120 74 2MB
German Pages 94 Year 2018
Was bleibt von Nietzsches Philosophie? Von
Andreas Urs Sommer
Duncker & Humblot · Berlin
ANDREAS URS SOMMER Was bleibt von Nietzsches Philosophie?
Lectiones Inaugurales Band 19
Was bleibt von Nietzsches Philosophie?
Von
Andreas Urs Sommer
Duncker & Humblot · Berlin
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.
Alle Rechte vorbehalten © 2018 Duncker &Humblot GmbH, Berlin Fremddatenübernahme: L101 Mediengestaltung, Fürstenwalde Druck: Meta Systems Publishing & Printservices GmbH, Wustermark Printed in Germany ISSN 2194-3257 ISBN 978-3-428-15429-6 (Print) ISBN 978-3-428-55429-4 (E-Book) ISBN 978-3-428-85429-5 (Print & E-Book) Gedruckt auf alterungsbeständigem (säurefreiem) Papier entsprechend ISO 9706 Internet: http://www.duncker-humblot.de
Curt Stöving: Bronzemedaille auf den Tod von Friedrich Nietzsche 1900 (Privatsammlung)
Les chaires de professeurs n’ont pas été faites pour la philosophie, mais bien la philosophie pour les chaires? Honoré de Balzac: La Peau de chagrin (Œuvres complètes, Bd. 14, Paris 1855, S. 47)
7
Anstelle einer Vorrede Friedrich Nietzsche hat die akademische Philosophie leidenschaftlich verachtet – nicht ohne von ihren Erkenntnissen unbefangenen Gebrauch zu machen, sofern sie sich in seine eigenen Denkbewegungen einpassen ließen. Auf akademische Kasualrhetorik verließ er sich nur zu Beginn seiner Karriere als Professor, als er 1869 in Basel seinen Einstand als klassischer Philologe geben musste und unter dem Titel Homer und die klassische Philologie in öffentlicher Rede darüber nachdachte, wie denn die Philologie zu einer Universalwissenschaft werden könne, die nicht nur die Antike auferstehen lasse, sondern auch die Gegenwart erneuern würde (KGW II 1, 247–269).1
1 Nietzsches Werke, Nachlass und Briefe werden nach den folgenden Ausgaben jeweils mit Band- und Seitenangabe zitiert: KGW = Nietzsche, Friedrich: Werke. Kritische Gesamtausgabe, hrsg. von Giorgio Colli und Mazzino Montinari, Berlin / New York 1967 ff. KGB = Nietzsche, Friedrich: Briefwechsel. Kritische Gesamtausgabe, hrsg. von Giorgio Colli und Mazzino Montinari, Berlin / New York 1975 ff. KSA = Nietzsche, Friedrich: Sämtliche Werke. Kri tische Studienausgabe in 15 Einzelbänden, hrsg. von Giorgio Colli und Mazzino Montinari. 3. Auflage, München / Berlin / New York 1999.
9
Versteht man Kasualrhetorik als anlassbezogene Redehandlungen, kann man sich Nietzsche leicht als ihren ausgemachten Feind ausmalen: Muss er, der große intellektuelle Selbstbefreiungskünstler, denn nicht all die hochfeierlichen Anlässe verabscheut haben, mit der die akademische Welt sich selbst zu beweihräuchern pflegt? Ist er selbst denn nicht der Meister der geschliffen-scharfen Form, des Aphorismus, der Sentenz, des Kurz-Essays, des philosophischen Kurz-Dialogs und Miniatur-Dramoletts, auch des Gedichts, sogar der Erzählung, gewiss aber nicht der öffentlichen Rede? Seine 1872 gehaltenen Basler Vorträge Ueber die Zukunft unserer Bildungsanstalten, mit denen er im Alter von nicht einmal 28 Jahren seinen Abschied als öffentlicher Redner gab, hat er jedenfalls nie einer Publikation für würdig befunden. Zielen Philosophen nicht auf zeitlose Aussagen ab, die sich in anlassbezogenen Redehandlungen gewöhnlich nicht unterbringen lassen? Man mag einwenden, weder gehöre Nietzsche zu den auf Zeitlosigkeit abzielenden Philosophen, noch gebe ein Kasualredner den Anspruch auf, etwas von anlassübergreifender Relevanz zu sagen. Indes fällt auf, dass der scheinbar öffentlicher Rede so fernstehende Nietzsche nicht nur als bedeutender literarischer Experimentator das Gewicht der in der Philosophie sonst oft verunglimpften Rhetorik neu KSB = Nietzsche, Friedrich: Sämtliche Briefe. Kritische Studienausgabe in 8 Bänden, hrsg. von Giorgio Colli und Mazzino Montinari. 2. Auflage, München / Berlin / New York 2003.
10
justiert hat, sondern in seinem bekanntesten Werk Also sprach Zarathustra die Titelfigur a usgerechnet als öffentlichen Redner auftreten lässt und zwar in ganz verschiedenen Situationen und Personenkon stellationen.2 Entgegen dem von Nietzsche gepflegten Image, ein Denker zu sein, der alles aus sich heraus schöpft und auf keinerlei Anregung von außen angewiesen ist, zeigt die nähere Beschäftigung mit seinem Werk, dass es hochreaktiv ist, das heißt: auf alle möglichen Anregungen antwortet, die Welt- und Lektüreerfahrungen boten. Nietzsche konnte alles Anlass zum Denken werden. In jedem Eindruck, jedem Gespräch, jedem Buch, jedem Zeitungsartikel fand er Material, das sich in Philosophie umzuschmelzen lohnte. Es ist also weniger abwegig, Nietzsche und Kasualrhetorik zusammenzubringen, als es im ersten Augenblick erscheint. Oder genauer: Die vermeintliche Abwegigkeit ist nicht nur reizvoll, sondern auch fruchtbar. Einerseits: Nietzsche in anlassbezogene akademische Redehandlungen einzuspeisen, aktiviert ein Irritationspotential, das Philosophie eigentlich stets eigen sein sollte, aber gelegentlich vergessen geht. Nietzsche ist sperrig und passt nur sehr bedingt in einen gediegenen akademischen Rahmen. Umso interessanter sind die Effekte, die 2 Zur ausführlichen Analyse Meier, Heinrich: Was ist Nietzsches Zarathustra? Eine philosophische Auseinandersetzung, München 2017 und Grätz, Katharina: Zarathustra als fiktive Figur, in: Grätz, Katharina / Kaufmann, Sebastian (Hrsg.): Nietzsche zwischen Philosophie und Literatur. Von der Fröhlichen Wissenschaft zu Also sprach Zarathustra, Heidelberg 2016, S. 359–378.
11
er dort zeitigt. Andererseits: Was geschieht mit Nietzsche, wenn er sozusagen ins akademische Glied zurückgestellt wird – wenn man ihn einbindet in akademische Kontexte? Wird er zahnlos oder erst recht bissig? Welche Zähne kommen zum Einsatz: Schneidezähne, Backenzähne, Fangzähne, Stoßzähne? Solche Fragen bilden den Reflexionsrahmen der drei Rede-Texte, die im vorliegenden Bändchen Nietzsche-Forschung mit rhetorischen Augenblicks- und Anlassbedürfnissen zusammenzubringen versuchen. Titelgebend ist die Antrittsvorlesung, die ich am 5. Juli 2017 an der Albert-Ludwigs-Universität Freiburg auf der neugeschaffenen Professur für Philosophie mit Schwerpunkt Kulturphilosophie gehalten habe. Es handelt sich um die erste Akademie-Professur in Baden-Württemberg, die gemeinsam von der Universität Freiburg und der Heidelberger Akademie der Wissenschaften eingerichtet worden ist. Verbunden ist die Professur mit der Leitung der in Freiburg angesiedelten Forschungsstelle Nietzsche-Kommentar der Heidelberger Akademie, der Landesakademie der Wissenschaften in Baden-Württemberg. Daher lag es nahe, nicht nur über Nietzsches Beziehungen zu Freiburg zu sprechen, sondern auch über die Frage, wie sich denn der historische und kritische Anspruch, mit dem der Kommentar kontextualisierend an Nietzsches Werke herantritt, mit der Idee verbinden lasse, es gebe so etwas wie Nietzsches Philosophie. Was bleibt von Nietzsches Philosophie, wenn wir doch eigentlich nur Nietzsches Texte haben? Könnte es sein, dass Nietzsches Philosophie nicht 12
nur ein Set von Propositionen, ein Gefüge von Gedanken, sondern vielmehr eine besonders listige, erosive intellektuelle Praxis ist? Die Gespräche mit meinen Kollegen beim Nietzsche-Kommentar, Katharina Grätz und Sebastian Kaufmann, haben die nachfolgenden Überlegungen zur ‚textistischen‘ und zur ‚inhaltistischen‘ Herangehensweise wesentlich befördert. Der Berufung vorangegangen ist naturgemäß ein Berufungsverfahren, in dessen Rahmen ich am 2. Juni 2016 einen Bewerbungsvortrag zu halten hatte. Dabei bot es sich an, die Denomination der Professur mit dem Forschungsschwerpunkt der Akademie-Forschungsstelle in Beziehung zu setzen. Unter dem Titel Nietzsche, kulturphilosophisch wird nicht nur gefragt, wie sich die gegen Ende des 19. Jahrhunderts herausbildende Kulturphilosophie zu Nietzsche ins Verhältnis setzte, und wie Nietzsche selbst Kultur reflektierte, sondern auch, was kulturphilosophisch heute noch aus seinen Schriften zu gewinnen sein könnte. Eine frühere Fassung dieses Textes ist in den Freiburger Universitätsblättern 2017 erschienen. Am 13. Oktober 2012 durfte ich im NietzscheDokumentationszentrum Naumburg / Saale aus der Hand des Kultusministers den Friedrich-NietzschePreis des Landes Sachsen-Anhalt entgegennehmen. Zu diesem Zeitpunkt war noch nicht abzusehen, dass es sich um die allerletzte Verleihung dieses Landesliteraturpreises handeln würde, der kurz nach der Wende und der Gründung des Bundeslandes im Namen Nietzsches initiiert worden war: 13
Der regionalen Kulturlobby galt es schon lange als Ärgernis, dass die sachsen-anhaltinische Autorenwürdigung als Friedrich-Nietzsche-Preis nicht den lokalen Literaturgrößen zu Gute kam, weshalb man in einer denkwürdigen Mischung von Biedersinn und Provinzialismus erfolgreich die Umbenennung in „Klopstock-Preis für neue Literatur“ betrieb – im Wissen darum, wie sehr gerade der fromme Empfindsamkeitsdichter Friedrich Gottlieb Klopstock (und nicht etwa das enfant terrible Nietzsche) die „neue Literatur“ nachhaltig bestimmt, zumindest in Sachsen-Anhalt. Indes konnte dank der Zusammenarbeit der Friedrich Nietzsche Stiftung, der Elisabeth Jenny Stiftung, der Nietzsche-Gesellschaft e. V., der Stadt Naumburg und der Bürgergemeinde Basel der Nietzsche-Preis ohne Beteiligung des Landes Sachsen-Anhalt als Internationaler Friedrich-Nietzsche-Preis neu lanciert werden. Er wird nun seit 2015 alternierend in Naumburg und in Basel vergeben. Anlässlich der Verleihung des letzten sachsenanhaltinischen Friedrich-Nietzsche-Preises wurde die hier an dritter Stelle abgedruckte Festrede Philosophie als Wagnis gehalten, die 2013 in der Nietzscheforschung, dem Jahrbuch der NietzscheGesellschaft erschienen ist. Eine solche Auszeichnung klingt zwar danach, als gehöre der Geehrte zum arrivierten akademischen Establishment. Aber 2012 trog der Schein. Denn der Preisträger durfte sich damals zwar schon mit dem schönen Titel eines außerplanmäßigen Professors schmücken, hatte aber ohne Dauerstelle ungewisse berufliche Zukunftsaussichten. Entsprechend handelt die Fest 14
rede auch vom existenziellen Risiko, das das Wagnis Philosophie notwendig mit sich bringt. Was aus der Retrospektive einer Antrittsvorlesung auf eine Lebzeitprofessur wie eine gradlinige akademische Karriere aussehen könnte, ist dies nicht. Dass eine akademische Karriere hierzulande in hohem Maße von allgemeinen Unwägbarkeiten abhängt, dürfte bekannt sein.3 Freilich sollte keine Nietzsche-Forscherin und kein Nietzsche-Forscher sich Illusionen im Blick auf die speziellen Unwägbarkeiten hingeben: So unvermindert groß das Publikumsinteresse an Nietzsche auch ist, so wenig lässt sich mit ihm in der gegenwärtigen deutschen Universitätsphilosophie doch ein Blumentopf, geschweige denn eine Dauerstelle gewinnen. Eine ganze Generation von Nietzsche-Spezialistinnen und -Spezialisten, die im deutschsprachigen Raum Philosophie-Professuren bekleidet haben, ist mittlerweile in den Ruhestand getreten – und keine(r) ihrer Nachfolgerinnen und Nachfolger betreibt Nietzsche-Forschung. Während weltweit die Nietzsche-Diskussion blüht, ist es in Deutschland nahezu unmöglich geworden, auch nur fachlich angemessen betreute philosophische Nietzsche-Dissertationen zu schreiben. Dabei ist dieses akademischphilosophische Nietzsche-Desinteresse nur ein besonders sichtbares Symptom einer generellen Abwendung von der eigenen Fachgeschichte: Phi3 Siehe Sommer, Andreas Urs: Die Kunst, selber zu denken. Ein philosophischer Dictionnaire. Erfolgsaus gabe, Frankfurt am Main 2003, S. 190–192 (Lemma „Nachwuchs, akademischer“).
15
losophiegeschichtsschreibung gilt vielerorts als antiquiert und einer systematisch ambitionierten Philosophieverwaltungswissenschaft4 hinderlich: Ein wesentlicher Grund für diese Abwendung ist das gewaltige Irritationspotential, das frühere Denkbemühungen in die Gegenwart hineintragen könnten. Ahistorische akademische Philosophie, die sich mittlerweile so gern als reine Wissenschaft versteht, unternimmt eine Menge, Quellen der Irrita tion, die von anderem, fremden Denken ausgeht, versiegen zu lassen. Ob eine derartige irritationsfeindliche, aseptische und antiseptische Philosophie eine große Zukunft haben wird, wird sich zeigen. Für meinen Teil hoffe ich, (mir) auch künftig das Irritationspotential früherer ebenso wie gegenwärtiger Denkbemühungen lebendig zu erhalten und nicht als frischgebackener Angehöriger des akademischen Establishments der bloßen Verwaltung philosophischer Denkbestände zu verfallen. Sollte sich letzteres abzeichnen, bitte ich um entsprechende Winke, mit oder ohne Zaunpfahl.5 München, im März 2018
Andreas Urs Sommer
4 Dazu Sommer, Andreas Urs: Lexikon der imaginären philosophischen Werke, Berlin 2012, S. 239–242. 5 Alexandra Hertlein danke ich sehr für die sorgfältige Durchsicht des Manuskriptes und für kapitale Verbesserungsvorschläge.
16
Inhaltsverzeichnis Was bleibt von Nietzsches Philosophie? . . . . . . . . . . . 19 1. Nietzsches Freiburg . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 19 2. Freiburgs Nietzsche . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 21 3. Was bleibt von Nietzsches Philosophie? . . . . . . . . 28 4. Was bleibt von Nietzsches Philosophie? . . . . . . . . 41 5. Ein Schild . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 45 Nietzsche, kulturphilosophisch . . . . . . . . . . . . . . . . . . 48 1. Nietzsche und die Entstehung der Kulturphilosophie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 50 2. Kultur bei Nietzsche . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 58 3. Nietzsche, kulturphilosophisch, für die Gegenwart . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 66 Philosophie als Wagnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 70 Personenregister . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 91 Zum Autor . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 93
17
Was bleibt von Nietzsches Philosophie? 1. Nietzsches Freiburg „Von Freiburg weiß ich nichts, gar nichts.“ (KSB 4, 44). Der Altphilologe Friedrich Nietzsche, der dies am 2. August 1872 Erwin Rohde in Kiel schrieb, war als Professor bereits seit drei Jahren an der benachbarten Universität Basel in Amt und Würden. Er hatte versucht, seinem Studienfreund Rohde zu dem gerade vakanten Freiburger Lehrstuhl zu verhelfen. Mit dem eingangs zitierten Satz tat er keineswegs kund, dass ihm die Stadt am Fuße des Schwarzwaldes gänzlich unbekannt sei, sondern nur, dass er in der Berufungsangelegenheit nichts Neues gehört habe. „Wie würde ich die Combination Deiner Versetzung dorthin preisen! […] Ich habe Deinen Namen meinen Freiburger Bekannten oft und stark ins Gedächtniß gerufen.“ (Ebd.). Schon zwei Jahre früher, am 9. April 1870, berichtete Nietzsche seinem ehemaligen akademischen Lehrer Friedrich Ritschl über den Fortgang der Arbeit an seiner Abhandlung Certamen quod dicitur Homeri et Hesiodi und fügte an: „ich habe für den ganzen Stoff ein stilles tendre, wie Sie (und ich) für Freiburg“ (KSB 3, 115). Freiburger Lokalpatrioten werden vielleicht frohlocken: Nietzsche bekannte sich also zu einer Neigung zu ihrer Heimatstadt. Diese Neigung blieb freilich sehr 19
„still“, zumal das in Klammern gesetzte Bekenntnis nur die höfliche Replik auf eine Frage war, die ihm Ritschls Brief vom 30. März 1870 aufgegeben hatte: „Und wie gefällt Ihnen Freiburg? Ich gestehe dafür immer ein stilles tendre gehabt zu haben.“ (KGB II 2, 185). Gelegentlich mochte Nietzsche den einen oder anderen Bekannten an der hiesigen Universität besucht haben, häufig war er aber nicht hier, zumal statt Rohde Otto Keller auf die Freiburger Professur berufen wurde. Am 19. Marz 1874 ließ Nietzsche Freund Rohde wissen: „Übrigens sind die Menschen schrecklich dumm in Beziehung auf akademische Beamtungen, ich war neulich in Freiburg und hörte über den unausstehlichen Pedanten und Nörgelfritzen Keller klagen. Ist Recht!“ (KSB 4, 209 f.). Auch zwei weitere Abstecher Nietzsches nach Freiburg scheinen nicht eben glücklich verlaufen zu sein. Der eine, ungefähr zur selben Zeit, betraf eine in der Freundeskorrespondenz immer nur als das „Gespenst“ bezeichnete Verehrerin, Rosalie Nielsen, die Nietzsche seit seiner Geburt der Tragödie brieflich mit dionysischer Zudringlichkeit behelligte. Sie soll dem Philosophen Hans Vaihinger 1875 von ihrer einzigen Begegnung mit Nietzsche erzählt haben: „Danach hätte als Ergebnis eines Briefwechsels in einem Hotel in Freiburg i / B. eine Zusammenkunft stattgefunden. Nietzsche soll sich, entsetzt über den äußeren Habitus der Dame, schon nach Sekunden wieder aus dem Zimmer entfernt haben, nachdem er ihr nur die theatralische Phrase ins Gesicht geschleudert hatte: ‚Scheusal, du hast mich betro20
gen!‘ Frau Nielsen fragte Professor Vaihinger, was Nietzsche wohl damit gemeint habe.“1 Die Frage, was Nietzsche zu einem Besuch in Frau Nielsens Hotelzimmer bewogen haben mag, verliert sich in dunklen Mutmaßungen, denn von Nietzsche selbst ist uns die Szene nicht überliefert. Im Unterschied zum letzten belegten Aufenthalt in Freiburg, als er auf dem Weg nach Genua unfreiwillig hier Station machte. Am 8. Oktober 1883 schrieb er an Mutter und Schwester: „Meine Lieben, ach was für eine Reise! Zwar ergab sich in Frankfurt, daß Overbeck und Frau im gleichen Zuge gewesen waren, aber eine Stunde nach unserm Zusammensein war ich krank. Ich reiste allein weiter und kam bis Freiburg mit größter Mühe. Dort legte ich mich zu Bett: eine Nacht Erbrechens. Am Morgen drängte mich der Lärm im Hause fort nach Basel zu reisen.“ (KSB 6, 446). „Lärm im Hause“, „eine Nacht Erbrechens“: Nietzsches bekannte Freiburger Exkursionen standen allesamt unter keinem guten Stern, das „stille tendre“ hin oder her. 2. Freiburgs Nietzsche Wenn es um Nietzsches Verhältnis zu Freiburg schon so misslich bestellt war, bleibt doch die Hoffnung, dass Freiburgs Verhältnis zu Nietzsche unter einem besseren Stern stand und steht. Immerhin scheint eine Reihe Freiburger Autoren an 1 Bernoulli, Carl Albrecht: Franz Overbeck und Friedrich Nietzsche. Eine Freundschaft, Bd. 1, Jena 1908, S. 118.
21
Nietzsche etwas Bleibendes gefunden oder doch immerhin die Notwendigkeit gesehen zu haben, zu untersuchen, ob es da etwas Bleibendes gibt. Ich greife exemplarisch vier – längst verstorbene – Philosophieprofessoren heraus, die sich in Buchform an Nietzsche versucht haben, vielleicht auch, weil sie Nietzsche als Versuchung verstanden, ihre hergebrachten Vorstellungen vom Sein und Sollen der Philosophie zu problematisieren. Alois Riehl, wie Nietzsche 1844 geboren, lehrte seit 1883 an der hiesigen Alma Mater, folgte allerdings 1896 einem Ruf nach Kiel. Im darauffolgenden Jahr erschien mit seinem Buch Friedrich Nietzsche. Der Künstler und der Denker die erste wirkmächtige, vielfach wiederaufgelegte Nietzsche-Monographie aus der Feder eines akademischen Philosophen. Riehl verstand seine eigene Aufgabe in Analogie zu der eines Chemikers (oder eines Alchimisten): In seinem Buch werde das, „worin Nietzsche sich widerspricht, also widerlegt, aufgehoben, und was bei diesem Scheideprozesse zurückbleibt, ist das Klassische, das heißt das Gesunde in Nietzsches Schriften“.2 Der mit Nietzsche beschäftigte Philosoph soll das Bleibende an ihm aufspüren. Die Titelfrage der hier gehaltenen An2 Riehl, Alois: Friedrich Nietzsche. Der Künstler und der Denker [1897]. Sechste Auflage, Stuttgart, S. VII. Zu den Unterschieden zwischen den verschiedenen Auflagen siehe Sommer, Andreas Urs: Nietzsche katalytisch. Philosophische Nietzsche-Lektüren im 20. Jahrhundert, in: Brusotti, Marco / Reschke, Renate (Hrsg.): „Einige werden posthum geboren“. Friedrich Nietzsches Wirkungen, Berlin / Boston 2012, S. 21–50.
22
trittsvorlesung hat man sich, auch jenseits von Freiburg, also schon früh gestellt. Heinrich Rickert, Nachfolger Riehls auf dem Freiburger Lehrstuhl, hat 1920 – er war zu diesem Zeitpunkt schon seit fünf Jahren in Heidelberg –, in seinem Buch Die Philosophie des Lebens. Darstellung und Kritik der philosophischen Modeströmungen unserer Zeit aus seiner Einschätzung keinen Hehl gemacht, dass es um das Bleibende bei Nietzsche prekär bestellt sei. Zwar habe er der Lebensphilosophie ihr Leib- und Leitwort gegeben, eben „Leben“;3 da diese Lebensphilosophie als „Modeströmung“ allerdings eine ephemere Erscheinung sei, dürfte hier auch bei Nietzsche wenig Bleibendes zu erwarten sein: Die „Ueberschätzung des bloßen Lebens“ sei „geboren aus einer Lebensnot. Aus ihr darf man keine philosophische Tugend machen. Das aber hat Nietzsche getan.“4 Rickert wehrt sich als „wissenschafliche[r] Mensch“ gegen die „enge moralfanatische Intoleranz“, die sich in Nietzsches Kritik „am Willen zum System als Mangel an Rechtschaffenheit“5 Gehör verschaffe. „Zweifellos gehört er zu den geistreichsten Schriftstellern, die Deutschland besitzt. Dessen wollen wir uns freuen. Aber zu den ‚großen Philosophen‘? Wer würde es wagen, Platon oder Kant geistreich zu nennen? Eine persönliche Bemerkung 3 Vgl. z. B. Rickert, Heinrich: Die Philosophie des Lebens. Darstellung und Kritik der philosophischen Modeströmungen unserer Zeit, Tübingen 1920, S. 19. 4 Ebd., S. 136. 5 Ebd., S. 145.
23
sei mir gestattet. Ich habe als junger Student im Sommer 1886 die drei ersten Teile des Zarathus tra / 180 / mit glühender Begeisterung gelesen, zu einer Zeit, da Nietzsche völlig unbekannt war, und von da ab jede Zeile von ihm, die mir zugänglich wurde. Oft habe ich früher hören müssen, daß ich ihn überschätze, und noch jetzt greife ich immer wieder nach seinen Werken. Aber für ‚einen großen Philosophen‘ werde ich ihn erst halten, wenn man mir zeigt, daß er einem der zeitlosen Probleme der Philosophie, die seit Platon das europäische Denken beherrschen, eine wesentlich neue Seite abgewonnen hat, und ein solcher Versuch ist bisher nicht gemacht. Ja, Nietzsche bleibt in einigen fundamentalen Fragen weit hinter dem zurück, was wissenschaftlich längst klar gestellt war, als er zu philosophieren begann.“6 Rickert ist Nietzsche als „geistreichem Schriftsteller“, den er immerhin von früh an intensiv studiert zu haben beansprucht, also durchaus gewogen, jedoch nicht bereit, ihm etwas philosophisch Bleibendes zu attestieren, jedenfalls nicht, solange ihm niemand zeige, dass Nietzsche zur Erörterung der „zeitlosen Problemen der Philosophie“ etwas Wesentliches beigetragen habe.7 6 Ebd.,
S. 179 f., Fn. Nietzsche und Rickert siehe auch Möckel, Christian: Heinrich Rickert über Nietzsches Bedeutung für die zeitgenössische und die zukünftige Philosophie des Lebens, in: Himmelmann, Beatrix (Hrsg.): Kant und Nietzsche im Widerstreit. Internationale Konferenz der Nietzsche-Gesellschaft in Zusammenarbeit mit der Kant7 Zu
24
In gewisser Weise versucht Rickerts Nach-Nachfolger auf der Freiburger Professur genau dieser Forderung nachzukommen, allerdings unter einer wesentlichen Einschränkung: Martin Heidegger, dessen intensive Auseinandersetzung sich im zweibändigen Textkonvolut Nietzsche von 1961 kondensiert, hätte bei den von Rickert als „zeitlos“ indizierten philosophischen Problemen genau diesen Index der Zeitlosigkeit gestrichen und geltend gemacht, dass diese angeblich zeitlosen P robleme sehr zeitgebunden seien, nämlich gebunden an die Zeit der Seinsvergessenheit. Nietzsches sogenannte Lehren vom ‚Willen zur Macht‘ und von der ‚Ewigen Wiederkunft‘ haben in Heideggers Augen sehr wohl dem Problemzusammenhang der Seinsvergessenheit etwas Wesentliches, etwas Finales, nämlich die finale nihilistische Entleerung hinzugefügt. Nietzsche erscheint nun als End gestalt einer philoso phischen Unheilsgeschichte, oder, um es weniger freundlich zu formulieren: Heideggers Nietzsche, verdünnt auf angebliche Hauptlehren, ist eine Setzkastenfigur der Seinsgeschichte. Das Bleibende an Nietzsches sind in Heideggers Rekapitulation aber nicht einmal diese angeblichen Hauptlehren, sondern der Umstand, dass er ihm, Heidegger und damit dem Ende der Seinsvergessenheit den Weg bereitet hat. Was von Nietzsche bliebe, erschöpfte sich darin, Steigbügelhalter des philosophischen Messias gewesen zu sein.8 Gesellschaft: Naumburg an der Saale, 26.–29. August 2004, Berlin / New York 2005, S. 384–394. 8 Vgl. ausführlich Kaufmann, Sebastian: Nietzsche in Heideggers „Schwarzen Heften“ seit 1931 / 32, in: 25
Was die Freiburger Philosophen bis dahin bei Nietzsche für bleibend hielten, war wahlweise das Werk eines geistreichen Schriftstellers, ein paar Lehren, die das Repertoire einer verblichenen Form von Philosophie komplettiert haben oder aber ein bestimmter imperialer Gestus des Philosophierens, nämlich eines Philosophen, der als Gesetzgeber auftritt und, so dann Heideggers implizite Folgerung für sein eigenes Selbstverständnis, das Sein an die Hand nehmen kann. Will man das Panorama der Freiburger Philo sophen, die nach Nietzsche gefragt haben, weiter auffächern, sollte man Eugen Fink nicht vergessen, der hier seit 1948 als Professor wirkte, sich später aber weigerte, den ihm angetragenen Lehrstuhl Riehls, Rickerts, Husserls und Heideggers zu übernehmen. Finks Buch Nietzsches Philosophie erschien erstmals 1960, erlebte mehrere Neuauflagen und sucht, so der Titel des ersten Kapitels, „Die Philosophie Nietzsches hinter Masken“. Dabei greift Fink zu eschatologischen Bildern: Nietzsche sei „eine der großen Schicksalsfiguren der abendländischen Geistesgeschichte, ein Mensch des Verhängnisses, der zu letzten Entscheidungen zwingt, ein furchtbares Fragezeichen am Weg, den bislang Jahrbuch zur Kultur und Literatur der Weimarer Repu blik 17 (2015), S. 93–114, und Sommer, Andreas Urs: Nietzsche als Drehscheibe in ‚die‘ Moderne? Heideggers Nietzsche in den Schwarzen Heften und die Rolle des Philosophen, in: Gander, Hans-Helmuth / Striet, Magnus (Hrsg.): Heideggers Weg in die Moderne. Eine Verortung der „Schwarzen Hefte“, Frankfurt am Main 2017, S. 71–94. 26
der abendländische Mensch ging“.9 Finks Nietzsche geht die Menschen der Gegenwart noch unbedingt etwas an; er erscheint als derjenige, der mit allen Vergangenheiten gebrochen hat und eine radikale Umkehr einläuten wollte. Fink zufolge gehört Nietzsche nicht zum philosophiehistorischen Alteisen; vielmehr sei sein Einfluss noch immer im Steigen begriffen, obwohl sein Denken „vielleicht immer noch unverstanden“ sei und „wesentlicher Deutungen“ harre.10 Wir müssten uns Nietzsches Philosophie mit einem Vorbegriff von Philosophie nähern, der derjenige der Metaphysik ist, von der sich Nietzsche gerade habe freimachen wollen, so dass wir in das Paradox hineingeraten, zur Nietzsche-Beschäftigung nie den eigentlich richtigen Anfang finden zu können. Dass Fink in seiner metaphysikgeschichtlichen Deutung Nietzsches nahe bei Heidegger ist, liegt auf der Hand. Aber er sieht doch im Unterschied zu Heidegger in Nietzsche einen anderen Anfang der Philosophie nicht erst versprochen, sondern schon verwirklicht. Die noch ungelöste Aufgabe, was Philosophie jetzt und künftig sein soll, hat Finks Nietzsche der Menschheit ins Stammbuch geschrieben. Nietzsche hat das Vertrauen in die noch von Rickert beschworenen „zeitlosen Probleme der Philosophie“ zwar erodiert. Aber abgesehen von diesem negativen Befund ist offen, was denn von Nietzsche bleibt.
9 Fink, Eugen: Nietzsches Philosophie Sechste Auflage, Stuttgart 1992, S. 7. 10 Ebd., S. 9.
[1960].
27
3. Was bleibt von Nietzsches Philosophie? Die Frage, was von Nietzsches Philosophie bleibe, ist mehrdeutig. Aus der Fülle der möglichen Bedeutungen will ich nur zwei herausgreifen. Die erste, nächstliegende, buchstabiert die Frage dahingehend aus, ob denn diese Philosophie für die Gegenwart oder gar die Zukunft noch eine Relevanz habe. Versteht man die Frage mit dem Akzent auf dem „bleibt“ als Frage nach der anhaltenden Bedeutsamkeit von Nietzsches Philosophie, schließt sich die Folgefrage an, was das Eigent liche und Wesentliche an Nietzsches Philosophie sei. Die vier zitierten Freiburger Philosophen hatten dazu dezidierte, wenn auch unvereinbare Ansichten. Im Kern neigten sie wie überhaupt die Forschung im 20. Jahrhundert dazu, Nietzsches Philosophie auf bestimmte Propositionen zu bringen und dann anhand dieser ‚Lehren‘ genannten Propositionen zu entscheiden, ob von Nietzsches Philosophie noch etwas bleibe. Bevor ich jedoch meinerseits eine davon etwas abweichende Antwort skizziere, sei die zweite mögliche Bedeutung der Frage, anders akzentuiert, in den Vordergrund gerückt: Was bleibt von Nietzsche Philosophie, wenn wir doch nur Nietzsches Texte haben, die bei genauer Betrachtung in unterschiedlichste Richtungen zu weisen scheinen? Wer wie ich dank der Arbeit am NietzscheKommentar der Heidelberger Akademie der Wissenschaften täglich mit Nietzsches Texten beschäftigt ist, hat es mit einem vielfältigen Nietzsche zu tun, der sich nicht umstandslos auf einen Nenner 28
bringen lässt. Sonst ist der philosophische Interpret in einer ungleich komfortableren Lage: Er kann aus dem immensen Textkonvolut ‚Nietzsche‘ das herausgreifen, was ihm aus welchen Gründen auch immer das ‚Eigentliche‘ und ‚Wesentliche‘ zu sein scheint, um den Rest diesem ‚Eigentlichen‘ und ‚Wesentlichen‘ zu subsumieren. Aber mit welchem hermeneutischen Recht verfährt man so bei einem Autor, dessen Werk in so verschiedene Richtung zu weisen scheint? Was gibt dem Interpreten das Recht, aus dem Partikularen, beispielsweise den verstreuten Äußerungen über den ‚Willen zur Macht‘, die ‚Ewige Wiederkunft des Gleichen‘ oder den ‚Übermenschen‘, Schlussfolgerungen zum Ganzen von Nietzsches Philosophie zu ziehen? Wie rechtfertigt man einen derartigen Schluss? Bei der Arbeit am Nietzsche-Kommentar haben wir nach und nach – die ersten erschienenen Bände mögen da noch nicht ganz konsequent verfahren sein – darauf verzichtet, dem Philosophen Nietzsche bestimmte Positionen fest zuzuschreiben. Dann heißt es beispielsweise nur noch, in Abschnitt 125 der Fröhlichen Wissenschaft trete ein „toller Mensch“ auf, der den Tod Gottes verkündige, anstatt zu sagen, Nietzsche habe in diesem Abschnitt den Tod Gottes verkündigt oder gar, seine Philosophie lehre den Tod Gottes. Konsequent ‚textologisch‘ oder ‚textistisch‘ wäre es nun, auf solche Zuschreibungen ganz zu verzichten und hinter den Texten den Philosophen Nietzsche und damit auch die Philosophie Nietzsches zum Verschwinden zu bringen. Nietzsche wäre für nichts verantwortlich; 29
es gäbe kein Kontinuum, keinen Zusammenhang seines Denkens. Verbunden mit der Einsicht, dass wir nur Nietzsches schriftliche Hinterlassenschaften haben, nicht aber Nietzsches Denken (als Prozess) selbst, keine Innenansicht seines Kopfes, könnte eine an den Texten orientierte Beschäftigung ‚mit Nietzsche‘ dazu tendieren, ganz auf die Konstruktion von gedanklicher Kohärenz, auf die Konstruktion einer ‚Philosophie Nietzsches‘ zu verzichten. Damit aber geriete sie in den Ruch einer reinen Philologie, die philosophisch gänzlich uninteressant wäre. Demgegenüber verfahren philosophische Interpreten traditionell ‚inhaltistisch‘. Für sie ist es – ganz egal, ob sie sich ‚kontinental‘ oder ‚analytisch‘ verstehen – selbstverständlich, dass man ‚Nietzsche‘ irgendwelche Positionen und Propositionen zuschreiben kann. Aus Texten kann man das Denken erschließen, ohne in den Kopf des Philosophen hineinsehen zu müssen, und dieses Denken zeigt sich in bestimmten Urteilen, die sich von Urteilen anderer Philosophen unterscheiden und deren Valenz man argumentationslogisch erschließen kann. So kommt man zu Nietzsche als dem Philosophen des ‚Willens zur Macht‘, der ‚Ewigen Wiederkunft‘, des ‚Übermenschen‘ usf. Die ‚inhaltistischen‘ und die ‚textistischen‘ Interpreten sind sich immerhin darin einig, dass der privilegierte, womöglich einzige Zugang zu Nietzsche nur über das von ihm Geschriebene gelingen kann – einmal ungeachtet der Frage, wie man sein gedrucktes Werk zu seinem Nachlass ins Verhältnis setzt. Die ‚Inhaltisten‘ wollen aber ein Gesamtbild von 30
Nietzsches Denken aus einem sehr begrenzten Korpus von Textpassagen gewinnen, die sie zur Hauptsache, zum Kern von ‚Nietzsche‘ erklären. Dies erlaubt es ihnen dann, den jeweiligen ‚Rest‘, das heißt, den größten Teil von Nietzsches schriftlicher Hinterlassenschaft nach Maßgabe der von ihnen privilegierten Textpassagen zu organisieren. Da erscheint dieser ‚Rest‘ dann als Beglaubigung oder als Wurmfortsatz der großen Lehren, der Hauptpropositionen von Nietzsches Denken. Den Textisten hingegen, die der Leitvorstellung anhängen, möglichst alle Texte gleichermaßen ernst zu nehmen, zerbröselt Nietzsches Denken und damit auch das Denker-Subjekt, dem klare und distinkte Propositionen zuzuschreiben wären, zwischen den Fingern. Nun ist es eine schwierige und unter Philosophiehistorikern zu selten bedachte Frage, von was für einem Subjekt eigentlich die Rede ist, wenn von Nietzsche, Hegel, Kant oder Platon gesprochen wird, dem dann diese oder jene Proposition zugeschrieben wird. Offensichtlich ist die Redeweise ‚Kant ist der Überzeugung, dass p‘, oder ‚Nietzsche vertritt die Lehre q‘ nicht einfach biographisch oder psychologisch gemeint: Es geht nicht darum, das unergründliche Innenleben der längst verstorbenen, historischen Subjekte aus zuforschen. Im inhaltistischen, metonymischen Sprach spiel tra ditioneller Philosophiegeschichtsschreibung sind ‚Kant‘ oder ‚Nietzsche‘ eine Art von transzendentalen oder transzendentalpragmatischen Subjekten, die als personifizierte Produzenten und Platzhalter bestimmter Propositionen gedacht werden und de31
nen man (gemäß dem principle of charity) einen Willen zur Kohärenz, zur systemischen Geschlossenheit zuspricht. In manchen Fällen wird man diesen transzendentalpragmatischen Subjekten eine große Ähnlichkeit mit den historischen Subjekten zu attestieren geneigt sein, nämlich immer dort, wo historisch-biographische Forschungen den Schluss nahelegen, tatsächlich habe auch das jeweilige historische Subjekt einen entschiedenen Willen zum philosophischen System gehabt und ihn zeitlebens beharrlich verfolgt. Manche philosophischen Lebenswerke scheinen auf Kohärenz und Konsistenz geeicht, andere jedoch nicht. Bei Kant oder Hegel mag es angemessener sein, eine solche Eichung zu postulieren als etwa bei Nietzsche, aus dessen Feder es zwar einerseits verstreute Bekenntnisse zu „Lehren“ gibt, aber andererseits ebenso den Fun damentaleinwand: „Der Wille zum System ist ein Mangel an Rechtschaffenheit.“ (KSA 6, 63). Eine weitere Komplikation der Frage, von was für einem Subjekt wir reden, wenn wir von ‚Kant‘ oder ‚Nietzsche‘ reden, will ich hier nur streifen, ohne sie zu diskutieren: Schreibt man philosophische Propositionen einem bestimmten Subjekt zu, kann dies, wenn wir uns nicht mehr im Feld der philosophiehistorischen Rekonstruktion, sondern der philosophisch-systematischen Geltungsansprüche bewegen, zum Einen dazu dienen, eine Proposition zu beglaubigen, im Sinne eines ‚argumentum ad verecundiam‘: Weil Kant p gesagt hat, sollen wir p für wahr halten. Kant locutus, causa finita. Zum anderen kann dies aber auch geschehen, um eine Proposition in obliquer Distanzierung zu de32
potenzieren: Die Proposition p ist Kants Ansicht und bleibt – (entgegen dem oft geltend gemachten Anspruch eines Philosophen, eben nicht nur seine persönliche Sicht der Wirklichkeit wiederzugeben, sondern zu sagen, wie die Wirklichkeit wirklich ist) – eben nur seine persönliche Ansicht, bedingt durch die damaligen Zeit- und Denkumstände. Die Modellierung transzendentalpragmatischer DenkerSubjekte hat oft genug also ideenpolitische Implikationen. Das sieht man am besten daran, wie ‚Nietzsche‘ selbst oder besser: wie in Nietzsches Texten andere Philosophen thematisiert werden. Es gehört zu den eisernen Erkenntnisbeständen der Forschung zu ‚Nietzsche‘, dass das historische Subjekt dieses Namens nie ernsthaft die Schriften Kants oder Spinozas studiert hat, was dieses Subjekt als Autor aber nicht davon abgehalten hat, häufig auf Kant und Spinoza Bezug zu nehmen und dabei selbst wiederum intrikate Beziehung zwischen dem Leben der historischen Subjekte Kant und Spinoza sowie deren Denken, deren Denkformen und Denkinhalten, vor allem aber deren gedachten Propositionen – Lehren – herzustellen. Das historische Subjekt Nietzsche hat als denkendes und schreibendes Subjekt – dessen Produkte wir in Textgestalt vor uns haben – andere historische, transzendentalpragmatische Denker-Subjekte erschaffen, und zwar in zuspitzender, oft polemischer Absicht: Nietzsches Kant beispielsweise ist ein Monstrum, von ‚Nietzsche‘ erdacht oder erschrieben als Gegner, an dem man sich messen kann, um sich in ein ablehnendes Verhältnis zu setzen, während Spinoza 33
von ‚Nietzsche‘ erdacht oder erschrieben wird als Pate eigener immoralistischer Einsichten.11 Der Philosoph spielt nicht abstrakte, unpersönliche Propositionen gegeneinander aus, sondern personalisiert sie, um einen Waffengefährten oder einen Gegner zu haben: Historische, transzendentalpragmatische und posthum modellierte Denker-Subjekte dienen hier wesentlich der Agonalisierung des Denkens oder jenes Schreibens, das dieses Denken dokumentiert. Diese Agonalisierung wirkt unter Nietzsche-Interpreten ansteckend. Ein Beispiel: Die Textisten rücken den Inhaltisten zu Leibe, indem sie deren privilegierte Textpassagen minutiöser Lektüre unterziehen. Da wäre etwa Abschnitt 36 von Jenseits von Gut und Böse (JGB), der den Inhaltisten als locus probans für die von ‚Nietzsche‘ vorgeblich vehement vertretene Lehre vom ‚Willen zur Macht‘ gilt. Zuerst führen die Textisten textgeschichtliche Beobachtungen ins Feld, ziehen eine Vorarbeit zu JGB 36 heran (Nachlass 1885, KGW IX 4, W I 3, 94 f., vgl. KGW VII 4 / 2, 469–471), in der der im Drucktext dominant werdende „Wille zur Macht“ noch überhaupt keine Rolle spielt, sondern stattdessen die Idee der ‚Ewigen Wiederkunft‘. Eine erste Überarbeitung in Diktatform bleibt bei der kosmologischen Gedankenführung der ursprüng lichen Aufzeichnung und deutet die „Welt“ im 11 Dazu eingehend Sommer, Andreas Urs: Nietzsche’s Readings on Spinoza. A Contextualist Study, Particularly on the Reception of Kuno Fischer, in: Journal of Nietzsche Studies 43 / 2 (2012), S. 156–184.
34
Kontext der ‚Ewigen Wiederkunft‘ – die als „meine dionysische Welt“ nicht nur „ohne Ziel“, sondern auch explizit „ohne Willen“ ist, während erst eine zweite Überarbeitung den „Willen zur Macht“ hineinholt und mit der ‚Ewigen Wiederkunft‘ verknüpft (Nachlass 1885, KSA 11, 38[12], 610, 18– 611, 14 sowie KSA 14, 727 bzw. KGW VII 4 / 2, 471 f.). In JGB 36 entfällt schließlich die ganze Spekulation über die ‚Ewige Wiederkunft‘ und, wenigstens nominell, auch über das Dionysische: Die in der letzten Version von 38[12] versuchte Synthese der Theorieansätze ‚Ewige Wiederkunft‘ / ‚Wille zur Macht‘ wird im Drucktext gerade nicht weiterverfolgt. Soweit das textgeschichtliche Vorhut-Scharmützel der Textisten, die es damit aber nicht sein Bewenden haben lassen. Die Textisten vergleichen nun den letzten Schluss von 38[12] mit JGB 36 und heben den Modus-Wechsel hervor: Das Nachlassnotat setzt auf Verkündigung – Verkündigung dessen, was dem sprechenden „Ich“ in seinem „Spiegel“ als gegeben erscheint, dass nämlich „[d]iese Welt […] der Wille zur Macht ist – „und nichts außerdem!“. Nicht nur der Indikativ, sondern ebenso der bestimmte Artikel vor dem „Willen zur Macht“ lassen diese Aussage apodiktisch erscheinen. Hingegen schließt JGB 36, also der vom historischen Autorsubjekt schließlich durch den Druck autorisierte Text, mit einem Konditionalis und lässt den bestimmten Artikel weg, transponiert das Ganze also in das Sprachspiel wissenschaftlicher Hypothesenbildung: „Gesetzt endlich, dass es gelänge, unser gesammtes Triebleben als die Ausgestaltung 35
und Verzweigung Einer Grundform des Willens zu erklären – nämlich des Willens zur Macht, wie es mein Satz ist –; gesetzt, dass man alle organischen Funktionen auf diesen Willen zur Macht zurückführen könnte und in ihm auch die Lösung des Problems der Zeugung und Ernährung – […] – fände, so hätte man damit sich das Recht verschafft, alle wirkende Kraft eindeutig zu bestimmen als: Wille zur Macht. Die Welt von innen gesehen, die Welt auf ihren ‚intelligiblen Charakter‘ hin bestimmt und bezeichnet – sie wäre eben ‚Wille zur Macht ‘ und nichts ausserdem.“ (KSA 5, 55). Das Problem dieser Konditionalisierung, Hypothetisierung, ja Irrealisierung des Gedankens vom „Willen zur Macht“ als Generalnenner der Welt besteht darin, dass die Folgerung tautologisch ist: Wenn man überall Wille zur Macht finden könnte, dann wäre es gerechtfertigt, die Welt als Wille zur Macht zu denken. Nur liefert JGB 36 schwerlich hinreichend Anhaltspunkte dafür, dass man tatsächlich überall und ausnahmslos den ‚Willen zur Macht‘ am Werk zu finden vermag: Empirisch ist die Hypothese nicht hinreichend validiert, so dass man in der Tautologie am Ende von JGB 36 womöglich weniger ein Bekenntnis zu einer Willezur-Macht-Ontologie vermuten sollte, als vielmehr eine Form der Wissenschaftspersiflage mit ihrer zwanghaften Neigung zur Hypothesenbildung. Auch die vereinten inhaltistischen Interpreta tionsanstrengungen contre texte12 können das Fak12 Bei Heidegger wird aus dem von ihm vorgezogenen, in das postume Kompilat Der Wille zur Macht ein-
36
tum nicht zum Verschwinden bringen, dass JGB 36 weder eine Generaltheorie noch eine verbindliche Verkündigung des ‚Willens zur Macht‘ als Weltformel bietet. Die vom historischen Subjekt Nietzsche für allein publikationswürdig erachteten Aussagen über den ‚Willen zur Macht‘ stehen unter Vorbehalt – sie haben die Gestalt eines Denkexperiments. Das schwere Geschütz, das die Textisten gegen die Inhaltisten auffahren, zeitigt verheerende Effekte. Was bleibt von Nietzsches Philosophie, wenn es sich verbietet, sie auf bestimmte Propositionen zu reduzieren und sich einfach noch zu fragen, wie diese Propositionen zueinander in ein begriffsstimmiges Verhältnis gesetzt werden können? Auch das inhaltistische Rückzugsgefecht, das historische Subjekt Nietzsche habe doch ausweislich seiner Selbstzeugnisse stets von sich selbst als Philosoph gesprochen, ebenso von seiner Philosophie als Gefüge bestimmter Propositionen, bietet nur eine schwache Gegenwehr: Denn warum sollte man ausgerechnet solche textlichen Hinterlassenschaften Nietzsches als authentische und unbedingt zu privilegierende Selbstzeugnisse ernst nehmen und nicht andere, mindestens ebenso prominent platzierte Texte, die „Überzeugungen“, also für wahr gehaltene Propositionen, ausdrücklich als „Gefängnisse“ diffamieren und einen rein instrugegangenen Nachlassnotat dann: „Wenn alles Seiende Wille zur Macht ist, dann ‚hat‘ nur Wert und ‚ist‘ nur ein Wert solches, was die Macht in ihrem Wesen erfüllt.“ (Heidegger, Martin: Nietzsche [1936 / 61]. 5. Auflage, Pfullingen 1989, Bd. 2, S. 37). 37
mentellen Umgang mit ihnen propagieren (KSA 6, 236 f.)? Läge es da nicht nahe, die mit Authenti zitätsanspruch auftretenden Selbstbeschreibungen des Philosophen als Träger von Überzeugungen, von für wahr gehaltenen Propositionen, nicht als authentische Zeugnisse, als ipsissima testimonia philosophi, sondern vielmehr als strategische Verlautbarungen anzusehen – Überzeugungen als Mittel zu ganz anderen, im Dunkeln liegenden Zwecken? Zumindest der orthodoxe Inhaltismus, der es sich sehr einfach macht mit der Identifikation des von ‚Nietzsche‘ eigentlich Gemeinten, hat unter dem Ansturm der textistischen Hardliner einen äußerst schweren Stand. Sollte man beim Umgang mit dem unter Nietzsches Namen firmierenden Texten nicht besser ganz auf alle Extrapolationen verzichten, die ‚Nietzsche‘ direkt irgendetwas zuschreiben? Sollte man also prinzipiell Abstand nehmen von Formulierungen wie ‚Nietzsche hat gemeint, dass p‘, ‚Nietzsche ist der Überzeugung, dass q‘, ‚Nietzsche versucht p in die Tat umzusetzen‘ oder ‚Nietzsche will seine Leser von q überzeugen‘? Was dann bliebe, wäre nicht das Schweigen über ‚Nietzsche‘, sondern die dichte Beschreibung, wie jeder einzelne Text verfährt, wie er funktioniert. Das in diesen Texten so häufig sprechende ‚Ich‘ wäre dann nicht mit Herrn Nietzsche gleichzusetzen, sondern als eine Figur im Text anzusprechen, die sich von anderen ‚Ichs‘ in anderen ‚Nietzsche‘-Texten unterscheidet. Man würde ‚Nietzsche‘ also keine Philosophie zuschreiben, erst recht keine, die ‚bleibt‘, sondern sich damit 38
begnügen, von so etwas wie ‚Textstrategien‘ zu reden. ‚Nietzsche‘ und sein ‚Ich‘ würden in skeptischer Epoché eingeklammert. Gegen diesen orthodoxen Textismus wird allerdings der Einwand zu hören sein, damit werde die Frage nach dem Subjekt letztlich nur verschoben und statt des historischen transzendentalpragmatischen Denker-Subjekts werde nun einfach der Text zum Subjekt gemacht, dem quasi-personale Eigenschaften zugeschrieben würden: Der Text sei nun plötzlich handelnde Person, die bestimmte Strategien verfolge, etwas wolle oder etwas tue. Der Textismus habe selbst auch nur eine be grenzte Reichweite und sei pragmatisch nützlich für manche Formen der Auseinandersetzung mit ‚Nietzsche‘ – etwa für das Genre des Kommentars –, könne aber auch kein exklusives Geltungsrecht beanspruchen. Es ist nicht denknotwendig, anzunehmen, dass von ‚Nietzsche‘ nur eine Fülle von disparaten Texten mit jeweils ganz eigenen Textstrategien bleibe, aber nichts von ‚Nietzsches‘ Philosophie. Eine Lösung, die die Bedenken der Textisten gegen die Inhaltisten ernst nimmt, zugleich aber die vollständige Auflösung der Philosophie Nietzsches in Texte verhindern will, könnte darin bestehen, den Begriff von Philosophie grundsätzlich zu überdenken. Philosophie müsste dann etwas anderes sein als ein Set von Überzeugungen, ein Korpus von wohlgesetzten und aufeinander abgestimmten Sätzen, von Lehren, von Propositionen. Philosophie hat man – in Nietzsches Texten – immer nur als ein Philosophieren, als permanentes 39
Fort- und Überschreiben einmal erreichter Standpunkte zur Hand, nicht als ein feststehendes Gefüge von Gedanken, ein wohlproportioniertes Gestell von Propositionen, sondern vielmehr als Prozess, als Bewegung. Dieses Philosophieren lässt sich weniger über Inhalte, eher über Verfahren beschreiben. Dann wäre ‚Nietzsches Philosophie‘ etwas viel Radikaleres als es viele nachgeborene Zunftgenossen zuzugestehen bereit waren. Sie konnten offensichtlich oft genug den Gedanken nicht ertragen, dass in den unter Nietzsches Namen firmierenden Werken Philosophie etwas gänzlich anderes ist als man das – trotz der experimentell-aporetischen Dialoge Platons – seit den Griechen oft anzunehmen geneigt war, eben ein Gefüge von mehr oder weniger kohärenten Sätzen, die irgendwelche Aussagen über das machen, was wir erkennen können, über das, was ist, sowie über das, was sein soll. Man kann nicht ausschließen, ja es gibt sogar gute textliche Gründe, zu mutmaßen, dass das historische Subjekt Nietzsche Philosophie in traditionellem Sinn machen wollte, mit Lehren, einem Gefüge von Sätzen, kurz: mit festem Inhalt. Aber widerfahren ist ‚ihm‘ – ist uns mit ihm in seinen Werken dann etwas anderes. Entstanden ist etwas, das sich fundamental von Philosophie im landläufigen Sinn unterscheidet. Eine erste Antwort auf die Frage, was von Nietzsches Philosophie bleibt, lautet also: ein Philosophieren, eine sich in Schreiben kristallisierende Denkpraxis, die sich aller festen Fügung, aller Hegung in letzten Propositionen verweigert.
40
4. Was bleibt von Nietzsches Philosophie? Versteht man die Frage, was von Nietzsche bleibe, als Frage, was sich denn hinter und neben den Texten als Philosophie herausdestillieren lasse, kann man also antworten, es bleibe anstelle eines Sets von Propositionen, eines Systems von Lehren, eine philosophische Praxis, nämlich eine Denkund Schreibpraxis permanenten Aufhebens und Überschreibens einmal aufgestellter Propositionen, einmal verkündeter Lehren. Die Leserin, der Leser ist bei der Lektüre der Texte in diesen Prozess, in diese Denk- und Schreibpraxis hineingenommen – und reagiert erfahrungsgemäß sehr verschieden: Eine große Zahl von ‚Nietzsche‘-Rezipienten neigt dazu, es sich leicht zu machen und sich an die berühmt-berüchtigten Schlagworte zu halten, um von ihnen aus die eigene Lektüre auszurichten, Nietzsches Texte also gerade noch so weit zu Wort kommen zu lassen, als sie diesen Schlagworten Nahrung bieten. Andere Leserinnen und Leser sind bereit, sich der verstörenden Erfahrung genauen Lesens auszuliefern und damit von den Lehr-Gewissheiten Abstand zu nehmen, die man gemeinhin mit ‚Nietzsche‘ assoziiert. Solche Leserinnen und Leser, die ihren Weg unbegleitet (oder allenfalls unterstützt von einem Band des Historischen und kritischen Kommentars) suchen und gehen, treten ein in Nietzsches Denkbewegungen. Sie müssen die Frage danach, welcher Text in welcher Hinsicht bedeutsam ist, immer wieder neu stellen und beantworten – etwa auch die Frage, wie Nachlasstexte gegenüber Buchpublikationen zu gewichten 41
sind. Die Leserinnen und Leser sind es, die Bedeutsamkeit festlegen. Bei genauem, atemholenden Lesebemühen stellt sich der Eindruck ein, dass in Nietzsches Texten kaum etwas auf Anhieb so stimmig ist, wie es zunächst den Anschein gehabt hat. Deshalb pflegt man dem Denker ‚Nietzsche‘ entweder Widersprüchlichkeit und Unvermögen vorzuwerfen oder aber zu behaupten, all die Brüche, Dissonanzen, Probleme seien vom historischen Autorsubjekt ‚Nietzsche‘ genau so gewollt und ins Werk gesetzt worden. Aber dieses Entweder-Oder suggeriert eine falsche Alternative, zumal wir keinen Zugriff auf Nietzsches Innenleben haben, der uns hier eine Entscheidung zwischen den Deutungsoptionen erlaubte. Ohnehin ist niemand gezwungen, hier eine Entscheidung zu treffen, um für sich die Frage zu beantworten, ob von Nietzsches Philosophie noch etwas bleibt. Dafür reicht es aus, wenn die fraglichen Texte – gerade, wenn sie nicht stromlinienförmig organisiert sind – bei den Lesern philosophisches Nachdenken provozieren – ein Nachdenken, das besonders dann herausgefordert wird, wenn das Kohärenz-Versprechen der Texte ebenso wenig eingelöst wird wie das Versprechen definitiver Lehren. Die historische Person Nietzsche hat vielleicht von seiner Philosophie gedacht, sie sei ein in sich stimmiges Gefüge von Lehren, also etwas recht Traditionelles. Aber selbst wenn dem so wäre, könnten wir die Philosophie Nietzsches und das daran Bleibende heute ganz woanders suchen, als es die historische Person Nietzsche möglicherweise intendiert hat – nämlich genau da, wo es 42
nicht aufgeht. Ob aus Berechnung oder aus Nachlässigkeit, kann uns egal sein. Die Autorintention tut nichts zur Sache, wenn man nach dem Bleibenden von Nietzsches Philosophie fragt. Seine Texte sind so verfasst, dass sie uns hochgradig herausfordern und irritieren. Mit zunehmender historischer Distanz zu Nietzsches Zeit verstärkt sich dieser Irritationseffekt noch, weil damalige Diskurs-Selbstverständlichkeiten sich mittlerweile verflüchtigt haben: Zu Nietzsches Zeit besetzten beispielsweise radikal antidemokratische und radikal antiegalitäre Optionen durchaus noch ein breites Diskussionsfeld, während sie heute trotz aller rechtspopulistischen Schaumschlägerei13 weit gehend verdrängt und vollständig geächtet sind. Nietzsches Texte wirken auf uns noch fremder als sie auf seine Zeitgenossen gewirkt haben müssen. Und gerade dadurch wirken sie. Diese Texte werfen uns aus der Bahn. Sie zwingen uns, uns selbst neu zu bestimmen – sie zwingen uns zum Philosophieren. Nietzsches Texte weisen in unterschiedlichste Richtungen, woraus sich eine unendliche Fülle möglicher Kombinationen und Interpretationen ergibt. Das macht sie unerschöpflich attraktiv für die 13 Zu Nietzsches Inanspruchnahme in neurechten Kreisen siehe Kaufmann, Sebastian: Nietzsche als Vordenker der Neuen Rechten? Beobachtungen über einen vielschichtigen Vereinnahmungsversuch – vom Paten der AfD-Parteiphilosophie zur Pop-Ikone der Identitären Bewegung, in: Zeitschrift für Sozialpädagogik 15 / 1 (2017), S. 89–105.
43
Nachwelt und verlockt zu wilder Vermischung unterschiedlichster Nietzsche-Zitate. Der NietzscheKommentar zügelt solche Zitatenkabbalistik, indem er auf den Text, seine innere Logik und Abfolge verpflichtet. Es sind, auch bei ‚Nietzsche‘, nicht alle Interpretationen möglich. Aber doch immer noch zahlreiche genug, um das dauerhafte Interesse an seinem Philosophieren zu sichern. Seine Philosophie öffnet Denkräume, während andere Philosophen Denkräume eher vermessen und schließen. Die Vielfalt seiner Stimmen ist atemberaubend und nicht auf eine ipsissima vox reduzierbar. ‚Nietzsches Denken‘, sedimentiert in seinen Schriften, ist situativ; es reagierte im späten 19. Jahrhundert auf alle möglichen situativen Herausforderungen. Und es bleibt reaktiv bis in die Gegenwart. ‚Nietzsches Denken‘ ist agonal und polemogen – es missachtet souverän alle intellektuellen Pazifizierungsangebote, mit denen philosophische Zunftgenossen aufzuwarten pflegen. ‚Nietzsches Denken‘ ist hochgradig instabil und lässt tausend Hintertüren für eine große Zahl von Interpretationen und Adaptionen offen. Es widersetzt sich dem unter Philosophen sonst populären Zwang zu Eindeutigkeit und ist ein Lackmustest für den Stand geistiger Freiheit und geistiger Individualisierung: Wie viel ‚Nietzsche‘ ist möglich und erträglich für eine Gesellschaft? Wie viel Fundamentalwiderspruch kann sie dulden? Nietzsches Texte propagieren eine neue philosophische Praxis. ‚Nietzsches‘ philosophische Praxis können wir nicht imitieren. Aber als NietzscheLeser wird man zu einer eigenen philosophischen 44
Praxis gezwungen, zu einer eigenen Praxis, die eine spezifische Reaktion auf das Gelesene ist. Die philosophische Lebensform ergibt sich nicht aus der Nachahmung, sondern als Reaktion auf das außerordentlich Irritierende von Nietzsches Texten. Ihre Potenz liegt nicht in einem besonders erhabenen oder ausgefeilten Theoriegebäude, sondern in ihrer Zersetzungskraft. Diese Zersetzungskraft rückt den Selbstverständlichkeiten abendländischer Moral- und Weltanschauungskonsense auf den Pelz. Auch das bleibt von Nietzsches Philosophie. 5. Ein Schild Der archaisch-griechische Dichter Archilochos galt in Nietzsches frühen Schriften als der exemplarische „dionysisch-apollinische Künstler“, „Erhaben und Lächerlich“ (Nachlass 1870 / 72, KSA 7, 223). Archilochos schildert in einem Gedichtfragment, wie er, ganz gegen das heroische Ethos, seinen Schild in der Schlacht zurückließ, anstatt mit dem Schild – siegreich – oder auf dem Schild – tot – aus dem Krieg heimzukehren. „Mag sich ein Saïer freun an dem Schild, den beim Busch ich zurückließ, / – meine vortreffliche Wehr, ungern nur gab ich sie preis! – / Retten konnt’ ich mein Leben: was schiert jener Schild mich noch länger! / Kaufen will ich mir bald einen, der ebenso gut!“14 14 Archilochos: Fragment 5W (Archilochos. Griechisch und deutsch, hrsg. von Max Treu. 2., verbesserte Auflage, München 1979, S. 25). Im Original: „ἀσπίδι
45
Ein Schild anderer Art habe ich beim Einzug in das neue Büro an der Freiburger Alma Mater angebracht:
Es handelt sich um das Zuglaufschild des IC 754 Friedrich Nietzsche, der einst von Leipzig und Naumburg über Weimar nach Basel fuhr. Ungefähr eine Woche blieb das Nietzsche-Zuglaufschild an meiner Bürotür unbehelligt. Dann ist es μὲν Σαΐων τις ἀγάλλεται, ἣν παρὰ θάμνωι, / ἔντος ἀμώμητον, κάλλιπον οὐκ ἐθέλων· / αὐτὸν δ’ ἐξεσάωσα. τί μοι μέλει ἀσπὶς ἐκείνη; / ἐρρέτω· ἐξαῦτις κτήσομαι οὐ κακίω.“ 46
über Nacht verschwunden und bislang nicht wieder aufgetaucht. War da nächtens in den dunklen Universitätsgängen ein Nietzsche-Fetischist oder doch eher ein Bahn-Fetischist unterwegs? Der Diebstahl wirft erneut und abschließend die Frage auf: „Was bleibt von Nietzsche?“ Offenbar nicht viel, kommt man am Morgen ahnungslos und guter Dinge in sein Büro. Aber zugleich stimmt es optimistisch, dass Nietzsche derart begehrt ist. Und das, was von seiner Philosophie bleibt, lässt sich nicht plakativ auf Schilder schreiben. Also weg mit ihnen!
47
Nietzsche, kulturphilosophisch Die Formulierung „Nietzsche, kulturphilosophisch“ wirkt auf den ersten Blick ein bisschen hilflos, weil sie nicht verrät, wie der Name des Philosophen zum beigefügten Adjektiv ins Verhältnis gesetzt werden soll. Will der Verfasser sagen, Nietzsche sei ein Kulturphilosoph oder will er sagen, Nietzsche sei Gegenstand einer Disziplin namens Kulturphilosophie, oder will er schließlich sagen, Nietzsche sei irgendwie kulturphilosophisch relevant? Doch der Titel ist durchaus mit Bedacht gewählt, erlaubt er doch, einige Fallstricke zu umgehen: Würde er lauten „Nietzsche als Kulturphilosoph“, könnte das zum einen suggerieren, er sei ein Philosoph, der sich auf einen bestimmten Gegenstand, eben die Kultur, festlegen ließe. Aber weder hält sich Nietzsche an Gegenstands- und Spartengrenzen, noch lässt er sich in Fach- oder Einzeldisziplinen einmotten. Zum anderen klingt „Kulturphilosoph“ in manchen Ohren abschätzig, fast wie ein Schimpfwort: Der Kulturphilosoph ist für diese Ohren derjenige, der zum wahrhaft Wichtigen, zum Sein etwa, oder zum Sollen, nichts beizutragen hat. Würde der Titel hingegen lauten „Nietzsche und die Kulturphilosophie“, könnte sich das so anhören, als ob hier eine akademisch festgefügte Disziplin Nietzsche entweder zu ihrem Forschungsgegenstand macht oder als einen ihrer 48
Ahnherren preist. Wahlweise so, als würde Nietzsche der Kulturphilosophie zugehören oder aber zu ihr in einem Gegensatz stehen. Die möglichen Titelvarianten drängen also zu Festlegungen in die eine oder andere Richtung, denen ich zunächst entgehen möchte. Das bedeutet allerdings nicht, auf klare und deutliche Fragen zu verzichten. Es sind drei Fragen, nämlich: 1. Welche Rolle spielt Nietzsche bei der Entstehung dessen, was sich um 1900 ausdrücklich als „Kulturphilosophie“ konstituiert hat? Diese Frage fordert einen philosophiehistorischen Zu gang mit begriffsgeschichtlichem Akzent, und einen solchen Zugang wähle ich im ersten Abschnitt. 2. Welche Rolle spielt Kultur in Nietzsches Denken und Schreiben? Diese Frage wiederum verlangt für den zweiten Abschnitt einen text exegetisch-hermeneutischen Zugriff. 3. Was ist aus Nietzsches Kultur-Reflexionen für unsere gegenwärtige kulturphilosophische Selbst verständigung zu gewinnen? Diese Frage würde nach einer streng systematischen Behandlung heischen; ich ziehe es aber im gegebenen Rahmen vor, sie skizzenhaft experimentalphilosophisch anzugehen. Es versteht sich von selbst, dass hier keine erschöpfende Erörterung, gar Beantwortung der drei gestellten Fragen möglich ist. Man mag das bedauern, jedoch liegt ein wesentlicher Reiz des philosophischen Geschäftes darin, keine definitiven Ant49
worten zu geben, sondern alle Antworten immer wieder fragend zur Disposition zu stellen. 1. Nietzsche und die Entstehung der Kulturphilosophie Kultur ist, wenigstens dem Begriff nach, nichts selbstverständlich Gegebenes. Das lateinische Wort „cultura“ steht bekanntlich für Pflege, Bearbeitung – unter der genetivischen Hinzufügung „agri“, als „agri cultura“, aber oft ohne sie, besonders auch für den Ackerbau. Als die „cultura“ das Feld in höhere Sphären wechselte, behielt sie das Bedürfnis nach einer genetivischen Ergänzung bei, was denn da zu bestellen sei – am bekanntesten in der Definition, die wir Cicero verdanken, dass nämlich Philosophie cultura animi, Pflege, Bestellung des Geistes sei.1 Jahrtausende lang blieb „cultura“ auf ihre Genetiv-Stütze angewiesen, und niemand scheint das Bedürfnis verspürt zu haben, sie begrifflich zu verselbständigen. Das änderte sich erst im späten 17. Jahrhundert, als Samuel Pufendorf in der Diskussion um den von ihm als asozial charakterisierten Naturzustand (status naturalis) als Gegenbegriff den status culturae propagierte – ein status, der wesentlich bestimmt wird von der Sozialität und der Rührigkeit des Menschen.2 Aber bei Pufendorf wurde die Kultur selbst 1 Cicero, Marcus Tullius: Tuskulanische Gespräche II [5], 13. 2 Der locus classicus lautet: „Altero modo statum hominis naturalem consideravimus, prout opponitur illi
50
in einen Genetiv verbannt und musste sich damit bescheiden, in einem Nebensatz erläutert zu werden. Ganz auf eigenen Füßen zu stehen kam die Kultur erst in den Ideen zu einer Philosophie der Geschichte der Menschheit von Johann Gottfried Herder, der den Begriff in diversen Abstufungen verwendete, um damit die Entwicklungsstufe eines Volkes und allgemein die von Menschen gestaltete Welt unter einen Oberbegriff zu bringen.3 Aber die mit Kultur befasste philosophische Disziplin hieß noch für über ein Jahrhundert nicht Kulturphilosophie, sondern Geschichtsphilosophie. Im Begriff einer von allen Beifügungen freigestellten Kultur kondensierte sich der nicht geringe Europäer-Stolz, die natürliche Welt mit eigenen Händen urbar gemacht zu haben und auf unabsehbar lange Zeit diese Urbarmachung zu perfektionieren. Solange sich die spekulativ-universalistische Geschichtsculturae, quæ vitæ humanæ ex auxilio, industria, & inventis aliorum hominum propria meditatione & ope, aut divino monitu accessit.“ (Pufendorf, Samuel: Eris Scandica, qua adversus libros de jure naturali et gentium objecta diluuntur, Frankfurt am Main 1686, S. 219. „Wir haben auf andere Weise den Naturzustand des Menschen erwogen, so wie er jenem der Kultur entgegengesetzt wird, die dem menschlichen Leben aus der Hilfe, dem Fleiß und den Erfindungen andere Menschen, durch eigene Überlegung und eigenes Tun oder durch göttliche Ermahnung zugekommen ist.“). Zur Begriffsgeschichte der Kultur(philosophie) im Einzelnen siehe Perpeet, Wilhelm: Kulturphilosophie, in: Archiv für Begriffsgeschichte 20 (1976), S. 42–99. 3 Zur Übersicht siehe Maurer, Michael: Johann Gottfried Herder, in: Konersmann, Ralf (Hrsg.): Handbuch Kulturphilosophie, Stuttgart / Weimar 2012, S. 78–85. 51
philosophie4 für die Kultur zuständig wähnte, war deren Einschätzung im Grundton wohlwollend, zuversichtlich, kurzum: positiv. Als jedoch um 1900 Kulturphilosophie explizit unter diesem Namen auf der intellektuellen Bühne auftauchte, hatte sich der optimistische oder besser: amelioristische Blick auf Kultur eingetrübt. Kulturphilosophie trat auf, als Kultur (sich) problematisch wurde. Eine kulturphilosophisch dominierende Paarung wurde die von Kultur und Krise. Oft genug verstand sich Kulturphilosophie als therapeutisches Angebot, nämlich die angeblich kranke Kultur vor sich selbst zu retten und zu heilen.5 Im Unterschied zur spekulativ-universalistischen Geschichtsphilosophie scheint Kulturphilosophie eine sehr deutsche Erfindung gewesen zu sein; begriffliche Pendants etwa auf Französisch oder Englisch sind offensichtlich erst als Lehnübersetzungen aus dem Deutschen aufgekommen. Die begriffsgeschichtliche Forschung meint zu wissen, dass es Ludwig Stein (1859–1930) gewesen sei, der 1899 mit seinem Buch An der Wende des Jahrhunderts. Versuch einer Kulturphilosophie den Begriff „Kulturphilosophie“ geprägt und seine 4 Zum Terminus und zur Sache siehe Sommer, An dreas Urs: Sinnstiftung durch Geschichte? Zur Entstehung spekulativ-universalistischer Geschichtsphilosophie zwischen Bayle und Kant, Basel 2006. 5 Programmatisch etwa Albert Schweitzer in seinen vielfach aufgelegten Werken von 1923: Verfall und Wiederaufbau der Kultur sowie Kultur und Ethik.
52
emphatische Verwendung veranlasst habe.6 Nun lässt sich „Culturphilosophie / Kulturphilosophie“ auch davor schon, wenngleich selten nachweisen; auffällig ist aber vor allem, dass das Adjektiv „culturphilosophisch / kulturphilosophisch“ schon seit den 1870er Jahren im Gebrauch ist.7 Am Anfang standen also nicht Abstraktum und Substantiv, sondern vielmehr das Adjektiv, das erst zu einem Substantiv hypostasiert worden ist. Während die Kultur knapp zwei Jahrtausende benötigt hat, um sich von Begleitworten wie animus loszueisen und für sich zu stehen, musste die Kulturphilosophie bis zu ihrer substantivisch-substantiellen Selbstkonstitution den Umweg über adjektivisch-akzidentelle Erscheinungsweisen nehmen. Und da ist es ausgerechnet der seit 1889 geistig umnachtete Friedrich Nietzsche, dem seine ersten 6 Stein, Ludwig: An der Wende des Jahrhunderts. Versuch einer Kulturphilosophie, Freiburg im Breisgau / Leipzig / Tübingen 1899. Perpeet, Wilhelm: Kultur; Kulturphilosophie, in: Historisches Wörterbuch der Philosophie, hrsg. von Joachim Ritter† und Karlfried Gründer, Bd. 4, Basel 1976, Sp. 1309–1324, hier Sp. 1311 nennt fälschlich das emblematische Erscheinungsjahr 1900. 7 Windelband, Wilhelm: Die Geschichte der neueren Philosophie in ihrem Zusammenhange mit der allgemeinen Cultur und den besonderen Wissenschaften dargestellt. Erster Band: Von der Renaissance bis Kant, Leipzig 1878, S. 270 bestimmt die Bienenfabel von Bernard Mandeville als „ausserordentlich bedeutsames Moment in der culturphilosophischen Dialektik des Aufklärungszeitalters“. S. 470 heißt es: „Rousseau ist der Philosoph der Revolution. Sie war nichts als die Ausführung seiner Lehren. Darin liegt seine culturphilosophische Bedeutung.“
53
Deuter das Etikett „culturphilosophisch“ anhefteten. Das taten beispielsweise Lou Andreas-Salomé in ihrem noch immer bemerkenswerten NietzscheBuch8 oder Alois Riehl, der bereits ein Jahr vor Ludwig Stein das Wort „Kulturphilosophie“ wie selbstverständlich gebrauchte, um dabei freilich nicht Nietzsches Philosophie als ganze, sondern nur jenen Teil zu charakterisieren, der sich spezifisch mit Kultur beschäftigt9 – Kulturphilosophie also schon damals als Bindestrichphilosophie. Bei Nietzsche selbst, soviel schon vorweg, findet sich keinerlei Beleg dafür, dass er sich als „Kulturphilosoph“ verstanden hätte – er benutzte weder dieses Substantiv, noch das Abstraktum oder das Adjektiv; die Wendung „Philosophie der Cultur“ kommt nur im Nachlass an marginaler Stelle vor (KSA 8, 485).10 Wir halten also fest: Kulturphilosophie als Begriff für ein neues philosophisches Selbstverständnis oder eine neue philosophische ‚Richtung‘ korreliert zeitlich fast unmittelbar mit Nietzsches 8 Andreas-Salomé, Lou: Friedrich Nietzsche in seinen Werken, Wien 1894, S. 59. 9 Riehl, Alois: Friedrich Nietzsche. Der Künstler und der Denker. Ein Essay. Zweite, durchgesehene Auflage, Stuttgart 1898, S. 73. 10 Tongeren, Paul van: Vom „Arzt der Cultur“ zum „Arzt und Kranken in einer Person“. Eine Hypothese zur Entwicklung Nietzsches als Philosoph der Kultur(en), in: Sommer, Andreas Urs (Hrsg.): Nietzsche – Philosoph der Kultur(en)? Berlin / New York 2008, S. 11–29. Nietzsche kannte aber durchaus Texte von Autoren, die schon mit dem Adjektiv „culturphilosophisch“ operierten, so von Julius Leopold Klein.
54
Schaffensperiode – aber doch nur fast: Kulturphilosophie kam auf, just nachdem Nietzsche verstummt war. Wie aber ist es um den Zusammenhang von Nietzsche und der eben erfundenen Kulturphilosophie näherhin bestellt? Kehren wir zurück zu Ludwig Stein, einem gebürtigen Ungarn, der eine Weile in Berlin als Rabbiner wirkte, bevor er sich in Zürich als Philosoph habilitierte. Als er die Aussicht auf das neue Jahrhundert mit seiner Kulturphilosophie eröffnete, war er bereits seit einigen Jahren Philosophie-Ordinarius in Bern – ein Amt, das er 1909 wieder aufgab, um sich fortan in Berlin publizistisch und politisch zu betätigen. Stein versuchte die Evolutionstheorie mit Kants Transzendentalphilosophie, Kathedersozialismus und Zivilisationsoptimismus mit einer imperialistischen Ideologie zu verschmelzen, die vom angeblich berechtigten kulturellen Dominanzanspruch der weißen Europäer ausging.11 Stein hatte seiner kulturphilosophischen Programmschrift – eigentlich eine Sammlung von Essays – 1893 ein Buch unter dem Titel Friedrich Nietzsche’s Weltanschauung und ihre Gefahren vorausgeschickt. Es setzt mit der Feststellung ein: „Der Neo-Cynismus Nietzsche’s scheint die philosophische Modeparole des Tages zu werden.“12 11 Marti, Urs: Ludwig Steins Nietzsche-Kritik, in: Nietzsche-Studien 16 (1987), S. 353–381, zeigt, wie tief Stein vom Sozialdarwinismus geprägt war und dem Kulturimperialismus das Wort redete. 12 Stein, Ludwig: Friedrich Nietzsche’s Weltanschauung und ihre Gefahren. Ein kritischer Essay, Berlin 1893, S. 1.
55
Neokynismus steht dabei für eine prinzipielle Kulturfeindlichkeit, die Stein bei den antiken Kynikern vorgeprägt und bei Rousseau fortgesetzt fand.13 Stein selbst sah sich als unbedingten Gegner des „Nietzsche-Kultus“14 und verstand sein eigenes Bemühen als „Warnungssignal“, als „literarisches Sturmläuten“15 gegen Nietzsches „Kerngedanken“, nämlich „die Ablehnung der herrschenden moralischen und Kulturideale und Ersetzung derselben durch ein Zurückgreifen auf den unverdorbenen Naturzustand“.16 Dagegen regte sich Steins entschiedener Widerstand, wie er dann 1899 im Versuch einer Kulturphilosophie noch deutlicher markierte, der auch zwei Essays über Nietzsche enthält, den einen über den Antichrist, den anderen über die fälschliche Erhebung Nietzsches in den Stand eines philosophischen Klassikers durch Alois 13 „Er [sc. Nietzsche] ist der radikalste Cyniker, den die Weltliteratur hervorgebracht hat.“ (Ebd., S. 14). Zu Nietzsches tatsächlicher Nähe zum antiken Kynismus siehe Niehues-Pröbsting, Heinrich: Der „kurze Weg“. Nietzsches „Cynismus“, in: Archiv für Begriffsgeschichte 24 (1980), S. 103–122; Niehues-Pröbsting, Heinrich: „Welthistorischer Cynismus“?, in: Nietzscheforschung. Jahrbuch der Nietzsche-Gesellschaft 12: Bildung – Humanitas – Zukunft bei Nietzsche, Berlin 2005, S. 171– 182 und Sommer, Andreas Urs: Kommentar zu Nietzsches Der Antichrist. Ecce homo. Dionysos-Dithyramben. Nietzsche contra Wagner = Historischer und kritischer Kommentar zu Friedrich Nietzsches Werken, hrsg. von der Heidelberger Akademie der Wissenschaften, Bd. 6 / 2, Berlin / Boston 2013, S. 464 f. 14 Stein: Friedrich Nietzsche’s Weltanschauung, S. III. 15 Ebd., S. IV. 16 Ebd., S. 3.
56
Riehl, in eben jenem Werk, das Nietzsche eine „Kulturphilosophie“ bescheinigt hatte.17 Stein hielt Nietzsches Denken für „die Verherrlichung des brutalen Kraftmeiertums auf Kosten der Geis tigkeit“18. Dagegen gab Stein die Losung aus: „nicht Raubtierheit, sondern verfeinertes Menschentum, nicht brutale Instinkte, sondern Reli gion, Kunst und Wissenschaft, nicht Uebermensch, sondern – Mensch!“19 Nietzsche sei eben kein Klassiker, sondern „ein revolutionärer Bohrer, dessen Verwegenheit vor dialektischen Dynamitattentaten auf unsere ganze Kultur nicht zurück schreckt“.20 Mit anderen Worten: Das, was Ludwig Stein als Kulturphilosophie fasste, war nicht mit Nietzsche, sondern gegen ihn erdacht – als Bollwerk gegen den angeblich brachialen Antikulturalismus Nietzsches. Die Erfindung der Kulturphilosophie zwischen 1890 und 1900 lässt sich, falls Stein dafür repräsentativ ist, geradezu als Versuch verstehen, die kulturzerstörerische Wirkung Nietzsches zu pazifizieren. Kulturphilosophie erscheint – nament17 „Nennt ihn Riehl auch einmal ‚den Philosophen der Kultur‘, so enthält doch dieses Lob die Einschränkung, Nietzsche sei eigentlich der ‚Rousseau unserer Zeit‘ – er sei und bleibe nur ‚der große Fragende in der Philosophie‘ “ (Stein: An der Wende des Jahrhunderts, S. 162). 18 Ebd., S. 158. 19 Ebd., S. 159. 20 Ebd., S. 163. „Nietzsche, das große Fragezeichen in der Philosophie, ist etwas, was überwunden werden muß!“ (Ebd., S. 164).
57
lich im akademischen Gefüge des Neukantianismus – als Antwort auf Nietzsches destruktive Anmaßung. Die von Stein begründete Kulturphilosophie ist zunächst als Disziplin kulturaffirmativ. Nietzsche hingegen will die Kultur neu erschaffen und davor die bestehende Kultur zerstören. An Nietzsche entzündete sich in der Geburtsstunde der Kulturphilosophie ein eigentlicher Kulturkampf. Aber was hat Nietzsche selbst zur Kultur zu sagen gehabt? 2. Kultur bei Nietzsche Nimmt man Nietzsche selbst beim Wort, ist es entgegen der Suggestion bei Ludwig Stein zunächst nicht so, dass er sich als Kulturverächter gebärdet hätte. Vielmehr ist „Kultur“ in all seinen Schaffensphasen, trotz unterschiedlicher Akzentuierungen, positiv besetzt. In seinen ersten philosophischen Schriften huldigte er der Vorstellung einer idealen Einheitskultur, die er gegen die Überheblichkeit jener Zeitgenossen ins Feld führte, die den deutschen Sieg gegen Frankreich 1870 auch als kulturellen Sieg missverstanden. Als Leitstern der erhofften kulturellen Erneuerung stellt Nietzsches philosophischer Erstling Die Geburt der Tragödie Richard Wagner hin, der eine der archaisch-griechischen ebenbürtige Kultur zu inaugurieren schien. Die Erste unzeitgemässe Betrachtung propagiert als Voraussetzung wahrer Kultur eine „Einheit des Stils“ (KSA 1, 165).
58
Gegen den klassizistischen Philhellenismus ist in der Geburt der Tragödie die archaisch-griechische Antike, begriffen als tragisches Zeitalter, die kulturelle Norm. Diese tragische Kultur schien einst verwirklicht worden zu sein in den Werken des Aischylos und des Sophokles – und Nietzsche ersehnte ihre Auferstehung in den Werken Wagners. Tragödie und Mythos sollen bei den Tragikern eine kulturstiftende Einheit gebildet haben, die Nietzsche in der kulturell als trist empfundenen Gegenwart vermisste – um desto intensiver eine künftige kulturelle Erneuerung im dramatisch-musikalischen Gesamtkunstwerk zu erträumen. Ohne Mythus aber geht jede Cultur ihrer gesunden schöpferischen Naturkraft verlustig: erst ein mit Mythen umstellter Horizont schliesst eine ganze Culturbewegung zur Einheit ab (KSA 1, 145).
Als Träger solcher Kultur erscheinen Ausnahmegestalten, große Individuen. Diese Frontstellung richtet sich nicht nur gegen die moderne Idee der Massenkultur. Soll das große Individuum ungehindert seinem kulturgestalterischen Geschäft nachgehen können, ist dafür auch die entsprechende ökonomisch-soziale Basis zu schaffen. In seiner nachgelassenen Schrift Der griechische Staat von 1871 scheint Nietzsche der Sklaverei als Bedingung für kulturelle Höchstleistungen großer Geister das Wort reden zu wollen:21 „Demgemäß müssen wir 21 Siehe Ruehl, Martin: Politeia 1871. Young Nietzsche on the Greek State, in: Bishop, Paul (Hrsg.): Nietzsche and Antiquity. His Reaction and Response to the Classical Tradition, Rochester 2004, S. 79–97.
59
uns dazu verstehen, als grausam klingende Wahrheit hinzustellen, daß zum Wesen einer Kultur das Sklaventhum gehöre“ (KSA 1, 767). So drastisch hat Nietzsche diese „Wahrheit“ freilich in keiner von ihm zum Druck autorisierten Schrift artikuliert; auch ist nicht klar, ob es sich um eine deskriptive oder um eine normative „Wahrheit“ handeln soll. Deutlich wird aber sein, dass Sklaverei im zitierten Text nicht metaphorisch gemeint ist, sondern eine harte ökonomisch-soziale Wirklichkeit bezeichnet. Sogar wenn man bestreitet, Nietzsche habe eine eigene Präferenz für eine Sklavenhaltergesellschaft gehabt, hält sich doch bis in seine letzten Schriften die Vorstellung, große Kultur gründe auf einem Fundament von Grausamkeit und Ungleichheit. Anders verhält es sich mit dem, was im Nachlass von 1874 „abgeirrte Cultur“ heißt, jene nämlich, die „das große Ziel“ preisgegeben habe (KSA 7, 805), stattdessen „in Dienst genommen[..], geschwächt[..] und weltfreundlich geworden[..]“ sei (KSA 7, 814). Der allgemeine Nutzen für die menschliche Gemeinschaft rechtfertigt hier die Kultur keineswegs – deren Abirrung besteht vielmehr gerade darin, sich solchem allgemeinen Nutzen anzudienen. Hier erklingt ein Motiv, das in Nietzsches Kulturdenken zeitlebens dominant bleibt, nämlich die schroffe Wendung gegen jede Art von Utilitarismus: Kultur soll nicht den Massen oder der größtmöglichen Zahl zugutekommen, sondern trägt, richtig verstanden, ihren Zweck und ihre Rechtfertigung in sich selbst und bleibt eine höchst elitäre Angelegenheit – auf Kosten der Vielen. 60
Bislang haben wir uns nach Kultur in Nietzsches Frühwerk erkundigt, auf dem ein gewaltiger Wagnerischer Druck lastete. Nun kam es bekanntlich Ende 1870er Jahre zum Bruch mit Wagner. Im Zuge dieses Bruches machte die kulturelle Einheitsidee bei Nietzsche einem pluralistischen Kulturverständnis Platz. Nun treten Kulturen in der Mehrzahl auf. Menschliches, Allzumenschliches von 1878 verlangt keine Kulturvereinheitlichung mehr, sondern schreibt der Gegenwart ein Eigenrecht als „Zeitalter der Vergleichung“ zu: Ein solches Zeitalter bekommt seine Bedeutung dadurch, dass in ihm die verschiedenen Weltbetrachtungen, Sitten, Culturen verglichen und neben einander durchlebt werden können (KSA 2, 44).
Es wäre freilich verfehlt, den Nietzsche von Menschliches, Allzumenschliches für einen toleranten Demokraten oder entspannten Liberalen zu halten, dem kulturelle Entdifferenzierung oder Multikulturalismus zur Herzensangelegenheit würde: Kulturaristokratismus bleibt als Motiv und als Habitus auch hier dominant. Nur machte sich Nietzsche in dieser Zeit, angeregt von ethnographischer Forschung,22 kulturkomparative Methoden zu eigen. In dem eben zitierten Aphorismus heißt es weiter: Es ist das Zeitalter der Vergleichung! Das ist sein Stolz, – aber billigerweise auch sein Leiden. […] Vielmehr wollen wir die Aufgabe, welche das Zeitalter uns 22 Vgl. Orsucci, Andrea: Orient – Okzident. Nietzsches Versuch einer Loslösung vom europäischen Weltbild, Berlin / New York 1996.
61
stellt, so gross verstehen, als wir nur vermögen: so wird uns die Nachwelt darob segnen, – eine Nachwelt, die ebenso sich über die abgeschlossenen originalen Volks-Culturen hinaus weiss, als über die Cultur der Vergleichung, aber auf beide Arten der Cultur als auf verehrungswürdige Alterthümer mit Dankbarkeit zurückblickt (KSA 2, 44 f.).
Der Aphorismus bietet also einen Ausblick auf eine künftige, anscheinend überlegene Kultur, die sowohl die autochthonen, in sich verkapselten Kulturen der Vergangenheit als auch die Vergleichskultur der Gegenwart überwunden haben wird. Ob dann nur noch eine Weltkultur oder doch Kulturenvielfalt übrigbleiben wird, sagt der Aphorismus nicht. Trotz Kulturenvergleichs wird darin die alte Einheitsvision von Kultur nicht ganz preisgegeben, jetzt aber nicht mehr auf Wagner und eine deutsche Nationalkultur projiziert, sondern in ihrer Realisierung der „Nachwelt“ überlassen. Diese „Nachwelt“, nicht die Kultur der Zukunft ist das Handlungssubjekt im fraglichen Satz. Der unmittelbar folgende Aphorismus beschäftigt sich mit der „Möglichkeit des Fortschritts“, der Möglichkeit, dass „die Menschen […] mit Bewusstsein beschliessen, sich zu einer neuen Cultur fortzuentwickeln“ (KSA 2, 45). In sich abgeschlossene, alte Kulturen stünden der Idee des Fortschritts ablehnend gegenüber, hätten sie doch ihre Größe schon hinter sich. Ganz anders eingeschätzt wird hingegen das Potential der Gegenwart. Während Nietzsche in seinem Frühwerk der Vorstellung einer Rückkehr zu idealen Ursprüngen gehuldigt hatte, adaptierte er in dem ausdrücklich Voltaire 62
gewidmeten Werk Menschliches, Allzumenschliches eine Leitidee der europäischen Aufklärung, nämlich die Leitidee eines alle Lebenssphären umgreifenden Fortschrittsgeschehens: „es ist voreilig und fast unsinnig, zu glauben, dass der Fortschritt nothwendig erfolgen müsse; aber wie könnte man leugnen, dass er möglich sei?“ (KSA 2, 45). In seinem mittleren Werk verteidigte Nietzsche also nicht nur die Pluralität von Kulturen, sondern auch die Möglichkeit kultureller Entwicklung, von einem Kollektivsubjekt Menschheit „mit Bewusstsein“ in die Wege geleitet. Wer dabei als Geschäftsführer dieses Kollektivsubjektes agieren sollte, bleibt offen. Vielleicht der Philosoph, der bei Nietzsche bereits früh als „Arzt der Cultur“ (KSA 7, 545, vgl. 2, 634 f.) in Erscheinung getreten war?23 Zugleich problematisieren Nietzsches Werke die (herkömmliche) Philosophie als asketische Praxis und verdächtigen sie als kulturpathologische Erscheinung. Sokrates, auf dessen seelentherapeutisches Selbstverständnis Nietzsche mit seinen kulturmedizinischen Ansprüchen zurückgreift, galt bereits in der Geburt der Tragödie als Verfallsfigur der in der Tragödie repräsentierten, archaisch-griechischen Leitkultur. Sokrates erschien dort als individuelle Repräsentation der Dekadenz. Dieses Verdikt kehrt in Nietzsches Spätschriften von 1888 wieder, als er, ebenfalls als Arzt der Kultur, zur Kulturregeneration eine tiefgreifende „Umwerthung aller Werthe“ in Gang 23 Vgl. Tongeren: Vom „Arzt der Cultur“ zum „Arzt und Kranken in einer Person“.
63
setzen wollte. Dabei sollte die Lebensorientierung der Kultur, die unter den herrschend gewordenen, asketischen Idealen verloren gegangen sei, wiederhergestellt werden. Die Rolle des Philosophen wächst sich von der des Kulturarztes zu der des Kulturbringers, des Kulturschöpfers aus. Kurz gefasst: Nietzsche beschritt in den knapp zwei Jahrzehnten seiner philosophischen Schriftstellerei einen Weg, der ihn von der Normativität einer alten Kultur und von der Selbstvergewisserung als Reformator der gegenwärtigen Kultur über die Pluralisierung und Distanzierung von Kultur mittels Kulturenvergleich schließlich zum Versuch einer Neugründung von Kultur durch die „Umwerthung aller Werthe“ führte. Dieser Denkweg lässt sich auch als Radikalisierung beschreiben, nämlich des frühen Projekts in der Wagner-Nachfolge, der Vereinheitlichung von Kultur. Dieses Projekt erwies sich als ungenügend (und der frühe Meister Wagner als schlimmer décadent): Fortan stand nichts weniger als die Neuerschaffung von Kultur – verstanden als Inbegriff des von Menschen Gestaltbaren – auf der Tagesordnung: als schöpferische Zerstörung. Dabei verhallten die aufklärerisch-humanistischen Töne der mittleren Schaffensphase rasch; das Urteil über die gegenwärtige Kultur fiel nicht länger milde, sondern vernichtend aus, so dass sich die Notwendigkeit einer Neubegründung von Kultur, und zwar einer an der Bejahung statt an der Verneinung des Lebens orientierten Kultur zwangsläufig ergab. Die Möglichkeit des kulturellen Fortschritts, die Menschliches, Allzumenschliches aus der Aufklä64
rung adaptiert hat, wird in Nietzsches Spätwerk vereinseitigt zu einer ‚Machbarkeit der Geschichte‘, jedoch nicht der Gattungszukunft als solcher, sondern nur einzelner starker Individuen, geschichtlicher Ausnahmegestalten: Die Grösse eines „Fortschritts“ bemisst sich sogar nach der Masse dessen, was ihm Alles geopfert werden musste; die Menschheit als Masse dem Gedeihen einer einzelnen stärkeren Species Mensch geopfert – das wäre ein Fortschritt … (KSA 5, 315).
Wer aber soll die Rolle des Züchters übernehmen, um jenen höheren Typus herbeizuführen? In der Vergangenheit haben sich als „ ‚Verbesserer‘ der Menschheit“ insbesondere Moral- und Reli gionsstifter sowie deren priesterliche Sachwalter profiliert (KSA 6, 98–102). Nun hat es den Anschein, als ob Nietzsche die Aufgabe der Elitezüchtung für die Gegenwart und Zukunft selbst übernehmen oder jenen überlassen wolle, die mit ihm eine völlige Abkehr von der christlich-abendländischen Sklavenmoral vollzögen. Für Tugenden wie Mitleiden und Nächstenliebe hätten „vornehme Culturen“ nur Verachtung übrig; „Gleichheit“ und „gleiche Rechte“ seien ebenso wie „Demokratismus“ Symptome des Niedergangs (KSA 6, 138 u. 140). Entsprechend ist „Umwerthung aller Werthe“ die vordringlichste Kulturaufgabe. Noch immer wird Philosophie als Kulturtherapie angesehen – einer radikal elitär verstandenen Kultur allerdings.
65
3. Nietzsche, kulturphilosophisch, für die Gegenwart Es dürfte deutlich geworden sein, dass Ludwig Stein mit seinem gegen Nietzsche geäußerten Verdacht, er sei ein kulturzerstörerischer Neo-Kyniker, nicht ganz fehlging, so positiv das Wort „Kultur“ in Nietzsches eigenem Vokabular auch geklungen haben mag. Nietzsches Kulturdenken stellt die Wertigkeit dessen, was zu seiner Zeit als „Kultur“ galt, grundsätzlich in Frage. Nun könnte man diesen Befund historisch-kritisch distanzieren und die These aufstellen, dass es bloß die damalige Kultur des Deutschen Kaiserreiches gewesen sei, die Nietzsches Abscheu auf sich gezogen habe. Doch mit einer solchen These würde man es sich zu leicht machen, denn ausgerechnet jene Tendenzen der damaligen Kultur, die heute dominant geworden sind, stehen im Zentrum von Nietzsches Fundamentalkritik: Egalisierung, Demokratisierung, Liberalisierung, Utilitarisierung gelten ihm als gravierende Symptome kulturellen Niedergangs. Will man Nietzsches Fundamentalkulturkritik aushebeln, hilft es nicht, sie als zeitbedingt zu bagatellisieren – stattdessen müsste man ihre Prämissen angreifen. Als ‚Kampf der Kulturen‘ wäre Nietzsche schwerlich der angebliche Konflikt zwischen der christlich-abendländischen und der islamisch-morgenländischen Kultur erschienen, sondern vielmehr innerhalb Europas der Kampf der alten platonisch-christlichen Kultur der Weltverleugnung sowie der nihilistischen décadence mit einer neuen, erst zu inaugurierenden 66
Kultur werteschaffender Vornehmheit und selbstbejahender Leiblichkeit. Aber das heutige Inspirationspotential von Nietzsches kulturphilosophischen Reflexionen liegt weniger auf der Gegenstandsebene, auf der Ebene der wahlweise neokynischen oder radikal-elitären Verlautbarungen. Es liegt vielmehr auf der sozusagen modalen Ebene, auf der Ebene, wie sich diese Reflexionen vollziehen. Nietzsche ist eher ein Praktiker kulturellen Philosophierens als ein Theoretiker der Kulturphilosophie – und als solcher fasziniert er nach wie vor. Dabei springen sechs Aspekte besonders in Auge: 1. Nietzsches Schriften pointieren und radikalisieren. Sie erschrecken, reißen mit und widern stellenweise auch an. Der mnemotechnische Effekt vieler plakativer Äußerungen ist dabei gewaltig. Die Zumutungen bleiben im Gedächtnis, gerade auch dann, wenn man sich gegen sie mit Händen und Füßen wehrt. 2. Aus Nietzsches Schriften spricht das Vermögen, die eigenen kulturellen Voraussetzungen kritisch zu perspektivieren und Kultur in Kulturen zu vervielfältigen. Man könnte dies als Praxis der kulturellen Selbstrelativierung beschreiben. Eine solche Praxis ist für das intellektuelle Selbstverständnis im 20. und 21. Jahrhundert paradigmatisch – für ein Selbstverständnis, das beispielsweise Eurozentrismus und Ethnozen trismus ebenso preisgibt wie das Absolut-Setzen eigener Werte. 67
3. Zumutungsreich bleibt die Unbekümmertheit, mit der Nietzsches Schriften etablierte Grenzen aushebeln – Gattungsgrenzen zwischen bestimmten Formen des Schreibens ebenso wie Disziplinengrenzen zwischen Natur- und Geisteswissenschaft oder zwischen Wissenschaft und Kunst. Nietzsches Kulturreflexion zehrt von einem anarchischen Impuls, der für sicher gehaltene intellektuelle und kulturelle Besitzstände fröhlich opfert – von einem Impuls, der sich leicht auf die Leserinnen und Leser überträgt. 4. Preisgegeben wird in Nietzsches Schriften wesentlich auch die eingespielte Grenze zwischen Theorie und Praxis – gerade dort, wo Kultur zur Debatte und zur Rede steht: Der Philosoph ist nicht einfach der distanzierte Kulturbeobachter. Vielmehr soll sein Nachdenken Kultur verändern, Kultur schaffen. 5. Nietzsches kulturreflexive Denk- und Schreibpraxis, die Kultur, kulturelle Selbstgewissheit in Frage stellt, verweigert sich jedem letzten, festen und eindeutigen empirischen oder normativen Begriff von Kultur. Was wir in seinen Werken vor uns haben, ist eine sich stetig verändernde, experimentelle Kulturauslegeordnung, ein mit Kultur philosophisch gestaltendes Zu-Gange-Sein. Diese Denk- und Schreibpraxis verspricht, jenseits akademischer Üblichkeiten, Philosophie als Kulturmacht, als kulturprägende Macht zu rehabilitieren und ins Werk zu setzen. Nimmt man diesen Anspruch, Philosophie als kulturgestaltende Macht nicht nur zu 68
verstehen, sondern sie als solche zur Wirkung kommen zu lassen, zum Maßstab, stünden wir, als (Kultur-)Philosophie-Treibende vor einer gewaltigen, vielleicht unlösbaren Aufgabe. Aber gerade die unlösbaren Aufgaben haben ihren verführerischen Reiz. Kultur erscheint in Nietzsches Denken, soweit es sich in seinem Schreiben dokumentiert, nicht als Substanz, als an und für sich bestehende Wesenheit. Kultur ist, was sie ist, dadurch, dass sie formbar ist. Als wesentlichste philosophische Aufgabe wird gerade herausgestellt, Kultur zu formen, sich zur Kultur zu formen. Kulturphilosophie wäre dann keine bloße Theorie, kein gegebenes und bestenfalls variables Konglomerat von Sätzen, sondern eine denkende, eine verändernde Praxis. 6. Nietzsches ‚Kulturphilosophie‘ bewirkt Öffnung statt Schließung oder Vermessung eines Wirk- und Denkraums. Sie gibt damit Ciceros Formel von der cultura animi eine eigentüm liche Wendung: Diese Kulturphilosophie ist der Geist, der sich in der Selbstproblematisierung kultiviert, urbar macht. Kultur kann dann nicht für sich alleine stehen – vielleicht braucht sie stets die Krise an ihrer Seite. Von Nietzsche kann man lernen, dass die Selbstproblematisierung von Kultur auch gewaltige Chancen birgt: Sie macht erfinderisch.
69
Philosophie als Wagnis Preise sind ein Wagnis. Preise sind ein Wagnis sowohl für diejenigen, die sie bekommen, als auch für diejenigen, die sie verleihen. Wenn ich mit Rührung und Dankbarkeit den Friedrich-NietzschePreis des Landes Sachsen-Anhalt entgegennehme, dann frage ich mich, ob ich diesem Wagnis ganz gewachsen bin. Die Jury und der Minister hatten die Liebenswürdigkeit, den Friedrich-NietzschePreis nicht für ein einzelnes Buch, sondern für ein „Lebenswerk“ zu vergeben. Da ich nun – obwohl mir der Wagnischarakter des Lebens selbst durchaus vor Augen steht – beabsichtige, noch eine Weile am Leben zu bleiben, stellt dieses Jury-Votum tatsächlich ein Wagnis dar, denn wer weiß, was ich in Zukunft produzieren werde, und ob dieses Künftige noch preiswürdig sein wird. Man könnte auf den Gedanken verfallen, der Preis solle ein wenig der Disziplinierung dienen: Denn wer einen derartigen Preis bekommt, wird sich dessen auch in seinem künftigen Tun würdig zu erweisen suchen, also möglichst nichts schreiben, was dem Sinn und Geist des Preis-Namensgebers sowie der preisverleihenden Personen und Institutionen zuwiderläuft. Man hegt vielleicht die stille Hoffnung, der Preisträger werde das Wagnis nicht zu weit treiben und aus der Preiswürdigkeit in bloße Exzentrik abgleiten. 70
Viel stärker fällt aber bei einem Preis, der Friedrich-Nietzsche-Preis heißt, ins Gewicht, dass er stimulierend wirken soll, nämlich stimulierend zum intellektuellen Wagnis, das kein anderer Denker der Moderne so verkörpert hat wie Friedrich Nietzsche. Das Andersdenken ist bei Nietzsche gleichermaßen Programm und Methode. Wer den Friedrich-Nietzsche-Preis verliehen bekommt – das Wort „Verleihung“ zeigt an, dass man sich eines solchen Preises nicht definitiv sicher sein darf, sondern dass er ein unter Umständen revozierbares Wagnis darstellt –, wer also den Friedrich-Nietzsche-Preis verliehen bekommt, die oder der soll nicht diszipliniert, sondern motiviert werden, nämlich noch mehr zu wagen, als sie oder er bislang gewagt hat, um sich so dereinst dieses Preises erst wirklich würdig zu erweisen. Die Frage, die sich normalerweise dem Träger einer derart ehrenvollen Auszeichnung stellt, lautet: Was darf ich jetzt noch wagen? Beim Friedrich-Nietzsche-Preis lautet die Frage hingegen: Was muss ich jetzt wagen, um dem mit dem Preis gestellten Anspruch einigermaßen gerecht zu werden? Nietzsche hat die Philosophie zum Wagnis erklärt. Seine „Philosophen der Zukunft“ (JGB 44, KSA 5, 60) wollten „bereit zu jedem Wagniss“ sein (JGB 44, KSA 5, 62). Diese Bereitschaft zum Wagnis sollte sich nicht im Intellektuellen erschöpfen: Den „neuen Philosophen“ schrieb Nietzsche die Aufgabe ins Stammbuch, „grosse Wagnisse und Gesammt-Versuche von Zucht und Züchtung vorzubereiten“ (JGB 203, KSA 5, 126). Dabei hatte er offensichtlich nicht nur Experimente am Schreib71
tisch oder im Lehnstuhl vor Augen. Er verlangte den Philosophen einen Willen zur Lebensgestaltung und Lebensveränderung ab. Was immer man von Nietzsche halten mag – er fasziniert heutige Leser immer noch als Philosoph des Wagnisses, für den Andersdenken und Anderssein gleichermaßen Mittel und Ziel sind. Sicher war Nietzsche nicht der Erste, der Philosophie und Wagnis assoziiert hat. Das sapere aude des Horaz (Epistulae I 2, 40) hat auch nicht erst Immanuel Kant zum Motto der deutschen Aufklärung gemacht. Hierzulande war es bereits viel früher philosophisch gängige Münze, während das Monumentalwerk der französischen Aufklärung, die Encyclopédie, genauer: Denis Diderots Ency clopédie-Artikel über die Encyclopédie, die „hardiesse dans l’esprit“ in Erinnerung ruft, die – wie man wohl hinzufügen darf: unter den Bedingungen der Zensur und der absolutistischen Willkürjustiz – für ein solches Unternehmen notwendig sei.1 Trotz dieser früheren philosophischen Wagnisbereitschaft erscheint Nietzsche als der exemplarische Philosoph des Wagnisses, weil sich in seiner Bestimmung der Philosophie das Wagnis univer 1 Diderot, Denis / D’Alembert, Jean-Baptiste le Rond (Hrsg.): Encyclopédie ou Dictionnaire raisonné des sciences, des arts et des métiers, par une société de gens de lettres, Paris u. a. 1751–1772, Bd. 5, S. 644. Übersichtlich zusammengestellt sind die philosophiehistorischen Belege bei Langbehn, Claus: Wagen, Wagnis, in: Historisches Wörterbuch der Philosophie, hrsg. von Joachim Ritter †, Karlfried Gründer und Gottfried Gabriel, Bd. 12, Basel 2005, Sp. 17–19.
72
salisiert: Es ist nicht mehr wie bei Diderot allein das Wagnis des Geistes oder wie in der deutschen Aufklärung das Wagnis des Wissens, sondern das Wagnis liegt im philosophischen Leben selbst, in jeder Faser dieses Lebens. Das Wagnis avanciert an manchen Stellen geradezu zum Definiens, zum einzigen Kriterium von Philosophie, die eben nicht bloß Denken, sondern auch Leben zu sein hat. Diesen Wagnis-Geistern werden dann „die Er oberung, das Abenteuer, die Gefahr, der Schmerz sogar zum Bedürfniss“, die „Gewöhnung an scharfe hohe Luft, an winterliche Wanderungen, an Eis und Gebirge in jedem Sinne, es bedürfte dazu einer Art sublimer Bosheit selbst, eines letzten selbstgewissesten Muthwillens der Erkenntniss“ (GM II 24, KSA 5, 336). Der Philosoph, den Nietzsches Spätschriften visionieren, hat mehr Ähnlichkeit mit einem tollkühnen Freischärler oder einem ausgefuchsten Verbrecher als mit dem gemütlichen Stubengelehrten, als der der Philosoph gemeinhin gilt. Sicher liegt der Einwand nahe, Nietzsche habe hier reinem Wunschdenken die Zügel schießen lassen, und die Selbstermächtigung des Philosophen zum Wagehals und Abenteurer finde doch immer nur auf dem Papier und nicht in der Wirklichkeit statt. Das mag ja sein – gesetzt, die Wirklichkeit und das Papier seien so säuberlich auseinanderzuhalten –, ändert aber nichts daran, dass Nietzsche eine neue Art des Philosophierens verlangte und zugleich behauptete, dieses Philosophieren in Wagnissen sei das eigentliche und ursprüngliche Philosophieren, das mittlerweile seinen 73
Wagnischarakter und damit seinen ursprünglichen Gestus verraten habe. Früh hatte Nietzsche in Arthur Schopenhauer und Ralph Waldo Emerson Exempel einer anderen Art des Philosophierens verkörpert gefunden. In der Schopenhauer „als Erzieher“ gewidmeten dritten Unzeitgemässen Betrachtung verteidigte er die spezifische „Würde der Philosophie“ (UB III SE 8, KSA 1, 425 u. 427) und gab zu bedenken, „dass die Liebe zur Wahrheit etwas Furchtbares und Gewaltiges“ sei. Mit einem Emerson-Zitat sollte verdeutlicht werden, welche Risiken wahre Philosophie berge. „Nun, wenn solche Denker gefährlich sind, so ist freilich deutlich, wesshalb unsre akademischen Denker ungefährlich sind; denn ihre Gedanken wachsen so friedlich im Herkömmlichen, wie nur je ein Baum seine Aepfel trug: sie erschrecken nicht, sie heben nicht aus den Angeln; und von ihrem ganzen Tichten und Trachten wäre zu sagen, was Diogenes, als man einen Philosophen lobte, seinerseits einwendete: ‚Was hat er denn Grosses aufzuweisen, da er so lange Philosophie treibt und noch Niemanden betrübt hat?‘ Ja, so sollte es auf der Grabschrift der Universitätsphi losophie heissen: ‚sie hat Niemanden betrübt.‘ “ (UB III, SE 8, KSA 1, 426 f.). Trotz mancher waghalsiger Äußerungen im Spätwerk, die Philosophie und Wagnis vollständig zu identifizieren scheinen, war doch auch Nietzsche keineswegs geneigt, jede Form von Wagemut mit Philosophie gleichzusetzen. Selbst bei ihm blieb der Wagemut zunächst auf das Denken konzentriert, das ein anderes, neues Denken sein sollte. 74
Diesem Denken räumte Nietzsche dann – und damit stellte er sich trotz all seines Widerspruchs in die Tradition der Philosophie spätestens seit Sokrates – eine lebensumgestaltende Kraft ein. Wer anders zu denken wagt, wagt auch anders zu leben. Ob es diese andere Lebensart schon ausmacht, auf eine wohldotierte Stelle an der Universität zu verzichten, um stattdessen, wie Schopenhauer, vom ererbten, gut angelegten und vermehrten Kapital zu zehren, oder, wie Nietzsche, von einer großzügigen Universitätsrente? Man muss sich den intellektuellen Wagemut ökonomisch leisten können. Selbst wer wie Nietzsche den Wagemut einklagt, benötigt, wenn schon nichts Felsenfestes und unhintergehbar Wahres, wenigstens etwas provisorisch Haltbares und Haltgebendes. Selbst Nietzsche hat nicht jeden Tag etwas Neues gewagt, sondern mit Festlegungen operiert und damit der nachträglichen Zementierung dieser Festlegungen als ‚Lehren‘ namens ‚Ewige Wiederkunft des Gleichen‘, ‚Übermensch‘ oder ‚Wille zur Macht‘ Vorschub geleistet. Festlegungen – sogar solche experimenteller Art – helfen, das Wagnis zu bändigen. Man – sogar der Philosoph – kann nicht unentwegt im Wagnis leben, das Wagnis leben, wenn das Wagnis ein Tun mit ungewissem Ausgang unter beständiger Gefahr bedeutet und nicht einfach eine rhetorische Floskel bleibt. Nietzsche hatte es darauf angelegt, seine experimentellen Festlegungen als Wagnisse erscheinen zu lassen – die Festlegungen eben so weit entfernt von den Üblichkeiten bislang vorherrschender Philosophie anzusiedeln, dass sie ungemein gewagt 75
anmuten würden. Der Wagnischarakter von Nietzsches experimentellen Festlegungen hat sich allerdings in den hundert Jahren, während derer sie von Nietzscheaner-Gemeinden als ‚Lehren‘ verkündet worden sind, stark abgenutzt, so dass wir heute Nietzsche eher trotz, als wegen seiner angeblichen Lehren schätzen, die von der Nachwelt noch stärker überschätzt worden sind als von ihm selbst. Faszinierend bleibt, dass Nietzsche Philosophie waghalsig gedacht und versuchsweise auch gelebt hat. Diese Faszination erklärt sich wesentlich daraus, dass ‚die‘ Philosophie der Gegenwart, genauer gesagt, ‚die‘ Philosophie nach 1945 Waghalsigkeit verabscheut und das intellektuelle Wagnis für viele Dezennien unter Quarantäne gestellt hat. Das gilt nicht nur für bestimmte Richtungen der Philosophie – beispielsweise die hermeneutische oder die analytische Philosophie –; das gilt auch nicht nur für die akademisch-universitäre Philosophie (von der Partei-Philosophie in der DDR ganz zu schweigen), sondern gleichermaßen für das, was man populäre Philosophie nennt – was also von Nichtfachleuten gelesen und verstanden werden soll. Die Versuchung ist groß, die gegenwärtige philosophische Wagnisverweigerung, die noch näher zu spezi fizieren sein wird, mit der Keule der von Schopenhauer und Nietzsche sorgfältig kultivierten Universitätsphilosophen-Schelte zu traktieren, sprich: die akademischen, aber auch die populären Philosophen an den Pranger zu stellen, weil sie von (Denk-) Faulheit, von Besitzstandsmentalität und zuinnerst von einem ressentimentgeladenen, antiphilosophi76
schen Furor beseelt seien. Aber diese Universitätsphilosophen-Schelte greift zu kurz, weil sie Gründe und Ursachen der philosophischen Wagnisverweigerung nur unzureichend reflektiert. Ein paar Mutmaßungen, worin diese Gründe und Ursachen bestehen dürften, will ich hier anstellen – und zudem vorausschicken, dass die Behauptung, ‚die‘ gegenwärtige Philosophie sei wagnisabstinent, natürlich keine objektive Realität bezeichnet, sondern lediglich eine Tendenz anzeigt. Für diese Tendenz, so manche Ausnahmen wagnisfreudiger Philosophen es derzeit auch geben mag, sind die empirischen Belege indessen erdrückend: Gleichgültig, ob akademisch oder populär, ob analytisch oder kontinental: Philosophie ist seit 1945 weithin Philosophieverwaltungswissenschaft. Sie verwaltet die intellektuellen Wagnisse vergangener Tage. Zunächst einmal wird die Wagnisabstinenz der Philosophie unserer Tage mit globalen Entwicklungen zu tun haben: Die erste Hälfte des 20. Jahrhunderts stand weltpolitisch im Zeichen der großen, häufig kopflosen, vielfach äußerst fatalen Wagnisse. Eric Hobsbawm hat seine Geschichte des „kurzen“ 20. Jahrhunderts unter dem Titel „Age of Extremes“ veröffentlicht (Age of Extremes. The Short Twentieth Century, 1994) – ein Titel, der sich für die erste Hälfte dieses Jahrhunderts zwanglos mit „Das Zeitalter der Wagnisse“ übersetzen ließe. Diesen weltpolitischen und weltökonomischen Wagnissen korrespondierte in der Philosophie ein ebenfalls – zumindest gemessen an dem seit He77
gels Tod stets moderaten Wagnis-Pegel der akademischen Philosophie – enormer Wagnishunger. Ich muss all die wagemutigen Werke von Husserls Logischen Untersuchungen bis Heideggers Sein und Zeit, von Wittgensteins Tractatus Logico-Philosophicus bis Sartres L’être et le néant nicht aufzählen, um glaubhaft zu machen, dass der Geschmack am Wagnis in der Philosophie der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts keineswegs nur unter jugendbewegten Nietzscheanern im Schwange war. Viele wagemutige Philosophen hätten sogar die Patenschaft Nietzsches für ihr eigenes, wagemutiges Philosophieren trotzig in Abrede gestellt. Der Wagnishunger der Philosophie in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts spiegelt zunächst also durchaus eine weltpolitische und weltökonomische Wagnislust. Dass nach den katastrophalen Wagnissen des Hitlerismus und des Stalinismus die Lust an Wagnissen generell nachgelassen hat, überrascht nicht – auch dies war nach 1945 wiederum kein spezifisch philosophisches Phänomen. Auf die weltpolitischen Wagniskatastrophen reagierte nicht nur die deutsche Philosophie in Ost und West, sondern die gesamte Gesellschaft mit der Losung des Maßhaltens, des Sicherstellens, des Festlegens. Saisonale Schwankungen wie 1968 ändern am Gesamtbild nichts. Eine ähnliche Entwicklung lässt sich übrigens – wie ja auch die Wagnisbereitschaft des frühen 20. Jahrhunderts nicht ohne frühere historische Vorläufer beispielsweise im 18. Jahrhundert gewesen ist – auf dem Territorium des Heiligen Römi78
schen Reiches Deutscher Nation nach den WagnisKatastrophen der konfessionellen Auseinandersetzungen und des Dreißigjährigen Krieges beobachten, wo grob gesagt zunächst der maßvolle, aber durchaus risikobereite Eklektizismus des Christian Thomasius landläufig, sodann die maßvolle Vernünftigkeitsphilosophie des Christian Wolff beinahe allbeherrschend wurden. Währenddessen ging die Philosophie des Empirismus und des Sensualismus in damals weniger kriegswagnisverheerten Ländern wie Frankreich und Großbritannien aus der Sicht von Kirche und Staat höchst bedenkliche intellektuelle Wagnisse ein. Dies tat im Übrigen auch der deutschstämmige, aber als europäischer Universalgelehrter lebende Leibniz, allerdings – anders als manche seiner britischen und französischen Zeitgenossen – nicht ohne religiöse Rückversicherungen. Nebenbei bemerkt: Man könnte sich einmal Gedanken machen über die Funktionsanalogien der wolffianischen Schule im 18. Jahrhundert und der Frankfurter Schule im späten 20. und frühen 21. Jahrhundert. Beide Schulen haben einst radikal angefangen, wurden als staats- und religionsgefährdend angesehen, obwohl Habermas niemals wie weiland Wolff der Strang drohte. Beide Schulen haben sich im Laufe ihrer Entwicklung als staatstragend und religionsaffin erwiesen, beide Schulen fanden sich in einer Dienerrolle gegenüber der Gesellschaft wieder, beide Schulen propagierten einen Vernunftuniversalismus und eine Vernunfthegemonie. Letztere konnte und kann leicht mit einem Hegemonieanspruch der Schule selbst 79
verwechselt werden, als ob die angebliche Alternativlosigkeit der Vernunft die Alternativlosigkeit der Schule impliziere. Die Herrschaft dieser beiden Schulen in ihrer jeweiligen Periode – überhaupt die Herrschaft einer Schule zeigt das Vorherrschen eines Sekuritätsinteresses: Schulen bilden sich, um geistige Besitzstände zu sichern. Das Wagnis ist da quasi strukturell ausgeschlossen. Die Wagnisantipathie der Philosophie nach 1945, die in Schulbildungen – keineswegs nur in der Frankfurter Schule, sondern z. B. auch in analytischen Schulen – ihren beredten Ausdruck fand, ist nicht nur global, sondern auch philosophisch begründet: Begreiflicherweise war man nach 1945 der großen, um ihrer selbst willen gewagten Wagnisse und der permanenten Ausnahmezustände müde. Man sehnte sich gesellschaftlich ebenso wie philosophisch nach Wagnisbändigung, nach Ruhigstellung. Philosophisch durchschaute man, dass das Wagnis als Selbstzweck leer sei, dass Philosophie sich nicht im Wagnis erschöpfen dürfe. Kann man das Wagnis überhaupt wagen? Gibt es ein planbares Wagnis, ein gewagtes Wagnis um des Wagnisses willen? Ist das nicht eine fromme RevoluzzerIllusion, fragen wagniskritische Philosophen mit einigem Recht. Der permanente Ausnahmezustand des philosophischen Wagnisses in der ersten Jahrhunderthälfte war auf Dauer unerträglich, so dass man entweder das Wagnis als Sprungbrett zu letzten Sicherheiten benutzte – so in christlich-theologischen Ausprägungen der Existenzphilosophie beispielsweise bei 80
Peter Wust (Ungewissheit und Wagnis, 1937), die das Wagnis als Mittel zu neuer Glaubensgewissheit verstanden wissen wollte –, oder aber mit pauschaler Wagnisverweigerung reagierte. Wenn Nietzsche eine Philosophie des Wagnisses ausgerufen hat, war man bestrebt, diesen Ruf unhörbar zu machen. Philosophie erscheint dann nicht als Wagnislaboratorium, sondern als eine Wagnisverwahranstalt. Nach 1945 sollte Philosophie auch in der Bundesrepublik, nicht nur die Parteiphilosophie in der DDR, einen systemstabilisierenden Effekt zeitigen – deshalb brauchte man Schulphilosophien, deren Wagnisrisiko durch die gebotenen SchülerLehrer-Obedienzen gering ausfiel. Die Philosophie reagierte mit Einhegung des Wagnisses einerseits auf die politische Großwetterlage, unter deren Vorzeichen der Ausnahmezustand der politischen Wagnisse verderblich und diskreditiert erschien, andererseits auf den Sturzbach von Wagnissen innerhalb der Philosophie vor 1945, die man erst einmal exegetisch aufzuarbeiten hatte. Epigonale Phasen sind nach Phasen der intellektuellen Exaltation nicht nur normal, sondern systemisch nützlich. Wer ein solches Phasenmodell allerdings verabsolutiert und prophezeit, nach Perioden der Aufarbeitung würden sich Perioden des Wagnisses quasi naturgesetzlich zwangsläufig wieder einstellen, verliert die longue durée-Perspektive leicht aus dem Blick: Denn die Akademisierung der Philosophie als universitäre Spezialdisziplin, die seit zwei bis drei Jahrhunderten anhält, scheint insgesamt 81
dem Wagemut abträglich zu sein, weil die Belohnungs- und Aufstiegsmechanismen innerhalb des universitären Systems in aller Regel die Konformität und nicht die Novität belohnen. Daher kam ein guter Teil der philosophischen Wagnisse – siehe Nietzsche – gerade nicht aus der akademischen Philosophie. Sogleich hinzugefügt werden muss, dass auch die Popularisierung der Philosophie für einen großen bildungsbürgerlichen Markt, wie sie ebenfalls seit zwei bis drei Jahrhunderten erstarkt, den Wagemut ebenso wenig befördert, denn gekauft und gelesen wird in aller Regel das, was leichtgängig den Vorurteilen entgegenkommt, die die Leser ohnehin schon pflegen, so dass jedes intellektuelle Wagnis es schwer haben wird, sich dem Publikumsgeschmack anzudienen, es sei denn, es wählt so schrille und laute Töne oder absonderliche Wege, dass es Neugier weckt. Nun wird man vielleicht einwerfen, dass Wissenschaft im Allgemeinen und Philosophie im Besonderen immer ein Wagnis seien, da Wissenschaft und Philosophie doch nach Neuem, nach „Innovation“ strebten. Und man wird den Einwurf ergänzen um die Feststellung, dass diejenigen, die Philosophie zu studieren anfangen, noch in ganz anderer Weise wagemutig seien als angehende Juristen oder Chemiker: Philosophiestudierende sind nicht nur intellektuell, sondern auch existenziell wagemutig, denn ihre Studienwahl, soweit sie nicht aus Verlegenheit geschieht, zielt nicht auf einen akademischen Brotberuf ab, sondern auf Erkenntnisgewinn, womöglich sogar auf Sinnerfüllung. 82
Dem Einwurf kann ich nur beipflichten: Würden Wissenschaft im Allgemeinen und Philosophie im Besonderen dem Wagnis prinzipiell abschwören, würden sie aufhören, Wissenschaft und Philosophie zu sein. Ein Restwagnis, die Möglichkeit des Neuen immerhin einzuräumen, muss bestehen bleiben, wenn man noch von Wissenschaft oder Philosophie sprechen will. Aber das Misstrauen gegenüber dem Wagnis ist in den Institutionen der Wissenschaft oft erdrückend. Was die Ergänzung des Einwurfes anlangt, bin ich ebenso einverstanden: Das Studium der Philosophie ist ökonomisch ein erhebliches Wagnis mit ungewissem Ausgang. Man muss dafür anderweitig entschädigt werden, durch die unvergleichlichen Abenteuer der Erkenntnis. Dennoch werden Philosophiestudierende an den Universitäten häufig mit Formen von Philosophie konfrontiert, an denen sie weder ihren Wagemut ausleben noch unvergleichliche Abenteuer der Erkenntnis kosten können. Ein analoges Problem tritt am anderen Ende der universitär-philosophischen Ausbildungskette auf: In der Jugendblüte der akademischen Philosophie, im 19. Jahrhundert, gerierten sich eine Reihe junger Doktoren und Privatdozenten der Philosophie als wahre Berserker des intellektuellen Wagemuts: Arthur Schopenhauer oder Ludwig Feuerbach, Bruno Bauer oder Karl Marx, um nur ein paar wenige zu nennen. Sie mussten früh einsehen, dass ihre Gesinnung eine geordnete universitäre Karriere unmöglich machen würde – entsprechend folgten sie dem eingeschlagenen Weg der Radikalisierung und des existenziellen Wage83
mutes entschlossen weiter. Heutigen PhilosophiePrivatdozierenden, die bei Erreichen der Habilitation im Schnitt mindestens anderthalb Jahrzehnte älter sind als ihre Kollegen aus dem vorletzten Jahrhundert, macht das universitäre System hingegen lange Hoffnung, bei Wohlverhalten und Schulgehorsam doch noch berufen zu werden. Wenn sie endlich erkennen, dass aus der Berufung auf eine universitäre Lebenszeitstelle nichts mehr wird, sind sie zu alt, um ihre prekäre Lebenssituation in denkerischen Wagemut oder ihren Privatdozenteningrimm in intellektuellen Radikalismus umzumünzen. Die Reserviertheit gegenüber dem Wagnis gerade unter akademischen Philosophen hat freilich ihren Grund nicht allein in der Ermüdung an überbordendem Wagemut sowie in einer allgemeinen wissenschaftssystemischen Wagnisaversion (bei gleichzeitiger wissenschaftlicher Wagnisbedürftigkeit). Diese Reserviertheit hängt auch mit der sonderbaren Zwitterrolle der Philosophie innerhalb der Universität zusammen: Einerseits scheint sie eine wissenschaftliche Disziplin wie jede andere zu sein, andererseits verweigert sie sich aller Disziplin. Der wissenschaftstheoretische Status der akademischen Philosophie ist äußerst fragwürdig: Es handelt sich um eine Disziplin ohne klaren Gegenstandsbereich, ohne klare Methode, ohne klares Erkenntnisinteresse. Dazu kommt, dass die akademische Philosophie an einem Emanzipationstrauma leidet: Alle Wissenschaften scheinen ursprünglich aus ihr hervorgegangen zu sein, was ihr einst den Anspruch sicherte, Königin der Wissenschaften zu 84
sein. Jetzt hingegen wird die Philosophie von fachwissenschaftlicher Seite allerorten und mehr oder weniger offen für irrelevant erklärt. Umso mehr bemühen sich akademische Philosophinnen und Philosophen, ihrem Tun den Anstrich von Wissenschaft zu geben. Philosophie soll wissenschaftlicher sein als alle andere Wissenschaft, um so ihren prekären Status vergessen zu machen. Mit dem Trachten nach Wissenschaftlichkeit verbindet sich eine starke Wagnisaversion, denn das Wagnis führt nur allzu leicht ab vom wohlbehüteten Weg der regulierten Wissenschaft. Auch ungeachtet dieser Zwänge institutionalisierter Wissenschaft, die der Philosophie womöglich eine ihr wesensfremde Rolle aufnötigen, ist sie immer schon von einem Zwiespalt bestimmt, nämlich dem Zwiespalt zwischen Wagnis und Vergewisserung, zwischen Abenteuer und Sicherstellung. Von Anfang an bestimmte das Wagnis, überlieferte Denk- und Glaubensformen zu überwinden, das philosophische Geschäft. Sogleich jedoch – man denke an den Satz des Anaximander – ging dieses Wagnis einher mit dem Streben nach Sicherstellung, nach neuen Gewissheiten, gewonnen aus dem Denken selbst. So trat die Philosophie das Erbe jenes sozialen Phänomens an, das traditionell der Sicherstellung und Vergewisserung diente, nämlich das Erbe der Religion. Aus dem Schatten dieses Erbes ist sie bis heute nicht ganz herausgetreten, wenn man sich das dominante Bedürfnis nach verbindlichen Festlegungen vergegenwärtigt, das unter akademischen und populären Philosophinnen und Philosophen nach wie vor grassiert: 85
Wie sonst würde man beispielsweise auf den Gedanken verfallen, Philosophie könne so etwas wie eine ‚normative Ethik‘ formulieren? Nun treibt sicher nicht nur das religiöse Erbe die Philosophen zu Sicherstellungen und Vergewisserungen. Vielmehr sind sie das strukturell notwendige Komplement zum Wagnis. Niemand kann permanent im Wagnis leben; immer wieder bedarf man der Absicherungen, der Netze, der Seile, der doppelten Böden. Als reines Wagnis hätte Philosophie niemals den Augenblick ihrer Geburt überlebt. Aber es kann der Stabilisierung zu viel sein: Philosophie in ihren akademischen und populären Domestikationsformen schnürt gegenwärtig in ihrem prävalenten Sicherheitsinteresse – das vor allem ein Interesse ist an der Sicherung des Status von Philosophie im Konzert der anderen Wissenschaften – dem Wagemut die Luft ab. Wäre nicht eine ganz andere Reaktion auf das Prekär-Sein von Philosophie angemessen, nämlich die frommen Ideen von Philosophie als Begriffsregelungsinstanz oder als Begründerin der öffentlichen Moral beherzt zu verabschieden und aus der prekären Stellung gerade die Lizenz zum Wagnis zurückzugewinnen? Zwar gibt es keine Rezepte für Philosophie als Wagnis, sondern nur eine wagnisreiche Praxis. Das Wagnis ist nicht einfach planbar. Aber es gibt Momente, die das Wagnis begünstigen – und zu diesen könnte gerade das Prekär-Sein von Philosophie in der Gegenwart gehören. Bislang blieb die Chance meist ungenutzt, einen neuen Modus des Philosophierens zu entwickeln. Dieser 86
Modus würde die akademische und die populäre Philosophie listig zu unterlaufen und zu subvertieren haben.2 Nietzsche wollte die Philosophie nicht nur als Wagnis, sondern auch die Philosophen als Gesetzgeber verstanden wissen. So gewagt jedoch der Akt der Gesetzgebung selbst sein mag, bedrohen die Gesetze nach ihrem Erlass die Möglichkeiten künftiger Wagnisse. Es reicht vielleicht schon, wenn die Philosophinnen und Philosophen sich stärker temptatorisch, versucherisch gebärden und die Verunsicherung, vor allem auch ihrer selbst, wagen. Philosophie soll uns keine Wohnstatt und auch kein Obdach geben. Sie soll uns bewegen. Philosophie soll keine Bestandssicherung betreiben, sondern ‚Bestände‘ relativieren. Sie ist die Königin der Wissenschaften, falls sie diese lehrt, dass das Geschäft der Wissenschaften auch das Geschäft der Relativierung ist – und es ihnen vormacht. Wobei natürlich das
2 Hans Robert Jauß hat einen programmatischen Vortrag unter den Titel „Literaturgeschichte als Provokation der Literaturwissenschaft“ gestellt (abgedruckt in: Jauß, Hans Robert: Literaturgeschichte als Provokation, Frankfurt am Main 1970, S. 144–207). In Analogie wird man die leider so seltene, kritische Philosophiegeschichte als Provokation der Philosophie verstehen können: Der Philosophiehistoriker zerstört Sicherheiten und problematisiert mit den Geschichtsbildern der Philosophie zugleich ihr Selbstbild. Vgl. Sommer, Andreas Urs: Was heißt und zu welchem Ende schreibt man Philosophiegeschichte?, in: Scientia Poetica. Jahrbuch für Geschichte der Literatur und der Wissenschaften 12 (2008), S. 267–293.
87
Wagnis selbst kein Letztbegriff ist, auch das Wagnis fordert Relativierung. Eine neue Verwegenheit tut der Philosophie not. Dies zunächst einmal in formaler Hinsicht: Seit 250 Jahren verschanzt sich die akademische Philosophie hinter der Abhandlung als der einzig angemessenen Form des philosophischen Schreibens – sei es in der Kleinform als ‚Aufsatz‘, sei es in der Großform als ‚Monographie‘. Mit dieser Beschränkung sind der Philosophie nicht nur Ausdrucksformen genommen – das könnte man ja womöglich noch verschmerzen –, sondern auch Denkformen: Im Roman, im Gedicht, im Aphorismus, im Essay denkt sich anders, und zwar – siehe Parmenides’ Lehrgedicht, Platons Dialoge, Nietzsches Zarathustra – womöglich noch sachhaltiger, noch wirkungsmächtiger als in der strengen Form der Abhandlung, die in dieser Strenge viele Denkmöglichkeiten beschneidet. Eine neue philosophische Verwegenheit wird also auch die Wagnisse anderer Formen des Schreibens erproben. Dabei sind die Risiken hoch, wie man leicht an der Vielzahl verunglückter philosophischer Romane ermessen kann. In materialer Hinsicht wird eine neue philosophische Verwegenheit dadurch auffallen, dass sie die Themen- und Antwortzwänge nicht reproduziert, die ihr eine hauptsächlich auf Sekurität bedachte Philosophie als Mitgift hinterlassen hat. Dürfte man – das lässt sich im Rahmen einer Nietzsche-Preisverleihung leicht mutmaßen – nicht wieder einmal grundsätzlich jene Moral be88
fragen, zu deren Anwälten sich Philosophen so ganz selbstverständlich gemacht haben? Einige liebgewonnene Wortphantome würden dabei – vielleicht, zwecks Genesung, zu ihrem Besten? – unters Messer kommen: ‚Werte‘ ganz allgemein, oder konkreter ‚Menschenwürde‘, ‚Europa‘, daneben vermeintlich so Zeitloses wie ‚Willensfreiheit‘ und ‚Willensunfreiheit‘. Aber die Wendung gegen Themen- und Denkzwänge dürfte ebenso in der leidigen Debatte um Stoff und Geist, um Materie und Bewusstsein, um body and mind sichtbar werden, als ob diese Begriffe fest und unumstößlich gegründet wären. Wenn Sie beim Festempfang zwei Gläser Saale-Unstrut-Wein trinken, werden Sie dann körperlich oder geistig affiziert? Ist die angenehme Beschwingung ein physisches oder ein psychisches Phänomen? Wo hört sie auf, eine körperliche Erscheinung zu sein und wo beginnt sie, eine geistige zu werden? Sind die Grenzziehungen, die wir in diesem konkreten Fall vornehmen, nicht ebenso willkürlich und situativ wie die angeblich prinzipielle Unterscheidung zwischen ‚Physischem‘ und ‚Psychischem‘. Lässt sich nicht beides, Geist und Materie, in Relationen auflösen? Alles, was ist, ist in Beziehung, insofern es ist. Das Etikett der Verwegenheit für eine wagemutige Philosophie, von der zu hoffen ist, dass sie für Gesellschaft und Wissenschaften heilsam und relevant sein kann, ist mit Bedacht gewählt. Sicher, Verwegenheit ist ein Synonym für Kühnheit, Keckheit, gelegentlich sogar für Gottlosigkeit und Ruchlosigkeit (und bedeutete noch bei Heinrich 89
Seuse „Entsagung“, „Selbstverleugnung“3), damit offenkundig passend für einen Habitus, der das Wagen kultiviert – Wagen verstanden als ein von Gefahren bedrohtes Tun mit unsicherem Ausgang. Das alte Wort Verwegenheit ist aber vor allem deshalb ein so passendes Etikett für eine wagemutige Philosophie, weil im Begriff noch immer der Weg steckt. Sicher, Abwege und Holzwege wird der Verwegene viele beschreiten, aber selbst als VerWegener ist er doch immer auf einem Weg, oder steht doch zumindest im Verhältnis zu einem Weg, auch wenn er der erste und einzige ist, der diesen Weg einschlägt. Jede und jeder muss die eigene Verwegenheit finden. Hierbei darf man auf die lebensgestaltende und lebensverändernde Macht des Denkens vertrauen.
3 Grimm, Jacob und Wilhelm: Deutsches Wörterbuch, Leipzig 1854–1971, Bd. 25, Sp. 2159.
90
Personenregister Aischylos 59 Anaximander 85 Andreas-Salomé, Lou 54 Archilochos 45, 46 Balzac, Honoré de 7 Bauer, Bruno 83 Bernoulli, Carl Albrecht 21 Bishop, Paul 59 Brusotti, Marco 22 Cicero, Marcus Tullius 50, 69 DʼAlembert, Jean-Baptiste le Rond 72 Diderot, Denis 72, 73 Emerson, Ralph Waldo 74 Feuerbach, Ludwig 83 Fink, Eugen 26, 27 Förster-Nietzsche, Elisabeth 21 Gander, Hans-Helmuth 26
Grätz, Katharina 11, 13 Grimm, Jacob und Wilhelm 90 Habermas, Jürgen 79 Hegel, Georg Wilhelm Friedrich 31, 32 Heidegger, Martin 25, 26, 27, 37, 78 Herder, Johann Gottfried 51 Hertlein, Alexandra 16 Himmelmann, Beatrix 24 Hobsbawm, Eric 77 Homer 9 Horaz (Quintus Horatius Flaccus) 72 Husserl, Edmund 26, 78 Jauß, Hans Robert 87 Kant, Immanuel 23, 31, 32, 33, 34, 52, 53, 55, 72 Kaufmann, Sebastian 11, 13, 26, 43 Keller, Otto 20 Klein, Julius Leopold 54 91
Klopstock, Friedrich Gottlieb 14 Konersmann, Ralf 51 Langbehn, Claus 72 Leibniz, Gottfried Wilhelm 79 Mandeville, Bernard 53 Marti, Urs 55 Marx, Karl 83 Maurer, Michael 51 Meier, Heinrich 11 Möckel, Christian 24 Niehues-Pröbsting, Heinrich 56 Nielsen, Rosalie 20, 21 Nietzsche, Franziska 21 Orsucci, Andrea 61 Overbeck, Franz 21 Overbeck, Ida 21 Parmenides 88 Perpeet, Wilhelm 51, 53 Platon 23, 31, 88 Pufendorf, Samuel 50, 51 Reschke, Renate 22 Rickert, Heinrich 23, 24, 25, 26, 27 Riehl, Alois 22, 23, 26, 54, 57 92
Ritschl, Friedrich 19, 20 Rohde, Erwin 19, 20 Rousseau, Jean-Jacques 53, 56, 57 Ruehl, Martin 59 Sartre, Jean-Paul 78 Schopenhauer, Arthur 74, 75, 76, 83 Schweitzer, Albert 52 Seuse, Heinrich 90 Sokrates 63, 75 Sophokles 59 Spinoza, Baruch de 33, 34 Stein, Ludwig 52, 53, 54, 55, 56, 57, 58, 66 Stöving, Curt 6 Striet, Magnus 26 Thomasius, Christian 79 Tongeren, Paul van 54, 63 Treu, Max 46 Vaihinger, Hans 20, 21 Wagner, Richard 56, 58, 59, 61, 62, 64 Windelband, Wilhelm 53 Wittgenstein, Ludwig 78 Wolff, Christian 79 Wust, Peter 81
Zum Autor Andreas Urs Sommer ist seit 2016 Inhaber der W3-Professur für Philosophie mit Schwerpunkt Kulturphilosophie an der Albert-Ludwigs-Universität Freiburg / Akademieprofessur in Kooperation mit der Heidelberger Akademie der Wissenschaften und leitet deren Forschungsstelle Nietzsche-Kommentar. Er hat Gastprofessuren im In- und Ausland wahrgenommen, ist Fellow der Carl Friedrich von Siemens Stiftung 2017 / 18 und Direktor der Friedrich-Nietzsche-Stiftung in Naumburg / Saale. Unter den jüngsten seiner zahlreichen Buchpublikationen: Lexikon der imaginären philosophischen Werke (2012); Werte – warum man sie braucht, obwohl es sie nicht gibt (2016); Kommentar zu Friedrich Nietzsches „Jenseits von Gut und Böse“ (2016) und Nietzsche und die Folgen (2017).
93