Diskussion einzubringen und gegen bestehende Widerstände durchzusetzen.
2.1.1 Familie und Lehrerinnenausbildung Über Rosa Kempfs Kindheit und Jugend ist nur wenig bekannt. Sie wurde am 8. Februar 1874 als drittes und jüngstes Kind von Jakob Kempf (1839–1909), einem praktischen Arzt, und Emma Kempf, geb. Falciolla (1845–1909) in Birnbach, einem Dorf in Niederbayern, geboren. Sie selbst beschrieb die Region, in der sie aufwuchs, rückblickend als „eine kulturell weit zurückgebliebene Gegend kleiner und mittlerer Bauern und mit einiger Heimindustrie“.5 Ihre Familie war katholisch; sie war bürgerlich, aber nicht wohlhabend. Ihr Vater, ein ehemaliger Militärarzt, verdiente den Lebensunterhalt der Familie als Landarzt in wechselnden Gemeinden Niederbayerns. Bedingt durch seine Arbeit wechselte die Familie mehrfach den Wohnsitz. Von Birnbach zogen sie nach Pfarrkirchen im Rottal und von dort aus nach Trostberg in Oberbayern. Zuletzt wohnte die Familie in Oberviehtach in der Oberpfalz, wo Rosa Kempfs Vater eine Stelle als stellvertretender Bezirksarzt angetreten hatte. Ihre Mutter war Hausfrau, arbeitete aber – und das war ungewöhnlich für bürgerliche (Ehe-)Frauen der damaligen Zeit – 32 Jahre lang ehrenamtlich für die Frauenvereine des Roten Kreuzes, die in ländlichen Regionen ähnliche sozial-karitative Funktionen übernahmen wie die VFV, aus denen sie hervorgegangen waren.6 Die ehrenamtliche Arbeit erweiterte den Handlungsspielraum von Emma Kempf und trug zu ihrer sozialen Absicherung bei, denn sie erwarb sich dadurch einen wenn auch geringen Rentenanspruch. Trotz ihrer bescheidenen finanziellen Möglichkeiten scheint es Rosa Kempfs Eltern wichtig gewesen zu sein, dass nicht nur der Sohn, sondern auch die beiden Töchter eine Ausbildung erhielten. Hedwig (18??–19??), Rosa Kempfs ältere Schwester, besuchte ein Lehrerinnenseminar und unterrichtete ab 1909 als königlich-bayerische Lehrerin in Mailand. Rosa Kempfs älterer Bruder Anton (1872– 1945) durchlief nach seinem Jurastudium eine Amtslaufbahn im bayerischen Justizwesen; zuletzt war er Amtsgerichtsrat in München.7 Auch Rosa Kempf beschritt wie ihre Schwester den Weg der Lehrerinnenausbildung. Im Alter von 14 Jahren besuchte sie zunächst eine Präparandenschule, die erste Stufe der Volksschullehrerinnenausbildung, die auf das anschließende Lehrerinnenseminar vorbereite. Im Juni 1892 schloss Rosa Kempf das Münchner Lehrerinnenseminar ab und arbeitete seitdem als Volksschullehrerin an verschiedenen staatlichen Schulen. Bis Februar 1896 unterrichtete sie an der Dorfschule Wolfakirchen in Nieder-
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Lebenslauf Rosa Kempf, in: UAM, M II 34, Promotionsakte Rosa Kempf. Zu Rosa Kempfs Eltern vgl. Reining (1998a), S. 23. Vgl. StArchM, PA 20098, Personalakte Anton Kempf.
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III Die Promovendinnen
bayern, danach in München. Im Oktober 1896 legte sie die staatliche Prüfung für das Volksschulfach ab und wurde am 1. Januar 1900 in München in den Staatsdienst übernommen.8 Nachdem Bayern 1903 als zweites Land im Deutschen Reich Frauen das volle Immatrikulationsrecht an Hochschulen und Universitäten gewährt hatte, entschied sich Rosa Kempf zu studieren. Sie unterbrach vom 13. März bis 31. August 1905 ihre Arbeit im Schuldienst9 und holte das für die Immatrikulation notwendige Abitur nach. Ihre Entscheidung zu studieren begründete Kempf später damit, dass „der ausgedehnte Verkehr mit dem Volke“ durch die Arbeit als Lehrerin ihr „Interesse für soziale und volkswirtschaftliche Fragen“ geweckt habe.10
2.1.2 Studium in München Als sich Rosa Kempf im Wintersemester 1905/06 an der Ludwig-MaximiliansUniversität in München für die Fächer Philologie und Staatswissenschaften immatrikulierte, war die Atmosphäre an der Universität vermutlich nicht besonders frauenfreundlich. Denn bei einer Umfrage im Jahr 1903, ob Frauen zum Studium zugelassen werden sollten, gab es an der Münchner Universität dafür nur wenige Befürworter. Lediglich die Staatswirtschaftliche und die Geisteswissenschaftliche Sektion der Philosophischen Fakultät hatten dafür votiert. Die vier anderen Fakultäten und der Senat der Universität lehnten das Immatrikulationsrecht für Frauen ab. Sie begründeten dies u. a. mit dem angeblich zu erwartenden „übermäßigen Zudrang namentlich auch von Ausländerinnen“, womit sowohl Frauen aus den Ländern des Deutschen Reichs gemeint waren, in denen Frauen noch kein Immatrikulationsrecht hatten, als auch diejenigen, die keine deutsche Staatsbürgerinnen waren.11 Zu den Befürwortern des Immatrikulationsrechts für Frauen an der Universität München gehörte Lujo Brentano, der zum wichtigsten akademischen Mentor Kempfs wurde. Der aus einer großen und prominenten deutsch-katholischen Intellektuellenfamilie stammende Nationalökonom gilt als eine der „bekanntesten und schillerndsten Gelehrtenpersönlichkeiten in der Zeit des zweiten deutschen Kaiserreichs“.12 Brentano hatte nach einem Forschungsaufenthalt in England habilitiert und galt als Experte für die Situation der englischen Arbeiter und deren gewerkschaftlichen Organisationen. Der Lehrstuhl an der Staatswissenschaftlichen Fakultät der Universität München, den Brentano von 1891 bis zu seiner Emeritierung 1914 innehatte, war die letzte Station einer erfolgreichen Hochschullauf-
8 Vgl. die Personalakte Rosa Kempfs, in: StArchM, PA 13059. 9 Vgl. StArchM, PA 13059. 10 Kempf an das Institut für Gemeinwohl am 28. Januar 1913 (Bewerbungsschreiben), in: HWA, Abt. 15, Nr. 425. 11 Bußmann (1993), S. 40; vgl. Mazón (2002), S. 185–188. 12 Kraus (2000), S. 130.
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bahn. Brentano gehörte neben Gustav Schmoller und Adolph Wagner (1835– 1917) zu den Gründervätern des VfS und war der tonangebende Vertreter der liberalen Richtung des Vereins. Brentano gilt als einer der Väter der „Sozialen Marktwirtschaft“, ein Begriff, der allerdings erst nach Ende des Zweiten Weltkriegs geprägt wurde. Im Gegensatz zum staatsgläubigen Kathedersozialisten Schmoller sah Brentano die Lösung der sozialen Frage weniger im Eingreifen eines übermächtigen Staates, sondern „auf einer nicht primär vom Staat, sondern den kollektiven Vertragsparteien selbst bestimmten und damit wesentlich liberaleren Grundlage“.13 Der heute bekannteste und in seiner Zeit politisch einflussreichste Schüler Brentanos war der spätere Bundespräsident Theodor Heuss (1884–1963). Brentanos liberale Auffassung schlug sich auch im Umgang mit seinen Studierenden nieder, bei dem ihm wichtig war, alle gleich zu behandeln. 1931, als die nationalsozialistische Hetze bereits das Klima an den Universitäten vergiftet hatte, stellte er in seinem Lebensrückblick fest: „Ich habe es bei der Leitung des Seminars stets als selbstverständliche Pflicht erachtet, allen, die etwas lernen wollten, ohne Ansehen der Person, des Glaubensbekenntnisses, der Nationalität oder des Geschlechts gleichmäßig zu Diensten zu sein. Man scheint nicht an allen Universitäten sich so verhalten zu haben.“14
Die Beteiligung von Frauen an der Wissenschaft begründete Lujo Brentano, ähnlich wie Gustav Schmoller und der Brentano-Schüler Heinrich Herkner, mit Argumenten der Geschlechterdifferenz. Auch Brentano war davon überzeugt, „dass es Teile des wirtschaftlichen Lebens gibt, zu deren genauer Kenntnis und demgemäß zu deren wissenschaftlichen Erkenntnis wir nur mit Hilfe wissenschaftlich geschulter Frauen gelangen können“. Besonders geeignet hielt er Frauen für die Erforschung aller „Zweige des Wirtschaftslebens, in denen die Frauenarbeit eine Rolle“ spielt; ein Arbeitsfeld, an dem sich Frauen seines Erachtens auch gleichzeitig besonders interessiert zeigen würden.15 Brentano legte wie Schmoller seine Skepsis gegenüber der wissenschaftlichen Kompetenz von Frauen ab, nachdem er die Arbeiten von Beatrice Webb kennengelernt hatte. Brentano, der Webbs wissenschaftliche Brillanz bewunderte, übersetzte und veröffentlichte ihre Studie über die Genossenschaftsbewegung und machte sie damit für eine breitere Rezeption in Deutschland zugänglich.16 Brentano gehörte zu den Professoren, die die ersten Studentinnen wie Rosa Kempf unterstützten; das führte u. a. dazu, dass zwischen 1910 und 1913 verhältnismäßig viele Frauen am Staatswissenschaftlichen Seminar der Münchner Universität promovierten.17
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Nutzinger (2008); Kraus (2000), S. 139. Brentano (1931), S. 258. Brentano (1897). Vgl. das Vorwort Brentanos zu Webb (1893). Auf Brentanos Betreiben hin wurde Beatrice (und Sidney) Webb 1926 der Ehrendoktortitel der Staatswirtschaftlichen Fakultät der Universität München verliehen, siehe UAM, M–XI–64. 17 Vgl. Bergmeier (1997).
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III Die Promovendinnen
Wie Kempfs Studienalltag aussah und welche Vorlesungen und Seminare sie besuchte, lässt sich aufgrund fehlender Quellen nicht mehr rekonstruieren. Aus ihrer Personalakte als Lehrerin im bayerischen Staatsdienst lässt sich aber ersehen, dass sie, um ihren Lebensunterhalt und ihr Studium zu finanzieren, zunächst weiterhin als Lehrerin arbeitete. Erst als sie im Wintersemester 1908/09 mit der umfangreichen Datenerhebung für ihre Doktorarbeit über „Die jungen Fabrikmädchen in München“ begann, ließ sie sich vom Schuldienst beurlauben.18 Nach zehn Semestern promovierte Kempf 1911 im Alter von 37 Jahren mit der Gesamtnote „Summa cum laude“ zum Dr. rer. pol. bei Lujo Brentano, dem sie in ihrem Vorwort für seinen „Rat“ und seine „Förderung“ dankte.19 Brentano bewertete ihre Arbeit in seinem Gutachten als „wissenschaftlich und schriftstellerisch gleich hervorragend“.20 Kempfs Eltern erlebten die Promotion ihrer Tochter nicht mehr, sie waren 1909 im Abstand von nur wenigen Monaten gestorben. Bereits während ihrer Zeit als Lehrerin und auch während ihres Studiums war Rosa Kempf an die Strukturen der Frauen(bildungs)bewegung und der sozialen Reformbewegung angebunden. München war damals sowohl der Wohn- und Wirkungsort der tonangebenden Protagonistinnen des sogenannten „radikalen“ Flügels der bürgerlichen Frauenbewegung als auch eine Hochburg der sich nach 1900 formierenden katholischen Frauenbewegung. Kempf war Mitglied im Münchner Lehrerinnenverein und im Verein Frauenbildung-Frauenstudium; nach ihrer Immatrikulation trat sie in den studentischen Sozialwissenschaftlichen Verein ein und 1907 in den Verein studierender Frauen München. Der interdisziplinäre Verein verstand sich als Interessensvertretung der Studentinnen und unterstützte seine Mitglieder durch Angebote zum wissenschaftlichen Arbeiten, wie Übungen zur Diskussionsleitung und zur Vortragsgestaltung im Studienalltag.21 Als Frauenrechtlerin trat Kempf kurz nach Beginn ihres Studiums erstmals öffentlich in Erscheinung: Ab 1906 erschienen erste von ihr verfasste kurze Beiträge in Zeitschriften der bürgerlichen Frauenbewegung. Rosa Kempf war eine eigenwillige Persönlichkeit und war nicht bereit, ihre Überzeugungen zugunsten einer mehrheitlichen Position aufzugeben. Sie engagierte sich zwar in der Frauenbewegung, ordnete sich aber keinem Flügel zu und bewahrte stets einen kritisch-distanzierten Blick.22 Sie war couragiert und schreckte auch vor Auseinandersetzungen mit tonangebenden Protagonistinnen der bürgerlichen Frauenbewegung nicht zurück. Schon zu Beginn ihres Studiums griff sie in einem Artikel Marianne Weber an, nachdem diese die gesellschaftliche
18 Vgl. StArchM, PA 13059. Nach der Promotion war Kempf vom 1. März bis zum 1. November 1912 erneut als Lehrerin tätig. Zur Dissertation siehe Kapitel III 2.2.1 der vorliegenden Arbeit. 19 Kempf (1911), S. VIII. 20 Gutachten Lujo Brentano, in: UAM, M II 34, Promotionsakte Rosa Kempf. 21 StArchM, Pol. Dir. München, Akten 2707: Der Verein hatte im Sommersemester 1907 ca. 30 Mitglieder, im darauffolgenden Semester über 40. 22 Reining (2001), S. 149.
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Bedeutung des Frauenstudiums u. a. damit begründet hatte, dass es nützlich für die spätere Rolle als Ehefrau und Mutter sei. Für Kempf war diese Position, die auch von anderen Vertreterinnen des gemäßigten Flügels der bürgerlichen Frauenbewegung vertreten wurde, inkonsequent, denn sie bestätigte ihrer Meinung nach nur die Unterordnung der Frauen unter den Mann.23 Kempf war hingegen davon überzeugt, dass die „Frauenfrage“ nur durch die volle berufliche Gleichstellung der Frauen und die volle Berufstätigkeit auch von Ehefrauen und Müttern gelöst werden könne. Mit ihrer Art, die eigene Meinung nicht zurückzuhalten, scheint Kempf ihrem akademischen Lehrer Brentano ähnlich gewesen zu sein, für den die Auseinandersetzung mit Anderen eine Art Lebenselixier war.24 Nach Abschluss der Promotion arbeitete Rosa Kempf als freiberufliche Mitarbeiterin für ihren Doktorvater Brentano sowie für den bekannten Reformpädagogen und Münchner Stadtschulrat Georg Kerschensteiner. Zur Festschrift zum siebzigsten Geburtstag Brentanos trug Kempf einen Artikel über die Berufsarbeit der bäuerlichen Ehefrau bei.25 Dieser Beitrag belegt ihre Anbindung an Brentano und zeigt gleichzeitig die Anerkennung ihrer wissenschaftlichen Arbeit, denn Frauen waren – von wenigen Ausnahmen abgesehen – selbst bei den Befürwortern des Frauenstudiums kaum in deren Festschriften vertreten. Wie GnauckKühnes Beitrag in der Festschrift zu Schmollers siebzigsten Geburtstag, so war auch Kempfs Artikel der einzige, der sich mit einem „Frauenthema“ beschäftigte. Kempf stand außerdem in Kontakt mit dem Institut für soziale Arbeit (bis 1912: Abteilung für soziale Arbeit des Vereins für Fraueninteressen e. V.) und war 1910 Mitgründerin des Pädagogisch-Psychologischen Instituts (heute Akademie des Bayerischen Lehrer- und Lehrerinnenverbands). Die damals neuartige Fortbildungseinrichtung für Pädagogen wurde vom Münchner Lehrerverein, Professoren der Münchner Universität und Georg Kerschensteiner mit dem Ziel gegründet, ihren Mitgliedern Zugang zu neuen wissenschaftlichen Erkenntnissen der Pädagogik und Psychologie zu ermöglichen. Nach ihrem Studium galt Kempf zunächst als Expertin für die soziale Situation der jugendlichen Industriebeiterinnen und deren berufliche Bildung, wie ihre Vorträge und Veröffentlichungen aus dieser Zeit zeigen. Auf der Hauptversammlung des Verbands für handwerksmäßige und fachgewerbliche Ausbildung der Frau, bei der es überwiegend um Berichte aus der Berufspraxis ging, gab Kempf beispielsweise einen theoretischen Input, weshalb die Industrie an einer fachgewerblichen Ausbildung ihrer weiblichen Arbeiterschaft interessiert sein sollte.26 Ab 1912 begann Kempf sich zudem als Expertin für die ländliche Fortbildungsschule sowie für die strukturellen Bedingungen kleinbäuerlicher landwirtschaftlicher Frauenarbeit zu profilieren; Bereiche zu denen sie durch ihre Herkunft aus 23 Siehe hierzu Weber, Marianne (1906a; 1906b); Kempf (1906b; 1906c); vgl. Weyrather (2003), S. 55. 24 Nutzinger (2008). 25 Kempf (1916a). 26 Vgl. den Bericht von Bernays (1913b) sowie Kempf (1914b).
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dem ländlichen Niederbayern und die langjährige Arbeit als Lehrerin an Dorfschulen nicht nur einen persönlichen Bezug hatte, sondern in denen sie auch auf umfangreiche praktische Erfahrungen zurückgreifen konnte.27 Auf dem Deutschen Frauenkongress 1912 in Berlin referierte Kempf beispielsweise über „Probleme der landwirtschaftlichen Frauenarbeit im bäuerlichen Betrieb“ und über die Problematik ländlicher Genossenschaften.28 Bei diesem Kongress wurde Kempf vermutlich auch die Auswertung der regionalen bayerischen Teilstudie der Enquete über die „Frauen in der Landwirtschaft“ des Ständigen Ausschusses zur Förderung der Arbeiterinnen-Interessen übertragen.29 Kempfs Arbeit in diesem Bereich weist vielen Parallelen zur Arbeit Gertrud Dyhrenfurths auf, mit der sie punktuell auch zusammenarbeitete. Beide sahen sich als wissenschaftliche Expertinnen, die sich als Vermittlerinnen zwischen Stadt und Land für die Interessen der Frauen aus ländlichen Regionen stark machten.30 Der Hauptunterschied zwischen den beiden bestand darin, dass Dyhrenfurth vor allem die Situation der Frauen in den durch Großgrundbesitz geprägten Gebieten im Osten des Deutschen Reichs im Blick hatte, Kempf dagegen die durch kleinbäuerlichen Besitz geprägte Situation in Bayern. In ihren Artikeln und Vorträgen analysierte Kempf die strukturellen Bedingungen der landwirtschaftlichen Frauenarbeit in Bayern und machte mit ihrem empirischen Material deutlich, wie enorm die Arbeitsüberlastung der Ehefrauen und Töchter der Kleinbauern war. Diese Arbeitsüberlastung führte laut Kempf dazu, dass die Frauen bereits in der Mitte ihres Lebens „greisenhafte Züge“ aufwiesen.31 Mit Dyhrenfurth stellte Kempf „eine große Verbitterung der Bauersfrau“ fest und beklagte, „dass man an ihr achtlos vorbeigeschritten ist, dass für das Wohl des Viehes mehr geschehe, als für das ihrige“.32 Kempf forderte mit Dyhrenfurth, dass bereits erreichte sozialpolitische Errungenschaften wie der Wöchnerinnenschutz endlich auch in ländliche Verhältnisse übertragen werden sollten. Sie trat weiter für den Ausbau des ländlichen Fortbildungsschulwesens und für die berufliche Bildung der Landfrauen durch Vereine und Genossenschaften ein.33 Kempfs Forderungen nach einer genossenschaftlichen Aufklärung und nach genossenschaftlicher Selbsthilfe knüpften an die Konzepte von Hermann Schulze-Delitzsch (1808–1883) und FriedrichWilhelm Raiffeisen (1818–1888) an, „die für die Landwirtschaft Spar- und Hilfskassen schufen und dabei den Selbsthilfegedanken in den Mittelpunkt ihrer Überlegungen stellten. Die Selbsthilfe sollte den Bauern eine gewisse Unabhängigkeit
27 Siehe z. B. Kempf (1912d; 1912c; 1913a). Zu Kempfs Engagement für die Mädchenfortbildungsschule siehe Kapitel III 2.2.1.5 der vorliegenden Arbeit. 28 Kempf (1912g). 29 Kempfs Bericht erschien erst 1918, siehe Kempf (1918a). 30 Vgl. z. B. Kempf (1918b). 31 Kempf (1912g), S. 76. 32 Ichenhäuser (1914). 33 Kempf (1912g), S. 80 und S. 77.
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garantieren sowie auch dem Erhalt bäuerlicher Lebensweisen und Strukturen dienen.“34 Zwar bildete auch bei Kempfs Analysen die Frage, wie sich die Abwanderung aus den ländlichen Regionen verhindern ließe, der Ausgangspunkt, trotzdem stritt sie häufig ab, dass es ein solches Problem in Bayern überhaupt gab. Es ist irritierend zu lesen, wie in ihren ansonsten nüchternen und sachlichen Vorträgen und Aufsätzen hin und wieder ihr Lokalpatriotismus durchschlug, z. B. wenn es ihr wichtig schien darauf hinzuweisen, dass „die Landflucht in Bayern nicht existiere, weil die Bayern ihr Land lieben“35, oder wenn sie betonte: „Wir Bayern sind stolz darauf, das deutsche Bauernland par excellence zu sein.“36
2.1.3 Direktorin der Sozialen Frauenschulen in Frankfurt und Düsseldorf Rosa Kempf war noch mit einem nicht näher bezeichneten Arbeitsauftrag beschäftigt, den ihr Münchner Professoren übertragen hatten37, als Anfang 1913 das Institut für Gemeinwohl in Frankfurt am Main die auf sechs Monate befristete Stelle eines „wissenschaftlichen Assistenten“ ausschrieb, dessen Aufgabe der Aufbau und die Organisation eines Frauenseminars für soziale Berufsarbeit sein sollte.38 Kempf bewarb sich auf diese Stelle. Vermutlich reizte sie die damit verbundene Möglichkeit, aktiv an der Gestaltung einer Frauenbildungseinrichtung sowie an der Professionalisierung und Institutionalisierung sozialer Berufsarbeit mitwirken und dabei eigene Vorstellungen einbringen zu können. Kempf war nicht die einzige promovierte Nationalökonomin, die sich für die Arbeit als Direktorin oder Leiterin einer Sozialen Frauenschule entschieden hatte. Denn eine solche Tätigkeit stellte für hochqualifizierte akademisch gebildete und profilierte Frauen schon wegen der verschwindend geringen Aussichten auf eine akademische Laufbahn eine der wenigen Möglichkeiten für eine „geschlossene Aufgabe“ und „eine[r] auf wissenschaftlicher Arbeit aufgebaute[n] Lehrtätigkeit“ dar.39 Kempf hatte sich schon in München im Institut für soziale Arbeit engagiert und sich mit Artikeln in die Diskussion über die zukünftige Ausgestaltung der sozialen Ausbildungsgänge eingemischt. Sie hielt sowohl die berufliche Situation der Nationalökonominnen als auch die der Absolventinnen der Sozialen Frauenschulen 34 35 36 37
Reinicke (1998b). Ichenhäuser (1914). Kempf (1912g), S. 72. Vgl. Kempf an das Institut für Gemeinwohl am 23. April 1913, in: HWA, Abt. 15, Nr. 425. Bei dem Arbeitsauftrag handelte es sich vermutlich um Kempfs Studie über „Die Frau in der bäuerlichen Landwirtschaft Bayerns“, vgl. Kempf (1913a; 1913j). Diese Arbeit stand unter Umständen schon in Zusammenhang mit Kempfs Mitarbeit bei der Enquete über die „Frauen in der Landwirtschaft“, siehe Kapitel III 2.2.2 der vorliegenden Arbeit. 38 Kempf an das Institut für Gemeinwohl am 28. Januar 1913 (Bewerbungsschreiben), in: HWA, Abt. 15, Nr. 425. 39 Bäumer (1933), S. 306f.
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für problematisch, zum einen wegen der schlechten Bezahlung und zum anderen, weil es in beiden Fällen mehr Absolventinnen als Stellen gab. Kempf kritisierte die Soziale Frauenschule Berlin, weil deren soziale Ausbildungsgänge ihres Erachtens den Praxisanteil der Ausbildung zu wenig betonten. Dadurch entstand für Kempf die Gefahr, dass die Ausbildung an Sozialen Frauenschulen zu einer schnellen Alternative zum nationalökonomischen Frauenstudium würde und die Absolventinnen der Frauenschulen mit den promovierten Nationalökonominnen auf dem Arbeitsmarkt konkurrierten; dies sei vermeiden.40 Der mit der Stelle in Frankfurt verbundene Aufbau einer Sozialen Frauenschule war keine leichte Aufgabe, da der Sinn einer solchen Ausbildungsstätte vor Ort von vielen Seiten angezweifelt wurde. Vier Versuche einer Schulgründung waren bereits gescheitert. Es gab außerdem bereits ein Lehrangebot für Armenpflege und soziale Fürsorge an der Akademie für Sozial- und Handelswissenschaften, das nach der Gründung der Frankfurter Universität 1914 in einen Lehrstuhl für Fürsorgewesen überführt werden sollte.41 Der für das Lehrangebot zuständige Christian Jasper Klumker (1868–1942) war gegen die Einrichtung einer Sozialen Frauenschule, weil er eine theoretische Vorbildung für die praktische Soziale (Hilfs-)Arbeit für unnötig hielt. Ein weiterer Einwand war, dass es keine Stellen für die nahezu ausschließlich aus dem Bürgertum kommenden Absolventinnen geben würde, da die sozialen Vereine Wert darauf legten, ihr Personal – das sie aus der oberen Arbeiterschicht rekrutierten – selbst zu schulen.42 Dass überhaupt erneut eine Gründung versucht wurde, lag wohl an Wilhelm Merton (1848–1916), dem Gründer des Instituts für Gemeinwohl, und an dessen Stellvertreter, dem Sozialreformer Philipp Stein (1870–1932), die die Forderungen der lokalen Frauenbewegung unterstützten. Stein hielt eine Systematisierung und Professionalisierung der Sozialen Arbeit zur Verbesserung der sozialen Missstände für notwendig. An der Gründung des Trägervereins 1913 beteiligten sich – ähnlich wie in Berlin – Akteurinnen aus der Frauenbewegung, führende Persönlichkeiten der Frankfurter Wohlfahrtspflege, Vertreter kommunaler Behörden und städtische Honoratioren. Vorsitzender war der Zweite Oberbürgermeister der Stadt Frankfurt am Main, Hermann Luppe (1874–1945), dem Beirat des Vereins gehörten Stein, als Vertreter der Instituts für Gemeinwohl, Frauenrechtlerinnen und Vorkämpferinnen der kommunalen Arbeit für Frauen wie Jenny Apolant (1874–1925), aber auch Vertreter der Centrale für private Fürsorge wie Klumker an. Auf die ausgeschriebene Stelle hatten sich mehrere Frauen beworben; die Entscheidung fiel auf Rosa Kempf, nachdem die erste Kandidatin abgesagt hatte. Kempf hatte bei ihrer Vorstellung überzeugt und konnte sehr gute Referenzen von
40 Kempf (1912f), S. 4; vgl. Kempf (1912e), S. 11. 41 Der Lehrstuhl wurde, wie die Stelle der Direktorin des Frauenseminars für soziale Berufsarbeit, vom Institut für Gemeinwohl finanziert. 42 Protokoll der Sitzung des Instituts für Gemeinwohl vom 4. Januar 1913, in: HWA, Abt. 15, Nr. 240. Klumker war seit 1901 Geschäftsführer der Centrale für private Fürsorge in Frankfurt und seit 1903 Geschäftsführer des Instituts für Gemeinwohl.
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Lujo Brentano und Georg Kerschensteiner vorweisen.43 Kerschensteiner hatte in seinem Empfehlungsschreiben besonders ihre Tatkraft und Intelligenz herausgestellt und ihre Eignung für die ausgeschriebene Stelle betont. Er wies außerdem darauf hin, dass er Kempf für eine leitende Stellung in München empfehlen wolle, sobald die Neuordnung der obligatorischen Mädchenfortbildungsschule abgeschlossen sei.44 Beim Auswahlverfahren scheinen allerdings auch antisemitische Ressentiments eine Rolle gespielt zu haben, auf die „Rücksicht“ genommen wurde, denn Kempf erhielt die Stelle auch deshalb, weil sie „nicht Jüdin“ war.45 Die Rahmenbedingungen der Stelle, die Rosa Kempf am 20. Mai 1913, antrat waren äußerst prekär.46 Sie verdiente wesentlich weniger als im Schuldienst, und die Stelle war zunächst auf sechs Monate befristet. Da es keine Räume gab, musste Kempf ihre Wohnung als Büro nutzen. Trotzdem gelang es ihr innerhalb kürzester Zeit, ein Konzept für das geplante Frauenseminar für soziale Berufsarbeit zu entwickeln. Dabei ging sie systematisch vor: Sie machte sich zunächst mit den lokalen Verhältnissen vertraut und besichtigte danach bereits bestehende Soziale Frauenschulen in Berlin, Hannover, Elberfeld, Zürich, Worms und Düsseldorf. Für den Trägerverein fasste sie die Ergebnisse ihrer Besichtigungen in kurzen Berichten zusammen. Sie informierte ihn außerdem über die geplante Einrichtung einer Sozialen Frauenschule in Mannheim, die wegen der räumlichen Nähe möglicherweise eine Konkurrenz beim Wettbewerb um potentielle Schülerinnen darstellte.47 Abschließend verfasste Kempf ein Grundsatzpapier über die Ausgestaltung des Frauenseminars für soziale Berufsarbeit. Ihr Konzept unterschied sich in einigen zentralen Punkten von dem der anderen Sozialen Frauenschulen. In Frankfurt sollten die theoretische und praktische Ausbildung als Blöcke zeitlich getrennt und mit einer obligatorischen krankenpflegerischen Ausbildung, auf die Kempf besonderen Wert legte, kombiniert werden. So sollten die Absolventinnen bei vorübergehender Arbeitslosigkeit auf eine Erwerbstätigkeit im Krankenpflegebereich zurückgreifen können. Gleichzeitig wurde damit der praktische Aspekt der Ausbildung betont und die Ausbildung vom nationalökonomischen Frauenstudium abgegrenzt. Im Gegensatz zu anderen Sozialen Frauenschulen sollte Hauswirtschaft nicht in den Lehrplan aufgenommen werden, denn die hauswirtschaftliche Beratung gehörte für Kempf nicht zum Aufgabenbereich einer Sozial43 Institut für Gemeinwohl an Luppe, ohne Datum, in: HWA, Abt. 15, Nr. 425. 44 Empfehlungsschreiben von Georg Kerschensteiner vom 25. Februar 1913; Bewerbungsschreiben von Rosa Kempf vom 28. Januar 1913, in: HWA, Abt. 15, Nr. 425. Vgl. auch Biermann (1967). 45 „Ich habe dann auch noch mal meine Notizen über Frl. Dr. Kempf nachgesehen, sie ist nicht Jüdin, und die Auskünfte lauten alle sehr günstig. (…) Wenn wir uns auf sie verständigen könnten, wäre vielleicht allen geholfen und auch eine Mitarbeit wenigstens der Centrale [für private Fürsorge] möglich.“ (Luppe an das Institut für Gemeinwohl am 22. Februar 1913, in: HWA, Abt. 15, Nr. 42, Hervorhebungen im Original.) 46 Vgl. Kempf an das Institut für Gemeinwohl am 23. April 1913, in: HWA, Abt. 15, Nr. 425. 47 Kempf an Luppe am 15. Juni 1913, in: IfS FFM, Vereine V 6, Nr. 1; Reisebericht von Kempf für die Sitzung mit dem Institut für Gemeinwohl am 26. Juni 1913, in: ebenda, Nr. 18.
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beamtin oder Wohlfahrtspflegerin.48 Auffallend ist, dass Kempf in den von ihr aufgestellten Grundsätzen entgegen dem herrschenden Zeitgeist kein Wort über die den Frauen zugeschriebene „wesenseigene Mütterlichkeit“ verlor, die diese für die Soziale Arbeit besonders befähige. Obwohl ihre Vorstellungen sehr stark von denen des Trägervereins abwichen und vor allem ihr Beharren auf der Krankenpflege als wichtigem Baustein des Curriculums Widerspruch auslöste, konnte Kempf ihr Konzept durchsetzen.49 Sie konnte den Trägerverein sogar davon überzeugen, auf Kurse für die Schulung in ehrenamtlicher Wohlfahrtspflege zu verzichten, so dass anders als an der Sozialen Frauenschule Berlin in Frankfurt ausschließlich eine soziale Ausbildung als Erwerbsberuf angeboten wurde. Mit ihrer Zielstrebigkeit und ihrer Sachkenntnis verschaffte sich „Frau Doktor“, wie Kempf bald genannt wurde, innerhalb weniger Wochen die Anerkennung der wichtigsten Vertreter des Trägervereins.50 Es gelang ihr, sogar die größten Skeptiker vom Sinn und der Realisierbarkeit des Projekts zu überzeugen. Wie überzeugend Kempfs Auftreten gewesen sein muss, zeigt ein Bericht über ihre Präsentation: „Sie entwickelte bei dieser Gelegenheit ihre Grundsätze für die Einrichtung der Schule, die bei uns allen den Eindruck hinterließen, dass sie eine sehr sachkundige, zielbewusste Person ist, mit der man sich einverstanden erklären kann. In dem großen Kreise des Beirates des Vereins Frauenseminar erregten ihre Darlegungen zunächst einige Bedenken, bis sich alle Mitglieder nach und nach mit ihren Gedankengängen vertraut machten. Die Folge war ein völliger Umschwung in der Entwicklungsrichtung des Frauenseminars, von dem man nur sagen kann, dass er auch unbedingt notwendig war. Die früher vorliegenden Pläne litten an großer Unklarheit und dem Mangel an Rücksichtnahme auf die praktischen Bedürfnisse. (…) Ich glaube, dass das Schicksal des Vereins in nächster Zeit davon abhängen wird, ob es Frau Dr. Kempf gelingt, ihr Projekt durchzubringen. Ich selbst halte von ihrer Person und ihren Fähigkeiten sehr viel und glaube, dass sie das Seminar in mustergültiger Weise einrichtet.“51
Für die Umsetzung des Konzepts und Leitung des Frauenseminars für soziale Berufsarbeit erhielt Kempf, die sich von der bayerischen Schulbehörde bis auf weiteres hatte beurlauben lassen, einen Arbeitsvertrag mit einer Laufzeit von drei Jahren. Die Befristung wurde damit begründet, dass sie nach drei Jahren ohne weiteres in den Schuldienst zurückkehren könne, falls das Seminar wieder geschlossen werden musste. Organisatorischer Träger des Frauenseminars war der gleichnamige Trägerverein. Da Mitgliedsbeiträge, Schulgeld und Spenden die anfallenden Kosten nicht deckten, war das Frauenseminar auf die finanzielle Unterstützung der Stadt Frankfurt und des Instituts für Gemeinwohl angewiesen. Das Frauenseminar war nach der von Alice Salomon gegründeten Sozialen Frauen-
48 Siehe z. B. Kempfs (1929b) spätere ausführliche Begründung, weshalb die hauswirtschaftliche Ausbildung nicht zum Tätigkeitsfeld der Wohlfahrtspflegerin gehören sollte. 49 Vgl. z. B. Kempfs Bemerkung bei der Sitzung vom 5. Juli 1913: Vorschläge über die praktische Ausbildung, in: IfS FFM, Vereine V 6, Nr. 18. 50 IfS FFM, Vereine V 6, Nr. 14. 51 Polligkeit an Merton am 4. August 1913, in: HWA, Abt. 15, Nr. 421.
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schule in Berlin-Schöneberg die zweite nicht konfessionell gebundene Einrichtung dieser Art in Deutschland. Der erste Ausbildungskurs des Frankfurter Frauenseminars begann am 2. Januar 1914, ein halbes Jahr vor der Eröffnung der Frankfurter Universität. Voraussetzung für die Zulassung war eine mindestens zwölfmonatige pflegerische Ausbildung. Die dreistufige Ausbildung des Seminars begann mit einer zehnmonatigen theoretischen Fachklasse, in der das Grundlagenwissen in den für die Soziale Arbeit relevanten Fächern unterrichtet wurde. Hierzu gehörten Volkswirtschaftslehre und Wirtschaftspolitik, Staats- und Gemeindeverfassung, Armenrecht und Armenwesen, Jugendfürsorge und Vormundschaftswesen, Technik der Armenpflege und Jugendfürsorge, Organisation der sozialen Fürsorge, Bürgerliches Recht, Sozialversicherung, allgemeine und spezielle Fragen der Hygiene, Psychologie und Pädagogik. An den theoretischen Kurs schloss ein fünfmonatiges Praktikum in der offenen Fürsorge an, das vom Frauenseminar vermittelt wurde. Den Abschluss bildete eine dreimonatige Fortbildungsklasse, bei der das in der Praxis erworbene Wissen theoretisch aufgearbeitet und vertieft wurde.52 Wie der Lehrplan des Frauenseminars zeigt, legte Rosa Kempf großen Wert auf qualifizierte und renommierte DozentInnen; viele von ihnen lehrten auch an der Universität. Den Unterricht in „Armenrecht“ übernahm beispielsweise Christan Jasper Klumker, der anfangs gegen die Einrichtung des Frauenseminars gewesen war. Wilhelm Polligkeit (1876–1960), der Geschäftsführer der Centrale für private Fürsorge unterrichtete die „Praktische Einführung in die Organisation und Technik der sozialen Fürsorge“. Weitere Kurse übernahmen der Sozialwissenschaftler Karl Flesch (1853–1915), ein führendes Mitglied im Deutschen Verein für Armenpflege und Wohltätigkeit, sowie der sozialdemokratische Rechtswissenschaftler und Soziologe Hugo Sinzheimer (1875–1945). Gegen den Widerstand des Trägervereins setzte Kempf Gabriele Gräfin von Wartensleben (1870–1953) als Dozentin für den Themenbereich „Psychologische, ethische und pädagogische Fragen“ durch. Wartensleben, die zu den Begründerinnen der Gestaltpsychologie zählt, erhielt anschließend einen Lehrauftrag und unterrichtete mehrere Jahre Psychologie und Pädagogik am Frauenseminar für soziale Berufsarbeit. Zum Unterrichtsangebot des Seminars gehörten auch Exkursionen zu anderen Bildungseinrichtungen, wie z. B. an die 1910 eröffnete Odenwaldschule in HeppenheimOberhambach, einem der damals bedeutendsten reformpädagogischen Projekte. Mit dem Gründer der Odenwaldschule, Paul Geheeb (1870–1961), und dessen Frau Edith Geheeb-Cassirer (1885–1982) stand Rosa Kempf in freundschaftlichem Kontakt.53 Für Kempf war die Odenwaldschule vermutlich schon deshalb
52 Siehe z. B. den Bericht über die Tätigkeit des Frauenseminars für soziale Berufsarbeit vom 1. Juli 1915 bis 1. April 1917, in: IfS FFM, Vereine V 6, Nr. 372. 53 Bericht über die Tätigkeit des Frauenseminars für soziale Berufsarbeit vom 1. Oktober 1913 bis 1. Juli 1915, S. 11, in: IfS FFM, Vereine V 6, Nr. 37. Zu den persönlichen Kontakten zwischen Frauenbewegung und Reformpädagogik vgl. Schröder (2001), S. 267–272.
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interessant, weil dort u. a. Kerschensteiners Konzept der Arbeitsschule umgesetzt wurde.54 Wenige Monate nach Eröffnung des Frauenseminars für soziale Berufsarbeit begann der Erste Weltkrieg. Rosa Kempf, die sich in Frankfurt – wie schon in München – neben ihrer Tätigkeit als Schuldirektorin in Vereinen der Sozialreform- und Frauenbewegung engagierte55, war nach Kriegsausbruch in die lokale Arbeit des NFD eingebunden, etwa als Vertreterin des NFD in der städtischen Lebensmittelbeschaffungskommission.56 Im Rahmen des Frauenseminars errichtete sie ein „Tagesheim für arbeitslose Mädchen“, wie das in mehreren Städten bestehende Betreuungsangebot für nicht mehr schulpflichtige arbeitslose weibliche Jugendliche bezeichnet wurde. Die Tagesheime sollten dazu beitragen, Mädchen und jungen Frauen während der Arbeitslosigkeit eine Möglichkeit zur „geistigen und, so weit als möglich, beruflichen Fortbildung“ zu eröffnen.57 Das Angebot bestand aus einer Mischung von betreuten Freizeitaktivitäten und einer Art Berufsschulersatzunterricht, der für die Besucherinnen des Tagesheims verpflichtend war. Während des Ersten Weltkriegs stieg der Bedarf an systematisch ausgebildeten sozialen Fachkräften, was wiederum zu diversen Neugründungen Sozialer Frauenschulen führte. Um in der Konkurrenz mit den Neugründungen bestehen zu können, versuchte Rosa Kempf, den Ausbau des Frankfurter Frauenseminars für soziale Berufsarbeit voranzutreiben.58 Auf ihre Initiative hin wurde das Lehrangebot erweitert; es wurde Schulungskurs für Fabrikpflegerinnen und ein viermonatiger theoretischer „Einführungskurs in soziale und ethische Fragen“ für die in der Kriegsfürsorge ehrenamtlich tätigen Frauen mit zehn Unterrichtstunden pro Woche eingerichtet. Es gab außerdem eine Vortragsreihe, die jungen Frauen aus bürgerlichen Familien ein Verständnis für die Kriegsfürsorge vermitteln sollte.59 Kempf konnte sich jedoch – abgesehen von erwähnten kleineren Erweiterungen – mit ihrem Plan die Schule weiter auszubauen nicht durchsetzen. Sie entschied sich deshalb 1917, ihre Stelle als Direktorin aufzugeben. Als sie ging, konnte sie auf eine erfolgreiche Arbeit und Entwicklung des Frankfurter Frauenseminars für soziale Berufsarbeit zurückblicken.60 Zwei Jahrgänge von Absolventinnen der Fachklasse hatte Kempf selbst verabschiedet; beim dritten Jahrgang war das be-
54 55 56 57 58
Zu Kempfs Artikel zur Arbeitsschule siehe Kapitel III 2.2.2 der vorliegenden Arbeit. Kempf war Mitglied im Verband Frankfurter Frauenvereine, einer Ortsgruppe des ADF. IfS FFM, Vereine V 6, Nr. 16; vgl. Blätter für soziale Arbeit (1914). Bernays (1915e). Zum Tagesheim siehe auch Kapitel III 3.1.4 der vorliegenden Arbeit. Zu den unterschiedlichen Vorstellungen über die konzeptionelle Ausrichtung der Sozialen Frauenschulen siehe z. B. Kempfs Streit mit Gertrud Bäumer. Siehe hierzu Schaser (2000a), S. 173. 59 IfS FFM, Vereine V 6, Nr. 37. 60 Zur Anerkennung ihrer Leistungen in Frankfurt siehe den Bericht des Vereins Frauenseminar für soziale Berufsarbeit e. V. zu Frankfurt a. M. vom 1. April 1917 bis 31. März 1918, in: IfS FFM, Vereine V 6, Nr. 14.
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reits die Aufgabe ihrer Nachfolgerin, ihrer Lebensgefährtin Berta Sachs (1886– 1943), mit der sie seit ihrer Münchner Studienzeit befreundet war.61 Rosa Kempf übernahm in Düsseldorf als Studiendirektorin und Mitglied des Kuratoriums den Aufbau der gerade neu gegründeten Niederrheinischen Frauenakademie. Finanziell verbesserte sie sich mit der neuen Stelle, denn ihr Gehalt war wesentlich höher als bei ihrer Anstellung in Frankfurt (7.000 gegen 4.000 Mark).62 In ihrer Funktion als Direktorin der Düsseldorfer Schule nahm Kempf 1917 an der von Alice Salomon einberufenen ersten Konferenz der Sozialen Frauenschulen Deutschlands teil. Angesichts der zahlreichen Gründungen von Ausbildungsanstalten für den sozialen Bereich versuchte Salomon, eine Art Dachorganisation zu schaffen, mit der Zielsetzung, Mindeststandards für die soziale Ausbildung festzulegen, den Lehrplan zu vereinheitlichen und für die staatliche Anerkennung der Prüfungen einzutreten. Das gemeinsame Vorgehen der Schulen sollte deren Verhandlungsposition gegenüber den Ministerien stärken.63 Kempfs Arbeitsverhältnis an der Niederrheinischen Frauenakademie endete bereits nach wenigen Monaten. Denn mehr noch als in Frankfurt wurden ihr hier im Hinblick auf die Ausgestaltung der sozialen Ausbildungsgänge Grenzen gesetzt, vor allem durch den Gründer der Akademie und Vorsitzenden des Trägervereins, den Sozialhygieniker und Kinderarzt Arthur Schloßmann (1867–1932). Nachdem Kempf sich seiner Autorität nicht unterordnen wollte, drängte er auf ihre Entlassung. Nach der Auflösung des Arbeitsverhältnisses erhielt Kempf eine Rente aus der Ruhegehaltskasse der Kommunalbeamten der Rheinprovinz, die es ihr ermöglichte, ein relativ unabhängiges Leben zu führen, wie sie ihrem Bruder schrieb.64
2.1.4 Mitglied in der Provisorischen Nationalversammlung und Bayerische Landtagsabgeordnete für die DDP Rosa Kempfs intellektuelle Nüchternheit und ihre Fähigkeit, politisch interessengeleitet zu argumentieren, machten sie zu einer außergewöhnlichen Frauenpolitikerin.65 Sie war in der Münchner Ortsgruppe des Deutschen Verbands für Frauenstimmrecht in Bayern aktiv, der auch die radikalen Frauenrechtlerinnen Anita Augspurg (1857–1943) und Lida Gustava Heymann (1868–1943) angehörten, und trat schon vor dem Ersten Weltkrieg für das Frauenstimmrecht ein. 1913 wurde Kempf in den Vorstand der Ortsgruppe und drei Jahre später in den Vorstand des
61 Zu Berta Sachs siehe Eckhardt/Eckhardt (2014), S. 45f. 62 Zum Vergleich: Das Gehalt ihres Bruders betrug nach dessen Beförderung zum Staatsanwalt 1906 in München 3.360 Mark, siehe StArchM, PA 20098, Personalakte Anton Kempf. 63 Salomon (1983), S. 206ff.; Schaser (2000a), S. 173f. 64 Vgl. Reining (1998a), S. 38. Kempfs Nachfolgerin in Düsseldorf wurde die Frauenrechtlerin und spätere DDP-Reichstagsabgeordnete Marie Elisabeth Lüders. Sie leitete die Akademie von 1918 bis 1921. 65 Reining (2001), S. 160.
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Deutschen Reichverbands für Frauenstimmrecht gewählt.66 Anders als viele andere Befürworterinnen des Stimmrechts aus der Frauenbewegung war Kempf jedoch nicht der Ansicht, dass Frauen sich das Wahlrecht erst durch staatsbürgerliche Pflichterfüllung oder Bewährung während des Krieges verdienen müssten. Kempf stritt zwar für das Frauenstimmrecht, parteipolitisch legte sie sich aber erst nach der Einführung des allgemeinen, gleichen, direkten und geheimen Wahlrechts für Männer und Frauen am 12. November 1918 fest. Als Linksliberale schloss sich Kempf wie Gertrud Bäumer, Marianne Weber, Elly Heuss-Knapp und andere prominente Akteurinnen der bürgerlichen Frauenbewegung der bürgerlichliberalen DDP an, für die sie sich auch im Wahlkampf engagierte.67 Kempf gehörte zu der kleinen Gruppe von Frauen, die nach Kriegsende ein politisches Mandat übernahm. Unter den 256 Delegierten des Provisorischen Nationalrats des Bayerischen Landtags, einem nach den Prinzipien des Rätegedankens von Kurt Eisner (1867–1919) zusammengestellten Notparlament, das am 13. Dezember 1918 zusammentrat, waren nur acht Frauen.68 Kempf, die als Delegierte des Hauptverbands bayerischer Frauenvereine zu diesen acht Frauen gehörte, sprach am 18. Dezember 1918 als erste Frau im Plenum des Bayerischen Landtags. In ihrer engagierten einstündigen frauenpolitischen Grundsatzrede forderte sie u. a. die Koedukation, die rechtliche Gleichstellung der Ehepartner, die Zulassung von Frauen in der Rechtspflege und die Aufhebung des Beamtinnenzölibats.69 Im Dezember 1918 wurde Kempf auf dem dritten Platz der Liste der bayerischen DVP, die der DDP auf Reichsebene entsprach, für die Stimmkreise München IV und XI aufgestellt und am 12. Januar 1919 als eine von 25 Abgeordneten der DDP/DVP in den Ersten Ordentlichen Landtag des Freistaats Bayern gewählt, dessen Mitglied sie bis Mai 1920 blieb. Sie kämpfte als Parlamentarierin für frauenpolitische Anliegen, wie beispielsweise für die Abschaffung von Verordnungen, die die Ausbildung von Frauen zur Volljuristin verhinderten. Kempfs kurze Zeit als Landtagsabgeordnete war von politischen Unruhen geprägt. Schon unmittelbar nach der Wahl spitzten sich die politischen Auseinandersetzungen zwischen bürgerlichen und linken Parteien und die politische Lage in Bayern zu; am 21. Februar 1919 wurde der sozialistische Ministerpräsident Kurt Eisner von einem rechtsextremen Attentäter ermordet. Kurz danach, am 7. April 1919, wurde in München eine Räterepublik ausgerufen, die blutig niedergeschlagen wurde. Nachdem im Frühjahr 1920 eine erneute Staatskrise in Bayern aus-
66 Die Frau (1916). Siehe auch Evans (1976), S. 107. Der Deutsche Reichsverband für Frauenstimmrecht entstand am 19. März 1916 als Zusammenschluss der beiden bisherigen Stimmrechtsvereine der bürgerlichen Frauenbewegung, dem Deutschen Verband und der Deutschen Vereinigung für Frauenstimmrecht. 67 Zur Liste der KandidatInnen siehe Münchner Neueste Nachrichten (1919); siehe auch Kempf (1919b). 68 Vgl. Sternsdorf-Hauck (1989), S. 41. 69 Sternsdorf-Hauck (1989), S. 29. Kempfs Rede ist abgedruckt in: Verhandlungen des Provisorischen Nationalrates (1919), S. 113–118; vgl. auch Kempf (1919b).
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brach, kam es zu Neuwahlen. Dem neuen Landtag, der am 6. Juni 1920 gewählt wurde, gehörte Rosa Kempf nicht mehr an. Er war auf 155 Abgeordnete verkleinert worden und Kempf war von Platz 3 der Landesliste, den sie 1918 innehatte, auf einen der hinteren aussichtslosen Listenplätze abgedrängt worden. Parteipolitisch blieb sie dennoch weiterhin der DDP verbunden; sie kandidierte in den 1920er Jahren bei den Reichstagswahlen noch einmal für die DDP, ohne jedoch gewählt zu werden.
2.1.5 Soziale Berufsbildung und die Lage der Frauen in der Landwirtschaft Nach ihrem kurzen Ausflug in die Politik kehrte Rosa Kempf im Winter 1920/1921 als nebenamtliche Honorardozentin (Studiendirektorin a. D.) für Volkswirtschaftslehre an „ihr“ Frauenseminar für soziale Berufsarbeit in Frankfurt zurück. Bis 1933 lehrte sie Volkswirtschaft und Wirtschafts- und Sozialpolitik in der Unter- und Oberklasse, gehörte dem Prüfungsausschuss der Schule an und nahm als Vertreterin der DozentInnen regelmäßig an den Sitzungen des Trägervereins teil. Im Frühjahr 1924 wurde das Frauenseminar vom Land Hessen und kommunalen Trägern übernommen und zur Wohlfahrtsschule der Provinz Hessen-Nassau und des Freistaates Hessen ausgebaut. Der Um- und Ausbau der Sozialen Frauenschulen Mitte der 1920er Jahre hing mit der Überarbeitung der staatlichen Prüfungsrichtlinien für die sozialen Ausbildungsgänge zusammen; aus den Sozialen Frauenschulen wurden Wohlfahrtschulen, ihre wurden Absolventinnen zu Wohlfahrtspflegerinnen. Kempf gehört zu den BildungsexpertInnen, die die Professionalisierung und Institutionalisierung der sozialen Ausbildungs- und Studiengänge mit vorangetrieben haben.70 Kempf sorgte sich angesichts der bestehenden geschlechtshierarchischen Aufteilung der Wohlfahrtspflege in männlich konnotierte Innenarbeit (Verwaltungsarbeit) und weiblich konnotierte Außenarbeit (aufsuchende praktische Soziale Arbeit) um die berufliche Stellung und die Perspektiven der Absolventinnen der Wohlfahrtsschulen.71 Um deren Situation zu verbessern, reichte ihres Erachtens die gute Qualität der Ausbildung allein nicht aus. Sie legte deshalb Wert auf eine genaue eine Bestimmung des Ausbildungsziels, auf eine Definition von Inhalt, Stellung und Funktion des Berufs der Sozialbeamtin innerhalb der amtlichen Fürsorgebürokratie sowie auf die Berücksichtigung dieser Inhalte im Curriculum der Ausbildungsgänge. Denn die Erfahrung zeigte, dass die beruflichen Aufstiegschancen der Sozialbeamtinnen meist am Widerstand der Stadtverwaltungen scheiterten. Diese waren meist nicht bereit, den sozial arbeitenden Frauen die besser bezahlten Verwaltungsaufgaben zu übertragen. Kempf war in die Verhandlungen zwischen den Sozialen Frauenschulen und dem preußischen
70 Siehe z. B. Kempf (1916d; 1917b; 1919a; 1922b; 1925d). 71 Vgl. z. B. Kempf (1925c; 1929a).
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Ministerium für Volkswohlfahrt eingebunden. Im Oktober 1924 vertrat sie zusammen mit Wilhelm Polligkeit die Frankfurter Wohlfahrtsschule auf der vom Ministerium einberufenen Konferenz, bei der es um die weitere Entwicklung der Schulen und des Curriculums ging. Kempf plädierte dabei für eine ausreichende Finanzierung der Schulen, die die Beschäftigung von hauptamtlichen Lehrkräften ermöglichte, was wiederum die Voraussetzung für einen weiteren Ausbau der Schulen darstellte. In den Jahren 1929/1930 übernahm sie den Vorsitz der vom Preußischen Ministerium für Volkswohlfahrt eingesetzten Kommission, die für die Ausbildungsgänge zur Wohlfahrtspflegerin Lehrplanrichtlinien für das Fach „Volkswirtschaftslehre und Sozialpolitik“ erstellen sollte. Der Unterricht in diesem Lehrfach sollte die Wohlfahrtspflegerinnen befähigen, „den Zusammenhang ihrer Berufsaufgaben mit dem Leben des wirtschaftlichen und sozialen Volkskörpers zu erkennen“.72 Der von der Kommission erarbeitete Lehrplanentwurf basierte auf Kempfs Unterrichtspraxis an der Frankfurter Wohlfahrtsschule. Er bildete die Grundlage für die vom Ministerium herausgegebenen Richtlinien für die zukünftigen Lehrpläne. Nach diesen wurden Sozialpolitik, Psychologie, Pädagogik, Gesundheitslehre und -fürsorge, Rechts- und Verwaltungskunde sowie geschlossene Erziehungsfürsorge als Kernfächer für eine soziale Ausbildung an Wohlfahrtsschulen verbindlich. Kempf war auch an einem dreiwöchigen Fortbildungslehrgang für hauptamtliche Lehrkräfte der staatlich anerkannten Wohlfahrtsschulen des Ministeriums für Volkswohlfahrt beteiligt, der im Mai 1931 unter der Leitung der Zentrumspolitikerin und Ministerialrätin Helene Weber (1881–1962) an der Deutschen Akademie für soziale und pädagogische Frauenarbeit stattfand. Kempf war außerdem bis 1933 Mitglied im Hauptausschuss des Deutschen Vereins für öffentliche und private Fürsorge e. V., des 1880 gegründete Zusammenschlusses öffentlicher und freier Träger Sozialer Arbeit.73 Neben der Modernisierung landwirtschaftlicher Frauenarbeit bildeten die Ausbildung ländlicher Wohlfahrtspflegerinnen und die Pflichtfortbildungsschule für Mädchen Arbeitsschwerpunkte, für die sich Kempf stark machte.74 Kempfs Präsenz in den Debatten zur ländlichen Frauenfrage und die daraus resultierende Anerkennung in den Kreisen der Landfrauenorganisationen zeigen wiederum ein Bericht und ein Nachruf, in denen Kempf und Dyhrenfurth zu den Führerinnen der Landfrauenbewegung gerechnet wurden.75 Ab 1918 erarbeitete Kempf gemeinsam mit Dyhrenfurth im Rahmen der Kommission Frauenarbeit auf dem Lande des Ständigen Ausschusses zur Förderung der Arbeiterinnen-Interessen ein Curriculum für die Mädchenfortbildungsschule sowie die Petitionen zu deren Ein-
72 Richtlinien für die Lehrpläne der Wohlfahrtsschulen (1930), S. 35. 73 Reinicke (1998b). Siehe auch Kempfs Artikel (1930c) zum fünfzigjährigen Jubiläum des Deutschen Vereins für öffentliche und private Fürsorge. 74 Zu Kempfs Vortrag auf dem 8. Bayerischen Frauentag 1913 in Regensburg siehe z. B. Die Gutsfrau (1913); siehe auch Kempf (1916j; 1918c; 1922b). 75 Siehe den im Bildanhang faksimilierten Artikel von Helene Wenck-Rüggeberg (1918, Abbildung 10 und 11) sowie den Nachruf von Gausebeck (1955).
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führung.76 Das erarbeitete Lehrplankonzept stellte Kempf auf der Tagung des Ständigen Ausschusses zur Mädchenfortbildungsschule auf dem Land vor.77 Sie gehörte außerdem zu den Rednerinnen des Deutschen Fortbildungsschultag 1920 in Dresden, der als Meilenstein in der Entwicklung und Konsolidierung der Berufsschule gilt. Gemeinsam mit Dyhrenfurth war Kempf als Vertreterin des Ständigen Ausschusses zur Förderung der Arbeiterinnen-Interessen in der Zentrale der deutschen Landfrauen aktiv. Sie war von 1919 bis 1921 auf allen Tagungen als Referentin präsent und trat bei bildungspolitischen Veranstaltungen mehrfach als Vertreterin der Zentrale auf. Gemeinsam mit Dyhrenfurth gehörte sie einer Kommission an, die Richtlinien für den Landarbeiterinnenschutz erarbeitete.78 Sie beteiligte sich an den Diskussionen über die Rolle von Frauen als landwirtschaftliche Produzentinnen und die Aufwertung der landwirtschaftlichen Frauenarbeit durch schulische und organisatorische Einrichtungen.79 Mit Margarete von Keyserlingk erarbeitete Kempf im Auftrag der Zentrale eine Petition an das Reichswirtschaftsministerium (Abteilung für Landwirtschaft), in der sie das aktive und passive Wahlrecht für die landwirtschaftlichen Berufsvertretungen für alle Frauen die hauptberuflich in der Landwirtschaft tätig waren forderten. Nach dem bis dahin geltenden Recht hatten in Bayern zwar diejenigen Frauen das Wahlrecht für die Landwirtschaftskammern, die selbstständig und allein ihren Betrieb leiteten; mitarbeitende Ehefrauen waren jedoch wie sämtliche weiteren weiblichen landwirtschaftlichen Arbeitskräfte vom Wahlrecht ausgeschlossen. In der Petition wurde außerdem gefordert, Kempf und Keyserlingk als Vertreterinnen der Zentrale in die vorbereitenden Verhandlungen für das Gesetz einzubeziehen.80 Aus heutiger Sicht irritiert die langjährige Zusammenarbeit der linksliberalen Kempf mit den landwirtschaftlichen Frauenorganisationen aus dem politisch überwiegend nationalkonservativen Spektrum, die sich noch 1918 ausdrücklich gegen das Frauenwahlrecht ausgesprochen hatten und deren prominente Vertreterinnen wie Elisabeth Boehm schon früh und offen antisemitische Positionen vertraten. Vielleicht war es ein Zeichen von Kempfs pragmatischer Haltung und ihrer realistischen Einschätzung, dass ein erfolgreicher Kampf für Frauenbildung in den strukturschwachen ländlichen Regionen nur mit starken und dort akzeptierten Bündnispartnerinnen erfolgreich zu führen war.81 Kempf hatte am Beispiel ihrer Mutter gesehen, dass es in den ländlichen Regionen, in denen die Berufstätigkeit von (bürgerlichen) Frauen abgelehnt wurde, Organisationen wie die VFV waren,
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Vgl. die Ankündigung in: Die Gutsfrau (1918). Vgl. Zur Mädchenfortbildungsschule auf dem Lande (1920). Vgl. Dyhrenfurth (1922a); Vorschläge zum Landarbeiterinnenschutz (1922). Vgl. Herbsttagung (1921), S. 338; Wenck-Rüggeberg (1921). Zur Forderung der Zentrale nach der Teilhabe Frauen an den landwirtschaftlichen Berufsvertretungen vgl. Schwerin-Löwitz (1919); Richert (1920); Kempf (1921d). 81 Siehe z. B. Kempf (1931b), S. 116.
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die sozial-karitative Funktionen übernahmen und zur Erweiterung des Handlungsspielraums bürgerlicher Frauen beitrugen. Während der Weimarer Republik übernahm Kempf mehrere leitende Funktionen in Organisationen und Vereinen der bürgerlichen Frauenbewegung. Sie war in den 1920er Jahren Vorstandsmitglied im Bayerischen Landesverband des ADF82 und initiierte 1923 in Frankfurt eine der ersten Ortsgruppen des Deutschen Akademikerinnenbunds (DAB), deren Vorsitz sie bis 1933 innehatte. Außerdem war sie im Vorstand des 1926 in Berlin gegründeten nationalen Dachverbands des DAB. Kempf plädierte für eine Organisierung von Akademikerinnen in lokalen, fächer- und generationenübergreifenden Gruppen nach dem Vorbild der International Federation of University Women.83 Nach diesem Konzept gründeten sich zunächst lokale Ortsgruppen, die sich zu einem nationalen Verband zusammenschlossen, der dann Mitglied in einer internationalen Dachorganisation wurde. Ziel der International Federation war die internationale Vernetzung einer weiblichen Bildungselite, die sowohl deren wissenschaftliches Fortkommen fördern als auch für die Verständigung der Völker eintreten sollte.84 Kempf war desweiteren Vorsitzende des Evangelischen Frauenverbands Hessen-Nassau, der seit 1929 monatliche Radiosendungen zu Themen der deutschen Frauenbewegung gestaltete.85
2.1.6 Kampf gegen „Kriegsschuldlüge“ und „Volkstumsarbeit“ Heute ist es nur schwer nachvollziehbar, dass sich auch bei den linksliberalen Frauenrechtlerinnen wie Rosa Kempf nach dem Ersten Weltkrieg liberale und fortschrittliche mit nationalistischen und zum Teil rassistischen Positionen vermischten. Gerade bei Kempf irritiert das besonders, weil ihre Argumentation während des Ersten Weltkriegs, verglichen mit anderen, noch eher sachlich und nüchtern geblieben war. Zwar klang auch bei ihr etwas von der euphorischen Stimmung während der Mobilmachung an, sie äußerte sich aber, wie sie später erklärte, während des Krieges bewusst nicht zu „politischen Entscheidungen, weder zur Kriegsursache noch zu Kriegszielen“.86 Chauvinistische und durch den Hass auf den Kriegsgegner geprägte Äußerungen sind in ihren Texten während des Krieges genauso wenig zu finden wie solche, die auf eine kritische oder pazifistische Haltung hinweisen würden. Nach dem Kriegsende trauerte Kempf dem Kaiserreich nicht nach; sie war überzeugte Republikanerin und akzeptierte die Weimarer Verfassung. Ihre „Nationalisierung“ vollzog sich erst durch den „Geist von Versail-
82 Vgl. Arendt/Hering/Wagner (1995), S. 88f. 83 Vgl. Kempfs (1925a) Argumente für die lokale fächerübergreifende Organisierung von Akademikerinnen. 84 Zum DAB und zur International Federation of University Women siehe Oertzen (2012). 85 Zu den Radiosendungen siehe Die Frau (1933). 86 Kempf (1919c).
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les“87, denn wie große Teile der Bevölkerung in Deutschland lehnte sie den Versailler Vertrag ab. Kempf, die anfangs den Versuch, eine bayerische Bauernräterepublik zu errichten ausdrücklich begrüßt hatte, weil sie in ihr eine historische Chance sah, wertete später die „Münchner Vorgänge vom November 1918“ als, wie sie es abwertend formulierte, „Unglück Deutschlands“.88 Besonders harsch kritisierte sie rückblickend Kurt Eisner, den ersten Ministerpräsidenten des von ihm ausgerufenen Freistaats der bayerischen Republik, dem ihrer Meinung nach zu Unrecht die Rolle eines Führers des Arbeiterstands zugeschrieben wurde; diese habe eigentlich dem Sozialdemokraten Erhard Auer (1874–1945) zugestanden. „Eisner und sein Anhang“ hätten außerdem das In- und Ausland mit der Behauptung, es handele sich um eine „einheitliche sozialistische Revolution der Bauern und Arbeiter“ getäuscht. Kempf konnte sich später kaum noch vorstellen, dass sie und andere angenommen hatten, eine solche Revolution könne in Bayern erfolgreich sein.89 Kempfs Polemiken und Kritik richteten sich auch gegen Pazifisten wie den Reformpädagogen Friedrich Wilhelm Förster (1869–1966)90 und gegen den Versailler Friedensvertrag. Kempf machte die „ständige internationale Ehrenkränkung“ durch den Versailler Vertrag für die Erstarkung der reaktionären Kräfte in Deutschland verantwortlich.91 Sie prangerte die Behandlung der deutschen Kriegsgefangenen in Frankreich an und forderte die „deutschen Frauen“ auf, die Siegermächte deshalb öffentlich anzuklagen.92 Kempfs antifranzösische Haltung entsprach den zeitgenössischen Hetzkampagnen, die sowohl von deutscher als auch von französischer Seite forciert wurden und die sich nach der Ruhrbesetzung durch französische und belgische Truppen am 11. Januar 1923 verschärften. Kempf, die schon 1921 über mögliche Aktionen der Frauenbewegung gegen den Versailler Vertrag nachgedacht hatte93, war für die „Wiederherstellung der nationalen Ehre“ – wie es damals pathetisch formuliert wurde – bereit, auch mit rechten und reaktionären PolitikerInnen zusammenzuarbeiten. Sie schloss sich dem nationalistischen Deutschen Frauenausschuss zur Bekämpfung der Schuldlüge an und hielt Ende Januar 1925 auf einer Schulungswoche des Frauenausschusses in Darmstadt einen Vortrag über den „Kampf um den deutschen Rhein“.94 Sie beteiligte sich an der rassistischen Agitation von Frauengruppen gegen die „farbige Besetzung des Rheinlands“ und versuchte, „durch Materialbeschaffung über die
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Reining (2001), S. 168. Kempf (1921g). Kempf (1921g). Siehe z. B. Kempf (1923d). Kempf (1921j). Kempf (1921h), S. 332 und S. 331. Vgl. Scheck (1999). Zur Ankündigung der Schulungswoche des Deutschen Frauenausschusses zur Bekämpfung der Schuldlüge am 27.–30. Januar 1925 in Darmstadt siehe Land und Frau (1925).
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von farbigen Truppen begangenen Gräuel und durch deren Verbreitung“ Stimmung zu machen.95 Ab 1927 war Rosa Kempf auch bei der Förderung und „Erhaltung des Deutschtums“ im Ausland aktiv.96 Sie war von 1928 bis 1933 Vorsitzende des Ausschusses für Volkstumsarbeit des BDF und berichtete während dieser Zeit über die Arbeit des konservativ-nationalistischen Vereins für das Deutschtum im Ausland (VDA), der sich mit finanzieller Unterstützung des Auswärtigen Amts für den Kampf und den Erhalt des „Auslandsdeutschtums“ einsetzte. An der politischen Ausrichtung des mitgliederstarken Verbands hatte Kempf offensichtlich nichts auszusetzten, zumindest ist in ihren Artikeln keine Kritik daran zu finden. Kempf befasste sich in ihren Berichten ausschließlich mit den Möglichkeiten einer Mitarbeit von Frauen in der von Männern dominierten „Volkstumsarbeit“. Da Kempf eine hohe Beteiligung von Frauen in politischen Vereinen generell als positives Zeichen wertete, weil das für sie ein Beleg für eine veränderte gesellschaftliche und politische Stellung der Frau war, bewertete sie auch die Mitarbeit von Frauen im VDA überwiegend positiv. Nach ihren Beobachtungen arbeiteten die Frauengruppen des VDA, die sich in erster Linie aus Frauen aus dem Mittelstand zusammensetzten, vor allem auf lokaler Ebene sehr erfolgreich. Die Frauengruppen waren wirtschaftlich selbstständig, da sie die Geldmittel für ihre Arbeit selbst aufbrachten, und galten zumindest auf regionaler Ebene „als unentbehrlich für die Gesamtorganisation“. Frauen erreichten, wie Kempf feststellen musste, aber auch beim VDA nur auf regionaler Ebene einen gewissen Einfluss; auf Landesebene war dieser kaum größer als in den politischen Parteien.97 Rosa Kempf beteiligte sich zwar aktiv am nationalistischen Deutschen Frauenausschuss zur Bekämpfung der Schuldlüge, an der Agitation gegen die Rheinlandbesetzung und an der „Volkstumsarbeit“ des BDF, den Nationalsozialismus lehnte sie jedoch entschieden ab. Bereits 1923 kam es anlässlich eines Auftritts Hitlers bei einer Versammlung der NSDAP gegen die Besetzung des Ruhrgebiets in München zu einer Auseinandersetzung zwischen Kempf und den nationalsozialistischen Saalordnern. Als Kempf sich Notizen machte, wurde ihr das verboten und verlangt, das Mitgeschriebene herauszugeben. Da Kempf sich weigerte, versuchten die Saalordner mit Gewalt die Herausgabe ihrer Aufzeichnungen zu erzwingen. Kempf zeigt die Saalordner wegen Freiheitsberaubung unter Anwendung von Gewalt bei der Polizei an, nachdem ihr die DDP dazu geraten hatte. Die DDP zog bei der darauf folgenden Gerichtsverhandlung jedoch ihre versprochene
95 Schreiben der Schulleitung an den Regierungspräsidenten in Wiesbaden vom 21. Juni 1933, in: IfS FFM, Vereine V 6, Nr. 28. Die alliierte Rheinlandbesetzung infolge des Ersten Weltkriegs dauerte bis 1930. Zur rassistischen Agitation von Frauenorganisationen vgl. Walgenbach (2005). 96 Zu der von Kempf 1928 geplanten „grenz- und auslandsdeutsche[n] Frauenschulung“ in Rumänien und ihrer Arbeit als Vorsitzende des Ausschusses für Volkstumsarbeit des BDF von 1928 bis 1933 siehe Schaser (2000b). 97 Kempf (1931c; 1933b).
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Unterstützung ohne weitere Begründung zurück. Kempf wollte einen politischen Prozess, der auf das „staatsfeindliche“ Verhalten der Nationalsozialisten aufmerksam machen und potentielle Anhänger abschrecken sollte. Ohne die Unterstützung der DDP wurde der Prozess jedoch zu einer Farce.98 Kempf versuchte während der Verhandlung, den Vorfall politisch einzuordnen und begründete ihre Weigerung, den Saalordnern ihre Aufzeichnungen auszuhändigen, damit, dass die ganze Versammlung bei ihr den Eindruck einer „Verwilderung des öffentlichen Lebens“ und der Schutzlosigkeit des Einzelnen erweckt habe. Mit ihrer Weigerung wollte sie sehen, „wie weit sich der Terror gegen solche Teilnehmer ihrer öffentlichen Versammlungen, die ihnen nicht genehm sind, erstreckt“.99 Gerade wegen ihres geschilderten couragierten Auftretens traf Kempf aber nach Ansicht des Gerichts eine moralische Mitschuld. Die angeklagten Saalordner wurden lediglich zu minimalen Geldstrafen verurteilt.
2.1.7 Zäsur 1933 Bis 1933 war Rosa Kempfs Werdegang von einem starken Durchsetzungswillen gekennzeichnet. Sie wusste trotz aller Schranken immer, die Möglichkeiten, die sich ihr boten, zu nutzen. Dabei legte sie bei der Umsetzung ihrer Vorstellungen stets großen Wert ein auf selbstständiges und verantwortliches Arbeiten; war das nicht gegeben, zog sie die Konsequenzen und suchte sich einen neuen Wirkungskreis. Dass Kempf zunächst noch Stellung gegen das NS-Regime bezogen hat, lässt sich aus folgender Begebenheit schließen: Der nach der Gleichschaltung im Mai 1933 neu gewählten Vorstand des DAB hatte angeordnet, alle jüdischen Mitglieder aus den Ortgruppen auszuschließen. Die Frankfurter Ortsgruppe des DAB, deren langjährige Vorsitzende Kempf war, kam als einzige dieser Forderung nicht nach, sondern boykottierte sie durch Selbstauflösung. Weitere (inoffizielle) Treffen wurden von den Mitgliedern der Ortsgruppe als zu gefährlich empfunden, nachdem Kempf eine Hausdurchsuchung hatte erdulden müssen und kurzzeitig von der Geheimen Staatspolizei (Gestapo) verhaftet worden war.100 Unmittelbar nach dem nationalsozialistischen Machtantritt schrieb Kempf in einem Artikel, sich vermutlich auf die eigenen schlechten Erfahrungen mit den Nationalsozialisten stützend: „Ich denke an die hunderte von Menschen in Europa, von denen ich weiß, dass sie ohne gerichtliches Urteil, ohne Möglichkeit eines Unschuldsbeweises, aus ‚administrativen Gründen‘ in faschistisch orientierten Staaten ins Gefängnis geworfen oder in Verbannung geschickt
98 Reining (2001), S. 164. 99 Reining (2001), S. 165. Der Bericht über den Vorfall, der am 2. Mai 1923 in den Münchener Neuesten Nachrichten erschien, ist abgedruckt in: Richardi (1991), S. 425–427; eine gekürzte Fassung in: Arendt/Hering/Wagner (1995), S. 88f. 100 Oertzen (2012), S. 204; siehe auch Karteikarte zu Rosa Kempf in der Frankfurter GestapoKartei, in: HHStAW, Abt. 486.
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III Die Promovendinnen wurden – ich denke an die hunderte oder tausende körperlich Gemarterter, die nach den Qualen eines sogenannten ‚Verhörs‘ ein erzwungenes Geständnis ablegten und dann starben, um ein ‚System‘ zu stützen.“101
Ihre Bestandsaufnahme des von der Frauenbewegung Erreichten fiel in diesem Artikel pessimistisch aus. Auch wenn es den Anschein habe, Frauen könnten „überall mit dabei sein und mittun“, so seien sie doch niemals dort dabei, „wo gestaltet und gehandelt“ werde und wo wichtige Entscheidungen getroffen würden. Selbst auf sozialem Gebiet sei es ihnen bisher nur in „weiblichen Spezialorganisationen“ gelungen, „unter eigener Verantwortung zu handeln“. Die Ursache dafür war für Kempf in der sozialen Ungleichheit der Geschlechter zu suchen. Die Frauenbewegung habe in den vielen Jahren ihres Bestehens, so Kempf, vor allem wegen der fehlenden ökonomischen Mittel und der wirtschaftlichen Unselbstständigkeit der Frauen viele ihrer Ziele nicht erreichen können. Der Artikel brachte auch noch einmal Kempfs Glauben an den liberalen Kapitalismus zum Ausdruck. Nur mit diesem war für sie ein gesellschaftlicher Fortschritt zu erreichen, da er die Voraussetzungen für den sozialen und wirtschaftlichen Aufstieg der Massen schaffe.102 Dieser Artikel war zugleich die letzte veröffentlichte politische Stellungnahme Kempfs, für die die NS-Zeit eine tiefe Zäsur bedeutete. Als die Frankfurter Wohlfahrtsschule Ende April 1933 beim Preußischen Ministerium für Wissenschaft, Kunst und Volksbildung eine Liste mit Personen einreichte, die in den Prüfungsausschuss der Schule berufen werden sollten, kam diese mit dem Vermerk zurück, dass gegenüber Kempf Bedenken hinsichtlich ihrer politischen Zuverlässigkeit beständen. Die Schulleitung der Wohlfahrtsschule hielt jedoch an Kempf fest und versuchte, diese Bedenken mit einer ausführlichen Darstellung ihres nationalen Engagements zu entkräften. Kempf habe sich gegen die „Kriegsschuldlüge“ und gegen die Besetzung des Ruhrgebiets sowie für die Rückgewinnung des Saargebietes und die Erhaltung des Deutschtums in Südtirol, Kärnten, im Banat und in Siebenbürgern eingesetzt.103 Danach wurde Kempf ein letztes Mal in den Prüfungsausschuss berufen; ab dem Schuljahr 1934/35 wurde sie auf Ersuchen desselben Ministeriums jedoch nicht mehr als Lehrkraft an der Frankfurter Wohlfahrtsschule eingesetzt.104 Es scheint vor allem die nationalsozialistische Studienrätin Hedwig Förster (1891–19??) gewesen zu sein, die die Entlassung Kempfs vehement verfolgte. Förster war die für „Frauenfragen und Mädchenerziehung“ zuständige Sachbearbeiterin bei der Reichsleitung des NS-Lehrerbunds und nach
101 Kempf (1933a), S. 304. 102 Kempf (1933a), S. 304–307. 103 Vgl. Schreiben der Schulleitung an den Regierungspräsidenten in Wiesbaden am 21. Juni 1933, in: IfS FFM, Vereine V 6, Nr. 28. 104 Vgl. Polligkeit an das Ministerium für Wissenschaft, Kunst und Volksbildung, z. Hd. von Frau Studienrat Förster, am 26. Oktober 1933, in: IfS FFM, Vereine V 6, Nr. 28.
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1934 Referentin im Ministerium für Wissenschaft, Kunst und Volksbildung.105 Was Förster dazu veranlasste, auf Entlassung Kempfs zu drängen, ist aus den Akten nicht ersichtlich. Vielleicht war es ihr parteipolitisches Engagement bei der DDP, ihre Zugehörigkeit zur bürgerlichen Frauenbewegung, die Selbstauflösung der Frankfurter Ortsgruppe des DAB oder der von Kempf gegen Saalordner der NSDAP geführte Prozess in München. Vielleicht war es aber auch eine Reaktion auf den erwähnten Artikel Kempfs, der im Februarheft von „Die Frau“ erschienen war. Im Alter von 59 Jahren verlor Kempf, die nun von ihrer Pension leben musste, jedenfalls ihre berufliche Stellung und die Möglichkeit politischer Betätigung. Während der NS-Zeit scheint sie nur noch einen Artikel veröffentlicht zu haben.106 Was Kempf 1934 dazu bewogen hat, ausgerechnet den rassistischen und antisemitischen „Klassiker“ „Essais sur l’inégalité des races humaines“ (1853) von Graf Arthur de Gobineau (1816–1882) zu übersetzen, in dem Gobineau versucht, die Überlegenheit der „arischen Rasse“ zu begründen, ist schwer nachvollziehbar.107 Denn Gobineaus Essay bildete eine der Grundlagen der rassistischen Rassentheorien der völkischen Bewegung und des Nationalsozialismus. Rosa Kempf lebte während der Zeit des Nationalsozialismus und des Zweiten Weltkriegs in Frankfurt am Main, im während der 1920er Jahren erbauten modernen Stadtteil „In der Römerstadt“. Nach Kriegsende musste Kempf umziehen, weil ihre Wohnung zu denen gehörte, die von den Besatzungsbehörden beschlagnahmt wurden. Kempf scheint diese Veränderung nicht mehr verkraftet zu haben; sie wurde kurz danach von einer ehemaligen Schülerin mit der Diagnose „geistige Verwirrung“ in einem Altenpflegeheim bei Darmstadt untergebracht, wo sie am 3. Februar 1948 starb. Bestattet wurde sie in München.108 2.2 Empirische Studien zu Fabrikarbeiterinnen und landwirtschaftlicher Frauenarbeit Rosa Kempf führte vor dem Ersten Weltkrieg eine umfangreiche empirische Studien zur Lage jugendlicher Fabrikarbeiterinnen und eine Erhebung über die Frauenarbeit in der Landwirtschaft durch. 1931 veröffentlichte sie eine Monographie
105 Vgl. Bericht von Hedwig Förster vom 1. August 1933 über ihren Besuch der Frankfurter Wohlfahrtsschule, zitiert nach Reining (2001), S. 165. Förster war von 1931 bis 1934 Sachbearbeiterin des Referats „Frauenfragen und Mädchenerziehung“ beim NS-Lehrerbund. Zu Förster siehe Arendt/Hering/Wagner (1995), S. 51, S. 62, S. 159, S. 232 und S. 256. 106 Kempf (1937). 107 Es handelte sich dabei erst um die zweite Übersetzung ins Deutsche überhaupt. Die Ausgabe erschien mit einer Einleitung von Peter Reinhold im Verlag Kurt Wolff. In der Ausgabe gibt es keine Anmerkung zur Übersetzerin Rosa Kempf. Zur völkischen und nationalsozialistischen Rezeption der Rassentheorie Gobineaus siehe z. B. Puschner (2001), S. 77–81. 108 Reining (1998), S. 42.
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über die Entwicklung der Erwerbstätigkeit von Frauen seit dem Ersten Weltkrieg, für die sie die Ergebnisse der amtlichen Volks-, Berufs- und Betriebszählung von 1925 auswertete, und die an die statistischen Arbeiten Gnauck-Kühnes erinnert. Kempf veröffentlichte außerdem eine Vielzahl von Beiträgen zur Aus- und Berufsbildung von Frauen sowie zur sozialen Berufsbildung. Kempf hätte vermutlich gern mehr empirisch geforscht, musste aber aus Zeitmangel darauf verzichten, wie sich aus der einleitenden Bemerkung zu ihrer letzten großen Monographie schließen lässt: „Das Material der amtlichen Volks-, Berufs- und Betriebszählung kann einen außerordentlich aufschlußreichen Einblick in die soziologische und wirtschaftliche Grundlage unseres Volkskörpers vermitteln. Aber ein Einblick erfordert gründliche Durchdringung der amtlichen Publikationen, eine Durcharbeitung, die nicht nur von großer Aufmerksamkeit und Konzentration, sondern vor allem eine Fülle von Zeit voraussetzt. Über diese Fülle von Zeit verfügt heute wohl niemand, der schon im beruflichen Leben steht.“109
2.2.1 „Das Leben der jungen Fabrikmädchen in München“ (1911) Die Idee zu ihrer Dissertation „Das Leben der jungen Fabrikmädchen in München“110 kam Rosa Kempf, als sie eine Ankündigung der GfSR las, die ein größeres Forschungsvorhaben über den Berufseinstieg von Jugendlichen im Alter zwischen 14 und 18 Jahren plante, bei dem „mehrere in Theorie und Praxis bewährte Frauen“ mitwirken sollten. Untersucht werden sollte: Art und Dauer der Beschäftigung der Jugendlichen, Auswirkungen der Erwerbsarbeit auf ihre körperliche und geistige Entwicklung, Aus- und Fortbildungsmöglichkeiten, Ursachen einer fehlende Berufsausbildung sowie deren Folgen für die berufliche Entwicklung der Jugendlichen. Ferner sollte nach ihrem „sittlichen Verhalten“ sowie ihrer staatsbürgerlichen Bildung und Haltung gefragt werden.111 Anlass für das Forschungsvorhaben der GfSR, das scheinbar nie realisiert wurde, war vermutlich die fehlende Datenbasis für die geplante Einführung der obligatorischen Pflichtfortbildungsschule. Über die Ausweitung der Schulpflicht und die berufliche Bildung der männlichen Jugendlichen wurde bereits seit längerem diskutiert; der VfS hatte z. B. bereits 1875 Gutachten über die Reform des Lehrlingswesens in Deutschland eingeholt. Die Arbeits- und Lebensverhältnisse von nicht mehr schulpflichtigen jugendlichen Arbeitern und Arbeiterinnen waren seitdem aus dem Blickwinkel der Sittlichkeitsfrage vielfach problematisiert worden, empirisch fundierte Erkenntnisse lagen jedoch nicht vor. Die Diskussionen der männlichen Experten
109 Kempf (1931a). 110 Der vollständige Titel lautet: „Das Leben der jungen Fabrikmädchen in München. Die soziale und wirtschaftliche Lage ihrer Familie, ihr Berufsleben und ihre persönlichen Verhältnisse“, vgl. Kempf (1911). 111 Zur Ankündigung der geplanten Erhebung der GfSR siehe Soziale Praxis (1908); Die Frauenbewegung (1908); Kempf (1911), S. IX.
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über die Fortbildungsschule konzentrierten sich auf die männliche Jugend. Kempf wollte mit ihrer Dissertation dagegen eine Diskussionsgrundlage für die Einführung eines auch für Mädchen verpflichtenden gewerblichen (d. h. berufsbegleitenden) Fortbildungsunterrichts schaffen. Durch ihre langjährige Berufspraxis als Volksschullehrerin und ihre Zusammenarbeit mit Kerschensteiner brachte Kempf die erforderlichen Grundlagen für die Bearbeitung einer solchen Untersuchung mit. Um sich einen ersten Eindruck über die Ausgestaltung dieser Schulen zu verschaffen, besichtigte Kempf zunächst Fortbildungsschulen für die männliche Jugend, da es um 1910 noch keine Fortbildungsschulen für weibliche Jugendliche gab.112 Die Studie, die Kempf anschließend durchführte, ging weit über die enge Fragestellung des Vorhabens der GfSR hinaus. Denn Kempf kombinierte die Fragestellung der GfSR (auch wenn sie das in der Einleitung nicht explizit benennt) mit den Forschungsfragen der Enquete des VfS über die „Auslese und Anpassung (Berufswahl und Berufsschicksal) der Arbeiter in den verschiedenen Zweigen der Großindustrie“. In der öffentlichen Wahrnehmung und bei den Rezensionen der Arbeit stand vor allem dieser Bereich im Vordergrund. Neben Rosa Kempf griffen noch zwei weitere Studentinnen Lujo Brentanos die von der GfSR aufgeworfenen Forschungsfragen in ihren Dissertationen auf, Elisabeth Hell (1880–19??) und Käthe Mende (1878–1963). Sie erweiterten die Fragestellung der GfSR jedoch nicht in demselben Ausmaß wie Kempf.113 Hell untersuchte die Situation jugendlicher Schneiderinnen und Näherinnen, Mende die Situation junger Verkäuferinnen in München. Wie Kempf scheinen sich auch Hell und Mende das Thema ihrer Dissertationen selbst ausgesucht zu haben und haben ihre Untersuchungen auch weitgehend selbstständig durchgeführt. Wie bei Kempf liegt ein Schwerpunkt ihrer Untersuchungen auf Fragen der (fehlenden) beruflichen Bildung. Thematische Überschneidungen gab es auch zu Rose Otto (1877–1967), einer weiteren Promovendin Brentanos, die „Über Fabrikarbeit verheirateter Frauen“ (1910) forschte und auf deren Ergebnisse Kempf in ihrer Studie mehrfach verweist.114 Die Dissertationen von Kempfs Kommilitoninnen wurden in der von Brentano herausgegebenen Reihe „Münchener volkswirtschaftliche Studien“ im Cotta Verlag veröffentlicht. Die Herausgabe der Dissertationen in solchen Schriftreihen gehörte zu den Möglichkeiten der Professoren, ihre Doktorandinnen zu unterstützen. Dass Kempfs Dissertation nachträglich in die Reihe der Auslese- und Anpassungsstudien des VfS aufgenommen wurde, hing sicher mit dem Erfolg ihrer Untersuchung zusammen. Kempfs Studie war außerdem neben der arbeitspsychologischen Untersuchung von Marie Bernays die einzige in der Reihe der Auslese- und Anpassungsstudien, die sich ausschließlich mit Frauenarbeit befasste.115 112 Kempf (1911), S. XI. 113 Hell (1911); Mende (1912); vgl. Silbermann (1912a). 114 Siehe z. B. Kempf (1911), S. 127. Rose von Mangoldt, geb. Otto arbeitete anschließend als Wohnungsinspektorin in Halle. 115 Bernays (1912a).
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2.2.1.1 Sample und methodische Vorgehensweise Das Sample von Rosa Kempfs Studie umfasste 270 jugendliche Arbeiterinnen im Alter zwischen 14 und 18 Jahren, die in Fabriken mit mindestens zehn Beschäftigten in verschiedenen industriellen Branchen arbeiteten. Das Sample bildete ein breites Spektrum der Fabrikarbeit von Frauen in München ab: Die Befragten arbeiteten als Wäscherinnen, Tabakarbeiterinnen, Handschuh- und Krawattennäherinnen, Stepperinnen in Schuhfabriken, Lackiererinnen und Packerinnen. Den Grundstock des Untersuchungssamples bildeten sonntagsschulpflichtige Mädchen, deren Adressen Kempf von der Münchner Schulverwaltung zur Verfügung gestellt wurden. Von diesen Mädchen hatte Kempf wiederum Adressen von älteren, nicht mehr sonntagsschulpflichtigen Arbeiterinnen erhalten. Aus heutiger Sicht erscheint die auf diesem Weg zustande gekommene Sample-Bildung zwar fragwürdig, für die Zeit des Kaiserreichs und die damaligen grundsätzlichen Schwierigkeiten, überhaupt Angehörige der Arbeiterschaft zur Mitarbeit an einer empirischen Studie zu gewinnen, war dies aber eine gängige Vorgehensweise. Sie war eine der wenigen Möglichkeiten, eine breite empirische Basis zu erhalten und damit Voraussetzung für den Erfolg der Studie. Kempfs Untersuchung war sehr aufwendig; allein die Datenerhebung, bei der sie verschiedene qualitative Erhebungsverfahren kombinierte, dauerte von November 1908 bis zum März 1910.116 Ein Kernstück bildeten die Interviews mit den jugendlichen Arbeiterinnen. Die Befragungen wurden am Abend und am Wochenende bei den Arbeiterinnen zu Hause durchgeführt, um zusätzlich einen Eindruck von der Lebenswelt, dem familiären Umfeld und der Wohnsituation zu gewinnen. Da diese Vorgehensweise bei der Größe des Samples sehr zeitintensiv war, wurde Kempf, ähnlich wie schon Dyhrenfurth, bei der Befragung von mehreren Volksschullehrerinnen, einer Studentin und zwei Waisenpflegerinnen unterstützten.117 Über die „persönliche Fühlungnahme“ und ihre jahrelange Erfahrung als Volksschullehrerin im Umgang mit den „Müttern und Vätern des Volkes“ gelang es Kempf (und ihren Mitarbeiterinnen) ohne größere Schwierigkeiten, den Zugang zum Feld zu erhalten. Bei hunderten Besuchen in Arbeiterfamilien hatte Kempf, wie sie ausdrücklich im Vorwort festhielt, „sehr wenig Unangenehmes erlebt“. Und nur in vier Fällen sei ihr mit „persönliche[r] Unfreundlichkeit“ begegnet und ihr die Auskunft verweigert worden.118 Grundsätzlich hatte Kempf jedoch Verständnis dafür, wenn ArbeiterInnen misstrauisch oder nicht bereit waren, an Studien der bürgerlichen Sozialforschung teilzunehmen. Generell erschien es ihr überhaupt fraglich, inwieweit „ein einzelner um solch theoretischer Erkenntnisse willen“ bereit war, sich „anderen Menschen mitzuteilen“. Denn „jeder der Befragten“ müsse sich „sagen, dass er selbst die Verbesserung der Lage, wel116 UAM, M II 34, Promotionsakte Rosa Kempf. 117 Kempf (1911), S. X. 118 Kempf (1911), S. X. Zu den Schwierigkeiten, die andere Sozialforscherinnen beim Zugang zum Feld hatten, siehe z. B. Kesten-Conrad (1912), S. 534; Hell (1911), S. 8.
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che durch solche Untersuchungen eingeleitet werden kann, wahrscheinlich nicht mehr“ miterleben werde.119 Kempf reflektierte in der Einleitung nicht nur die Befragungssituation und ihre eigene Rolle im Forschungsprozess, sondern auch mögliche Fehlerquellen und Faktoren, die bei der Datenerhebung und -auswertung zu verfälschenden Aussagen und Ergebnissen führen konnten. Sie war davon überzeugt, dass die Erfahrung, die sie als Volksschullehrerin im Umgang mit Kindern und Jugendlichen aus der Arbeiterschaft gesammelt hatte, ihr bei der Auswertung und Einschätzung der Daten half. Als Beispiel nannte sie das sogenannten „Mitverdienen“, eine weit verbreitete und charakteristische Form weiblicher Erwerbstätigkeit, die für das Einkommen der Arbeiterfamilien existenziell war, aber von amtlichen Erhebungen fast nie erfasst wurde. Denn wegen der „äußerst mannigfaltigen, abwechselnden und schwer erfassbaren Formen“ des „Mitverdienens“ wurde es „sehr häufig übersehen“ und war nur schwer vollständig zu ermitteln. Außerdem würden die Arbeiterfamilien, so Kempf, bei Befragungen nur ungern „Angaben über die Erwerbsarbeit der Frau“ machen, „teils weil sie sich scheu[t]en, die oft unsicheren und schwankenden Einnahmen der Frau als eine Grundlage ihrer wirtschaftlichen Existenz zu bezeichnen, teils weil sie sich selbst wohlhabender und sozial höher stehend dünk[t]en, wenn die Männer wenigstens nach außen alleinige Ernährer der Familie zu sein scheinen“.120 Um sich einen Eindruck über die Arbeitsbedingungen der Fabrikmädchen zu verschaffen, besichtigte Kempf insgesamt 27 Fabriken; dabei wurde sie von den jeweiligen Fabrikbesitzern selbst oder von deren Betriebsleitern herumgeführt. Kempf machte ExpertInneninterviews mit älteren und erfahrenen Arbeitern und Arbeiterinnen, die ihr von den Gewerkschaften empfohlen worden waren. Die Auskünfte dieser ExpertInnen dienten ihr als Ergänzung zu den Angaben der jungen Arbeiterinnen. In zwei Fabriken führte sie mit Einverständnis der Fabrikbesitzer zusätzlich eine jeweils einwöchige Besichtigung, also eine offen teilnehmende Beobachtung durch. Zu den von ihr eingesetzten Methoden gehörte außerdem die verdeckte Beobachtung. Ebenfalls mit Zustimmung der Fabrikbesitzer, jedoch ohne Wissen des Aufsichtspersonals und der Arbeiterinnen forschte Kempf in vier weiteren Fabriken unerkannt als Arbeiterin. Sie begründete ihr Vorgehen folgendermaßen: „Ich verfolgte dabei den Zweck, den Ton kennenzulernen, der in den Fabriken unter der Arbeiterschaft herrscht, ein Etwas, das man auf keinen Fall erfragen, sondern nur miterlebend empfinden kann. Ich wollte wissen, ob die Fabrik tatsächlich für die jungen Mädchen ein solch ungeeigneter Aufenthalt sei, wie von manchen Stellen behauptet wird. Bei diesem Aufenthalt in den Fabriken lernte ich aber weit mehr; ich lernte sowohl für meine Arbeit wie auch
119 Kempf (1911), S. X. 120 Kempf (1911), S. 16.
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III Die Promovendinnen für die ganze Beurteilung der vorliegenden Fragen so Wertvolles, dass mir nichts diese Wochen ersetzen könnte.“121
Solche Inkognito-Aufenthalte bildeten bei empirischen Untersuchungen immer noch die Ausnahme. Kempf war deshalb, wie ihre Vorgängerinnen Elisabeth Gnauck-Kühne und Beatrice Webb, davon überzeugt, anderen WissenschaftlerInnen Entscheidendes voraus zu haben. Denn das auf diesem Weg gewonnene konkrete und direkte Wissen über die Welt der Arbeiterinnen war über eine rein theoretische Auseinandersetzung nicht zu erlangen. Auch während der Weimarer Republik galt die direkte Beobachtung unter Sozialforscherinnen als wertvolle Erhebungsmethode zur Datengewinnung über das proletarische Leben.122 Innovativ und eine methodische Erweiterung waren auch die Aufsätze, die Rosa Kempf die Fabrikmädchen über ihre Zukunftserwartungen und -wünsche verfassen ließ. Dadurch erhielt sie einen wenn auch begrenzten Einblick in das subjektive Erleben der Arbeiterinnen. Als Methode wurde die „vergleichende Aufsatzforschung“ erst Ende der 1920er Jahre entwickelt und ausgearbeitet, vor allem von Ernst Lau (18??–19??).123 Sie galt als ein Weg, um durch „aus dem eigenen Inneren geschöpfte Mitteilungen“ der arbeitenden Jugend „Einblick in die tieferen Schichten des Seelenlebens“ zu bekommen. Kempf hatte noch kein methodisch ausgearbeitetes Konzept, wie die auf diesem Weg gewonnenen Aussagen zu verwertbaren Daten aufgeschlüsselt und systematisiert werden konnten. Sie bezog die Aussagen der jungen Frauen vermutlich deshalb nicht in ihre empirische Auswertung mit ein. Die Ergebnisse dieser Befragungen fügte sie aber als separates Kapitel mit dem Titel „Das Gedankenleben der Mädchen“ an ihre Studie an. Kempfs Studie war die erste, in der Fabrikarbeiterinnen direkt zu Wort kamen. Das Kapitel bestand aus einer Zusammenstellung von eindrucksvollen Zitaten aus den Aufsätzen der Mädchen und aus einem Kommentar Kempfs, inwieweit die Mädchen ihrer beruflichen Perspektiven realistisch oder unrealistisch einschätzten.124 Kempf hat in ihrer Studie weder die von ihr verwendeten Fragebogen oder die während der Interviews erfragten Themenkomplexe dokumentiert, noch geht sie darauf ein, nach welchen Gesichtspunkten sie die Daten ausgewertet hat. Unklar bleibt z. B., ob bei den ExpertInnengesprächen überhaupt ein Fragebogen zum Einsatz kam oder ob es eine offene, narrative und unstrukturierte Befragung war. Es ist deshalb schwer zu überprüfen, wie stark ihre Vorannahmen ihre Bewertung des Datenmaterials beeinflusst haben. Auch inwieweit Kempf ihre Aussagen induktiv aus den durch die Datenerhebung gewonnenen Erkenntnissen über die Berufssituation der jungen Fabrikmädchen ableitete, lässt sich nicht feststellen.
121 122 123 124
Kempf (1911), XII. vgl. z. B. Franzen-Hellersberg (1932), S. 3. Zur vergleichenden Aufsatzforschung siehe Weyrather (2003), S. 137–142. Vgl. Weyrather (2003), S. 67.
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2.2.1.2 Inhalt und Ergebnisse Rosa Kempfs Dissertation ist eine auch heute noch spannend zu lesende sozialgeschichtliche Quelle, denn sie vermittelt ein eindrückliches und vielfältiges Bild der Berufswahl und der Berufsschicksale junger Fabrikarbeiterinnen sowie ihrer Mütter und Schwestern. Kempf rekonstruierte die soziale Herkunft und die Lebensverhältnisse der jungen Arbeiterinnen sowie ihrer Eltern und Geschwister ebenso wie die Wohnverhältnisse und die Lebenshaltung der Familien. Sie beschrieb Art und Ort der Fabrikarbeit der Mädchen, ihre Arbeits- und Lohnbedingungen, ihre Stellung innerhalb des Betriebs sowie ihre Zukunftswünsche und -perspektiven. Kempf interessierte sich dafür, ob sich generationsspezifische Veränderungen in den Bedingungen des Erwerbslebens von Müttern und Töchtern feststellen ließen, z. B. bei der Entscheidung für und die Akzeptanz der weiblichen Erwerbstätigkeit. Sie analysierte deshalb nicht nur die Erwerbsbiografien der Fabrikmädchen, sondern auch die ihrer Mütter und Schwestern und kontrastierte diese mit denen der Väter und Brüder. Dadurch gelang es ihr, das geschlechtsspezifische an den Berufswegen der Arbeiterinnen herauszuarbeiten. Sie veranschaulichte ihre Analyse an vielen Stellen mit Fallbeispielen und machte dadurch das durch lange Arbeitszeiten, niedrigen Lohn, Unterernährung, Übermüdung, mangelnde Aus- und Weiterbildung und fehlende Zukunftsperspektiven gekennzeichnete Berufsleben der Münchner Fabrikmädchen konkret nachvollziehbar.125
Berufs- und Erwerbsverhältnisse der Mütter der Arbeiterinnen Die Ergebnisse der Interviews zeigten, dass die Familien auf das Einkommen der Frauen angewiesen waren und die Erwerbstätigkeit schon für die Mütter der Fabrikmädchen die Normalität darstellte.126 264 der 364 Mütter waren erwerbstätig, wobei Art und Umfang der Tätigkeiten sehr unterschiedlich ausfiel. Bei den wenigen nichterwerbstätigen Müttern gab es gravierende Gründe, weshalb sie nicht außer Haus arbeiteten. Sie waren entweder invalid, zu krank oder hatten einen sehr großen Haushalt (mit sieben oder mehr Personen, häufig mit Säuglingen oder Kleinkindern) zu führen. Nur wenige der befragten Mütter gaben an, „dass sie ihr Zuhausebleiben selbstverständlich“ fänden „oder wegen des guten Verdienstes ihres Mannes Erwerb nicht nötig“ hätten.127 Kempfs detailreiche Darstellung macht deutlich, wie sehr sich die Erwerbsarbeit der Mütter von den Berufsbiografien männlicher Arbeiter unterschied. Im Gegensatz zu den Männern waren die Berufstätigkeiten und Beschäftigungsverhältnisse der Mütter sehr disparat, häufig mussten sie mehrere Tätigkeiten kombinieren. Nur wenige waren fest angestellt,
125 Kempf (1911), S. 208. 126 Kempf (1911), S. 30. 127 Kempf (1911), S. 30.
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viele arbeiteten als Selbstständige (d. h. auf eigene Rechnung und ohne soziale Absicherung) als Näherinnen, Wäscherinnen oder „Putzerinnen“ oder als Tagelöhnerinnen in der Landwirtschaft, in Gärtnereien und bei der Straßenreinigung. Sie verdingten sich als Heimarbeiterinnen oder sogenannte „Waldgängerinnen“, d. h. Frauen, die sich mit dem Sammeln von und dem Handel mit Waldprodukten wie Heidelbeeren einen Verdienst erwarben. Zu den Nebenverdiensten gehörte auch das Vermieten von Schlafplätzen, das Austragen verschiedener Produkte wie Brot oder Zeitungen und die Aufnahme und Betreuung von Pflegekindern. Die Gemeinsamkeit dieser sehr unterschiedlichen Tätigkeiten bestand darin, dass sie körperlich anstrengend, mit überlangen Arbeitszeiten verbunden und schlecht bezahlt waren. Wegen des unterschiedlichen Umfangs und der verschiedenen Arten des Verdienstes war eine Berechnung und aussagekräftige Darstellung der Einkommen schwierig bis unmöglich. Kempfs Auswertung zeigte, dass selbst die voll berufstätigen Frauen, die durch die Kombination mehrerer Tätigkeiten auf mehr als 40 Arbeitsstunden pro Woche kamen, nur ein extrem niedriges durchschnittliches Jahreseinkommen erreichten, und zwar unabhängig von der Art des Erwerbs. Kempf machte vor allem die fehlende gesellschaftliche Anerkennung der Erwerbsarbeit von Frauen dafür verantwortlich. Denn die Bedeutung der Erwerbsarbeit dieser Frauen für den Familienverdienst wurde weder von ihren Familien oder der Gesellschaft noch von ihnen selbst wahrgenommen und anerkannt. Da die Erwerbstätigkeit von Frauen gesellschaftlich weiter abgelehnt und deren alleinige Bestimmung im Hausfrauenberuf gesehen wurde, blieben der Berufseinstieg und die Berufsplanung vieler Frauen dem Zufall überlassen. Obwohl der überwiegende Teil dieser Frauen auf die Erwerbstätigkeit angewiesen war, hatte fast keine von ihnen die Möglichkeit gehabt, „etwas zu lernen, was sie später ernähren könnte“.128 Hinzu kam, dass Frauen trotz der Berufstätigkeit allein für die Hausarbeit zuständig blieben, was unausweichlich zu einer Doppelbelastung der Arbeiterinnen führte. Diese zusätzliche Arbeit wurde gesellschaftlich ebenfalls nicht anerkannt. Auch der volkswirtschaftliche Mehrwert, den die Frauen mit der Hausarbeit schufen, und dessen Realwert für das Familieneinkommen wurde als solcher nicht wahrgenommen.129
Berufs- und Erwerbsverhältnisse der jungen Arbeiterinnen Kempfs Untersuchung zeigte, dass sich das Berufsschicksal der Fabrikmädchen im Vergleich zu dem ihrer Mütter kaum verändert hatte.130 Die Erwerbsarbeit von Frauen galt noch immer als ein ökonomisch notwendiges Übel und war weiterhin ungelernte, schlecht bezahlte und gesellschaftlich nicht anerkannte Arbeit. Zwar
128 Kempf (1911), S. 35. 129 Kempf (1911), S. 42. 130 Kempf (1911), S. 43, S. 52 und S. 90.
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begannen die Fabrikmädchen wie ihre Brüder unmittelbar nach dem Ende ihrer Schulzeit im Alter von 14 Jahren zu arbeiten, doch im Gegensatz zu ihren Brüdern erhielten sie keine Ausbildung. Nur 5 % der befragten jungen Frauen waren nicht erwerbstätig; für alle anderen war die Erwerbsarbeit als Zuverdienst für die Familie aus ökonomischen Gründen notwendig und der Normalfall. Der Zeitpunkt des Arbeitseintritts, die Wahl des Arbeitsplatzes und ihre berufliche Laufbahn war nicht die Entscheidung der jungen Frauen, sondern wurden von den Interessen ihrer Familien und der Arbeitgeber bestimmt. Ihre Familien erhofften sich durch die Arbeit der Töchter einen möglichst hohen Zuverdienst, die Arbeitgeber waren vor allem an billigen und „störungsfreien“ Arbeitskräften interessiert. Die Bedeutung einer Berufsausbildung für das Berufsschicksal, die Zukunft und die soziale Absicherung der jungen Arbeiterinnen spielte dabei keine Rolle. Der Berufsweg der Fabrikmädchen in Kempfs Untersuchung begann wie bei deren Schwestern mit kleineren Hilfsarbeiten und anderen ungelernten Tätigkeiten in kleinen und mittleren Betrieben. Von dort aus arbeiteten sie sich mit Stellenund Berufswechseln zu den Arbeitsplätzen in größeren Betrieben vor, die für sie wegen der etwas höheren Verdienstmöglichkeiten attraktiv waren. Die Großbetriebe beschäftigten in der Regel ArbeiterInnen, die älter als 16 Jahre waren, weil diese nicht mehr schulpflichtig waren und weil bestimmte Arbeitsschutzregelungen für diese Altersgruppe wegfielen. Eine Qualifizierung war mit einem Wechsel in besser bezahlte Stellungen ebenso wenig verbunden wie Aufstiegsmöglichkeiten oder ein höheres soziales Prestige der Arbeit. Angesichts der Perspektivlosigkeit der Berufsschicksale der Arbeiterinnen war deren häufiger Wechsel von der einen industriellen Sparte zu einer anderen für Kempf nachvollziehbar; sie verteidigte deshalb „ihre“ Fabrikmädchen gegen den Vorwurf der Unstetigkeit. Für Kempf war es eine aus der Not heraus getroffene rationale Entscheidung, wenn die Arbeiterinnen bei einem minimal höheren Lohnangebot ihren alten Arbeitsplatz und damit das ihnen vertraute Arbeitsumfeld verließen. Angesichts dieser Perspektivlosigkeit zeigte Kempf auch Verständnis dafür, dass der „Traumberuf“ der „geistig regsamen und körperlich kräftigen Mädchen“ oftmals die Arbeit als Kellnerin war, obwohl diese Arbeit als schwer und mühsam galt und ihr etwas „unsittliches“ anhaftete.131 Kempfs Darstellung vermittelt auch einen Eindruck der geschlechtsspezifisch hierarchisch strukturierten Arbeitswelt.132 Sie zeigt die vertikale und horizontale Aufteilung und Hierarchisierung der Fabrikarbeit in Männer- und Frauenberufe und die spezifischen Charakteristika der jeweiligen Arbeitsbereiche. Frauenarbeit war in diesem Kontext vor allem ungelernte und schlecht bezahlte Arbeit. Sie konnte ohne (technische) Vorbildung ausgeübt werden und hatte nur wenig Prestige. Eine Qualifizierung fand kaum oder gar nicht statt. Frauen wurden für die gleiche und unter denselben Bedingungen geleistete Arbeit schlechter bezahlt als
131 Kempf (1911), S. 58. 132 Siehe z. B. Kempf (1911), S. 76 und S. 90.
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ihre männlichen Kollegen. Die Fabrikmädchen arbeiteten in Branchen mit einem hohen Frauenanteil und übernahmen in der Regel weiblich konnotierte Tätigkeiten. Obwohl die Fabrikmädchen in Branchen und Abteilungen mit überwiegend weiblicher Arbeiterschaft arbeiteten, bestand das ihnen übergeordnete leitende und Aufsichtspersonal ausschließlich aus Männern, da nur Männer Vorarbeiter oder Meister werden konnten. Der Umgangston, den Kempf bei ihren Fabrikaufenthalten wahrnahm, brachte die geschlechtsspezifische betriebliche Hierarchie und die fehlende Wertschätzung der Arbeiterinnen zum Ausdruck. Frauen wurden von ihren männlichen Kollegen nicht als gleichgestellt akzeptiert, was sich für Kempf auch im Umgangston widerspiegelte. Während die Arbeiterinnen von ihren Arbeitskollegen als „Herren“ sprachen, wurden sie selbst von diesen als „Weiber“ bezeichnet.133 Trotzdem musste Kempf bei ihren Befragungen und Beobachtungen feststellen, dass die Arbeiterinnen mehrheitlich mit ihrer Arbeit zufrieden waren und sie gern erledigten, weil sie, so das Ergebnis der Befragungen, „sauber“ und „zierlich“ sei und „Geschicklichkeit“ sowie eine „feine Hand“ erfordere. Über ihre mühsame, anstrengende und schlecht bezahlte Arbeit scheinen sich Arbeiterinnen kaum beklagt zu haben.134 Kempf sah in der Monotonie der industriellen Fabrikarbeit einen wesentlichen Grund für die Zufriedenheit der Arbeiterinnen, und um das nachvollziehbar zu machen, bot sie ihren bürgerlichen Leserinnen Anknüpfungspunkte an die eigenen Arbeitserfahrungen: „Den jungen Mädchen wie auch den erwachsenen Frauen ist ihre gleichförmige Beschäftigung in der Regel ganz lieb. Das Zusammenarbeiten mit vielen Arbeitskolleginnen in großen hellen Sälen, der Wetteifer, der für die Fleißigen daraus entspringt, die Unterhaltung und ständige Zerstreuung während der Arbeit durch die Anwesenheit so vieler Menschen, während das Einziehen selbst ein nicht allzu starkes surrendes Geräusch verursacht – in all dem ist etwas enthalten, was an die alten Spinnstuben erinnert, wenn auch das strenge und hastige Arbeiten im Akkordlohn der Arbeiterschaft ein anderes Gepräge gibt. So wenig Gelegenheit zum eigenen Denken aber auch in der Arbeit selbst liegt, so ist die Zufriedenheit der Arbeiterinnen doch auch erklärlich. Nur für geistig regsame, eigentlich nur für produktiv veranlagte Naturen liegt in dem Einerlei einer gefahrlosen Beschäftigung etwas Quälendes. Diese Mädchen aber sind so schlecht ernährt und stammen aus sozial so tiefstehenden und wirtschaftlich so bedrängten Verhältnissen, als dass die geistige Spannkraft des Durchschnitts groß sein könnte. Das Bewusstsein, dass ihnen ein gleich bleibender Erwerb so gut wie gesichert ist, übertönt die geistige Not. Das Einerlei einer reinlichen und an sich nicht unangenehmen Beschäftigung wird zudem von den Damen der vermögenden Kreise als freiwilliger Zeitvertreib gewählt: ihr stundenlanges, ja tagelanges Stricken (im Zeitalter der Strickmaschine), das Häkeln und Sticken von vorgezeichneten Mustern, das alles sind Tätigkeiten, die sich ihrer Natur nach vom Borsteneinziehen, Falzen und ähnlichem nicht unterscheiden. Die Differenz liegt in der strammen Disziplin der Fabrik und in der Hast des Arbeitens infolge der Nötigung zum Erwerb. Es ist aber ganz nutzlos, die Arbeiterinnen über die gleichförmige und gedan-
133 Kempf (1911), S. 93. 134 Siehe z. B. Kempf (1911), S. 69 und S. 207.
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kenlose Art der Arbeit zu bedauern, solange man die Nötigung zum Erwerb nicht von ihnen nehmen kann.“135
Ein soziologisch interessantes Ergebnis von Rosa Kempfs Studie war, dass sie anhand ihres Datenmaterials, ähnlich wie Marie Bernays136, zeigen konnte, dass sich bei den Arbeiterinnen verschiedener Industriezweige unterschiedliche Lebensstile herausbildeten. Die Zigarrenarbeiterinnen etwa zeichneten sich nach Kempfs Beobachtungen verglichen mit den anderen Fabrikarbeiterinnen durch eine größere Lebenslust aus, Kempf erklärt das mit deren höherem Einkommen.137
Wohnverhältnisse und Konsum In Rosa Kempfs Studie nahmen die Wohnverhältnisse und die Haushaltsbudgetrechnungen, wie auch in anderen sozialen Untersuchungen von NationalökonomInnen, einen großen Raum ein, weil sie ein wichtiger Indikator für den Wohlstand oder treffender die Armut waren. Die Fabrikmädchen ihrer Untersuchung wohnten überwiegend in den Arbeitervierteln der Münchner Vorstädte, auf engstem Raum in drei- bis fünfstöckigen dicht bewohnten Mietskasernen. Kempf skizzierte detailliert die Ausstattung und Einrichtung der Wohnungen. Dadurch entstand ein bedrückendes Bild der Enge und Armut, in der die jungen Fabrikarbeiterinnen lebten. Anders als viele zeitgenössische Studien und Vorurteile, die davon ausgingen, dass die Erwerbsarbeit der Frauen zu einer Vernachlässigung des Haushalts und der Wohnungen führte, kam Kempf zu dem Ergebnis, dass wesentlich weniger „verwahrloste“ Haushalte bei den berufstätigen Arbeiterinnen feststellbar waren als bei den nicht berufstätigen. Kempf erklärte das mit einem größeren Bedürfnis der berufstätigen Frauen nach „eine[r] schmucke[n] nette[n] Häuslichkeit“, da diese im Vergleich zu den nicht berufstätigen Frauen ihr Heim „viel mehr als Stätte der Erholung und des freudigen Zusammenlebens betrachten, denn als Stätte der Arbeit“.138 Kempf nahm außerdem an, dass sich „die Disziplin des streng geordneten Berufslebens“ auf andere Handlungen der Frauen wie etwa die Haushaltsführung übertrage.139 Mit aufwendigen Berechnungen wies Kempf am Beispiel von Haushaltsbudgetrechnungen ausgewählter Familien nach, dass der in den amtlichen Statistiken angesetzte Normalbedarf viel zu niedrig war und nicht annähernd den realen durchschnittlichen Verbrauch einer Familie deckte.140 Da das Haushaltseinkommen nicht für die Ernährung der Familie ausreichte, waren nahezu alle Fabrikmädchen unterernährt. Dies wiederum war, wie Kempfs Analyse zeigte, der 135 136 137 138 139 140
Kempf (1911), S. 199f. und S. 70; vgl. Weyrather (2003), S. 110–112 und S. 67. Zu den „Saalmoden“ in Bernays Studie siehe Kapitel III 3.2.1.2 der vorliegenden Arbeit. Kempf (1911), S. 76. Kempf (1911), S. 44. Kempf (1911), S. 119f. Kempf (1911), S. 155.
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Hauptgrund für schlechte Arbeitsleistung und mangelnde Ausdauer und nicht, wie oft unterstellt wurde, die fehlenden hauswirtschaftlichen Kenntnisse und Fähigkeiten der Arbeiterinnen. Bei dem niedrigen Haushaltseinkommen, das den Familien zur Verfügung stand, konnte weder die Erziehung zur Sparsamkeit noch eine hauswirtschaftliche Ausbildung wesentlich zu einer Verbesserung der Situation beitragen.141 Mit dem in Listen dokumentierten Kleiderbestand der Fabrikmädchen widerlegte Kempf auch das Vorurteil, „die Ernährung der Fabrikarbeiterinnen sei deshalb eine so schlechte, weil sie einen zu großen Teil ihres Einkommens auf Kleiderluxus verwendeten“. Der Kleiderbestand umfasste das Notwendigste, zeigte jedoch auch „die mehr oder minder große Geschicklichkeit“ der Fabrikmädchen „in der Verwendung ihres Geldes“. Denn es gelang ihnen, wie Kempf bewundernd bemerkte, mit den einfachsten Mitteln aus ihrem spärlichen Kleiderbestand etwas zu machen, „was etwas gleich“ sah. Kempf fand es nachvollziehbar, dass die Fabrikmädchen sich bemühten, nicht schon von weitem an ihrer Kleidung als arm erkannt zu werden. In ihrem Wunsch nach einem gefälligeren Äußeren sah Kempf die „Vorstufe zu einem kultivierten Leben“.142
Für die Erwerbsarbeit der Frauen und für den technischen Fortschritt Es ist vor allem Kempfs progressive Haltung zur Frauenerwerbsarbeit und zur technischen Modernisierung der Arbeitswelt, durch die sich ihre Studie von vergleichbaren zeitgenössischen Untersuchungen abhob. Anders als viele ihrer ZeitgenossInnen bewertete Kempf die Fabrikarbeit von Müttern konsequent positiv. Denn trotz der schlechten Rahmenbedingungen sah sie in ihr ein Zeichen des Kulturfortschritts: Je mehr die Arbeiterinnen in der Fabrik leisteten, desto besser würden auch ihr Lebensstandard sein.143 Diese Haltung kommt sehr deutlich im abschließenden, essayartigen Kapitel der Studie zum Ausdruck, in dem Kempf ihre Ergebnisse ausgehend von der These „[Der] Arbeitslohn als bestimmender Faktor im Leben der Mädchen; Gründe für seinen Tiefstand“ nochmals aufgreift. Dieses Kapitel wurde von der zeitgenössischen Rezension als „besonders wertvoll“ und „besonders lehrreich und eindrucksvoll“ angesehen.144 Das Vorgehen, die empirischen Befunde theoretisch zu reflektieren, hatte Max Weber im Arbeitsprogramm
141 Kempf (1911), S. 155. 142 Kempf (1911), S. 163. Untersuchungen über Fabrikarbeiterinnen aus den 1980er Jahren zeigen die Resistenz dieser Vorurteile, siehe z. B. Becker-Schmidt/Knapp/Schmidt (1984), S. 9: „Die Fabrikarbeiterin, die das gleiche tut [wie die Ärztin, die Rechtsanwältin, die Lehrerin, usw.], bekommt es dagegen mit handfesten Vorurteilen zu tun: ihre außerhäusliche Tätigkeit schade den Kindern, sie arbeite ja doch nur wegen des Geldes und solle auf ‚mehr Luxus‘ verzichten.“ 143 Weyrather (2003), S. 75. 144 Bernays (1912g), S. 246; Kesten-Conrad (1912) S. 533.
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der Auslese- und Anpassungsstudien empfohlen. Kempf war eine der Wenigen, die dieser Vorgabe Webers folgte und sich nicht auf eine umfassende Beschreibung ihrer Ergebnisse beschränkte, sondern das Berufsschicksal der Fabrikmädchen aus einer kritischen Perspektive analysierte. Dabei kam sie zu dem Schluss, dass der Lohnfrage eine Schlüsselrolle zufalle. Kempf war davon überzeugt, dass sich nur durch höhere Löhne eine grundsätzliche Verbesserung der sozialen Lage der Arbeiterinnen erreichen ließ. Sie fasste deshalb in einem ersten Schritt nochmals die Ursachen dafür zusammen, dass die Arbeiterinnen in der Industrie nicht als vollwertige Arbeitskräfte anerkannt und entsprechend bezahlt wurden. Vonseiten der Industrie wurde das mit der schlechten Arbeitsleistung der Frauen begründet. Die geringere Leistungsfähigkeit der Mädchen und Frauen war jedoch, wie Kempf anmerkte, eine Folge der fehlenden schulischen und gewerblichen Bildungsangebote, der Unterernährung und der zusätzlichen Belastung durch die Hausarbeit. Die geringere Leistungsfähigkeit war damit ein Ergebnis der geschlechtsspezifischen Arbeitsteilung und der geschlechtsspezifischen familiären Hierarchie. Für Diskriminierung der Frauen bei der Entlohnung war für Kempf vor allem die fehlende gesellschaftliche Anerkennung der Frauenerwerbsarbeit verantwortlich. Obwohl sie seit Generationen für nahezu alle Frauen aus der Arbeiterschaft die Normalität war, wurde sie trotzdem weiterhin als ein vorübergehendes Übel angesehen und abgelehnt. Selbst die Gewerkschaften hofften, dass sie „durch sozialen Kampf möglichst bald wieder vom Erdboden“ verschwinden würde.145 In einem zweiten Schritt begründete Kempf, weshalb ihrer Meinung nach die Lage der Arbeiterinnen nur durch höhere Löhne verbessert werden könne. Nur durch ein höheres Familieneinkommen, das es ermögliche, einen Teil der Hausarbeit auszulagern bzw. Konsumgüter zu kaufen, könne eine tatsächliche Verkürzung der täglichen Arbeitszeit der Fabrikarbeiterinnen erreicht werden. Eine Verkürzung der Fabrikarbeitszeit brachte dagegen keine wirkliche Entlastung, da sie in der Regel eine Erhöhung der Arbeitszeit im Haushalt zur Folge hatte. Denn dann wurde von den Arbeiterinnen erwartet, dass sie durch Eigenproduktion (z. B. durch Herstellung ihrer Bekleidung) zur Senkung des Konsums und damit der Haushaltsausgaben beitragen.146 Eine Neubelebung der Eigenproduktion von Alltagsgegenständen, wie sie von den Hausfrauenvereinen propagiert wurde, lehnte
145 Kempf (1911), S. 187–191. 146 Kempf (1911), S. 194: „Von ihr nun wird man nun nicht nur erwarten, dass sie ihre Kleider und ihr Zimmer selbst rein hält, dass sie ihre Wäsche selbst besorgt und die Löcher ihrer Kleidungsstücke selbst stopft: man wird auch damit rechnen, dass sie einen Teil ihrer Kleidung selbst näht und sich vor allem ihre Nahrung ganz oder doch größtenteils selbst kocht; man erwartet also, dass alle die Geldausgaben bei ihr wegfallen, welche die halbfertigen Waren konsumtionsreif machen und welche die vollständige Eingliederung in die arbeitsteilige Verkehrswirtschaft für den Mann beim täglichen Konsum bedingen.“ Kempf bezeichnet diese Haltung, an Beatrice Webb anknüpfend, als „die Meinung von den geringeren Bedürfnissen der Frauen“.
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Kempf als gesellschaftlichen Rückschritt ab.147 Zur Entlastung der Frauen schlug Kempf vor, zentrale Einrichtungen für körperlich anstrengende, grobe und zeitaufwendige Hausarbeiten wie das Waschen zu schaffen148, denn diese „groben“ Arbeiten seien dafür verantwortlich, dass die Frauen für die „feine“ Handarbeit untauglich wurden, die aber für besser bezahlte Fabrikarbeitsplätze notwendig war.149 Entgegen der vorherrschenden Meinung, Mutterschaft und Kinderreichtum als wesentliche Bestimmung der Frau zu werten, sah Kempf darin eine „enorme Verschwendung an Frauenkraft und eine enorme Verschwendung an Geldmitteln“, was den Wohlstand der Familien vermindere.150 Kempf knüpft mit dieser Argumentation an Brentanos Wohlstandstheorie an, ohne diesen explizit zu nennen. Nach Brentanos Theorie bilden die Anzahl der Kinder und die Größe des Haushalts die wichtigsten Einflussfaktoren für den Wohlstand der Familie.151 In kaum einer zeitgenössischen Studie über Arbeiterinnen wurde die technische Modernisierung so idealisiert wie in Kempfs Untersuchung. Industrieller und technischer Fortschritt bildeten für Kempf eine wichtige Voraussetzung für die Verbesserung der sozialen Lage der Arbeiterschaft. Für „die geistig regsamen Frauen“, davon schien sie überzeugt, könne „das Arbeiten an den Wunderwerken der Technik“ zur Quelle eines ständig wachen Interesses am Fortgang der Arbeit werden, sofern es gelinge, sie „in geistige Beziehung“ zur Maschine zu setzten. Mit einer geradezu naiv anmutenden Technikeuphorie beschrieb Kempf die Akkordarbeit als harmonische Idylle; Kritik von gewerkschaftlicher oder sozialdemokratischer Seite an der Akkordarbeit nahm sie nicht zur Kenntnis: „Für den modern empfindenden Menschen“, schwärmte Kempf, „liegt auch ein Moment der Schönheit in dem zweckvollen rastlosen Zusammenarbeiten so vieler Menschen und so mannigfaltiger Maschinen, in dem wundervollen Ineinandergreifen der Tätigkeiten, die, scheinbar für sich mit der größtmöglichen Schnelligkeit des Akkordarbeitens ausgeführt, doch alle nach dem gleichen Ziele streben.“152 Die Arbeitsbedingungen für Frauen schienen Kempf besser, je größer der Betrieb war. Die erwerbsmäßige Wäscherei für bürgerliche Privathaushalte wertete Kempf z. B. als veraltet und unmodern. Verglichen mit der Arbeit in fabrikmäßig organisierten Großwäschereien in großen, gut ventilierten Räumen sei die Arbeit „in den
147 Kempf (1911), S. 160. 148 Kempf (1911), S. 188. Kempf führte als Beispiel die Volkswohnungen der Kaiser-FranzJosef-Jubiläumsstiftung in Wien an, bei denen die Wäsche aller Mietparteien (mehr als 16.000 Personen) zentral in der Dampfwäscherei der Anstalt gereinigt wurde, vgl. Weyrather (2003), S. 98. Weyrather geht davon aus, dass Kempf bei ihrer Forderung nach „Abschaffung der Hausarbeit“ eine Position August Bebels aufgreift. 149 Kempf (1911), S. 41. 150 Kempf (1911), S. 52. 151 Otto (1910), S. 288. Zu Brentanos Wohlstandstheorie siehe auch Kapitel III 3.2.2.1 der vorliegenden Arbeit. 152 Kempf (1911), S. 84.
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feuchten, schlecht ventilierten Waschküchen der Privathäuser“ zudem gesundheitsschädlicher.153 Die Arbeiterinnen waren aus Rosa Kempfs Sicht Teil einer unterdrückten und in der gesellschaftlichen Hierarchie benachteiligten Gruppe. Doch anders als die Sozialdemokratin Lily Braun, die davon ausging, dass die Rechte dieser unterdrückten Gruppe nur durch einen sozialen Umbruch durchgesetzt werden konnten, betonte Kempf das individuelle Gestaltungspotential der Arbeiterinnen, das nach ihrer Überzeugung letztlich darüber entschied, wie sich Familien- und Erwerbsleben organisieren ließ:154 „Da diese Frauen in ihrer Jugend auf keinen geordneten Erwerbsweg gestellt wurden, ähnlich Männern in gelernten Berufen, spielt die persönliche Tüchtigkeit, vor allem die persönliche Energie und die Stärke des Erwerbstriebes bei den Frauen eine weit größere Rolle als bei den Männern. So erklärt es sich, dass hier die Schicht der selbständigen, ganz auf eigene Kraft und Geschicklichkeit gestellten Frauen die größten Einnahmen erzielt.“155
Diese liberale Sichtweise entsprach weitgehend den Vorstellungen Brentanos.156 Denn Kempf setzte bei den Fabrikmädchen auf die Fähigkeiten des einzelnen Individuums, wenn es darum, sein Glück selbst zu gestalten und der niederdrückenden Armut zu entkommen. 2.2.1.3 Rezension und Bedeutung Rosa Kempf gehörte zu den wenigen MitarbeiterInnen, die bei der Vorstellung der Ergebnisse der Enquete über „Auslese und Anpassung der Arbeiter in verschiedenen Zweigen der Großindustrie“ auf der Tagung des VfS namentlich erwähnt wurden. Heinrich Herkner zollte ihrer methodischen Vorgehensweise in seinem Ergebnisbericht ausdrücklich Anerkennung. „Durch den freundlichen Kontakt von Mensch zu Mensch“ sei es Kempf gelungen, erstaunlich weitgehende Auskünfte zu erhalten.157 Kempfs Studie wurde sowohl in sozialwissenschaftlichen und nationalökonomischen Fachzeitschriften als auch in der Presse der Frauenbewegung besprochen. Nationalökonomen wie Josef Silbermann (18??–19??), ein Experte auf dem Gebiet der Arbeiterfrage und der gewerblichen Bildungsfragen, würdigten Kempfs Arbeit als eine „tüchtige Studie“, auf deren Material zukünftige Forscher aufbauen könnten. Sie zeichne sich durch „die Reichhaltigkeit des aus eigener Bemühung beigebrachten Materials und verständnisvolle Behandlung desselben 153 Kempf (1911), S. 37; vgl. ebd., S. 156. Kempf hielt den Aufenthalt in großen Fabrikräumen auch für gesünder als das Leben in den dichtbevölkerten Wohnräumen der Arbeiterfamilien. 154 Siehe ihren mehrfachen Hinweis auf den „Geist der Eltern“ als wichtigen Einflussfaktor bei der Entwicklung der Jugendlichen, vgl. z. B. Kempf (1911), S. 47. 155 Kempf (1911), S. 35. 156 Kempf (1933a), S. 306f. 157 Herkner (1912), S. 122.
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aus“. Da Kempf auch sozialpsychologische Aspekte berücksichtige, vermittle die Arbeit ein beispielhaftes Bild vom Leben Münchner Arbeiterfamilien.158 In einer anderen Rezension wurde darauf hingewiesen, dass Kempfs Studie „für die Fachwissenschaft gleichermaßen von Interesse sei wie für die breite Öffentlichkeit“.159 Unter den RezensentInnen waren viele promovierte Nationalökonominnen wie Marie Bernays, Else Kesten-Conrad (18??–19??) und Charlotte EngelReimers. Für Bernays war es eine der „besten Frauenleistungen auf diesem Gebiet“.160 Kesten-Conrad, die zeitgleich zu Kempf im Auftrag des Statistischen Amts der Stadt München eine Arbeit über die „Lebensführung von 22 Arbeiterfamilien Münchens“ (1909) erstellt hatte, wertete Kempfs Arbeit als eine Bereicherung der nationalökonomischen Literatur. Sie liefere einen außergewöhnlich wertvollen Einblick in die unbekannten Verhältnisse unterer Bevölkerungsschichten und trage zum „Verstehen dieser Bevölkerungskreise“ bei.161 Die amtliche Statistik gebe über diese Schicht kaum oder keine Auskunft. Diese Erkenntnislücke würde zwar von den zurzeit zahlreich erscheinenden Autobiographien von ArbeiterInnen wie der von Adelheid Popp (1869–1939) etwas gefüllt, da es sich bei den VerfasserInnen jedoch in der Regel um außergewöhnlich veranlagte Persönlichkeiten handle, würde die Sicht eines durchschnittlichen Arbeiters mit deren Autobiographien nur unzureichend erfasst. Engel-Reimers würdigte zwar, dass es Kempf gelungen war, eine „lebendige Anschauung“ der in den Familien der Fabrikmädchen herrschenden Armut zu vermitteln, griff sie aber wegen ihrer Positionen zur Hausarbeit an und warf ihr vor, sie wolle die Hausfrau abschaffen. Kempf sei „zu sehr Frauenrechtlerin“ und „zu wenig objektive Wissenschaftlerin“ und sei mit einer vorgefassten Meinung an die Studie herangegangen.162 Wegen des antifeministischen Tons der Rezension von Engel-Reimers sah sich die Redaktion der Zeitschrift „Die Frau“ zu einer Distanzierung veranlasst. Kempf reagierte auf den Angriff mit einem polemischen Artikel. Engel-Reimers sei der gesamten Frauenbewegung in den Rücken gefallen, da sie sich dafür ausgesprochen habe, „die Frau durch wirtschaftlichen Zwang in gottgewollter Abhängigkeit vom Manne“ zu halten, um die moralischen Grundlagen der Familie nicht zu erschüttern.163 Kempfs Studie zeigt, dass bei der sozialwissenschaftlichen Erforschung der Arbeiterin seit der Jahrhundertwende ein Perspektivenwechsel stattgefunden hatte. Es ging nicht mehr vorrangig darum, die Missstände der äußeren Rahmenbedingungen der Fabrikarbeit aufzudecken oder die sittliche Gefährdung der Arbeite-
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Silbermann (1912b). Dorn (1912). Bernays (1912g). Kesten-Conrad (1912). Die Schriftstellerin und bürgerliche Frauenrechtlerin Agnes von Zahn-Harnack (1884–1950) bezog sich in ihrer Arbeit über „Die arbeitende Frau“ (1924) ausdrücklich auf die Ergebnisse von Rosa Kempf, Alice Salomon und Rose Otto. 162 Engel-Reimers (1912), S. 684 und S. 731f. 163 Kempf (1913g).
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rinnen zu diskutieren, auch wenn Kempf ihren Inkognito-Aufenthalt in der Fabrik damit begründete.164 Nun interessierte vor allem, wie sich der Weg der Frauen in die Erwerbsarbeit und ihr Berufsschicksal gestaltete und wie die Erwerbstätigkeit der Frauen an die modernen Entwicklungen angepasst werden konnte. Die Altersgruppe der Jugendlichen und das Thema „Jugend und Beruf“, die im Mittelpunkt von Kempfs Untersuchung standen, rückten erst um 1930 wieder in den Fokus des sozialwissenschaftlichen Interesses. Die Jugend galt inzwischen als eigene Lebensphase; war es um 1900 noch die Sittlichkeitsfrage gewesen, so bildeten jetzt die zeitgenössischen Debatten über den Hedonismus und die Arbeitseinstellung von Jugendlichen den Anlass für sozialwissenschaftliche Forschung. Beklagt wurde in diesen Debatten, dass die Jugend die Erwerbsarbeit nur (noch) als Mittel sah, um ihr Freizeitvergnügen zu finanzieren.165 Erneut waren es vor allem Frauen, die in ihren Untersuchungen über Arbeiterinnen bei der Datenerhebung methodisch differenziert vorgingen. Dazu gehörte die Studie von Lisbeth Franzen-Hellersberg (1893–1970), die sich wie Kempf mit der Situation jugendlicher Arbeiterinnen befasste. In vielen Punkten ähnelte Franzen-Hellersbergs methodisches Vorgehen dem von Kempf. Sie beschrieb und reflektierte in der Einleitung ihre methodische Vorgehensweise und benannte die prinzipiellen Schwierigkeiten bei der Erforschung proletarischen Lebens sowie die üblichen Fehlerquellen bei der Beobachtung sozialen Lebens. Gleichzeitig unterschied sich ihre Studie aber auch von den vor dem Ersten Weltkrieg durchgeführten empirischen Untersuchungen wie der von Kempf. Denn Franzen-Hellersberg untersuchte die Wechselwirkungen zwischen Arbeitseinstellung und Lebenspraxis der jungen Arbeiterinnen aus einer rein sozialpsychologischen Perspektive. Das zeigte bereits der Untertitel ihrer Studie: „Ein Versuch sozialpsychologischer Forschung zum Zweck der Umwertung proletarischer Tatbestände.“166 Während Kempf das Leben der Fabrikmädchen vor allem im Hinblick auf ihr späteres Schicksal als Arbeiterinnen interessierte, kontrastierte Franzen-Hellersberg die Annahmen der bürgerlichen Jugendtheorie und -psychologie mit der Lebenswirklichkeit der jugendlichen Arbeiterinnen. Die Ergebnisse ihrer Erhebung zeigen dennoch, dass sich die von Kempf beschriebene Situation der jugendlichen Arbeiterinnen nicht grundlegend geändert hatte. Obwohl ihr Erwerbsleben aufgrund der ökonomischen Not der Familien unmittelbar nach der Schule begann, wurde den Arbeiterinnen weiterhin kein Platz im Arbeitsprozess zugestanden und ihnen weiterhin zusätzlich die Hausarbeit aufgebürdet. Wie Franzen-Hellersberg zeigte, konnten die jugendlichen Arbeiterinnen – doppelt eingebunden und belastet – die Mög-
164 Kempf (1911), XII. 165 Siehe z. B. Lazarsfeld (1931). Der Vorwurf des Hedonismus und der Amerikanisierung der Jugend wurde u. a. vertreten von Günther Dehn (1929). 166 Auch in der Studie über „Die Arbeitslosen von Marienthal“ (Jahoda/Lazarsfeld/Zeisel 1975[1933]) richtete sich das Erkenntnisinteresse der ForscherInnengruppe auf die psychischen und psychosozialen Auswirkungen der Langzeitarbeitslosigkeit auf die Betroffenen.
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lichkeit, sich als Jugendliche zu individualisieren und beruflich zu verwirklichen im Gegensatz zu ihren Brüdern nicht erfahren und erleben.167 Die zentrale Bedeutung von Rosa Kempfs Untersuchung liegt darin, dass sie die erste empirisch fundierte Studie über die Situation jugendlicher Arbeiterinnen war und sie deshalb eine wichtige Grundlage für die Debatte über die Einführung der Mädchenfortbildungsschulen bildete. Sie bildete ebenfalls eine wichtige Grundlage für die Diskussion über die Ausgestaltung der weiblichen Jugendpflege, die nach dem preußischen Ministerialerlass über die Ausgestaltung der Jugendpflege von 1911 verstärkt einsetzte, weil in diesem Erlass die weiblichen Jugendlichen nicht berücksichtigt wurden. Auch bei der Tagung der GfSR über die Jugendpflege im Mai 1911 wurde das Thema weitgehend ausgeblendet.168 Kempfs Studie war außerdem eine der ersten, in der junge Arbeiterinnen direkt zu Wort kamen sowie ein wichtiger Beitrag zum Verständnis des beruflichen und außerberuflichen Lebens der Arbeiterinnen. Zwar lagen um 1909 bereits empirische Untersuchungen über die materiellen und sozialen Lebensverhältnisse der Arbeiterschaft (sowie einzelne autobiographische Berichte von Arbeitern) vor, der Wissensstand über die sozialen Bedingungen der Fabrikarbeiterinnen ging jedoch kaum über die seit der 1890er Jahren durchgeführten Studien von Sozialforscherinnen wie Elisabeth Gnauck-Kühne hinaus. Die Betroffenen selbst waren bei den empirischen Untersuchungen und den Diskussionen über industrielle Frauenarbeit und Arbeiterinnenschutz weder auf der Seite der bürgerlichen Sozialreform und Frauenbewegung noch auf der Seite der Sozialdemokratie und der Gewerkschaften direkt zu Wort gekommen. Auch Inkognito-Aufenthalte unter Arbeiterinnen wie die von Beatrice Webb oder Elisabeth Gnauck-Kühne waren die Ausnahme geblieben. Der erste und für lange Zeit einzige autobiographische Text aus Sicht einer Betroffenen, die „Jugendgeschichte einer Arbeiterin“ von Adelheid Popp, erschien 1909.169
2.2.2 Das weitere wissenschaftliche Werk Bereits kurz nach ihrer Dissertation befasste sich Rosa Kempf, wie ihre Publikationsliste zeigt, mit der Situation von Frauen und Mädchen in der Landwirtschaft.170 Für den Sammelband „Mutterschaft“ (1912) verfasste Kempf z. B. nicht nur einen Beitrag über „Die Industriearbeiterin als Mutter“, sondern auch einen
167 Franzen-Hellersberg (1932), S. 46; vgl. Böhnisch/Schröer (2001), S. 52f. 168 Siehe. z. B. Marie Bernays Bericht über die Veranstaltung des Zentralvereins für Arbeiterinnen-Interessen zum Thema „Weibliche Jugendpflege“ im Oktober 1911 in Berlin; vgl. Bernays (1911x). 169 Popps autobiographischer Text erschien zunächst anonym und erst bei den späteren Auflagen unter ihrem Namen. 170 Kempf (1912a, 1912g; 1913a; 1913j).
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über „Die Hausmutter der landwirtschaftlichen Bevölkerung“.171 1913 erschien ihr Artikel über „Die Frau in der bäuerlichen Landwirtschaft Bayerns“ in der Fachzeitschrift „Annalen des Deutschen Reiches für Gesetzgebung, Verwaltung und Volkswirtschaft“.172 Kempfs umfangreichste Arbeit zu diesem Themenbereich war „Arbeits- und Lebensverhältnisse der Frauen in der Landwirtschaft Bayerns“ (1918), die bayerischen Teilstudie der Enquete des Ständigen Ausschusses zur Förderung der Arbeiterinnen-Interessen über „Frauen in der Landwirtschaft“. Kempf wurde die Teilstudie vermutlich 1912 beim Deutschen Frauenkongress in Berlin übertragen, bei dem sie einen Vortrag über die „Probleme der landwirtschaftlichen Frauenarbeit im bäuerlichen Betrieb“ hielt.173 Die Datenerhebung für Bayern, die der Ständige Ausschuss mit Unterstützung des Katholischen Frauenbunds, dem Verband für Fraueninteressen und dem Bayerischen Lehrerinnenverein übernommen hatte, war zu diesem Zeitpunkt bereits weitgehend abgeschlossen; Kempf übernahm somit vor allem die Auswertung der erhobenen Daten. Diese Daten sind wohl zum Teil auch in die Abschlusskonferenz der Enquete im Februar 1914 eingeflossen, denn Gertrud Dyhrenfurth fokussierte in ihrem bereits erwähnten Ergebnisbericht vor allem die hohe Arbeitsbelastung und die schlechte gesundheitliche Situation der für Süd- und Südwestdeutschland typischen Kleinbäuerinnen. Für eine weitergehende Diskussion reichte aber vor allem die Datenbasis aus Bayern nicht aus, weil dort nur wenige Befragungen durchgeführt worden waren.174 Da nach der Konferenz ausdrücklich eine Ergänzung der Datenbasis gewünscht wurde, begann Kempf ab Frühjahr 1914 – unmittelbar nach der Eröffnung des Frauenseminars für soziale Berufsarbeit in Frankfurt am Main – mit einer Nacherhebung. Bei der Datenerhebung und bei der Auswertung orientierte sich Kempf an der für die Enquete empfohlenen Vorgehensweise. Kempfs Arbeit an der bayerischen Teilstudie wurde jedoch durch den Kriegsbeginn unterbrochen, sodass Kempf den Bericht erst im August 1917 fertigstellen konnte. Er erschien als vierte und letzte der ursprünglich zehn geplanten Teilstudien.175 Kempf stellte in ihrem Bericht die Datenerhebung detailliert dar: Aus der ersten Erhebungsphase lagen 88 allgemeine Berichte und 215 Spezialberichte vor. Von diesen waren 97 über Ehefrauen oder Töchtern von Bauern, 65 über Mägden, 42 über Tagelöhnerinnen und elf unvollständige über Wanderarbeiterinnen ausgefüllt worden. Wie bei den anderen Teilstudien der Enquete war die Datenerhebung überwiegend von Männer durchgeführt worden: Neben Bauern mit Bildungshintergrund (ein Drittel der Berichterstatter), Geistlichen (ein Viertel) hatten sich VolksschullehrerInnen, Landwirtschaftslehrer und Gutsbesitzer sowie drei Frauen
171 Kempf (1912b; 1912c). 172 Kempf (1913a). Eine gekürzte Fassung des Artikels erschien in „Die Gutsfrau“, vgl. Kempf (1913j). 173 Kempf (1912g). 174 Heinrich Sohnrey, in: Bericht über das Geschäftsjahr 1912/13 (1913), S. 190. 175 Kempf (1918a). Zur Besprechung der Studie siehe z. B. Gaebel (1919).
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von Staatsbeamten oder Lehrern beteiligt. An der Nacherhebung Kempfs hatten dagegen überwiegend Lehrerinnen mitgewirkt. Deren Befragungen waren verglichen mit der ersten Erhebungsphase erfolgreicher verlaufen; sie hatten die detailliertesten Berichte und die ausführlichsten Fragebogen abgeliefert. Im Ergebnisbericht wies Kempf eingangs darauf hin, dass es bei der Erhebung nicht um die sozialen Missstände, sondern um die wirtschaftlichen und Lebensverhältnisse der Teile der Landbevölkerung gegangen sei, die nicht auf soziale Unterstützung angewiesen waren.176 Kempf stellte in dieser Studie sowie in ihren anderen Arbeiten zur landwirtschaftlichen Frauenarbeit sehr eindrücklich die Belastung der Kleinbäuerinnen „durch die altmodische Form der Hauswirtschaft, die sich auf dem Lande erhalten hat“ dar.177 Gleichzeitig machte sie Vorschläge zur Entlastung der Bäuerinnen durch Einführung moderner Technik. Mit dieser sollte nicht nur die männlich konnotierte Feldarbeit, sondern auch die häusliche Arbeit der Frauen erleichtert und verringert werden. Ihrer Meinung nach war es eine „volkswirtschaftliche Verschwendung im schlimmsten Sinne, wenn eine Hausmutter vom frühesten Morgen bis spät in die Nacht hinein neben schwerer Arbeit im Stall und Feld nach möglichst zeitraubenden Methoden ihr Hauswesen besorgt und dann die wenigen Stunden, welche Stall und Küche am Sonntag freilassen, zum Flicken der Kleider verwenden muss“.178
Rosa Kempfs Teilstudie zur Enquete des Ständigen Ausschusses sowie ihre Artikel zur landwirtschaftlichen Frauenarbeit standen in der Tradition der Historischen Schule der Nationalökonomie, denn Kempf bettete die Darstellung ihrer empirischen Ergebnisse sowie deren Analysen immer in den Kontext der historischen Entwicklung ein. Bei den Bäuerinnen arbeitete Kempf heraus, wie diese im Zuge der Modernisierung ihre Macht und die gesellschaftliche Anerkennung verloren hatten.179 Dabei idealisierte Kempf die verlorene wirtschaftliche Selbstständigkeit der Bäuerinnen, die im Gegensatz zu den bürgerlichen Frauen durch ihre Zuständigkeit für die Milchproduktion lange Zeit über eigene Einnahmen verfügt hatten. Die „stolzen Bäuerinnen“ in Kempfs Darstellungen sind von den Eindrücken ihrer Kindheit in Niederbayern geprägt. In ihren Augen verbanden die Bäuerinnen das Selbstbewusstsein einer Unternehmerin „mit der mütterlichen Sorge für das Wohlergehen für Mensch und Vieh, die auf dem Hof ihrer Pflege anvertraut waren“. Kempf erinnert sich: „Diese erlebte Verbindung von Mütterlichkeit mit selbstsicherer Lebenstüchtigkeit ließ in mir schon in der Kindheit ein anderes Frauenideal entstehen, als es in den gebildeten Kreisen gepflegt wird, und schon damals und noch jetzt erscheint mir der Bäuerin gegenüber das Los der Frauen meiner eigenen sozialen Klasse, wo die Frau mit Leib und Seele, auch mit der Be-
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Kempf (1918c), S. 1–7. Velsen (1914a), S. 338. Kempf (1912g), S. 76. Siehe z. B. Kempf (1913a).
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tätigung ihrer Mütterlichkeit, vollständig von der moralischen und wirtschaftlichen Qualität ihres Gatten abhängt, als ein klägliches.“180
Durch die Einrichtung von Molkereigenossenschaften verloren die Bäuerinnen die alleinige Verfügungsgewalt über die Einnahmen aus der Milchwirtschaft. Für Kempf konnte die Lösung aber nicht darin bestehen, den wirtschaftlichen Fortschritt als Reaktion auf die Entmachtung der Bäuerinnen generell abzulehnen. Ihrer Meinung nach war es wichtiger, mit weiteren Neuerungen die sozialen Verschlechterungen für die Bäuerinnen zu korrigieren. Zu diesen Neuerungen zählte sie u. a. die Arbeit der Landwirtschaftlichen Hausfrauenvereine. Kempf hatte durch ihre jahrelange Arbeit als Lehrerin und durch die Untersuchungen zu ihrer Dissertation ein realistisches Bild von der „schweren, kräftezehrenden weiblichen Lebensbedingungen in der ländlichen und städtischen Unterschicht“ gewonnen.181 Gerade deshalb hielt sie es für notwendig, zur Verbesserung der Situation dieser Frauen auf eine solide Berufsausbildung zu setzen, die ihnen zu einem angemessenen Lohn verhelfen sollte. Mit ihrer kompromisslos vertretenen Forderung nach beruflicher Ausbildung und existenzsichernder Erwerbsarbeit für Frauen in der Stadt und auf dem Land stand sie weitgehend allein. Ein weiterer Schwerpunkt der Beiträge Rosa Kempfs lag daher auf der Einführung und Gestaltung der Pflichtfortbildungsschule für Mädchen und hier insbesondere auf der ländlichen Fortbildungsschule.182 Kempf sah in der vergleichsweise geringeren Mobilität junger Frauen auf dem Land nicht nur Nachteile, sondern erhoffte sich, dass die geringere Mobilität die Frauen zugänglicher für Bildung und Erziehung machen würde. Kempf versprach sich von der Fortbildungsschule eine verstärkte Berufsorientierung von Frauen. Deshalb forderte sie, beim Fortbildungsunterricht die Berufsbildung in den Vordergrund zu stellen und auf hauswirtschaftlichen Unterricht gänzlich zu verzichten, damit dieser nicht an die Stelle einer Berufsausbildung treten könnte.183 Mit dieser Position widersprach Kempf den Landfrauenorganisationen, die mehr auf eine hauswirtschaftliche Schulung setzten.184 Kempfs Praxiserfahrung machte sich dadurch bemerkbar, dass sie bei ihren Vorschlägen zur Ausgestaltung des Curriculums von Fortbildungsschulen nicht nur auf die Fächer- und Themawahl einging, sondern auch pädagogische Aspekte in die Diskussion einbrachte. Es ging Kempf nicht nur darum, welche Inhalte vermittelt werden sollten, sondern auch darum, wie die Vermittlung dieser Inhalte aussehen sollte. In der Regel orientierte sich Kempf bei ihren pädagogischen Vorschlägen am Konzept der Arbeitsschule von Georg Kerschensteiner, bei dem die produktive Tätigkeit im Vordergrund stand.185
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Kempf (1912g), S. 80 und S. 77; Kempf (1931b), S. 100. Vgl. Reining (2001), S. 152. Vgl. Kempf (1912d; 1918c; 1920b). Ohnesorge (1920), S. 62; zu Kempfs Vorträgen über die Fortbildungsschule für Mädchen siehe z. B. Die Frauenbewegung (1913); Die Gutsfrau (1913). 184 Herbsttagung (1921), S. 338. 185 Siehe auch Kempf (1918b).
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Kempf war der Meinung, dass die Arbeitsschule die für die ländlichen Regionen am besten geeignete schulische Bildungseinrichtung sei, da die herkömmliche Pädagogik ihres Erachtens zu stark auf die städtischen Verhältnisse ausgerichtet sei und den ländlichen Schülerinnen nicht gerecht werde. Das Arbeitsprinzip als pädagogisches Konzept ermögliche dagegen, auf die spezifischen ländlichen Bedürfnisse einzugehen und die bestmögliche Bildung der dort lebenden Jugendlichen zu erreichen. Die Vertreter der Arbeitsschule bildete zu Beginn des 20. Jahrhunderts eine sehr heterogene Richtung der deutschen Reformpädagogik, deren erste Ansätze u. a. auf Friedrich Fröbel (1782–1852) zurückgehen. Sie setzte auf eine Modernisierung der Schule, weg von obrigkeitsstaatlichem Denken und der „Paukerschule“ des 19. Jahrhunderts und hin zu einer Arbeitspädagogik, auf anwendungsbezogenes Lernen durch praktisches Tun. Rosa Kempfs inhaltliche Schwerpunkte lagen auf der Frauenbildung, der sozialen Berufsausbildung und der Lage von Frauen in der Landwirtschaft und den jugendlichen städtischen Arbeiterinnen. Ihr thematisches Spektrum reichte aber weiter, wie z. B. ihre Besprechung der Arbeiten des Soziologen Werner Sombart erahnen lässt.186 Kempfs Publikationsliste spiegelt wider, dass sie zwar an die Strukturen der Frauenbewegung angebunden war, sich aber nicht auf eine Richtung festlegte. Kempfs Artikel erschienen in den zentralen Zeitschriften der bürgerlichen Frauenbewegung und der Frauenbildungsbewegung. Dazu gehörten ab 1906 das „Centralblatt des Bundes Deutscher Frauenvereine“, die Zeitschrift „Die technische Lehrerin“, die „Bayerischen-Lehrerinnen-Zeitung“ und die Zeitschrift „Die Frauenfrage“, ab 1912/13 die Zeitschriften „Die Frauenbewegung und „Die Frau“ und ab 1916 die „Blätter für soziale Arbeit“. Kempf war mit Beiträgen über die Situation der Frauen in der Landwirtschaft und über ländliche Reform- und Bildungskonzepte den Publikationen der ländlichen Frauenorganisationen (wie der Zeitschrift „Die Gutsfrau“) und der ländlichen Reformbewegung vertreten. So beispielsweise 1920 mit einem Artikel über „Die sozialen Frauenschulen und Wohlfahrtschulen als Ausbildungsstätten für ländliche Wohlfahrtspflegerinnen“ im „Jahrbuch für Wohlfahrtsarbeit auf dem Lande“ und mit einem Artikel über den „Berufsschulgedanke[n] in der ländlichen Fortbildungsschule“ in der Zeitschrift „Die Deutsche Fortbildungsschule“.187 Verglichen mit Elisabeth GnauckKühne und vor allem mit Gertrud Dyhrenfurth war Kempf jedoch wesentlicher weniger in sozialwissenschaftlichen Fachzeitschriften präsent. Ein erster Artikel von ihr erschien zwar nach der Promotion in den „Annalen des Deutschen Reiches für Gesetzgebung, Verwaltung und Volkswirtschaft“188, im „Archiv für Sozialwissenschaft und Sozialpolitik“ wurden aber lediglich einige Rezensionen von Kempf sowie eine Stellungnahme zum weiblichen Dienstjahr veröffentlicht.189 Sie 186 187 188 189
Kempf (1913e). Kempf (1920a; 1920b). Kempf (1913a). Kempf (1913k; 1913l; 1916c; 1917a). Im Gegensatz etwa zu Gnauck-Kühne lehnte Kempf die Einführung eines weiblichen Dienstjahres ausdrücklich ab.
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war jedoch in den wichtigen sozialpolitischen Zeitschriften mit hohem Praxisbezug vertreten, sie veröffentlichte in den Zeitschiften „Die Hilfe“, „Soziale Praxis“ und „Concordia“ und in der „Zeitschrift für Armenwesen“. 3.3 Zwischenresümee Rosa Kempf war eine der akademisch gebildeten Frauen, die nach ihrer Promotion als Gründerinnen und Direktorinnen, als Dozentinnen und Ministerialbeamtinnen die Entstehung, Entwicklung und Etablierung von Sozialen Frauenschulen vorangetrieben haben und die für die staatliche Anerkennung der sozialen Ausbildungsgänge (zu denen bis 1945 fast ausschließlich Frauen zugelassen waren) und die Professionalisierung der Sozialen Arbeit gekämpft haben. Dadurch legten sie und ihre Mitstreiterinnen die Grundsteine für viele der heute bestehenden Studiengänge der Sozialen Arbeit. Die meisten dieser Akteurinnen kamen wie Rosa Kempf aus der bürgerlichen oder konfessionellen Frauenbewegung; zu ihnen gehörte neben Alice Salomon, Gertrud Bäumer, Marie Baum, Hedwig Dransfeld und Helene Weber (1881–1962) auch Marie Bernays. Rosa Kempf hatte – durch ihre langjährige Berufspraxis als Volksschullehrerin und durch ihre Feldforschung zu den Münchner Fabrikmädchen – verglichen mit Elisabeth Gnauck-Kühne, Gertrud Dyhrenfurth und Marie Bernays den längsten, umfangreichsten und direktesten Kontakt zu den ländlichen Unterschichten und der städtischen Arbeiterschaft. Dadurch gelang es ihr, auch solche Nebenerwerbstätigkeiten von Frauen (wie das Sammeln von Waldfrüchten) zu erfassen, die viele andere bürgerliche SozialforscherInnen vermutlich gar nicht als solche erkannt hätten. Ähnlich wie Gertrud Dyhrenfurth konzentrierte sich Rosa Kempf in ihrer Forschung und in ihrem bildungspolitischen Engagement auf Themen, zu denen sie einerseits einen guten Zugang hatte, weil sie ihr nahe waren und sie auf ihre Praxiserfahrung zurückgreifen konnte, zu denen sie aber gleichzeitig eine ausreichende Distanz hatte, um sie wissenschaftlich beurteilen zu können: Die Situation von Frauen in der kleinbäuerlichen Landwirtschaft prägte Kempfs Kindheit in den ländlichen Regionen Niederbayerns (auch wenn dies als Bürgertochter lediglich als Außenstehende wahrnahm). Die jugendlichen Arbeiterinnen und die Pflichtfortbildungsschule für Mädchen standen als Themen in direktem Bezug zu ihrer Arbeit als Volksschullehrerin. Kempf gehörte wie Dyhrenfurth zu den Ausnahmen, die in ihrer wissenschaftlichen und bildungspolitischen Arbeit immer sowohl die spezifischen Bedingungen in den Städten als auch auf dem Land mitdachten. Bei der Auseinandersetzung um die werturteilsfreie Forschung stand Kempf in der Tradition Lujo Brentanos; ihre empirischen Studien enthielten durchaus sozialund bildungspolitische Forderungen, sie trennte diese Forderungen jedoch von der wissenschaftlichen Analyse. Rosa Kempfs Bedeutung für die empirische Sozialforschung liegt einerseits in ihrer Erweiterung der qualitativen Erhebungsmethoden durch die Einbeziehung der Aufsatzforschung, durch die jugendliche Arbeiterinnen erstmals direkt zu
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Wort kamen und sich über ihre Zukunftswünsche äußern konnten, andererseits war Rosa Kempfs Fabrikmädchenstudie die erste, die Jugendliche ins Zentrum der Untersuchung rückte. Mit ihrem Fokus auf Bäuerinnen beleuchtete Kempf außerdem eine weitere bis dahin nicht erforschte Gruppe von Frauen in der Landwirtschaft, die für Südwestdeutschland typisch war. Damit trug sie, wie bereits Gertrud Dyhrenfurth, zur Entstehung eines neuen Forschungsfeldes bei.
3 MARIE BERNAYS (1883–1939) 3.1 Max-Weber-Schülerin, Frauenrechtlerin, DVP-Politikerin und Gründungsdirektorin der Sozialen Frauenschule Mannheim Marie Bernays, die Jüngste der hier vorgestellten Sozialforscherinnen, gehörte einige Jahre zum engeren Kreis um Marianne und Max Weber. Ihr persönliches Lebensmotto war: „Stets habe ich mir ein nahes Ziel gewählt, doch hat ein fernes mich dazu beseelt“.1 Nachdem ihr Wunsch, sich zu habilitieren und dauerhaft in der Wissenschaft zu arbeiten, gescheitert war, wurde sie – wie Rosa Kempf – zur Mitgründerin einer Sozialen Frauenschule. Von ihren ZeitgenossInnen wurde Bernays als ehrgeizig und pflichtbewusst beschrieben. Ihr Werdegang zeigt, dass sie keine Angst davor hatte, Partei zu ergreifen und unpopuläre Entscheidungen zu treffen, auch wenn diese Entscheidungen ausgesprochen schmerzliche Konsequenzen für sie nach sich zogen. Bernays hatte wenig Verständnis für diejenigen, die sich nicht engagierten oder mangelndes Interesse an Fragen des politischen und sozialen Lebens zeigten.2 Sie galt als hochintelligent und rhetorisch begabt und war als Rednerin beliebt, aber auch etwas gefürchtet, weil sie sich mit ihrem „verflixten Mundwerk“ vieles kritisch-spöttisch kommentierte.3 Bernays, die – wie viele aus den ersten Generationen von Wissenschaftlerinnen – unverheiratet blieb, wies sehr selbstbewusst auf die Chancen hin, die ein Leben außerhalb der Ehe für Frauen bieten konnte: „Auch die Frau empfängt Wert und Würde ihres Lebens durch sich selbst, nicht durch den Mann. Auch die alleinstehende Frau braucht kein verkümmertes, um das Beste des Lebens betrogenes, in der Entwicklung gehemmtes Geschöpf zu sein. Kann sie ihre Persönlichkeit in dem von ihr erwählten Wirkungskreis voll zu Entfaltung bringen, so wird ihr Leben an Fülle und Tiefe reicher sein als das mancher Ehefrau, die wertvolle Schaffenskräfte um des Dienstes in der Familie willen in sich erörtern muss.“4
3.1.1 Familie und schulische Ausbildung Marie (Elise Hermine) Bernays wurde am 13. Mai 1883 in München als zweites von zwei Kindern von Michael (Isaak) Bernays (1834–1897) und Louise Bernays, geb. Rübke, verwitwete Uhde (1848–1919) geboren. Ihr Vater, ein bekannter Literaturhistoriker wurde als Begründer der Goethe-Philologie, Shakespeare-Experte und aufgrund seiner knapp 30.000 Bände umfassenden Privatbibliothek bekannt,
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Bernays (1924b). Bernays (1920i). Richard Schmitt, zitiert nach Lob (2000), S. 96. Bernays (1920a), S. 55.
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die zu den umfangreichsten Bibliotheken Europas gehörte.5 Er kam aus einer prominenten jüdischen Familie: Sein Vater Michael Isaak Bernays (1792–1849), der Hamburger Oberrabbiner, gilt als Wegbereiter der neuen (strengen) Orthodoxie des Judentums, seine Nichte Martha Freud (1861–1951) war die Ehefrau von Sigmund Freud (1856–1939), dem Begründer der Psychoanalyse.6 Marie Bernays’ Vater konvertierte während seines Studiums zum evangelisch-lutherischen Glauben, was zum vollständigen Bruch mit seiner Familie führte. In der Konversion kam auch sein Patriotismus zum Ausdruck, der eng mit seiner Idealisierung der deutschen Bildung verbunden war7; mit seinem Übertritt wollte er „völlig zum Deutschen“ werden.8 Gleichzeitig erhoffte er sich, vermutlich wie viele Konvertiten, mit dem christlichen Glauben das Entree in die bürgerliche, deutschchristliche Gesellschaft zu erhalten.9 Vordergründig schien Michael Bernays die erhoffte gesellschaftliche Integration durch die Konversion erreicht zu haben, denn seine akademische Karriere entwickelte sich, verglichen mit der seines nichtkonvertierten Bruders, problemloser und zügiger.10 Nach seiner Habilitation wurde Michael Bernays auf Entschluss Ludwigs II. von Bayern (1845–1886) 1873 als Extraordinarius nach München berufen und innerhalb eines Jahres zum ordentlichen Professor ernannt. In München heiratete er die Witwe seines Freundes Hermann Uhde (1845–1879), die aus der vermögenden Hamburger Reedereifamilie Rübke stammende Louise Uhde. Marie Bernays’ Familie war in München etabliert und gesellschaftlich anerkannt. An den gesellschaftlichen Treffen, zu denen ihre Mutter regelmäßig einlud, nahmen Gäste aus dem Bildungsbürgertum und dem Adel teil. Zu den Paten von Marie Bernays’ Brüdern gehörten bekannte Persönlichkeiten wie der Schriftsteller und Übersetzer Paul Heyse (1830–1914) und die Fürstin Pauline von Metternich (1836–1921). Marie Bernays’ Vater war Vorleser des König Ludwigs II. von Bayern.11 Dessen tragischer Tod war den äußeren Anlass dafür, dass sich Michael Bernays im Alter von 56 Jahren für den vorzeitigen Ruhestand entschied und die Familie im Frühjahr 1890 nach Karlsruhe umzog. Die Entscheidung, die wohl zum Teil auch eine Reaktion auf Anfeindungen von Fachkollegen war, wirft die Frage auf, inwieweit Michael Bernays trotz Konversion sowie akademischer und gesellschaftlicher Etablierung weiterhin ein Paria geblieben war. Denn während seines Studiums wurde er von seinen Kommilitonen zwar respektiert, seine äußere 5 6 7
Vgl. Schlott (2000), S. 74 und S. 76; Uhde-Bernays (1963[1947]), S. 31 und S. 58. Vgl. Schütz (1987), S. 178. Bach (1974), S. 146. Zur politischen Einordnung der Konversion Bernays’ sowie dessen Verständnis für den Antisemitismus Richard Wagners siehe Schott (2000), S. 77. 8 Bernays, Ulrich (o. J.[1944]), S. 8–9. 9 Vgl. Mosse (1990) S. 169. 10 Vgl. Bach (1974). 11 Vorleser hatten die Rolle eines Gesellschafters, eines Gesprächspartners und zum Teil auch die eines Vertrauten. Sie versorgten Fürsten oder Könige mit aktueller Literatur und erfüllten teilweise auch die Funktion eines Privatsekretärs, da sie Briefe für die Fürsten oder Könige aufsetzten oder für sie Briefe und Manuskripte korrigierten.
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Erscheinung und sein Auftreten dienten ihnen jedoch des Öfteren als Anlass, ihn durch bissige Gedichte zu verspotten.12 Zwar gehörte Michael Bernays nach dem Umzug nach Karlsruhe – wie zuvor in München – schon bald zu den Vertrauten der großherzoglichen Familie und war zeitweise einer der Berater des badischen Großherzogs Friedrich I. (1826–1907). Verglichen mit der Zeit in München war die Familie nun aber gesellschaftlich isolierter. Das lag zum Teil an der fehlenden beruflichen Stellung von Michael Bernays, die einen Einstieg in die Karlsruher Gesellschaft erleichtert hätte, zum Teil aber auch an seiner zunehmend konservativeren Haltung, die nicht zu der in der badischen Beamtenstadt vorherrschenden liberalen Stimmung passte.13 Der Vater förderte die intellektuelle Entwicklung seiner Kinder, hatte aber einen eher distanzierten und empfindungsarmen Umgang mit ihnen.14 Als er 1897 starb, war Marie Bernays 14 Jahre alt. Marie Bernays und ihre Brüder wurden weltoffen und leistungsorientiert, streng protestantisch und spartanisch erzogen, obwohl die Familie durchaus vermögend war. Wie im Bildungsbürgertum üblich, wurde großen Wert auf die eigene Bildung und Gelehrsamkeit gelegt, die in der Außendarstellung der Familie einen hohen Stellenwert einnahm. Auch Marie Bernays war es später immer ein großes Anliegen, ihr literarisches und philosophisches Wissen an ihre ZuhörerInnen und LeserInnen sowie an ihre Schülerinnen weiterzugeben. Stets unterstrich sie ihre Aussagen mit Zitaten und Bildern aus der Literatur der von ihr verehrten AutorInnen. Neben Dante Alighieri (1265–1321), Immanuel Kant (1724–1804), Johann Wolfgang Goethe (1749–1932), Friedrich Schiller (1759–1805) und Ernst Moritz Arndt (1769–1860) gehörten dazu auch Jonathan Swift (1667–1745), Gertrud Simmel (Pseudonym: Marie Luise von Enckendorff; 1864–1938) und Friedrich Nietzsche (1844–1900). Der Leitspruch ihrer Familie, den Marie Bernays und ihre Brüder verinnerlichten, stammte aus Goethes „Wilhelm Meisters Wanderjahre“ und lautete: „Dass ein Mensch etwas ganz entschieden verstehe, vorzüglich leiste, wie nicht leicht ein anderer in der nächsten Umgebung, darauf kommt es an.“15 Marie Bernays’ Stiefbruder Hermann Uhde-Bernays (1873–1965), der aus der ersten Ehe ihrer Mutter stammte, arbeitete später erfolgreich als Kunsthistoriker und Schriftsteller.16 Ihr Bruder (Otto Paul) Ulrich Bernays (1881–1948) war Pädagoge, Schuldirektor des Goethe-Gymnasiums in Karlsruhe und maßgeblich am Wiederaufbau der dortigen Volkshochschule nach 1945 beteiligt.
12 Vgl. Schlott (2000), S. 72–73. Zu Michael Bernays’ Außenseiterposition siehe Kempter (1998), S. 182. 13 Uhde-Bernays (1963[1947]), S. 58; Bernays, Ulrich (o. J.[1944]), S. 129. 14 So beschrieb Marie Bernays’ Bruder Ulrich Bernays ihren Vater, vgl. Bernays, Ulrich (o. J.[1944]), S. 258. 15 Uhde-Bernays (1963[1947]), S. 22. 16 Vgl. Uhde-Bernays (1963[1947]), S. 278–279. Marie Bernays und ihre Mutter werden in der Autobiographie von Uhde-Bernays nur kurz erwähnt, vgl. Uhde-Bernays (1963[1947]), S. 77–78.
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III Die Promovendinnen
Marie Bernays besuchte in Karlsruhe zunächst das Institut Friedländer, eine seit Jahrzehnten bestehende angesehene Privatschule für Mädchen aus dem Großbürgertum, die einer Freundin der Familie gehörte. Später wechselte sie als externe Schülerin an das unter dem Protektorat der Badischen Großherzogin Luise von Baden stehende Viktoria-Pensionat, eine sogenannte Höhere Töchterschule, die ihren Schülerinnen „die Grundsätze ernster Religiosität und gründliche, dem weiblichen Gemüt entsprechende geistige Durchbildung“ vermitteln wollte.17 Der Schulwechsel zeigt, dass die Familie gegenüber der Mädchen- und Frauenbildung aufgeschlossen war, ohne jedoch dabei den Rahmen zu verlassen, der für Mädchen und Frauen als angemessen geltenden. Denn der Wechsel auf die Töchterschule war gleichzeitig eine Entscheidung gegen das 1893 in Karlsruhe gegründete Viktoria-Gymnasium des Vereins Frauenbildungsreform, dem ersten Mädchengymnasium im Deutschen Kaiserreich. Zum Zeitpunkt des Schulwechsels von Marie Bernays wurde das Gymnasium von der Stadt Karlsruhe übernommen und staatlich anerkannt, womit die Zulassungsvoraussetzung zum Hochschulstudium von Frauen geschaffen war. Bei der Entscheidung der Familie Bernays gegen das Gymnasium spielte vermutlich eine Rolle, dass das Mädchengymnasium zwar öffentlich bekannt war, in der Stadt damals aber noch zu wenig Renommee besaß.18 Marie Bernays hätte an dieser Schule jedoch eine ihren Brüdern gleichgestellte Ausbildung erhalten. So musste sie einen Umweg zu ihrem Studium an der Universität nehmen: Der höheren Töchterschule folgte eine Lehrerinnenausbildung in München, wo sie 1904 ihre Prüfung als Lehrerin an der Königlichen Kreisbildungslehrerinnenanstalt sowie zusätzliche Prüfungen für englische und französische Sprache ablegte. Im Jahr 1905 zog Marie Bernays mit ihrer Mutter nach Heidelberg, wo sie als Externe an einem Gymnasium das Abitur nachholte.19
3.1.2 Studium, Promotion und Max-Weber-Kreis Marie Bernays immatrikulierte sich am 10. November 1906 im Alter von 23 Jahren an der Ruperto Carola, der Großherzoglichen Badischen Universität in Heidelberg mit den Fächern Nationalökonomie, Philosophie und Theologie.20 Ein Studium an der 1386 gegründeten Heidelberger Universität hatte in ihrer Familie Tradition. Schon ihr Vater und ihre Brüder hatten dort studiert. Die Ruperto Caro-
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Bernays, Ulrich (o. J.[1944]). Kubon (1991), S. 59–64; siehe auch Schmidbaur (1990), S. 40–41. Uhde-Bernays (1963[1947]), S. 324. Im Universitätsarchiv Heidelberg (UAH) ist von den Unterlagen über das Studium von Marie Bernays nur eine Karteikarte und eine Akte mit zwei Studienzeugnissen erhalten geblieben. Im Wintersemester 1906/07 waren an der Heidelberger Universität 58 Frauen (von insgesamt 1.603 Studierenden) eingeschrieben. Von diesen studierten 25 an der Medizinischen Fakultät, 31 an der Philosophischen Fakultät und zwei an der Naturwissenschaftlichen Fakultät.
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la galt als die liberalste und internationalste der deutschen Universitäten.21 Das städtische Leben war durch zahlreiche Dauergäste und durch den Tourismus geprägt. Trotzdem hatte Heidelberg den „provinziellen Charakter einer typischen Kleinstadt mit süddeutschem Grundton und kleinstädtischen Umgangsformen“ behalten.22 Marie Bernays hat ihre Studienzeit in Heidelberg später als die schönste Zeit ihres Lebens bezeichnet.23 Das hing wohl vor allem mit der anregenden intellektuellen Atmosphäre an der Universität und den intellektuellen Netzwerken zusammen, an die sie angebunden war. Während ihres Studiums hörte Marie Bernays philosophische Vorlesungen bei dem Neukantianer Wilhelm Windelband (1848–1915) und bei Emil Lask (1875–1915), der sich gerade mit einer rechtsphilosophischen Arbeit habilitiert hatte. Sie nahm an den Veranstaltungen von Georg Jellinek (1851–1911) teil, der mit seinen philosophisch-soziologisch fundierten juristischen Arbeiten die Staatsrechtslehre des 20. Jahrhunderts nachhaltig beeinflusst hat. Sie besuchte theologische Vorlesungen und Seminare bei Ernst Troeltsch (1865–1923), der im Austausch mit Max Weber eine Methode für eine allgemeine Religionssoziologie entwickelte. Troeltsch war außerdem als Unterstützer des Frauenstudiums bekannt. Bei der Kampfabstimmung der Heidelberger Professorenschaft hatte er 1899 für die Zulassung von Frauen zu den Vorlesungen gestimmt.24 Nationalökonomie studierte Marie Bernays vor allem bei Alfred Weber, der 1907 an die Heidelberger Universität berufen worden war, kurz nachdem Bernays begonnen hatte, dort zu studieren. Alfred Weber war auch derjenige, der Bernays 1908 vorschlug, ihre Doktorarbeit im Rahmen der geplanten Untersuchungen des VfS über die „Auslese und Anpassung der Arbeiter in verschiedenen Zweigen der Großindustrie“ zu schreiben. Bernays übernahm daraufhin die Teilstudie zur Textilindustrie in Mönchengladbach, die zur erfolgreichsten Teilstudie der Enquete wurde. Sie war nicht nur die erste Frau, die Alfred Weber als Promovendin annahm, aber Bernays’ Dissertation mit Fokus auf den Arbeiterinnen stellte unter den von ihm betreuten Doktorarbeiten eine Ausnahme dar. Denn Alfred Webers wissenschaftliches Hauptinteresse galt zu diesem Zeitpunkt schon der Kultursoziologie, auch wenn er noch bis 1913 vereinzelt über sozialpolitische Fragen referierte.25 Alfred Weber war zwar Marie Bernays Doktorvater, im Zuge der Durchführung ihrer Studie waren aber Max und Marianne Weber zu ihren wichtigsten Ansprechpartnern geworden. Marie Bernays, die ihr Studium an der Heidelberger Universität am 19. Juli 1910 nach acht Semestern und im Alter von 27 Jahren erfolgreich abgeschlossen hatte, blieb nach Beendigung des Promotionsverfahrens noch mehrere Semester
21 Honigsheim (1963), S. 161; vgl. auch Green (1976), S. 164–166; Tompert (1969), S. 83. 22 Tompert (1969), S. 11; siehe auch Demm (2000), S. 83–97. 23 Marie Bernays an Marianne Weber am 17. Juni 1920, in: BSB, Bestand Weber-Schäfer, Ana 446. 24 Drescher (1991), S. 114. Zu Troeltsch siehe Tompert (1969), S. 13–14. 25 Demm (2000), S. 83–97.
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immatrikuliert.26 Sie blieb bis 1912 in die Arbeiten an den Auslese- und Anpassungsstudien des VfS eingebunden und galt als Hauptmitarbeiterin der Forschungsreihe. Bernays wertete ihre Untersuchung für Artikel aus, führte weitere empirische Studien durch und beteiligte sich an den Diskussionen über die Ergebnisse der Auslese- und Anpassungsstudien.27 Ihre mustergültige Umsetzung und Vertiefung der Forschungsinteressen Max Webers begründeten ihren Ruf als dessen „Lieblingsschülerin“.28 Da er kaum gelehrt und daher nur wenige Doktorarbeiten betreut hatte, war Bernays als Schülerin Max Webers eine Ausnahmeerscheinung.29 Obwohl Max Weber sehr bekannt war, konnten ihn nur wenige Studierende im Hörsaal oder im Seminar erleben, da seine Lehrtätigkeit krankheitsbedingt viele Jahre ruhte. Als Bernays begonnen hatte, in Heidelberg zu studieren, lehrte Max Weber zwar nicht, aber seine psychosomatisch bedingte Arbeitsblockade schien überwunden. Dies zeigte nicht nur seine Mitarbeit bei der Enquete des VfS, sondern auch seine weiteren Aktivitäten: Seit 1904 war Max Weber Mitherausgeber der Zeitschrift „Archiv für Sozialwissenschaft und Sozialpolitik“, für die Bernays in seinem Auftrag mehrfach Artikel und Rezensionen verfasste, 1905 erschien die „Protestantische Ethik und der ‚Geist‘ des Kapitalismus“ und 1909 übernahm er die Redaktion des geplanten Sammelwerks „Grundriss der Sozialökonomik“. Max Webers Arbeiten dazu wurden nach seinem Tod von Marianne Weber unter dem Titel „Wirtschaft und Gesellschaft“ herausgegeben. Durch die Zusammenarbeit mit Max Weber bei den Auslese- und Anpassungsstudien war Marie Bernays in den engeren Kreis um Marianne und Max Weber aufgenommen worden. Sie engagierte sich außerdem – anders als viele ihrer Kommilitoninnen, die kaum noch Interesse an der Frauenbewegung zeigten – im 1897 in Heidelberg von Marianne Weber gegründeten örtlichen Ableger des Vereins Frauenbildung-Frauenstudium.30 Die Anbindung an den Weber-Kreis war für Bernays angesichts der Geschlossenheit der sonstigen akademischen Kreise Heidelbergs sowohl in intellektueller und wissenschaftlicher als auch in gesell-
26 Im Universitätsarchiv Heidelberg ist zum Promotionsverfahren von Marie Bernays nur eine Karteikarte mit stichpunktartigen Rahmendaten erhalten. Zur Verlängerung ihrer Immatrikulation vgl. Großherzogliche Badische Universität Heidelberg. Studien- und Sittenzeugnis Bernays, A. No 1499, in: UAH, Studienzeugnisse. 27 Siehe Kapitel III 3.2.1 der vorliegenden Arbeit. 28 Siehe z. B. Oberschall (1997), S. 204. 29 Weber, Marianne (1984[1926]), S. 703. Während seiner Krankheitsphase promovierte 1900 Else von Richthofen bei Max Weber und 1919, nach dessen Berufung auf den Lehrstuhl von Lujo Brentano an der Münchner Universität, eine weitere Person. 30 Gilcher-Holtey (2004), S. 45. Weitere Mitglieder im Heidelberger Verein waren u. a. die Juristin Camilla Jellinek (1860–1940), die Sozialwissenschaftlerin Else (Jaffé) von Richthofen und Marie Baum. Zum geringen Interesse der Studentinnen am Verein siehe Straus (1961), S. 95–96; Krüger, Christa (2001), S. 77–78.
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schaftlicher Hinsicht von unschätzbarer Bedeutung.31 Bernays gehörte in den ersten Jahren zu den regelmäßigen TeilnehmerInnen der seit Anfang Mai 1911 von Max und Marianne Weber initiierten sogenannten „Jours“ oder Sonntagstees. Der Kreis von bis zu 20 Personen traf sich während der Semestermonate von Mai bis Juli und November bis Februar an Sonntagnachmittagen in wechselnder Zusammensetzung im Haus der Webers. Die Jours konkurrierten dabei mit dem kurz zuvor gegründeten Janus-Kreis von Alfred Weber, bei dessen Zusammenkünften philosophische und naturwissenschaftliche Probleme diskutiert wurden. Die Jours waren in vielen Punkten progressiver als die herkömmlichen Zirkel der Heidelberger Ordinariengesellschaft. Im Gegensatz zu diesen waren sie informell, d. h. es gab keine offizielle Gründung und keine formelle Mitgliedschaft. Über die Akzeptanz von (neuen) TeilnehmerInnen entschied allein die Sympathie oder Antipathie von Marianne und Max Weber, denen an einer ausgewogenen Mischung von jüngeren Ehepaaren und Ledigen und an einer gleichmäßigen Verteilung von Frauen und Männern gelegen war. Ein Hauptunterschied der Jours zu den sonstigen akademischen Zirkeln Heidelbergs bestand in der ausdrücklich gewünschten Teilnahme von Frauen.32 Auch wenn bei den Jours von zum Teil eine traditionelle Arbeitsteilung bestand, bei der Max Weber als „Attraktion“ die Treffen dominierte und Marianne Weber die Rolle der Gastgeberin übernahm, brachen sie, wie schon der JanusKreis, dennoch mit der Tradition der wissenschaftlichen Vereinigungen, die als exklusive Männerrunden Frauen als Referentinnen wie auch als Teilnehmerinnen ausschlossen. Denn Baden gewährte zwar Frauen bereits 1900 das volle Immatrikulationsrecht an den Universitäten, auf der informellen Ebene wurden die geschlechtssegregierenden Riten alter Geheimratsgeselligkeit jedoch weiterhin aufrecht erhalten.33 Hierzu gehörte, dass sich bei privaten Zusammenkünften im Kreis der Gelehrten Männer und Frauen nach dem Abendessen in verschiedene Zimmer (Herren- und Damenzimmer) zu getrennten Gesprächen zurückzogen. Selbst beim 1904 gegründeten Eranos-Kreis, dem Vertreter der jüngeren Gelehrten-Generation mit überwiegend liberaler Einstellung angehörten, blieben Frauen noch von der Teilnahme ausgeschlossen.34 Mit der ausdrücklich erwünschten Teilnahme von Frauen bildeten die Weber’schen Sonntagstees auch einen Gegenpol zum frauenfeindlichen Heidelberger Kreis um Stefan George (1868–1933). Da sich die Jours außerdem ausdrücklich an Intellektuelle der jüngeren Generation richteten, bildeten sie darüber hinaus einen Kontrast zu den „Kränzchen mit alten Herren“ wie „den Eranos“.35 In mancher Hinsicht erinnert die Beschreibung der
31 Radkau (2005), S. 47. Zum Kreis um Max und Marianne Weber siehe Roth (1989); Baum (1958); Lauterer (2004); Gilcher-Holtey (2004), S. 50–51. Zur Geschlossenheit der akademischen Kreise Heidelbergs siehe Baader, Meike Sophia (1995), S. 453–455. 32 Radkau (2005), S. 466. 33 Gilcher-Holtey (2004), S. 39. 34 Gilcher-Holtey (2004), S. 40. 35 Marianne Weber an Helene Weber am 12. Mai 1912, zitiert nach Radkau (2005), S. 466.
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Zusammenkünfte bei den Webers an die Münchner Geselligkeit im Elternhaus von Marie Bernays. Denn auch ihr Vater war wie Max Weber bei den Treffen der Anziehungspunkt gewesen und hatte Wert auf die Anwesenheit und die (mehr oder weniger) gleichberechtigte Teilnahme der jüngeren Generation gelegt.36 Die Jours im Haus der Webers gehörten zu den wenigen Möglichkeiten, Max Weber persönlich zu erleben und referieren zu hören.37
3.1.3 Der unerfüllte Habilitationswunsch Marie Bernays ist eine der ersten Frauen in Deutschland, deren ausdrücklicher Wunsch sich zu habilitieren durch Quellen belegt ist; von 1911 bis 1914 verfolgte sie dieses Ziel mit einer enormen Hartnäckigkeit. Die zu diesem Zeitpunkt noch bestehende formalrechtliche Hürde, das sogenannte „Habilitationsverbot“ für Frauen, schien sie dabei nicht zu schrecken. Da sie sich durch ihre Mitarbeit bei den Auslese- und Anpassungsstudien bereits wissenschaftliches Renommee erworben hatte und mit Artikeln in Fachzeitschriften präsent war, hielt sie diese Hürde mit der notwendigen Unterstützung eines in der Fachwelt anerkannten akademischen Vertreters vermutlich für überwindbar; sie hoffte dabei auf Max Weber. Dieser scheint nach außen hin auch den Eindruck vermittelt zu haben, dass er hinter ihren Habilitationsbestrebungen stand.38 Wie Briefwechsel zeigen dachte er aber nicht daran, für Bernays zu kämpfen, obwohl er fand, dass sie den Anspruch darauf hatte. Gegenüber seinem Bruder Alfred äußerste Max Weber sich Anfang November 1912, er werde ihr „solche Ideen hoffentlich endgültig ausreden“. Als Bernays ihn wenige Monate erneut darauf ansprach, legte Max Weber ihr gegenüber in einem achtseitigen Brief dar, was seiner Meinung nach gegen eine Habilitation sprach. Ihr fehle, so Weber, „die ‚Breite‘, d. h. die Sicherheit des Gesamtüberblicks“. Sie solle deshalb „in die Welt hinaus, damit ihr etwas ‚einfalle‘“. Er empfahl ihr außerdem, sich nicht an der Universität zu „habilitieren, wo man sie kenne, denn die Ansprüche an die erste Frau in der Nationalökonomie müssten hochgestellt sein“.39 Selbst mit einer Unterstützung Webers wäre eine Habilitation von Marie Bernays ein schwieriges Unterfangen gewesen, da bereits das Philosophische Institut der Heidelberger Universität eine nahezu unüberwindbare Hürde darstellte. Denn um Aussicht auf Erfolg zu haben, hätte das Habilitationsgesuch die einstimmige oder zumindest weitgehende Unterstützung der Professoren des Instituts finden müssen. Mit dieser war jedoch im Fall von Bernays nicht zu rechnen, da zu den Angehörigen des Instituts mit Wilhelm Windelband ein ausgespro-
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Bernays, Ulrich (o. J.[1944]), S. 77. Weber, Marianne (1984[1926]), S. 679. Honigsheim (1963), S. 176. Weber, Max (1988), S. 740; vgl. Max Weber an Marianne Weber am 10. und 12. März 1913, in: Weber, Max (2003), S. 121f.
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chener Gegner des Frauenstudiums gehörte. Ohne die Unterstützung von Max Weber war ein solches Vorhaben vollkommen aussichtslos. Neben der vorgeschobenen Begründung aus Webers Brief waren für seine ablehnende Haltung andere, Marie Bernays gegenüber nicht geäußerte Faktoren ausschlaggebend. Die überlieferten Briefwechsel von Max und Marianne Weber zeigen, dass beide eine Habilitation Bernays’ ablehnten, obwohl sie ihre ausgezeichneten sozialwissenschaftlichen Leistungen durchaus anerkannten.40 Wie den Briefen der Webers zu entnehmen ist, spielten aber dabei weniger die intellektuellen Fähigkeiten als vielmehr äußerliche Gründe, die optische Erscheinung und das Auftreten Bernays’, eine Rolle. Marianne Weber fand zwar, dass Bernays „höchst intelligent und innerlich nobel“ sei41, ihre physische Erscheinung hielt sie jedoch für einen „furchtbaren Organisationsfehler ihrer Natur“, denn „alles Naturhafte“ an Bernays sei „ungeformt, anmutlos, irritierend“.42 Die abschätzige Haltung der Webers gegenüber Habilitationswünschen von Wissenschaftlerinnen zeigte sich auch gegenüber Gräfin Leonie Keyserling (1887–1945). Die als optisch attraktiv geltende Keyserling erfüllte die äußerlichen Kriterien der Webers, war ihnen aber nicht „gescheit“ genug. Gegenüber seinem Bruder bemerkte Max Weber herablassend: „Wenn man sie mit der zur Habilitation aus anderen, entgegengesetzten Gründen ganz ungeeigneten Frl. Bernays (…) der geistigen Struktur nach in eine Person zusammenschweißen könnte, gäbe es eine geeignete Figur für die erste deutsche Dozentin.“43 Eine geeignete Kandidatin war in den Augen von Max und Marianne Weber hingegen Else von Richthofen. Sie hatte Nationalökonomie bei Gustav Schmoller, Max Sering und Alfred Weber in Berlin und bei Max Weber in Freiburg und Heidelberg studiert und hatte 1900 bei – dem zu diesem Zeitpunkt bereits vom Lehrbetrieb dispensierten – Max Weber in Heidelberg mit „Summa cum laude“ promoviert. Durch Webers Vermittlung wurde Richthofen die erste Fabrikinspektorin in Deutschland. „Ihre Schlagfertigkeit, Ironie und ihre Vorliebe für spöttische Kommentare“, aber wohl vor allem „ihre Anmut und Schönheit“ galten als eine nicht zu unterschätzende Waffe, um männliche Vorurteile gegen studierende Frauen zu entkräften und „das Vorurteil zu widerlegen, Studentinnen seien ‚Blaustrümpfe‘“.44 In Max Webers Augen trug hingegen eine Habilitation von Marie Bernays, die nicht dem klassischen Schönheitsideal entsprach, mehr dazu bei, die Vorurteile gegenüber studierenden Frauen zu verstärken.
40 Siehe z. B. Weber, Marianne (1919b[1904]), S. 7. 41 Marianne Weber an Helene Weber am 20. Dezember 1910 und am 15. November 1913, zitiert nach Radkau (2005), S. 474. 42 Marianne Weber an Else Jaffé am 22. Juli 1914, zitiert nach Radkau (2005), S. 475. 43 Max Weber an Alfred Weber am 9. November 1912, in: Weber, Max (1988), S. 740. Else von Richthofen heiratete später den Nationalökonomen Edgar Jaffé (1866–1926) und war die Geliebte sowohl von Max als auch von Alfred Weber, mit sich nach dem Tod ihres Ehemannes zusammenlebte. 44 Salomon (1983), S. 63; vgl. auch Weber, Marianne (1984[1926]), S. 263–264.
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Marianne Weber teilte die Einschätzung ihres Mannes. Dass sie dabei nicht nur hinsichtlich des Habilitationswunsches von Marie Bernays, sondern auch in der Frage der wissenschaftlichen Qualifizierung von Frauen generell die von ihrem Mann übernommenen Beurteilungskriterien besonders „rigoros“ vertrat, belegt ein kontroverser Briefwechsel mit Marie Baum. Für Marianne Weber hätte eine Habilitation von Bernays der Sache der Frauen geschadet, da sie (wie auch andere Frauen) unter ihren männlichen Kollegen immer nur zum „unteren, allerhöchstens mittleren Durchschnitt“ gehören würde. Anders als für ihre Freundin Marianne Weber war aber für Marie Baum nicht persönliches Versagen die Ursache von Bernays’ vergeblichem Versuch, an der Universität Fuß zu fassen. Für Baum war es vielmehr eine Folge der strukturellen Bedingungen, die verhinderten, dass Frauen sich habilitieren konnten.45 Die ablehnendes Haltung gegenüber Bernays’ Habilitationswunsch verdeutlicht eine Auffassung zu Frauen in der Wissenschaft, die Marianne Weber bereits 1904 theoretisch begründet und 1913, also zum Zeitpunkt der Ablehnung, nochmals konkretisiert hatte. In ihrem Aufsatz über „Die Frau und die objektive Kultur“ setzte sie sich mit Georg Simmels Unterscheidung zwischen „objektiver“ und „subjektiver“ Kultur und deren geschlechtsspezifischer Zuschreibung kritisch auseinander.46 Die geschlechtsspezifische Arbeitsteilung in der Wissenschaft stellte Weber dabei per se nicht in Frage; die „natürliche“ Aufgabe der Frauen läge aber nicht in der eigenständigen, kreativen wissenschaftlichen Arbeit. Die Bestimmung der Frauen sei es vielmehr, „Botinnen“ zu sein, die „das vom schöpferischen Genius entzündete Feuer von einsamer Höhe hinab in das verschleierte Tal des Lebens zu tragen“ hätten, „um den im Halbdämmer handelnden Menschen Erleuchtung und Einsicht zu bringen“.47 In der unübersichtlichen modernen Wissensproduktion sollten Frauen durch wertbezogene Maßstäbe Orientierungsmöglichkeiten schaffen und zur Verringerung der Kluft zwischen sachlicher und persönlicher Kultur beitragen.48 Marianne Webers rigorose Haltung gegenüber der Rolle von Frauen in der Wissenschaft betraf dabei nicht nur Marie Bernays. Selbst über die international anerkannte russische Mathematikerin Sofia Kowalewska (1850–1891), ein Mitglied der Russischen Akademie der Wissenschaften, urteilte Marianne Weber herablassend: „Aber als der Stern erster Größe erscheint auch sie nicht unter den mathematischen Geistern.“49 Dabei sah auch Marianne Webers Modell weibliche Ausnahmeerscheinungen vor. Zwar sei beim rücksichtslosen Messen der Fähigkeiten im Konkurrenzkampf auf gleichen Arbeitsgebieten der Durchschnitt des weiblichen Geschlechts gegen den
45 Marianne Weber an Marie Baum am 26. Januar 1914, in: Universitätsbibliothek Heidelberg (UBH), Nachlass Marie Baum, EE 2–106. Zur Kontroverse zwischen Weber und Baum siehe Lauterer (2004), S. 105. 46 Weber, Marianne (1919a[1904]; 1919b[1913]); vgl. Wobbe (1997); Eckhardt, Katja (2000), S. 93. 47 Weber, Marianne (1919a[1904]; 1919b[1913]), S. 8. 48 Vgl. Wobbe, (1994), S. 17; Lauterer (2004), S. 104. 49 Weber, Marianne (1919b[1913]), S. 4.
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männlichen Durchschnitt unterlegen, aber eine gewisse Anzahl von Frauen könne mit ihrer Leistungsfähigkeit durchaus an die männliche heranreichen, so Weber.50 Marie Bernays verzichtete nach der endgültigen Ablehnung ihres Habilitationsvorhabens durch Max Weber mit „großem Schmerz“ auf die „Privatdozentenhoffnung“.51 Die Wahl eines anderen Betreuers oder den Wechsel an eine andere Universität, wie Weber es ihr geraten hatte, scheint sie nicht in Erwägung gezogen zu haben. Bernays äußerte allerdings noch 1920 ihr Unverständnis darüber, dass Frauen die Dozentur an Universitäten versagt geblieben war, ohne dass die Fakultäten ihre Ablehnung deutlich hätten begründen können.52 Wie realistisch Bernays die Berufsaussichten und -bedingungen von Nationalökonominnen – und damit ihre eigenen – einschätzte, zeigt ein Artikel, mit dem sie sich an der Diskussion über das nationalökonomische Frauenstudium beteiligte, und den sie unmittelbar vor der endgültigen Ablehnung ihres Habilitationswunsches verfasste.53 Bernays äußert darin ihr Bedauern über die fehlende Möglichkeit einer wissenschaftlichen Laufbahn für Nationalökonominnen, wodurch der Wissenschaft wertvolles Wissen verloren gehe: Gerade weil Frauen „auch auf dem Katheder, nicht nur am Schreibtisch, einen besonderen Einschlag in das Gewerbe ihrer Wissenschaft machen“ könnten, sei „diese Beschränkung besonders schmerzvoll“. Die Nationalökonomie zeichnete sich für Bernays als Fach durch ihre „Lebensnähe“ und die „Lebensbeziehung ihrer Untersuchungen“ aus. Wegen der bestehenden geschlechtsspezifischen wissenschaftlichen Arbeitsteilung entfalle die Konkurrenz zwischen den Geschlechtern. Dies erleichtere den Nationalökonominnen (im Vergleich zu den Studentinnen anderer Fakultäten) den Zugang zu publizistischer Arbeit in volkswirtschaftlichen Zeitschriften, Archiven oder Monatsheften und ermögliche ihr außerdem, sich „in Tageszeitungen oder Wochenschriften über allgemein interessierende Wirtschaftsprobleme“ zu äußern. Auch wenn diese journalistische Tätigkeit als alleinige Einkommensquelle nicht ausreiche, sei sie ein „wertvoller Wirkungskreis“.54 Bernays Begeisterung für die Partizipation an Wissenschaft wird an der Art und Weise deutlich, wie sie selbst die wissenschaftliche Kärrnerarbeit idealisiert. Wenn sie über die „liebevolle Hingabe an das einzelne Problem, jahrelange sorgfältige Kleinarbeit der Nachprüfung von Hypothesen und Vermutungen“ schreibt und davon, dass hier „auch einfachste Leistungen, wenn sie dem Ganzen dienen, unmittelbar ‚sinnvoll‘ werden“, dann hatte sie vermutlich die eigene Mitarbeit an der Enquete des VfS im Blick.55 Die Abwertung von Marie Bernays’ wissenschaftlicher und beruflicher Qualifikation scheint Max und Marianne Weber nicht ausgereicht zu haben, denn es kam zunehmend eine Abwertung von Bernays als Person hinzu. Dies zeigt sich im
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Weber, Marianne (1918), S. 92. Marianne Weber an Max Weber am 17. April 1913, in: Weber, Max (2003), S. 190. Bernays (1920a), S. 42. Bernays (1913a). Bernays (1913a), S. 276. Bernays (1913a), S. 276.
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sehr abschätzigen Ton, mit dem sich die Webers in Briefen über ihre ehemalige Lieblingsschülerin, aber auch über andere Bekannte und FreundInnen geäußert haben. Die Briefe vermitteln einen Eindruck von der sehr speziellen Arbeitsteilung der Eheleute bei der persönlichen Kontaktpflege. Gerade bei den jüngeren Freundinnen der Familie kam Marianne Weber die Rolle der bewunderten (mütterlichen) Freundin und Ratgeberin zu, die den Kontakt zwischen Bernays (und anderen Bekannten) und Max Weber regelte, weil dieser Besuch nur in Maßen ertrug. Zwar schätzte Marianne Weber Bernays Intelligenz und Tüchtigkeit sowie deren Interesse an sozialen Fragen und an der Frauenbewegung56, der Umgang mit Bernays wurde ihr allerdings zu anstrengend. Zu einem ersten Bruch scheint es vor Bernays’ Rigorosum gekommen zu sein, als Marianne Weber nicht nur zwischen Bernays und Max, sondern auch zwischen Bernays und Alfred Weber vermitteln musste, nachdem dieser auf die Nervosität der Promovendin zunehmend verärgert reagierte.57 Spätestens ab 1913 gehörte Bernays für Max und Marianne Weber zu den „desperate[n] Frauenzimmer[n]“58 und zu den „Schrecknissen sachlicher und menschlicher Art“59, von denen sie gern verschont bleiben würden.60 Häufig berichtet Marianne Weber in Briefen an ihren Ehemann, an ihre Schwiegermutter oder an Marie Baum von der Zuneigung, die ihr von Bernays entgegengebracht werde, die sie aber als zudringlich empfand, und darüber, welche Schwierigkeiten sie habe, Bernays Grenzen zu setzen.61 Im November 1913 machte Marianne Weber schließlich einen Schnitt und legte Grundbedingungen für weitere Besuche fest.62 Die erhaltenen Antwortschreiben von Bernays zeigen, dass diese sich bedingungslos unterwarf und für den Weiterbestand eines Kontakts zu sämtlichen Zugeständnissen bereit war. Bernays bat lediglich darum, dass einseitige „Du“ beibehalten zu dürfen. Für ihre Stellung in den Netzwerken der bürgerlichen Frauenbewegung war das von Bedeutung, denn es brachte ihre Nähe zu und Vertrautheit mit Marianne Weber öffentlich zum Ausdruck.63 Ein Entzug 56 Marianne Weber an Max Weber am 13. März 1913, in: BSB, Bestand Weber-Schäfer, Ana 446. 57 Max Weber an Marianne Weber am 13. Mai 1910, in: Weber, Max (1994), S. 510; siehe auch Max Weber an Marianne Weber am 14. Mai 1910, ebenda, S. 511. 58 Max Weber an Marianne Weber am 31. März 1913, in: Weber, Max (2003), S. 161. 59 Vgl. Max Weber an Marianne Weber am 30. März 1914, in: Weber, Max (2003), S. 580; Marianne Weber an Max Weber am 2. April und am 4. April 1914, in: Weber, Max (2003), S. 589 und S. 593. 60 Max Weber an Marianne Weber am 31. März 1913, in: Weber, Max (2003), S. 161; vgl. auch Max Weber an Marianne Weber am 27. März, 29. März, 30. März, 2. April, 7. April , 9. April und 16. April 1913, in: Weber, Max (2003), S. 150, S. 155, S. 156, S. 164, S. 171, S. 173 und S. 185. 61 Marie Baum an Marianne Weber am 13. Mai 1911, in: BSB, Bestand Weber-Schäfer, Ana 446. 62 Marianne Weber an Helene Weber am 15. November 1913, in: Weber, Max (2003), S. 319; siehe auch Radkau (2005), S. 474. 63 Das beiderseitige „Du“ war zwischen Protagonistinnen der Frauenbewegung eher selten und spiegelte größere Vertrautheit wider. Marianne Weber duzte sich beispielsweise mit Gertrud
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des „Du“ hätte auch nach außen den Bruch oder Abbruch der Freundschaft deutlich markiert und Fragen nach sich gezogen.64 Für Bernays hätte dies möglicherweise den Status gefährdet, denn sie sich in der Frauenbewegung erarbeitet hatte. Denn durch ihre Mitarbeit bei den Auslese- und Anpassungsstudien war Marie Bernays sowohl in der akademischen Fachwelt als auch in Kreisen der bürgerlichen Sozialreform und Frauenbewegung als Wissenschaftlerin und als Expertin für Frauenarbeit bekannt geworden. Sie wurde als Expertin für die Berufsausbildung von Frauen in der Textilindustrie auf die Hauptversammlung des neugegründeten Verbands für handwerksmäßige und fachgewerbliche Ausbildung der Frau eingeladen am 25. und 26. April 1913 in Berlin-Charlottenburg, bei der auch Rosa Kempf sprach.65 Am 16. Januar 1914 referierte Bernays außerdem beim Zentralverein für Arbeiterinnen-Interessen in Berlin über die Notwendigkeit und Bedeutung der Arbeitslosenversicherung für die Arbeiterfamilie.66 Nachdem ihre Mitarbeit bei den Auslese- und Anpassungsstudien abgeschlossen war, führte Bernays eine Studie über den Zusammenhang zwischen Frauenfabrikarbeit und Geburtenhäufigkeit durch, die als Diskussionsgrundlage für die Generalversammlung des BDF im Herbst 1914 dienen sollte.67 Erste Ergebnisse der Arbeit stellte sie auf der Generalversammlung des ADF im Oktober 1913 in Gießen vor.68 Nachdem ihr Habilitationsvorhaben endgültig gescheitert war, zog Marie Bernays als neues Berufsziel die Leitung einer Sozialen Frauenschule in Betracht, bei der es sich vermutlich um die geplante Schule in Mannheim handelte. Die Pläne für deren Gründung hatten im Frühjahr 1913 bereits konkrete Formen angenommen.69 Für Bernays stellte die Arbeit als Direktorin und Dozentin an einer Sozialen Frauenschule nicht nur eine inhaltlich attraktive, sondern auch eine ökonomisch sinnvolle Alternative zum akademischen Berufsweg dar. Eine mögliche Kandidatur von Bernays für diese Schule war für Marianne Weber jedoch ein „unmögliche[r] Gedanke“, und sie versuchte, Bernays davon abzubringen.70 Dass Marianne Weber mit ihrer Einschätzung nicht Recht behalten sollte, zeigte
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Bäumer ab Sommer 1909, vgl. Göttert (2004), S. 131. Auch Max Weber duzte sich nur mit sehr wenigen Personen. Marie Bernays an Marianne Weber am 13. März 1913, in: BSB, Bestand Weber-Schäfer, Ana 446. Bernays (1914a); (1913b), S. 42; vgl. Der Verband für handwerksmäßige und fachgewerbliche Ausbildung der Frau (1913). Der Verband für handwerksmäßige und fachgewerbliche Ausbildung der Frau den Bericht in: Die christliche Frau, 11. Jg., H. 9, Juni 1913, S. 323. Vgl. den ausführlichen Bericht über die Versammlung sowie Bernays’ Vortrag in: Der Zentralverein für Arbeiterinnen-Interessen (1914). Bernays (1916a; 1916b; 1917a). Vgl. Bernays (1914b–d). Marie Bernays an Marianne Weber am 13. März 1913, in: BSB, Bestand Weber-Schäfer, Ana 446; vgl. Radkau (2005), S. 483. In Mannheim und Heidelberg gab es bereits Mädchen- und Frauengruppen für soziale Hilfsarbeit, eine Vorstufe zu den Sozialen Frauenschulen, vgl. Guttmann (1989). Vgl. Marianne Weber an Max Weber am 17. April 1913, in: Weber, Max (2003), S. 190.
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III Die Promovendinnen
Bernays’ erfolgreiche und langjährige Arbeit als leitende Direktorin der Sozialen Frauenschule Mannheim.
3.1.4 Kriegsdienst und Gründung der Sozialen Frauenschule Mannheim Ab 1915 lebte Marie Bernays gemeinsam mit ihrer Mutter in Mannheim, wo sie mit der Gründung der dortigen Sozialen Frauenschule beschäftigt war und nach Ausbruch des Ersten Weltkriegs Aufgaben im Rahmen NFD übernahm. Anders als in Heidelberg gelang es ihr hier, sich gesellschaftlich zu etablieren. Das lag zunächst vor allem an ihrer guten Anbindung an die Strukturen der lokalen Frauenbewegung und vermutlich auch an ihrer Mentorin, der dreiundzwanzig Jahre älteren Julie Bassermann (1860–1940). Die aus einer alteingesessenen jüdischen Mannheimer Bankiersfamilie stammende Bassermann gehörte neben Alice Bensheimer (1864–1935) zu den tonangebenden Persönlichkeiten der Mannheimer, der badischen und der reichsweiten Frauenbewegung. Bassermann und Bensheimer waren eng mit der Stadt Mannheim verbunden, in deren bürgerliche Vereinskultur integriert und mit dem Umgang mit städtischen Honoratioren vertraut. Die beiden Freundinnen kämpften schon früh für die Mitarbeit von Frauen in der kommunalen Armenpflege und hatten in Mannheim gemeinsam den Jüdischen Frauenbund Caritas und eine Ortsgruppe des Vereins Frauenbildung-Frauenstudium (VFF) gegründet. Bassermann war von 1901 bis 1929 Vorsitzende des lokalen Vereins und des überregionalen Verbands des VFF.71 Nach dem Bruch mit Marianne und Max Weber und ihrem Umzug nach Mannheim schloss sich Bernays der Mannheimer Ortsgruppe des VFF an, war seit 1915 Schriftführerin des Dachverbands und seit 1916 mit der Redaktion der „Mitteilungen des Vereins FrauenbildungFrauenstudium“ betraut. Seit Kriegsbeginn war Bernays außerdem Mitglied im neu gegründeten Frauenberufsamt des BDF und dessen Kommission zur Bearbeitung der Steuerfragen der weiblichen Staatsangehörigen. Das Berufsamt befasste sich mit Fragen der Berufs- und Erwerbstätigkeit von Frauen unter Berücksichtigung der wirtschaftlichen, hygienischen, psychologischen und sittlichen Bedingungen und verfasste Gutachten zu Berufs- und Bildungsfragen der Frauen.72 Zu den vier Gründermüttern der Sozialen Frauenschule Mannheim gehörten neben Marie Bernays und Julie Bassermann mit Alice Bensheimer und Elisabeth Altmann-Gottheiner zwei weitere einflussreiche Persönlichkeiten, die sich durch ihren Kampf für Gleichberechtigung, Mädchen- und Frauenbildung, die Rechte
71 Schuster-Schmah (1995), S. 176, vgl. Altmann-Gottheiner (1914), S. 71f. 1913 hatte der VFF im Großherzogtum Baden insgesamt 1.327 Mitglieder. Mit 430 Mitgliedern war die Mannheimer Gruppe die größte, danach folgte Heidelberg mit 271, Karlsruhe mit 231, Freiburg mit 211, Baden-Baden mit 104 und Pforzheim mit 80 Mitgliedern. 1916 umfasste der Gesamtverband 27 Abteilungen mit insgesamt 4.665 Mitgliedern, vgl. Altmann-Gottheiner (1916), S. 78. 72 Reinicke (1998a), S. 79.
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von Frauen im Berufsleben, die Verbesserung der Arbeits- und Lebensbedingungen von Arbeiterinnen und einen besseren Mutterschutz bereits einen Namen gemacht und mit ihren Veröffentlichungen profiliert hatten. Sie betätigten sich in hohem Maße in sozialen und politischen Bereichen und waren außerordentlich gut in die Strukturen und Netzwerke der lokalen, badischen und reichsweiten bürgerlichen Frauenbewegung eingebunden. Während des Kaiserreichs und der Weimarer Republik bildete der Rhein-Neckar-Raum mit den Städten Mannheim und Heidelberg neben Berlin und München eines der Zentren der Bewegung. In Mannheim befand sich eine der drei Geschäftsstellen des BDF sowie eines von dessen beiden Archiven. Altmann-Gottheiner war bis 1924 Schatzmeisterin des BDF und von 1912 bis 1920 Herausgeberin des Jahrbuchs des BDF. Ab 1924 unterstützte sie Bensheimer bei der Veröffentlichung des „Centralblatts“ des BDF und leitete die Kommission für Frauenarbeit des Internationalen Frauenbunds. Bensheimer, die Herausgeberin des „Centralblatts“, die schon während der Amtszeit von Gertrud Bäumer dem Vorstand des BDF als korrespondierende Schriftführerin angehört hatte, galt als eine der grauen Eminenzen des Verbands.73 In Marie Bernays’ populär geschriebener Einführung „Die deutsche Frauenbewegung“ machte sich ihre Anbindung an die bürgerliche Frauenbewegung in Mannheim nicht nur durch Danksagung an Alice Bensheimer und Elisabeth AltmannGottheiner bemerkbar, sondern auch durch ihrer Darstellung der von der Frauenbewegung erreichten Erfolge, in der sie mehrfach mit Beispielen aus Baden arbeitete.74 Bernays’ Anbindung an die lokalen Strukturen kommt außerdem durch ihre Mitarbeit beim örtlichen NFD zum Ausdruck. Über dessen Arbeit berichtete sie in ihrer Funktion als Schriftführerin des VFF in der einschlägigen Presse der bürgerlichen Frauenbewegung, vor allem in der Zeitschrift „Die Frau“ und in den „Blättern für soziale Arbeit“.75 Sie informierte dabei nicht nur über die Kriegstagung des NFD, sondern vor allem auch über die lokale Umsetzung der Kriegsarbeit des Vereins in Mannheim.76 In ihren Artikeln stellte Bernays die Arbeit des NFD in Mannheim als Muster für die Organisation der Kriegsfürsorge einer mittelgroßen Stadt dar. Sie skizziert dabei fast immer zunächst die vorgefundene Situation und anschließend die geplante oder bereits erfolgte praktische Umsetzung verschiedener Maßnahmen der Kriegsfürsorge in Mannheim.77 Zwar ist der Ton ihrer Artikel überwiegend nüchtern, für die Beschreibung der nationalen Begeisterung bei Kriegsausbruch griff Bernays jedoch auch auf pathetische Bilder zurück.78 Sie
73 Pfanz-Sponagel (2004), S. 59 und S. 99–103. 74 Vgl. Bernays (1920a), S. 36 und S. 42–37. 75 Die „Blätter für soziale Arbeit“ waren das Organ des Deutschen Verbands der Jugendgruppen und Gruppen für soziale Hilfsarbeit und des Zentralvereins für Arbeiterinnen-Interessen. 76 Siehe z. B. Bernays (1915b; 1915c; 1915e; 1915g; 1917b); zum NFD Mannheim siehe z. B. Sperlich (1995), S. 35–40; Guttmann (1989), S. 135. 77 Bernays (1915g), S. 82. 78 Siehe z. B. Bernays (1915g), S. 83.
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begrüßte zwar durchaus den durch den Krieg eingetretenen, alle Schichten erfassenden Patriotismus und Nationalismus und beschwor – zumindest in den ersten Kriegsjahren – die überragende „deutsche Kultur“, bedauerte aber gleichzeitig ausdrücklich den kriegsbedingten Abbruch internationaler Verbindungen.79 Wie viele SozialpolitikerInnen erlebte Bernays den Kriegsausbruch als Katharsis und hoffte darauf, dass er „die ‚soziale Müdigkeit‘ der letzten Jahre“ beseitigen und das soziale Feuer „in den Herzen der deutschen Frauen“ entzünden würde.80 Im sozialen Gedanken sah Bernays einen „Friedensstern“, der „leichter und rascher als alle anderen geistigen Werte die in Feindschaft getrennten Völker“ nach Kriegsende werde einen können.81 Neben der Berichterstattung übernahm Marie Bernays auch praktische Aufgaben für den NFD Mannheim. Sie war Geschäftsführerin der Berufs- und Kriegswitwenberatung und gehörte zu den ehrenamtlichen Mitarbeiterinnen der Ermittlungs- und Nachprüfungsstelle der Allgemeinen Fürsorgestelle.82 Bernays arbeitete desweiteren in der Zentrale für weibliche Berufsberatung des NFD mit, in der die vor dem Krieg bestehende Kriegswitwenberatung und die vom VFF eingerichteten Berufsberatungsstellen für Frauen zusammengefasst worden waren.83 Sie war außerdem an der Einrichtung des Kriegstagesheims für arbeitslose Mädchen und Frauen des NFD Mannheim beteiligt, das am 15. Januar 1915 eröffnet wurde und nach dem Vorbild des bereits bestehenden Frankfurter Heims eingerichtet worden war.84 Die in mehreren Städten geschaffenen Tagesheime waren eine Förder- und Betreuungsmaßnahme für arbeitslose „Töchter des Volkes“, wie Bernays sie in einem ihrer Artikel bezeichnete. Damit sollte die Zeit der Arbeitslosigkeit durch Weiterbildung sinnvoll überbrückt und der (Wieder)Einstieg in den Arbeitsmarkt erleichtert werden. Neben der karitativen und sozial- und bildungspolitischen hatten die Tagesheime auch eine explizite Kontrollfunktion, durch die „die Arbeitswilligkeit der Empfängerinnen von Arbeitslosenunterstützung“ überprüft werden sollte.85 Eine direkte Arbeitsvermittlung fand zwar nicht statt, jedoch kooperierten die Tagesheime eng mit den städtischen Arbeitsämtern und meldeten täglich die Zahl und den beruflichen Status der aufgenommenen arbeitslosen Mädchen und Frauen. Die Heime arbeiteten außerdem mit der Sozialbürokratie zusammen. Über jede Teilnehmerin des Tagesheims wurde „ein ausführlicher Fragbogen aufgenommen, dieser an die Sozialämter weitergegeben und von dort aus (…) die Angaben des Mädchens nachkontrolliert“, um
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Bernays (1915g), S. 82. Bernays (1915g), S. 83; vgl. Bernays (1914f), S. 78 und (1915b), S. 204–205. Bernays (1914f), S. 79. Die Kriegsfürsorge in Mannheim (1916), S. 119–129 und S. 304; vgl. Bernays (1917b). Die Kriegsfürsorge in Mannheim (1916), S. 239–241 und S. 315; vgl. Guttmann (1989), S. 142. 84 Bernays (1915c); vgl. Altmann-Gottheiner (1916), S. 84–92. 85 Bernays (1915e), S. 519.
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deren Wohnungs- und Familienverhältnisse genau zu erfassen.86 Ein ähnlicher Fragebogen war in Baden bereits bei den Fürsorgevermittlungsstellen zur Ermittlung und Verbesserung der Lebensverhältnisse von Arbeiterinnen zum Einsatz gekommen, was ebenfalls die Kontrollfunktion der Fürsorgestellen verdeutlicht. Da sich die Situation der Frauen nach diesen Befragungen meist kaum verbesserte, verweigerten diese bald ihre Mitarbeit an weiteren Befragungen über ihren Alltag.87 Für Bernays hatte die Arbeit im Kriegstagesheim für arbeitslose Mädchen und Frauen einen praktischen Nutzen; sie konnte ihre pädagogischen Fähigkeiten erproben und erhielt Einblick in ein praktisches Tätigkeitsfeld der sozialen Berufsarbeit. Bei der Organisation des Tagesheims konnte sich außerdem die personelle Konstellation bewähren, die kurze Zeit später die Basis der Sozialen Frauenschule Mannheim bildete: Als Vorsitzende des NFD hatte Bassermann die organisatorische Leitung übernommen, Altmann-Gottheiner war die Vorsitzende des Tagesheims und Bernays übernahm die praktische Leitung. Dabei wurde sie von einer „Hausmutter“ unterstützt, die mit ihren beiden Töchtern im Heim wohnte. Der Lehrkörper bestand ausschließlich aus Frauen, neben Bernays und AltmannGottheiner gehörten ihm noch zwei weitere promovierte Nationalökonominnen an. Ein Jahr nach der Eröffnung des Mannheimer Tagesheims wurde von der Mannheimer Abteilung des VFF – vertreten durch Altmann-Gottheiner, Bassermann, Bensheimer und Bernays – die bereits länger geplante Soziale Frauenschule Mannheim eröffnet. Mannheim blieb während des Krieges nicht die einzige Schulgründung.88 Denn durch die soziale Not u. a. der Kriegswaisen und -witwen und die schlechte Ernährungslage während des Krieges stieg der Bedarf an systematisch geschulter Sozialer Arbeit, die es bis dahin nicht gegeben hatte. Die Soziale Frauenschule Mannheim nahm im Oktober 1916 den Schulbetrieb auf, mit 30 Schülerinnen im Alter zwischen 18 und 30 Jahren, die überwiegend aus Mannheim und der näheren Region stammten.89 Der VFF fungierte in den ersten Jahren als Träger der Schule, Altmann-Gottheiner, die zweite Vorsitzende des Vereins, war von 1916 bis 1925 Geschäftsführerin der Schule, Bernays übernahm als Direktorin die Leitung der Schule. Mit ihren 33 Jahren war Marie Bernays die jüngste geschäftsführende Direktorin der zu diesem Zeitpunkt in Deutschland bestehenden Sozialen Frauenschulen, obwohl die im Gegensatz zu anderen Direktorinnen – Rosa Kempf in Frankfurt am Main, Alice Salomon in Berlin und Gertrud
86 Bernays (1915c), S. 19. 87 Guttmann (1989), S. 149. 88 In Baden gab es seit 1911 die Katholische Soziale Frauenschule Heidelberg der Gräfin Maria Graimberg (1879–1965), 1918 wurde die Evangelisch-Soziale Frauenschule Freiburg von Marie von Marschall (1862–1949)und dem Landesverein für Innere Mission gegründet, 1919 wurden die Soziale Frauenschule des Deutschen Caritasverbands in Freiburg und eine Soziale Frauenschule des Badischen Frauenvereins in Karlsruhe eröffnet. In Württemberg gab es seit 1917 in Stuttgart eine Soziale Frauenschule des Schwäbischen Frauenvereins. 89 Vgl. Soziale Ausbildung (1916), S. 70.
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Bäumer bzw. Marie Baum in Hamburg – keine langjährige Berufspraxis als Lehrerin vorzuweisen hatte. Dennoch gelang es Bernays schnell, ihre Vorstellungen über die Gestaltung und Entwicklung der sozialen Berufsarbeit und der Sozialen Frauenschulen auf Konferenzen und mit Fachartikeln in die Diskussion einzubringen. Gemeinsam mit Altmann-Gottheiner beteiligte sich Bernays an den von Alice Salomon initiierten Konferenzen der Sozialen Frauenschulen Deutschlands, deren erste Tagung im Januar 1917 in Berlin stattfand90, kurz nach der Eröffnung der Mannheimer Schule. Ziel dieser Treffen war es, gemeinsam auf eine Vereinheitlichung der Lehr- und Ausbildungsplänen und auf eine Normierung der disparaten Beschäftigungs- und Besoldungsverhältnisse der sozialen Berufsarbeit hinzuarbeiten. Wie bei den Sozialen Frauenschulen in Frankfurt am Main, Hamburg und Berlin wurde auch in Mannheim eine zweieinhalbjährige theoretische und praktische Aus- und Fortbildung für verschiedene Sozialberufe angeboten. Die Soziale Frauenschule Mannheim wich mit ihrem Curriculum aber in einigen zentralen Punkten von den bei der Konferenz gefassten Beschlüssen ab. Anders als in Frankfurt waren Theorie- und Praxisteil in Mannheim nicht als zeitliche Blöcke getrennt. Der theoretische Unterricht fand mit Rücksicht auf die Einteilung der praktischen Arbeit an drei Vormittagen und zwei Nachmittagen in der Woche statt. Er umfasste 14 Wochenstunden in den Fächern Volkswirtschaftslehre und Bürgerkunde, Sozialpolitik und soziale Fürsorge, Armenrecht und Armenwesen, Psychologie und Pädagogik, allgemeine und soziale Hygiene, soziale Literatur, Staat und Gesellschaft im 19. Jahrhundert sowie Einführung in die Statistik. Am Samstagvormittag wurden Besprechungen der praktischen Arbeit, sowie Besichtigungen von Gewerbebetrieben und Wohlfahrtseinrichtungen durchgeführt. Die praktische Soziale Arbeit sollte mindestens zwölf Wochenstunden in sozialen Einrichtungen umfassen; Bernays übernahm in ihrer Funktion als Leiterin der Schule die Vermittlung der Praktikumsstellen.91 Bei der Soziale Frauenschule Mannheim betrug das Mindestalter der Schülerinnen 18 Jahre. In Berlin wurde ein Mindestalter von 20 Jahren beschlossen und es wurden zudem höhere Anforderungen an die Vorbildung der Schülerinnen gestellt. Sie sollten eine abgeschlossene Berufsausbildung auf pädagogischem, krankenpflegerischem oder hauswirtschaftlichem Gebiet haben oder den Besuch einer Vorbereitungsklasse vorweisen können. In Mannheim genügte dagegen der Nachweis hauswirtschaftlicher Kenntnisse.92 Auf den intensiven Austausch zwischen der Schule und ihrem politischen und wissenschaftlichen Umfeld in Mannheim und in Baden verweist die Liste der ExpertInnen aus Wissenschaft und kommunalen Behörden, die – vor allem in den ersten Jahren nach der Schulgründung – als ReferentInnen eingeladen wurden. Bei Blockveranstaltungen und öffentlichen Vorträgen, die als eine Art Ringvorle90 Vgl. Eine Konferenz der sozialen Frauenschulen (1917). 91 Vgl. Die soziale Frauenschule in Mannheim (1916). 92 Zur unterschiedlichen Bewertung der Hauswirtschaft im Curriculum der Sozialen Frauenschulen vgl. Schröder (2001), S. 261–267.
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sung organsiert waren und in der Tagespresse angekündigt wurden, berichteten diese ExpertInnen aus ihren Fachgebieten. 1919 gab Dr. Heinz Marr (1876–1940) vom Sozialen Museum in Frankfurt am Main eine Einführung in die „Aufgabe der Jugendpflege“. Prof. Dr. Willy Hellpach (1877–1955), der DDP-Politiker und spätere Badische Kultusminister und Staatspräsident, referierte über die „Psychologie der Arbeit und des Berufs“. Dr. Hans Kampffmeyer (1876–1932), Landeswohnungsinspektor und Vertreter der Gartenstadt-Bewegung, sprach über die Wohnungsfrage, der Arzt Dr. Moses (18??–19??) über Probleme der Kinderfürsorge und die Frauenrechtlerin und Juristin Camilla Jellinek (1860–1940) über Rechtsberatung und Rechtsschutz. Einen Einblick in die Praxis der Sozialen Arbeit gaben Vorträge von Wohnungsinspektorinnen und Fabrikpflegerinnen. Ein bemerkenswertes Beispiel für die Zusammenarbeit zwischen Stadt und Sozialer Frauenschule sind auch die soziologischen Untersuchungen, die die Schule im Auftrag der Stadt durchführte. Sie zeigen, dass Marie Bernays auf die Schulung der zukünftigen Sozialarbeiterinnen in den Methoden der empirischen Forschung als Grundlage der Sozialen Arbeit Wert legte. Schon ein halbes Jahr nach der Eröffnung der Sozialen Frauenschule beteiligten sich Bernays und der erste Jahrgang der Schule im März 1917 an der lokalen Erhebung des badischen Landeswohnungsvereins über die Wohnverhältnisse einkommensschwacher kinderreicher Familien. Ab März 1917 führten 42 der 57 Schülerinnen des ersten Jahrgangs innerhalb eines Jahres in Mannheim insgesamt 1.446 fragebogengestützte Interviews im Rahmen von Hausbesuchen durch (also zwischen zwei und sechs Befragungen pro Schülerin in der Woche). Die Schülerinnen führten ihre Befragungen nicht in einem speziellen Stadtteil durch, sondern wurden in verschiedenen Stadtteilen eingesetzt, damit sie die unterschiedlichen Wohnverhältnisse kennenlernen und so Vergleich ziehen konnten. Bernays wies ihrer Schülerinnen vorab theoretisch ein und begleitete sie bei den ersten Hausbesuchen, um ihnen „über ihre anfängliche Schüchternheit hinwegzuhelfen“.93 Sie kontrollierte zeitnah die ausgefüllten Bogen und ließ, wenn sie damit unzufrieden war, die Befragung wiederholen. Durch die Mitwirkung an der empirischen Studie wurden den Schülerinnen Grundkenntnisse über die Lebensbedingungen und die ökonomische Lage ihrer zukünftigen Klientel vermittelt. Die Einbindung der Schülerinnen in empirische Forschungsprojekte und amtliche Erhebungen war eine Besonderheit der Mannheimer Schule. Die Durchführung einer selbstständigen Untersuchung auf dem Gebiet der sozialen Wohnungspflege konnte in den ersten Jahren sogar als Praktikum angerechnet werden. Die gemeindesoziologischen Untersuchungen entsprachen Bernays’ wissenschaftlichem Interesse, hatten aber auch einen pädagogischen Hintergrund. Denn die Datenerhebung als Interviewerinnen vermittelte den Schülerinnen zum einen erste Einblicke in die Lebensbedingungen und die sozioökonomische Lage ihrer zu-
93 Bernays (1918a), S. 7. Eine weitere Studie der Untersuchungsreihe des badischen Landeswohnungsvereins war Kampffmeyer/Schenck (1918).
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künftigen KlientInnen und zum anderen Einblicke in das Arbeitsfeld der Wohnungsfürsorge. Gleichzeitig war es eine Art Gesprächstraining, eine praktische Einführung in die Erfassung und Dokumentation von Daten sowie in das Verfassen von Berichten.
3.1.5 Zwischen Parteipolitik und Frauenbewegung Nach Kriegsende war Marie Bernays’ Arbeitsbelastung sehr hoch. Neben ihrer Arbeit als Direktorin und Dozentin der Sozialen Frauenschule Mannheim nahm ihre publizistische und parteipolitische Arbeit, ihre Beteiligung bei der Mobilisierung der Frauen zu den ersten Wahlen, sehr viel Zeit in Anspruch. Ihre unter dem Eindruck des verlorenen Krieges entstandenen Reden und Texte sind durch ihren Mitgestaltungswillen am politischen Wiederaufbau Deutschlands gekennzeichnet. Bernays’ Einstieg in die parteipolitische Nachkriegsarbeit begann allerdings mit einem Eklat. Als Mitte Dezember 1918 auf der Mitgliederversammlung der Badischen Volkspartei, der Nachfolgeorganisation der Nationalliberalen Partei, mit knapper Mehrheit der Anschluss an die linksliberale DDP beschlossen wurde, verließ Bernays gemeinsam mit Julie Bassermann, die seit 1912 Vorsitzende des nationalliberalen Frauenausschusses gewesen war, und anderen die Versammlung. Bernays und Bassermann gehörten zu der Gruppe, die im Januar 1919 einen badischen Landesverband der DVP gründete94; einer Partei, die sich vor dem Krieg noch ausdrücklich gegen das Frauenwahlrecht ausgesprochen hatte und deren Haltung gegenüber der Republik ambivalent war. Für Marie Bernays’ Bruder und einige Mitstreiterinnen aus der Frauenbewegung war nur schwer nachvollziehbar, dass aus der ehemals linksliberalen, mit der Sozialdemokratie sympathisierenden Protagonistin der Frauenbewegung nach dem verlorenen Krieg und nach der Revolution eine Rechtsliberale geworden war, deren Haltung gegenüber der Weimarer Demokratie sich zwischen Skepsis und Ablehnung bewegte.95 Bernays Entscheidung für die DVP entsprach ihrer Überzeugung, dass das „deutsche Volk“ für die Demokratie noch nicht reif sei.96 Die DDP bot in den Augen von Bernays keine Anknüpfungspunkte für die „irrationalen Triebkräfte“ des Volkes97, diese Triebkräfte fühlten sich deshalb, so Bernays, mehr von Parteien angesprochen, die – wie die DVP, die Zentrumspartei oder die DNVP – für eine
94 Vgl. die Berichte im „Badischer Generalanzeiger Mannheim“ vom 21. Januar 1919, 30. Januar 1921 und 10. Mai 1921, in: ISG-StAMA, S 2/1201; Pfanz-Sponagel (2004), S. 267; Planert (1998), S. 108. 95 Siehe z. B. Ulrich Bernays an Louise Bernays am 8. Februar 1919, in: GLA Karlsruhe, Bestand N: Nachlass Ulrich Bernays. 96 Siehe Bernays (1924a). 97 Bernays (1920k; 1921e). Zum Irrationalen beim Wahlverhalten der deutschen Arbeiterschaft siehe auch Herkner (1910), S. 394.
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religiös-nationale Kultur- und Staatsauffassung standen.98 Das demokratische Programm der DDP führte ihres Erachtens zu einer Herrschaft der Masse und zur Mittelmäßigkeit. Das nationalliberale Programm der DVP entspreche dagegen mehr den liberalen Idealen, da es auf das Recht des Einzelnen Wert lege und dadurch den „Aufstieg des Begabten“ ermögliche.99 Marie Bernays gehörte bis Mitte der 1920er Jahre zu den wenigen exponierten Frauen in der DVP, die ihre politischen Vorstellungen aktiv in die lokale, regionale und Landespolitik einbrachten, wie Bernays’ Mitarbeit in den verschiedenen Parteigremien und ihre rege Vortrags- und Publikationstätigkeit belegt.100 Sie war Vorsitzende der Frauengruppe des Ortsvereins Mannheim und Mitglied des Vorstands des Reichsfrauenausschusses der DVP. Bernays galt als begabte und beliebte Rednerin, wie in den Berichten über ihre öffentlichen Auftritte immer wieder betont wird.101 In ihrer Rede auf dem zweiten Parteitag der DVP im Oktober 1919 in Leipzig präsentierte sie ihre Auslegung der frauenpolitischen Positionen der Partei; diese zeigte, dass sich Bernays’ Haltung zur Frauenerwerbsarbeit nicht verändert hatte. Die Hauptaufgabe der Frauen sah sie in der Stärkung und im Erhalt der Familie, denn die Familie sei „die Keimzelle allen Kulturlebens“. Dies solle durch politische Maßnahmen gestärkt werden, etwa durch soziale Förderung kinderreicher Familien. Bernays betonte aber auch ausdrücklich die Notwendigkeit und gesellschaftliche Bedeutung der Frauenerwerbsarbeit, die durch gesetzliche und bildungspoltische Maßnahmen unterstützt werden müsse. Bernays forderte einen ausreichenden Lohn, die Verbesserung der Arbeitsbedingungen sowie die Möglichkeit einer vollwertigen Ausbildung und eines beruflichen Aufstiegs für Frauen.102 Von 1921 bis 1925 gehörte Marie Bernays als Abgeordnete der DVP dem Badischen Landtag an.103 Wie fast alle der zwanzig Parlamentarierinnen der DVP arbeitete Bernays in der Sozialpolitischen Kommission und im Kulturausschuss mit.104 Im Gegensatz zu ihrer Parteikollegin, der Reichstagsabgeordneten Clara Mende (1869–1947), setzte sich Bernays nicht für eine aktivere Rolle von Frauen in „harten“ Politikfeldern wie der Außenpolitik ein.105 Bernays beteiligte sich vor allem in der ersten Legislaturperiode intensiv an den Debatten des Badischen
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Bernays (1921c). Zur Betonung des Religiösen in der DVP vgl. Sneeringer (2002), S. 31–32. Bernays (1919a), S. 9; vgl. Bernays (1918b). Zur Rolle der Frauen in der DVP vgl. Sneeringer (2002), S. 34. Vgl. die Zeitungsausschnitte zur Geschichte der DVP (z. B. Badischer Generalanzeiger Mannheim vom 8. November 1919, 4. Juni 1920 und, 20. Januar 1921), in: ISG-StAMA, S 2/1201. Bernays (1920c); vgl. Scheck (2004), S. 85–86; Sneeringer (2002), S. 34. Vgl. Hochreuther (1992), S. 54–55. Marianne Weber vertrat von 1919 bis 1920 als Abgeordnete der DDP den Wahlkreis Heidelberg in der Badischen Nationalversammlung; siehe ebenda, S. 49 und 67ff. Siehe Scheck (2004), S. 85 und 119. Zur Arbeit von Marie Bernays und der anderen weiblichen DVP-Abgeordneten siehe Scheck (1997), S. 49; Scheck (1999; 2001; 2004).
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Landtags.106 Schwerpunkte ihrer parlamentarischen Arbeit waren neben sozialen Fragen (Wohnungsfragen, Kinder- und Jugendfürsorge, Hygiene) vor allem Frauenthemen. Sie forderte mehrfach den Ausbau der Mädchenbildung und des Frauen(fach)schulwesens, die Verbesserung der Berufschancen von Frauen und die Zulassung von Frauen zum Justizdienst, besonders auch als Richterinnen. Als Schulexpertin der DVP sprach sich Bernays für den Erhalt von privaten Schulen aus, insbesondere von Mädchenschulen, da Privatschulen meist innovativer und flexibler als staatliche Schulen seien. Sie betonte die pädagogische Bedeutung von reinen Mädchenschulen für die Entwicklung der Mädchen, da diese sich im koedukativen System schlechter entwickeln würden.107 Bernays setzte sich außerdem für die Erhaltung der Mannheimer erweiterten Volksschule ein108; ihre bei diesem Anlass formulierte markante These lautete: „Schulabbau ist volkswirtschaftlicher Selbstmord, Schulabbau bedeutet seelische und geistige Not des intelligenten Kindes.“109 In den politischen Debatten vertrat Marie Bernays jedoch keine ultrarechten Positionen, wie etwa Clara Mende, die Reichstagsabgeordnete der DVP, bei ihren Angriffen gegen die Versailler Verträge.110 Bernays konservative Haltung zeigte sich u. a. daran, wie sie an den adligen Repräsentantinnen des untergegangenen Kaiserreichs festhielt und wie sie den Wiederaufstieg Preußens nach der napoleonischen Besatzung idealisierte. Anlässlich des Todes der Großherzogin Luise verfasste Bernays einen „Abschiedsgruß an Luise von Baden“, in dem sie betont, dass sie „der Landesmutter schon zu Lebzeiten nahe gestanden“ habe.111 Der Goethe-Vers, den Bernays den Schülerinnen der Sozialen Frauenschule Mannheim als Leitspruch mitgab, war zentraler Bestandteil des Mythos um Luise von Preußen (1776–1810): „Wer nie sein Brot mit Tränen aß, wer nie die kummervollen Nächte auf seinem Bette weinend saß, der kennt Euch nicht Ihr himmlischen Mächte. Ihr führt ins Leben uns hinein. Ihr lasst den Armen schuldig werden, dann überlasst Ihr ihn der Pein, doch alle Schuld rächt sich auf Erden.“ Diesen Vers soll Luise auf der Flucht vor Napoleon im Kriegswinter 1896/1897 mit dem Diamanten ihres Fingerrings in die Fensterscheibe einer Bauernhütte in Ostpreußen geritzt haben.112 Der Luisen-Mythos beruhte auf deren standhafter Haltung nach der
106 Zur Arbeit von Marie Bernays als badische Landtagsabgeordnete vgl. Exner (2003; 2004). 107 Scheck (2004), S. 94. 108 Gesuch der Frauengruppen der politischen Parteien u. a. Verbände in Mannheim, Erhaltung der Mannheimer erweiterten Volksschule in ihrer ungeschmälerten Leistungsfähigkeit betreffend, in: GLA Karlsruhe 231/4705; siehe auch: Neue Badische Landes-Zeitung, 26. Januar 1924, Morgen-Ausgabe, in: ebenda. 109 Badischer Generalanzeiger Mannheim, 28. Januar 1923, in: GLA Karlsruhe 231/4705; siehe auch den Artikel „Elternversammlung gegen Schul-Abbau“ in der „Volksstimme“ vom 28. Januar 1923, 2. Blatt, in: ebenda. 110 Scheck (2004), S. 118. 111 Badischer Generalanzeiger Mannheim, 5. Mai 1923. 112 Leschmann (1988), S. 165.
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preußischen Niederlage gegen Napoleon und diente Bernays als Vorbild für den Wiederaufstieg Deutschlands nach dem verlorenen Krieg. Bernays politische Entwicklung zu einer Rechtsliberalen erfolgte über die Novemberrevolution; diese hatte für Bernays zu einer „Schwächung der sozialen Idee“ geführt.113 Außerdem war sie empört darüber, dass im Zuge der Revolution die großherzoglichen Familie Badens Luise vertrieben und zur Abdankung gezwungen worden war. Luise von Baden, die Bernays persönlich kannte, war wegen der von ihr geschaffenen Wohlfahrtseinrichtungen in bürgerlichen Kreisen beliebt.114 Bernays nahm um 1920 jede zu schwache oder fehlende Distanzierung von der Novemberrevolution zum Anlass, um sich als Sprachrohr der rechtsliberalen Positionen zu profilieren und linksliberale Politikerinnen zu diskreditieren.115 Das zeigt sich etwa an Bernays’ Reaktion auf eine Rede von Gertrud Bäumer als Reichstagsabgeordnete der DDP, in der Bäumer die Novemberrevolution als „elementaren Ausbruch eines seelisch misshandelten Volkes“ bezeichnet hatte. Für Bernays wurde durch diese Äußerung die nationale Einstellung des BDF in Frage gestellt, da Bäumer zu diesem Zeitpunkt auch Vorsitzende des BDF war. Als Vertreterin der rechtsliberalen Frauen forderte Bernays jedoch die politische Neutralität des BDF.116 Sie wandte gleichzeitig gegen eine parteipolitische Ausrichtung der BDF-Zeitschrift „Die Frau“ als offizielles Vereinsorgan der Linksliberalen. Sie attackierte deshalb die Herausgeberinnen Helene Lange und Gertrud Bäumer und kündigte an, dass ihr aus politischen Gründen eine weitere Mitarbeit in der Zeitschrift „Die Frau“ „innerlich unmöglich“ sei, wenn diese nicht parteipolitisch neutral sei.117 Bäumer wies diese Vorwürfe zurück und bescheinigte Bernays „parteipolitische Benommenheit“.118 Bernays Drohungen waren vermutlich wahlstrategisch motiviert und gehörten zu den Versuchen der DVP, sich in Frauenfragen zu profilieren und das Bild der DDP als Haupt- bzw. Alleinvertreterin der bürgerlichen Frauenbewegung in Frage zu stellen. Bernays, als Sprachrohr der Rechtsliberalen, wehrte sich gegen die vermeintliche Marginalisierung ihrer Positionen. Der Streit führte zur ihrer vollständigen Isolierung innerhalb der Frauenbewegung; sie verlor damit auch den Zugang zu für sie wichtigen öffentlichen und publizistischen Foren. Denn die von Bernays geführte Auseinandersetzung um unterschiedliche politische Postionen wurde als Gefahr für die Einheit der Frauenbewegung und deren Konstrukte weiblicher Gemeinschaft empfunden.119 Fast alle ehemaligen (linksliberalen) Mentorinnen von Marie Bernays hatten bereits zuvor den Kontakt zu ihr abgebrochen.
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Bernays (1920l). Vgl. Bernays (1920l); siehe auch Weber, Marianne (1984[1926]), S. 80 und S. 98. Bernays (1920k). Bernays (1921e), S. 312ff.; Bernays (1920n). Bernays (1921d; 1921e). Bäumer (1921a), S. 282; vgl. Bäumer (1921b). Göttert (2000), S. 309; vgl. Greven-Aschoff (1981), S. 87ff.
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3.1.6 Profilierung der Sozialen Frauenschule Mannheim und Rückzug ins Innere Bernays Isolierung innerhalb des BDF scheint sich jedoch nur wenig auf ihre Arbeit als Direktorin der Sozialen Frauenschule Mannheim, auf ihre politische Arbeit als Landtagsabgeordnete und auf ihre politische und gesellschaftliche Etablierung in Mannheim ausgewirkt zu haben. Mit Julie Bassermann, die wie sie kommunal- und landespolitisch für die DVP aktiv war, hatte sie in Mannheim auch weiterhin eine wichtige Unterstützerin. Bernays war während der Weimarer Republik eine regional bekannte und anerkannte Persönlichkeit, die aus dem kulturellen und sozialen Leben der Stadt Mannheim nicht wegzudenken war.120 Das lag größtenteils an ihrer erfolgreichen Arbeit als Direktorin der Sozialen Frauenschule Mannheim. Gemessen an der Zahl der Schülerinnen und Absolventinnen entwickelte sich die Mannheimer Schule in den 1920er Jahren zu einer der sechs größten Sozialen Frauenschulen Deutschlands; bis 1928 hatte die Schule 239 Wohlfahrtspflegerinnen und Sozialbeamtinnen ausgebildet. Dass die Mannheimer Schule während der Weimarer Republik den Ruf hatte, die beste soziale Ausbildungsstätte in Süddeutschland zu sein, galt maßgeblich als das Verdienst von Bernays.121 So waren beispielsweise die Vertreter des badischen Kultusministeriums, die als Mitglieder der Prüfungskommission an den Abschlussprüfungen teilnahmen, von den Leistungen der Prüflinge und der hohen Qualifikation der Lehrkräfte überaus angetan und vermerkten das ausdrücklich in ihren Berichten.122 Bei der Konkurrenz um staatliche Unterstützung des Landes zwischen den vier in Baden bestehenden Sozialen Frauenschulen war dies von Bedeutung, wie der entsprechende Schriftverkehr mit dem badischen Kultusministerium zeigt.123 Und es war ein wichtiges Argument gegen die Zusammenlegung mit dem für die Ausbildung von Kindergärtnerinnen zuständigen Fröbel-Seminar, die Anfang der 1920er Jahre wegen der schwierigen Finanzlage der Kommune im Raum stand und gegen die sich die Schule erfolgreich wehrte.124 Wie beim Frankfurter Seminar für soziale Berufsarbeit war die Entwicklung der Mannheimer Schule durch den sukzessiven Ausbau, die Übernahme der Trägerschaft durch die Stadt sowie die staatliche Anerkennung ihrer Ausbildungsgänge gekennzeichnet. Bereits die ersten Prüfungen im Jahr 1919 fanden unter staatlicher Aufsicht nach der Ersten staatlichen Prüfungsordnung von 1918 statt. Diese Prüfungsordnung wurde nach der Intervention der Konferenz der Sozialen
120 Eckhardt, Käthe (1961); Böttger (1954). 121 Schäfer, Hermann (1987), S. 39. 122 Ministerium des Kultus und Unterrichts: Die Prüfung an der Sozialen Frauenschule Mannheim betreffend (zweiseitige handschriftliche Notiz), 23. August 1920, in: GLA Karlsruhe 235/37565. 123 Der Minister des Innern an den Minister des Kultus und Unterrichts am 4. März 1929, in: GLA Karlsruhe 235/37663. 124 Der Verein Soziale Frauenschule an das Badische Ministerium des Kultus und Unterrichts am 14. Januar 1924, in: GLA Karlsruhe 235/37663.
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Frauenschulen überarbeitet und im Oktober 1920 durch die Preußische Prüfungsordnung für Soziale Frauenschulen ersetzt, der sich Baden 1921 anschloss. Danach konnten die Schülerinnen in Mannheim das staatliche Examen als Sozialbeamtinnen und Wohlfahrtspflegerinnen ablegen. Das nach der neuen Prüfungsordnung überarbeitete Curriculum in Mannheim war generalistisch; es gab einen einheitlichen Ausbildungsgang für alle sozialen Berufe. Die Schülerinnen wählten erst bei der Abschlussprüfung einen der drei Schwerpunkte: Arbeitsfürsorge, Jugendwohlfahrtspflege oder Gesundheitsfürsorge. Als Voraussetzung für die staatliche Anerkennung war außerdem ein obligatorisches berufspraktisches Jahr hinzugekommen. In der preußischen (und badischen) Prüfungsordnung waren allerdings nur die Ausbildungsstrukturen geregelt; über die Inhalte konnten die Schulen – bis zur Festlegung der „Richtlinien für die Lehrpläne der Wohlfahrtsschulen“ 1930 – weiterhin selbst bestimmen.125 1925 wurde die Mannheimer Schule erweitert; der Ausbau entsprach der allgemeinen Entwicklung der Frauenschulen. Es gab nun einen zweijährigen Vorbereitungskurs und eine zweijährige, darauf aufbauende Wohlfahrtsschule. Als dritten Zug kamen theoretische Nachschulungskurse hinzu, mit denen bereits in der Sozialen Arbeit tätige Wohlfahrtspflegerinnen die staatliche Anerkennung nachträglich erwerben konnten.126 Initiiert wurde die Erweiterung von Marie Baum, die Bernays aus ihrer Heidelberger Zeit kannte. Baum war als Oberregierungsrätin im badischen Arbeitsministerium von 1919 bis 1925 für die Sozialen Frauenschulen zuständig und war als Mitglied des Prüfungsausschusses bei allen Prüfungen in Mannheim anwesend.127 Um die Schule auf eine sichere Rechtsgrundlage zu stellen, übernahm die Stadt Mannheim 1928 die erfolgreichste Soziale Frauenschule Badens in städtische Regie.128 Bei der Entscheidung spielte auch die soziale und ökonomische Absicherung von Bernays eine Rolle, denn erst durch die Übernahme wurde sie zu einer städtischen Angestellten und konnte dadurch Rentenansprüche erwerben. Treibende Kraft bei der Übernahme der Schule in städtische Trägerschaft war ehemalige Arbeitersekretär Richard Böttger (1873–1957), der seit 1919 dem Trägerverein angehörte, zunächst als Stadtrat und ab 1927 als Dritter Bürgermeister der Stadt. Er befürchtete einen Weggang der renommierten Direktorin, wenn diese gezwungen wäre, „einem Ruf an eine andere Anstalt, wo feste Anstellung mit Ruhestandsversorgung geboten wird, anzunehmen“.129 125 Vgl. Leschmann 1988, S. 211–214. 126 Siehe den Artikel „Ausbau der Sozialen Frauenschule Mannheim“ in der „Neuen Mannheimer Zeitung“ vom 5. Februar 1925, in: ISG-StAMA, S 2/0645; vgl. Bernays (1928a; 1928b). 127 Marie Bernays an Marie Baum am 7. Juli 1926, in: UBH, Nachlass Marie Baum, P 15. 128 Siehe den Artikel „Übernahme der Sozialen Frauenschule in Städtische Verwaltung“ in der „Neuen Mannheimer Zeitung“ vom 28. Februar 1928, in: ISG-StAMA, S 2/0645. Die offizielle Bezeichnung der Schule lautete ab 1928 Städtische Soziale Frauenschule Mannheim. 129 Der Oberbürgermeister von Mannheim an den Minister des Kultus und Unterrichts am 26. Juni 1926, in: GLA 235/37663; vgl. den Artikel „Übernahme der Sozialen Frauenschule in Städtische Verwaltung“ in der „Neuen Mannheimer Zeitung“ vom 28. Februar 1928, in: ebenda.
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Die Entwicklung der Sozialen Frauenschule Mannheim war von Beginn an eng mit den lokalen Strukturen Mannheims verbunden. Städtische Honoratioren, Stadtverordnete und die Bürgermeister gehörten seit der Gründung dem Trägerverein der Schule an. Darunter waren auch stets kommunalpolitisch aktive Frauen.130 Die Schule arbeitete mit der Stadt und mit lokalen Organisationen zusammen. Eine enge Kooperation bestand mit dem Mannheimer Zweigverein des Deutschen Bunds für Mutterschutz und Sexualreform, dem Marie Bernays, Juli Bassermann und Alice Bensheimer als Vorstands- und Ausschussmitglieder angehörten.131 Der überregionale Verein war wegen seiner aus heutiger Sicht ausgesprochen progressiven Haltung zum § 218 (dem Abtreibungsverbot) sowie wegen seinem Programm der sogenannten „Neuen Ethik“ damals heftig umstritten.132 Der Mannheimer Zweigverein vertrat allerdings eher gemäßigte Positionen. Wie Bernays grenzte sich der Mannheimer Bund gegen die „Neue Ethik“ ab. Er trat zwar für eine Reform des Abtreibungsverbots und vor allem für die Anerkennung von medizinischen und sozialen Indikationen ein, die Haltung zum § 218 des Reichsstrafgesetzbuchs war in der Mannheimer Ortsgruppe allerdings umstritten; Bernays war gegen eine generelle Abschaffung des Paragrafen.133 Der Schwerpunkt der Vereinstätigkeit lag in der Wohlfahrtsarbeit und im Mutterschutz. Die Ortsgruppe sah ihre Aufgabe darin, durch Fürsorge, Aufklärung und Beratung die Ursachen der Schwangerschaftsabbrüche einzuschränken und gegen die „Kurpfuscher“ vorzugehen.134 Die Soziale Frauenschule Mannheim arbeitete mit dem Bund u. a. bei der Ausbildung in Säuglingsfürsorge und Säuglingspflege zusammen.135 Bei Hilfsangeboten für Eltern mit Säuglingen und Kleinkindern stehen heute Erziehungshilfe und das Training von Feinfühligkeit im Mittelpunkt. Damals ging es eher um die medizinische und physische Versorgung und um Aufklärungsarbeit, da es eine hohe Säuglingssterblichkeit gab; Tuberkulose, Rachitis und andere Mangelerkrankungen waren weit verbreitet. Eine äußerst fortschrittliche Einrichtung des Deutschen Bunds für Mutterschutz und Sexualreform war die Sexualberatungsstelle, die über Schwangerschaft und Verhütungsmaßnahmen informierte. Ein weiteres Beispiel für die Kooperation zwischen der Soziale Frauenschule Mannheim, dem Deutschen Bund für Mutterschutz und Sexualreform und der Stadt war das 1932 eröffnete Tagesheim für alleinstehende, erwerbslose Frauen und Mädchen, das von Marie Bernays initiiert worden war und vom Arbeitsamt der Stadt Mannheim und der Abteilung III des städtischen Hilfswerks
130 Vgl. GLA Karlsruhe 276/439; GLA Karlsruhe 235/37565; GLA Karlsruhe 235/37663. 131 GLA Karlsruhe 276/264; ISG-StAMA, S 2/1477. 132 Zur Einordnung des überregionalen Deutschen Bunds für Mutterschutz und Sexualreform sowie des Programms der Neuen Ethik siehe Gerhard (1990), S. 265–277; Evans (1976), S. 115–143. 133 Siehe u. a. Bernays (1920a), S. 16–17 und S. 62–63. 134 Zur Arbeit der Mannheimer Ortgruppe siehe Heißler (1993); Pfanz-Sponagel (2004), S. 90– 95. 135 Vgl. Pfanz-Sponagel (2004), S. 91; Heißler (1993), S. 190.
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getragen wurde. Es war im Verwaltungsgebäude des Städtischen Gaswerks untergebracht. Sein Konzept – das Angebot praktischer und beruflicher Fortbildung für arbeitslose Frauen und Mädchen – erinnerte an das des oben erwähnten Kriegstagesheims für arbeitslose Mädchen und Frauen, das vom NFD während des Ersten Weltkriegs errichtet und von der Mannheimer Zentrale für Kriegsfürsorge finanziert worden war und bei dem Bernays, Altmann-Gottheiner, Bassermann und Bensheimer erstmals zusammengearbeitet hatten.136 Marie Bernays beteiligte sich in ihrer Funktion als Leiterin der Sozialen Frauenschule Mannheim auch weiter an den Debatten über Gestaltung und Inhalte der sozialen Berufsarbeit und war in die entsprechenden Netzwerke eingebunden. Sie war Mitglied des Berufsverbands der Sozialbeamtinnen, einem Forum und Organ der Durchsetzung berufsständischer Interessen der in der Wohlfahrtspflege tätigen Frauen. Bernays referierte 1927 auf der von der Landesgruppe Baden durchgeführten Jahrestagung des Deutschen Verbands der Sozialarbeiterinnen in Mannheim zu Fragen der Berufsberatung sowie der Arbeitslosigkeit und ihrer Bekämpfung. Des Berufsverband der Sozialbeamtinnen war 1917 auf Anregung der Mädchen- und Frauengruppen für soziale Hilfsarbeit in Berlin gegründet worden. In ihrem Referat über die Berufsberatung als Teil der Jugendfürsorge forderte Bernays eine intensivere Berufsberatung für Jugendliche.137 Ihre Arbeitsbelastung als Leiterin der Sozialen Frauenschule Mannheim war wohl der Grund, weshalb Marie Bernays sich ab Mitte der 1920er Jahre aus der aktiven Parteipolitik und aus der Gremienarbeit der DVP zurückzog. Sie trat bei der Landtagswahl 1926 nicht mehr als Kandidatin an, verzichtete auf eine Kandidatur zum Reichstag sowie auf eine Wiederwahl in den Vorstand der Mannheimer DVP.138 Als Anerkennung für ihre parteipolitische Arbeit wurde Bernays 1926 in den Ehrenausschuss der DVP Mannheim aufgenommen.139 Ihr Resümee der parteipolitischen Frauenarbeit der vorangegangenen Jahre klingt ernüchtert, aber auch versöhnlicher als noch zu Beginn der Weimarer Republik. Bernays bedauerte vor allem die mangelnde Repräsentativität der weiblichen Abgeordneten, die fast ausschließlich aus intellektuell oder sozial gehobenen Schichten stammten, abgesehen von den Arbeiterinnen und Arbeiterfrauen in den sozialistischen Parteien. In Bernays’ Augen verfolgten die weiblichen Abgeordneten zu wenig den „Weg des Möglichen“ und verwechselten nahe, realisierbare mit fernen Zielen. Trotzdem hoffte sie auf eine Wiederannäherung der gegnerischen rechts- und linksliberalen Frauengruppen und auf eine gemeinsame Politik, die durch einen „einheitlichen Frauenwillen“ bestimmt werden sollte.140
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Zur Gründung des Tagesheims 1932 siehe Leschmann (1988), 287–288. Siehe Reinicke (1990[1985]), S. 26–27. Schäfer, Hermann (1987), S. 39. Siehe die Berichte von der Jahresversammlung der DVP am 26. Februar 1926 in Mannheim in der „Neuen Mannheimer Zeitung“ vom 27. Februar und vom 14. April 1926 in: ISGStAMA, S 2/1201. 140 Bernays (1924b).
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Mit Bernays’ Rückzug aus dem aktiven politischen Leben ging eine vermehrte Auseinandersetzung mit der Frage nach dem Sinn des Lebens und mit religiösen Fragen einher. Nach dem Verzicht auf eine wissenschaftliche Laufbahn, schien ihr kein neues Ziel einen längerfristigen Sinn versprochen zu haben. Ihr zunehmendes Interesse an religiösen Fragen und am katholischen Glauben entsprach dem Zeitgeist. Nach dem Ersten Weltkrieg nahm in ganz Deutschland das Interesse am Katholizismus und an katholischen Themen zu, „Prominente des kulturellen Lebens bekannten sich mit neuem Selbstbewusstsein zur katholischen Kirche“.141 Eine wichtige Rolle spielte dabei das Aufblühen der sogenannten „liturgischen Bewegung“, die als Laien- bzw. Volkskirchenbewegung versuchte, den Katholizismus für Laien verständlich und interessant zu machen. Mit ihrer Orientierung hin zum Katholizismus und mit der damit verbundenen Betonung des subjektiven religiösen Erlebens wandte sich Marie Bernays vom von ihrem Vater idealisierten Kulturprotestantismus ab, der auch das Leben von Max Weber bestimmt hatte. Dies überrascht schon deshalb, weil nicht nur die Haltung ihres Vaters, sondern auch ihre eigene bis dahin durch eine strikte Ablehnung des Katholizismus gekennzeichnet gewesen war und Bernays noch 1914 die Hochzeit ihres Bruders Ulrich boykottiert hatte, weil der eine Katholikin heiratete.142 Marie Bernays Interesse am Katholizismus wurde vermutlich durch die Freundschaft mit ihrer ehemaligen Schülerin (und späteren Lehrerin der Sozialen Frauenschule) Mathilde Schmitt (1905–1946) und deren Familie verstärkt, bei der Bernays zeitweise als Untermieterin wohnte.143 Die zum katholischen Bürgertum Mannheims gehörenden Schmitts wurden für Bernays zu einer Art Ersatzfamilie.144 Zu einem wichtigen Gesprächspartner in Glaubensfragen und zu ihrem Seelsorger wurde für Bernays der ältere Bruder von Mathilde, Albert Schmitt OSB (1894–1970), der Abt des Benediktinerklosters Grüssau (Krzeszów) in Niederschlesien.145 Überwiegend in Briefen diskutierten die beiden über Neuerscheinungen aus dem Bereich der Religion (z. B. über Bücher zur Geschichte des benediktinischen Mönchtums), aber auch über Erkenntnistheorien.146 Zusammen mit Mathilde Schmitt und deren Mutter Regina Mathilde Schmitt (1869–1948) besuchte Marie Bernays ab Juni 1928 mehrfach das Benediktinerkloster in Beuron
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Lob (2000), S. 34. Zum Antikatholizismus von Michael Bernays vgl. Schlott (2000), S. 77. Fornefeld (2008), auf der Basis der Tagebücher von Marie Bernays, S. 368–369. Nach den Angaben in den Adressbüchern der Stadt Mannheim ist Marie Bernays zwischen 1916 und 1933 mehrfach innerhalb Mannheims umgezogen. 145 Marie Bernays an Albert Schmitt OSB am 1. September 1933, in: Benediktinerabtei Grüssau, Bad Wimpfen, Nachlass Albert Schmitt OSB, Mappe 1, 6.1. Der Briefwechsel zwischen Schmitt und Bernays ist in den Korrespondenzlisten des Abts aus den Jahren 1927–1937 dokumentiert. In seinem Nachlass sind jedoch nur wenige dieser Briefe erhalten. Zu Albert (eigentlich Friedrich) Schmitt als Abt in Grüssau und Wimpfen, siehe Lob (2000). 146 Siehe z. B. Marie Bernays am 7. Juli 1929 an Albert Schmitt OSB, in: in: Benediktinerabtei Grüssau, Bad Wimpfen, Nachlass Albert Schmitt OSB, Mappe Korrespondenzen 1929.
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im Oberen Donautal, das wie als besonders gastfreundlich und gegenüber BesucherInnen aufgeschlossen galt. Einen Einblick in Marie Bernays’ Auseinandersetzung mit dem katholischen Glauben vermittelt ein Beitrag, den sie 1930 anlässlich des 1.500-jährigen Todestags des heiligen Augustinus (354–430) verfasste. Der Artikel zeigt gleichzeitig, dass offensichtlich eine Wiederannäherung von Bernays und den linksliberalen Frauenrechtlerinnen stattgefunden hatte, denn es war der erste Artikel, der von Bernays nach der parteipolitischen Auseinandersetzung Anfang der 1920er Jahre wieder in der BDF-Zeitschrift „Die Frau“ erschien. Angesichts ihres früheren aktiven politischen Engagements überrascht Bernays’ Themenwahl. Während sich andere Artikel des Hefts vor allem mit der bevorstehenden Reichstagswahl beschäftigen, richtet Bernays angesichts der Krise der Weimarer Demokratie ihren Blick auf die Antworten von Augustinus auf die Krise seiner Zeit. Der Artikel macht deutlich, dass Bernays sich vom Glauben und von der katholischen Mystik Antworten auf die Sinnfrage erhoffte. Für Bernays waren die „Bekenntnisse“ des Augustinus, in denen er seinen Weg aus einer schweren Sinnkrise durch die Bekehrung zum Glauben schildert, nicht nur eine Hilfestellung für die individuelle Sinnsuche. Sie sah darin auch eine Orientierungshilfe aus der gesellschaftlichen Krise und der Endzeitstimmung ihrer Zeit.147 Marie Bernays gehörte auch Anfang der 1930er Jahre noch zu den bekannten Persönlichkeiten Mannheims und war weiterhin als Rednerin gefragt. So referierte sie beispielsweise Ende November 1932 auf einer Veranstaltung der Mannheimer Frauenorganisationen über die Einführung eines freiwilligen Arbeitsdienstes von Frauen, über den zu dieser Zeit viel diskutiert wurde.148 Dass Bernays im Oktober 1930 auf der Trauerfeier für ihre ehemalige Mitstreiterin Elisabeth AltmannGottheiner den Nachruf hielt, lässt sich als weiteres Zeichen der Wiederannäherung an ihre linksliberalen ehemaligen Weggefährtinnen der bürgerlichen Frauenbewegung werten.149 Ein Beispiel für die weiter bestehende enge Zusammenarbeit mit der Stadt Mannheim und für die Wertschätzung, die Bernays und der Soziale Frauenschule von der Stadt entgegengebracht wurde, ist die Untersuchung über die sogenannte „wilde Siedlung“ Spelzengärten, die Bernays mit der Abschlussklasse der Schule Anfang der 1930er Jahre im Auftrag der Stadt durchführte. Die Studie war gleichzeitig eine Maßnahme zur Profilierung der Mannheimer Frauenschule in Richtung einer höheren Fachschule.150
147 Bernays (1930a), S. 685. 148 Siehe den Artikel „Mütter kämpfen für den Weltfrieden. Vortrag im Stadtverband Mannheimer Frauen-Organisationen“ in der „Neuen Mannheimer Zeitung“ vom 29. November 1932, in: ISG-StAMA, S 2/0789. 149 Siehe den Bericht in der „Neuen Mannheimer Zeitung“ vom 23. Oktober 1920, in: ISGStAMA, S 1/2172. 150 Zur Studie siehe Kapitel III 3.2.2.2 der vorliegenden Arbeit.
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3.1.7 1933: Der Zusammenbruch des äußeren Lebens Bereits um 1930 wurden Marie Bernays, die Soziale Frauenschule und deren Mitarbeiterinnen zum Ziel völkischer und nationalsozialistischer Hetze. In der Neuauflage des mehrbändigen antisemitischen biographischen Handbuchs „SemiKürschner“ wurde Bernays 1929 in einem längeren Eintrag als „jüdische Frauenrechtlerin“ angegriffen und ihr unterstellt, sie diskriminiere Mädchen und Frauen, die sich für die Mutterschaft und gegen Erwerbsarbeit entscheiden würden.151 Im März 1931 begann das kurz zuvor gegründete lokale nationalsozialistische Hetzblatt „Hakenkreuzbanner“ eine Kampagne gegen Dr. Maria Caroli (18??–19??), die seit 1921 an der Sozialen Frauenschule Mannheim unterrichtete, die Schule gelegentlich auf Tagungen vertrat und dem Vorstand des Trägervereins angehörte.152 Die Nationalsozialisten forderten die Entlassung von Maria Caroli, weil sie verheiratet war. Ihr Ehemann würde, so die Begründung, als Professor an einem Mannheimer Gymnasium ein hohes Gehalt beziehen, weshalb Caroli nicht auf ein eigenständiges Einkommen angewiesen sei. Mit ihrer Arbeit an der Sozialen Frauenschule Mannheim würde sie daher jemandem den Platz wegnehmen, der oder die darauf angewiesen sei.153 Im Auftrag des dritten Oberbürgermeisters der Stadt Mannheim, Richard Böttger, verfasste Marie Bernays daraufhin eine fünfseitige Stellungnahme für das Badische Kultusministerium, in der sie begründete, weshalb die Schule nicht auf Caroli verzichten könne und warum der Vorwurf, Caroli würde zu viel verdienen, nicht zutreffe.154 Nach dem Machtantritt und den Wahlen vom 5. März 1933 verschärfte sich die nationalsozialistische Politik der Ausgrenzung und Verfolgung deutlich. Die Stadt Mannheim, die seit der Novemberrevolution 1918 als „rote Hochburg“ galt, war der NSDAP besonders verhasst. Im „Hakenkreuzbanner“ wurde das bevorstehende „Großreinemachen in Mannheim“ angekündigt, wie die geplanten Säuberungen euphemistisch bezeichnet wurden.155 Marie Bernays’ Haltung zur nationalsozialistischen Machtantritt war ambivalent. Sie selbst blieb in den ersten Wochen zunächst von der Säuberungskampagne verschont und konnte sich daher noch für Fritz Cahn-Garnier (1899–1949), den Syndikus der Stadt Mannheim
151 Sigillia veri (1929), S. 534. 152 Zum „Hakenkreuzbanner“ siehe Fliedner (1991[1971]), S. 211–223. Das „Hakenkreuzbanner“ war das offizielle Parteiorgan der NSDAP für die Bezirke Mannheim-Weinheim. Es erschien ab dem 3. Januar 1931 zunächst wöchentlich, ab Mai 1931 zweimal wöchentlich und ab Januar 1932 täglich mit einem Umfang von meist acht Seiten. 153 Hakenkreuzbanner, Nr. 10, 7. März 1931, in: ISG-StAMA, S 2/0645. 154 Das Ministerium des Kultus und Unterrichts an den Oberbürgermeister der Hauptstadt Mannheim am 31. März 1931; Der Oberbürgermeister der Hauptstadt Mannheim an das Ministerium des Kultus und Unterrichts am 6. Mai 1931; Marie Bernays an den Oberbürgermeister der Stadt Mannheim am 16. April 1931, in: GLA Karlsruhe 235/37565. 155 Schadt/Caroli (1997), S. 143. Zum nationalsozialistischen Machtantritt in Mannheim siehe Hoffmann (1985); Caroli/Pich (1997); zur Judenverfolgung in Mannheim siehe Fliedner (1991[1971]), S. 172–174 und S. 351–357.
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(und nach 1945 baden-württembergischer Finanzminister) einsetzen, der an der Sozialen Frauenschule Mannheim unterrichtete. Cahn-Garnier war während einer Unterrichtsstunde verhaftet und anschließend wegen seiner jüdischen Abstammung entlassen worden. Bernays sah darin „eine große Ungerechtigkeit“, da Cahn-Garnier doch Christ sei und dessen nationale Haltung als DVP-Mitglied nicht zur Debatte stehen könne. Bernays bat den Abt Albert Schmitt, seine Beziehungen zum Vizekanzler Franz von Papen (1879–1969) zu nutzen, um die Entlassung Cahn-Garniers rückgängig zu machen. Ihr Schreiben an den Abt zeigt, wie wenig sie die drohende Gefahr, die seit dem Machtantritt auch für sie bestand, realisierte. Vor allem jedoch zeigt der Brief Bernays’ ambivalente Haltung zum Nationalsozialismus. Die Entlassung von Cahn-Garnier war in ihren Augen lediglich einer der „hässlichen Flecken persönlicher Rachsucht, Nachgiebigkeit gegen den Pöbelwillen“, durch die „diese schönen Tage der nationalen Erhebung (…) befleckt“ würden und die „gerade der national empfindende Mensch (…) in dem sonst so hellen Bilde ausgelöscht sehen“ wolle. Um die Berechtigung ihrer Bitte zu unterstreichen, fügte Bernays ihrem Brief als Leumundszeugnis ihrer nationalen Gesinnung ein von ihr verfasstes nationalistisches und demokratiefeindliches Gedicht aus dem Jahr 1921 bei. Dieses sollte Papen „beweisen, dass die Menschen, die jetzt sich an ihn wenden, wirklich nationale Menschen sind, die auch in dunklen Zeiten etwas für ihr Nationalgefühl gewagt haben“.156 Nur wenige Tage später, am 4. April 1933, erfuhr Marie Bernays, dass sie zwangsweise beurlaubt werden sollte. Am 29. April wurde sie zunächst mündlich, am 5. Mai 1933 schriftlich wegen ihrer jüdischen Herkunft von ihren Dienstgeschäften als Schulleiterin entbunden.157 Die Soziale Frauenschule Mannheim wurde Mitte April gleichgeschaltet; Bernays war 50 Jahre alt, als ihr Lebenswerk genommen wurde, sowohl ihre berufliche Position als auch ihre gesellschaftliche Stellung und Anerkennung, die sie sich in den zurückliegenden zwei Jahrzehnten in Mannheim aufgebaut hatte. Marie Bernays’ Bruder Ulrich wurde auf Anordnung des nationalsozialistischen Kultusministers wegen seiner jüdischen Herkunft als Direktor der Karlsruher Goethe-Schule ebenfalls suspendiert. In einem von etwa 50 Schülern der Schule unterzeichneten Brief wurde der Minister um Rücknahme der Entlassung gebeten. Die Bittsteller betonten dabei ausdrücklich, dass ihr Lehrer von diesem Schreiben nichts wisse. Daraufhin wurde Ulrich Bernays mit einer formalen Begründung und ohne Hinweis auf die Eingabe der Schüler
156 Marie Bernays an Albert Schmitt OSB am 25. März 1933; siehe auch Mathilde Schmitt an Albert Schmitt OSB am 25. März und 9. April 1933; Albert Schmitt OSB an Marie Bernays am 28. März 1933, in: Benediktinerabtei Grüssau, Bad Wimpfen, Nachlass Albert Schmitt OSB, Mappe 1, 3.1–4.2 und Mappe Befürwortungen 1933. Zu den Reaktionen der DVPMitglieder auf die „nationale Erhebung“ siehe Scheck (2000). 157 Neue Mannheimer Zeitung, 6. Mai 1933; Hakenkreuzbanner, Nr. 110, 8. Mai 1933, in: ISGStAMA, S 1/0056; vgl. Regina Mathilde Schmitt sen. an Albert Schmitt OSB am 5. Juni 1933, in: Benediktinerabtei Grüssau, Bad Wimpfen, Nachlass Albert Schmitt OSB, Mappe 1, 3.1–4.
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III Die Promovendinnen
wieder in sein Amt eingesetzt.158 Zu den möglichen Gründen für diese kurzzeitige „Rehabilitation“ gehört die Regelung, dass Frontkämpfer des Ersten Weltkriegs und bereits vor dem 1. April 1914 verbeamtete Lehrer von der Durchführung der Anordnung ausgenommen werden konnten. Möglicherweise ermutigt durch die Wiedereinstellung ihres Bruders wurde auch für Marie Bernays ein von Schülerinnen der Frauenschule unterzeichnetes Bittgesuch an das badische Kultusministerium gerichtet. Das Gesuch blieb jedoch ohne Erfolg. Ob es daran lag, dass Bernays selbst – als berufstätige Frau und Frauenrechtlerin – oder die Soziale Frauenschule als Bildungseinrichtung den nationalsozialistischen Vorstellungen nicht entsprach, wegen fehlender Quellen nur schwer zu beurteilen. Auch die Tatsache, dass Bernays als ehemalige DVPAbgeordnete im badischen Landtag eine politisch exponierte Stellung innehatte, mag eine Rolle gespielt haben. Die Unterstützungskampagne der Schülerinnen hatte für Bernays allerdings noch ein Nachspiel. Die lokale NS-Presse nahm sie als Anlass, um Bernays zu diffamieren, ihr zu drohen und sie einzuschüchtern. Mit der Hetzkampagne wurde ihre Beurlaubung nachträglich gerechtfertigt, wie das folgende Zitat aus dem „Hakenkreuzbanner“ zeigt: „Waschechte Judenmethode! / Unsere Leser kennen Frau Dr. Marie Bernays! Als wir vor einigen Wochen ihre fristlose Entlassung forderten, begründeten wir dies ausführlich. Schon damals sprachen wir den Verdacht aus, dass Frau Dr. Bernays zu allerlei schmutzigen Mitteln greifen würde, um ihre Beurlaubung rückgängig zu machen. Trotzdem von ihrer Umgebung dieser Verdacht damals mit trefflich gespielter Entrüstung zurückgewiesen wurde, haben wir heute Beweise für das schamlose Handeln des Judenstämmlings. / Wir entnehmen folgende Stelle wörtlich einem Brief, den eine ehemalige Schülerin der Frau Bernays an eine Mitschülerin schrieb: ‚Stell Dir vor – Frau Dr. Marie Bernays hat mich vor 10 Tagen durch Käte Eckhardt ersuchen lassen, ich sollte ihr doch einen Brief schreiben, dass ich entsetzt darüber sei, dass sie nicht mehr an der Schule ist – ich hätte immer ihren nationalen Unterricht bewundert und nie gedacht, dass sie judenstämmig sei. / Das hätte ich ihr ja doch nicht zugetraut. Ich hätte wenigstens gedacht, sie ginge jetzt zwar wütend aber doch anständig ab!‘ / So Frau Dr. Bernays! Sie sind durchschaut. / Die ganze Angelegenheit ist nicht wert, nur noch mit einer Zeile gestreift zu werden. / Sie werden zu den Akten gelegt, Frau Dr. Bernays! / Vergessen sind Sie aber nicht!“159
Unmittelbar nach der gegen sie gerichteten Hetzkampagne begann Marie Bernays mit Unterstützung von Mathilde Schmitt einen Zufluchtsort zu suchen; gleichzeitig entschloss sie sich zum Glaubenswechsel. Bernays hatte wohl schon länger mit dem Gedanken gespielt, die Angst vor der gesellschaftlichen Ausgrenzung, die ein solch öffentlicher Schritt nach sich ziehen könnte, hatte sie bis dahin allerdings davon abgehalten.160 Nachdem der Abt des nahegelegenen Klosters Neuburg die
158 Vgl. Leiser (1982), S. 47. 159 Hakenkreuzbanner, Nr. 166, 7. Juli 1933, in: ISG-StAMA, S 1/0056. 160 Marie Bernays an Albert Schmitt OSB am 1. September 1933, in: Benediktinerabtei Grüssau, Bad Wimpfen, Nachlass Albert Schmitt OSB, Mappe 1, 6.1. Der Hinweis auf die Konversion als letzten Schritt einer längeren Entwicklung ist ein zentrales Element der Konversionsberichte. Siehe hierzu Schaser (2007).
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Aufnahme der Konvertitin abgelehnt hatte, entschied sich Bernays für das Benediktinerkloster Beuron als Konversionsort, das sie bereits von den gemeinsamen Besuchen mit Mathilde Schmitt kannte.161 Am 11. Oktober 1933 trat Marie Bernays dort zum katholischen Glauben über.162 Dieser Schritt war für sie die Entscheidung für eine Welt, in der der Einzelne zwar als Person respektiert, aber stets in Beziehung zu einem größeren sozialen Ganzen gesehen werde.163 Ihre Konversion schildert Bernays in ihren Briefen als Erweckungserlebnis, bei dem sie ein großes Glücksgefühl empfunden habe. Bernays’ Brief an den Abt Albert Schmitt, in dem sie sich für seine seelsorgerische Betreuung und Begleitung bedankt, vermittelt einen Eindruck in ihr subjektives Empfinden, ihrer Erfahrung von Ausgrenzung und Verfolgung: „Schon im vergangen Winter, vor dem Zusammenbruch meines äußeren Lebens, bin ich dem Gedanken des Übertritts wieder sehr nahe gekommen, und als durch das große Unglück, das mich traf, mir fast alles genommen wurde, hat dieses in glücklichen Zeiten ins Auge gefasste Ziel mich doch wohl davor bewahrt, zum hassenden Dämon zu werden in meiner Seele. (…) Wie schön es bei allem noch nicht vernarbten Leid hier für mich ist, können Sie sich sicher denken. Über die Güte, mit der man hier meiner durch Verfolgungen und Beschimpfungen fast zerstörten und völlig verschüchterten Seele entgegenkommt, kann ich nur mit den Worten aus ‚Dreizehnlinden‘ sagen: ‚All die Schuld bezahl ich nimmer, könnt’ ich all mein Leben dienen.‘“164
Beuron wurde zum dauerhaften Zufluchtsort und letzten Wohnsitz von Marie Bernays. Sie lebte mit ihrer engen Vertrauten Margareta Steinmetz (18?? –19??), die ihr seit dem Tod der Mutter 1919 den Haushalt führte, in unmittelbarer Nähe des Benediktinerklosters. Zu den wenigen Personen aus Mannheim, mit denen Bernays noch Kontakt hatte, gehörte neben der Familie Schmitt auch Julie Bassermann. Durch ihre Kontakte zum Kloster schien Bernays in Beuron ein für sie anregendes intellektuelles Umfeld gefunden zu haben165; sie erteilte den für die Mission bestimmten Benediktinerpatres Sprachunterricht, tätigte für das Kloster Hebräisch-Übersetzungen und übernahm Zuarbeiten für die altchristliche Literaturgeschichte, die Pater Basilius Steidle (18?? –19??) verfasste.166 Bernays über-
161 Fornefeld (2008), S. 373; vgl. Mathilde Schmitt an Albert Schmitt OSB am 30. Juni und 2. August 1933, in: Benediktinerabtei Grüssau, Bad Wimpfen, Nachlass Albert Schmitt OSB, Mappe 1 5.1 und 5.2. 162 Mathilde Schmitt an Albert Schmitt OSB am 30. September 1933, in: Benediktinerabtei Grüssau, Bad Wimpfen, Nachlass Albert Schmitt OSB, Mappe 1, 6.2. 163 Vgl. Kaufmann, Franz-Xaver (1989), S. 219. 164 Marie Bernays an Albert Schmitt OSB am 1. September 1933, in: Benediktinerabtei Grüssau, Bad Wimpfen, Nachlass Albert Schmitt OSB, Mappe 1, 6.1; siehe auch Marie Bernays an Albert Schmitt OSB am 15. Oktober 1933, in: ebenda, Mappe 1, 6.3. „Dreizehnlinden“ (1878) war ein bekanntes religiöses Epos von Friedrich Wilhelm Weber (1813–1894). 165 Vgl. Eckhardt, Käthe (1961); Fornefeld (2008), S. 377; Lob (2000), S. 317. 166 Steidle (1937), S. VI.
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setzte in dieser Zeit mehrere Texte für Abt Albert Schmitt167 und baute darüber hinaus eine kleine Leihbücherei (Pfarrbücherei) in der Gemeinde Beuron auf.168 Marie Bernays war nicht die einzige Akademikerin, die sich von der Erzabtei Beuron angezogen fühlte.169 Die bekannteste ist Edith Stein (1891–1942), die die Beuroner Abtei als „Vorhof des Himmels“ bezeichnet hat. Die knapp zehn Jahre jüngere Religionsphilosophin, Pädagogin und Ordensfrau jüdischer Abstammung und Bernays verband in mancherlei Hinsicht ein ähnliches Schicksal sowie gemeinsame Erfahrungen.170 Stein war bereits 1922 vom Judentum zum Katholizismus konvertiert und gehörte von 1928 bis Ende 1933 zu den regelmäßigen Gästen des Klosters Beuron.171 Sowohl Bernays als auch Stein hatten promoviert, hatten jedoch beide ihren Wunsch nach einer akademischen Laufbahn nicht realisieren können. Steins Habilitationspläne waren – ein knappes Jahrzehnt nach Bernays’ Versuch – trotz erfolgreicher Promotion und trotz Wegfalls des Habilitationsverbots für Frauen an der ablehnenden Haltung ihres akademischen Mentoren Edmund Husserl (1859–1938) gescheitert.172 Beide Frauen engagierten sich für die Frauenbewegung. Zum Zeitpunkt ihrer Begegnung hatten beide Ausschluss und Verfolgung aufgrund ihrer jüdischen Abstammung erfahren. Stein stand wie Bernays mit dem Abt Albert Schmitt in Briefkontakt.173 Neben ihrer Konversion verband beide das Interesse an der liturgischen Bewegung und der Mystik. In Beuron hatten sie den gleichen geistlichen Berater174; Pater Raphael Walzer (1888–1966), der Erzabt des Klosters Beuron, unterstützte Stein bei einem erneuten Versuch sich zu habilitieren. Bernays erhielt bei Walzer Konvertitenunterricht und unterrichtete ihn vor seiner Japanreise in Französisch und Englisch. Benediktinerklöster waren vorwiegend konservativ und traditionsgebunden; eine Grundhaltung, die Marie Bernays durchaus teilte.175 Durch den Erzabt Walzer, der die ideelle und politische Ausrichtung des Klosters Beuron bestimmte und den Nationalsozialismus ablehnte, war das Milieu in Beuron, verglichen mit anderen Klöstern des Benediktinerordens, ausgesprochen tolerant. Es war bei weitem nicht so rechtskonservativ wie Maria Laach oder Grüssau. Der Beuroner Erzabt versuchte auch nicht – wie Abt Albert Schmitt in Grüssau oder Abt Ildefons Herwegen von Maria Laach – sich mit katholischen Brückenbauversuchen zum NS-
167 Fornefeld (2008), S. 374. 168 Lob (2000), S. 317. 169 Zu diesen gehörte die sozial engagierte Ärztin und Künstlerin Katharina Breydert, geb. Littauer (18?? –19??), die 1935 in Beuron konvertierte; vgl. Krins (2009). 170 Schurr (1986). 171 Zur Konversion von Edith Stein siehe z. B. Herbstrith (1986), S. 9–14. 172 Zu den vergeblichen Habilitationsversuchen Edith Steins siehe Wobbe (1996), S. 345–348; (1994), S. 15–68 und (1997), S. 69–100. 173 Zum Kontakt zwischen Edith Stein und Albert Schmitt OSB siehe. Lob (2000), S. 85–93. 174 Siehe das Kapitel „Erzabt Raphael Walzer legt Zeugnis ab über Edith Stein“, in: Endres (1988), S. 313. 175 Siehe z. B. Bernays (1930b), S. 139.
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Regime zu profilieren.176 Mit Abt Albert Schmitt stand Marie Bernays bis zu ihrem Tod in Kontakt; dessen indifferente Haltung zu Nationalsozialismus und Antisemitismus schien sie dabei nicht gestört zu haben. Nach der Reichspogromnacht im November 1938 überlegte Marie Bernays auf Druck ihres Umfelds, aus Deutschland zu fliehen. Ihr Reisepass wurde am 17. Januar 1939 verlängert. Wegen ihrer fortgeschrittenen Krebserkrankung entschied sich Bernays jedoch gegen eine Flucht177; sie starb am 22. April 1939 im Alter von 56 Jahren im Krankenhaus Tuttlingen.178 Am 24. April wurde Marie Bernays auf dem Friedhof Beuron beigesetzt.179 In ihrem Testament hatte sie das Kloster als Erbin eingesetzt, falls ihre Wegbegleiterin Margareta Steinmetz vor ihr sterben sollte. Den neusprachlichen Teil der Bibliothek, den sie von ihrem Vater geerbt hatte, vermachte Bernays als Stiftung dem Kloster180; Kontakt zu ihrem Bruder und dessen Familie scheint sie nicht mehr gehabt zu haben. Zum Zeitpunkt ihres Todes bestanden die Einrichtungen und Organisationen, die Marie Bernays maßgeblich mitgeprägt hatte, in dieser Form nicht mehr. Viele ihrer früheren MitstreiterInnen in Mannheim waren wie sie Opfer der nationalsozialistischen Ausgrenzung und Verfolgung geworden. Die Soziale Frauenschule bestand nach ihrer Gleichschaltung mit dem Fröbelseminar, der zweiten überregional anerkannten Bildungseinrichtung der Stadt Mannheim für Frauen, als städtische Einrichtung zunächst weiter. Die Leitung der Schule wurde jedoch einer Nationalsozialistin übertragen, das Lehrpersonal bis 1934 vollständig ausgetauscht und die Ausbildung nach den Vorgaben der nationalsozialistischen „Volkspflege“ umgestaltet. Zu Beginn des Schuljahres 1938 wurde die Schule von der Nationalsozialistischen Volkswohlfahrt übernommen und in eine Frauenschule für soziale Berufe der NSVolkswohlfahrt Gau Baden umgewandelt. 3.2 Erfolgreiche Umsetzung eines Forschungsprogramms In Marie Bernays Publikationsliste spiegeln sich die Brüche ihrer Biografie wider. Die vier umfangreichen Monographien, die sie im Zeitraum von 1910 bis 1920 veröffentlicht hatte, waren in enger Zusammenarbeit mit Alfred, Max und Marianne Weber sowie mit Vertreterinnen der bürgerlichen Frauenbewegung ent-
176 Zur politischen Haltung des Abts Albert Schmitt in den Jahren von 1932 bis 1934 siehe Lob (2000), S. 155–169, S. 174 und S. 182–194. Zu den rechtskonservativen bis faschistischen Positionen der Äbte Ildefons Herwegen und Albert Schmitt siehe Breuning (1969), S. 207– 231, S. 293, S. 315, S. 356 und S. 369. 177 Fornefeld (2008), S. 376. 178 Mathilde Schmitt an Albert Schmitt OSB am 23. April 1939, in: Benediktinerabtei Grüssau, Bad Wimpfen, Nachlass Albert Schmitt OSB, Mappe 1, 58.1 und 58.2; Margareta Steinmetz an Albert Schmitt OSB am 7. Mai 1939, in: ebenda, Mappe 1, 57.2. 179 Fornefeld (2008), S. 377. 180 Vgl. Beuron 1863–1963 (1963), S. 427.
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standen. Als Hauptmitarbeiterin der Auslese- und Anpassungsstudien des VfS hatte Bernays von 1909 bis 1913 eine für Frauen ungewöhnlich exponierte Rolle in der Sozialforschung inne. Nach dem Bruch mit Max und Marianne Weber verfasste Bernays noch zwei weitere bemerkenswerte Monographien, eine statistische bevölkerungswissenschaftliche Studie und einen historischen Abriss der deutschen Frauenbewegung.181 Durch die Arbeitsbelastung als Direktorin der Sozialen Frauenschule Mannheim und als Landtagsabgeordnete der DVP fehlte ihr in den 1920er Jahren vermutlich schlicht die Zeit für weitere aufwendige Forschungsarbeiten. Ihre Studie über die Spelzengärten-Siedlung, die sie 1931 im Auftrag der Stadt Mannheim durchführte, zeigt aber, dass Bernays weiterhin daran interessiert war, empirische Forschungsprojekte zu entwickeln und durchzuführen.
3.2.1 „Auslese und Anpassung der Arbeiterschaft der geschlossenen Großindustrie. Dargestellt an den Verhältnissen der ‚Gladbacher Spinnerei und Weberei‘ A.-G. München-Gladbach im Rheinland“ (1910)182 Marie Bernays’ Mitarbeit an den Auslese- und Anpassungsstudien des VfS begann mit ihrer Teilstudie „Auslese und Anpassung der Arbeiterschaft der geschlossenen Großindustrie. Dargestellt an den Verhältnissen der ‚Gladbacher Spinnerei und Weberei‘“. Sowohl der Betrieb als auch der Industriezweig, den sie erforschte, hatten einen verhältnismäßig hohen Anteil an weiblicher Arbeiterschaft. Bernays Untersuchungssample umfasste deshalb beinahe zu gleichen Teilen Arbeiterinnen und Arbeiter. Ihre Arbeit war nicht nur die methodisch gründlichste und thematisch umfassendste Einzeluntersuchung der Enquete, sondern mit über 400 Seiten auch sehr umfangreich.183 Sie promovierte mit einem relativ kurzen Auszug aus dieser Studie.184 Im Vorwort und in der Einleitung schildert Bernays die Entstehung der Studie und stellt ausführlich ihre methodische Vorgehensweise dar. Sie betont dabei die wertfreie Ausrichtung und die sozialpolitische Neutralität ihrer Untersuchung und nimmt damit Bezug auf den Werturteilsstreit), ohne diesen direkt zu benennen. Ihr Ziel sei es, so Bernays, den Lebensstil der Arbeiterschaft aus den von der Industrie geschaffenen technisch-wirtschaftlichen Daseinsbedingungen heraus zu erklären und darauf zu verzichten, diese Daseinsbedingungen zu bewerten oder Missstände zu beklagen.185 Bernays weist mehrfach darauf hin, dass ihre Arbeit als
181 Bernays (1916a; 1920a). Zur Studie siehe Kapitel III 3.2.2.1 der vorliegenden Arbeit. 182 Der amtliche Namen von Mönchengladbach war bis 1960 München Gladbach und wurde abgekürzt in M. Gladbach. 183 Dahrendorf (1956), S. 26. 184 Bernays (1910c). 185 Bernays (1910a), S. XVII; Bernhard, Ernst (1911), S. 364.
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Musterstudie gedacht ist und macht gleichzeitig Vorschläge, welche Aspekte bei weiteren Untersuchungen aufgegriffen werden könnten.186 Bernays begann mit der Datenerhebung zu einem Zeitpunkt, als die endgültigen Fragebogen des VfS noch nicht fertiggestellt waren. Ihre Studie setzte sich aus zwei hinsichtlich ihres Erkenntnisinteresses sehr unterschiedlichen Teilen zusammen. Zunächst untersuchte Bernays „Berufsschicksal und Berufswahl der Arbeiterschaft“ und analysierte, welche Faktoren die „Auslese“ und den Berufsverlauf beeinflussen. Dieser Teil entsprach dem Forschungsinteresse Alfred Webers, von dem sie in der ersten Phase angeleitet wurde. Beim zweiten Teil, bei dem Max Weber sie unterstützte, vertiefte Bernays dessen arbeitsphysiologischen Schwerpunkt, der erst nachträglich in die Fragestellung der Vereinsenquete aufgenommen worden war. Weber hatte für diesen Teil der Auslese- und Anpassungsstudien im Sommer 1908 die Vorstudie „Zur Psychophysik der industriellen Arbeit“ in der Weberei von Verwandten durchgeführt.187 Die Psychophysik, d. h. die Physiologie der Arbeit, bei der Ermüdungserscheinungen, Muskelarbeit und ähnliches im Zentrum stehen, galt zu dieser Zeit als neues und viel versprechendes Feld der sozialwissenschaftlichen Forschung.188 Die Fragestellung geht auf die arbeitswissenschaftlichen Untersuchungen des Psychiaters Emil Kraepelin zurück, der 1902 experimentelle Forschungen zur geistigen Leistungsfähigkeit und zum Verlauf der Arbeitskurve durchgeführt hatte. Max Weber sah in der Psychophysik einen methodischen Ansatzpunkt, um die Prägung des Menschen durch die Arbeit wissenschaftlich exakt(er) erforschen zu können. Sein Ziel war es herausfinden, ob bzw. wie sich mit einem naturwissenschaftlichen Vorgehen soziale Erscheinungen in messbaren Kategorien beschreiben lassen.189 3.2.1.1 Methodische Vorgehensweise Marie Bernays setzte den von Max Weber für die Auslese- und Anpassungsstudien erstellten Arbeitsplan nicht nur mustergültig um, sondern erweiterte diesen um eine verdeckte und eine offenen teilnehmende Beobachtung. Für die Datenerhebung verbrachte sie insgesamt sechs Monate in der Fabrik in Mönchengladbach. In dieser Zeit führte sie die teilnehmenden Beobachtungen, die Fragebogenerhebungen und weitere Datenerhebungen durch. Dieser lange Aufenthalt in der Fabrik galt später als wesentlicher Grund für den Erfolg ihrer Studie. Bernays begann ihre Untersuchung mit einem Inkognito-Aufenthalt, über den sie auch den Fabrikbesitzer nicht informierte. Über den Stand ihres Forschungsaufenthalts, ihren Arbeitsalltag und ihre Erfahrungen berichtete sie Marianne Weber. Im August und September 1908 suchte sie einen Arbeitsplatz als Spulerin in einer Spinnerei, was 186 187 188 189
Vgl. z. B. Bernays (1910a), S. 266. Weber, Marianne (1984[1926]), S. 344; vgl. Zwiedineck-Südenhorst (2000), S. 95. Herkner (1912), S. 122–123. Gorges (1986), S. 466.
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ihr nach zwei Wochen auch glückte. Sie selbst und Max Weber zeigten sich „sehr zufrieden“, dass ihr der Einstieg ins Feld so überraschend gut gelungen war.190 Die Fabrik, in der sie Arbeit gefunden hatte, gehörte mit über 1.000 Beschäftigten zu den größten der Stadt. Der Tonfall ihres ersten Briefs an Marianne Weber war sehr optimistisch; sie schilderte ihre Arbeit und ihre KollegInnen überwiegend positiv. Die Leute in der Fabrik seien gar nicht misstrauisch und ihr Inkognito habe gut gehalten, dennoch müsse sie „sehr vorsichtig sein“. Alle seien hilfsbereit und „sehr nett und freundlich“. Auch ihre Arbeit gefalle ihr „gar nicht übel“, sie ermüde nicht besonders, nur der Rücken und die Füße täten ihr weh. In den ersten Tagen wohnte Bernays in einem Arbeiterinnenheim, in dem sie sich ein Zimmer mit sechs weiteren Frauen teilen musste. Da ihr die Mitbewohnerinnen zu laut waren, übernachtete sie zwei Nächte bei einer Freundin und begab sich dann auf Zimmersuche. Die Suche gestaltete sich jedoch schwierig, da die Vermieter sich weigerten, an eine Fabrikarbeiterin zu vermieten, erst durch die Fürsprache einer (bürgerlichen) Freundin gelang es Bernays, ein Zimmer zu mietet.191 Nach wenigen Wochen war in Bernays’ Briefen nur noch wenig von der anfänglichen Begeisterung über ihre „proletarische Existenz“ zu spüren. Vor allem gegenüber den jüngeren Arbeiterinnen, die in etwa ihrem Alter waren, nahm sie die Kluft zu ihrem bürgerlichen Leben nun sehr stark wahr. Anders als Rosa Kempf schien Bernays zuvor nie Kontakt zu ArbeiterInnen gehabt zu haben; deren Welt war ihr fremd. Das harte moralische Urteil, das sich Bernays aus einer privilegierten bürgerlichen Stellung vor allem über die jungen Arbeiterinnen bildete und das sich sehr von der der empathischen und wertschätzenden Darstellung Kempfs unterscheidet, beeinflusste nachhaltig Bernays’ weitere Wahrnehmung und Darstellung der Arbeiterinnen: „Es sind doch eigentlich noch immer ‚zwei Welten‘ (…), die sich gegenüberstehen. (…) Ich habe mit diesen Mädchen, mit denen ich nun 4 Wochen lang zusammen bin, fast nichts gemein, ich weiß, das klingt furchtbar hochmütig, aber ich kann mir nicht helfen, ich fühle es so. (…) Das Verhältnis der Geschlechter ist weit hässlicher als ich es mir dachte (…). Der Ton ist unglaublich roh (…). Fast scheint es mir, als ob die Arbeiterinnen roher und unsittlicher seien als die Arbeiter, was einen nachdenklich über die so oft behauptete notwendigere Unsittlichkeit des Mannes stimmen sollte. (…) Die ältere Generation gefällt mir weit besser. Die Arbeiter sehen teilweise intelligent aus und auch unter den älteren Frauen gefallen mir einige. (…) Die Sache ist doch körperlich weit anstrengender, als ich dachte. Vor allen Dingen hat das fortwährende Stehen meinen Rücken sehr angegriffen. Das klingt nun eigentlich alles wie ein Lamento, und doch ist mir gar nicht lamentabel zu Mute, sondern ich bin sehr froh, dies alles kennengelernt zu haben. Es ist doch alles anders, als ich es mir dachte. Weniger direktes Elend als eine trostlose Öde, ein ewiges Grau (…). Es ist ja alles so unsagbar hässlich. (…) Was mir an den Mädchen gefällt, ist eine große Gutmütigkeit, im Streit zerkrat-
190 Max Weber an Marianne Weber am 5. August 1908, in: Weber, Max (1990), S. 622. 191 Marie Bernays an Marianne Weber am 20. September 1908, in: BSB, Bestand WeberSchäfer, Ana 446.
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zen sie sich freilich die Gesichter, begießen sich mit kochendem Wasser etc.; aber bei guter Laune sind sie stets hilfsbereit.“192
Nach etwa sechs Wochen schien Bernays die verdeckte teilnehmende Beobachtung nicht mehr gewinnbringend genug, weshalb sie sie beendete. Über ihre Erfahrungen berichtete Bernays kurz darauf in Heidelberg, bei einer Veranstaltung des Vereins Frauenbildung-Frauenstudium, zu dessen Mitgliedern sie gehörte. Über ein Jahrzehnt nach den „Erinnerungen einer freiwilligen Arbeiterin“ von Elisabeth Gnauck-Kühne wurden die Schilderungen der „Studentin als Fabrikarbeiterin“ von den bürgerlichen Zuhörerinnen noch immer als „absolutes Novum“ begrüßt und als aufregendes Abenteuer wahrgenommen.193 Für ihre Studie nahm Bernays als nächsten Schritt Kontakt mit dem Generaldirektor der Fabrik auf, informierte ihn nachträglich über ihren InkognitoAufenthalt und über die weitere Forschung, die sie in seiner Fabrik durchzuführen gedachte. Bernays konnte den Fabrikdirektor vom Nutzen ihrer geplanten Untersuchung überzeugen und führte mit seiner Unterstützung in den folgenden vier Monaten weitere Datenerhebungen durch.194 Bernays konnte sich während dieser Zeit in nahezu allen Bereichen der Fabrik frei bewegen und die Beschäftigten befragen und beobachten. Sie sammelte systematisch eine große Menge Daten zur Situation der ArbeiterInnen in einem Großbetrieb, durch offen teilnehmende Beobachtung, durch Auswertung aller verfügbaren statistischen Daten aus den Arbeitsbüchern und Lohnlisten, durch direkte Befragung und durch Gespräche mit der Arbeiterschaft und der Betriebsleitung. Für den zweiten Teil ihrer Untersuchung, bei dem sie psychophysische Daten zur Arbeitsleistung der ArbeiterInnen benötigte, informierte sich Bernays beim technischen Betriebsleiter über die Funktionsweise der Spinnereimaschinen und über Arbeitsabläufe daran. Bei der Fragebogenerhebung, die Bernays Anfang Januar 1909 unter den ArbeiterInnen durchführte, verwendete sie den vorgegebenen standardisierten, in den Fragen offenen Fragebogen, der Teil des Arbeitsplans der Auslese- und Anpassungsstudien war. Mit 27 Fragepunkten war er, verglichen mit anderen Erhebungen des VfS, verhältnismäßig kurz und stellte eine Weiterentwicklung gegenüber den in früheren Untersuchungen des VfS verwendeten Fragebogen dar. Vor allem mit den Fragen zu Erholung und Freizeit, den früheren Berufswünschen und den jetzigen Zielen sollte versucht werden, einen Einblick in das subjektive Empfinden der Arbeiterschaft zu gewinnen. Allerdings war der Fragebogen in seinen Formulierungen und mit Fragen nach dem Militärdienst oder der Erwerbsarbeit der Ehefrau bezeichnenderweise auf die männlichen Arbeitskräfte ausgerichtet.
192 Marie Bernays an Marianne Weber am 10. Oktober 1908, in: BSB, Bestand Weber-Schäfer, Ana 446. 193 Vgl. den Bericht über Bernays’ Vortrag in: Die Studentin als Fabrikarbeiterin (1909). 194 Vgl. die anerkennende Bemerkung Max Webers, in: Max Weber an Marianne Weber am 27. Januar 1909, in: Weber, Max (1994), S. 38; Max Weber an Marie Bernays am 27. Januar 1909, in: ebenda, S. 39–43.
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Insgesamt führte Bernays Interviews mit 720 Personen durch (320 Männer, 400 Frauen), was ein enormes Arbeitspensum darstellte, zumal Marie Bernays dabei anders als Rosa Kempf keine Unterstützung hatte. Unterteilt in Berufsgruppen wurden 41 Handwerker, 70 Weber, 59 Spinner, 23 Rauher, Passierer oder Schlichter, 17 Meister, 110 ungelernte Arbeiter, 30 Weberinnen, 109 Ringspinnerinnen, 84 Vorspinnerinnen, 63 Haspelinnen, 88 angelernte Arbeiterinnen und 26 ungelernte Arbeiterinnen befragt.195 Dass die Befragung erfolgreich verlief, erklärte sich Bernays damit, dass sich die befragten Personen durch die verdeckte und offen teilnehmende Beobachtung an sie gewöhnt hatten und deshalb bereit waren, auf ihre Fragen zu antworten. Bernays wurde von ihnen „als zur Fabrik zugehörig betrachtet“. Die direkte Befragung, oder das „persönliche Ausfragen“, wie Bernays es bezeichnete, schien ihr „in jedem Fall empfehlenswert“. Denn „Erscheinung und Gesichtsausdruck des Befragten“ würden dessen Antworten ergänzen. Ein „flüchtig hingeworfener Ausdruck“ würde „vielleicht ein ganzes Lebensschicksal verraten“.196 Bei der Auswertung und Darstellung der Ergebnisse reflektierte Bernays ihren Standpunkt als Forscherin. Sie wies auf die Gefahr des Generalisierens bei persönlichen Beobachtungen hin, denn das „Ungewohnte in der Lebensweise anderer Volksschichten [mache] beim Beobachtenden natürlicherweise einen größeren Eindruck als das, was [dieser] aus den Erfahrungen des eigenen Lebenskreises gewohnt“ sei.197 Da sie beim Einstellungsgespräch in der Fabrik nur nach dem Alter und der Heimat gefragt worden war, folgerte sie, dass Alter und geographische Herkunft wichtige Auslesefaktoren sein mussten. Dass Bernays die Auswahl des Samples, ihre Vorgehensweise und die Reichweite ihrer Aussagen mehrfach erklärte und begründete, hing vermutlich mit dem angestrebten Mustercharakter ihrer Studie zusammen.198 Gleichzeitig belegte sie damit ihre objektive Vorgehensweise.199 3.2.1.2 Inhalt und Ergebnisse zu „Auslese und Anpassung“ Marie Bernays Mönchengladbach-Studie macht deutlich, wie sehr die Forschungsinteressen von Alfred und Max Weber bei den Auslese- und Anpassungsstudien auseinanderklafften. Denn die Kapitel, in denen Bernays jeweils die Ergebnisse der beiden Teilbereiche zusammengefasst hatte, scheinen auf den ersten
195 Vgl. Weber, Max (1994), S. 515: Heinrich Herkner erwähnte bei der Ausschusssitzung des VfS am 26. September 1909 in Wien, dass sich Bernays’ Auswertung auf 1.300 gut beantwortete Fragebögen von Arbeitern der Mönchengladbacher Baumwollspinnerei stützen konnte. 196 Bernays (1910a), S. XVII. 197 Bernays (1910a), S. 225. 198 Bernays (1910a), S. 40, S. 176–177. 199 Siehe z. B. Bernays (1910a), S. 22, S. 54, S. 118 und S. 235.
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Blick kaum etwas gemeinsam zu haben.200 Bernays stellte zunächst die Ergebnisse zur „Auslese und Anpassung der Arbeiterschaft“, also die Berufswahl und die Berufsschicksale der Arbeiterschaft der ArbeiterInnen der Fabrik in Mönchengladbach dar. Dass die Auslese- und Anpassungsstudien zum Teil noch in der Tradition der Historischen Schule der Nationalökonomie standen, zeigt hingegen die Branchenanalyse, die Bernays den empirischen Ergebnissen voranstellt. Sie rekonstruiert darin die Geschichte der Fabrik, ihre Produktionsprozesse und die Entwicklung ihrer Arbeiterschaft aus historischen Quellen und aus den Geschäftsberichten der Fabrik. Im daran anschließenden ersten empirischen Teil über die „Auslese und Anpassung“ gibt Bernays einen Einblick in die demografische Zusammensetzung der ArbeiterInnenschaft. Sie rekonstruierte die berufliche Laufbahn, die Beschäftigung und die Berufe, die Arbeitsorte und die Zahl der Anstellungen während eines Berufslebens in der Mönchengladbacher Fabrik. Bernays fasste Gruppen von Beschäftigten nach Arbeitsgebieten und Qualifikation in männliche und weibliche „Berufsgruppen“ zusammen und untersuchte, ob ein Zusammenhang zwischen dem Berufsschicksal der verschiedenen Gruppen und ihrer sozialen Mobilität feststellbar war. Bernays wollte herausfinden, nach welchen Kriterien sich die Arbeiterschaft der von ihr untersuchten Fabrik ausdifferenzierte und welche Faktoren die Mobilität der Arbeiterschaft beeinflussten. In einer Vielzahl von Tabellen kombinierte sie deshalb die verschiedenen Berufsgruppen mit Auslesefaktoren wie Alter, Geschlecht, geographische und soziale Herkunft und weiteren Faktoren. Für ihre tabellarischen Berechnungen griff Bernays zum einen auf Daten aus den Arbeitsbüchern der Fabrik für die Jahre 1891, 1900 und 1908 zurück, in denen Name, Alter, Datum des Eintritts und Art der Beschäftigung der ArbeiterInnen erfasst wurden. Zum anderen flossen bei ihren Berechnungen Daten aus den Befragungen, den Gesprächen und ihren Beobachtungen mit ein. Zunächst wertete Bernays die Zusammensetzung der Belegschaft, den Einund Austritt der Beschäftigten und deren Verweildauer in der Fabrik und in den verschiedenen Berufsgruppen nach Alter und geographischer Herkunft für die Jahre 1891, 1900 und 1908 aus und verglich diese miteinander. Durch den Vergleich der Ergebnisse wollte Bernays herausfinden, ob und wie sich die Bedeutung der Auslesefaktoren von Seiten des Betriebs sowie ob und wie sich die Mobilität der Beschäftigten verändert hatte. Außerdem war für sie von Interesse, ob sich Unterschiede zwischen Männern und Frauen oder zwischen den verschiedenen Altersgruppen feststellen ließen.201 Eine Gegenüberstellung von Marie Bernays’ Auswertung und Interpretation mit der von Rosa Kempf zeigt, wie sehr normative Vorannahmen die Bewertung der Ergebnisse beeinflussten, auch wenn stets der objektive Charakter der Unter-
200 Zur ausführlichen inhaltlichen Zusammenfassung von Marie Bernays’ Studie siehe Rummler (1984), S. 197–219. 201 Vgl. Bernays (1910a), S. 38–39.
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suchungen und Datenerhebungen betont wurde. Während für Kempf der Wechsel der jungen Fabrikarbeiterinnen von einem Arbeitsplatz zum nächsten nachvollziehbar war, kam Bernays durch das negative Bild, das sie während ihres Inkognito-Aufenthalts von den jüngeren, unqualifizierteren Gruppen von Fabrikarbeiterinnen gewonnen hatte, bei der Bewertung der Daten zu einem entgegengesetzten Ergebnis. Zwar sah auch sie, dass die geringere Mobilität der männlichen Arbeitskräfte größtenteils mit den besseren Arbeitsbedingungen der männlichen Berufe zusammenhing, gleichzeitig wertete sie es aber auch als Beleg für die größere Diszipliniertheit der Arbeiter. Im häufigen Stellenwechsel der Arbeiterinnen sah sie dagegen ein Zeichen des „niedrigeren sittlichen Niveaus“ der Frauen. Frauen würden, so Bernays, viel häufiger als Männer „wegen kleiner Reibereien mit Werkmeistern oder Arbeitsgenossen“ davonlaufen und „auch schneller den Erzählungen guter Freunde von besserem Lohn in anderen Fabriken“ glauben.202 Ihre Interpretation begründete Bernays mit den Beobachtungen, die sie während ihres Forschungsaufenthalts gemacht hatte. Die seit 1900 zunehmende Fluktuation vor allem der weiblichen Arbeitskräfte deutete Bernays als Zeichen einer zunehmenden „Proletarisierung“ der Fabrikarbeiterschaft. Sie habe in der Fabrik mehrfach Klagen gehört, „dass die Mädchen besserer sozialer Herkunft sich in den letzten Jahren ‚zu fein‘ zur Fabrikarbeit hielten“.203 Bernays kam zu dem Ergebnis, dass ein Zusammenhang zwischen der „Qualität der Arbeiterschaft“ und ihrer Mobilität bestehe, denn die am wenigsten qualifizierten Stellen bzw. Berufe, in die unqualifizierten Arbeiterinnen beschäftigt wurden, wiesen bei ihrer Auswertung die höchste Mobilität auf. Sozialgeschichtlich interessant ist Bernays’ Auswertung der Zusammensetzung der Arbeiterschaft nach geographischen und sozialen Aspekten. Bei der geographischen Herkunft untersuchte sie den Zusammenhang zwischen Beruf und Entfernung des Geburts- vom aktuellen Arbeitsort sowie zwischen Beruf und Größe des Geburtsorts. Dabei wurde zwischen städtischer, kleinstädtischer und ländlicher Herkunft unterschieden. Bernays kam zu dem Ergebnis, dass bei den weiblichen Arbeitskräften der Anteil der aus Dörfern stammenden Beschäftigten wesentlich höher lag als bei den Männern und dass mit zunehmender Qualifizierung der Arbeit der Anteil der „Landmädchen“ sank. Bernays sah darin eine Folge der fehlenden Qualifikation bzw. Ausbildung der Arbeiterinnen.204 Unter dem Stichwort „Familienschicksale“ untersuchte Bernays die Generationenfolge von Berufen und Berufsveränderungen über drei Generationen, um Aussagen über die soziale Mobilität und den sozialen Auf- oder Abstieg einzelner
202 Bernays (1910a), S. 41; vgl. Hinrichs (1981), S. 102–103. An anderer Stelle sah Bernays vor allem in der Monotonie der Arbeit einen wesentlichen Erklärungsfaktor für die Mobilität der Arbeiterschaft. An Alfred Weber anknüpfend hielt sie es für „möglich, dass Industrien mit sehr monotoner Arbeit nicht selten starken ‚unmotivierten Stellenwechsel‘ gewissermaßen als Kompensation der Monotonie haben“, vgl. Bernays (1910a), S. 46. 203 Bernays (1910a), S. 41–42. 204 Bernays (1910a), S. 79 und S. 91.
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Gruppen von ArbeiterInnen treffen zu können. Die Frage stand im Zusammenhang mit den zeitgenössischen Debatten über die „Erblichkeit“ und „Proletarisierung“ der Berufe. Bernays’ Ergebnisse zeigten, dass die Industriearbeiterschaft sich nicht nur aus sich selbst rekrutierte, sondern dass es auch Wanderungsbewegungen gab. Denn etliche ArbeiterInnen der Fabrik kamen aus Landarbeiter- oder Handwerkerfamilien. Die soziale Herkunft der Arbeiterinnen ihres Samples unterschied sich dabei von der Herkunft der Arbeiter. Die Arbeiterinnen kamen häufiger vom Land und stammten in sehr viel größerer Zahl aus sozial niedrigeren Schichten.205 Ein Unterschied zwischen der methodischen Vorgehensweise von Kempf und der von Bernays (die sich genauer an die Vorgaben der Auslese- und Anpassungsstudien hielt) wird bei der Frage nach dem Zusammenhang zwischen Berufswunsch und realer Beschäftigung deutlich. Während Kempf für diesen Punkt die Aufsatzforschung einsetzte, arbeitete Bernays mit den vorgegebenen Kreuztabellen. In diesen Tabellen stellte sie die gegenwärtige Beschäftigung dem Berufswunsch in der Jugend gegenüber und setzte diesen Wunsch mit dem Beruf des Vaters in Beziehung, um dessen Auswirkungen auf die Berufspläne zu untersuchen.206 Bernays wertete tabellarisch Berufswahl, Stellenwechsel, Orts- und Berufswechsel, deren Gründe und Bedeutung sowie die Dauer der Anstellung in der Fabrik aus. Aus den Antworten auf die Frage, ob die Berufswahl „aus eigenem Wunsch“, auf „Wunsch der Eltern“, aufgrund der Arbeit der Eltern bzw. Geschwister oder aus ökonomischen Gründen erfolgt war, zog Bernays Schlüsse über die Möglichkeiten der Persönlichkeitsentfaltung der ArbeiterInnen.207 Sie arbeitete Zusammenhänge zwischen Berufsentscheidung und Berufsverlauf und zwischen den verschiedenen Gruppen von männlichen und weiblichen sowie gelernten und ungelernten Arbeitern heraus. Bei den Gründen für die Berufswahl hatten die Arbeiter häufiger persönliche, die Arbeiterinnen dagegen häufiger ökonomische Gründe angegeben.208 Vor allem die ungelernten Arbeiterinnen hatten meist keine Antwort geben können, weshalb sie eine Stelle angenommen hatten. Bernays interpretierte das als Zeichen für die „Unfähigkeit auch zur oberflächlichen Selbstanalyse“.209 Ihre Interpretation widersprach damit den Ergebnissen Kempfs, die herausgearbeitet hatte, dass diese scheinbare Unfähigkeit das Ergebnis der strukturellen geschlechtsspezifischen Benachteiligung der jungen Arbeiterinnen sowie der gesellschaftlichen Nichtanerkennung der Frauenerwerbsarbeit sei. Ein wesentlicher Aspekt der Untersuchungen über „Auslese und Anpassung“ war die Frage der Differenzierung und Individualisierung der Arbeiterklasse, die bereits in der Vorbereitungsphase der Enquete eine größere Rolle gespielt hatte. Die Frage nach der „Schöpfung“ sozialer Lebenschancen durch die Struktur der 205 206 207 208 209
Bernays (1910a), S. 107. Bernays (1910a), S. 244. Bernays (1910a), S. 125. Bernays (1910a), S. 178–179. Bernays (1910a), S. 129.
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Großbetriebe – d. h. inwieweit es diese Struktur dem Industriearbeiter ermöglichte, Individualität zu entwickeln – war bei den Auslese- und Anpassungsstudien zwar zurückgestellt worden, dennoch griffen sowohl Kempf als auch Bernays diese soziologische Frage nach der Individualisierung und Differenzierung in der Arbeiterschaft in ihren Auswertungen wieder auf. Bernays’ Entdeckung der „Saalmoden“ gehört zu den soziologisch interessanten Ergebnissen ihrer Studie.210 Ausgehend von der Frage der Prägung der ArbeiterInnen durch die Arbeit in der Großindustrie zeigte Bernays auf, wie durch die Zerlegung des gesamten Arbeitsprozesses in einzelne Teilarbeiten (vom Baumwollballen bis zum fertigen Gewebe) eine Differenzierung der Arbeiterschaft über soziale Gruppenbildung erfolgte. Ihre Auswertung machte deutlich, dass die Arbeiterschaft nicht zufällig in Berufsgruppen zerfiel, sondern dass von Seiten der Fabrikleitung eine mehr oder weniger bewusste „Auslese“ der Arbeitskräfte stattfand und sie verschiedenen Arbeitskategorien zugeordnet wurden. Diese Zuordnung basiere auf den Erfahrungen der Betriebsleitung, wonach „bestimmte, durch eine gewisse Kindheitsumgebung gegebene Qualitäten die Menschen für diese oder jene Teilarbeit am rentabelsten“ machten.211 Die Verschiedenheit von Herkunft und Schicksal der ArbeiterInnen war aber nicht nur „Auslesefaktor der einzelnen Arbeitskategorien, sondern auch ein wichtiger Faktor der Gruppenbildung“.212 Denn innerhalb der einzelnen kleineren Arbeitsgruppen, die in eigenen Räumen mit bestimmten Maschinen arbeiteten, bilde sich, so Bernays’ Beobachtung, ein spezielles Solidaritätsgefühl heraus. Erst durch die Zugehörigkeit zu einer solchen Gruppe könne der Arbeiter sich als Individuum fühlen. Die Arbeit in einer solchen kleineren Gemeinschaft, in der der Werkmeister den Einzelnen als Mensch und nicht nur als Nummer kenne, rette den Arbeiter „vor dem gänzlichen Versinken in der Masse, vor dem völligen Nummer werden, indem es ihm einen kleinen Kreis gibt, dem er sich anschließen und in dem er eine gewisse Bedeutung gewinnen kann“.213 Während die bürgerliche Sozialreform bis dahin überwiegend davon ausgegangen war, dass die gewerkschaftliche Organisierung das wichtigste Mittel zur sozialen Integration der Arbeiterschaft sei, sah Bernays in der Zugehörigkeit zur sozialen Gruppe das Band, das die Arbeitskräfte mit dem Betrieb verband. Die Mitglieder einer Gruppe entwickelten nach ihren Beobachtungen ein starkes Solidaritätsgefühl, das sich im Stolz auf „ihren Saal“ und in der Verachtung anderer Säle äußerte. Der Gruppenbildung standen die äußeren Rahmenbedingungen gegenüber, „die undurchdringliche Mauer von Lärm“, die die Arbeitskräfte an ihren Maschinen isoliere und soziale Kommunikation erschwere. Gleichzeitig vermittle diese Isolierung das Gefühl eines Ungestörtseins und einer Herrschaft über die Arbeit. Die Gruppenbildung mache sich, so Bernays, auch äußerlich, in den „Saalmoden“ der verschiedenen Fabrikhallen, im Aussehen und 210 211 212 213
Gorges (1986), S. 433–435, S. 470; vgl. z. B. Bernhard, Ernst (1911), S. 388. Bernays (1910a), S. 91 Bernays (1910a), S. 183. Bernays (1910a), S. 184.
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im Wesen der Beschäftigten, bis hin zu ihrer Kleidung bemerkbar. Die Kleidung wurde zum Mittel sozialer Distinktion, an der der Lebensstandard der verschiedenen Gruppen erkennbar war. Die Weberinnen schienen ordentlichere Kleidung zu tragen als die Arbeiterinnen in der Spinnerei: „Wie jeder anderen Mode, so liegt auch dieser wohl schließlich der Wunsch zugrunde, den betreffenden Kreis unter sich enger zusammen- und anderen gegenüber fester abzuschließen.“214 Ein weiterer Fragenkomplex, den Marie Bernays behandelt, ist das außerberufliche Leben der ArbeiterInnen als eine „teils unwillkürliche, teils erzwungene Anpassung des Außen- und Innenlebens der Arbeiterschaft an die Industrie“.215 Als Faktoren für das außerberufliche Leben wertete Bernays die Wohnsituation, die Bedeutung, die die Befragten Ehe und Familie beimaßen, die Berufe der Kinder sowie das Freizeitverhalten aus. Vor allem bei den Fragen zum Freizeitverhalten machte sich die Unzulänglichkeit der Fragebogen bemerkbar, die an diesem Punkt kaum zu Antworten – und wenn überhaupt meist zu unbrauchbaren – geführt hatten. Bernays stützte sich daher stark auf eigene Beobachtungen und Einschätzungen.216 Das Freizeitverhalten der Arbeiterschaft sollte mit Fragen wie „Was sind ihre Haupterholungen?“ und „Womit beschäftigen Sie sich am liebsten außerhalb des Berufs?“ erfasst werden. Obwohl Bernays auf diese Fragen die „nichtssagendsten und farblosesten“ Antworten erhalten hatte, gehört dieser Aspekt zu den am häufigsten rezipierten Ergebnissen ihrer Studie. Die Befragten wussten mit den Fragen nach „Erholungen“ und „Vergnügungen“ meist wenig anzufangen. Auch die von Bernays vorgenommenen Konkretisierungen brachten meist nur kurze Antworten. Auf die Frage „Was tun sie am Sonntag am liebsten?“217 wurde beispielsweise „Essen und Trinken“ geantwortet. Die Befragten schienen zufrieden zu sein, wenn sie am Wochenende nicht so gehetzt waren und sich körperlich erholen konnten. Bernays’ Ergebnisse zeigen, dass es geschlechtsspezifische und altersbedingte Unterschiede im Freizeitverhalten gab und bestätigen so Kempfs Annahme, dass eine Verkürzung der (Erwerbs-)Arbeitszeit keine Verkürzung der realen Arbeitszeit von Frauen mit sich bringe. Denn auch die von Bernays befragten verheirateten Arbeiterinnen waren in ihrer „freien“ Zeit überwiegend mit der Hausarbeit beschäftigt; ihre Erholung bestand aus „hinsetzen und ausruhen“. Die Jüngeren nannten dagegen mit „spazierengehen“, „lesen“ und ihrem großen „Verlangen nach Luft, Licht und Sonne“ Freizeitbeschäftigungen, die eher bürgerlichen Vorstellungen entsprachen.218
214 215 216 217 218
Bernays (1910a), S. 184. Bernays (1910a), S. 221. Bernays (1910a), S. 206. Bernays (1910a), S. 235. Bernays (1910a), S. 237.
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3.2.1.3 Inhalt und Ergebnisse zur Psychophysik der industriellen Arbeit In „Psychophysik der Textilarbeit“, dem zweiten Teil ihrer Studie, untersuchte Marie Bernays den Einfluss von Herkunft und Arbeitsumgebung auf die Leistungsfähigkeit der Arbeiterschaft und die Rentabilität der ArbeiterInnen für den Betrieb. Im Anschluss an Max Weber versuchte Bernays dabei, methodische Herangehensweisen der Sozialwissenschaft mit den neuen Strömungen der experimentalpsychologischen Arbeitswissenschaft, der Psychotechnik und des TaylorSystems zu verknüpfen.219 Wie bei einem Experiment beschrieb sie zunächst den Aufbau, d. h. die Maschinen und Tätigkeiten, die einzelnen Arbeitsgebiete und Teilarbeiten, die genauen Arbeitsabläufe an den verschiedenen Maschinen sowie die Anforderungen, die diese Abläufe an die Arbeitskräfte stellten. Dabei wurde eine geschlechtsspezifische und gleichzeitig hierarchische Zuschreibung der verschiedenen Arbeiten und Arbeitsgebiete sichtbar, die Bernays jedoch nicht hinterfragte. Während bei den anspruchsvolleren, mehr selbstbestimmten Arbeiten überwiegend Männer beschäftigt wurden, nahm man „zum Haspeln mit Vorliebe die jüngsten Mädchen, da die Arbeit weder Kraft noch Intelligenz erfordert und am besten von biegsamen Fingerchen“ ausgeführt werde.220 Bernays verstand ihre Studie als einen ersten Versuch, die physiologischen und sozialpsychologischen Gründe für die individuelle Leistungsfähigkeit zu ermitteln und mithilfe des psychophysischen Begriffsmaterials rationell zu erklären.221 Sie erstellte Kurven für Stunden-, Tages- und Wochenleistungen der verschiedenen Berufsgruppen auf Grundlage des Datenmaterials aus den Lohnbüchern und Stuhluhrregistraturen der Fabrik; die Leistungsfähigkeit entsprach dabei der Lohnhöhe. Bernays untersuchte außerdem den Einfluss von physiologischen Faktoren wie Ermüdung, Übung, Gewöhnung, Antrieb, Erholung, Anregung und Übungsverlust durch Arbeitsunterbrechungen, ebenso wie den Einfluss sozialer Faktoren wie Alter, Geschlecht, Familienstand, soziale Herkunft und Berufsweg auf die Leistungskurven. Sie bezog Ernährungs- und Wohnverhältnisse sowie Jahreszeiten und Lohnsysteme als weitere Bedingungsfaktoren der Arbeitsleistung in ihre Auswertung mit ein.222 Besonders interessierte Marie Bernays, wie sich die Monotonie der Arbeit auf die Arbeitsmotivation und die Arbeitszufriedenheit der Arbeiterschaft auswirkte, und damit auch auf die Rentabilität ihrer Arbeitskraft.223 Sie variierte verschiedene Faktoren (Pausen, Arbeitszeit usw.) und versuchte zu ergründen, inwieweit diese Faktoren die Leistungsfähigkeit beeinflussten oder Leistungsschwankungen dadurch erklärt werden konnten. Allerdings sagt die Interpretation der Ergebnisse
219 Zu dieser Verknüpfung bei Weber siehe Schuster (1987), S. 221–224; zur Rezension der Enquete und der Wirkung der „Anpassungsstudien“ siehe ebenda, S. 227–230. 220 Bernays (1910a), S. 261. 221 Diskussionsbeitrag von Marie Bernays, in: Verein für Sozialpolitik (1912), S. 146. 222 Vgl. Bischoff (1911). 223 Bernays (1910a), S. 325.
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oftmals mehr über Bernays’ Einschätzungen als über die realen Gründe der Leistungsunterschiede aus. Die Auswertung zeigt, dass ihr methodisches Instrumentarium zur Erfassung psychologischer Einflussfaktoren auf die Arbeitsleistung noch nicht ausreichte. Denn die objektiven Daten über Alter, Herkunft, Lohnhöhe und Arbeitsleistung wurden von Bernays zwar ausführlich und exakt erhoben und verarbeitet, bei der Auswertung der psychologischen Daten griff sie aber auf die während ihrer teilnehmenden Beobachtung gewonnenen nicht systematisierten Eindrücke oder auf Zitate aus den Interviews mit den Arbeiterinnen zurück. Um psychologische Daten in der Exaktheit von objektiven Daten zu beschaffen, wären allerdings wesentlich systematischere Beobachtungen notwendig gewesen.224 Das zeigt sich besonders bei Bernays’ Versuch, Ermüdung, Anstrengung, Erholung, Arbeitszufriedenheit und Arbeitsmotivation als Bedingungsfaktoren der Arbeitsleistung zu erfassen. Ihre Auswertungen stützen sich dabei auf sehr unterschiedliches Datenmaterial. Neben den empirisch gut belegten Leistungskurven basierten ihre Daten etwa zur Ermüdung auf den Antworten der Fragebogenerhebung, die jedoch wegen der Art der Fragen nur bedingt aussagekräftig waren. Die ArbeiterInnen wurden nicht nur zu ihrer täglichen Arbeitsdauer, den Pausen und den Überstunden befragt, sondern beispielsweise auch: „Nach welcher täglichen Arbeitsdauer tritt bei Ihnen erfahrungsgemäß Ermüdung ein?“ Bernays selbst hatte gleichwohl konstatiert, dass die befragen Personen nur bedingt zur Selbstbeobachtung und Selbstanalyse fähig seien.225 Da bei den Antworten kaum zwischen objektiver Ermüdung und subjektiver Müdigkeit zu unterscheiden war, benutzte Bernays bei ihrer Darstellung beide Begriffe synonym.226 Aufgrund der unsicheren Datenbasis formulierte sie die Ergebnisse sehr zurückhaltend; es könne sich dabei nur „um Hinweise und Deutungsversuche, nie um wirkliche Erklärungen“ handeln.227 Dennoch versuchte Bernays die Ergebnisse mit sehr weitreichenden, empirisch nicht fundierten und häufig willkürlich erscheinenden Interpretationen begreiflich zu machen, was in den Besprechungen der Studie dann auch mehrfach kritisiert wurde. Von verschiedenen Rezensenten wurde ihr Befund herausgestellt, dass es einen positiven Zusammenhang zwischen Qualifizierung und Arbeitsunzufriedenheit gebe. Je qualifizierter und höher die Leistung bzw. der Lohn, desto häufiger würden die Befragten angeben, Müdigkeit zu verspüren und die Arbeit als anstrengend zu empfinden. Daraus lasse sich schließen, dass mit zunehmender Qualifikation und Bildung auch die Fähigkeit steige, die eigene (Arbeits)Situation zu reflektieren und die Monotonie der Arbeit als negativ zu empfinden. Es ist auffallend, dass Bernays die Antworten auf diese Fragen geschlechtsspezifisch unterschiedlich bewertet: Bei den qualifizierten Arbeitskräften interpretierte sie die Müdigkeit als „innerliche Stellungnahme“ zur Arbeit und als eine Reaktion auf die Monotonie und die fehlenden Anforderungen der Arbeit. Während sie hier 224 225 226 227
Zeisel (1975[1933]), S. 131–132. Bernays (1910a), S. 342. Bernays (1910a), S. 335. Bernays (1910a), S. 334.
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Müdigkeit als psychischen Ausdruck von Arbeitsunzufriedenheit deutete, schätzte sie die Müdigkeit bei den unqualifizierteren Arbeiterinnen als eine „rein physisch bedingte körperliche Ermüdung“ ein.228 Bernays’ Versuch, mit „exakten“ Methoden einen kausalen Zusammenhang zwischen „Sinnentleerung der Arbeit“, „Monotonie“, „Unstetigkeit“ und „Fluktuation“ einerseits sowie „Arbeitsmotivation“ und „Arbeitszufriedenheit“ andererseits zu konstruieren, bleibt unzureichend. So reflektierte die beispielsweise die unterschiedlichen Reaktionen der Gruppe der Spinner und der Gruppe der Weber auf die Frage nach der subjektiv empfundenen Müdigkeit wie folgt: „Während erstere in jeder Hinsicht traditionell gebundene, fügsame, meist langjährige Arbeiter der Fabrik waren, bildeten letztere, unter denen sich verhältnismäßig viele Protestanten, Ausländer und Sozialdemokraten befanden, das aufgeweckte und infolgedessen auch aufrührerische Element in der Arbeiterschaft der Fabrik.“229 Es war diese Gruppe, die über „Ermüdung“ klagte. Bernays versuchte also, psychische und soziale Folgelasten kapitalistischer Arbeitsverhältnisse aus den Bedingungen zu erklären, die Voraussetzungen ihrer Analyse waren. Das Problem der Entfremdung, um das es ihr dabei ging, hätte mit einer sozialpsychologischen Reflexion besser erfasst werden können, wie der Aufsatz von Alfred Weber über „Das Berufsschicksal der Industriearbeiter“ zeigt, der nach Abschluss der Auslese- und Anpassungsstudien erschien.230 Erst die empirische Studie über die Arbeitslosen von Marienthal Anfang 1930 war in ihrer Herangehensweise stärker sozialpsychologisch angelegt.231 Die von Max Weber im Vorfeld geforderte Werturteilsfreiheit wurde bei keiner der Teilstudien der Auslese- und Anpassungsstudien so stringent um wie bei der von Marie Bernays. Der Unterschied ihrer Studie zu vorangegangenen sozialen Enqueten des VfS fällt besonders an den Punkten auf, die Kernfragen der Sozialpolitik berühren. Um die sozialpoltische „Neutralität“ und die wissenschaftliche „Reinheit“ und „Unbefangenheit“ nicht zu gefährden, hatte Max Weber die „Herren Mitarbeiter“ ausdrücklich angewiesen, gegenüber eventuell auftretenden Klagen und Beschwerden der untersuchten Arbeiterschaft über industrielles Arbeitsleid hart zu bleiben. Diese Äußerungen sollten lediglich als „Begleiterscheinungen bestimmter (technischer, ökonomischer, psychologischer) Umbildungsprozesse“ in Betracht gezogen werden.232 Bernays behandelte etwa die Wohnungsfrage oder die Arbeitsbedingungen lediglich als mögliche Einflussfaktoren auf die Arbeitsleistung und die Rentabilität der Arbeitskraft233; der Lohn diente
228 229 230 231 232 233
Bernays (1910a), S. 337. Bernays (1910a), S. 338. Weber, Alfred (1912); vgl. Rummler (1984) S. 234–235. Siehe Jahoda/Lazarsfeld/Zeisel (1975[1933]). Hinrichs (1981), S. 97. Vgl. Bernays (1910a), S. 366. Für Bernays war die Wohnungsfrage eine „Frauenfrage“, denn die Ergebnisse ihrer Studie zeigten, dass die Leistung der Arbeiterinnen weitaus stärker als die der Arbeiter von den Wohnverhältnissen abhängig war.
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ihr lediglich als Faktor für die Berechnung der Leistungskurven. In ihrer Untersuchung ist nichts über die Zusammensetzung des Lohns oder die realen Einkommensverhältnisse der Arbeitskräfte zu erfahren. Der Lohn den die ArbeiterInnen erhielten erschien Bernays ausreichend, sie erklärte jedoch nicht, wie sie zu diesem Urteil kam.234 Bei der Frage der Arbeitszeit griff Bernays kurz die politischen Debatten über und die Forderungen nach Arbeitszeitverkürzung auf, um anschließend „wertfrei“ die Auswirkungen von Dauer, Verkürzungen und Unterbrechungen der Arbeitszeit (etwa durch Wochenenden oder Feiertage) auf die Arbeitsleistung zu untersuchen. Laut Bernays bringe eine Verkürzung der Arbeitszeit lediglich bei bereits leistungsstarken Arbeitskräften eine weitere Steigerung der Leistungsfähigkeit; längere Unterbrechungen würden dagegen leistungsmindernd wirken, da nach den Pausen eine erneute Eingewöhnungszeit erforderlich sei. Bernays meinte aus ihren Daten schließen können, dass insbesondere periodisch wiederkehrenden Unterbrechungen der Arbeitszeit in Form von Jahrmärkten oder ähnlichen Festen die Arbeitsfähigkeit und damit die Rentabilität der Arbeitskraft verschlechterten.235 Obwohl sie die Bedeutung der „Klassenunterschiede“ zwischen bürgerlicher Forschung und den erforschten ArbeiterInnen berücksichtigte, ist Marie Bernays nicht der Gefahr entgangen, ihre Vorstellungen von „sinnvoller“, „erfüllter“ Tätigkeit in die Bewertung der Industriearbeit einfließen zu lassen und ihre bürgerlichen Vorstellungen von „Sittlichkeit“ auf die ArbeiterInnen zu übertragen.236 Aus der Feststellung, dass sich die Höhe des Lohns und der Grad der Zufriedenheit der ArbeiterInnen umgekehrt proportional zueinander verhielten, schloss Bernays, dass „Geld das einzige Band“ sei, das die ArbeiterInnen mit ihrer Tätigkeit verknüpfe. Denn die anstrengende, monotone, keinerlei Nachdenken erfordernde Arbeit konnte ihres Erachtens nicht befriedend sein. Die Gleichförmigkeit der Arbeit mache stumpf; eine Entwicklung der Persönlichkeit durch die Fabrikarbeit war für Bernays ausgeschlossen. Mit der Fabrikarbeit der Frau könne „nicht diejenige innere Hebung verbunden sein“, die sonst „als die Wirkung selbständiger Frauenarbeit auf anderem (geistigen) Gebiet“ angesehen werde.237 Marie Bernays zeichnete ein überwiegend negatives Bild vor allem der jüngeren weiblichen Arbeiterschaft, die sie während ihrer sechs Monate in der Mönchengladbacher Fabrik kennenlernte.238 Dieses Bild steht im scharfen Kontrast zur sonst sehr nüchternen Sprache ihrer Untersuchung und zu dem Bild, das Rosa Kempf von ihren Fabrikmädchen zeichnete. Charakteristisch für die Arbeiterinnen war nach Bernays deren verglichen mit ihren männlichen Kollegen „größere Indolenz und Stumpfheit“.239 Die Zusammenarbeit von Männern und Frauen in den-
234 235 236 237 238 239
Vgl. Die Studentin als Fabrikarbeiterin (1909). Bernays (1910a), S. 378–396. Vgl. Dahrendorf (1956), S. 29–31. Bernays (1910a), S. 131; vgl. Gilcher-Holtey (2004), S. 58. Bernays (1910a), S. 113, S. 119 und S. 238. Bernays (1910a), S. 113; vgl. ebenda, S. 119.
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selben „lärmerfüllten, überhitzten Sälen bei eintöniger und doch nervenerregender Arbeit“ war ihrer Meinung nach ein wesentlicher Faktor für die „sittliche Verrohung“.240 Die hohe Zahl der unehelichen Mütter und die hohe Kindersterblichkeit wertete Bernays als Ausdruck des „tiefen Kulturniveaus“ der Arbeiterinnen.241 3.2.1.4 Hauptmitarbeiterin der Auslese- und Anpassungsstudien Nachdem sie ihre erste Untersuchung zügig und erfolgreich abgeschlossen und mit einem Auszug aus der Studie promoviert hatte, bereitete Bernays die arbeitswissenschaftlichen Ergebnisse ihrer Studie für einen Artikel im „Archiv für Sozialwissenschaft und Sozialpolitik“ nochmals auf. Auf Grundlage der Akkordlöhne von 52 Arbeitern und Arbeiterinnen diskutierte Bernays, ob sich der Übungsfortschritt und die Zunahme der Arbeitsleistung bei Akkordarbeit mit experimentalpsychologischen, d. h. naturwissenschaftlichen Methoden analysieren lasse.242 Im Winter 1910/1911 führte Bernays in einer Baumwollspinnerei in Speyer eine Anschlussstudie über die Schwankungen der Arbeitsintensität während der Arbeitswoche bzw. während des Arbeitstages durch, in der sie den arbeitswissenschaftlichen Teil ihrer Anpassungsstudie vertiefte.243 Anders als bei ihrer ersten Studie bestand das Sample der zweiten ausschließlich aus Arbeiterinnen.244 Bernays wollte mit ihrer Studie ermitteln, wie sich die technischen und ökonomischen Veränderungen der industriellen Arbeit auf die Arbeitsleistung auswirkten und inwieweit sich Schwankungen der Arbeitsleistung „mit Hilfe des psychophysischen Begriffsmaterials“ erklären ließen.245 Die erneut sehr umfangreiche Untersuchung erschien ebenfalls in der Publikationsreihe der Auslese- und Anpassungsstudien und zeigt, wie stark Bernays’ arbeitswissenschaftlich orientierte Beiträge, mit ihren Tabellen und Kurvenauswertungen der Arbeitsleistung, von den anderen Teilstudien abwichen, die ausschließlich den Forschungsschwerpunkt Alfred Webers bearbeiteten. Bernays wurde von Max Weber die Zusammenfassung der Ergebnisberichte der Teilstudien übertragen, die als zweiteiliger Artikel im „Archiv für Sozialwissenschaft und Sozialpolitik“ veröffentlicht wurde.246 Sie rezensierte mehrere Untersuchungen der Auslese- und Anpassungsstudien selbst sowie Studien, die einen inhaltlichen Bezug dazu hatten.247 Dazu gehörte neben der Untersuchung von Ro-
240 241 242 243 244 245 246
Bernays (1910a), S. 188. Bernays (1910a), S. 225–226. Bernays (1911a), S. 99. Bernays (1912a), S. 185; vgl. die Rezension von F. (1913); vgl. Rummler (1984), S. 226–229. Bernays (1911a; 1912a). Bernays (1912a), S. 308 und S. 311. Vgl. Max Weber an Edgar Jaffé am 27. August 1911, in: Weber, Max (1988), S. 268; Bernays (1912b); vgl. Wallgärtner (1991), S. 91–97. 247 Bernays (1910b; 1911c; 1911g; 1911l; 1911v; 1911x; 1912c–f; 1912h; 1912i).
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sa Kempf auch die Studie „Die Arbeiterfrage“ von Adolf Levenstein (1870– 1942), die heute zu den Klassikern der empirischen Sozialforschung zählt. Der aus dem proletarischen Milieu stammende akademische Laie Levenstein führte zwischen 1907 und 1911 eine Befragung verschiedener Industriearbeitergruppen durch. Wie die Auslese- und Anpassungsstudien wollte er untersuchen, wie die moderne Großindustrie die Entwicklung und Individualisierung der Menschen beeinflusste. Dabei versuchte er, den äußerst weiten Bereich der alltäglichen Probleme, Wünsche, Sehnsüchte und Hoffnungen der Arbeiter zu erfassen. Der Rücklauf der insgesamt 25 Fragen umfassenden Fragebogen, die über Kontaktpersonen direkt an gewerkschaftlich organisierte Arbeiter ausgegebenen wurden, fiel mit 5.040 ausgefüllten Bogen (63 %) enorm hoch aus; Levenstein war jedoch nicht an einer systematischen Auswertung interessiert. Auf den Druck von Max Weber und Edgar Jaffé hatte er aber begonnen, die Ergebnisse seiner Befragung für eine Veröffentlichung in eine ansatzweise systematische Form zu bringen.248 Bernays bemängelte in ihrer Besprechung sowohl die willkürliche Auswahl der Antworten als auch den suggestiven Charakter der Fragen. Trotz der fehlenden Wissenschaftlichkeit hielt Bernays Levensteins Studie dennoch für eine bedeutende Leistung von bleibendem Wert, die als wahre „Fundgrube für Arbeiterpsychologie“ einen Eindruck vom Denken und Empfinden deutscher Fabrikarbeiter zu Beginn des 20. Jahrhunderts vermittle.249 Bernays verfasste mehrere Artikel für die Zeitschriften „Die Hilfe“ und „Die Frau“, in denen sie Ergebnisse ihrer Erhebungen vorstellte, insbesondere zur Frage, wie die Arbeit in der Großindustrie das berufliche und außerberufliche Leben und die Entwicklung der ArbeiterInnen beeinflusste. Dabei lösten Bernays’ Bemerkungen über das Rheinland mehrfach öffentliche Auseinandersetzungen aus, die von empörten LeserInnenbriefen über politische Stellungsnahmen bis hin zu einer gewerkschaftlichen Protestkundgebung reichten. In der Besprechung eines Vortrags von Bernays Ende Oktober 1910 wurde ausführlich darüber berichtet, dass sie Mönchengladbach und das Bergische Land als reizlos und hässlich beschrieben und das Fehlen eines für die ArbeiterInnen anregenden soziokulturellen Lebens in Verbindung mit der hohen Rate unehelicher Geburten in der Region gebracht habe. In der Stadt wurde das als Rufschädigung empfunden; die Empörung war groß.250 Katholische Kirchenvertreter fühlten sich angegriffen, da Mönchengladbach das Zentrum der katholischen Sozialreform war. Max Weber, der sich einschalten musste um die Wogen zu glätten, versuchte die Schuld auf die Berichterstattung zu schieben, die den Inhalt des Vortrags verzerrt dargestellt habe. Allerdings entsprach die Besprechung dem Bild, das Bernays auch in ihrer Studie von Mönchengladbach und der Region gezeichnet hatte. Ihrer Meinung 248 Kern, Horst (1982), S. 106–111; Oberschall (1997), S. 159–175; kritisch zu Levenstein siehe Hinrichs (1981), S. 90. 249 Bernays (1912h), S. 833; vgl. Demm (2000), S. 75–76; Hinrichs (1981), S. 91. 250 Vgl. z. B. den Artikel „Ein böse Kränkung M.-Gladbachs“ im „Düsseldorfer Generalanzeiger“ vom 11. November 1910, 7. Beilage, in: UBH, Nachlass Marie Baum.
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nach war allen linksrheinischen Industrieorten „der Stempel der Hässlichkeit und Kulturlosigkeit aufgedrückt“.251 Mönchengladbach sei eine „hässliche, zu rasch gewachsene, lärmerfüllte Stadt, auf einer öden Ebene gelegen“, die den Arbeitern nur wenig zu bieten habe.252 Wie sehr solche Kommentare als Angriff auf die katholische Sozialreform wahrgenommen wurden, zeigt der empörte Leserbrief von Elisabeth Gnauck-Kühne, die Bernays vorwirft, sie blende absichtlich die fünfzigjährige Tradition katholischer sozialer Reform in Mönchengladbach aus.253 Bernays reagierte auf die erneuten Vorwürfe entnervt. Das Erkenntnisinteresse ihrer Untersuchung habe sich nicht auf die Leistungen der katholischen Sozialreform gerichtet, die ihr selbstverständlich bekannt seien, sondern auf das Bildungsund Kulturangebot der Stadt und dessen Nutzung durch die Arbeiter. Die Bedeutung der katholischen Kirche als Kulturfaktor habe sie ausführlich und durchaus im Sinne Gnauck-Kühnes dargestellt.254 Was Bernays jedoch nicht erwähnte war, dass sie die Rolle der katholischen Kirche in ihrer Untersuchung sehr kritisch bewertet hatte. Für Bernays befriedigte der katholische Gottesdienst zwar einerseits die Kulturbedürfnisse und die „Sehnsucht nach Schönheit“ der Arbeiter, die ihre Wochen in „hässlicher Umgebung, bei stumpfsinniger Beschäftigung“ verbringen mussten. Die Unselbstständigkeit der Arbeiter, denen das politische und öffentliche Leben weitgehend fremd sei, war für Bernays aber sowohl Ursache die als auch Wirkung der „übermächtigen Herrschaft der katholischen Kirche“.255 Die öffentliche Aufregung um Bernays’ abwertende Kommentare zu Mönchengladbach versperrte bedauerlicherweise den Blick auf den eigentlichen Inhalt ihrer Artikel. Denn diese vermittelten nicht nur einen sehr detaillierten Einblick in die Arbeits- und Lebenswelt der FabrikarbeiterInnen. Bernays entwickelte in diesen Artikeln – und das war das Bedeutende – auch ein Modell der Fabrik als sozialem Raum, der durch Beziehungsgeflechte und Differenzierung der sozialen Gruppen untereinander gekennzeichnet ist. Die Artikel lassen sich als soziographische Studien lesen, die danach fragen, inwieweit industrielle Arbeitsbedingungen es ermöglichten, Individualität zu entwickeln und zu stärken. Durch die bildhafte erzählerische Darstellung stellen die Artikel eine wichtige Ergänzung zu Bernays’ wissenschaftlichen Studien dar.256 3.2.1.5 Rezension, Diskussion und Rezeption Marie Bernays hatte mit ihrer Untersuchung als einzige den vom VfS vorgegebenen Arbeitsplan an nahezu vollständig umgesetzt und damit ein Vorbild für weite-
251 252 253 254 255 256
Bernays (1910a), S. 149. Bernays (1910a), S. 238. Gnauck-Kühne (1911c). Bernays (1911b). Bernays (1910a), S. 239–240, hier S. 240. Zur Artikelreihe in „Die Frau“ siehe Bernays (1910b; 1912c).
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re Studien geschaffen.257 Max Weber hielt Bernays’ Protokollierungs- und Rechenleistungen für so vorbildlich, dass er nicht davon ausging, dass sie von einer der weiteren Studien der Reihe übertroffen würden.258 Es überrascht deshalb nicht, dass Bernays Studie(n) – neben denen von Max Weber – im Vordergrund der Rezension und Rezeption der Vereinsenquete standen.259 Elisabeth AltmannGottheiner (1913) urteilte über Bernays, dass sie sich mit „bewundernswürdiger Anpassungsfähigkeit“ in die Wünsche und Absichten von Max Weber hineingefühlt habe. „Keiner der männlichen Bearbeiter der Parallelthemen – so vortrefflich einzelne ihrer Arbeiten sind – [habe] dies in der gleichen Weise vermocht.“ Für Altmann-Gottheiner bestand darin „zugleich die Stärke und Schwäche der wissenschaftlich arbeitenden Frau. Geniale Pfadfinderin ist sie bis jetzt nicht gewesen, aber sie geht die gewiesenen Wege mit solcher Liebe und Hingebung, dass sich ihr Wahrheiten erschließen, an denen der Mann achtlos vorbeigegangen wäre“.260 Insgesamt fielen die Anzahl der Besprechungen und die Diskussionen im Verhältnis zur wissenschaftlichen Bedeutung der Auslese- und Anpassungsstudien aber verhältnismäßig gering aus.261 Die Kritik an der Enquete – innerhalb des VfS sowie vonseiten der rechtsgerichteten wie der sozialdemokratischen Presse – konzentrierte sich auf den standardisierten Fragebogen und die wenig engagierte bis mangelhafte Umsetzung der Befragung durch die meisten der anderen BearbeiterInnen. Der Fragebogen wurde als unvollständig, viele Fragen als unzulänglich und teilweise taktlos kritisiert. Dass die ArbeiterInnen mit den Fragen zuweilen tatsächlich wenig anfangen konnten, zeigten ihre Antworten. Auf die Frage „Welches Lebensziel hoffen Sie zu erreichen?“ wussten viele ArbeiterInnen nur wenig zu berichten. Die Frage „Wovon gedenken Sie im Alter zu leben?“ beantworteten sie entweder gar nicht oder ganz lapidar mit „vom Essen und Trinken“.262 Die ausführlichste Diskussion über die Auslese- und Anpassungsstudien fand auf der Generalversammlung des VfS 1911 statt. Dort wurde in fast allen Diskussionsbeiträgen auf Bernays’ Studie Bezug genommen. Auch Bernays selbst meldete sich zu Wort. Ihr etwas längerer Redebeitrag, bei dem sie auf die Ergebnisse ihrer Studie zu den Arbeiterinnen einging, stellte ein Novum für den VfS dar. Denn bisher hatten weder Frauen als Mitdiskutierende noch das Thema Arbeiterinnen auf Vereinstagungen eine Rolle gespielt.263 Bei der Diskussion über 257 Herkner/Schmoller/Weber (1910), S. XV; vgl. Alfred Weber im Ausschussprotokoll des VfS vom 26. September 1909, zitiert in: Weber, Max (1994), S. 515; Sorer (1911), S. 157; Morgenstern (1912), S. 3; Keck (1912), S. 83. 258 Max Weber an Alfred Weber [vor dem 15. Mai 1910], in: Weber, Max (1994), S. 515. 259 Schuster (1987), S. 219; Hinrichs (1981), S. 101. 260 Altmann-Gottheiner (1913), S. 169–171 und S. 178–180. 261 Rummler (1984), S. 239. 262 Herkner (1912), S. 120–122; Zwiedineck-Südenhorst (2000), S. 96. 263 Vgl. den Redebeitrag von Marie Bernays, in: Verein für Sozialpolitik (1912), S. 139–146. Bernays wird von fast allen Rednern der Tagung namentlich erwähnt, vgl. ebenda, S. 147 (Alfred Weber); S. 168 (Gustav Hartmann); S. 173–178; (Ladislaus von Bortkiewicz); S. 180–181 (Ludwig Sinzheimer); S. 193 und S. 196 (Max Weber). Siehe auch die zusam-
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Bernays’ Untersuchung wurden sowohl inhaltliche als auch methodische Fragen aufgegriffen. Für Alfred Weber war ein wichtiges Ergebnis der Studie die Erkenntnis, dass die Laufbahn der Industriearbeiterschaft in der Regel mit dem vierzigsten Lebensjahr endete. Daraus ergebe sich die soziapolitische Notwendigkeit einer Altersabsicherung.264 Heinrich Herkner lobte vor allem die von Bernays herausgearbeiteten „Saalmoden“, die die Differenzierung und soziale Gruppenbildung innerhalb der Arbeiterschaft belegten.265 Die Bedeutung der Auslese- und Anpassungsstudien lag für Herkner in der empirischen Fundierung der von Georg Simmel beschriebenen Individualisierung und der Ausbildung der Persönlichkeit auch für die Arbeiterschaft. Die Teilstudien belegten, dass das „Proletariat“ keine „einheitliche Masse, kein ödes Einerlei“ sei, sondern hinsichtlich seiner Herkunft, Quantität, Qualität, Konstanz der Leistungen, Berufsfreudigkeit, Chancen des sozialen Aufstiegs, Weltanschauung und seines Lebensstils sehr unterschiedlich.266 Auch für den Nationalökonomen Adolph von Wenckstern (1862–1914) lag das Verdienst der Erhebung im Nachweis der Differenzierung der Arbeiterklasse. Die Studie zeige, dass die Individualisierung durchaus zur Emanzipation der Arbeiter beitrage, die sich jedoch – entgegen der Meinung von Karl Marx – nicht gegen den Staat und die Gesellschaft, sondern gegen den Sozialismus und die Sozialdemokratie richte.267 Ludwig Sinzheimer (1868–1922) griff während der Diskussion Herkner an und warf ihm vor, dass er die von Bernays herausgearbeiteten „Saalmoden“ dazu benutzen würde, das Gemeinsame der Klassenlage der Arbeiter und den Antagonismus zwischen Bürgertum und Proletariern zu relativieren. Die Differenzierung innerhalb der Arbeiterklasse sei jedoch niemals so scharf wie die Trennungslinie zum Bürgertum. Das von allen Erhebungen festgestellte Ende der Berufstätigkeit im Alter von 40 Jahren bestätige seines Erachtens, dass beim Arbeiterschicksal nach der Zeit der Verschiedenheit wieder die Homogenität eintrete.268 Kritik an der methodischen Vorgehensweise von Bernays, an ihrem Umgang mit statistischen Verfahren, übte der Statistiker Ladislaus von Bortkiewicz (1868–1931). Er wies auf einzelne rechnerische Fehler in ihrer Studie hin und bemängelte Bernays’ teilweise unzulässigen Verallgemeinerungen.269 Seine Kritik richtete sich jedoch indirekt gegen Max Weber, an dessen Vorgaben sich Bernays gehalten hatte. Bortkiewicz räumte zu ihren Gunsten ein, dass die anderen Studien der Enquete kaum eine Möglichkeit zur Kritik bieten würden, da
264 265 266 267 268 269
menfassende Besprechung von Herkner (1912), S. 130–134 und S. 136–137. Für Oberschall (1997), S. 207–208, zeigt die Diskussion einen erstaunlichen Mangel an kritischer Betrachtung der erreichten Ergebnisse. Dieses Ergebnis steht im Mittelpunkt des Diskussionsbeitrags von Alfred Weber. Herkner (1912), S. 135–136. Herkner (1912), S. 122–123. Diskussionsbeitrag von Adolph von Wenckstern, in: Verein für Sozialpolitik (1912), S. 159. Diskussionsbeitrag von Hugo Sinzheimer, in: Verein für Sozialpolitik (1912), S. 182–183. Diskussionsbeitrag von Ladislaus von Bortkiewicz, in: Verein für Sozialpolitik (1912), S. 177–178.
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die Bearbeiter sich in der Regel auf eine reine Darstellung des Materials beschränkt hätten. In eine ähnliche Richtung ging die Besprechung von Ernst Bernhard (18??– 19??). Er lobte Bernays’ Studie als „eine ganz ungewöhnliche Leistung“, die mit „emsigen Fleiß“ zusammengetragene und gründliche Erschöpfung des Materials sowie ihre „klugen“ Schlussfolgerungen.270 Was sich mithilfe statistischer Kombinationen und Enqueten überhaupt erreichen lasse, sei von Bernays geleistet worden. Bernhard kritisierte jedoch ihre Verwendung undifferenzierter Begriffe, die kaum zu überprüfende Ermittlung und die häufig zu geringe Aussagekraft des gewonnen Zahlenmaterials.271 Er bemängelte jedoch diejenigen Schlüsse, die Bernays auf der Basis von beschränktem oder schwankendem Zahlenmaterial gezogen hatte. Das „Unsichere, Fragwürdige, Relative“ vieler ihrer Ergebnisse käme dabei nicht genügend zum Ausdruck. Die Exaktheit sei oft nur eine scheinbare und werde durch das Material nicht immer hinreichend begründet. Bei ihrer Behandlung des Stoffes sei zu wenig Zurückhaltung zu spüren.272 Bernhards Kritik machte damit allerdings auch auf generelle Unzulänglichkeiten der Enquete aufmerksam. Bernays selbst hatte sowohl in dieser Untersuchung als auch in daran anschließenden Studien betont, dass es bei ihrer Auswertung nicht darum gehe, „Zusammenhänge beweisen zu wollen“, die eine allgemeine Gültigkeit beanspruchten. Ihre Absicht sei es lediglich, „mit Hilfe außerordentlich kleiner Zahlenreihen auf Punkte hinzuweisen, an denen bei weiterer Arbeit mit viel breiterem Material sich vielleicht ‚wirkliche Resultate‘ ergeben könnten“.273 Bernhard würdigte insbesondere den arbeitswissenschaftlichen Teil von Bernays’ Studie und die „für einen Nationalökonomen vorbildlich durchgeführte Analyse der Arbeitsprozesse“, verwies dabei aber gleichzeitig auch auf die Grenzen ihrer psychophysischen Analyse.274 Bernays’ Ermittlung der Daten über die Arbeitsbelastung und die Ermüdung der ArbeiterInnen hielt Bernhard hingegen für fragwürdig. Denn ihre die Antworten erfassten seines Erachtens – wie bei der Frage nach den Motiven der Berufswahl – eher die persönlichen Stimmungen und Einstellungen als objektive Tatbestände. Selbst „geistige Arbeiter“ seien bei einer vergleichbaren Befragungssituation kaum imstande, „wissenschaftlich brauchbare Angaben über Anstrengung und Ermüdung“ zu machen.275 Bernhard wies damit auf die disziplinären Grenzen der nationalökonomischen Methoden hin, die mit dieser Vereinsenquete überschritten worden seien. Bei solchen Erhebungen sei eigentlich die Mitarbeit anderer Disziplinen, von psychologisch geschulten Fachleuten, Ärzten und Gewerbehygienikern notwendig.276
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In diese Richtung ging auch die Besprechung von Goldschmidt (1911). Vgl. Rummler (1984), S. 234–235. Bernhard, Ernst (1911), S. 375. Bernays (1911a) S. 123. Bernhard, Ernst (1911), S. 385 und S. 394–396. Bernhard, Ernst (1911), S. 394. Bernhard, Ernst (1911), S. 387.
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Knapp zwei Jahrzehnte später griff Clara Maria Mais (19??–19??) die soziologische Fragestellung der Auslese- und Anpassungsstudien in ihrer Dissertation wieder auf und knüpfte dabei an Bernays’ methodische Vorgehensweise an. Mais untersuchte die Prägung von ArbeiterInnen durch ihren Beruf sowie deren Stellung im „sozialen Lebensraum“.277 Wie Bernays arbeitete sie zwei Monate in einer Fabrik und führte dabei eine verdeckte teilnehmende Beobachtung durch. Ihre Fragebogenerhebung und ihre Auswertung der Lohnlisten ergänzte sie durch Gespräche mit dem Betriebsleiter, dem Betriebsrat und mit den Angestellten der Lohnbuchhaltung sowie durch die Teilnahme an Gewerkschafts- und Betriebsversammlungen. Durch ihr viermonatiges Zusammenleben mit den Arbeitern und Arbeiterinnen des Betriebs konnte Mais die Angaben aus den Fragebogen durch eigene Beobachtungen in den arbeitsfreien Zeiten ergänzen und korrigieren. Marie Bernays’ Arbeiten über die Psychophysik der Arbeit waren für die industrielle Sozialforschung sowie für die sich nach dem Ersten Weltkrieg im Kontext der Psychologie entwickelnden Arbeitswissenschaften richtungsweisend.278 Ihr Verdienst war es, als Erste solche „Rentabilitätsprüfungen und -messungen in dieser Gründlichkeit“ vorgenommen zu haben.279 So knüpfte beispielsweise der Psychologe Paul Plaut (1894–1969) mit seiner massenpsychologischen Analyse der Arbeit an die „wissenschaftlich wertvoll[e]“ Studie von Bernays an.280 Bernays’ Untersuchung über die Psychophysik der Textilarbeit stand außerdem Pate für die Hawthorne-Studien (1927–1932).281 Das methodisch Bedeutende an Bernays’ Arbeit ist, dass sie die Arbeitssphäre und die außerberufliche Lebenssphäre als einen Wirkungszusammenhang, als ein Gefüge von Wechselwirkungen thematisiert und diese Perspektive in der Forschung auf Frauen und Männer angewandt hat. Diese Vorgehensweise wurde erst in der Arbeitsforschung der 1990er Jahre wieder berücksichtigt.282
3.2.2 Das weitere wissenschaftliche Werk Der Schwerpunkt von Marie Bernays’ wissenschaftlich-publizistischer Tätigkeit liegt auf den Jahren 1909 bis 1920. In diesem Zeitraum erschienen ihre Untersuchungen und Artikel, die im Rahmen der Auslese- und Anpassungsstudien des VfS entstanden, sowie zwei weitere Monographien: eine bevölkerungswissenschaftliche Studie und eine Geschichte der Frauenbewegung. Ihre Artikel wurden in der Zeitschrift „Die Frau“, in den „Blättern für soziale Arbeit“, im „Archiv für Frauenkunde und Eugenik/Eugenetik“ und in der Zeitschrift „Die Hilfe“ veröf-
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Mais (1928), S. 27. Oberschall (1997), S. 411–412; Raehlmann (1992). F., T. (1913). Plaut (1926), S. 176; vgl. Kern (1982), S. 90ff.; Raehlmann (1988), S. 112. Rummler (1984), S. 239; vgl. hierzu Lepsius (1960). Raehlmann (1992), S. 19.
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fentlicht.283 Sie beschäftigten sich mit der Entwicklung weiblicher Erwerbsarbeit, dem Arbeiterinnenschutz, der beruflichen Bildung von Frauen, der Entwicklung der sozialen Berufsarbeit, der Jugendpflege und der sozialen Kriegsfürsorge. Als DVP-Politikerin schrieb sie über das Frauenwahlrecht und über die politische Stellung und die politischen Aufgaben der Frauen. Obwohl ihre empirischen Untersuchungen wissenschaftlich anerkannt wurden, blieb das „Archiv für Sozialwissenschaft und Sozialpolitik“ die einzige sozialwissenschaftliche Fachzeitschrift, in der Bernays vertreten war. Marie Bernays scheint – anders als Elisabeth Gnauck-Kühne, Gertrud Dyhrenfurth und Rosa Kempf – in der Zeit nach ihrer Promotion außerhalb des Max-Weber-Kreises keine weiteren Kontakte zu Gatekeepern der Scientific Community aufgebaut zu haben. Die dadurch bedingte Abhängigkeit von Max Weber wurde nach dem Bruch mit ihm und Marianne Weber zum Problem. Bernays’ Mitarbeit im „Archiv für Sozialwissenschaft und Sozialpolitik“, das u. a. von Max Weber herausgegeben wurde und in dem sie seit 1910 mit Artikeln und einer Vielzahl von Buchbesprechungen präsent gewesen war, endet 1913 abrupt. Nach ihrer Auseinandersetzung mit Gertrud Bäumer verlor Bernays mit der Zeitschrift „Die Frau“ ihre wichtigste Publikationsmöglichkeit in der bürgerlichen Frauenbewegung. Die „Blätter für soziale Arbeit“, die von Elisabeth Altmann-Gottheiner herausgegeben wurden, und in denen Bernays über die soziale Kriegsarbeit in Mannheim berichtete hatte, stellten ihr Erscheinen 1919 ein. In den 1920er Jahre erschienen Bernays’ Artikel fast ausschließlich in lokalen Tageszeitungen wie dem liberalen „Mannheimer Tagblatt“ und dem nationalliberalen „Mannheimer Generalanzeiger“ sowie in der Parteipresse der DVP. Das Ende von Bernays’ Präsenz in den Zeitschriften der Sozialwissenschaft, der Frauenbewegung und der Sozialreform war größtenteils die Folge ihres Ausschlusses aus dem Weber-Kreis und ihres Streits mit den linksliberalen Frauenrechtlerinnen, durch den sie den Zugang zu Zeitschriften wie „Die Frau“ verlor. Vermutlich spielte dabei aber auch ihre Arbeitsbelastung als Direktorin der Sozialen Frauenschule Mannheim und als Landtagsabgeordnete der DVP eine Rolle. Erst Ende der 1920er Jahre erschienen wieder Beiträge von Bernays, etwa Artikel über die Ausbildung an Wohlfahrtsschulen in einer pädagogischen Fachzeitschrift sowie der bereits erwähnte Artikel über Augustinus. 3.2.2.1 Untersuchungen zur Bevölkerungspolitik und zur Frauenbewegung Die „Untersuchungen über den Zusammenhang von Frauenfabrikarbeit und Geburtenhäufigkeit in Deutschland“ führte Marie Bernays im Auftrag des BDF durch. Sie entstanden noch während ihrer Zeit in Heidelberg, kurz nach dem end283 Bernays (1912c–e; 1914b). Bernays’ Artikel in der Zeitschrift „Die Hilfe“, deren Herausgeber Friedrich Naumann zum Freundeskreis von Max und Marianne Weber gehörte, griffen Aspekte der Auslese- und Anpassungsstudien des VfS sowie ihrer bevölkerungspolitischen Arbeit auf.
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gültigen Scheitern ihrer Habilitationsbestrebungen sowie ihrer Entscheidung, sich an der Gründung der Soziale Frauenschule Mannheim zu beteiligen. Die Arbeit an der Studie hatte Bernays im Juli 1914 abgeschlossen, denn sie war als Diskussionsgrundlage für die Generalversammlung des BDF im Herbst 1914 gedacht. Die Diskussion wurde wegen des Kriegsausbruchs jedoch auf die Kriegstagung des BDF im Jahr 1916 verschoben.284 Erste Ergebnisse der Untersuchung stellte Bernays auf der Tagung des ADF 1914 in Gießen vor.285 Die der Werturteilsfreiheit verpflichtete Arbeit war durch eine soziologische Herangehensweise gekennzeichnet. In einer Vielzahl von Tabellen wertete Bernays regionale, überregionale, nationale und internationale amtliche Statistiken für den Zeitraum 1895 bis 1907 im Hinblick auf die Entwicklung der Frauenerwerbsarbeit und der Geburtenziffern aus. Sie versuchte anschließend, die empirischen Befunde theoriegeleitet zu deuten. Mehrfach knüpfte Bernays dabei an die Teilstudien der Untersuchungen des VfS über Auslese und Anpassung an und bezog deren Ergebnisse zur Frauenarbeit und zu den Geburtenraten in ihre Analyse mit ein.286 Bernays’ Untersuchung war ein Beitrag der Frauenbewegung zur bevölkerungspolitischen Debatte. Nachdem über ein Jahrhundert lang darüber gestritten worden war, wie auf die von Thomas Robert Malthus (1766–1834) in seinem „Essay on the Principle of Population“ (1789) prognostizierte Überbevölkerung bei gleichzeitiger Nahrungsmittelverknappung zu reagieren sei, wurde nun befürchtet, dass durch den seit Ende des 19. Jahrhunderts einsetzenden zunehmenden Geburtenrückgang die wirtschaftliche und militärische Vormachtstellung sowie die nationale stärke Deutschlands gefährdet werde.287 Bis zur Jahrhundertwende war angenommen worden, dass zum Erhalt des Wohlstands eine Geburtenbeschränkung nötig sei. Nun wurde der Geburtenrückgang als soziales Problem diskutiert und nach Schuldigen gesucht.288 Bernays’ Untersuchung war zum Teil eine Antwort auf die statistische Studie des Düsseldorfer Medizinalrats Jean Bernhard Borntraeger (1851–1927), der die Frauen- und die Arbeiterbewegung für die sinkenden Geburtenraten verantwortlich machte und rechtliche Maßnahmen forderte, die ein weiteres Anwachsen dieser Bewegungen eindämmen sollten.289 Bernays widerlegte mit ihrer statistischen Analyse jedoch die Behauptung Bornträgers, dass es einen kausalen Zusammenhang zwischen der Entwicklung der Frauenbewegung und der Frauenerwerbstätigkeit auf der einen und dem Geburtenrückgang auf der anderen Seite gebe. In einem ersten Schritt untersuchte
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Vgl. Bernays (1917a). Bernays (1914c; 1914d). Bernays (1916a), S. 17–18. Vgl. etwa die umfangreiche Sammelrezension von Mombert (1917). Bernays (1917a), S. 93, siehe auch Fürth (1913); Simon, Helene (1915). Zu den bevölkerungspolitischen Positionen der Nationalökonomie im Kaiserreich siehe Dienel (1997), S. 143–152, insbesondere S. 145 und S. 149. Zu den Unterschieden zum französischen Diskurs siehe ebenda, S. 32–44. 289 Borntraeger (1912); vgl. Planert (1998), S. 116; Dienel (1997), S. 218.
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sie, inwieweit sich ein Einfluss der verschiedenen Industrien auf die Gebärfähigkeit der Frauen und damit auf die Geburtenrate nachweisen ließ. Bernays kam bei ihrer Auswertung zu dem Ergebnis, dass sich die Fabrikarbeit statistisch gesehen zwar negativ auf die physische und psychische Gesundheit der Frauen auswirke und deshalb möglichweise auch deren Gebärfähigkeit beeinträchtige. Mit weiteren Berechnungen wies sie jedoch nach, dass dies dennoch nicht als Beweis für einen kausalen Zusammenhang zwischen der Frauenfabrikarbeit und dem Rückgang der Geburtenrate ausreiche.290 Hierfür wertete sie in einer Vielzahl von Tabellen die Entwicklung von Fabrikarbeit, Arbeits- und Geburtenziffern aus. Sie verglich die Entwicklungen in verschiedenen europäischen Ländern, in den Ländern und Provinzen des Deutschen Reichs, in den Regierungsbezirken und schließlich in 22 deutschen Städten. Dabei erfasste sie auch, ob es sich um ländliche oder städtische, landwirtschaftliche oder industrielle Regionen handelte. Ihre Berechnungen zeigten, dass die Bevölkerungsdichte, die Verteilung der Industrie, die Bodenbesitzverhältnisse, die Form des bäuerlichen Erbrechts und selbst die klimatischen Bedingungen statistisch gesehen einen größeren Einfluss auf die Höhe der Geburtenziffer hatten als die Fabrikarbeit der Frauen.291 In einem weiteren Schritt überprüfte Bernays verschiedene Rationalisierungsansätze, die den Rückgang der Geburtenrate als eine bewusste Regulierung der Kinderzahl oder als Rationalisierung des Sexuallebens interpretierten. Dabei setzte sie sich vor allem kritisch mit dem Ansatz des Ökonomen Julius Wolf (1862– 1937) auseinander, der davon ausging, dass sich die Höhe der Geburtenrate allein durch die Konfessionszugehörigkeit erklären ließ. Nach Wolfs Interpretation der Bevölkerungsstatistik gab es in den protestantischen Bevölkerungsgruppen Deutschlands eine niedrigere Geburtenrate, weil der Protestantismus unter den Konfessionen am ehesten für Rationalisierung und Modernisierung stand.292 Bernays stellte diese Behauptung in Frage und wies darauf hin, dass nicht nur für die katholische Kirche, sondern auch für den Altprotestantismus und für Luther der alleinige Zweck der Ehe in der Erzeugung von Kindern liege. Mit ihrer statistischen Auswertung belegte sie, dass sich die Geburtenhäufigkeit nicht monokausal erklären ließ, weder durch die Frauenfabrikarbeit noch durch die Konfessionszugehörigkeit. Nicht die katholische Religionszugehörigkeit allein, sondern nur die „in der Gesamtstellung zum Leben ruhende wirtschaftliche Situation der Katholik[inn]en“ könne „als direkte Ursache ihrer höheren Fruchtbarkeit“ angesehen werden.293 Sowohl die soziale und ökonomische Struktur der katholischen und evangelischen Bevölkerungsgruppen in Deutschland als auch deren Siedlungsweisen seien sehr verschieden und müssten daher als weitere Einflussfaktoren berücksichtigt werden. Nur so ließe sich erklären, dass das überwiegend protestanti-
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Bernays (1916a), S. 16 und S. 53. Bernays (1916a), S. 38–39, S. 61 und S. 71. Vgl. auch Bernays (1914b), S. 170. Bernays (1916a), S. 90–94.
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sche Württemberg und das zu zwei Dritteln katholische Baden fast dieselbe Geburtenrate hätte. Vielversprechende Erklärungsansätze für die Entwicklung der Geburtenrate, mit denen sich auch der Geburtenrückgang in der Arbeiterschaft erklären ließ, waren für Bernays die Wohlstandstheorien von Lujo Brentano und Paul Mombert (1876–1938). Diese gingen davon aus, dass eine hohe Kinderzahl den Wohlstand einer Familie gefährde und werteten deshalb den Rückgang der Geburtenziffer als Ausdruck einer bewussten und rationalen Entscheidung für Geburtenkontrolle. Nicht die wirtschaftliche Notlage führe dazu, dass die Familien weniger Kinder bekämen, sondern der Wunsch nach einem sozialen Aufstieg oder die Angst vor einem sozialen Abstieg führe umgekehrt zu einer bewussten Geburtenkontrolle. Dass der Geburtenrückgang und die Geburtenkontrolle nicht nur beim Bürgertum, sondern auch bei der Arbeiterschaft feststellbar sei, sei ein Beleg für die Differenzierung des Proletariats.294 Für Bernays war die Geburtenbeschränkung „Zeichen einer zunehmenden Zivilisation der Arbeiterschaft (…), einer stärkeren Fähigkeit der Selbstbeherrschung, einer rationelleren Denkweise“.295 Bernays knüpfte dabei an die Auslese- und Anpassungsstudien von Rosa Kempf und Dora Landé an, die eine bewusste Geburtenkontrolle bei der Arbeiterschaft ebenfalls aus dem Blickwinkel der Wohlstandstheorien diskutiert hatten.296 Sowohl Bernays’ Auswertung als auch die Ergebnisse von Kempf und Landé zeigten, dass nicht die Höhe des Einkommens der Männer ausschlaggebend für den Wohlstand der Familien war, sondern ob die Ehefrauen berufstätig waren oder nicht. Das wiederum war abhängig von Anzahl und Alter der im Haushalt lebenden Kinder. Innerhalb der Arbeiterklasse seien es, so Bernays, die „gescheiten und geschickteren, höher entlohnten“ ArbeiterInnen, die „durch Einschränkung der Kinderzahl die einmal erreichte höhere Lebensgestaltung“ behaupten wollten.297 Bernays’ Arbeit wurde in verschiedenen sozialwissenschaftlichen Fachzeitschriften besprochen. Für Paul Mombert zeichnete sich die Untersuchung dadurch aus, dass Bernays „nur mit großer Vorsicht irgendwelche Schlüsse über den Zusammenhang von Frauenfabrikarbeit, Geburtenhöhe und Geburtenrückgang“ gezogen habe sowie durch die „Objektivität und wissenschaftliche Ruhe“, mit der sie die sonst sehr emotional diskutierte Frage behandelt habe.298 Bernays griff die Ergebnisse ihrer Studie nach der Veröffentlichung noch mehrfach in Vorträgen und Aufsätzen auf.299
294 295 296 297 298
Bernays (1914b), S. 170 Bernays (1916a), S. 102 und S. 107. Bernays (1916a), S. 17–18. Bernays (1916a), S. 102–107. Mombert (1917), S. 989; siehe auch Prinzing (1916). Zum unsachlichen Stil der Debatte siehe Bernays (1914b), S. 169. 299 Bernays (1914b; 1915i; 1916b; 1917d).
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3.2.2.2 „Denkschrift über die soziologischen Verhältnisse des Gebiets Spelzengärten in Mannheim“ Anfang der 1930er Jahre führte Marie Bernays noch einmal eine größere empirische Untersuchung durch, bei der sie – wie schon bei der Erhebung über „Kinderreiche Familien in Mannheim und ihre Wohnungen“ (1918) – die Abschlussklasse der Sozialen Frauenschule Mannheim mit einbezog.300 Die Studie über die sozialen Verhältnisse des Gebiets „Spelzengärten“ in Mannheim bildete die Grundlage für eine gutachterliche Stellungnahme im Auftrag der Stadt Mannheim. Das als Wohngebiet genutzte, zentral gelegene Gartengelände im Stadtteil Neckarstadt wurde von den städtischen Behörden als „besonderes soziologisches und soziales Problem“301 angesehen. Denn das Gebiet war zwar eine von mehreren sogenannten „wilden Siedlungen“, jedoch eine besonders große, die weit über die Stadt hinaus bekannt war. Die Siedlung war in den 1920er Jahren auf 0,25 km2 angewachsen und umfasste zwölf Reihen mit Hütten und kleinen Häusern, die ohne Baugenehmigung errichtet worden waren; um 1930 lebten dort ca. 650 Menschen. Ein Teil der Spelzengärten bestand aus alten Schrebergärten und soliden Gebäuden, die den Eindruck einer idyllischen Kleinartensiedlung erweckten. Der andere Teil bestand jedoch aus „wackelig[en] Bretterverschläg[en]“302. Es handelte sich dabei um kleine, dunkle, feuchte und behelfsmäßige Konstruktionen, die aus zufällig gefundenem Baumaterial zusammenflickt worden waren und die weder über Strom noch über fließendes Wasser verfügten. Die städtischen Behörden erhofften sich von Bernays’ Gutachten eine empirisch fundierte Einschätzung der sozialen Verhältnisse – vor allem der dort lebenden Kinder und Jugendlichen – sowie eine Empfehlung, wie diese Wohnweise zu beurteilen sei und ob die Siedlung weiterhin geduldet oder aber geräumt werden sollte.303 „Wilde Siedlungen“ wie die in den Spelzengärten waren eine Folge der hohen Arbeitslosigkeit, der Wohnungsnot in den Städten und der Verdrängung von einkommensschwachen Personengruppen vom Wohnungsmarkt. Solche Siedlungen seien, so Bernays in ihrer Einleitung, keinesfalls spezifisch für Mannheim, sondern vielmehr ein internationales Phänomen: „Die ständig sich verschlechternde wirtschaftliche Lage der Nachkriegszeit, der in allen Ländern auftretende Wohnungsmangel und die zunehmende Arbeitslosigkeit haben in ihrem Gefolge Probleme geschaffen, die die Jahre vor dem Kriege bei aller auch damals vorhandenen sozialen Not nicht kannten. Zu diesen Problemen, auf die man in Kulturländern immer stärker die Aufmerksamkeit zu richten beginnt, gehören auch die sog. ‚wilden Siedlungen‘, d. h. selbstgewählte Niederlassungen armer, arbeitsscheuer, auch zum Teil verbrecherischer Menschen [sic!], die sich auf nicht erschlossenen Gebieten, oft in früheren Schrebergärten ansie-
300 301 302 303
Siehe Kapitel III 3.1.4 der vorliegenden Arbeit. Bernays (1931), S. 1. Bernays (1931), S. 4 Bernays (1931), S. 2
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III Die Promovendinnen deln. ‚Kleine Leute, die durch die steigende Teuerung der Miete aus der Stadt vertrieben wurden und die sich nicht den Luxus gestatten können, ein richtiges Haus zu bewohnen.‘“304
Für das Gutachten führte Bernays mit ihren Schülerinnen eine aufwendige Feldforschung durch, bei der vor allem leitfadengestützte Interviews zum Einsatz kamen. Die Schülerinnen der Sozialen Frauenschule Mannheim scheinen problemlos „mit den Leuten ins Gespräch“ gekommen zu sein, was vermutlich an der engmaschigen Betreuung durch Bernays lag. Die BewohnerInnen der Spelzengärten gaben bereitwillig Auskunft, mischten sich mit Kommentaren in die Befragung ihrer Nachbarn ein und waren bereit, ihre Wohnungen zu zeigen.305 Die Befragten scheinen den Schülerinnen der Sozialen Frauenschule vertraut zu haben. Die wenigen, die misstrauisch reagierten und keine Auskünfte geben wollten, befürchteten, dass es darum ginge, ihnen „das Kind abzulausen“, d. h. es durch die Fürsorgestelle in einem Heim unterzubringen. Bernays ergänzte die durch die Interviews gewonnen Daten durch die Befragung von MitarbeiterInnen der Einrichtungen, die mit den Spelzengärten zu tun hatten. Dazu gehörten der benachbarten katholischen Kindergarten, die Fürsorgestelle und die Polizei. Bernays bezog Gutachten (die z. B. der Kindergarten erstellt hatte) mit ein und nahm Einsicht in Stadtpläne, Einwohnermeldebücher und Polizeiakten. Außerdem wurden die Wohnverhältnisse fotografisch dokumentiert.306 Im ersten Teil des Gutachtens stellte Bernays die demografischen Daten der erfassten BewohnerInnen dar: ihre soziale und geographische Herkunft, wie viele von ihnen erwerbstätig, arbeitslos oder Rentner waren und wie ihr Gesundheitszustand war. Die meisten der 646 BewohnerInnen kamen aus Mannheim; 171 waren unter 14 Jahre alt, von den über 14-Jährigen waren 254 Männer und 221 Frauen. Es handelte sich also überwiegend um Familien, die weniger als drei Kinder hatten und die in sogenannten „Vollfamilien“ lebten – und damit in für die damalige Zeit „familienmäßig normalen Verhältnissen“.307 Sie waren jedoch aus den verschiedensten Gründen obdachlos geworden und hatten in den Spelzengärten eine Zuflucht gefunden hatten. Im zweiten Teil ihrer Denkschrift stellte Bernays die Vielfalt der Lebensweisen und der Wohnverhältnisse dar. Sie betrachtete etwa die Besiedlungsdichte der einzelnen Reihen, den baulichen Zustand der Behausungen und wie viele Personen in einem Haushalt lebten. Ihre Auswertung zeigte, wie groß die Unterschiede zwischen den einzelnen Unterkünften waren und dass „selbst unter einer so ärmlichen Bevölkerung“ (…) immer noch „große soziale Unterschiede“ hervortraten.308
304 Bernays (1931), S. 1. Bernays zitierte hier aus der damals populären Studie „Christus in der Bannmeile. Berichte über das kirchliche Leben der Arbeiterbevölkerung der Bannmeile von Paris“ (1927; das französische Original erschien 1926) des Jesuitenpaters Pierre Lhande (1877–1957). 305 Bernays (1931), S. 8. 306 Siehe dazu Abbildung 33 im Bildanhang. 307 Bernays (1931), S. 6. 308 Bernays (1931), S. 15.
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Die Unterkünfte reichten von „behaglichen und netten Behausungen“ bis hin zu „Elendshüten und Elendshöhlen“, in denen die „Kinder im Winter in Säcke gewickelt werden“ mussten, weil es an Heizmöglichkeiten fehlte.309 Ein Schwerpunkt von Bernays’ Darstellung lag auf der Lage der Kinder. Trotz der problematischen Wohnsituation und der schlechten hygienischen Bedingungen gab es laut der Schularztstelle und der Gutachten des Kindergartens bei der körperlichen Entwicklung der Kinder keine nennenswerten Unterschiede zu (armen) Kindern aus anderen Wohngebieten. Für Bernays waren diese Gutachten allerdings nur bedingt aussagekräftig, denn sie beantworteten nicht die Frage, wie die Kinder selbst, „bewusst oder unbewusst“, dieses „Elend“ erlebten und wie sich „Armut, verbunden mit diesen außergewöhnlichen Lebensverhältnissen“ auf die psychische und emotionale Entwicklung der Kinder auswirkte.310 Die BewohnerInnen waren nicht nur danach gefragt worden, wie lange sie dort schon in den Spelzengärten lebten, sondern auch nach den Gründen dafür und ob sie mit ihrer Wohnsituation zufrieden waren oder diese verändern wollten. Durch die bildhaften Beschreibungen von Bernays vermittelte das Gutachten einen sehr lebensnahen Eindruck sowohl der positiven als auch der negative Aspekte des Lebens in der Siedlung: „Betritt man an einem schönen Frühlingtage die ‚Spelzengärten‘ in einer reich mit Gärten versehenen, besser gehaltenen Reihe, so kann man im ersten Augenblick nur zu gut verstehen, dass die Menschen eine solche Wohnweise den trüben Stadthäusern vorziehen. Fliederbäume hängen über den Weg, Frühlingsblumen blühen in den Gärten (…). Aber anders ist es schon im Sommer, wo die drückende Hitze in Folge der außerordentlich schlechten sanitären Verhältnisse schlechte Gerüche aller Art aufsteigen lässt (…). Aber dieses Bild ist noch schön gegenüber den Verhältnissen im Winter, wo (…) die Leute sich hinter ihren Bretter- und Steinwänden bei armseligen kleinen Öfchen zusammendrängen und sich vor dem Winde zu schützen suchen, der durch die Ritzen der Bretterhütten dringt und auch in den Steinbauten die Feuchtigkeit nicht auszutrocknen vermag.“311
Durch Bernays’ Darstellung lässt sich nachvollziehen, wieso der überwiegende Teil der Befragten – zwei Drittel – mit der Wohnsituation zufrieden war und lediglich ein Drittel der BewohnerInnen von dort wegziehen wollte. Indem Bernays direkt aus den Antworten zitierte und dabei auch den Dialekt nicht „übersetzte“, ließ sie die BewohnerInnen für sich selbst sprechen. So beispielsweise einen Mann, der auf die ungerechte Verteilung von Armut und Reichtum hinwies: „Wisse se, wo mer all die Leut hi(n) setze könnt, die wo hier heraus wohne? (…) Ins Palaschthotel soll mer se setze, da ist Platz, ins Palaschthotel soll mer se setze.“ Gefragt, was die Leute denn dort sollten, meinte er: „Sell weiss ich auch net, aber da is Platz.“312
309 310 311 312
Bernays (1931), S. 15–16. Bernays (1931), S. 28. Bernays (1931), S. 3. Bernays (1931), S. 8.
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III Die Promovendinnen
Marie Bernays kam zu dem Ergebnis, dass BewohnerInnen, die wegziehen wollten, bei der Wohnungssuche unterstützt werden sollten. Es waren überwiegend die Ärmsten, die als Mieter oder Untermieter unter besonders schlechten Bedingungen lebten. Die Mehrheit der BewohnerInnen aber, die weiter in den Spelzengärten bleiben wollte, solle nicht zwangsweise umgesiedelt werden. Stattdessen solle ihre Wohnbedingungen verbessert werden, etwa durch das Anlegen einer Kanalisation. Es handelte sich bei diesen BewohnerInnen meist HauseigentümerInnen, die schon länger dort lebten und ihren Freiraum nicht aufgeben wollten. Hierzu gehörten viele alte Menschen, die sich in ihren kleinen Häuschen und Gärten mit Obstbäumen und Fruchtsträuchern eingerichtet hatten. Sie schätzten die Ruhe, die frische Luft und die Möglichkeit, Tiere zu halten. Für sie hätte selbst eine finanzierbare Wohnung eine Verschlechterung ihrer Wohnsituation bedeutet. Das Bemerkenswerte an Bernays’ gutachterlicher Stellungnahme war ihre ausdrückliche Empfehlung, die Wünsche der Betroffenen bei der Entscheidungsfindung zu berücksichtigen. Das entspricht dem erst viel später entstandenen Konzept der Lebensweltorientierung, wonach Hilfe dann erfolgreich ist, wenn sie gemeinsam mit den Betroffenen entwickelt wird.313 „Auch bei der Sanierung der Spelzengärten“ dürfte man, so Bernays, „die psychologischen Motive, die die Leute dort festhalten, nicht übersehen“, sondern müsse „ihnen Rechnung tragen“ und „mit allen Kräften dahin streben (…), dass die dort bestehenden unmöglichen Lebensverhältnisse beseitigt und durch bessere ersetzt werden“.314 Bernays’ Denkschrift vermittelt einen Eindruck des sozialen Raums der Spelzengärten und kann deshalb als eine soziographische Arbeit sowie als eine frühe Form einer Gemeindestudie angesehen werden. Als empirische Studie entspricht sie mehr den – in der Tradition der Historischen Schule der Nationalökonomie stehenden – Arbeiten von Gertrud Dyhrenfurth und Rosa Kempf als Marie Bernays’ eigenen Auslese- und Anpassungsstudien, denn sie enthält eindeutig sozialpolitische Bewertungen und Empfehlungen, ist also nicht werturteilsfrei. Die Studie zeichnet sich durch einen für damalige Zeit verhältnismäßig unvoreingenommenen Blick aus, mit dem die bürgerliche Forscherin die Wohnsituation in der „wilden Siedlung“ dargestellt hat. Wie innovativ diese Arbeit war, lässt sich daran ablesen, dass in Mannheim erst Anfang der 1970er Jahre wieder eine vergleichbare Studie am Lehrstuhl für Sozialpsychologie der Universität Mannheim durchgeführt wurde – über die sogenannten Benz-Baracken in Waldhof-Ost, in unmittelbarer geographischer Nähe zu den Spelzengärten. Die Erhebung der Sozialen Frauenschule Mannheim entstand etwa zur gleichen Zeit wie die umfangreichen, von Alice Salomon angeregten „Forschungen über Bestand und Erschütterung der Familie in der Gegenwart“ der Deutschen Akademie für soziale und pädagogische Frauenarbeit, von denen bis 1933 insge-
313 Zum Konzept einer lebensweltorientierten Sozialen Arbeit siehe z. B. Thiersch (2005). 314 Bernays (1931), S. 40,
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samt 13 Bände erschienen.315 Auch dieses Forschungsprojekt verband methodische Herangehensweisen der Historischen Schule der Nationalökonomie mit einem soziologischen Erkenntnisinteresse. An der Erhebung beteiligten sich viele Praktikerinnen der Sozialen Arbeit; auf Grundlage der durch teilnehmende Beobachtung und qualitative leitfadengestützte Befragungen erhobenen Daten erstellten sie 182 Fallstudien zu Familien, die typische Ausschnitte aus dem sozialen Leben verschiedener Bevölkerungsgruppen abbildeten.316 Gertrud Bäumer hatte noch vor dem Ersten Weltkrieg die Hoffnung geäußert, dass für die Nationalökonomie „die Vorteile der weiblichen Forschung für bestimmte Fragen“ relevanter werden würden, gerade weil die Nationalökonomie „mehr und mehr die wirtschaftlichen Dinge von soziologischen Gesichtspunkten [aus] betrachtet und sich dadurch mit der Sozialpsychologie verschwistert“. Bäumer hoffte weiter, dass dadurch auch die Beteiligung von Frauen und ihr Beitrag zur Wissenschaftsentwicklung sichtbarer werden könnten.317 Ihre Hoffnungen erfüllten sich jedoch nicht. Während der Weimarer Republik entstand an den Universitäten zwar eine Vielzahl von empirischen sozialen Studien, und häufig waren es Frauen, die im Rahmen ihrer Dissertationen zur Entwicklung und zur Situation der Frauenarbeit in Industrie und Handel oder zu fürsorgewissenschaftlichen Themen forschten. Wie bei den hier vorgestellten Pionierinnen zeichneten sich auch die Untersuchungen der Promovendinnen in den 1920er Jahren durch eine aufwendige empirische Herangehensweise aus. Anders als bei den Pionierinnen wurden ihre Arbeiten jedoch nur äußerst selten rezensiert und somit von der sozialwissenschaftlichen Community kaum wahrgenommen. In der DGS, im VfS oder in der theoretisch ausgerichteten Soziologie, die sich im Verlauf der 1920er Jahre an den Universitäten in Deutschland etablierte, spielte die Sozialforschung kaum mehr eine Rolle, erst um 1930 nahm das Interesse an empirischen Untersuchungen wieder zu. In Wien entstand unter dem Einfluss von Karl Bühler (1879–1963) und Charlotte Bühler (1893–1974) ein erstes deutschsprachiges Zentrum empirisch-sozialpsychologischer Forschung (Österreichische Wirtschaftspsychologische Forschungsstelle), in dessen Rahmen die berühmte Studie über „Die Arbeitslosen von Marienthal“ durchgeführt wurde.318 Auch in Deutschland waren es außeruniversitäre Einrichtungen in Köln (Forschungsinstitut für Sozialwissenschaften) und Frankfurt am Main (Institut für Sozialforschung), die seit Ende der 1920er Jahre empirische Methoden für soziologische Gegenwartsdiagnosen heranzogen und größere Forschungsprojekte realisierten. Sie glichen damit ein strukturelles Defizit des akademischen Wissenschaftsbetriebs aus, ohne dass sich
315 Siehe z. B. Salomon/Baum (1930). Zur Bedeutung der Studien über Bestand und Erschütterung der Familie in der Gegenwart siehe Feustel (2006), S. 47, zum Beitrag dieser Erhebung zur Methodenentwicklung siehe Hoff (2011). 316 Lauterer (2004), S. 102–104. 317 Bäumer (1914a), S. 157. 318 Maus (1973), S. 45.
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III Die Promovendinnen
grundlegende Veränderungen in der Struktur der Universitäten oder der Organisation der Forschung vollzogen.319 3.3 Zwischenresümee Marie Bernays’ empirische Studien wurden im Laufe der 1980er Jahre von den Arbeiten zur Geschichte der empirischen Sozialforschung wiederentdeckt. Ihre Mönchengladbach-Studie wird heute sowohl zu den Klassikern der Industriesoziologie als auch der Arbeitswissenschaft gerechnet. Bernays Orientierung an den methodischen Vorgaben Max Webers führte jedoch dazu, dass ihr eigenständiger Beitrag kaum oder gar nicht wahrgenommen und sie häufig auf die Rolle von Webers Lieblingsschülerin reduziert wurde. In Marie Bernays’ Biographie wird ihre doppelte Ausgrenzung sichtbar: ihre Ausgrenzung als Frau in der Wissenschaft und ihre gesellschaftliche Ausgrenzung während der NS-Zeit aufgrund ihrer jüdischen Herkunft. Trotz ihrer erfolgreichen Arbeit und trotz der gesellschaftlichen Anerkennung als Direktorin der Sozialen Frauenschule Mannheim und als DVP-Politikerin scheint Bernays eine etablierte Außenseiterin, eine Paria, geblieben zu sein. Mit ihrem Interesse am Katholizismus und an einer Konversion orientierte sich Bernays zudem in Richtung einer Religion, die im protestantisch dominierten Deutschland der Weimarer Republik noch mit einem Außenseiterstatus behaftet war. Den endgültigen Schritt des Glaubenswechsels vollzog Bernays allerdings erst, nachdem sie in der NS-Zeit wegen ihrer jüdischen Herkunft ausgegrenzt und ihr nicht nur ihre berufliche, sondern auch ihre mühsam erkämpfte gesellschaftliche Stellung genommen worden war. Marie Bernays’ Lebensziel war eine wissenschaftliche Laufbahn; als sie das nicht realisieren konnte, wählte sie ein neues, für sie naheliegendes Ziel: die Leitung einer Sozialen Frauenschule. Aus der Perspektive der Geschichte akademischer Karrieren von Frauen vor 1933 fällt auf, wie ehrgeizig und mutig Bernays’ Habilitationsbestrebungen zu diesem frühen Zeitpunkt waren. Denn noch nach dem Ersten Weltkrieg gelang Frauen der Eintritt in die Wissenschaftsgemeinschaft vor allem über außeruniversitäre Zugänge.320 Zwar wurde zu Beginn der Weimarer Republik Frauen das Habilitationsrecht zugestanden, die Habilitation als formale Voraussetzung für eine Hochschullehrerlaufbahn blieb für Frauen jedoch weiterhin eine nahezu unüberwindbare Hürde und ein „Holzweg in den Beruf“.321
319 Schuster (1987), S. 214–216. Zu den Ansätzen kontinuierlicher institutionalisierter außeruniversitärer Sozialforschung während der Weimarer Republik siehe Kern, Horst (1982), S. 129– 179. 320 Wobbe (1997), S. 16. 321 Huerkamp (1988), S. 213–215; vgl. Boedeker/Meyer-Plath (1974). Bis 1933 konnten sich 62 Frauen habilitieren. Von diesen lehrten 23 als außerordentliche oder nicht beamtete Professorinnen unter sehr prekären Bedingungen. Auf einen Lehrstuhl wurden nur zwei Frauen beru-
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In Baden gelang es vor 1933 nur zwei Nationalökonominnen, den Titel „Professor“ zu erlangen, allerdings nicht an einer der beiden Universitäten des Landes, sondern an der weniger angesehenen Handelshochschule Mannheim. Eine davon war Elisabeth Altmann-Gottheiner, eine Kollegin von Marie Bernays an der Sozialen Frauenschule Mannheim. Altmann-Gottheiner hatte in London, Berlin und Zürich studiert und 1904 in Zürich promoviert. 1908 fand sie als erste weibliche Lehrbeauftragte in Deutschland eine Anstellung an der neu gegründeten Handelshochschule Mannheim, an der ihr Mann, Samuel Paul Altmann (1878–1933), seit dem Wintersemester 1907/08 als nebenamtlicher Dozent lehrte. 1924 wurde Elisabeth Altmann-Gottheiner die Amtsbezeichnung „ordentlicher Professor“ verliehen.322 Das Verfahren war kumulativ; sie hatte keine Habilitationsschrift verfasst, sondern ihre Qualifikation über eine Vielzahl wissenschaftlicher Publikationen nachgewiesen. Sally Altmann war auch der Mentor von Käthe Bauer-Mengelberg (1894–1968). Er betreute ihre Dissertation an der Universität Heidelberg und ab dem Wintersemester 1919/20 wurde sie für drei Jahre seine Assistentin an der Handelshochschule Mannheim. Dort reichte Käthe Bauer-Mengelberg im Wintersemester 1922/23 ihre Habilitationsschrift ein. Ihre Antrittsvorlesung im Mai 1923 hielt sie zum Thema „Die liberalen Tendenzen in der ökonomischen Theorie des Sozialismus“. Bauer-Engelberg erhielt eine an die Handelshochschule Mannheim gebundene Venia Legendi. 1930 wurde sie vom Preußischen Staatsministerium für Handel und Gewerbe zur Professorin am Berufspädagogische Institut in Frankfurt am Main ernannt, wo sie bis zur ihrer Vertreibung durch die Nationalsozialisten 1934 Politische Ökonomie, Soziologie und Sozialtheorie lehrte. Gerade die beiden badischen Universitäten Freiburg und Heidelberg, die in Fragen der Frauenbildung eigentlich eine durchaus liberale Haltung vertraten, zeigten sich äußerst hartnäckig in der strukturellen Behinderung weiblicher akademischer Karrieren; das belegt nicht nur das Beispiel von Edith Stein. Die Berliner Universität ließ in den 1920er Jahren dagegen vergleichsweise viele Wissenschaftlerinnen zur Habilitation zu.323 Dabei galt in Baden im Gegensatz zu Preußen formalrechtlich kein Habilitationsverbot für Frauen, was allerdings kein Ausdruck der liberalen Haltung Badens war. Die Universitäten des Landes hatten einfach noch kein Habilitationsgesuch einer Frau an das Kultusministerium weitergereicht, weshalb von Seiten des Ministeriums kein Klärungsbedarf bestand. In Baden hatten Frauen auf der Hilfskraft- und Assistentenebene seit Anfang des Jahrhunderts Eingang in die Universität gefunden, sofern das Kultusministerium zustimmte. Die erste – und während des Kaiserreichs einzig – belegte Anfrage, die wegen der Habilitation einer Frau an das badische Ministerium gerichtet wurde, stammt aus dem Jahr 1917. Da die von der Heidelberger Universität kommende Anfrage allerdings sehr unkonkret gehalten war, fiel auch die Antwort des Minisfen: die Agrikulturchemikerin Margarethe von Wrangell (1877–1932) und die nicht habilitierte Pädagogin und Soziologin Mathilde Vaerting (1884–1977). 322 Zu Elisabeth Altmann-Gottheiner und Käthe Bauer-Mengelberg siehe z. B. Gwinner (1993). 323 Vgl. z. B. Vogt (2007; 2001); Marggraf (2001)
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III Die Promovendinnen
teriums lapidar und allgemein aus: Es teilte als „vorläufigen Standpunkt“ lediglich mit, dass dieser „kein grundsätzlich ablehnender“ sei.324 Bis 1945 nahmen an der Heidelberger Universität überhaupt nur zwei Frauen die Hürde der Zulassung zur Habilitation.325 Alfred Weber, Bernays’ Doktorvater, nahm zwar als Professor an der Heidelberger Universität einige Doktorandinnen an, eine Habilitation von Frauen lehnte er jedoch weiterhin strikt ab. Noch 1926 trug er dazu bei, dass der Habilitationsversuch der Germanistin Melitta Gerhard (1891–1981) an der Heidelberger Universität scheiterte.326 Dieser Habilitationswunsch war erneut beispielhaft dafür, dass dort, wo es um theoretische wissenschaftliche Leistung und Anerkennung ging, der Konkurrenzund Legitimationsdruck für Frauen enorm hoch war. Dabei wurde die Selbstbeurteilung von Frauen immer noch von einer „Inferioritätssuggestion“ bestimmt.327 Diese verhinderte nicht nur, „dass zweifellos begabte Frauen zu entsprechenden Leistungen“ gelangten, sondern erzeugte vielmehr „die Neigung, auch tatsächlich Geleistetes zu verkleinern, zu verstecken, nicht zur Grundlage der Weiterarbeit zu machen“.328 Das Dilemma der Integration in ein männliches Leistungssystem war den Wissenschaftlerinnen der damaligen Zeit durchaus bewusst; jedoch gab es zwei Aspekte, die es ihnen schwer machten, sich darin zu bewegen: Zum einen ihre idealisierte Auffassung eines „objektiven“ Wissens, das allerdings fast ausschließlich von einem männlich bestimmten Wissenschaftssystem verwaltet wurde. Und zum anderen ihre eigene Annahme von der angeblichen Existenz einer geschlechterdifferenten wissenschaftlichen Eignung. Nur so ist zu verstehen, dass die Maßstäbe, die die Wissenschaftlerinnen an sich selbst und an andere Frauen anlegten, nicht streng genug sein konnten. Nach dem Ersten Weltkrieg war die „weibliche Eigenart“, die Frauen vor 1900 paradoxerweise die Tür zur Wissenschaft geöffnet hatte, nicht mehr gefragt. Ein Kriterium für wissenschaftliche Qualität war nun, dass nichts „Weibliches“ mehr sichtbar sein sollte.329
324 Scherb (2002), S. 127. 325 Die Botanikerin Gerta von Ubisch (1882–1965) wurde 1923, die Zahnmedizinerin Elsbeth von Schnizer (18?? –19??) 1932 habilitiert. Zu Ubisch siehe Baader, Meike Sophia (1995), S. 452–453; vgl. auch Hosseinzadeh (1998). 326 Vgl. Demm (1999), S. 63. 327 Siehe z. B. Altmann-Gottheiner (1931), S. 218. 328 Kaiser-Harnisch (1924/25), S. 86. 329 Störmer (1985), S. 84–85; vgl. Weyrather (2003), S. 220–221.
IV SCHLUSS Die vorliegende Arbeit erweitert das bisher kaum vorhandene Wissen über die Biographien und das Werk von Elisabeth Gnauck-Kühne, Gertrud Dyhrenfurth, Rosa Kempf und Marie Bernays, die während der Zeit des Wilhelminischen Kaiserreichs entscheidende Beiträge zur empirischen Sozialforschung geleistet haben. Trotz der schwierigen Quellenlage ist es gelungen, die Entstehungskontexte ihrer Sozialforschung sowie die Wechselwirkungen zwischen ihrer Sozialforschung und der zeitgenössischen Wissenschaft, Politik und Gesellschaft herauszuarbeiten. Alle vier Pionierinnen sind beeindruckende Beispiele für die eingangs zitierten Anmerkungen von Viola Klein über die Affinität zwischen den ersten Akademikerinnen und den Anfängen der Soziologie. Ihre empirischen Hauptwerke entstanden im Austausch mit tonangebenden Vertretern der Nationalökonomie. Bei Gnauck-Kühne war das Gustav Schmoller, bei Dyhrenfurth Max Sering, bei Kempf Lujo Brentano und bei Bernays waren es Max und Alfred Weber. Die vier Akteurinnen führten ihre Untersuchungen am Schnittpunkt von Sozialer Arbeit und Sozialpolitik durch und waren in die Strukturen und Organisationen der bürgerlichen und konfessionellen Frauenbewegungen, der sozialliberalen Gewerkund Bildungsvereine sowie der bürgerlichen und konfessionellen Sozialreform eingebunden. Der Vergleich der vier Pionierinnen zeigt, dass sich die Entstehungskontexte der Sozialforschung von Frauen in der Zeit von Mitte der 1890er Jahre bis 1910 auf drei Ebenen verändert haben: Auf der wissenschaftlichen Ebene sticht vor allem der Werturteilsstreit heraus, bei dem eine werturteilsfreie Vorgehensweise gefordert und der Sozialforschung der Historischen Schule der Nationalökonomie Unwissenschaftlichkeit unterstellt wurde, da sie die wissenschaftliche Analyse nicht von der sozialpolitischen Bewertung trenne. In dieser Tradition standen jedoch die Arbeiten von Gnauck-Kühne und Dyhrenfurth ebenso wie die Arbeiten von Kempf. Nach 1910 wurde in sozialwissenschaftlichen Studien zwar ein zumindest rhetorischer Bezug auf die werturteilsfreie Herangehensweise üblich, Bernays war jedoch eine der Wenigen, die (anhand der Psychophysik) Max Webers Vorstellungen einer werturteilsfreien Enquete und des damit verbunden Forschungsinteresses konsequent umgesetzt hat. Ihre Arbeiten sind eindrückliche Belege für den methodischen Bruch, der die bis dahin gängigen Methoden und Erkenntnisinteressen der Sozialforschung von der an Max Weber orientierten Herangehensweise trennte. Denn deren Erkenntnisinteresse galt nicht mehr den sozialen Rahmenbedingungen der Arbeit, sondern der Frage, durch welche Faktoren die physikalisch messbare Arbeitsleistung beeinflusst wird. Die zweite Ebene, auf der sich die Entstehungskontexte verändert hatten, stellen die organisatorischen Bezugspunkte der Forschung dar. Die Vereine der konfessionellen und ländlichen Sozialreform – insbesondere der ESK –, die für die Sozialforschung
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IV Schluss
von Gnauck-Kühne und Dyhrenfurth noch wichtige Bezugspunkte gewesen waren, hatten für Kempf und Bernays hingegen keine Bedeutung mehr. Die dritte Ebene stellen schließlich die inhaltlichen Schwerpunkte dar. Die Studien von Gnauck-Kühne und Dyhrenfurth waren durch einen Pathos der „Entdeckung“ der fremden Welt der Arbeiterinnen gekennzeichnet und beschäftigten sich mit der Frage nach der Organisierung der Arbeiterinnen. Diese beiden Aspekte spielten bei Kempf und Bernays ebenfalls keine Rolle mehr. Dagegen zeichnet sich in Kempfs Studie über die jugendliche Fabrikarbeit bereits die beginnende Konjunktur der Jugendforschung sowie der Einfluss der Jugendbewegung ab. Sowohl in der Selbst- als auch in der Außenwahrnehmung waren die vier Pionierinnen Grenzgängerinnen. Ihre sozialen und politischen Ansichten bewegten sich – wie bei den meisten Kathedersozialisten – im Spannungsfeld von Moderne und Antimoderne. Sie vertraten zwar in der Frauen- und Arbeiterinnenfrage progressive und moderne Positionen, in ihren politischen Haltungen kamen dagegen konservative und antimoderne Vorstellungen zum Ausdruck. Dass sie sich der Religion zuwandten (Gnauck-Kühne und Bernays) oder zunehmend nationalkonservative politische Positionen vertraten (Dyhrenfurth und Kempf), war möglicherweise eine Reaktion auf die detaillierten Einblicke, die sie durch ihre wissenschaftlichen Studien in das Ausmaß der – durch den Prozess der Modernisierung bedingten – Loslösung der Menschen aus traditionellen Strukturen erhalten hatten sowie auf die daraus resultierende Verunsicherung, die sie versuchten zu kompensieren. Die empirischen Untersuchungen von Gnauck-Kühne, Dyhrenfurth und Kempf sowie Bernays’ Studie über die Spelzengärten sind als soziographische Darstellungen zu bezeichnen. Den Pionierinnen ging es dabei nicht um eine neutrale Sozialanalyse, sondern um eine politische Bewertung sozialer und gesellschaftlicher Entwicklungen. Ihre Studien können deshalb auch als eine auf qualitativen empirischen Methoden basierende politische Aktionsforschung bezeichnet werden, die anwendungsbezogen war und eine frühe Form der Politikberatung darstellt. Denn es waren konkrete gesellschaftliche Probleme, zu denen die Akteurinnen forschten und zu denen sie Lösungsvorschläge erarbeiteten, mit denen sie sich dann öffentlichkeitswirksam in sozial- und bildungspolitische Debatten einmischten. Dabei überrascht das leidenschaftliche Interesse, mit dem sich die Forscherinnen für die Verbesserung der Lebens- und Arbeitsbedingungen der Arbeiterinnen einsetzten. Ihre Forderungen nach besseren Arbeiterinnenschutzregelungen, nach Berufsbildung von Frauen sowie nach Berufen im Bereich der Sozialen Arbeit begründeten sie mit den Ergebnissen ihrer empirischen Studien. Insbesondere am Beispiel von Dyhrenfurths Sozialforschung zur Heimarbeiterinnenfrage lässt sich nachvollziehen, wie die Pionierinnen bestehende Diskurse aufnahmen, sie weiterentwickelten und darauf sozialpolitische Praktiken aufbauten. Dyhrenfurths Heimarbeiterinnenstudie zeigt, wie die Pionierinnen mit ihren Untersuchungen die öffentliche und sozialpolitische Wahrnehmung von bestimmten Arbeiterinnengruppen beeinflusst haben: Als um 1900 die Heimarbeit als veraltete Arbeitsform problematisiert und über deren Abschaffung diskutiert wurde, trug Dyhrenfurth dazu bei, dass Heimarbeit zunehmend als spezifisch weibliches Ar-
IV Schluss
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beitsfeld wahrgenommen wurde, das erhalten werden müsse, weil es eine der wenigen Verdienstmöglichkeiten für alleinerziehende Mütter darstellte. In der Problemformulierung und der Auswahl der Forschungsgegenstände lag ein innovatives Element der empirischen Sozialforschung der Pionierinnen; es bestand darin, ignorierte oder vernachlässigte Gruppen zum Gegenstand der Untersuchungen zu machen. Die Forscherinnen rückten in ihren Studien verschiedene Gruppen von Arbeiterinnen ins Blickfeld und arbeiteten gleichzeitig die sozialen Unterschiede innerhalb der Fabrikarbeiterinnen, der Heimarbeiterinnen, der Frauen in der Landwirtschaft sowie der BewohnerInnen von Barackensiedlungen wie den Spelzengärten heraus. Da kaum autobiographische Zeugnisse von Arbeiterinnen aus dieser Zeit vorliegen, stellen die Arbeiten der Pionierinnen wichtige soziohistorische Quellen dar. Durch den Nachweis der sozialen Differenzierung innerhalb der Arbeiterschaft stellten die Untersuchungen jedoch auch das von der Sozialdemokratie postulierte gemeinsame Klasseninteresse der ArbeiterInnen in Frage. Die empirischen Studien der vier Akteurinnen zeichnen sich durch die Gründlichkeit aus, mit der Fragestellungen entwickelt und Daten erhoben und ausgewertet wurden. Die Pionierinnen bereiteten sich vor der Erhebungsphase durch Literaturrecherche, ExpertInnengespräche sowie das Sammeln eigener Eindrücke im Untersuchungsfeld auf ihre Studien vor. Mit dem dadurch erworben theoretischwissenschaftlichen Vorverständnis wählten sie anschließend aus der Vielfalt von Informationen die Aspekte aus, die bei der Untersuchung des Problembereichs ihrer Ansicht nach besonders ertragreich zu sein schienen. Ihre Studien zeigen, dass es ihnen durch dieses Vorgehen gelang, gesellschaftliche Problemfelder frühzeitig zu erkennen und sie so zum Gegenstand ihrer Untersuchungen zu machen. Bei ihren Studien griffen die Forscherinnen auf bewährte empirische Methoden zurück, erweiterten diese aber gleichzeitig um wesentliche Aspekte. Hierzu gehört etwa die Datenerhebung in den Wohnungen der Arbeiterinnen, die Dyhrenfurth bei ihrer Heimarbeiterinnenstudie einsetzte, und die Aufsatzforschung, mit der Kempf die beruflichen Zukunftswünsche der jugendlichen Fabrikarbeiterinnen erfasste. Aus heutiger Sicht bemerkenswert ist, wie differenziert die frühen Sozialforscherinnen ihren eigenen Standpunkt im Forschungsprozess sowie die methodischen Schwierigkeiten ihrer Feldforschungen reflektierten. Der wichtigste Beitrag der frühen Sozialforscherinnen zur Soziologie besteht darin, dass sie in und mit ihren Studien Geschlechterdifferenz als eine die Gesellschaft strukturierende Perspektive ins Zentrum ihrer Forschung gestellt haben. Mit ihrer erweiterten Perspektive, in der sie Erwerbsarbeit nicht getrennt, sondern im Zusammenhang mit der familialen Arbeit der Frauen untersuchten, habe sie auf deren spezifische Bedingungen und die daraus resultierende Doppelbelastung der Frauen durch Erwerbs- und Hausarbeit aufmerksam gemacht. Gnauck-Kühne hat mit ihrer Analyse der amtlichen Sozialstatistik die dualistische Struktur des Frauenlebens und die auch heute noch bestehenden Brüche und Diskontinuitäten weiblicher Erwerbsbiographien offengelegt. Die empirischen Studien der vier Pionierinnen markieren den Beginn einer sozialwissenschaftlichen und feministisch orientierten Frauenforschung, da sich
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IV Schluss
ihr Forschungsinteresse auf die Beschreibung und Analyse sozialer Ungleichheiten in den Geschlechterverhältnissen richtete. Mit unterschiedlichen Schwerpunktsetzungen und Methoden haben sie dazu beigetragen, Frauen und Frauenarbeit sowie die spezifischen Bedingungen von Frauenarbeit sichtbar und zum (sozial)politischen Thema zu machen. Gerade am Beispiel von Gnauck-Kühne und Dyhrenfurth lässt sich zeigen, wie sie durch eine geschlechtersensible Herangehensweise soziale Fragen umformuliert und neu konzipiert haben. Durch die wissenschaftliche Beschäftigung mit der Arbeiterinnenfrage entwickelten sie ihre sozialpolitischen Forderungen als Kritik an bestehenden kommunal- und sozialpolitischen Entwürfen. Die vier Forscherinnen haben dazu beigetragen, dass die Frauenfrage nicht mehr nur als politischer Streitpunkt, sondern zunehmend auch als anerkannter Gegenstand akademischer Auseinandersetzung wahrgenommen wurde. Damit haben sie zur Verwissenschaftlichung der Geschlechterverhältnisse als sozialem Problemfeld beigetragen. Die Fallstudien zu den vier Pionierinnen zeigen, dass deren Hauptwerke zwar in der wissenschaftlichen Fachpresse rezensiert wurden, ihre Erkenntnisse aber nicht in den Kanon der jeweiligen Fächer aufgenommen wurden. Die Anerkennung, die dem Beitrag der Frauen zur Nationalökonomie und Soziologie aus akademischen Fachkreisen gezollt wurde, steht in scharfem Kontrast zu ihrer Nichtberücksichtigung in den Hauptwerken wichtiger Förderer wie Gustav Schmoller oder Max Sering. Der eigenständige Beitrag der Frauen wurde zwar als Bereicherung begrüßt, jedoch gleichzeitig als randständig wahrgenommen. Abschließend ist zu festzuhalten, dass die in dieser Arbeit vorgenommene Aufarbeitung des Beitrags der Pionierinnen zur Soziologie gleichzeitig auch auf den Beitrag der Frauenbewegung zur Wissenschaftsentwicklung verweist. Die Netzwerke und Strukturen der Frauenbewegung bildeten wichtige Ressourcen und Foren für die Sozialforschung der Pionierinnen. Hierzu gehört die Schaffung von Gelegenheitsstrukturen, die einen ersten institutionellen Rahmen für die Organisation und Durchführung auch größerer empirischer Frauenforschungsprojekte geboten haben. Hierzu gehören aber auch die FreundInnen und PartnerInnen, die durch ihre Unterstützung die wissenschaftliche und sozialpolitische Arbeit der Pionierinnen ermöglicht haben; ein Aspekt, der in dieser Arbeit nur angerissen werden konnte. Von der nur wenige Wochen dauernden Ehe Gnauck-Kühnes abgesehen blieben die hier vorgestellten Akteurinnen unverheiratet; das war durchaus typisch für die erste(n) Generation(en) von Wissenschaftlerinnen und Frauenrechtlerinnen in Deutschland. Frauenfreundschaften, die von kollegialen Arbeitsbeziehungen bis hin zu lebenslangen, von tiefen Gefühlen getragenen Partnerschaften reichten, hatten für diese Frauen deshalb eine besondere Bedeutung.1 Für Gnauck-Kühne und Dyhrenfurth, die beide als Sozialforscherinnen Mitte der
1
Zur Funktion und Bedeutung von Frauenfreundschaften für die Politik und Kultur der historischen Frauenbewegungen siehe Gerhard/Klausmann/Wischerman (1993); Göttert (2000; 2004).
IV Schluss
357
1890er Jahre in Deutschland „einsam auf Vorposten“2 standen, war es wichtig, ineinander enge Freundinnen gefunden haben, die sich untereinander austauschen konnten und die sich gegenseitig unterstützten. Dyhrenfurth konnte außerdem mit der Unterstützung ihrer Nichte Elisabeth von Tippelskirch mehrere soziale Wohnungsbauprojekte in Jakobsdorf realisieren. Kempf wiederum trieb gemeinsam mit ihrer Lebensgefährtin Bertha Sachs die Etablierung des Frauenseminars für soziale Berufsarbeit in Frankfurt am Main voran. Gnauck-Kühne und Bernays lebten beide mit einer Frau zusammen, von der sie u. a. bei Sekretariatsarbeiten und im Haushalt unterstützt wurden. Beide setzten diese Frauen als ihre Nachlassverwalterinnen ein, was ihre tiefe Verbundenheit und ihr Vertrauen zum Ausdruck brachte. Ida Ernst, die jahrzehntelang Gnauck-Kühnes Weg begleitet hatte, gelang es, deren Werk noch bis 1933 öffentlich präsent zu halten. Margareta Steinmetz, die auch nach der Flucht vor den nationalsozialistischen Hetzkampagnen bei Bernays blieb, gelang dies – schon wegen der veränderten politischen Lage – bereits nicht mehr.
2
Elisabeth Gnauck-Kühne in ihrem Vortrag „Der Segen der Gemeinschaft“, gehalten beim Verein Berliner Volksschullehrerinnen am 15. Februar 1892, zitiert nach Simon, Helene (1928a), S. 41.
V DANKSAGUNG Dieses Buch ist die überarbeitete Fassung meiner Dissertation, die im Sommersemester 2012 am Fachbereich Gesellschaftswissenschaften der Goethe-Universität Frankfurt am Main angenommen wurde. Eine solche Arbeit lässt sich ohne die Unterstützung anderer kaum durchführen. Mein ganz besonderer Dank gilt zu allererst meiner Doktormutter Ute Gerhard, der ich für ihre langjährige Begleitung, ihre intellektuelle und emotionale Unterstützung außerordentlich dankbar bin. Sie hat mich ermutigt, zu promovieren und hat diese Arbeit mit großem Interesse, sehr viel hilfreicher Kritik und vielen konstruktiven Anmerkungen kontinuierlich begleitet. Den Gesprächen mit ihr verdanke ich sehr viel. Es ist kein Zufall, dass diese Arbeit an ihrem Lehrstuhl für „Soziologie mit dem Schwerpunkt Frauen- und Geschlechterforschung“ (erste Denomination „Soziologie mit dem Schwerpunkt Frauenarbeit, Frauenbewegung“) entstanden ist. Die Idee zu dieser Arbeit entwickelte sich in einem ihrer Seminare und wurde in einem internationalen Workshop von Ute Gerhard zum „Geschlechterverhältnis in der soziologischen Theorie“ konkretisiert. Weitere Grundsteine wurden in den von der Deutschen Forschungsgemeinschaft (DFG) im Rahmen des DFG-Schwerpunktprogramms 1143 „Wissenschaft, Politik und Gesellschaft. Deutschland im internationalen Zusammenhang“ geförderten Teilprojekten gelegt, die ich unter der Leitung von Ute Gerhard durchgeführt habe: „Pionierinnen der empirischen Sozialforschung im Wilhelminischen Kaiserreich“ und „Soziale Frauenschulen – die außeruniversitäre Ausbildungs-, Wissenschafts- und Forschungseinrichtung der bürgerlichen Frauenbewegung“. Während dieser Zeit konnte ich einen Teil der Recherchen zu dieser Arbeit vornehmen und Teile der Fallstudien erarbeiten. Desweiteren gaben die Diskussionen bei den Tagungen des von Rüdiger vom Bruch geleiteten Schwerpunktprogramms wichtige Anregungen zu methodischen und inhaltlichen Aspekten. Besonders bedanken möchte ich mich auch bei meiner Zweitbetreuerin Ulla Wischermann. Durch den Austausch mit ihr über die historische Frauenbewegung habe ich viele wertvolle Anregungen für meine Arbeit erhalten. Unsere gemeinsamen akademischen Interessen waren stets eine wichtige Stütze und haben mich wissenschaftlich wie emotional bis zur Drucklegung dieser Arbeit begleitet. Auch den Mitarbeiterinnen des Cornelia Goethe Centrums für Frauenstudien und die Erforschung der Geschlechterverhältnisse an der Goethe-Universität Frankfurt am Main haben mich immer wieder ermutigt. Mein Dank gilt hier besonders Marianne Schmidbaur, für ihre konstruktive Unterstützung während des Schreibprozesses und bei der Überarbeitung. Bedanken möchte ich mich bei meiner Familie, meinen Eltern Erika und Herbert Keller, meiner Schwester Andrea Keller und meinem Neffen Lennart, sowie bei meinen FreundInnen. Mein besonderer Dank gilt an dieser Stelle vor allem
V Danksagung
359
Beatrix Schwarzer und Ruth Meßmer, die mir mit ihren kritischen Kommentaren und pragmatischen Korrekturvorschlägen zur Seite gestanden und mich vor allem in der Schlussphase dieser Arbeit außerordentlich unterstützt haben. Bei Michael Fontana möchte ich mich für sein gründliches und umsichtiges Korrektorat sowie für die die Drucklegung des Manuskripts bedanken, die er gemeinsam mit Katharina Stüdemann und Simone Zeeb vom Franz Steiner Verlag professionell begleitet hat. Ferner danke ich den MitarbeiterInnen der Archive, die mich bei meinen Recherchen unterstützt haben. Besonders hervorheben möchte ich die Archive, die mir für die Veröffentlichung das Bildmaterial zur Verfügung gestellt haben, durch das die Pionierinnen ein Gesicht erhalten. Namentlich sind das vor allem das Archiv des Katholischen Deutschen Frauenbunds Köln, das Archiv der Deutschen Frauenbewegung Kassel, das Stadtarchiv Mannheim – Institut für Stadtgeschichte, das Institut für Stadtgeschichte Frankfurt am Main, das Universitätsarchiv Tübingen und das Generallandesarchiv Karlsruhe. Besonderer Dank gilt auch Norman Dyhrenfurth, der mir großzügig Einblick in das Familienarchiv Dyhrenfurth gewährt hat, einer außerordentlich interessanten deutsch-jüdischen Familie, deren Familiengeschichte es wert ist, erforscht zu werden. Der Bergsteiger und Filmemacher Norman Dyhrenfurth wurde als Leiter der US-amerikanischen Mount-Everest-Expedition 1963 bekannt. Sein Großvater väterlicherseits war ein Cousin von Gertrud Dyhrenfurth; Norman Dyhrenfurths Eltern und Großeltern waren häufig zu Besuch in Jakobsdorf. Dabei entstanden auch die im Bildanhang abgedruckten Fotos zu Gertrud Dyhrenfurth und zu Jakobsdorf. Danken möchte ich auch den MitarbeiterInnen all jener Bibliotheken, von denen ich im Rahmen meiner Literaturrecherche Hilfe erhalten habe. Hierzu gehören vor allem die Universitätsbibliothek Johann Christian Senckenberg in Frankfurt am Main und die Caritas-Bibliothek in Freiburg. Abschließend möchte ich mich bei der Deutschen Forschungsgemeinschaft für die finanzielle Unterstützung der Publikation dieser Arbeit bedanken. Sehr gefreut hat mich auch, dass der Deutsche Akademikerinnenbund die Publikation einer Arbeit, die vier von dessen ersten Mitgliedern behandelt, ebenfalls mit einem Druckkostenzuschuss unterstützt hat. Ohne den Kampf der Pionierinnen um die Anerkennung ihrer wissenschaftlichen Arbeit wäre die heute etablierte Forschung zu Geschlechterdifferenzen vermutlich nicht möglich gewesen. Trotz akademischer und politischer Differenzen fühle ich mich deshalb diesen Pionierinnen verbunden und bin dankbar für ihren Einsatz.
VI ABKÜRZUNGSVERZEICHNIS ADF
Allgemeiner Deutscher Frauenverein
ADLV
Allgemeiner Deutscher Lehrerinnenverein
AfSS
Archiv für Sozialwissenschaft und Sozialpolitik
BArchK
Bundesarchiv Koblenz
BDF
Bund Deutscher Frauenvereine
BdL
Bund der Landwirte
BSB
Bayerische Staatsbibliothek München
BVESK
Bericht über die Verhandlungen des Evangelischsozialen Kongresses
DAB
Deutscher Akademikerinnenbund
DDP
Deutsche Demokratische Partei
DEF
Deutsch-Evangelischer Frauenbund
DGS
Deutsche Gesellschaft für Soziologie
DNVP
Deutschnationale Volkspartei
DRK
Deutsches Rotes Kreuz
DVLP
Deutsche Vaterlandspartei
DVP
Deutsche Volkspartei
ESK
Evangelisch-sozialer Kongress
FKS
Freie kirchlich-soziale Konferenz
Gestapo
Geheime Staatspolizei
GfSR
Gesellschaft für Soziale Reform
GLA
Landesarchiv Baden-Württemberg, Abt. Generallandesarchiv Karlsruhe
HWA
Hessisches Wirtschaftsarchiv Darmstadt
IfS FFM
Institut für Stadtgeschichte Frankfurt am Main
ISG-StAMA
Stadtarchiv Mannheim – Institut für Stadtgeschichte
KDFB
Katholischer Deutscher Frauenbund
LHV
Landwirtschaftliche Hausfrauenvereine
VI Abkürzungsverzeichnis
361
MESK
Mitteilungen des Evangelisch-sozialen Kongresses
MWG
Max Weber Gesamtausgabe
NFD
Nationaler Frauendienst
NSDAP
Nationalsozialistische Deutsche Arbeiterpartei
NSV
Nationalsozialistischen Volkswohlfahrt
OSB
Ordo Sancti Benedicti
RLHV
Reichsverband Landwirtschaftlicher Hausfrauenvereine
SHLB
Schleswig-Holsteinische Landesbibliothek Kiel
SPD
Sozialdemokratische Partei Deutschlands
StArchM
Staatsarchiv München
SVS
Schriften des Vereins für Sozialpolitik
UAH
Universitätsarchiv Heidelberg
UAM
Universitätsarchiv München
UAT
Universitätsarchiv Tübingen
VDA
Verein für das Deutschtum im Ausland
VFF
Verein Frauenbildung-Frauenstudium
VfS
Verein für Sozialpolitik
VFV
Vaterländische Frauenvereine
VII QUELLEN- UND LITERATURVERZEICHNIS UNGEDRUCKTE QUELLEN Archiv des Katholischen Deutschen Frauenbundes (KDFB), Köln Nachlass Elisabeth Gnauck-Kühne: 1–106–5, Gertrud Dyhrenfuth an Elisabeth Gnauck-Kühne 1–111–2, Arthur Spiethoff an Helene Simon 1–111–2, Emma Voelter an Ida Ernst 1–111–7, Gertrud Dyhrenfurth an Ida Ernst 1–111–7, Vereinigung der Nationalökonominnen 1–111–12, Gertrud Dyhrenfuth an Elisabeth Gnauck-Kühne 1–112–6, Evangelisch-soziale Frauengruppe Bayerische Staatsbibliothek, München (BSB) Bestand Weber-Schäfer, Ana 446 Benediktinerabtei Grüssau, Bad Wimpfen Nachlass Albert Schmitt OSB, Abt zu Grüssau und Wimpfen Bundesarchiv Koblenz (BArchK) Nachlass Max Sering, N 1210, Nr. 42 Nachlass Max Sering, N 1210, Nr. 63 Hessisches Hauptstaatsarchiv Wiesbaden (HHSTaW) Abt. 486, Frankfurter Gestapo-Kartei Hessisches Wirtschaftsarchiv Darmstadt (HWA) Abt. 15, Akten des Instituts für Gemeinwohl, Frankfurt am Main Institut für Stadtgeschichte Frankfurt am Main (IfS FFM) Vereine V 6, Seminar für soziale Berufsarbeit Institut für Stadtgeschichte – Stadtarchiv Mannheim (ISG-StAMA) A24/19b, Bibliothek, Bernays (1931) S 1/0056, Zeitgeschichtliche Sammlung, Personengeschichte, Marie Bernays S 1/2172, Zeitgeschichtliche Sammlung, Personengeschichte, Elisabeth Altmann-Gottheiner S 2/0645, Zeitgeschichtliche Sammlung, Ortsgeschichte, Städtische Frauenfachschule S 2/0789, Zeitgeschichtliche Sammlung, Ortsgeschichte, Frauenbewegung S 2/1201, Zeitgeschichtliche Sammlung, Ortsgeschichte, Deutsche Volkspartei S 2/1477, Zeitgeschichtliche Sammlung, Ortsgeschichte, Mannheimer Mutterschutz e. V. Landesarchiv Baden-Württemberg, Abt. Generallandesarchiv Karlsruhe (GLA) Bestand N, Nachlass Ulrich Bernays 231/4705, Badischer Landtag, 1923/24, Erziehung und Unterricht 235/37565, Badisches Kultusministerium, Soziale Frauenschule in Mannheim, 1916-1965
Gedruckte Quellen
363
235/37663, Badisches Kultusministerium, Die allgemeine Frauenschule des Vereins Soziale Frauenschule in Mannheim, später „Städtische Soziale Frauenschule“, und die Bewilligung von Staatszuschüssen, 1925–1932 276/264, Badisches Amtsgericht Mannheim, Bund für Mutterschutz – Ortsgruppe Mannheim 276/439, Badisches Amtsgericht Mannheim, Verein Soziale Frauenschule Mannheim e. V. Monacensia, Literaturarchiv der Stadtbibliothek München Nachlass Georg Kerschensteiner Privatarchiv Norman Dyhrenfurth, Salzburg Album Jakobsdorf Schleswig-Holsteinische Landesbibliothek Kiel (SHLB) Nachlass Ferdinand Tönnies, Cb. 54.61: 1.2.12 Akten DGS, 1. Periode (1909–1914) Nachlass Ferdinand Tönnies, Cb. 54.61: 2.2.12 Akten DGS, 2. Periode (1919–1934) Staatsarchiv München (StArchM) PA 13059, Personalakte Rosa Kempf PA 20098, Personalakte Anton Kempf Pol. Dir. München, Akten 2707, Studentinnenverein Universitätsarchiv Heidelberg (UAH) Karteikarten (phil.), Bernays, Marie Studienzeugnisse Großherzogliche Badische Universität Heidelberg, Studien- und Sittenzeugnis Bernays, A. No 1499 Universitätsbibliothek Heidelberg (UBH) Nachlass Marie Baum Universitätsarchiv München (UAM) M–II–34, Promotionsakte Kempf, Rosa M–XI–64, Ehrendoktorwürde für Mr. und Mrs. Webb Universitätsarchiv Tübingen (UAT) 117c, Nr. 165 Akademisches Rektoramt, Hauptregistratur I: 1599–1971 127 Protokollbücher der Staatswissenschaftlichen Fakultät, Bd. 5 (ab 7. August 1919) 132, Nr. 42–1921, 3, Selekt Doktor- und Lizentiatendiplome (I), 1756–1989, Ehrenpromotion Gertrud Dyhrenfurth 359, Nr. 2000 Bestand Marcon
GEDRUCKTE QUELLEN Schriften von Elisabeth Gnauck-Kühne (1880): Williram. Eine Erzählung aus dem 11. Jahrhundert, Blankenburg: Schimmelpfennig 1880. (1883): Proverbes à l’usage des familles et des écoles, Wolfenbüttel: Julius Zwißler 1883. (1885): [Pseud. E. Blankenburg], Ekbert von Braunschweig. Tragödie in 5 Akten, Oldenburg: Schulze 1885. (1891): Das Universitätsstudium der Frauen. Ein Beitrag zur Frauenfrage, Oldenburg/Leipzig: Schulze’sche Hofbuchhandlung 1891, 21891, 31892.
364
VII Quellen- und Literaturverzeichnis
(1893a): Ursachen und Ziele der Frauenbewegung (Aus geistigen Werkstätten, Bd. 12), Berlin: Lesser 1893 [engl.: Social Statistics of Women in Germany. Diagrams and Text. Dedicated to the Women of the United States by the General Association of German Women. Leipzig 1893). (1893b): Christentum und Frauenfrage, in: Mitteilungen des Evangelisch-Sozialen Kongresses, 2. Folge, H. 7, August/September 1893, S. 3–4. (1894a): Religiosität und Frauenfrage, in: Die Frau, 1. Jg., H. 6, März 1894, S. 366–369 [nachgedruckt in: Die Deutsche Volksstimme. Organ der deutschen Bodenreformer, 1. Jg. 1896, H. 28, S. 282–284]. (1894b): Die Redefreiheit der Frau, in: Mitteilungen des Evangelisch-Sozialen Kongresses, 3. Folge, H. 7, August/September 1894. (1895a): Erinnerungen einer freiwilligen Arbeiterin, in: Die Hilfe, 1. Jg., H. 6, 10. Februar 1895, S. 3–4 und H. 7, 17. Februar 1895, S. 2–4. (1895b): Lieder einer freiwilligen Arbeiterin, in: Die Hilfe, 1. Jg., H. 3, 20. Januar 1895, S. 3. (1895c): Erwiderung auf die „Freimütigen Bemerkungen“, in: Die Hilfe, 1. Jg., H. 14, 7. April 1895, S. 3–4. (1895d): Das Programm der Evangelisch-sozialen Frauengruppen, in: Mitteilungen des Evangelisch-Sozialen Kongresses, 4. Folge, H. 1, Januar 1895. (1895e): Die soziale Lage der Frau. Vortrag, gehalten auf dem 6. Evangelisch-Sozialen Kongresse zu Erfurt am 6. Juni 1895, Berlin: Otto Liebmann 1895. (1895f): Bedeutet die Frauenbewegung einen Kulturfortschritt?, in: Frankfurter Volksbote, 1. Dezember 1895. (1896a): Die Lage der Arbeiterinnen in der Berliner Papierwaren-Industrie. Eine soziale Studie, in: Jahrbuch für Gesetzgebung, Verwaltung und Volkswirtschaft im Deutschen Reich, 20. Jg. 1896, H. 2, S. 25–92 [S. 373–440]. (1896b): Schutz der Arbeiterinnen gegen sittliche Gefahren, in: Soziale Praxis, 5. Jg., H. 26, 20. März 1896, Sp. 709–712. (1896c): Was erwarten Reichsbote und Neue Westfälische Volkszeitung von der Frauengruppe des Evangelischen Kongresses?, in: Die Zeit, 11. Oktober 1896. (1896d): Über den Begriff der Weiblichkeit, in: Die Zeit, 1. Jg., Nr. 69, 20. Dezember 1896. (1896e): Felicie Ewart, Die Emanzipation in der Ehe. Briefe an einen Arzt. Hamburg 1895 [Buchbesprechung], in: Jahrbuch für Gesetzgebung, Verwaltung und Volkswirtschaft im Deutschen Reich, 20. Jg. 1896, H. 1, S. 321–322. (1897a): Von sonnigen Gestaden, in: Hamburgischer Correspondent, 12. Februar, 2. März, 19. März und 1. April 1897. (1897b): Die Welt, in der man sich nicht langweilt, in: Die Zeit, 28. Februar 1897. (1897c): Die Entstehung des Volksmärchens, in: Die Zeit, 28. Februar 1987. (1897d): Der Weg in den Himmel, in: Die Zukunft, Bd. 19, 3. April 1897, S. 23–27 [nachgedruckt in: 1899c und 1910l]. (1897e): Der Wettbewerb zwischen Mann und Frau, in: Tägliche Rundschau, Juni 1897 [nachgedruckt in: 1903a]. (1897f): Die Frau im Bürgerlichen Gesetzbuch, in: Die Zukunft, Bd. 19, 5. Juni 1897, S. 443–447. (1897g): Die häusliche Arbeit der Frau. Ein psychologischer Versuch, in: Tägliche Rundschau, 7., 8. und 9. September 1897, Unterhaltungsbeilage. (1897h): Zur Frauenfrage, in: Tägliche Rundschau, Nr. 42, 21. Oktober 1897, Volkswirtschaftliche Beilage. (1897i): Randbemerkungen zum Hamburger Frauentag, in: Tägliche Rundschau, Nr. 42, 21. Oktober 1897, Volkswirtschaftliche Beilage. (1897j): Der duftende Dornbusch, in: Die Zukunft, Bd. 21, 25. Oktober 1897, S. 167–172. (1897k): Der Wildbach, in: Die Zukunft, Bd. 21, 6. November 1897, S. 253–259. (1897l): Der Adler, in: Die Zukunft, Bd. 21, 18. Dezember 1897, S. 515–519. (1898a): Die Tanne, in: Die Zukunft, Bd. 22, 15. Januar 1898, S. 108–112.
Gedruckte Quellen
365
(1898b): Der Kirschbaum, in: Die Zukunft, Bd. 23, 9. April 1898, S. 62–65. (1898c): Die Agave, in: Die Zukunft, Bd. 23, 7. Mai 1898, S. 240–244. (1898d): Trim, der Abenteurer, in: Die Zukunft, Bd. 24, 16. Juli 1898, S. 125–129. (1898e): Die Distel, in: Die Zukunft, Bd. 24, 3. September 1898, S. 403–406. (1898f): Die Nachtigall, in: Die Zukunft, Bd. 25, 29. Oktober 1898, S. 205–209. (1898g): Gedichte, in: Die Zukunft, Bd. 25, 24. Dezember 1898, S. 583. (1899a): Über den Mangel an Diakonissen, in: Tägliche Rundschau, Nr. 228, 28. September 1899, Unterhaltungsbeilage. (1899b): Die Frau und die Politik, in: Die Gesellschaft, 15. Jg. 1899, Bd. 1, H. 6, S. 385–390. (1899c[zuerst 1897e]): Der Weg in den Himmel, in: Die Gesellschaft, 15. Jg. 1899, Bd. 1, H. 6, S. 398–403. (1899d): Die Frauenfrage auf der Freien kirchlich-sozialen Konferenz in Berlin, in: Die christliche Welt: evangelisch-lutherisches Gemeindeblatt für Gebildete aller Stände, hg. von Martin Rade, 13. Jg., H. 17, 27. April 1899. (1899e): Das Reh. Ein Pfingstmärchen, in: Die Zukunft, Bd. 27, 20. Mai 1899, S. 338–342. (1899f): Der Königssohn, in: Die Zukunft, Bd. 27, 19. Juni 1899, S. 487–488. (1899g): Das Löwenmaul, in: Die Zukunft, Bd. 28, 22. Juli 1899, S. 153–156. (1899h): Auf dem sonnigen Markt in Bozen, in: Die Zukunft, Bd. 29, S. 131f. (1900a): Aus Wald und Flur. Märchen für sinnige Leute, Stuttgart: Roth 1900. (1900b): Über den Begriff Weiblichkeit, in: Haus und Welt, März 1900, S. 372ff. (1900c): Frau Venus, in: Die Zukunft, Bd. 31, 30. Juni 1900, S. 574–579. (1900d): Julius Pierstorff/Friedrich Zimmer/Jakob Wychgram, Frauenberuf und Frauenerziehung. Vier Vorträge zur Frauenfrage. Hamburg 1899 [Buchbesprechung], in: Jahrbuch für Gesetzgebung, Verwaltung und Volkswirtschaft im Deutschen Reich, 24. Jg. 1900, H. 1, S. 394– 402. (1901a): Einordnung, nicht Unterordnung!, in: Kölnische Volkszeitung, Nr. 186, 26. Februar 1901. (1901b): Unterordnung oder Einordnung? Eine Frage an Männer und Frauen, in: Kölnische Volkszeitung, Nr. 35, 11. Januar 1901. (1901c): Adele Gerhard/Helene Simon: Mutterschaft und geistige Arbeit [Buchbesprechung], in: Die Zukunft, Bd. 35, 18. Mai 1901, S. 289. (1901d): Dienstbotenmangel und Frauenfrage, in: Soziale Praxis, 10. Jg., H. 19, 7. Februar 1901, Sp. 449–553 und Sp. 593–595. (1902a): Mutterrechte, in: Die Zukunft, Bd. 38, 1. Februar 1902, S. 183–194. (1902b): Zur Findelhaussache, in: Der Tag. Moderne illustrierte Zeitung, Illustrierter Teil, 27. März 1902. (1902c): Mona Vanna. Eine Gegenkritik, in: Der Tag. Moderne illustrierte Zeitung, Illustrierter Teil, 26. Oktober 1902. (1902d): Lily Braun, Die Frauenfrage, ihre geschichtliche Entwicklung und wirtschaftliche Seite. Leipzig 1901 [Buchbesprechung], in: Jahrbuch für Gesetzgebung, Verwaltung und Volkswirtschaft im Deutschen Reich, 26. Jg. 1902, H. 3, S. 431. (1902e): Oskar Stillich, Die Lage der weiblichen Dienstboten in Berlin. Berlin [Buchbesprechung], in: Jahrbuch für Gesetzgebung, Verwaltung und Volkswirtschaft im Deutschen Reich 26. Jg. 1902, H. 3, S. 431. (1903a): Sozialcaritative Hilfsarbeit, in: Kölnische Volkszeitung, Nr. 379, 4. Mai 1903. (1903b[zuerst 1897f]): Der Wettbewerb zwischen Mann und Frau, in: Kölnische Volkszeitung, Nr. 516, 21. Juni 1903. (1903c): Konrad Agahd, Kinderarbeit und Gesetz gegen die Ausnutzung kindlicher Arbeitskraft in Deutschland. Jena 1902 [Buchbesprechung], in: Jahrbuch für Gesetzgebung, Verwaltung und Volkswirtschaft im Deutschen Reich, 27. Jg. 1903, H. 1, S. 338. (1903d): Alice Salomon, Soziale Frauenpflichten. Vorträge, gehalten im deutschen Frauenverein [Buchbesprechung], in: Jahrbuch für Gesetzgebung, Verwaltung und Volkswirtschaft im Deutschen Reich, 27. Jg. 1903, H. 1, S. 338–339.
366
VII Quellen- und Literaturverzeichnis
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Gedruckte Quellen
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VII Quellen- und Literaturverzeichnis
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Gedruckte Quellen
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VIII Bildanhang
Abbildung 1: Elisabeth Kühne (Mitte) mit ihren Eltern und Geschwistern. Quelle: Hoeber (1917), nach S. 16.
Abbildung 2: Elisabeth Kühne mit ihrem Bruder August und ihrer Schwester Marie (von links nach rechts). Quelle: Archiv des KDFB.
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VIII Bildanhang
Abbildung 3: Elisabeth Kühne (hintere Reihe, 6. von links) im Kreis von Seminaristinnen des Lehrerinnenseminars in Callenberg. Quelle: Archiv des KDFB.
Abbildung 4: Mädchenpensionat in Blankenburg, Marie Kühne (Mitte sitzend), Elisabeth Kühne (dahinter stehend) um 1870–1880. Quelle: Archiv des KDFB.
VIII Bildanhang
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Abbildung 5: Elisabeth Gnauck-Kühne um 1880–1890. Quelle: Archiv des KDFB. Abbildung 6: Elisabeth Gnauck-Kühne um 1910. Quelle: Archiv des KDFB.
Abbildung 7: Elisabeth Gnauck-Kühne und Ida Ernst, 1900–1910. Quelle: Archiv des KDFB.
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VIII Bildanhang
Abbildung 8: Familientreffen in Jakobsdorf um 1900. Hintere Reihe, von links nach rechts: Gertrud Dyhrenfurth, ihre Cousine Mimi, ihr Cousin Oscar, unbekannt, Doktor Janicke; vordere Reihe, von links nach rechts: ihr Vater Ludwig Dyhrenfurth, unbekannt, ihre Tante Laura Dyhrenfurth, ihr Bruder Walter. Quelle: Privatarchiv Norman Dyhrenfurth, Salzburg.
Abbildung 9: Gertrud Dyhrenfurth unter den Linden auf der Hofseite des Schlosses. Quelle: Privatarchiv Norman Dyhrenfurth, Salzburg.
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Abbildung 10: Schloss Jakobsdorf, Hofseite. Quelle: Privatarchiv Norman Dyhrenfurth, Salzburg.
Abbildung 11: Walter Dyhrenfurth und Dr. Janicke im Park von Schloss Jacobsdorf um 1900. Quelle: Privatarchiv Norman Dyhrenfurth, Salzburg.
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Abbildung 12: Panorama von Jakobsdorf. Quelle: Privatarchiv Norman Dyhrenfurth, Salzburg.
Abbildung 13: Gesindehaus des Guts Jakobsdorf. Quelle: Privatarchiv Norman Dyhrenfurth, Salzburg; Dyhrenfurth (1906), S. 120. Abbildung 14: Das alte Lohngärtnerhaus des Guts Jakobsdorf. Quelle: Privatarchiv Norman Dyhrenfurth, Salzburg); Dyhrenfurth (1906), S. 121.
Abbildung 15: Das von Gertrud und Walter Dyhrenfurth gestiftete Gemeindehaus in Jakobsdorf. Quelle: UAT 359, Nr. 2000. Abbildung 16: Gutshof mit der Hofelusche. Quelle: UAT 359, Nr. 2000.
Abbildung 17: Gertrud Dyhrenfurth (Mitte, daneben die Ehepaare Preuß und Berndt) mit der Belegschaft des Guts beim Erntefest um 1928. Quelle: UAT 359, Nr. 2000.
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Abbildung 18: Elisabeth von Tippelskirch, geb. Knobelsdorff mit Elisabeth von Knobelsdorff, geb. Dyhrenfurth im Garten in der Bismarckstr. 111 in Berlin-Charlottenburg 1926. Quelle: UAT 359, Nr. 2000.
Abbildung 19: Gertrud Dyhrenfurth und Schwester Gertrud Zeigermann (Leiterin der Spielschule) im Garten der Spielschule um 1938. Quelle: UAT 359, Nr. 2000.
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Abbildung 20: Die Organisatorinnen des zweiten Kriegslehrgangs, unten links: Gertrud Dyhrenfurth. Quelle: Die Gutsfrau, 4. Jg. 1919, S. 171.
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Abbildungen 21 und 22: Die ländliche Frauenbewegung und ihre Führerinnen. Portrait 6: Gertrud Dyhrenfurth, Portrait 8: Rosa Kempf. Quelle: Die Wochenschau. Illustrierte Zeitung, 10 Jg., H. 34, 24. August 1918, S. 546–547.
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Abbildung 23: Rosa Kempf um 1919. © Bildarchiv Bayerischer Landtag, Foto: Rolf Poss. Abbildung 24: Marie und Ulrich Bernays um 1891. Quelle: ISG-StAMA, AB01420–001.
Abbildung 25: Michael Bernays, der Vater von Marie Bernays. Quelle: GLA, Bestand N, Bernays, Nr. 15. Abbildung 26: Louise Bernays, die Mutter von Marie Bernays. Quelle: GLA, Bestand N, Bernays, Nr. 15.
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Abbildung 27: Marie und Ulrich Bernays um 1889. Quelle: ISG-StAMA, AB01420–003.
Abbildung 28: Marie und Ulrich Bernays (Hoffotograf Oskar Suck, Karlsruhe). Quelle: ISG-StAMA, AB01420–005.
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VIII Bildanhang
Abbildung 29: Marie Bernays (zweite Reihe, 4. von links), Elisabeth Altmann-Gottheiner (zweite Reihe, 3. von links) und der erste Abschlussjahrgang der Sozialen Frauenschule Mannheim 1918. Quelle: ISG-StAMA, KF033361.
Abbildung 30: Marie Bernays um 1918. Quelle: ISG-StAMA, KF007199.
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Abbildung 31: Marie Bernays (erste Reihe stehend, 4. von links) mit Schülerinnen und Dozentinnen (5. von links: Mathilde Schmitt, 6. von links: Maria Caroli) der Sozialen Frauenschule Mannheim um 1928. Quelle: ISG-StAMA, AB766
Abbildung 32: Marie Bernays und Margareta Steinmetz um 1929. Quelle: ISG-StAMA, KF039294.
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Abbildung 33: „Der Spelzengärten Not und Elend!“, „Hütten in einer Umzäunung!“, Quelle: Bernays (1931), Anhang 21, Bild 7.
Mit einer Vielzahl von Untersuchungen zur sozialen Lage der Arbeiterschaft wurde um 1900 eine Datenbasis zur Lösung der sozialen Frage geschaffen. Marion Keller kann zeigen, dass Frauen dazu einen entscheidenden Beitrag geleistet haben – obwohl ihnen zu diesem Zeitpunkt der Zugang zu Universitäten noch weitgehend verwehrt und die Mitarbeit in politischen Vereinen und Parteien verboten war. Die empirischen Studien von Elisabeth Gnauck-Kühne, Gertrud Dyhrenfurth, Rosa Kempf und Marie Bernays waren aufwendig und methodisch innovativ. Sie vermittelten einen ersten Einblick in die bis dahin nicht erforschten prekären Lebens-
und Arbeitsbedingungen von Fabrikarbeiterinnen, Heimarbeiterinnen und Frauen in der Landwirtschaft. Keller verknüpft in dieser Arbeit Ansätze der Wissenschaftsgeschichte mit einer geschlechterhistorischen und wissenschaftssoziologischen Perspektive, um den Beitrag von Frauen zur empirischen Sozialforschung im Wilhelminischen Kaiserreich sichtbar zu machen. Sie beleuchtet, in welchen Kontexten und unter welchen Einflüssen die Forschungsarbeiten der Pionierinnen entstanden – und welche Rückwirkung ihre Studien auf Wissenschaft, Politik und Gesellschaft hatten.
www.steiner-verlag.de Franz Steiner Verlag
ISBN 978-3-515-11985-6
9 7 8 3 5 1 5 1 1 9856