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Reinhard Brandt
Immanuel Kant – Was bleibt?
Meiner
Bibliographische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliographie; detaillierte bibliographische Daten sind im Internet über ‹http://dnb.d-nb.de› abrufbar. ISBN 978-3-7873-1956-5
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Inhalt Vorspann ............................................................................................
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I. Probleme der »Transzendentalen Ästhetik« .......................
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1. Die »Transzendentale Ästhetik« und die Gottesbeweise ........... 2. Die Entstehung der Raum-Zeit-Problematik .............................. 3. Geometrie in der »Transzendentalen Analytik« ......................... 4. Schwierigkeiten, die bleiben? ........................................................ Anhang I: Vorstellungsfähige, nichtmenschliche Lebewesen ....... Anhang II: Zeit und Zahl ................................................................... 5. Was bleibt? .......................................................................................
16 38 40 47 55 62 64
II. Kant versucht, das Böse zu retten – vergeblich?...............
67
1. »Die Wirklichkeit des Moralisch-Bösen in der Welt« ................ 2. Die Möglichkeit des freien bösen Handelns ................................ 3. Willkür und Wille ........................................................................... 4. Die intelligible Tat........................................................................... 5. Das Böse und das Hässliche .......................................................... 6. Was bleibt? .......................................................................................
69 71 77 81 84 84
III. Der kategorische Imperativ – gültig überall und immer?
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1. Der kategorische Imperativ – kein Prinzip der Universalisierung von Maximen ................................................... 87 2. Maximen ......................................................................................... 91 3. Allgemeines Gesetz ........................................................................ 93 4. Maxime und Gesetz ....................................................................... 95 5. Eine chimärische Ethik ................................................................. 104 6. Grenzprobleme ............................................................................... 111 7. Ethisch-rechtliche Aporien ........................................................... 112 IV. Aporien der Rechtslehre ......................................................... 127 1. Die Einheit von Rechts- und Tugendlehre .................................. 2. Haben und Erwerben ..................................................................... 3. Das auf dingliche Art persönliche Recht ..................................... 4. Was »im Grunde unrecht« ist .......................................................
127 130 140 143 | 5
5. Recht und Gerechtigkeit ................................................................ 146 6. Das Strafrecht .................................................................................. 148 7. Was bleibt? ....................................................................................... 150 V. Zwecke der Natur ....................................................................... 151 1. Die Argumentationslinie ............................................................... 2. Der Naturzweck ............................................................................. 3. Erstes Problem: Die Form des Naturzwecks ............................... 4. Zweites Problem: Alles ist Mittel und Zweck .............................. 5. Drittes Problem: Die Finalität der Natur in der Geschichte der Menschheit .......................................................... 6. Vorsehung und Theodizee ............................................................ 7. Drei Stufen der Sittlichkeit ............................................................ 8. Was bleibt? ......................................................................................
151 153 156 160 165 169 172 173
VI. Kritik und Aufklärung ............................................................. 175 1. Zum Begriff der Aufklärung ......................................................... 2. Die Emanzipation des theoretischen Verstandes ....................... 3. Praktische Aufklärung I ................................................................ 4. Praktische Aufklärung II ............................................................... 5. Was bleibt? Wohl nicht die »Dialektik der Aufklärung« ........... 6. Was bleibt? ...................................................................................... a. Selbst denken und die kritische Distanz zu Sprache und Bildern ............................................................................... b. Erkenntnis gegen Praxiswahn und Hedonismus .................. c. Die Gefährdung der Rechtsidee durch die Demokratie ...... d. Die mediale Lenkung der Öffentlichkeit ............................... e. Kritik der politischen Ökonomie ...........................................
175 179 184 191 197 200 202 203 204 206 209
VII. Die Würde des Menschen .................................................... 215 1. Vorüberlegungen ........................................................................... 215 2. Der Mensch als Zweck an sich ..................................................... 217 3. »Sei ein rechtlicher Mensch (honeste vive)« .............................. 219 4. Epilog und Anfang: Kant als Rebell gegen die Gesellschaftsordnung ............................................................... 224 Anmerkungen ....................................................................................... 238 Literaturverzeichnis .............................................................................. 256 Personenregister .................................................................................... 267
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Vorspann
Unsere geschichtsbedachte Kultur sorgt dafür, dass jedes Werk von Kant und jedes Wort, das wir noch auffinden können, erhalten bleibt – von Kant bleibt alles, was da ist. Seine Schriften, seine Probleme und Lösungen sind darüber hinaus einer der meist frequentierten Treff punkte aus allen Richtungen auf den unterschiedlichsten Gebieten der Wissenschaften; hier bleibt alles in einer permanenten Neubelebung unter wechselnden Gesichtspunkten. Dasselbe gilt für den philosophischen Unterricht, in dem Mustertexte benötigt werden; Kant gehört weltweit zu den Favoriten der Erziehung an Schulen und Universitäten. Die Titelfrage »Was bleibt?« zielt auf etwas anderes. Es gibt Lehrstücke der Kantischen Philosophie, die problematisch sind, und es gibt andere, die sich leicht verteidigen lassen. Unser FrageBuch beginnt mit Problemen der Raum-Zeit-Theorie, die seit Beginn angegriffen und selten verteidigt wurde. Es wird zunächst gezeigt, dass die Argumentation der »Transzendentalen Ästhetik« nach dem Muster von Gottesbeweisen konzipiert ist. Mit dieser Erkenntnis wird die Auseinandersetzung um die Raum-Zeit-Lehre erneuert und die Frage verfolgt, ob Kants Argumentation haltbar ist oder nicht. In der Spannung von eigenständiger Anschauung und getrennt eingeführtem Denken liegt ein Problem, das bis zur modernen Physik die Theoretiker intensiver anzieht als die empiristischen und einheitlich-idealistischen Lösungen. Können wir aus einer gesetzlich bestimmten Freiheit gesetzwidrig und damit böse handeln? Kant lehrt, dass wir selbst in einer »intelligiblen Tat« der Ursprung des Bösen sind; aber wie ist diese Tat als unsere eigene zu verstehen? Der kategorische Imperativ wird von den Gegnern als leer bezeichnet, von Anhängern aber fälschlich als Universalisierungsprinzip der Maximen ausgegeben. Unsere These ist, dass Kant sich mit dem Maximen- und Gesetzesbegriff auf eine Zweistufigkeit von Regeln bezieht, deren Herkunft und Systematik bisher nicht | 7
durchschaut wurde. Aber läßt sich der Gesetzesanspruch durchgängig halten? Kant vergleicht den kategorischen Imperativ mit einem Kompaß. Der Kompaß verliert jedoch seine Orientierungsfunktion am Nord- und Südpol. Setzt die Orientierung des kategorischen Imperativs in gleicher Weise in bestimmten Extremsituationen aus? Wird nicht vielmehr, wer sich in ihnen gesetzeskonform verhält, von der sittlichen Gemeinschaft und idealiter auch dem eigenen Gewissen verachtet? Die »Rechtslehre« ist höchst tiefsinnig und zugleich problematisch. Kant will das gesamte Privatrecht als Besitzrecht fassen, auch das persönliche oder Vertragsrecht. Dazu interpretiert er den Vertrag als den Besitz der Willkür des anderen. Ist das möglich, oder ist es eine Sackgasse? Es gibt in der »Rechtslehre« noch andere Elemente wie z. B. das Ehe- oder Strafrecht, die problematisch sind und bestritten werden können. In der Ästhetik der KdU ist zu vermerken, dass das Schönheitsurteil nur im positiven Fall gilt; die Negation kann, entgegen Kants eigener Überzeugung, keine Notwendigkeit der Beistimmung beanspruchen. Läßt sich in der Teleologie die These, in einem Naturprodukt (Organismus) sei alles wechselseitig Mittel und Zweck, angesichts der empirischen Objekte aufrechterhalten? Die Blätter der Pflanze sind im Herbst kein Zweck mehr, sondern werden abgestoßen. Wie verhalten sich die Finalität der Natur und der (Natur-)Geschichte der Menschheit zueinander? Kant versucht, die Zwecklehre der theoretischen reflektierenden Urteilskraft in die der praktischen reflektierenden Urteilskraft zu überführen und so Natur und Moral bzw. Freiheit zu verbinden. Aber die erstere bleibt immer subjektiv, während das Wissen der Moral absolut sein soll. Kommt am Ende die Einheit nur zustande durch den einen Schöpfergott, der schon bei Descartes »res extensa« und »res cogitans« verbinden musste? »Kritik und Aufk lärung« sind Stichworte, auf die kein Selbstverständnis des Menschen mehr verzichten kann. Die Kantische Aufklärungsforderung von 1784 ist nicht theoretischer Natur (wie in der parallelen Schrift von Moses Mendelssohn), sondern dezidiert praktisch; sie wendet sich gegen Thron und Altar und plädiert für die Autonomie der Bürger und Menschen in Recht und Ethik. Wie ist dieses Aufk lärungsgebot in die heutige Zeit zu übersetzen? 8 | vorspann
»Die Würde des Menschen ist unantastbar« – hier ist der Kantischen Grundlegung vorbehaltlos zuzustimmen. Die Emphase der menschlichen Würde geht bis in die sechziger Jahre zurück – damit befasst sich der Epilog, der damit den Anfang der Kantischen Freiheitsphilosophie beleuchtet. Die öffentliche Debatte um das Haltbare und das Unhaltbare in der kritischen Philosophie begann kurz nach der Publikation der KrV 1781 und wird bis heute fortgeführt. Kant selbst wollte die Philosophie genau diesem Streit entziehen und führte dazu zwei Argumente an. Einmal war es die Idee, die Metaphysik endlich als Wissenschaft neben anderen Wissenschaften außer Zweifel gesetzt zu haben, so dass es zwar noch kleine Ergänzungen und verbale Klarstellungen geben könnte, der Grundbestand jedoch ebenso gesichert war wie die Aristotelische Logik, die Geometrie Euklids und Newtons Physik. Zum anderen sollte die KrV einen Gerichtshof darstellen, der die anarchischen Zustände der Vorkritik in eine staatliche Ordnung brachte und jeden Streit sicher entscheidbar machte. Die Opposition bestritt beides und kehrte zu den beiden Lehren zurück, die Kant für widerlegt hielt, den Rationalismus der deutschen Schulmetaphysik und den zur Skepsis führenden Empirismus von Locke und Hume. Dazu folgende Erinnerung: Die Konzeption der Philosophie als neuartiger Wissenschaft ist gebunden an die Lehre vom synthetischen Urteil a priori, die sich sowohl gegen den Empirismus wie auch den Rationalismus wandte und in einer Aufhebungsfigur beide in sich zu vereinigen suchte. Der Empirismus von Autoren wie Locke und Hume sichte nur das Material, so lautet die Kritik, und ordne es historisch; bei diesem »quid facti« fehle jedoch jede begriffl iche Begründung, die die Philosophie als Wissenschaft auszeichne. Die gesuchte wissenschaft liche Notwendigkeit sei andererseits keine nur analytische, nur begriffl iche, wie sie von den Rationalisten der Schulphilosophie, etwa Christian Wolff, vertreten werde, sondern solle einen außerbegriffl ichen Inhalt erfassen. »Gedanken ohne Inhalt sind leer, Anschauungen ohne Begriffe sind blind. Daher ist es ebenso notwendig, seine Begriffe sinnlich zu machen (d. i. ihnen den Gegenstand in der Anschauung beizufügen) als seine Anschauungen sich verständlich zu machen (d. i. sie unter Begriffe zu bringen).« (A 51) Rationalisten gäben ihren Gedanken keinen wirklichen Invorspann | 9
halt, die Empiristen verharrten in der blinden Anschauung; es sei die paradoxe Aufgabe des synthetischen Urteils a priori, beides, den faktischen Inhalt und die begriffliche Notwendigkeit, in sich zu enthalten; kritische Philosophie sei die Begründung und Begrenzung der Möglichkeit synthetischer Urteile a priori. Dies ist die Grundidee der Kantischen Kritik der Vernunft in ihren drei Formen der Kritik der reinen Vernunft (1781, 1787), Kritik der praktischen Vernunft (1788) und der Kritik der Urteilskraft (1790). Sofort kam es zu dem alten Kampf auf dem Streitfeld, das Kant befrieden und in den Zivilzustand überführen wollte.1 Zu den frühesten Anhängern gehörte Christian Gottfried Schütz (1747–1832), der Jena für Kant einnahm und das Wirken Schillers und Fichtes vorbereitete; er sprach als erster von der erkenntnisfördernden Revolution, die Kant vollbracht habe,2 während die Gegner Kant als Diktator einschätzten; beides hellsichtig, denn Kant revolutionierte die Metaphysik, indem er eine Verfassung der Vernunft erließ, nach der und deren Gerichtshof sich künft ig alle zu richten hatten.3 Sodann der Arzt und Schriftsteller Johann Benjamin Erhard (1766–1827), der Marburger Protokantianer Johannes Bering (1748–1825), Karl Leonhard Reinhold (1758–1823), der die Verbindung nach Weimar herstellte. Ein Kantianer erster Stunde war der Hofprediger und Mathematiker Johann Schultz in Königsberg (1739–1805), den Kant in Kenntnis seiner Anhänglichkeit an ihn als besten Kopf der Gegend bezeichnete (X 133,25–26). Kants verständnisvoll-kluge Politik bei den frühen Schülern in Briefen und öffentlichen Hinweisen führte zur Propagierung und Stärkung des Kantianismus auf Lehrstühlen, in Büchern und Zeitschriften und in der Berliner Aufk lärung, in der Kant durch seinen Schüler Marcus Herz (1747–1803) nach 1770 wirkungsvoll präsent war. Im letzten Jahrzehnt des 18. Jahrhunderts wurden Kantische Überlegungen vielfach in die Literatur und Wissenschaften integriert; der wichtigste Kantianer der Literatur war Friedrich Schiller. Der Angriff gegen die kritische Philosophie kam aus beiden Lagern.4 Auf der empiristischen Seite behauptete Aenesidemus Schulze (1761–1833), Kant habe David Hume nicht widerlegt,5 auf der rationalistischen Seite stand u. a. Johann August Eberhard (1738–1809) mit der hartnäckigen These, das Wahre an der Kantischen Philosophie sei schon bei Leibniz und Wolff zu finden. Aus 10 | vorspann
der gleichen Richtung opponierten Johann Georg Heinrich Feder (1740–1821) oder Christian Garve (1742–1798), für Kant allesamt Verfassungsfeinde, die sich weiterhin im Naturzustand der Vernunft aufhalten wollten. Sie wandten sich gegen einzelne Lehrstücke der bis dahin vorliegenden Schriften. Sodann befeindeten ihn Originalgenies wie Johann Georg Hamann (1730–1788) und Johann Gottfried Herder (1744–1803). In der Polemik mit Gegnern war Kant unbarmherzig. Feder musste Göttingen verlassen, nachdem Kant ihn in den Prolegomena zum Schuljungen degradiert hatte, die barocken Äußerungen von Hamann wollte er übergehen, Herders Ideen jedoch rezensierte er vernichtend und testierte seinem früheren Schüler poetisches Vermögen, aber Unkenntnis in elementaren Operationen der Erkenntnis (VIII 43–66). »Unvernunft und absichtliche Täuschung ist Aushängeschild Herders«, lautet eine Notiz im Opus postumum (XXI 225,10). In der Philosophie zeichnete sich in den neunziger Jahren die vermittelnde Tendenz ab, die kritische Philosophie en bloc zwar als Epochenzäsur zu akzeptieren, aber zugleich über sie hinauszugehen. Bekannt ist Fichtes Diktum, Kant sei ein »DreiViertelsKopf«6, er habe sich selbst nicht verstanden, ich, Fichte, vollende das kritische Geschäft durch das Ich. Die Romantiker Novalis und Friedrich Schlegel nehmen einen kantischen Ausgangspunkt ein, um sich dann über ihn zu erheben. Hegel sieht in Kant und Fichte einseitige Verstandesphilosophen, deren Gedanken allererst in eine Vernunft philosophie zu überführen seien;7 Fichtes Herabsetzung Kants zum Dreiviertel eines Philosophen und die vertikale Halbierung von Fichte und Kant als einseitiger Philosophen verkündet die Absicht, das fehlende Viertel oder die fehlende Hälfte nun selbst hinzuzufügen und so den toten Torso zum Leben zu bringen. Beim schweren Schritt in die Wirklichkeit, den der späte Schelling, Bakunin und Marx und Engels wagen, wird alle Philosophie von Kant bis Hegel zur weltfremden Reflexion erklärt, die die Wirklichkeit nicht erreicht, sondern wegphilosophiert. Kierkegaard klagt, er selbst komme in dieser Philosophie gar nicht vor. Hermann Cohen, der bedeutendste Neukantianer (1842–1918), reißt Kants Philosophie bis auf die Grundmauern nieder, um auf ihnen ein neues Gebäude zu errichten. 1924 stellte Julius Ebbinghaus dagegen programmatisch fest, dass die ganze Bewegung der »über Kant Hinvorspann | 11
ausgehenden [von Fichte bis zum Neukantianismus, sc. von Kant bis zu ihm selbst, RB] fortwährend mit einer großen Unbekannten rechnete, und daß diese Unbekannte niemand anders als Kant selbst sei.«8 Dies ist die immer wahre Losung eines bis in die Gegenwart reichenden Kantianismus, der die Kantforschung inspiriert, aber Gefahr läuft , die Kritik an der »Kritik« für apriori unkritisch zu halten. Die Klärung der historischen und systematischen Sachverhalte, die zu immer neuen Detailforschungen und Querverbindungen führt, hat dann die Wirkung eines Kokons, der die Lehre Kants umgibt und sie mit weiteren Aufsätzen und Büchern immunisiert. Diese Kantforschung geht auf geheimnisvolle Weise vom »is« zum »ought« über und hält die richtige Interpretation für die Interpretation des Richtigen. In der Forschung selbst gibt es zwei Tendenzen. Die eine neigt dazu, die kritischen Schriften für ein in sich kohärentes System zu interpretieren, die andere setzt eher auf ein »work in progress«, das im tantalischen Schmerz des Opus postumum endet. Die erste Position sieht im Aufweis von Inkongruenzen in der Lehre den Mangel des Interpreten, der nicht bis zum eigentlichen Gedanken Kants vorgestoßen ist. Die zweite Position sieht im Fortgebäude der Kantischen Schriften eine Auseinandersetzung mit Fremdkritik, aber auch mit den eigenen publizierten Überlegungen, die kritisch revidiert, ergänzt, verkürzt, modernisiert, jedenfalls geändert werden. Unsere These: Kant läßt sich vom Anfang bis zum Ende nur entwicklungsgeschichtlich interpretieren (anders als vielleicht Platon). Beide Seiten können sich auf den Autor berufen. Einerseits garantiert nach dem Autor selbst das richtige Systemganze die Korrektheit aller Einzelstücke (A 832 ff.; B XLIV u. ö.); andererseits gibt es so offenkundige Revisionen in der Sache, dass auch eine tausendjährige Interpretationsbemühung nicht zu einer Übereinstimmung der Lehrmeinungen gelangen kann. Glücklicherweise ist Kant selbst der erste kritische Interpret, der seine Schriften mit der Frage begleitet: »Was bleibt?« Alles vor 1770 Publizierte wurde von ihm aus einer geplanten Sammlung von Schriften ausgeschlossen (XII 208,1–4). Ein Fehlurteil, so die einhellige Meinung der verschiedenen Richtungen, man denke nur an die noch heute bewunderte Allgemeine Naturgeschichte und Theorie des Himmels (1755). Im Folgenden soll die Auseinandersetzung um die Kantische 12 | vorspann
Philosophie fortgesetzt werden; unser Fragen-Traktat reiht sich also in eine Tradition ein, die mit der Publikation der »Kritiken« beginnt und in die Zukunft weiter gereicht wird. Im Gegensatz zu poetischen Werken wird in philosophischen Abhandlungen (die in Dichtungsform abgefasst sein können) etwas Theoretisches behauptet und begründet, und mit der Begründung wird der Leser aufgefordert, der Argumentation kritisch zu folgen und sie zu akzeptieren oder sie mit Gründen abzulehnen. Eben dies wird im Folgenden bei einigen ausgewählten Lehrstücken versucht und damit nichts anderes getan, als die Rolle zu spielen, die der Autor seinem philosophisch interessierten Leser zuweist. Unsere Auseinandersetzung beschränkt sich im Wesentlichen auf Gesichtspunkte, die auch zu Kants Lebzeiten hätten vorgetragen werden können. Das Unternehmen der Beurteilung im Pro und Contra stellt sich nicht gegen, sondern neben die unüberschaubare Menge höchst qualifizierter Untersuchungen, die die Herkunft und innere Verknüpfung der Lehrmeinungen im Kantischen System klärt, sich jedoch schon aus Gründen der Arbeitsteilung der systematischen Stellungnahme enthält. Das Buch nimmt nicht teil an der Gigantomachie in der gegenwärtigen Strategiedebatte, sondern verwickelt Kant eher mikrologisch in eine Auseinandersetzung um einige seiner Lehren. Der Titel ist angeregt durch die Publikation von Maurizio Ferraris Goodbye Kant. Cosa resta oggi della »Critica della ragion pura« (2004) und die wichtigeren Antworten in der Vortragssammlung von Alfredo Ferrarin Congedarsi da Kant? Interventi sul Goodbye Kant di Ferraris (2006). Markus Schmitz (†) danke ich für die Lektüre einer frühen Fassung des ersten Kapitels des Buches, Ulrike Santozki (Hameln) für Diskussionen verschiedener Probleme; ich verweise hier auf ihr Standardwerk Die Bedeutung antiker Theorien für die Genese und Systematik von Kants Philosophie (2006). Die Wege zur Antike führen jetzt über diese Brücke. Die freundliche Hilfe von Thomas Kloppenburg und Steffen Simon wurde ermöglicht durch eine Sachbeihilfe der DFG, vielen Dank. Vanessa Kayling (Aachen) half bei der Korrektur der vorletzten Fassung. Heiner F. Klemme veranstaltete am 5. Juni 2009 ein Symposium zu einer früheren Fassung des Manuskripts; es referierten Dietmar H. Heidemann, Luxemburg (»Gilt Kants erstes Raumargument auch für vorstelvorspann | 13
lungsfähige Tiere?«); Michael Wolff, Bielefeld (»Bleibt etwas von Brandts Einwänden gegen Kants Raumtheorie?«); Marcus Willaschek, Frankfurt a. M. (»Was bleibt vom kategorischen Imperativ?«); Bernd Ludwig, Göttingen (»Am Ende doch etwas mehr! Eine Antwort auf die Frage, was von Kants Zurechnungslehre bleibt«); Pauline Kleingeld, Leiden (»Das Böse bleibt … unbegreifl ich.«); Heiner F. Klemme, Mainz (»Chancen und Risiken der Kantischen Rechtslehre«). Ich danke allen Kollegen, auch denen, die an der Diskussion teilnahmen, und hoffe, ihren Einwänden gerecht zu werden und mit diesem Experiment eines Frage-Buches der kritischen Kant-Forschung einen Dienst zu erweisen. Eine Kurzfassung des Buchs ist schon in dem Band Kant und die Zukunft der europäischen Aufklärung, hrsg. von Heiner F. Klemme, Berlin 2009, 500–542, publiziert worden. Irrtümer werden hier stillschweigend korrigiert.
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I. Probleme der »Transzendentalen Ästhetik«
Es sollen im Folgenden vier Komplexe erörtert werden. Im ersten Schritt wird die Argumentfolge sowohl in der Raum- wie auch der Zeittheorie bezogen auf die rationale Theologie und ihre Beweisschritte, so wie sie von Kant an anderer Stelle in der KrV vorgestellt werden und offensichtlich 1781 als Vorlage für die Lehre von Raum und Zeit dienen. Im zweiten Teil kehren wir zur Genese der Kantischen Raumspekulation im Jahr 1768 zurück und verfolgen die Opposition von Anschauung und Begriff, die sich aus der LeibnizKritik von 68 ergibt. Drittens wird dann erörtert, wie die geometrische Erkenntnis in der »Transzendentalen Analytik« und wie das Verhältnis von »Ästhetik« und »Logik« konzipiert ist. Abschließend wird gefragt, ob Kants Raum-Zeitlehre überzeugt oder ob sie dasselbe Schicksal erleidet wie die von Kant selbst als unzulässig abgelehnten Gottesbeweise. 1892 beendete Hans Vaihinger den 2. Band seines Kommentars zu Kants »Kritik der reinen Vernunft«, der der »Transzendentalen Ästhetik« gewidmet ist. Die Fülle der schon 1892 von Vaihinger angeführten Publikationen ist so überwältigend, dass es aussichtslos ist, den »status quaestionis« gar im Jahr 2009 erklimmen und darlegen zu wollen. Ich verweise stellvertretend nur auf die grundlegende Studie von Darius Koriako, »Kants Philosophie der Mathematik« (1999) und einen scharfsinnigen Aufsatz von Michael Wolff, »Absolute Selbstähnlichkeit in der euklidischen Geometrie. Zu Kants Erklärung der Möglichkeit der reinen Geometrie als einer synthetischen Erkenntnis a priori«.9 Wolff wendet sich gegen Interpretationen wie u. a. die von Albert Einstein, die den Anspruch der Kantischen Raum-Zeit-Lehre verkennen würden; nur unter Einbeziehung der »Transzendentalen Analytik« lasse sich Kants Lehre beurteilen, und dieses Urteil gebe Kant rundum Recht. Es sollen gegen diese Kant-Bestätigung wiederum einige umstürzende Bedenken angeführt werden.
probleme der »transzendentalen Ästhetik« | 15
1. Die »Transzendentale Ästhetik« und die Gottesbeweise Wir orientieren uns an der A-Auflage der KrV; auf die B-Auflage wird eingegangen, wenn die Änderungen für unsere Überlegungen relevant sind. Die Argumente der Raum-Zeitlehre werden von Kant in fünf Abschnitte geordnet. Unter Ziffer 1 wird gezeigt, dass die Vorstellung von Raum und Zeit den Platzierungen sei es von äußeren Gegenständen, sei es von inneren Zuständen zu Grunde liegen. Äußere und innere Erfahrung werden also nur durch die vorgängige Vorstellung von Raum und Zeit möglich. Ziffer 2 enthält erstens den verallgemeinernden Schluß aus Ziffer 1 und zweitens ein weiterführendes Argument. Erstens gelte dies für alle Lokalisierungen in Raum und Zeit, und damit seien Raum und Zeit notwendige Vorstellungen a priori. Zweitens gelte darüber hinaus, dass man sich keine Vorstellung davon machen könne, dass kein Raum und keine Zeit seien; aus ihrer Vorstellung ließen sich alle Gegenstände und Zustände aufheben, nicht jedoch die genannte, somit für sich notwendige Vorstellung selbst. Ziffer 3 schließt an diese absolute Notwendigkeit an: »Auf diese Notwendigkeit a priori gründet sich die apodiktische Notwendigkeit aller geometrischen Grundsätze […]« und parallel dazu dieselbe Behauptung der »Möglichkeit apodiktischer Grundsätze von den Verhältnissen der Zeit, oder Axiomen von der Zeit überhaupt.« Ziffer 4 schließt eher an 2 als an 3 an. Die Raum- und Zeitvorstellungen seien keine Begriffe, sondern reine Anschauungen bzw. »reine Form der sinnlichen Anschauung«. Alle Räume und Zeiten seien als Teilräume und –zeiten in der reinen Anschauung von Raum und Zeit. Als solche, so schließt Ziffer 5, würden sie als unendliche gegebene Größen vorgestellt. Nun gibt es eine bisher übersehene Parallele des Beweisganges in der Raum- und Zeiterörterung, sie findet sich in der vorkritischen Theologie und ist eingegangen in die KrV. Kant unterscheidet in der »Transzendentalen Dialektik« drei Gottesbeweise. Am Anfang steht der kosmologische Beweis, auf ihn folgt der ontologische, und von ihm aus läßt sich, so die Behauptung der rationalen Theologie, das notwendige Wesen als »omnitudo realitatis« erweisen. Der kosmologische Beweis geht von etwas kontingent Existierendem aus (der Kosmos; das Ich10) und schließt von ihm auf ein notwendiges 16 | kapitel 1
Wesen, das der letzte Grund der kontingenten Existenz ist. Dieser Grund selbst, so der ontologische Beweis, ist nicht nur relativ notwendig, sondern ist absolut notwendig aus seinem eigenen Begriff. Die nähere Bestimmung führt drittens zum Begriff Gottes als der allbefassenden unendlichen Realität, in der alles Seiende bzw. alle Möglichkeit gedacht werden muß. Die formale Anlage der Ziffern 1 bis 4 bzw. 5 der Raum- und Zeiterörterungen folgt den drei Beweisschritten der rationalen Theologie. Es lassen sich drei genaue Korrespondenzen ausmachen: 1. Der Raum bzw. seine Vorstellung liegt allen Verortungen, auch meiner selbst, »zum Grunde«, sie sind nur »durch« ihn möglich;11 dasselbe gilt für die Zeit im Hinblick auf die Relationen des Zugleich und Früher bzw. Später.12 Diese Grund-Folge-Beziehung impliziert die allgemeine Notwendigkeit der Vorstellung des Raumes bzw. der Zeit.13 Dem korrespondiert der kosmologische Beweis: Es gibt ein kontingentes Dasein der Welt oder auch meines Ich; diesem Dasein liegt ein nicht mehr verursachtes Wesen zu Grunde, dem damit eine relative Notwendigkeit zukommt. 2. Die Raum- und Zeitvorstellung ist jeweils für sich notwendig, auch wenn aller Inhalt aus der jeweiligen Vorstellung entfernt wird. »Man kann sich niemals eine Vorstellung davon machen, dass kein Raum sei, ob man sich gleich ganz wohl denken kann, daß keine Gegenstände darin angetroffen werden.« (A 24; analog bei der Zeit A 31) Das Nichtsein von Raum und Zeit ist nicht vorstellbar, sie sind damit absolut notwendige Vorstellungen, deren Notwendigkeit nicht mehr von ihrer Funktion, allen Erscheinungen zu Grunde zu liegen, abhängt. Dem korrespondiert der ontologische Gottesbeweis, der die Notwendigkeit Gottes für sich, also ohne Rekurs auf die Schöpfung, nachweist.14 3. (Ziffer 4) Was sind die für sich inhaltsleeren notwendigen Vorstellungen von Raum und Zeit? Sie sind keine Begriffe, sondern reine Anschauungen oder Formen der Anschauung, in denen qua Anschauungen alle Teile koordiniert, nicht subordiniert sind. Hier tritt an die Stelle des »durch« von Ziffer 1 das »inesse«. Dem korrespondiert, dass sich das notwendige Wesen (ontologischer Beweis) als »omnitudo realitatis« erweist, in der alle beprobleme der »transzendentalen Ästhetik« | 17
sondere Realität bzw. alle Möglichkeit liegt.15 Von Gott als dem All oder Inbegriff der Realität wird gesagt, er sei »nicht bloß ein Begriff, der alle Prädicate ihrem transzendentalen Inhalte nach unter sich, sondern der sie in sich begreift; und die durchgängige Bestimmung eines jeden Dinges beruht auf der Einschränkung dieses All der Realität, […].« (A 577)16 Kant selbst verweist auf die Parallele zum Raum (A 578), die Begriffe »in sich«, »allbefassend«, »Einschränkung« begegnen sowohl beim Raum (s. a. die Zeit) wie auch bei der Erörterung der »omnitudo realitatis«. Nun kommt hinzu, dass Kant die drei Schritte in der »Transzendentalen Ästhetik«, deren theologischen Nebentext wir hier aufdecken, ausdrücklich für die Gottesbeweise festlegt: »Dieses ist nun der natürliche Gang, den jede menschliche Vernunft, selbst die gemeinste, nimmt, obgleich nicht eine jede in demselben aushält. Sie fängt nicht von Begriffen, sondern von der gemeinen Erfahrung an, und legt also etwas Existierendes zum Grunde [vgl. A 23: »auf etwas in einem andern Orte des Raumes, als darinnen ich mich befinde«, RB]. Dieser Boden aber sinkt, wenn er nicht auf dem unbeweglichen Felsen des Absolutnotwendigen ruht [A24: »Man kann sich niemals eine Vorstellung davon machen, dass kein Raum sei«, RB]. Dieser aber schwebt ohne Stütze, wenn noch außer und unter ihm leerer Raum ist, und er nicht selbst alles erfüllt und dadurch keinen Platz zum Warum mehr übrigläßt, d. i. der Realität nach unendlich ist [A 25: der einige allbefassende Raum, RB].« (A 584, dieselben drei Schritte A 586–587) Dies ist »der natürliche Gang« der menschlichen Vernunft. Also: 1. Kosmologischer Beweis, 2. Ontologischer Beweis, 3. Gott als »omnitudo realitatis«.17 Ich denke, es ist nicht möglich, diese Korrespondenzen zu leugnen. Dem Zweifler sei empfohlen, noch einmal folgenden Weg zu gehen: Ziffer 4 stellt die reine Anschauung deklarativ in eine Parallele zur »omnitudo realitatis«, belegbar durch wörtliche Übereinstimmungen. Nun fällt bei einem so reflektierten Autor wie Kant die theologische Korrespondenz nicht einfach vom Himmel, sondern ist – notwendig – eingebettet in einen entsprechenden Zusammenhang; ihn aufzudecken ist Aufgabe des Interpreten. Tatsächlich gibt es sichere Indizien, dass die Ziffern 1 und 2 in einer Parallele zum kosmologischen und ontologischen Beweis konzipiert sind. So tritt die »omnitudo realitatis« nicht in abwegiger 18 | kapitel 1
Isolation auf, sondern gehört in einen Dreischritt, der in Ziffer 1 beginnt. Die Parallelführung ist sicher nicht so zu denken, dass die Argumentation in der »Transzendentalen Ästhetik« entlastet wird und man sie ohne den Subtext nicht versteht. Sie hat sich selbst als schlüssig zu erweisen; aber es ist gegenüber der bisherigen Interpretationsgeschichte eine neue Frage aufgetreten: Welche Rolle spielt die rationale Theologie in der Kantischen Beweisstrategie? Strittig wird wohl jede Interpretation der Doppelbödigkeit der »Transzendentalen Ästhetik« sein. Soll sich der Leser, der den Subtext mitliest, mit den bloß formalen, beweistechnischen Parallelen begnügen? Oder soll er die theologische Ebene so interpretieren, dass die Sinnlichkeit nobilitiert wird und gegen den Skeptizismus das Höchste stiftet, die Notwendigkeit der Grundsätze von Raum und Zeit und das absolut gewisse Anschauungsfeld aller synthetischen Erkenntnisaussagen? Soll sich der Leser an das Scholium der Dissertation erinnern, in dem die metaphysischen Gedankenfiguren der räumlichen »omnipraesentia phaenomenon« und zeitlichen »aeternitas phaenomenon« zu Malebranche und dessen »nos omnia intueri in Deo« führen (II 409,27–410,16)?18 Man wird wohl festhalten dürfen, dass die Sinnlichkeit, speziell die reine Anschauung, durch die unsichtbare Gotteshand geadelt wird und dass sie gegen die platonisierende, allgemein rationalistische Abwertung jetzt dem Verstand auf gleicher Augenhöhe begegnen kann. Aber wie, so fragen wir schon hier, ist gewährleistet, dass zwischen Anschauung und Denken keine Konfl ikte entstehen? Unter welcher Einheit ist die geforderte Harmonie notwendig? Wir können aus dem theologischen Subtext schon ein negatives Argument gewinnen: Es ist bei Kant sicher keine Überlegung dazu intendiert, wie wir psychologisch zu den ausgezeichneten Vorstellungen von Raum und Zeit kommen. Wir bewegen uns in der Begrifflichkeit der puren Metaphysik.19 Ob wir dabei abstürzen, wird zu prüfen sein. Der theoretische Gottesbeweis endet beim kritischen Kant von 1781 in dem Nachweis, dass es sich zwar jeweils um notwendige Gedanken handelt, aber um keine Erkenntnis Gottes als eines wirklich seienden Wesens; eben diese Erkenntnis war jedoch das vorkritische Ziel der Rationaltheologie. Verfällt die »Transzendentale probleme der »transzendentalen Ästhetik« | 19
Ästhetik« Kants, des Allzermalmers, demselben Schicksal wie die vorkritische Theologie? Oder rettet sich das Göttliche in der reinen Raum- und Zeit-Anschauung, deren wir alle teilhaft ig sind? Wenden wir uns noch einmal den drei Argumenten der »Transzendentalen Ästhetik« zu, ermuntert zu deren Kritik durch die Kantische Kritik an den Gottesbeweisen. 1. Die Raum- bzw. Zeitvorstellung liegt den empirischen Verortungen zum Grunde. Denn damit ich diese Verortungen nicht als bloß verschieden (»praeter se«20 wie z. B. Natur und Freiheit oder zwei beliebige Begriffe), sondern als »extra se« und »extra me« oder »post« und »simul« unterscheiden kann, muß ich auf etwas zurückgreifen, was nicht mehr Gegenstand einer empirischen Erfahrung eines bestimmten Sinnes oder mehrerer bestimmter Sinne (Empfindungen) sein kann, nämlich auf die Vorstellung von Raum bzw. Zeit.21 Erst durch diese nicht-empirische, gewissermaßen übersinnliche Vorstellung sind empirische, den verschiedenen Sinnen gegebene Vorstellungen als »extra me« und »extra se« und »simul« oder »post se« (II 398,34) möglich. Würde ich Raum und Zeit aus der bloßen Empirie als deren inhärente Voraussetzung gewinnen wollen, könnte und müsste ich beim Allgemeinsten des Empirischen bleiben, etwa den Raumstellen überhaupt oder auch der cartesischen »extensio«, die bei allen äußeren Erfahrungen angetroffen wird und die bleibt, wenn ich von allen bestimmten Inhalten (z. B. dem Wachs) abstrahiere.22 Kant dagegen: Ich ermögliche das »extra me« durch die allgemeine Raum- und Zeitvorstellung, durch die das empirische Außereinander möglich wird und das nicht deren sinnlich erfaßbarer Teil sein kann. Descartes’ »extensio« oder »res extensa« ist dagegen ein ontologisches und empirisches Grundfaktum in allen einzelnen Dingen, nicht deren Ermöglichungsgrund. Also: Nicht »in«, sondern »per«. Die Kantische Raum- und Zeitvorstellung ist nicht durch die Sinne und ihre einzelnen Empfindungen erwerbbar. Das räumliche und zeitliche Außereinander ist die Bedingung der Möglichkeit empirischer raum-zeitlicher Sinneserfahrungen. Alle Empirie muß sich also eintragen in eine Ordnung, die sie selbst nicht per Empfindung liefert, die also nicht empirisch ist. Die Überlegungen der Ziffer 1 fi nden ihren Abschluß im ersten Satz der Ziffer 2: »Der Raum ist eine notwendige Vorstellung 20 | kapitel 1
a priori, die allen äußeren Anschauungen zum Grunde liegt.« (A 24) Und: »Die Zeit ist eine notwendige Vorstellung, die allen Anschauungen zum Grunde liegt.« (A 31) Die Notwendigkeit bezieht sich auf die Ermöglichung aller empirischen Empfindungen und Erfahrungen: Die Raum- und Zeitvorstellungen liegen ihnen zum Grunde; a priori, weil notwendig nicht empirisch. Damit wird ausgeschlossen, dass irgendwelche innersinnliche Totalitäten, die ihren Teilstücken zu Grunde liegen (etwa die Systeme der Farben), an die Stelle von Raum und Zeit treten; alle Bereiche der sinnlichen äußeren und inneren Erfahrung überhaupt setzen die nicht erfahrbaren Vorstellungen von Raum und Zeit voraus, die damit gegen sie ein Apriori bilden und notwendig sind. Im kosmologischen Parallelgedanken: Allem Kausalgeschehen, allen Dingen und Ereignissen in der Welt liegt eine Ursache zum Grunde, die nicht durch Abstraktion innerweltlich gefunden werden kann, die jedoch die Welt erst ermöglicht. Es ist nachzutragen, dass es nichts gibt, wovon die Vorstellung oder Anschauung Raum und Zeit ihrerseits Vorstellungen oder Anschauungen wären.23 Es gibt keine möglichen Gegenstände, etwa den Raum und die Zeit selbst, auf die sich ihre Vorstellung oder Anschauung beziehen könnte; beides ist identisch. Raum und Zeit sind dem »transzendentalen Subjekt« (hier nicht so genannt) einverleibt und bilden nichts anderes als einheitliche Formen der Disposition eines vorräumlichen, vorzeitlichen Mannigfaltigen, das auf das Subjekt durch Empfi ndungen einwirkt. Die Formen sind für sich leer, jedoch durch gewisse Merkmale identifizierbar. Die reine Anschauung oder Form des Raumes ist dreidimensional, die der Zeit eindimensional; beide sind ins Unendliche teilbar.
Exkurs Wir ergänzen diese Interpretation durch folgenden Gedanken: Kann man die Grund-Folge-Beziehung nicht zur Beziehung einer Wechselwirkung erweitern, so dass Kants Überlegung zugestanden, aber ergänzt wird? Der Grund wäre dann reziprok auch von dem, was er begründet, abhängig. Ohne Gegenstände im Raum und Zustände in der Zeit wären dann der Raum und die Zeit nicht probleme der »transzendentalen Ästhetik« | 21
möglich, das eine wäre jeweils eine Funktion des anderen. Eine reziproke Abhängigkeit wird in der modernen Physik genauer bestimmt.24 Daß sie widerspruchsfrei denkbar ist, bezeugt Kant selbst in seiner Schätzung der lebendigen Kräfte (I 23–25): Wenn die Substanzen anders wären, müsste auch der Raum anders dimensioniert sein, denn er liegt nicht nur unseren Raumverortungen zum Grunde, sondern es ist umgekehrt der Raum eine Funktion seiner Inhalte. Wir beobachteten, hiervon zunächst unabhängig, in Kants Text in Ziffer 1 einen Übergang vom Raum selbst zur Vorstellung vom Raum. Wenn es heißt, gewisse Empfindungen würden bezogen »auf etwas in einem anderen Orte des Raumes, als darinnen ich mich befinde« (A 23), dann kann hier offenbar nicht der Raum durch die Vorstellung vom Raum ersetzt werden, und daß ich mich an einem bestimmten Ort befi nde, ist nicht identisch mit der Vorstellung hiervon etwa in der Erinnerung oder Erwartung oder im Traum, so wenig wie der unmittelbar gefühlte Schmerz mit der Vorstellung vom Schmerz identisch ist. Das indexikalische »Ich-Hier-(Jetzt)« ist mehr, als die Vorstellung von ihm. Kant wählt es als Grundlage der Raumvorstellung, die ihrerseits in ihrer Notwendigkeit die Geometrie als Wissenschaft und damit (zusammen mit der Logik und dem »Ich denke«) alle Welterkenntnis überhaupt ermöglicht. Für das Ich, das sich an einem bestimmten Ort im Raum befindet und das die Überlegung nachvollzieht, dass den Verortungen notwendig ein Raum zum Grunde liegt, ist die Überlegung abwegig, ob nicht der Raum bzw. vorgestellte Raum seinerseits eine Funktion der Dinge und Ereignisse in ihm ist. Anders, wenn über vorstellungsfähige Lebewesen reflektiert wird; die Vorstellung vom Raum ermöglicht ihre Lokalisierungen, aber eine weitere Untersuchung könnte zur Erkenntnis führen, dass der Raum, in dem sie sind und den sie sich vorstellen, seinerseits eine Funktion der Inhalte in ihm ist. Der Raum wäre keine Bühne für die Physik (wie bei Kant), sondern selber Thema der Physik. 2. Das ontologische Argument. »Man kann sich niemals eine Vorstellung davon machen, daß kein Raum sei, ob man sich gleich ganz wohl denken kann, daß keine Gegenstände darin angetroffen werden.« (A 24) und: »Man kann in Ansehung der Erscheinungen 22 | kapitel 1
überhaupt die Zeit selbst nicht aufheben, ob man zwar ganz wohl die Erscheinungen aus der Zeit wegnehmen kann.« (A 30) Der dreidimensionale Raum bzw. die relational bestimmbare Zeit können nicht analytisch mit der Vorstellbarkeit als solcher verbunden und damit notwendig sein, denn es gibt durchaus Vorstellungen nichträumlicher und nicht-zeitlicher Art wie etwa die von Vernunftideen. Stellt man sich jedoch den Raum oder die Zeit vor, kann man sie in dieser Vorstellung nicht ohne Widerspruch aufheben, das ist trivial. Weiter: Wir können uns sowohl anders dimensionierte Räume denken, wie auch Wesen mit anderen Formen der Sinnlichkeit als denen unseres Raumes und unserer Zeit ersinnen, unsere Formen der Anschauung sind also in dieser Hinsicht nicht notwendig, sondern zufällig (I 23–25; B 139, auch XVIII 643,23–24 – Refl. 6323; XX 267,30–33; 272,8–11). Kants These der Unaufhebbarkeit bezieht sich auf den Raum und die Zeit, von denen im vorhergehenden Text gehandelt wurde und innerhalb deren wir empirische Erfahrungen machen: Ich, Hier, Jetzt. Mit der These der Aufhebbarkeit aller Inhalte in der Raum- (und Zeit-)vorstellung, aber nicht dieser selbst stimmt Kant gegen Christian Wolff, der betont: »[…] spatium non datur nisi existentibus simultaneis«, obwohl der Raum etwas von den simultan existierenden Dingen Verschiedenes ist. Dies Letztere habe einige dazu verführt, die Existenz des Weltraumes anzunehmen »sublatis corporibus«25. Kant braucht nicht mehr über den Raum, sondern nur dessen Vorstellung zu entscheiden, aber er ist zögerlich genug, indem er sowohl beim Raum wie auch bei der Zeit ein leicht gehauchtes »ganz wohl« einfügt, man könne es sich »ganz wohl denken« (A 24) und »ganz wohl« die Erscheinungen aus der Zeit wegnehmen (A 31). Unsere Kritik: Das läßt sich wohl denken, vielleicht auch akrobatisch vorstellen, die Frage ist jedoch, ob hiermit ein Erkenntnisgewinn erzielt ist oder ein Irrtum suggeriert wird, der Irrtum nämlich, dass unser Denken und Vorstellen entscheidend ist in der Sache selbst. Wenn es möglich ist, dass Raum und Zeit nicht nur den Gegenständen und Zuständen in ihnen zu Grunde liegen, sondern sie reziprok auch von diesen Inhalten abhängen, dann ist die Lösung der Raum- und Zeitvorstellung von allen Inhalten und die Meinung, ihre bloße inhaltsleere Form sei notwendig, eine irrige Idiosynkrasie. Hier rächt sich dann der nicht explizit reflektierte probleme der »transzendentalen Ästhetik« | 23
Übergang vom Raum, in dem wir mit anderen Gegenständen außer uns sind, zur Vorstellung des Raumes in Ziffer 1, denn jetzt tritt die Möglichkeit auf, dass die notwendige Vorstellbarkeit von Raum und Zeit »sublatis corporibus« für Raum und Zeit selbst nichts besagt, weil wir nicht ausschließen konnten, dass sie ihrerseits eine Funktion ihrer Inhalte sind und also die subjektive, vermeintlich notwendige Vorstellung tatsächlich leer ist und in die Irre führt. Die Aufhebung aller Inhalte aus der Raum- bzw. Zeitvorstellung bei gleichzeitig erhaltener, sogar notwendiger Vorstellbarkeit besagt, so schließen wir, dass in dieser isolierbaren Residualvorstellung nur noch die unverwechselbare Form als solche vorgestellt wird. In der Grundlegung zur Metaphysik der Sitten streicht Kant analog alle besonderen Inhalte aus dem Pflichtbegriff und behält nur die Form des Gesetzes (IV 400 u. ö.). Wie läßt sich, so die Frage in der Moralphilosophie, die objektive praktische Realität dieser inhaltsleeren, bloß formalen Vorstellung zeigen? Die KpV antwortet: Sie zeigt sich als Faktum des Bewusstseins oder der Vernunft (V 31,24 u. ö.). Wie steht es analog mit der theoretischen Realität der reinen, weil inhaltsleeren und also nur formalen Raum- und Zeitvorstellung? Wir merken hier an, dass die Raumvorstellung von Ziffer 1 sich auf den dreidimensionalen und keinen anderen Raum bezog. Diese Eigentümlichkeit der Dreidimensionalität muß die inhaltsleere notwendige Raumvorstellung beibehalten, denn sonst würde sie die Ausgangsbedingungen ändern. Die Dimension ist kein Inhalt, sondern gehört zur unveränderlichen Form, auch bei der Zeit. Ziffer 4 hat als Subtext die »omnitudo realitatis« des durchgängigen In-Seins aller Teile der homogenen reinen Raum- und Zeitanschauung. Die Reinheit ist gewonnen auf der Grundlage der notwendigen Vorstellbarkeit von Raum und Zeit ohne Inhalte, also rein für sich. Man sieht, wie wichtig die Zwischenstufe von Ziffer 2 mit der notwendigen Raumvorstellung »sublatis corporibus« ist. Was ist diese Vorstellung? Kein Begriff, sondern Anschauung. Kein Begriff, denn viele Räume sind immer nur koordinierte Teile eines und desselben alleinigen (dreidimensionalen) Raumes, während Begriffe einander subordiniert sind. Es gibt, wie sich schon in Ziffer 1 zeigte, nach Kant keinen subjektexternen Raum, auf den wir uns als Objekt mit unserer rei24 | kapitel I
nen Anschauung oder Form der Anschauung beziehen. Seit der stillschweigenden Änderung des Raumes in eine Raumvorstellung ist jede Möglichkeit der Referenz abgeschnitten, somit ist die Anschauung identisch mit dem Raum bzw. der Zeit selbst. Wir wissen hiermit schon: Alle formalen Bestimmungen der reinen Raum- und Zeitanschauung gelten nicht nur für diese reinen Anschauungen selbst, sondern auch automatisch für die inhaltlich erfüllte, empirische Welt und ihre Vorstellung, von der wir in Ziffer 1 unseren Ausgang nahmen. Die reine Anschauung ist entsprechend keine platonische Idee, an der die empirische Welt oder Anschauung nur mühsam partizipiert, sondern sie ist deren identische Form, einmal ohne, dann mit Inhalten.26 Aber gibt es überhaupt die reine Anschauung oder Form der Anschauung von Raum und Zeit? Gibt es Gott als erkennbare »omnitudo realitatis«? Kant verneint die letzte Frage und gesteht dieser »omnitudo« zwar die Denknotwendigkeit, aber nicht das Dasein zu. Und bei der allbefassenden reinen Anschauung? Geschichtlich ist sie eine völlige Innovation, niemand hat sie bislang entdeckt, obwohl sie jedem so nahe ist. Gibt es sie? Erstens: Sie ergab sich schlüssig aus Ziffer 1 und Ziffer 2; sie ist nichts anderes als die notwendige Spezifi kation der notwendigen inhaltsleeren Vorstellung mit der Alternative von Begriff oder Anschauung. Wer also der Ausgangsüberlegung in Ziffer 1 zustimmt, muß akzeptieren, dass Raum und Zeit als solche nichts anderes sind als reinen Anschauungen. Zweitens: Sie muß aktualisierbar sein, wir müssen sie ausüben können, andernfalls wird die Kantische Konstruktion chimärisch.27 Aber wie können wir uns dieser Anschauung vergewissern? Können wir die Geometrie und die Zeitaxiome aus Ziffer 3 als selbstgewisse »rationes cognoscendi« bemühen? Oder bewegen wir uns damit in einem Zirkel? So steht man einigermaßen verloren da. Bei der theologischen »omnitudo realitatis« werden die Attribute des In-seins und der Bestimmung aller Teile durch Einschränkung begrifflich erkannt. Wie vollzieht sich die analoge Erkenntnis bei der reinen, begrifflosen Anschauung? »Anschauungen ohne Begriffe sind blind« (A 51); wie kann ich diese Blindheit überwinden, wenn doch den Begriffen der Zugang versperrt ist? Wie bewahre ich mich vor Einbildungen, die mir Eigenschaften vorspiegeln, die der notwendigen reinen begrifflosen Anschauung nicht wirklich probleme der »transzendentalen Ästhetik« | 25
zukommen? Ist das reine Hinschauen Ausweis seiner selbst wie bei Malebranche die Gottesschau? Halten wir kurz ein, um über den methodologischen Status Klarheit zu gewinnen. Der Titel weist die Kantischen Reflexionen zur Raum und Zeit gleich doppelt als »transzendental« aus; in beiden Auflagen steht: »Der transzendentalen Elementarlehre / Erster Teil / Die transzendentale Ästhetik« (A 19, B 33). Betrachtet man die Ausführungen zur »Transzendentalen Logik« (A 50, B 74), so fällt jedoch sogleich auf, dass sie über die Titel hinaus durchsetzt sind in jedem einzelnen Schritt vom Vokabular des Transzendentalen, sei es im Gegensatz zum Reinen (der Logik) oder auch des Empirischen. Es gibt »transzendentale Urteile« und »transzendentale Begriffe«. Im Beweisbereich der Ziffern 1 bis 4 bzw. 5 der RaumZeit-Erörterung begegnet dagegen kein einziges Mal die Erinnerung, dass wir es doch ja nicht mit empirischen oder reinen, sondern transzendentalen Dingen oder Begriffen zu tun haben. Wenn von der notwendigen, reinen Anschauung von Raum und Zeit die Rede ist, dann nicht mit dem Warnschild »Nur transzendental!« Eine transzendentale Anschauung gibt es hier nicht; Kant scheint nie die Formulierung eines transzendentalen Raumes oder einer transzendentalen Zeit zu benutzen. Man kann also, wenn nach der Verifi zierbarkeit der einzelnen Schritte gefragt wird, nicht ausweichen mit dem Hinweis auf die Transzendentalität wie etwa bei der Nachfrage, wie denn das transzendentale »Ich denke« real vollzogen werde. Es wird auch kein Raum-Zeit-Rechtstitel erworben, der sich sowohl der empirischen wie auch der rein logischen Fixierung entzieht. Wir werden also die argumentative Folge von 1 bis 4 oder 5 so betrachten und beurteilen, wie sie sich intern von einer empirischen Situation ausgehend vollziehen. Es ist sicher kein Prozeß der zunehmenden Abstraktion28, auch keine Reflexion über die transzendentalen Bedingungen der Möglichkeit der Erfahrung, sondern ein besonderer Modus, dessen sich Kant hier bedient. Wir halten noch einmal fest, dass aus dem entwickelten Gedankengang notwendig folgt, dass der Raum der reinen Anschauung unendlich teilbar ist und dass er dreidimensional ist; inkongruente Gegenstücke müssen Gegenstände der reinen Anschauung sein können (s. auch IV 284,20–285,1). Wer die reine Anschauung hiervon dispensiert, löst sie willkürlich von ihrer Genese in Ziffer 1 und kann 26 | kapitel I
dann ohne die Zustimmung des Autors mit beliebigen Raumsorten und Geometrien hantieren. Wer die reine Anschauung aus dem Beweiskontext löst, kann den kapitalen Fehler begehen, die Dreidimensionalität des Raumes und die unendliche Teilbarkeit einfach zu streichen und die reine Anschauung als bloßes Substrat oder Material für die Geometriebestimmungen der »Analytik« zur Verfügung zu stellen (mit der ad-hoc-Erfi ndung einer »formalen Anschauung«). Alle schrecken vor dem simplen Befund zurück, dass der Punkt der reinen Anschauung eine ins Unendliche teilbare Kugel sein müsste, d. h. dass es ihn nicht gibt. Wer die »Transzendentale Ästhetik« verteidigen will, hat folgende Frage zu beantworten: Raum und Zeit wurden in Ziffer 1 als jeweils nicht-empirischer »übersinnlicher« Grund unserer räumlich und zeitlich strukturierten Empfindungen und Erfahrungen ausgemacht; so konnten ihre Vorstellungen den Status der Notwendigkeit und Apriorizität gewinnen. Als reine Anschauungen wurden sie jedoch in der Weise charakterisiert, dass alle Teilräume und Teilzeiten in den jeweils allbefassenden einigen reinen Anschauungen gedacht werden müssen. Dort das »durch«-Sein, hier das »In«-Sein. Aber steht nicht beides in einem Gegensatz zueinander? Dort Raum und Zeit als nicht-empirische Vorstellungen, für die es keinen zuständigen Sinn geben kann: Wir können die reine Form weder sehen noch hören etc. Als Grund aller Empirie sind sie der Empirie entzogen und können aus ihr nicht per Abstraktion gewonnen, sondern nur als Grund erschlossen werden; auf der anderen Seite ist jeder Teil des Raumes und der Zeit in der reinen Anschauung durch Einschränkung gebbar. In der theologischen Folie: Dort eine deistische, hier eine spinozistische Vorstellung, dort Gott außerhalb der Sinnenwelt, hier Gott in ihr. Ist der Konflikt lösbar?
Die Geometrie in Ziffer 3 und 4 Auf die in Ziffer 2 dargelegte Notwendigkeit der von allen Inhalten entblößten Vorstellung des Raumes bezieht sich die Ziffer 3 (in A): »Auf diese Notwendigkeit a priori gründet sich die apodiktische Notwendigkeit aller geometrischen Grundsätze […]«. Es sollen probleme der »transzendentalen Ästhetik« | 27
die »apodiktische Gewißheit« von geometrischen Sätzen und die »Möglichkeit ihrer Konstruktionen a priori« (A 24) auf der zuletzt genannten Notwendigkeit beruhen. Zur Begründung wird nur apagogisch gesagt, dass empirische Wahrnehmungen nicht zur Notwendigkeit geometrischer Sätze führen könnten. Also könne es nur die Notwendigkeit von Ziffer 2 sein. Es handelt sich um die inhaltsleere notwendige Vorstellung, nicht die inhaltsbezogene im Rückgriff auf Ziffer 1 (ontologisch, nicht kosmologisch). Alle Schritte kehren in der parallelen Zeiterörterung wieder. Das ist wichtig, da das wiederkehrende »gründet sich« (A 24 und A 31) davor warnt, die Notwendigkeit der geometrischen Grundsätze eigentlich erst in der Verstandestätigkeit der »Transzendentalen Analytik« suchen zu wollen. Dann würde das Pendant für die Zeit fehlen, deren Grundsätze nicht noch einmal vom Verstand thematisiert werden. Da Kant nun tatsächlich in der »Analytik« den Anspruch erhebt, alle Notwendigkeit der Geometrie im Verstand zu begründen, ergibt sich ein Riß in der Konzeption. Schon Darius Koriako hat klar gesehen, dass sich hier ein »fundamentales Problem der kantischen Raum- und Mathematiktheorie offenbart. Denn die Rede von der ›Notwendigkeit‹ des Raumes ist doppelsinnig: sie kann einerseits darauf bezogen werden, daß wir den Raum nicht hinwegdenken können […]. Und zum andern kann damit die Notwendigkeit der geometrischen Prinzipien gemeint sein.«29 Beide Formen der Notwendigkeit hätten nichts miteinander zu tun; in der Kantischen Theorie müssten sie jedoch identisch sein. Vereint ein Gott die Notwendigkeit der »extensio« mit der der »cogitatio«? Am Ende von Ziffer 4 (in A): »So werden auch alle geometrischen Grundsätze […] aus der Anschauung und zwar a priori mit apodiktischer Gewißheit abgeleitet.« (A 25; für die Zeit A 32) Die reine Anschauung ist die Appellationsinstanz, die hier angerufen wird, sie muß aktiviert werden, um die apodiktische Gewissheit und Wahrheit zu vergegenwärtigen. An die Stelle der begrifflichen, mittelbaren Notwendigkeit der Rationalisten tritt die unmittelbare Notwendigkeit, die aus der notwendigen Raumvorstellung bzw. der reinen Anschauung abrufbar ist. Wir halten fest, dass das Ableitungsverfahren hier der synthetischen Methode folgt und Kant nicht analytisch beweist, d. h. er setzt nicht die Notwendigkeit und reine Anschaulichkeit der Geometrie als von jedermann 28 | kapitel I
zugestanden voraus und schließt dann auf die Notwendigkeit der Raumvorstellung und ihren Charakter als reine Anschauung als die einzig mögliche Vorbedingung der Geometrie (analog in der Zeit). In dem hier befolgten synthetischen, auch in der Transzendentalphilosophie einzig erlaubten Verfahren müssen wir uns also der Thesen von Ziffer 2 und 4 unabhängig von ihren Folgen (der Geometrie) vergewissern können. Dasselbe gilt für die Zeit. Wenn dies nicht der Fall ist, dann wird man annehmen müssen, dass die Raumerörterung zirkulär ist; sie würde, um der Notwendigkeit der Geometrie eine Anschauungs- statt Begriffsgrundlage zu geben, eine Notwendigkeit der Raumanschauung voraussetzen, diese aber »insgeheim« (IV 443,9) doch aus der Geometrie entnehmen. Dasselbe müsste mutatis mutandis für die Zeit gelten. Die geometrischen Grundsätze sollen mit apodiktischer Gewissheit aus der Anschauung »abgeleitet« werden. Wie das geschehen soll, wird nicht gesagt. Vermutlich denkt Kant an die »Transzendentale Analytik«, in der eine Geometrie-Herleitung unter der Direktive des Verstandes entwickelt wird. Wir melden hier ein Bedenken an, das sich refrainhaft durch die folgenden Ausführungen ziehen wird. Der Raum, mit dem wir uns seit Ziffer 1 befassen, sei kein Begriff, »sondern eine reine Anschauung« (A 23–25). »Der Raum« – welcher Raum? Der Raum, von dem seit Ziffer 1 gehandelt wird, auf den man nicht zeigen kann und den jeder trotzdem kennt. Qua reine Anschauung bleibt er natürlich dreidimensional und ins Unendliche teilbar, was sollte sonst der Raum der reinen Anschauung sein? Ein qualitätsloses Substrat? Nein. Das bedeutet, dass alles im Raum der reinen Anschauung seine Qualität, dreidimensional und teilbar zu sein, teilen muß. Aber kann die Geometrie das überleben? Gibt es einen Punkt in diesem Raum? Eine Linie? Man wird vermuten, dass die Geometrie und Zeitwissenschaft in dem scharf kalkulierten Text nicht überflüssig oder nur illustrativ sind, weder in der 1. noch in der 2. Auflage. Wenn man unterstellt, dass die Ziffer 1 die These der logischen Präzedenz des umfassenden Raumes bzw. seiner Vorstellung vor der empirischen Topologie besagt und dass die Ziffer 2 die Notwendigkeit von Ziffer 3 begründen soll, dann ist man allerdings geneigt, den Beweis umzukehren. Die erste unangefochtene Prämisse lautet dann: Die Geometrie ist eine Wissenschaft mit Notwendigkeitscharakprobleme der »transzendentalen Ästhetik« | 29
ter apriori; nun kann zweitens diese zugestandene Notwendigkeit nicht analytisch auf Begriffen beruhen, sie muß also der subjektiven Anschauung entstammen; damit aber muß dieser Raumanschauung oder –vorstellung selbst Notwendigkeit zukommen. Dies wiederum ist nur möglich, wenn die Beziehung unserer Raumvorstellung zum vorgestellten Raum irrtumsimmun ist, was wiederum (nur) dann der Fall ist, wenn beides identisch ist. Wenn diese Analyse stimmt, ist die Geometrie für die »Transzendentale Ästhetik« lebenswichtig, weil die behauptete Notwendigkeit und ihre NichtBegriffl ichkeit aus ihr stammen. Genau diese hier experimentell geprobte apagogische Darstellungsfolge bringt Kant selbst im Anschluß an die Aussage, die transzendentale Ästhetik erwerbe »nicht bloß als scheinbare Hypothese einige Gunst«, sondern sei so gewiß und ungezweifelt, »als jemals von einer Theorie gefordert werden kann, die zum Organon dienen soll.« (A 46) Die Gegenposition sei die Vorstellung, »Raum und Zeit seien an sich selbst objektiv und Bedingungen der Möglichkeit der Dinge an sich selbst« (A 46). Grundlage des Abweises ist die Prämisse der Notwendigkeit der Sätze der Geometrie. »Da die Sätze der Geometrie synthetisch a priori und mit apodiktischer Gewißheit erkannt werden, so frage ich: woher nehmt ihr dergleichen Sätze, und worauf stützt sich unser Verstand, um zu dergleichen schlechthin notwendigen und allgemeingültigen Wahrheiten zu gelangen?« (A 46–47) Die Antwort: Die Bedingung der Möglichkeit der Geometrie ist der Raum als subjektive reine Form der Anschauung (A 48–49). Die subjektive reine Raumanschauung ist die »ratio essendi« der euklidischen Geometrie, und diese ist in Wahrheit die »ratio cognoscendi« des reinen Anschauungsraumes, so wie das Moralgesetz das Gesetz der Freiheit als seiner »ratio essendi« ist. Dieselbe Beweisform findet sich in der verlagerten Geometrie-Darstellung der »Transzendentalen Erörterung des Begriffs vom Raume« (B 40–41), und sie findet sich programmgemäß in den Prolegomena sowohl beim Raum wie auch der Zeit (IV 281,9–17; 283,9–31). So mag immer eine unsichtbare Hand die reine Anschauung von Raum und Zeit nobilitieren, die robustere Grundlage liefern die notwendigen, synthetischen Sätze der Raum- und Zeitwissenschaften. Wie sollte auch der gesonderte Nachweis der Ziffern 2 und 4 für die Notwendigkeit der leeren Raum- und Zeitvorstellung und 30 | kapitel I
den Charakter der reinen Form der Anschauung aussehen? Wir sahen schon: Der bloße notwendige Gedanke reicht für das wirkliche Vorhandensein nicht aus, wie wir aus der Kritik der Gottesbeweise wissen. Der Nachweis des wirklichen Vorliegens dieser Vorstellung und Anschauung im Menschen ohne Rekurs auf die Geometrie führt in die Abwege der empirischen Psychologie, man weiß nicht, wie man es anfangen soll, die reine Vorstellung oder Form der Anschauung in sich als gegeben zu evozieren. So bleibt offenbar nur der Zirkel übrig. Die unbezweifelbare Geometrie bzw. die Axiome der Zeit führen auf ihre Voraussetzung, die notwendige apriorische Form der jeweiligen Anschauung, und diese ist wiederum der Beweisgrund der Unbezweifelbarkeit der Geometrie und Zeiterkenntnis. Läßt man der reinen Anschauung des Raumes ihre Eigenständigkeit, wie dies z. B. bei den inkongruenten Gegenstücken nach Kant notwendig ist (dazu später Näheres), dann ist der geometrische Punkt unweigerlich entweder jeder Anschauung und Verortung entzogen oder aber eine ins Unendliche teilbare Kugel, wie sehr man sich auch sträubt und windet. Es heißt, der Punkt sei die Grenze der Linie;30 dann möchte die reine Anschauung gern wissen, wo denn die Grenze genau verläuft, und jede Grenzbesichtigung führt zu einer unendlichen Teilung der grobschlächtigen ersten Ortsangabe. Raubt man der reinen Anschauung aber dieses Eigenrecht, dann können wir gleich zu Platon und Euklid zurückkehren und auf die reine Anschauung verzichten. Dies ist nur eine der vielen prekären Beziehungen von reiner Anschauung und euklidischer Geometrie. Bevor wir ihnen weiter nachgehen, soll kurz eingehalten werden, um der Beziehung von göttlicher »omnitudo realitatis«, reiner Anschauung und der in ihr offiziell begründeten Geometrie nachzugehen. Die KrV beginnt mit der »Transzendentalen Ästhetik« und geht dann über zur »Transzendentalen Logik«, also zur diskursiven nach der intuitiven Erkenntnis. Gott erkennt alles intuitiv, er hält sich nicht auf in den diskursiven Bedenklichkeiten. Die intuitive sowohl göttliche wie menschliche Erkenntnis ist irrtumsfrei; daher wird über mathematische Probleme nicht gestritten – jedermann kann den ersten Sätzen und den vor Augen liegenden Demonstrationen folgen und kommt zu demselben Ergebnis. Nach Kant. probleme der »transzendentalen Ästhetik« | 31
Es ist der Triumph der Sinnlichkeit über ihre Verächter, die Rationalisten, die sie in der Hierarchie der Erkenntnisse in der Niederung des Dunklen und Konfusen (gegen das »clare et distincte«) zu halten versuchten. Tatsächlich ist die Sinnesevidenz (mit John Locke) eine erhabene Erkenntnis mit der ihr eigentümlichen Würde (»Diese reine und eben darum erhabene Wissenschaft scheint sich etwas von ihrer Würde zu vergeben […]«, XX 198,22– 23), niemand könnte dies von der Logik behaupten. Sind nicht die Figuren der Geometrie ein Gegenstand höchster Bewunderung? Die Zweckmäßigkeit der Figuren »drückt die Angemessenheit der Figur zur Erzeugung vieler abgezweckten Gestalten aus«, heißt es in der »Kritik der teleologischen Urteilskraft« (V 362,11–12), und hiermit wird ein Motiv der Teleologie aus dem Einzig möglichen Beweisgrund von 1763 aufgenommen. »Die Einheit in dem Mannigfaltigen der Wesen der Dinge gewiesen an den Eigenschaften des Raumes« lautet der Titel der Geometrie-Teleologie (II 93,9–10). Der Meßkünstler entdecke die notwendigen Bestimmungen des Raumes und ihre Ordnung, Harmonie und Einheit. »Ich will z. E., daß ein Raum durch die Bewegung einer geraden Linie um einen festen Punkt umgrenzt werde. Ich begreife gar leicht, daß ich dadurch einen Kreis habe […].« (II 93,20–22) Unter einer »so einfältigen Construction« (II 94,1) verbergen sich ungeahnte Zusammenhänge des Mannigfaltigen des Raumes; alles wird leicht begriffen, ist schlicht und einfach, setzt den Betrachter in Rührung und Bewunderung. Alles ist notwendig – aber ist »diese Harmonie darum weniger befremdlich, weil sie nothwendig ist? Ich halte dafür, sie sei es darum nur desto mehr. Und weil dasjenige Viele, davon jedes seine besondere und unabhängige Nothwendigkeit hätte, nimmermehr Ordnung, Wohlgereimtheit und Einheit in den gegenseitigen Beziehungen haben könnte, wird man dadurch nicht eben sowohl, wie durch die Harmonie in den zufälligen Anstalten der Natur auf die Vermuthung eines obersten Grundes selbst der Wesen der Dinge geführt, da die Einheit des Grundes auch Einheit in dem Umfange aller Folgen veranlaßt?« (II 95,34–96,5)31 Als Kant 1769 zu seinem kritischen Durchbruch gelangte und also zur Theorie der Subjektivität von Raum und Zeit, ging ihm, wie er später notierte, ein Licht auf: »Das Jahr 69 gab mir großes Licht.« (XVIII 69,21–22) Und zur »kopernikanischen Revolution« 32 | kapitel I
der Wissenschaften heißt es in der Vorrede zur 2. Auflage der KrV: »Dem ersten, der den gleichschenkligen [korrigiert aus gleichseitigen, RB] Triangel demonstrierte […] ging ein Licht auf; […].« (B XI) Aus der Finsternis des Herumtappens wird hier die reine Anschauung als Erkenntnisquell entdeckt. Während für die cartesische Tradition und noch Leibniz und Wolff die Sinnlichkeit, wie gesagt, dunkel und konfus ist, entdeckt Kant in ihr den höchsten, durch keinen diskursiven Verstand überbietbaren reinen Erkenntnisquell, der gegen alle skeptische Einrede gefeit ist. Die theologische Unterlegung der »Transzendentalen Ästhetik« dient in dieser Argumentationslinie der Wegscheuchung aller Skepsis; nicht erst und nicht allein das »Ich denke« ist zweifelsimmun, sondern auch die reine Anschauung von Raum und Zeit und natürlich das Moralgesetz des Willens. Wenn die KrV mit der »Transzendentalen Ästhetik« und diese wiederum mit der Raum- und Geometrie-Lehre beginnt, so geschieht dies einmal in der platonischen Tradition des »ageometretos medeis eisito«32, aber auch (gegen Platon) in der Voranstellung der höchsten menschlichen Erkenntnis überhaupt. Sie bietet uns das Allgemeine in concreto unmittelbar dar, alle anderen Erkenntnisse sind begriffl ich vermittelt und geben Anlaß zu Fehlschlüssen – die Geometrie ist in ihrer edlen Einfalt und stillen Größen gegen Fehler immun. Kant meint zweifellos, Euklid im Rahmen seiner neuen philosophischen (metaphysischen)33 Raumtheorie rekonstruieren und (transzendental)34 legitimieren zu können. Euklid geht jedoch beim Aufbau seiner Lehre so vor, dass er mit dem Punkt beginnt und dann zur Linie, Fläche und zur Stereometrie fortschreitet; der Punkt, die Linie und die Fläche sind als solche nicht im Raum und setzen den Raum oder dessen Vorstellung nicht voraus, sondern setzen nur einander in der genannten Reihenfolge voraus. »Ein Punkt ist, was keine Teile hat«;35 so beginnen Euklids Elemente; damit ist ausgeschlossen, dass er als solcher im Raum ist. Die Notwendigkeit, die die Geometrie beansprucht, liegt nicht in der Anschauung, die nur unter Beeinträchtigung die begrifflichen Vorgaben nachzeichnen kann. Die Anschauung hat bei Euklid keinen anderen epistemischen Rang als die handwerklichen Mittel der Konstruktion, Zirkel und Lineal.36 Kant dagegen stellt der probleme der »transzendentalen Ästhetik« | 33
Geometrie (und Zeitwissenschaft) eine »reine Anschauung« zur Verfügung, auf die sie sich beziehen kann und muß, und er spricht von Konstruktionen in dieser Anschauung, die also die gleiche epistemische Dignität haben, so schon A 24: »[…] und die Möglichkeit ihrer Konstruktionen a priori«. Die Präzedenz des Raumes vor den geometrischen »Elementen« des Punktes, der Linie und der Fläche ist notwendig, wenn diese Elemente aus ursprünglichen Anschauungen oder Konstruktionshandlungen entspringen sollen, denn um einen Punkt als solchen zu haben oder als Grenze einer Linie zu setzen, bedarf ich schon der Linie, zum Ziehen der Linie wiederum einer Fläche und zur Erzeugung der Fläche benötigt man das vorgängige dreidimensionale Gebilde und den Raum;37 es muß das Komplexere immer schon in der reinen Anschauung geben, um seine Elemente konstruieren zu können, denn eine geometrische (nicht physikalische!) Linie setzt Punkte voraus, die Fläche die Linie und die dreidimensionale Figur die Fläche. Sowohl der Intuitionismus wie auch der Konstruktivismus stellen den ursprünglichen Euklid auf den Kopf und müssen die Teile aus dem Ganzen gewinnen, das diese jedoch, um möglich und erkennbar zu sein, voraussetzt. Der Bruch zwischen Euklidischer und Kantischer Geometrie der »Transzendentalen Ästhetik« läßt sich gut an der Leibniz-Kritik von 1768 festmachen. Leibniz bezeichnet den abstrakten Raum der Analysis situs in den Metaphysischen Anfangsgründen der Mathematik als den »Ort aller Örter«, eine rein begriffl iche topologische Mannigfaltigkeit. »Dabei handelt es sich natürlich nicht um den Weltraum, d. h. den physikalischen Raum der Kosmologie. Kant dagegen hat nicht eine beliebige topologische Mannigfaltigkeit, sondern den dreidimensionalen Raum der euklidischen Geometrie vor Augen, wie man ihn im realen Gebrauch für die Newtonsche Physik benötigt«, schreibt Brigitte Falkenburg.38 Wir kommentieren: Völlig richtig, nur ist die euklidische Geometrie nicht die des realen Gebrauchs für die Newtonsche Physik, kann aber approximativ für sie gebraucht werden. Wir hadern hier und im Folgenden besonders mit dem Punkt als einem Gegenstand der reinen Anschauung. Der Punkt entstammt der euklidischen Geometrie, die Kant (mit Vorgängern) zu einer Wissenschaft des Raumes erhebt. Damit wird der Raum qua reine, 34 | kapitel I
inhaltsleere Anschauung selbst zum Gegenstand der Erkenntnis. In der ursprünglichen Geometrie gibt es keine reine Anschauung, und die groben Mittel von Zirkel und Lineal können ohne Prätention der Exaktheit der Konstruktion und Darstellung dienen. Bei Euklid bedeutet der sichtbare »Punkt« der Zirkelspitze den geometrischen Punkt, bei Kant ist der Punkt bei der Konstruktion in der reinen Anschauung der geometrische Punkt selbst. Die bloße Bedeutung genügt auch z. B. bei der Visualisierung von algebraischen Gleichungen, in denen ein Schnittpunkt von Koordinaten angenommen wird; der sichtbare Schnittpunkt der Koordinaten x und y soll als Punkt fungieren, er bedeutet ein Etwas ohne Teile, aber er ist es nicht. Hier geht es nicht um die Erkenntnis des Raumes, sondern um die Möglichkeit, abstrakte Gleichungen optisch darzustellen. Der Raum oder die Anschauung sind dabei nur Mittel der Verdeutlichung und Darstellung von nicht-räumlichen Beziehungen. Sowohl in der Darstellung algebraischer Gleichungen wie auch in der Darstellung euklidischer Figuren ist das anschauliche Erzeugnis nicht die Gleichung oder Figur selbst, sondern bedeutet sie. In der Kantischen Rekonstruktion der euklidischen Geometrie werden die reine und 1787 die formale Anschauung so eingeführt, dass sie den Schritt von der bloßen Bedeutung zum gegenständlichen Sein leisten. Die Frage ist: Gelingt die Umrüstung der Geometrie zu einer derartigen Erkenntnis? Ist die Anschauung geeignet, die Objekte der Geometrie als solche zu realisieren? Daß Kant sie zu diesem Zweck einführt, kann nicht gut bezweifelt werden – was soll sie sonst? Kant könnte die »Transzendentale Ästhetik« streichen und auf Euklid verweisen, wenn die reine Anschauung nicht eine essentielle Funktion für die Geometriebegründung hat. Und eine Anschlußfrage: Wir fanden im Text der »Transzendentalen Ästhetik« ein theologisches Substrat, denn die drei Stufen des Beweisganges sind in den Stufen der Gottesbeweise der natürlichen Theologie vorgeprägt. Es scheint so, dass wir wieder auf eine theologische Spur stoßen, denn jetzt wird der formale Anschauungsraum als an sich geometrisch erkannt. Aller materialen Sinnlichkeit entkleidet, ist das in seiner reinen Form konstruierte und anschaubar gewordene Dreieck ohne Einbuße es selbst. Perfekter wäre es auch einem göttlichen Geometer nicht erzeugbar. Daher probleme der »transzendentalen Ästhetik« | 35
der großzügige Umgang mit dem Wertprädikat des Reinen. Philosophiegeschichtlich stoßen wir damit auf ein stoisch-christliches Lehrstück, gemäß dem der Raum göttlicher Natur ist: »Denn in ihm leben, weben und sind wir«39. Aber der Raum ist in uns, und: »Deus est in nobis«40.
Ein Einwand In der Schätzung der lebendigen Kräfte (1747) ist der Weltraum eine Funktion der Substanzen und ihrer Kräfte; er könnte in einer der vielen möglichen Welten mit anderen Arten von Substanzen auch andere Dimensionen haben (I 22–25). Wir können uns nur einen dreidimensionalen Raum vorstellen, aber das mag an der Bindung unserer Vorstellungsmöglichkeiten an unsere materielle Welt liegen (I 23,24–33; 24,33–25,2). »Eine Wissenschaft von allen diesen möglichen Raumesarten wäre unfehlbar die höchste Geometrie, die ein endlicher Verstand unternehmen könnte.« (I 24,31–33) Hier treibt also noch der Verstand die Wissenschaft vieler Geometrien; in seiner späteren Entwicklung wird die Geometrie, die nicht ein leeres Spiel sein will, an unsere subjektive Anschauungsform gebunden. Mit der Aufgabe einer metaphysischen Unterstellung vieler möglicher Welten um 1762 wird auch die ernsthafte Reflexion anders dimensionierter Räume in Geometrie und Physik fallen gelassen. Es wird sinnlos, von anders strukturierten Raumsorten und Geometrien zu reden. Die nachkantische Entwicklung sowohl der Mathematik wie auch der Physik hat zu den von Leibniz beeinflussten frühen Überlegungen zurückgeführt und damit den Boden der subjektiven kritischen Philosophie verlassen. Otfried Höffe skizziert in seinem Kommentar der KrV eine Rehabilitation der Kantischen kritischen Raumauffassung. Als Teil der Transzendentalphilosophie liege sie in einer Metaebene gegenüber konkreten Geometrien; sie binde den Raum auch in den ersten Ziffern nicht an die euklidische Geometrie, sondern entwickle eine offene Theorie der Räumlichkeit, die nun für Kant tatsächlich, biographisch zufällig, nur durch Euklid realisiert werde.41 Also: Die »Transzendentale Ästhetik« biete keine Theorie des durch Euklid fi xierten Raums, sondern eine Theorie der Räumlichkeit, 36 | kapitel I
die von unterschiedlichen Geometrien konkretisiert werden könne.42 Diese Überlegungen sind als Kant-Interpretation nicht haltbar. Der Appell an den transzendentalen Charakter befreit uns nicht von den konkreten Ausführungen zu Raum und Zeit, es müsste allenfalls umgekehrt sein, so wie es in der Logik der Fall ist; dort ist die transzendentale Logik eine Restriktion der allgemeinen Logik (A 59 ff.) und nicht umgekehrt, nämlich so, dass die Transzendentale Logik eine allgemeine Theorie der Logizität überhaupt aufspannte und dann verschiedene Logiken (die aristotelische, die stoische etc.) diese transzendentale Logizität konkretisieren könnten. So wenig wie es für Kant zur Wissenschaft des Denkens, der aristotelischen Logik, eine Alternative gibt (B VIII), so wenig gibt es zur Parallelwissenschaft der Anschauung, der euklidischen Geometrie, für Kant eine Alternative; dies auch nach Höffe.43 Aber dies ist der Grund, warum die bestimmte Geometrie in die allgemeinen Raumargumente integriert ist und diese nicht zunächst ungebunden als Theorie der Räumlichkeit überhaupt entwickelt werden. Höffe: Dem objektiven »Substrat« aller Raumvorstellungen, das Kant entwickele, fehle jede Bestimmtheit.44 Aber in Ziffer 3 der B-Auflage, an die sich Höffe hält (gleich Ziffer 4 von A) wird Euklid zur Bestätigung der Ausführungen zum Raum als reiner Anschauung in das Argument integriert. Es kommt hinzu, dass »Räumlichkeit« ein verschwommener Allgemeinbegriff ist, der dem Duktus der Transzendentalphilosophie widerspricht;45 es geht hier wie auch sonst in der kritischen Philosophie immer um Notwendigkeit von etwas Bestimmten. Kant müsste, wenn die KrV etwas mit der retrospektiven Rettung von Höffe zu tun hätte, die Beziehung der Räumlichkeit zum (vermeintlich) euklidischen Anschauungsraum begriffl ich bestimmen, aber davon fi ndet sich keine Spur. Durch die eine bestimmte Geometrie und eine bestimmte Arithmetik kann die »Transzendentale Ästhetik« neben der nachfolgenden Logik zum »Organon« (A 46) der Erfahrungserkenntnis des Menschen werden, zu einer der Bedingungen ihrer Möglichkeit, so wie es in der »Transzendentalen Analytik« tatsächlich ausgeführt wird.
probleme der »transzendentalen Ästhetik« | 37
2. Die Entstehung der Raum-Zeit-Problematik In der Raumschrift von 1768 kritisiert Kant den Versuch von Leibniz, in dem Projekt einer »Analysis situs« die Lage der Gegenstände im Raum vollständig begriffl ich-mathematisch zu bestimmen. Diese begriffliche Bestimmung habe jedoch ein Defizit; sie könne den tatsächlichen Unterschied inkongruenter Gegenstücke nicht erfassen. Nach einer Erörterung dieses Sachverhalts kommt Kant zu dem Ergebnis, »daß nicht die Bestimmungen des Raumes Folgen von den Lagen der Theile der Materie gegen einander, sondern diese Folgen von jenen sind, und daß also in der Beschaffenheit der Körper Unterschiede angetroffen werden können und zwar wahre Unterschiede, die sich lediglich auf den absoluten und ursprünglichen Raum beziehen, weil nur durch ihn das Verhältniß körperlicher Dinge möglich ist, und daß, weil der absolute Raum kein Gegenstand einer äußeren Empfindung, sondern ein Grundbegriff ist, der alle dieselbe zuerst möglich macht, wir dasjenige, was in der Gestalt eines Körpers lediglich die Beziehung auf den reinen Raum angeht, nur durch die Gegenhaltung mit andern Körpern vernehmen können.« (II 383,13–23)46 Die Unterbestimmtheit der »analysis situs« wird 1770 in zwei Richtungen verallgemeinert: Die Begriffe als solche haben ein inhärentes Defizit im Hinblick auf den Raum überhaupt, und zweitens gilt dies auch für die Zeit. Die reinen Formen von Zeit und Raum können nur unmittelbar angeschaut, nicht aber begrifflich bestimmt werden. Begriffe als solche sind frei von Anschauungen, und Anschauungen sind nicht-begrifflicher Natur. Die reinen Formen sind zwar Anschauungen, aber nicht als Gegenstände bestimmter Sinne; insofern sind sie übersinnlich. Kant glaubte 1769, dass es ihm mit dem »großen Licht« gelungen sei, die alleinige Herrschaft der bloßen Begriffe zu brechen und ihnen die eigenständige reine Form der Sinnlichkeit mit eigener Notwendigkeit entgegen zu stellen. Die Sinnlichkeit ist nicht obskur und konfus, sondern in ihrer Form klar und deutlich ohne Einhilfe des Verstandes. Die Kritik an Leibniz’ Versuch, die räumliche Orientierung des Menschen auf Begriffe zurückzuführen, brachte Kant in der Dissertation von 1770 zur Gegenposition, zur Emanzipation des Raumes und der Zeit vom Primat der Begriffe. »Diese reine Anschauung kann man aber in den Axiomen der 38 | kapitel I
Geometrie und in jeder mentalen Konstruktion der Postulate oder auch der Probleme47 leicht bemerken. Denn dass es im Raum nicht mehr als drei Dimensionen gibt, dass es zwischen zwei Punkten nur eine einzige gerade Linie gibt, dass man in einer Ebene von einem gegebenen Punkt mit einer gegebenen Strecke einen Zirkel beschreiben kann, usw. kann nicht aus irgendeinem allgemeinem Begriff vom Raum geschlossen, sondern gleichsam wie in etwas Konkretem bemerkt (cerni) werden.« (II 402,30–403,1) Die Eigenschaft der inkongruenten Gegenstücke lasse sich nicht diskursiv, sondern nur intuitiv erfassen, und zwar in einer »gewissen reinen Anschauung« (»quadam intuitione pura«), mit Evidenz. Auch durch Konstruktion? Gemäß welcher Regel? Und welchem nichtleibnizianischem Begriff ? Die Geometrie demonstriere ihre Sätze nicht, indem sie ihren Gegenstand mit Allgemeinbegriffen denke, wie es bei Vernunfterkenntnissen geschehe, sondern dadurch, dass sie ihn durch eine einzelne Anschauung den Augen unterwerfe, wie es in sinnenhaften Erkenntnissen geschehe (II 403,1–22). Also ist die Anschauung kein unbestimmtes Etwas, das erst durch Begriffe bestimmt würde, sondern sie bietet unmittelbare geometrische Erkenntnisse, zu denen Begriffe a limine keinen Zugang haben; es wird bei bestimmten Raumfragen an den »intuitus« appelliert, »illud oculis subiiciendo«48. Kant tritt gegen den Rationalismus auf als kognitiver Revolutionär. Die sich hier entwickelnde »Ästhetik« ist nicht nur wie bei Alexander Baumgarten die »soror minor«, die jüngere Schwester der Logik, sondern sie stellt sich gleichberechtigt vor sie. Das ist die gesellschaftskritische Pointe der neuen EuklidInterpretation. Die Sinne verlassen ihren Stand der Erniedrigung. 1770 gibt es zwei heterogene Erkenntnisstämme mit je eigener originärer Notwendigkeits-Erkenntnis. 1788 wird sich eine analoge Situation wiederholen. Es tritt dort nicht eine reine, begriffsunabhängige Anschauung vor und neben den Verstand, sondern ein eigenständiger Wille, von dem die Theorie sich keinen Begriff machen kann: »sic volo, sic jubeo« (V 31,34) ist jetzt die Losung. Aber hieß es nicht auch: »Der Mathematicus in seiner Definition sagt: sic volo, sic jubeo« (XVI 579,12)?49 Wie die Anschauung, so ist der Machtspruch des Willens für den Verstand oder die Vernunft unbegreifl ich; in beiden Fällen wendet sich Kant gegen eine Tradition, die die nach ihm evidente Heterogeneität durch die Vorprobleme der »transzendentalen Ästhetik« | 39
stellung eines Kontinuums entfernen will. Dies zwingt, wie später gezeigt werden soll, zu einer Neukonzeption der Aufk lärungsidee; sie richtet sich nicht mehr auf ein progressives Deutlicher- und Klarerwerden der Vorstellungen (»Mehr Licht!«), sondern auf die Autonomie des rechtlichen und ethischen Willens.50 In beiden Fällen, in der reinen Anschauung und beim reinen Willen, gibt es eine irrtumsimmune Evidenz, die gegen jeden skeptischen Einwand gesichert ist, 1781 in einer übersinnlichen reinen Anschauung des Raumes, 1788 im Faktum der Vernunft , als das sich das Gesetz der Freiheit im kategorischen Imperativ präsentiert. Dies sind die beiden nicht-theoretischen Stützen der Kantischen Philosophie, vorgestellt jeweils am Anfang der ersten und zweiten Kritik. Nun muß es irgendeine Weise der Kooperation von reiner Anschauung und begrifflicher Bestimmung geben. Sie wird 1770 zwar behauptet, aber dafür fehlt noch die Theorie. Die Organisation der Raum- und Zeitanschauung selbst geschieht nach einer »lex menti insita«, wie Kant häufig sagt,51 aber das ist entschieden keine Verstandestätigkeit. In der KrV werden es die synthetischen Urteile a priori sein, in denen eine synthetische Vermittlung von Begriffen durch die reine, unmittelbare Anschauung stattfinden soll. Der Ort, an dem diese Lehre in Anknüpfung an die Lehre von einem Erzeugungsgesetz kontinuierlicher Größen in der Dissertation entwickelt wird, ist die »Transzendentale Analytik«.
3. Geometrie in der »Transzendentalen Analytik« In der »Transzendentalen Ästhetik« wurden Raum und Zeit als reine Anschauungen oder auch Formen der Anschauung bestimmt. Man könne sich den Raum nur als all-einigen Raum vorstellen; seine Teile seien nur durch Einschränkungen vorstellbar. »Diese Teile können auch nicht vor dem einigen allbefassenden Raume gleichsam als dessen Bestandteile (daraus seine Zusammensetzung möglich sei) vorhergehen, sondern nur in ihm gedacht werden.« (A 25; für die Zeit A 31–32) In der reinen Anschauung ist der dreidimensionale Raum als das Ganze gegeben, das wir als den Ermöglichungsgrund der inkongruenten Gegenstücke aus dem Jahr 1769 40 | kapitel I
kennen. Die Einschränkungen führen immer nur auf Teilräume, d. h. die reine Anschauung ist ins Unendliche teilbar in weitere Räume. Dasselbe gilt mutatis mutandis für die Zeit. In der »Transzendentalen Analytik« steht das Gegenteil. Raum und Zeit seien extensive Größen. »Eine extensive Größe nenne ich diejenige, in welcher die Vorstellung der Teile die Vorstellung des Ganzen möglich macht, (und also notwendig vor dieser vorhergeht).« (A 162) Und als allgemeines Prinzip in der B-Auflage: »Alle Anschauungen sind extensive Größen.« (B 202) Also eine gegenläufige Bewegung: In der »Ästhetik« wird die reine Anschauung von Raum und Zeit als allbefassend und als unendlich gegeben (und nicht erzeugt!) angenommen, ihre Teilvorstellungen sind nur durch Einschränkungen realisierbar in Analogie zur »omnitudo realitatis«, in der »Analytik« wird dagegen umgekehrt gesagt, dass alle Anschauungen extensive Größen sind und als solche erzeugt werden müssen.52 In der bestimmten Raumvorstellung beginne ich hier mit dem Punkt und erzeuge nach und nach alle Teile einer Linie, in der bestimmten Zeitvorstellung denke ich mir »den sukzessiven Fortgang von einem Augenblick zum anderen, wo durch alle Zeitteile und deren Hinzutun endlich eine bestimmte Zeitgröße erzeugt wird.« (A 163)53 Die bestimmte Raum- oder Zeitvorstellung läßt sich für uns also nicht durch Einschränkungen der gegebenen reinen Raum- und Zeitanschauung gewinnen, sondern umgekehrt durch die endliche (A 163) Erzeugung aus dem Punkt und dem Augenblick bis zum vorgegebenen Ende der bestimmten Raum- und Zeiteinheit, sei es der reinen geometrischen Figuren, sei es der Erscheinung in der Erfahrung. Von Punkten und Augenblicken hat die »Transzendentale Ästhetik« nie etwas gehört; der reinen Anschauung von Raum und Zeit sind sie emphatisch unbekannt. Entscheidend ist für uns: Die extensive Größe ist ein Verstandesbegriff, und die Axiome der Anschauung wie auch das spezielle Prinzip des »Alle Anschauungen sind extensive Größen« stehen unter der Bestimmung des Verstandes und der Begriffe, nicht der reinen Anschauung. Damit kann die umgekehrte Verlaufsform der Erkenntnis angenommen werden: Nicht vom Umfassenden des Raumes und der Zeit, sondern vom Minimum des Punktes und des Augenblicks. Die Aufgabe der Erzeugung ist endlich, es sind immer probleme der »transzendentalen Ästhetik« | 41
bestimmte Erscheinungen und bestimmte geometrische Figuren, die in endlichen Akten der Synthesis zu erzeugen sind. 1787 präzisiert Kant seine Position von 1781 und führt das Zwischenstück einer »formalen Anschauung« (B 160) ein, die nun ihrerseits ihre notwendigen Voraussetzungen in der »Transzendentalen Ästhetik« verbürgt. »Der Raum als Gegenstand vorgestellt (wie man es wirklich in der Geometrie bedarf,) enthält mehr, als bloße Form der Anschauung, nämlich Zusammenfassung des Mannigfaltigen, nach der Form der Sinnlichkeit gegebenen, in eine anschauliche Vorstellung, so daß die Form der Anschauung bloß Mannigfaltiges, die formale Anschauung aber Einheit der Vorstellung gibt.« (B 160) Die Form der Anschauung ist gegeben, die bestimmte formale Anschauung einer geometrischen Figur oder Erscheinung wird dagegen durch Synthesis unter der Leitung des Verstandesbegriffs der bestimmten Größe erzeugt. Die Erzeugung selbst macht dabei nach Kants Intention von der vorausgesetzten reinen Anschauung und im nächsten Schritt auch von der empirischen Anschauung Gebrauch; von der letzteren waren wir in Ziffer 1 ausgegangen. »[…] des Mannigfaltigen, nach der Form der Sinnlichkeit gegebenen« – des Raumes, nicht der Zeit, und der Raum ist dreidimensional und wie die Zeit ins Unendliche teilbar; hierauf kann das Mannigfaltige nicht verzichten, wenn es »nach der Form der Sinnlichkeit« gegeben ist. Es ist kein beliebiges Mannigfaltiges, sondern ein bestimmt geformtes. Die Rede von der formalen Anschauung begegnet schon 1781 (A 268), aber eine Differenz zur Form der Anschauung läßt sich erst 1783 in den Prolegomena (IV 287,25) und dann B 160 feststellen; die formale Anschauung stehe unter der Einheitsbestimmung des Verstandes (bes. IV 320,22–322,17).54 Es ist eine der Entwicklungstendenzen von der ersten zur zweiten »Kritik«, dass die Befugnisse des Verstandes wachsen und folglich die Anschauung an Eigenständigkeit verliert. Aber kann die reine Anschauung derart Gegenstand der formalen Anschauung sein, dass die letztere eine Erkenntnis der inkongruenten Gegenstücke gewinnt? Dazu bedürfte es eines Zugriffs auf das Ganze des Raumes bzw. seiner Anschauung (II 383,13–23; IV 286,25–31), aber dieser Zugriff ist der formalen Anschauung gerade versagt. Der Anlaß von 1768, der zur kritischen Philosophie führte, ist verschwunden. 42 | kapitel I
Michael Wolff hebt in seinem Beitrag »Geometrie und Erfahrung. Kant und das Problem der objektiven Geltung der Euklidischen Geometrie« (2001) und der neuen, verbesserten Fassung »Absolute Selbstähnlichkeit in der euklidischen Geometrie« (2009) den Anteil des Verstandes an der geometrischen Erkenntnis schon 1781 hervor, die Anschauung ohne die Verstandestätigkeit sei eben blind. »Anschauung ist also zwar im Spiel, wenn es um geometrische Erkenntnis geht, aber die Rolle der Begriffe, und damit die Rolle des Verstandes oder des Denkens, darf nicht außer Acht gelassen werden.«55 Es sei daher nicht gerechtfertigt, die Beziehung der Kantischen Raumvorstellung zur Geometrie nur im Areal der »Transzendentalen Ästhetik« zu verhandeln und die »Grundsätze des reinen Verstandes«, speziell die »Axiome der Anschauung«, auszuklammern. »Kant selbst macht von Ausdrücken wie ›Raum der Anschauung‹ niemals Gebrauch.56 Wohl aber bedient er sich manchmal, und offensichtlich nicht zufällig, des Ausdrucks ›Raum in Gedanken‹, wenn es ihm darum geht, den geometrischen Raum zu bezeichnen. Da das Denken nach Kants Sprachgebrauch Sache des Verstandes ist und da insbesondere das Prinzip der Anschauungsaxiome ein ›Grundsatz des reinen Verstandes‹ ist, wäre es viel zutreffender, den Raum der Euklidischen Geometrie als ›den Raum der reinen Anschauung und des reinen Denkens zu bezeichnen.«57 Der Raum als subjektive Form der Anschauung sei ein geometrisch unbestimmtes Substrat, in das erst die kategorial bestimmten Verstandes- und Einbildungshandlungen die euklidischen Figuren eintrügen. Eben dies werde mit der Vorstellung gesagt, geometrische Sätze seien synthetisch-apriorisch, also eine nicht-empirische Verknüpfung von (unbestimmter) Anschauung und (bestimmendem) Verstand. Die reine Anschauung könne geometrischen Sätzen zwar Sinn und Bedeutung verschaffen, aber sie könne keine Gewissheit auch darüber herstellen, »dass diese Axiome auch gültig oder wahr sind.«58 Dies leiste erst der weitere Durchgriff auf die empirische Anschauung. Wolff geht in dem eingangs zitierten neuen Aufsatz detailliert auf die genauen Grenzen der Kantischen transzendentalen Geometriephilosophie ein und zeigt die Rolle der »Axiome der Anschauung« und damit die Ermöglichung geometrischer Raumbestimmung. Auf diese vorzügliche Darlegung sei hier verwiesen. probleme der »transzendentalen Ästhetik« | 43
Wie werden die synthetischen Urteile der Geometrie möglich? Dieser Frage konnten die Dissertation von 1770 und die »Transzendentale Ästhetik« für sich noch nicht nachgehen. Wir haben es nicht nur, so klärt die B-Auflage, mit dem Raum als reiner Form der Anschauung und geometrisch unbestimmtem Substrat zu tun, sondern mit einer formalen Anschauung, in der das Mannigfaltige nach der Bestimmung von Verstandesbegriffen zusammengefasst wird (s. B 160; auch IV 287,25). Die erste Stufe der Raumanschauung fungiert jetzt als bloßes Substrat, in das unter der Leitung des Verstandes sukzessive Akte der Synthesis eingetragen werden und so zu notwendigen synthetischen Urteilen a priori führen. Dieses zweistufige Modell befreit uns, so scheint es, aus den bisherigen Aporien. Nach Wolff können wir uns im ersten Schritt dessen, was mit einer Gerade gemeint ist, ungefähr in der Anschauung vergewissern. In der zweiten Stufe werden geometrische Objekte nach Regeln erzeugt. Wir erzeugen eine Linie in Gedanken nach der Regel, gleichartige anschauliche Teile zu addieren und zwar so, dass wir ein Minimum von Liniensegmenten benötigen. Die Linie ist ein Aggregat von extensiven Größen und steht damit unter dem Prinzip der Axiome der Anschauung: »Alle Anschauungen sind extensive Größen« (B 202). Die Linie »in Gedanken« löst sich offenbar von der dreidimensionalen Raumanschauung und erzeugt die Linie als zweidimensionales Gebilde, desgleichen ist, so wollen wir provisorisch einräumen, der Punkt ein legitimes räumliches Gedankending und keine Kugel im dreidimensionalen Raum. Prolegomena von 1783: »Zergliedert man alle seine synthetische Urtheile, sofern sie objectiv gelten, so fi ndet man, daß sie niemals aus bloßen Anschauungen bestehen, die blos, wie man gemeiniglich dafür hält, durch Vergleichung in einem Urtheil verknüpft worden, sondern daß sie unmöglich sein würden, wäre nicht über die von der Anschauung abgezogene Begriffe noch ein reiner Verstandesbegriff hinzugekommen, unter dem jene Begriffe subsumirt und so allererst in einem objectiv gültigen Urtheile verknüpft worden. […] Der Grundsatz: die gerade Linie ist die kürzeste zwischen zwei Punkten, setzt voraus, daß die Linie unter den Begriff der Größe subsumirt werde, welcher gewiß keine bloße Anschauung ist, sondern lediglich im Verstande seinen Sitz hat […].« (IV 301,14–25) »Dagegen ist das, was den Raum zur Cirkelgestalt, 44 | kapitel I
der Figur des Kegels und der Kugel bestimmt, der Verstand, so fern er den Grund der Einheit der Construction derselben enthält.« (IV 321,36–322,1) Mit den »Axiomen der Anschauung« und deren Verstandesprinzip tritt eine Erkenntnismöglichkeit auf, die Kant 1770 noch nicht zur Verfügung stand. Jetzt gründet sich die Notwendigkeit der geometrischen Sätze nicht in der Notwendigkeit der Raumvorstellung und deren Unausweichlichkeit, sondern in der Operation der Erzeugung durch die Einbildungskraft unter der Leitung eines Verstandesbegriffs und dem Prinzip, dass alle Anschauungen extensive Größen sind. Der kräftefreie Raum läßt sich nach den Axiomen der Anschauung und dem Prinzip tatsächlich und einzig mit der euklidischen Geometrie bestimmen. So interpretierte schon Klaus Reich die Kantische Theorie elementar-geometrischer Erkenntnis. Die Bewegung in der Konstruktion der Linie oder des Kreises sei weder Denken noch Anschauung, sondern der Schematismus des Verstandes.59 In dieser Version kann die ursprüngliche Geometrie Euklids übernommen werden, indem jetzt aus einem Verstandesprinzip, dass alle Anschauungen extensive Größen sind, und den Axiomen der Anschauung die euklidischen Bestimmungen vorgenommen werden. Der homogene Anschauungsraum wird als Raum der Erkenntnis durch die reinen Axiome bestimmt; er ist nichts anderes als das Substrat oder Material dieser Bestimmung. Reich: »Für den erwähnten ›Akt‹ der Bewegung ist die ›Anschauung‹ nur das reine Material, an dem er sich auswirkt. Von diesem Material wird beim Operieren des Verstandes an ihm eine Einheit ursprünglich angetroffen, und daher darf geschlossen werden, daß in Ansehung aller Begriffe vom Raum – neben dem Verstande – eine Anschauung apriori zugrunde liegt. Das reine Material hat eine solche Harmonie mit dem Verstand, daß er in ihr etwas apriori machen kann. Die Vorstellung des Faktums dieser Harmonie ist die Vorstellung des Raumes als Gegenstand, ›wie es die Geometrie bedarf‹ – sofern sie als ›Meßkunst‹ Theorie der Metrik ist.«60 Das ist wohl tatsächlich Kants Auffassung in der B-Auflage der »Transzendentalen Analytik«. Aber dann schafft sich die Geometrie die Grundlagen ihrer Wahrheit, so wie der kategorische Imperativ sich die objektiv-praktischen Bedingungen seiner Geltung verschafft. Dann ist probleme der »transzendentalen Ästhetik« | 45
Kant 1787 der Kant des Marburger Neukantianismus. 1781 hatte die »Transzendentale Ästhetik« ihre eigenen Anschauungen und eigene Würde; Material oder bloßes Substrat für den Verstand wollte die Anschauung nicht sein. In der »Transzendentalen Analytik« ist der Verstand das dirigierende Vermögen. Im (Nominal)Begriff des Dreiecks liegt die Konstruktionsanweisung, die als Schema fungiert: »Das Schema des Triangels kann niemals anderswo als in Gedanken existieren, und es bedeutet eine Regel der Synthesis der Einbildungskraft, in Ansehung reiner Gestalten im Raume.« (B 180) Aber warum soll diesem Verfahren eine reine Anschauung präsupponiert werden, die das variable Schema nie erreicht und nicht zu erreichen braucht? Der Geometer bringt durch Konstruktion in einem Schema hervor, was er dann der Sache beilegt, indem er sich nur auf das bezieht, »was er seinem Begriffe gemäß selbst in sie gelegt hat.« (B XII) Ist eine Bezugnahme auf die dem Verstand gegenüberstehende eigenständige reine Anschauung noch nötig? In der »Transzendentalen Ästhetik« war von einem unbestimmten Substrat keine Rede, sondern von einer reinen Anschauung, die unseren Weltverortungen zugrunde liegen sollte und bestimmte Eigenschaften notwendig mitführte, so die unendliche Teilbarkeit und natürlich die Dreidimensionalität. Dies muß für den Verstand a priori unverhandelbar festliegen, so dass die Raumbestimmung in einer formalen Anschauung hiermit als Vorgabe rechnen muß; andernfalls könnte auf die Kennzeichnung als Raum und Anschauung verzichtet und eine neues Wort, etwa Quixlipax oder Hyle, benutzt werden. Es drängt sich auf, die zwei Stufen von purer Form der Anschauung hier und formaler, verstandesgeleiteter Anschauung dort mit der Zweistufigkeit von »status naturalis« und »status civilis« zu vergleichen. Die reine Anschauung apriori stiftet in der »Ästhetik« nach eigenem Bekunden Gewissheit und Notwendigkeit der Geometrie und hat damit gewissermaßen einen eigenen provisorischen Rechtsstatus; im Zivilzustand der »Transzendentalen Analytik« wird die Anschauung dagegen dem Verstand unterworfen und hat als solche nur noch eine vom Verstand bestimmte Funktion. Die Abfolge von »Ästhetik« und »Logik« ist in unserer gewagten Konjektur das Abbild der unumkehrbaren Stufung von Natur- und Zivilzustand. Die reine Anschauung weicht der Re46 | kapitel I
gel des Verstandes, die darüber entscheidet, was gesetzlich erlaubt oder verboten und geboten ist. Die »formale Anschauung« ist in den Augen der »reinen Anschauung« ein Ermächtigungsgesetz, das den Verstand befugt, das in der Anschauung zu finden, was ihm passt. In der Rechtslehre von 1797 wird der Konfl ikt zwischen dem reinen Natur- und dem positiven Staatsrecht eingeräumt und in einem gesonderten dritten Abschnitt des vorstaatlichen Rechts behandelt; dies geschieht unter dem wenig beflügelten Titel »Von der subjectiv-bedingten Erwerbung durch den Ausspruch einer öffentlichen Gewalt.« (VI 296,13–14) Hier werden vier Klassen von Rechtsbehauptungen behandelt, in denen eine Antinomie des Urteils im reinen Vernunft- oder Naturrecht und positiven Staatsrecht auft ritt.61 Ein analoger Übergang von der »Ästhetik« zur »Logik« in der KrV hätte die Differenzen behandeln können, die zwischen den beiden Vermögen des Anschauens und des Denkens unvermeidlich auft reten und die in der »Analytik« zugunsten des Verstandes entschieden werden. Vielleicht ist das Zugeständnis einer ursprünglich unbekannten »formalen Anschauung« ein Hinweis, dass es um das Verhältnis der beiden getrennten Vermögen nicht zum Besten bestellt ist. Warum sollte auch das Anschauungsvermögen in allen Punkten mit dem Verstand übereinstimmen, wenn es an einer Einheit fehlt, der sie beide notwendig entspringen?
4. Schwierigkeiten, die bleiben? Kant entwickelt gegen Platon und die Euklid-Tradition eine Lehre von der reinen sinnlichen Anschauung, die aus der empirischen Raumanschauung des Ortes, an dem ich mich befinde, erschlossen wird. Sie verdankt sich einer Opposition gegen den Verstand; nur aus dieser Opposition entstand die eigenständige Lehre von Raum und Zeit, die 1781 zur »Transzendentalen Ästhetik« wird. Sie wird erhöht durch ein theologisches Substrat. Unsere Frage: Entwickelt die »Ästhetik« entgegen der Interpretation von Reich und Wolff eine eigenständige Lehre, die mit den Desideraten des Verstandes in der »Transzendentalen Analytik« partiell konfligiert? Zieht sich damit ein unheilbarer Riß durch die Kantische Lehre? probleme der »transzendentalen Ästhetik« | 47
Kant schreibt 1781 vom Raum, er sei eine notwendige Vorstellung (Ziffer 2) und auf »diese Notwendigkeit a priori gründet sich die apodiktische Gewißheit aller geometrischen Grundsätze, und die Möglichkeit ihrer Konstruktionen a priori« (A 24; auch A 31). In der »Ästhetik« entlehnt sich die Gewissheit und Notwendigkeit also eindeutig der notwendigen reinen Anschauung von Raum und Zeit, nicht dem Verstand, wie in der »Transzendentalen Analytik« für den Raum in den »Axiomen der Anschauung« gelehrt wird; für die Zeit fehlt ein Pendant der reinen Konstruktion nach Verstandesregeln, so dass bei ihr dokumentiert wird, dass Notwendigkeit und Gewissheit ihrer Grundsätze der begrifflosen Anschauung entspringen. Es stehen sich zwei Formen der Notwendigkeit gegenüber, eine sinnliche und eine begriffl iche (beide nicht analytischer Art); die erste überwältigt mich im schlichten Hinblick in einer reinen Anschauung, die zweite ergibt sich aus meiner eigenen Handlung des Erzeugens. Mag die Anschauung immer einem dem Gemüt angeborenen Gesetz (»lex menti insita« II 393,6–7 u. ö.) folgen, im Bewusstsein präsentieren sich die geometrischen Grundsätze wie etwa die Dreidimensionalität des Raumes und die apodiktischen Grundsätze der Zeit im puren Hinblick, die Notwendigkeit liegt in der Unabänderlichkeit der räumlichen und zeitlichen reinen Gegebenheiten, etwa: Die Zeit »hat nur Eine Dimension: verschiedene Zeiten sind nicht zugleich, sondern nacheinander« (A 31); dessen ist sich jeder unmittelbar als einer Grundgegebenheit bewusst. In der »Transzendentalen Analytik« ist dagegen bei Raumfiguren alles in meiner Gewalt, ich erzeuge die Figuren und bin im irrtumsfreien Besitz meiner eigenen Konstruktion. In der ersten Notwendigkeit mag der theologische Subtext segensreich hinüberwirken, in der zweiten wäre er ein bloßer Störfaktor. In den Prolegomena heißt es: »Daß der vollständige Raum (der selbst keine Grenze eines anderen Raumes mehr ist) drei Abmessungen habe, und Raum überhaupt auch nicht mehr derselben haben könne, wird auf den Satz gebaut, daß sich in einem Punkte nicht mehr als drei Linien rechtwinklicht schneiden können; dieser Satz aber kann gar nicht aus Begriffen dargethan werden, sondern beruht unmittelbar auf Anschauung, und zwar reiner a priori, weil er apodiktisch gewiß ist; […].« (IV 284,30–285,1; s. schon II 402,32– 403,1) Michael Wolff meint, dass nach Kants Ansicht der Satz von 48 | kapitel I
der Dreidimensionalität des Raums von einem fundamentaleren, gleichwohl eines Beweises bedürft igen und fähigen Satz abhängt, nämlich dem bei Euklid Buch 13 bewiesenen Satz, »dass es nicht mehr als ein reguläres Polyeder gibt, bei dem die Kanten rechtwinklig in einer Ecke zusammenstoßen, dies sei der Würfel.«62 Hier steht Kant gegen Wolff, denn er setzt auf die unmittelbare Anschauung und benötigt keinen diskursiven Beweis. Und dies ist essentiell, weil die reine Anschauung als solche die Dreidimensionalität von Ziffer 1 beibehält. Es bedarf also in emphatischer Weise keines Verstandesbeweises, sondern nur der reinen Anschauung selbst. Kant sah in der Trennung von Ästhetik und Logik die entscheidende Neuerung gegen den Rationalismus von Leibniz und Wolff. Strategisch wichtig waren entsprechend Dokumente, die das Defizit bloß begrifflicher Bestimmung vor Augen führten; das Muster waren dafür 1768, 1770 und 1783 die inkongruenten Gegenstücke, denen die Sinnlichkeit testierte, unterschiedliche Dinge zu sein, während der Verstand keine Unterschiede feststellen konnte. 1770 sind die geometrischen Prinzipien »principia formae sensitivae« (II 393,34), die eigentümlichen Raumphänomene, die nur in der reinen Anschauung bemerkt werden können (II 403,9–10: »[…] hic nonnisi quadam intuitione pura diversitatem, nempe discongruentiam, notari posse.«)63 Kant hat seine Meinung, die Verstandesbegriffe hätten ein Bestimmungsdefizit gegenüber der Anschauung, nicht explizit widerrufen. Aber wie kann dann die reine Anschauung bloßes Substrat oder Material begriffl icher Bestimmungen sein? Sie muß auch originäre Erkenntnisse vor der Begrifflichkeit des Verstandes liefern. Nach dem Kant der »Analytik« sind geometrische Begriffe wie z. B. der des Kreises kompetent, mich zur Bildung eines Schemas und dessen Konstruktion in Gedanken / Anschauung zu führen; hierfür soll die reine Anschauung als notwendiges Substrat fungieren; die Gültigkeit der entsprechenden geometrischen Sätze könne nur durch Rekurs auf sie eingesehen werden. Bei den inkongruenten Gegenstücken muß es jedoch nach Kant umgekehrt so sein, dass der Verstand die Begriffe »rechts« und »links« nicht kennt und entsprechend ihre gedanklich-anschauliche Größenerzeugung nicht anleiten kann. Von den Störenfrieden ist in der KrV auch keine Rede; wir vermuteten oben schon, dass probleme der »transzendentalen Ästhetik« | 49
sie kein möglicher Gegenstand einer formalen Anschauung sein können. Sind wir wieder im Jahr 1768 angelangt? Man lese § 13 der Prolegomena: Es wird dem Verstand die Fähigkeit abgesprochen, den Unterschied inkongruenter Gegenstücke zu begreifen. Aber das muß der Verstand der »Transzendentalen Analytik« sein. Wie nun? In anderen Beispielen entdecken wir umgekehrt das Defizit einer kontrollierbaren Anschauung, also begriffl iche geometrische Vorgaben, bei denen die reine Anschauung so versagt wie zuvor die Begriffe. Man nehme den Tangentensatz. Euklid beweist ihn;64 und Kant schließt sich sicher seinem Beweis an. Aber der Punkt, in dem Kreis und Tangente sich schneiden, kann durch keine Anschauung vorgeführt werden, wie schon Protagoras65 anmerkte. Wie sollte der Schnittpunkt von Kreis und Tangente in der reinen Anschauung Bestand haben? Es gibt ihn nicht und kann ihn nicht geben. Kant schreibt, dass »Mathematik das Allgemeine jederzeit in concreto (in der einzelnen Anschauung) und doch durch reine Vorstellung a priori erwägen kann, wobei jeder Fehltritt sichtbar wird.« (A 734–735; »in der Anschauung des Gegenstandes fortgehen«)66 Aber der Schnittpunkt von Kreis und Tangente wird niemals sichtbar; Kants Appell an die Anschauung müsste den Satz als falsch erweisen. Wie steht es mit dem Kreis selbst? Proklos kommentiert Euklid: »[…] Der Kreis in der Ratio (en dianoia) ist einer und einfach und unausgedehnt.«67 Für Kant ist ein derartiger inhaltlich erfüllter, wenn auch rein eidetischer Begriff a priori unmöglich, an seine Stelle soll die reine Anschauung (und in der »Analytik« das Schema) treten. Beide sollen materie- bzw. inhaltsfrei sein. Im System der Grundsätze des Verstandes steht: »Nun heißt ein Postulat in der Mathematik der praktische Satz, der nichts als die Synthesis enthält, wodurch wir einen Gegenstand uns zuerst geben, und dessen Begriff erzeugen, z. B. mit einer gegebenen Linie, aus einem gegebenen Punkt auf einer Ebene einen Zirkel zu beschreiben, und dergleichen Satz kann darum nicht bewiesen68 werden, weil das Verfahren, was er fordert, gerade das ist, wodurch wir den Begriff von einer solchen Figur zuerst erzeugen.« (A 234)69 »[…] aus einem gegebenen Punkt« – aus welchem Punkt genau? Jeder »gegebene Punkt« ist ins Unendliche teilbar und erleidet die Furie 50 | kapitel I
des Verschwindens, so lange er im Raum ist. Es hilft nicht, an das »pou«, das »wo« von Aristoteles zu erinnern, denn der Ort erleidet dasselbe Schicksal wie der Punkt. Wo ist der Ort genau, d. h. wo ist der Punkt, der im Raum anzugeben ist und von dem aus der Zirkel gezogen wird? Solange der Punkt im Raum ist, ist er dreidimensional und somit eine Kugel; verlässt er den Raum, bezeichnet er keinen Ort mehr. Wenn Kant in der »Transzendentalen Analytik« wiederholt von der Linie spricht, die man »in Gedanken« zieht, dann handelt es sich nicht um eine rein gedankliche Linie wie bei Proklos, sondern um eine wiewohl gedankliche Handlung in der reinen dreidimensionalen Anschauung. »In der Tat liegen unseren reinen sinnlichen Begriffen nicht Bilder der Gegenstände, sondern Schemate zum Grunde. Dem Begriffe von einem Triangel überhaupt würde gar kein Bild desselben jemals adäquat sein. Denn es würde die Allgemeinheit des Begriffs nicht erreichen, welche macht, daß dieser für alle, recht- oder schiefwinklige usw. gilt, sondern immer nur auf einen Teil dieser Sphäre eingeschränkt sein. Das Schema des Triangels kann niemals anderswo als in Gedanken existieren, und bedeutet eine Regel der Synthesis der Einbildungskraft , in Ansehung reiner Gestalten im Raume.« (A 140–141) Wird hier die reine Gestalt im Raum top down vom Begriff über das Schema (immer noch »in Gedanken«)70 bis hin zur singulären anschaulichen Gestalt erzeugt? Oder geht es in umgekehrter Richtung von der Konstruktion zum Begriff, wie das vorhergehende Zitat (A 234) nahelegt? Die reine Anschauung ist dreidimensional, denn sie entstammt unserem Raum, in dem wir einen Ort einnehmen. Nun setzt sich jedoch die Geometrie, die in der »Transzendentalen Analytik«, besonders unter dem Titel der »Axiome der Anschauung«, expliziert wird, über die Dreidimensionalität der reinen Anschauung hinweg. Die Linie, die ich in Gedanken ziehe, ist zweidimensional und hat damit keine Möglichkeit, in dem vorgängigen dreidimensionalen Raum der reinen Anschauung zu entstehen. »Denn einen bestimmten Raum können wir nicht anders vorstellen, als, indem wir ihn ziehen, d. i. einen Raum zu dem andern hinzuthun, und ebenso ist es mit der Zeit bewandt.« (XX 271,9–12) Der gemeinte Raum ist offenbar eine bestimmte Linie im Raum, probleme der »transzendentalen Ästhetik« | 51
denn Punkte, Flächen und stereometrische Gebilde lassen sich nicht ziehen. »Ich kann mir keine Linie, so klein sie auch sei, vorstellen, ohne sie in Gedanken zu ziehen, […].« (A 162)71 Der bestimmte Raum wird hier nicht durch Einschränkung der allgemeinen reinen Raumanschauung gewonnen, sondern umgekehrt durch die Einbildungskraft in einem Akt der Synthesis. Wir erzeugen die Vorstellung der Linie unter der Direktive des Verstandesbegriffs in einer formalen Anschauung – im schon vorgestellten dreidimensionalen Anschauungsraum, und damit bleiben die Schwierigkeiten, auf die wir schon hinwiesen. Der eben zitierte Satz wird erläutert: »d. i. von einem Punkte alle Teile nach und nach zu erzeugen, und dadurch allererst diese Anschauung zu verzeichnen.« (A 162–163) Der besagte Punkt muß in der Raumvorstellung realisiert werden und verfällt damit der Teilbarkeit. Und: Wie kann ein Punkt als Anfang der zu erzeugenden Linie fungieren, wenn es andererseits heißt: »Der Raum besteht also nur aus Räumen, die Zeit aus Zeiten. Punkte und Augenblicke sind nur Grenzen, d. i. bloße Stellen ihrer [sc. der Räume und Zeiten, RB] Einschränkung; Stellen aber setzen jederzeit jene Anschauungen, die sie beschränken oder bestimmen sollen, voraus, und aus bloßen Stellen, als aus Bestandteilen, die noch vor dem Raume oder der Zeit gegeben werden könnten, kann weder Raum noch Zeit zusammengesetzt werden.« (A 169–170) Der Punkt soll einerseits als Ausgangspunkt der zu ziehenden Linie da sein, andererseits wird er als deren Grenzpunkt bestimmt, der das zu Begrenzende, die Linie, jederzeit voraussetzt. Weder die eine noch die andere der beiden traditionellen Bestimmungen ist, so scheint es, möglich im von Kant (nicht Euklid) vorausgesetzten dreidimensionalen, unendlich teilbaren Anschauungsraum. Denn die Vorstellung einer »Stelle« ist mit denselben Schwierigkeiten belastet wie die des Orts; man erinnere sich der Kantischen Formulierung, es sei »etwas in einem anderen Orte des Raumes, als darinnen ich mich befi nde« (A 23). Der Ort, in oder an dem ich mich befinde, kann nicht gut der Ausgangspunkt einer Linie sein. Im Opus postumum steht die Notiz: »Punct ist ein Ort u. umgekehrt. Der Raum besteht nicht aus Örtern (Puncten).« (XXII 304,20–21) Es muß zunächst der Punkt gesichert sein, und danach kann ihm ein Ort des Hier- oder Dortseins zugewiesen und die 52 | kapitel I
Wo-Frage topologisch beantwortet werden. Auch in der Danziger Physiknachschrift heißt es: »Der Punct ist aber nicht ein Theil vom Raum, sondern der Ort im Raum. Der Raum besteht aber nicht aus Orten, folglich auch nicht aus Puncten.« (nach XIV 131,36–38) Ist der Punkt noch Gegenstand der reinen oder formalen Anschauung, wenn er nicht in den Raum gehören soll? Und von welchem Ort ist die Rede, vom einmaligen Hier oder Dort im Weltraum oder von einem Ort im imaginierten Relationensystem der Euklidischen Geometrie? Jedenfalls kann auch der Punkt, der ein ausdehnungsloser Ort im alleinen Raum sein soll, nicht identisch sein mit dem Punkt der Euklidischen Geometrie, denn dieser letztere wird unabhängig von einem bereits gegebenen Raum eingeführt, hat also ursprünglich mit der Topologie nichts zu tun, während der Kantische den dreidimensionalen Raum der Anschauung voraussetzt und dann post festum seine Extensionalität verleugnet. »Punct ist ein Ort u. umgekehrt« – können an einem Ort mehrere Punkte sein? Sicher nicht umgekehrt, der eine identische Punkt kann nicht an verschiedenen Orten sein. Eine verifizierbare Aussage? »Der Punkt ist kein Theil des Raumes. Zwischen zwey Punkten ist ein Raum. […] Das Einfache im Raum ist kein theil; […] Das einfache im Raum ist nur ein Punkt.« (XIV 131,5–11) Der Punkt soll kein Teil des Raumes und ergo nicht wie dieser teilbar sein; aber was soll das sein, das »Einfache im Raum«? Wird eine Strecke halbiert, so gehört der Punkt der Trennung oder Berührung zu keiner der beiden neuen gleichlangen Strecken bzw. zu beiden. Es muß ihn also geben, aber ohne Teilbarkeit im Raum. Antwort: Dieser Punkt wird erschlossen und kann kein Gegenstand im Raum und damit einer Anschauung oder Konstruktion sein (vgl. IV 513,27–28 in den Metaphysischen Anfangsgründen der Naturwissenschaft). Bleibt man im Rahmen der Kantischen Geometrie, trifft die mit der Halbierung beauft ragte Vertikale die Strecke (beide dreidimensional) nicht in einem ausdehnungslosen Punkt, sondern einer dreidimensionalen »Strecke«, die ins Unendliche teilbar ist, so dass im Anschauungsraum nie feststellbar ist, ob eine wirkliche Halbierung vorliegt oder nicht. Konstruktion und Anschauung verfehlen gleichermaßen das gewünschte Ergebnis bzw. sind eine unendliche Aufgabe. Aus der Sicht der »Axiome der Anschauung« und der formalen Anschauung gibt es dagegen einen probleme der »transzendentalen Ästhetik« | 53
Verstandesbegriff vom Punkt, der die euklidischen und von Kant gewünschten Eigenschaften hat. Die Schwierigkeiten wurden im Einzelnen affirmativ vorgetragen, sie sind jedoch gedacht als Teile nicht eines Behauptungs-, sondern Fragebuchs. Erledigen sie sich sofort oder nach einiger Überlegung?
Zwischenbilanz Die reine sinnlich-übersinnliche Anschauung ist das Kernstück der Kantischen Raum- und Zeitlehre. Es steht in der Mitte zwischen den reinen Begriffen und der Empirie als Bindeglied, das auf der einen Seite eine Notwendigkeit sui generis begründet und synthetische Urteile a priori ermöglicht, und auf der anderen Seite Gültigkeit oder Wahrheit für alle empirischen Raum- oder Zeitphänomene beansprucht. Kann sie diese Brückenfunktion erfüllen, oder brechen die beiden Teile auseinander? Wenn die Raumund Zeitanschauung ihre Notwendigkeit einbüßen, dann stehen sie nicht mehr als unbezweifeltes »Organon« (A 46)72 für die synthetischen Urteile a priori zur Verfügung, und damit verlieren wir das Kernstück der Analytik des reinen Verstandes in der von Kant vorgesehenen Form. Der Verstand kann sich der Anschauung nur bedienen, indem er sie als Substrat ohne Eigenständigkeit benutzt, und die Anschauung kann nur sie selbst bleiben, indem sie sich der begrifflichen Unterwerfung entzieht. »Gedanken ohne Inhalt sind leer, Anschauungen ohne Begriffe sind blind« (A 51), der Satz wird meist mit Sympathie zitiert. Hier die »Transzendentale Ästhetik«, dort die »Transzendentale Logik«: Was gewährleistet, dass das Getrennte sich notwendig zusammenfügt? Die Bestimmung von Raum und Zeit wird unabhängig von den Eingriffen der Logik vollzogen, und eine beide vorweg in Harmonie setzende Instanz ist nicht vorgesehen. So entwickelt die reine Anschauung, wie es schien, ihre eigene Natur und ihr eigenes Recht, das mit den Anforderungen des nachfolgenden Verstandes in Konfl ikt gerät. Selbst wenn sich derartige Diskrepanzen nicht zeigten, wäre dies vielleicht nur Zufall, solange Anschauung und Verstand nicht aus einer Einheit hergeleitet werden? Kant deutet 54 | kapitel I
eine derartige Vereinigung in der KpV an, indem er dort retrospektiv die Ästhetik zu einem Teil der Analytik macht,73 aber er führt diesen für seine liberale Denkart unerträglichen Einheitsgedanken so wenig aus wie die eigene Idee einer vierten Kritik, die die Einheit des kritischen Unternehmens aufweisen könnte. Fichte wird mit einem Einheitskonzept auf Kant folgen wollen, aber ob ihm dies gelungen ist, steht auf einem anderen Blatt. Was bleibt? Es bleibt Kants Insistieren auf der Dualität, an der er vermutlich scheitert. Die Dualität besagt, dass Naturwissenschaft etwas enthält, was mehr ist als die pure Logik des Denkens, also das notwendige Andere des Verstandes, das ihm trotzdem zugehört. Um die Schwierigkeit, die in dieser Dopplung bei Kant liegen, kreiste unsere philosophische Textexegese.
Anhang I: Vorstellungsfähige, nichtmenschliche Lebewesen Damit ein vorstellungsfähiges Lebewesen seine Empfindungen auf etwas, das an einem anderen Ort als es selbst ist, beziehen kann, muß der Raum, in dem die Verortungen stattfinden, »schon zum Grunde liegen« (A 23), sei dies nun realiter oder in der Vorstellung. Kant gesteht z. B. dem Hund zu, zwischen Brot und Braten zu unterscheiden, »weil er anders vom Braten, als vom Brote gerührt wird (denn verschiedene Dinge verursachen verschiedne Empfi ndungen) und die Empfindungen vom erstern [sind] ein Grund einer andern Begierde in ihm als die vom letztern […].« (II 60,4–7) Braten und Brot sind nicht nur verschieden, sondern an verschiedenen Orten im Raum, also »extra se« und natürlich auch »extra me«, außerhalb des Lebewesens. Ohne diese Fremd- und Selbstplatzierungen könnten vorstellungsfähige Lebewesen nicht überleben; in dieser Auffassung stimmen sicher Platon, Aristoteles und Kant und die Mehrzahl der anderen Vernunft wesen überein. Kant muß entsprechend der Auffassung sein, dass Tiere und Menschen im dreidimensionalen Raum Dinge und Ereignisse »extra se« und »extra me« wahrnehmen und vorstellen und sich in gleicher Weise selbst im Raum orientieren und bewegen. Dazu bedarf es nicht nur der Kenntnis von Dingen, die dort und dort artgemäß empfunden und wahrgenommen werden, sondern auch probleme der »transzendentalen Ästhetik« | 55
einer Vorstellung als einer Art Möglichkeitsraum, in dem sich Bewegungen antizipieren und erinnern lassen. Wollte man die Tiere aus den verortungsfähigen und den Umgebungsraum vorstellenden Wesen mit einem »ignoramus« ausschließen, so müsste man dasselbe für andere Menschen geltend machen und die KrV rein solipsistisch entwickeln. Das Ich wäre dann das Ich Immanuel Kants und eventuell seines Lesers. Wer jedoch den Tieren eine Existenz im Raum und äußere Sinne, räumliche Vorstellungen und räumliche Orientierung zubilligt, ist zu den eben dargelegten Konsequenzen gezwungen. Nun können und müssen wir Kants Theorem der Ziffer 1 noch in der folgenden Weise erweitern. Tiere und Menschen lokalisieren Sachverhalte ohne äußere Sinne an verschiedenen Orten in ihrem Körper, also »intra se«, etwa den Schmerz im linken oder rechten Bein. Heraklit: »[…] so wandert die Seele des Menschen [wir ergänzen: und des Tieres, RB] bei der Verletzung irgendeines Körperteils rasch dahin, als ob sie über die Verletzung des Körpers, mit dem sie fest und proportioniert verbunden ist, ungehalten sei.«74 Die Restriktion des Raumes auf körperexterne Relationen – »in einem anderen Orte des Raumes, als darinnen ich mich befinde« (A 23) – und also der äußeren Sinne ist dahingehend zu erweitern, dass physische Binnenrelationen des körperlichen Selbstempfi ndens einzubeziehen und Empfi ndungen im eigenen Körper zu verorten sind; auch dafür muß der Raum bzw. »die Vorstellung des Raumes schon zum Grunde liegen« (A 23). Kopfschmerzen sind Sachverhalte, die »intra se« im Raum lokalisiert werden; die Verzweiflung jedoch erscheint nur im inneren Sinn. Auch hier ist das empfi ndende oder vorstellende Subjekt Tier oder Mensch und der Raum der Verortung etwa der Kopfschmerzen identisch mit dem aller anderen. Der »äußere Sinn« (A 22) ist somit kein »sensus communis« der äußeren Sinne, sondern gewissermaßen das Äußerlichkeitsorgan des Gemüts auch in allen Teilen des eigenen Körpers. Dies muß für Mensch und Tier gleichermaßen gelten. Raum und Zeit sind hier Formen der Sinnlichkeit, die dem selbst unräumlichen und zeitlosen Gemüt (A 22) eigentümlich sein sollen. Dieses der Sinnlichkeit entzogene, weil sie erst ermöglichende Gemüt ist nicht identisch mit dem Ich, das Kant in Ziffer 1 56 | kapitel I
nennt: »in einem anderen Orte des Raumes, als darinnen ich mich befinde« (A23). Dieses Ich ist wie das Selbst des Tieres körperlich im Raum lokalisiert; während das Gemüt die Räumlichkeit aller Körper, auch des eigenen, erst ermöglicht. Dasselbe gilt mutatis mutandis auch für vorstellungsfähige Tiere.75 Zweifellos will Kant selbst die Raumvorstellung in der KrV auf Menschen begrenzt wissen. »Wir können demnach nur aus dem Standpunkte eines Menschen, vom Raum, von ausgedehnten Wesen usw. reden. Gehen wir von der subjektiven Bedingung ab, unter welcher wir allein äußere Anschauung bekommen können, so wie wir nämlich von den Gegenständen affiziert werden mögen, so bedeutet die Vorstellung vom Raume gar nichts.« (A 26) Ist hier die Kantische Theorie zu korrigieren? Es beziehen sich die Ausführungen zunächst auf alle vorstellungsfähigen, mit äußeren Sinnen (und ergo auch »einem äußeren Sinn«) ausgestatteten Lebewesen: Die Raumvorstellung, die allen Verortungen immer schon zugrunde liegt, ist eine »Eigenschaft unseres Gemüts« (A 22), »unseres« aber gegen die Kantische Intention zu beziehen auf alle Lebewesen, die außer sich oder in sich, »intra se«, Verortungen vornehmen. »Wir können demnach nur aus dem Standpunkte eines Menschen vom Raum, von ausgedehnten Wesen usw. reden.« (A 26)76 Der Standpunkt ist auch der jedes anderen, Raumplätze vorstellenden animalischen Wesens, freilich ohne Redemöglichkeit. Die KrV ist kein anthropologischer Traktat, denn es ist gleichgültig, wie der verschiedentlich angesprochene Mensch biologisch ausgestattet ist, ob mit diesen oder jenen Sinnesorganen und Körperteilen. Eben das ist die Auffassung, die zur biologischen Indifferenz führt und konsequent den vorstellungsfähigen Tieren einen Spalt zur »Kritik« freigibt, wohl zum ersten Mal seit 1781. Bei der Heidegger-Rede von Patrick Unruh ziehen sich die Tiere allerdings schleunig zurück: »Die Entäußertheit meiner selbst in die Ortschaft als Grundlage äußerer Gegenständlichkeit […].«77 Da vorstellungsfähige Lebewesen zwischen rechts und links unterscheiden können, wird man die Bestimmungen, die Kant 1768, 1770 (II 403,1–10) und wieder 1783 in den Prolegomena (IV 285–286) als deren Voraussetzung geltend macht, auch auf Tiere beziehen müssen.78 Die Unterschiede zeigen sich im »Verhältniß körperlicher Dinge«, diese sind für den Menschen (sc. den Philosophen) probleme der »transzendentalen Ästhetik« | 57
die »ratio cognoscendi« des absoluten Raumes, der damit als »ratio essendi« der Unterschiede erkannt wird. Dieser Schluß ist den Tieren nicht möglich, wenn auch ihre Unterscheidungen diesen vom Philosophen erschlossenen Raum natürlich voraussetzen. Über einen inneren Sinn verfügen offenbar auch Tiere. Der Hund des Odysseus stirbt vor Freude und Rührung, als er seinen Herrn bei dessen Rückkehr nach Ithaka sieht und auf seine Weise erkennt. Die Assoziationsketten sind zeitlich geordnet; die Zeit aber kann für Kant auch bei Tieren nichts anderes sein als die Form ihres inneren Sinnes. Die Tiere müssen wie die Menschen in der Lage sein, gegen den einsinnigen Zeitfluß der Außen- und Binnenerscheinungen Einheiten zu stiften, die als solche im Gedächtnis lagern und abrufbar sind. Das Wiedererkennen des Herrn ist nur durch das Aufbewahren komplexer Vorstellungseinheiten möglich. Wir benötigen also unterhalb des Dinges an sich der Tierseele noch psychische synthetische Einheiten, die nicht im Fluß der Zeit wie die Töne einer Glocke für die Glocke verschwinden. Wie werden diese Einheiten gestiftet? Sie erheben natürlich keinen Anspruch von Objektivität und Erkenntnis, weder bei Tieren noch bei Menschen. Erkenntnisse mit dem Anspruch der Objektivität gibt es nur bezüglich der Gegenstände und Ereignisse in Raum und Zeit. Wenn unsere Überlegungen zutreffen, dann muß auch die Trennung von Materie und Form in der Erscheinung für alle vorstellungsfähigen Wesen gelten. Kant führt diese Trennung in der Einleitung der »Transzendentalen Ästhetik« (A 19–22) ein. Raum und Zeit seien Formen der Sinnlichkeit, während ihre Materie in Empfindungen bestehe. Die Trennung von Materie und Form in der Erscheinung und die Gewinnung der reinen Formen der Anschauung bedürfen keiner intellektuellen Handlung des Subjektes selbst.79 Nun handeln von der räumlichen Anschauungsform und der Empfindung auch die beiden ersten Grundsätze des reinen Verstandes, »Axiome der Anschauung« und »Antizipationen der Wahrnehmung«. Die Frage ist auch hier, ob sie allgemein die Lebewesen betreffen, die über die erforderlichen Merkmale der Sinnlichkeit verfügen, oder sich auf denkfähige Menschen beschränken, die über den Verstand verfügen, dem die »Grundsätze« entspringen. Bevor wir uns den beiden »Grundsätzen« mit dieser Fragestellung zuwenden, soll die Frage erörtert werden, ob nicht auch die 58 | kapitel I
Ziffer 1 der Zeitanalyse der »Transzendentalen Ästhetik« auf vorstellungsfähige Lebewesen allgemein anwendbar ist. Nur wenn die Vorstellung der Zeit a priori zugrunde liege, könne das Zugleichsein oder Aufeinanderfolgen von etwas wahrgenommen werden. Nun verfügen unsere Lebewesen nicht nur über Vorstellungen in einer Raumarena, in der es ein »extra me« und »extra se« gibt, sie sind auch befähigt, die Vorstellungen im Gedächtnis zu lagern und bei Gelegenheit mit einander und mit neuen Vorstellungen zu assoziieren. Das Assoziationsvermögen wird den Tieren von Aristoteles, Leibniz, Hume, Kant bis hin zu Darwin und Pawlow zugebilligt. Es bezieht sich u. a. auf Ereignisse in zeitlicher Nähe; auf das Glockenzeichen folgt assoziativ das Fressen. Wir begnügen uns mit diesem Hinweis; es lassen sich viele Beispiele anführen, die belegen, dass Tiere über die Zeitordnung des Zugleich und Nacheinander verfügen. Damit ist die Basis vorhanden, zu überlegen, ob nicht auch die »Antizipationen der Wahrnehmung« für alle vorstellungsfähigen Lebewesen gelten müssen. Zunächst jedoch zu den Axiomen der Raumanschauung. Zur empirischen Apprehension beliebiger Erscheinungen im Raum ist die Erzeugung der extensiven Größen nötig. »Ich kann mir keine Linie, so klein sie auch sei, vorstellen, ohne sie in Gedanken zu ziehen, d. h. von einem Punkte alle Teile nach und nach zu erzeugen, und dadurch allererst diese Anschauung zu verzeichnen.« (A 162–163) Das gilt z. B: für die Vorstellung bzw. Anschauung eines Hauses.80 Selbstverständlich ist die angeführte spontane Aktion nicht der freien Willkür unterworfen, sondern gehört auch beim Menschen in einen Naturprozeß. Der leitende Verstand ist, wiewohl spontan, ein Teil der Natur, und die Axiome der Anschauung und Antizipationen der Wahrnehmung müssten ihren Platz nicht nur in der KrV, sondern auch in einer Naturphilosophie, etwa der zu erweiternden KdU finden.81 Wenn es anschauungs- und vorstellungsfähige Tiere gibt, wie Kant annimmt, dann muß ihnen die Kompetenz der »Axiome der Anschauung« zugestanden werden. So wenig wie die Tiere, setzt der wahrnehmende Mensch die Handlungen der Einbildungskraft absichtlich in Gang, wenn er beliebige Phänomene in ihrer Extension apprehendiert bzw. erzeugt, so dass hier keine Zäsur zwischen Mensch und Tier möglich ist. Wenn es für Tiere gestalthafte Geprobleme der »transzendentalen Ästhetik« | 59
genstände im Raum gibt, was wohl kein vernünft iger Mensch leugnen wird, so müssen sie in ihrer Anschauung als extensive Größen von diesen zur Anschauung fähigen Lebewesen erzeugt werden. Bei einer angeschauten oder vorgestellten Linie sollen alle ihre Teile erzeugt werden – als Gerade oder als Kreis? Wo fällt die Entscheidung? Es scheinen nur zwei Instanzen in Frage zu kommen, die eine ist das die Lebewesen affizierende Mannigfaltige, das dann doch figürlich präformiert wäre, die andere ist der Begriff einer Geraden oder eines Kreises; er müßte der Einbildungskraft »in Gedanken« die Direktive geben. Die erste Variante bringt die gesamte Erkenntnistheorie zum Einsturz, weil damit das Ding an sich räumlich gedacht werden müsste. Während Mensch und Tier transzendentalphilosophisch glauben, den Kreis und die Gerade selbst zu erzeugen, sind sie in Wirklichkeit damit beschäft igt, als bloße Kopisten die Figuren der Dinge an sich verständnislos abzupausen. Im zweiten Fall scheiden die Tiere aus, wenn man ihnen wie Kant (überzeugend) keine Begriffe zugesteht. Nun bleibt es für Tiere als vorstellende Wesen jedoch ein nicht zu leugnendes Faktum, dass sie Gegenstände im Raum gemäß ihren unterschiedlichen Gestalten irgendwie unterscheiden. Bedarf es zu diesen Leistungen, dem Ziehen der Geraden oder des von ihr unterschiedenen Kreises, in der KrV einer synthetischen Einheit der Handlung? Wir brauchen auf jeden Fall den Akt der Erzeugung einer figürlichen Wahrnehmung. Wie können die Lebewesen figürlich geformte Gegenstände wahrnehmen und unterscheiden, wenn die bestimmten Formen weder aus dem affi zierenden Mannigfaltigen noch vom Subjekt der Anschauung nach eigener Direktive gewonnen werden können? Auch die »Antizipationen der Wahrnehmung« (A166–176; B 207–218) erlauben, so könnte man behaupten, keine Restriktion auf den Menschen, sondern handeln von allen empfi ndenden und wahrnehmenden Lebewesen. »Der Grundsatz, welcher alle Wahrnehmungen, als solche, antizipiert, heißt so: In allen Erscheinungen hat die Empfindung, und das Reale, welches ihr an den Gegenständen entspricht, (realitas phaenomenon) eine intensive Größe, d. i. einen Grad.«82 Wenn Kant dem Hund zugesteht, zwischen Brot und Braten zu »unterscheiden«, »weil er anders vom Braten, als vom Brote gerührt wird (denn verschiedene Dinge verursachen 60 | kapitel I
verschiedne Empfi ndungen) und die Empfi ndungen vom erstern [sind] ein Grund einer andern Begierde in ihm als die vom letztern […]« (II 60,4–7), dann sind Tiere vom Grundsatz der Antizipation der Empfindungen nicht auszuschließen. Wie also verfahren wir mit den Tieren? Können Sie einen Teilbereich der KrV in Besitz nehmen? Sie verfügen nach Kant über Vorstellungen, also für die Lebenspraxis differenzierte mentale Zustände und Vorgänge, und die angeführten mentalen Abläufe dürften sich bei Menschen von denen bestimmter Tiere nicht unterscheiden. Es ist nicht sinnvoll, Tiere mit dem Hinweis hinauszuwerfen, dass wir nicht wissen, wie die mentale Praxis in ihnen genau vor sich geht – das wissen wir auch bei uns selbst nicht, und dass die Anschauung und Wahrnehmung, die von Kant thematisiert ist, bei Mensch und Tier ein Teil der Naturlehre ist, dürfte kaum bestreitbar sein. Über die genauen Prozesse informiert sich die Wahrnehmungspsychologie; sie belehrt uns, dass unsere eigenen Meinungen zwar sehr praktikabel, aber grundfalsch sind. Warum sollte trotzdem apodiktisch gelten, dass Tiere in der KrV nichts zu suchen haben? Der Grenzzaun, der sie aus der KrV ausschließt, müßte die Fähigkeit nur des Menschen sein, sich dieser Zustände und Vorgänge oder Tätigkeiten bewusst werden zu können, d. h. sie zu thematisieren und als seine zu erkennen und zu rechtfertigen. Nur der Mensch erkennt seine Vorstellungen als seine und kann pathologische Halluzinationen als Grenzproblem thematisieren. Aber wir können die Vorstellungsfähigkeit nicht an die philosophische oder wissenschaft liche Fähigkeit dieser Thematisierung knüpfen. Und damit halten die Probleme Einzug, die wir zu benennen versuchten. Eine Lösung könnte darin liegen, dass die KrV in der Theorieebene der Transzendentalphilosophie angesiedelt ist und damit die Einbeziehung anderer vorstellungsfähiger Wesen als der Menschen von vornherein eine qualvolle Schiefheit mit sich bringt. Wir kämen zurück in die Psychologisierung, wie sie im 19. Jahrhundert betrieben wurde und die Intentionen Kants entstellte. Dann würden die angeführten Argumente purer Schein sein. Die KrV handelt nicht von natürlichen Prozessen, sondern von besonderen Begriffen. Kein nichtmenschliches Lebewesen, das wir kennen, ist zur Bildung von Begriffen befähigt. probleme der »transzendentalen Ästhetik« | 61
Eine ähnliche Zurückweisung läge darin, dass die KrV ein Rechtstraktat ist. Ziel ist die Legitimierung von Erkenntnisansprüchen.83 Kein nicht-menschliches Lebewesen ist dazu befähigt, einen epistemischen Rechtsanspruch zu erheben. Oder können wir diese beiden Gründe der Zurückweisung akzeptieren, uns jedoch weiterhin auf den materialen Grund beziehen, auf den sich die transzendentalphilosophischen Begriffe und die juridischen Ansprüche stützen müssen?
Anhang II: Zeit und Zahl Raum und Zeit – die Abfolge geschieht in der Stufung von außen nach innen, wie sie Kant schon in der Schätzung der lebendigen Kräfte84 und noch im Aufbau der Metaphysik der Sitten (äußeres Recht – innere Tugend) fünfzig Jahre später befolgt. In der Dissertation steht allerdings die Zeit vor dem Raum (II 398–406). In sachlicher Hinsicht könnte dafür sprechen, dass die subjektive Raumanschauung gemäß den Axiomen der Anschauung in der Zeit erzeugt wird, der Raum also die Zeit voraussetzt und nur als Zeitraum konzipierbar ist. Kant beteiligt sich nicht an der Spekulation einer vierten Dimension,85 liefert dazu jedoch neues Material. Die Zeit soll die Form des inneren Sinnes sein; wir erscheinen uns selbst in der Sequenz psychischer Phänomene, das nicht zeitlich vermittelte Gemüt oder Ich selbst dagegen kann kein Gegenstand des Erkennens oder Erlebens sein, sondern steht als denknotwendiges Ding an sich und reine Spontaneität »hinter« den inneren Affektionen und Erscheinungen.
Die Arithmetik Die Arithmetik soll wie die Geometrie auf einer Anschauung apriori beruhen, jetzt nicht des Raumes, sondern der Zeit. Daß 7+5 = 12 ist, beruhe auf einer nicht-begriffl ichen Notwendigkeit; nicht begriffl ich, weil die Negation nicht zu einem Widerspruch führe. Sie sei nicht diskursiv, sondern intuitiv und werde realisiert in den zeitlich geordneten Zählakten. Hier eine der bekannten Er62 | kapitel I
klärungen der Arithmetik: »Man sollte anfänglich zwar denken: daß der Satz 7+5 = 12 ein bloß analytischer Satz sei, der aus dem Begriffe einer Summe von Sieben und Fünf nach dem Satze des Widerspruchs erfolge. […] Man muß über diese Begriffe hinausgehen, indem man die Anschauung zu Hülfe nimmt, die einem von beiden korrespondiert, etwa seine fünf Finger oder […] fünf Punkte, und so nach und nach die Einheiten der in der Anschauung gegebenen Fünf zu dem Begriffe der Sieben hinzutut.« (B 15) Es wird die Raumanschauung, in der für uns die Zeit vorstellbar wird, zu Hilfe genommen, um eine intuitive Evidenz der Addition annehmen zu können. Das Parallelstück der Nichtwidersprüchlichkeit des Satzes 7+4 = 12 in der Geometrie ist die Nichtwidersprüchlichkeit des Begriffs eines zweiseitigen Dreiecks (II 404,20; A 220–221) oder eines Dekaeders (XX 414,7–4153).86 7+4 = 12: Läßt sich unterscheiden, ob reale Zählakte in der reinen irrtumsimmunen Anschauung der Zeit oder in einem empirischen Ereignisverlauf stattfinden? Fragen des Laien: Gibt es in der Arithmetik keine Null, weil ich sie durch keinen zeitkonformen Zählakt in der Zeit erzeugen kann? »Das reine Schema der Größe aber (quantitatis), als eines Begriffs des Verstandes, ist die Zahl, welche eine Vorstellung ist, die die sukzessive Addition von Einem zu Einem (gleichartigen) zusammenbefaßt. Also ist die Zahl nichts anderes, als die Einheit der Synthesis des Mannigfaltigen einer gleichartigen Anschauung überhaupt, dadurch, daß ich die Zeit selbst in der Apprehension der Anschauung erzeuge.« (A 142–143) Ist Kants Annahme zwingend? Die Zählakte können als unsere Lern- und Erwerbs- oder auch Anwendungsform genommen werden, die nichts über die Sache selbst präjudiziert. Die Zeit, das »nach und nach«, kann (und muß) nicht aus dem kindlichen Zählen, wohl aber aus den Zahlen selbst eliminiert werden, so wie die sukzessive Erzeugung der bestimmten Raumanschauung nicht zur Zeitlichkeit des Raumes oder auch der formalen Raumanschauung (B 160) führt; andernfalls hätte die Zeit, wie wir sahen, dem Raum in der »Transzendentalen Ästhetik« vorangehen müssen. Sollte das »nach und nach« konstitutiv sein für die Arithmetik, wäre die Subtraktion schon als widersprüchlich ausgeschlossen, da die Zeit sich nicht bequemt, auf Menschenwunsch oder Verstandesbefehl rückwärts zu gehen. Nehme ich von 12 Raumstücken 5 fort, probleme der »transzendentalen Ästhetik« | 63
so vollziehe ich eine Handlung, die außerhalb der Spielregeln der zeitlich-einsinnig geordneten Zählakte liegt. Für die Subtraktion bedarf ich eines negativen Urteils des Verstandes, das in keinem zeitlich geordneten Zählakt zu finden ist und daher ausgeschieden werden müsste. Einem ähnlichen Argument wie B 15–16 war Kant 1770 beim Satz vom ausgeschlossenen Widerspruch gefolgt; er formulierte ihn mit der Zeitbestimmung des »simul«: »A enim et non A non repugnant, nisi simul (h. e. tempore eodem) cogitata de eodem, post se autem (diversis temporibus) eidem competere possunt« (II 401,15–17, auch 406,1–2), wurde aber von Moses Mendelssohn auf den Fehler hingewiesen87 und entfernte 1781 die Zeitbestimmung des »zugleich« (A 152–153). Daß ich subjektiv die einander widersprechenden Sätze zugleich oder nacheinander denke, ist für den logischen Grundsatz gleichgültig, so wie es für die geometrischen Gebilde irrelevant ist, dass ich die Konstruktionshandlungen in der Zeit vornehme. Lässt sich dasselbe Argument, so unsere Frage, für die Arithmetik geltend machen? 7+5=12 ist so zeitlos wie der geometrische Satz des Pythagoras. Durch die innere Verknüpfung von Zeit und Zahl versucht Kant, die Arithmetik mit der erscheinenden Wirklichkeit zu verbinden. Unsere Frage: Kann man die Arithmetik nicht nur dann auf Objekte der Geometrie so wie auch rein intelligible Objekte problemlos anwenden, wenn man auf die Zeit in der Bestimmung der Arithmetik verzichtet? Würde damit aber jeder Grund fehlen, Geometrie und Arithmetik als Raum- resp. Zeitwissenschaften zu parallelisieren?
5. Was bleibt? Die »Transzendentale Ästhetik« bildet das unverzichtbare »Organon« (A 46) der KrV, sowohl der Analytik wie auch der Dialektik. Kant unterscheidet entgegen der gesamten Tradition zwischen Denken und Erkennen und zieht die Erkenntnisgrenze nach innen (Analytik) durch die Möglichkeit synthetischer Urteile a priori, nach außen (Dialektik) durch das Scheitern eines Denkens, das ohne Anschauung zu erkennen glaubt, dem jedoch sein Gegen64 | kapitel I
stand entgleitet. Die Möglichkeit synthetischer Urteile a priori soll durch die Verknüpfung reiner Begriffe mit der reinen Anschauung von Raum und Zeit bewiesen werden. Die beiden Erkenntnisstämme von Anschauung und Verstand entstammen jedoch keiner nachvollziehbaren Einheit, in der ihre Harmonie begründet wäre; besteht sie trotzdem? Wenn dies negiert würde, ließe sich eine zentrale Idee der KrV in der entwickelten Form nicht aufrechterhalten. Damit wäre jedoch die Grundidee Kants, dass die Welterkenntnis durch bloße Begriffe nicht zu erlangen und Denken und Erkennen zu unterscheiden sind, nicht widerlegt. Wie steht es mit der Unterscheidung von Ding an sich und Erscheinung? Wenn die »Transzendentale Ästhetik« an den von uns aufgezeigten Schwierigkeiten scheitert, dann fällt auch ihr Beweisziel, zwischen Ding an sich und Erscheinung zu unterscheiden. Kant führt jedoch diese Differenz erneut zu Beginn der KpV ein, denn die Lehre vom kategorischen Imperativ als einem Faktum der Vernunft beinhaltet eine Gesetzgebung, die nicht die der Natur, sondern der Freiheit ist. Bemerkenswert ist, dass sich dieser Teil der neuen kritischen Moralphilosophie genau an dem Systemort befindet, an dem in der KrV die »Transzendentale Ästhetik« steht.88
probleme der »transzendentalen Ästhetik« | 65
II. Kant versucht, das Böse zu retten – vergeblich?
Die empirische Wirklichkeit böser Taten und böser Menschen sei unbestritten; sie werde von allen Beobachtern menschlichen Verhaltens bestätigt und auch von den Handelnden selbst; ihr Gewissen sei ein untrüglicher Zeuge. Eine Voraussetzung des Bösen ist jedoch, dass der Handelnde frei in eigener Verantwortung handelt; aber Freiheit ist an die moralische Gesetzlichkeit gebunden und kann nicht gut die Freiheit zur Widergesetzlichkeit sein. Wie also ist böses Handeln möglich? In der KpV ist moralische Freiheit an das moralische Gesetz geknüpft und öff net für eine freie Widergesetzlichkeit so wenig Raum wie das Naturgesetz für Wunder. Wählt man statt des freien Willens die freie Willkür als Instanz der Wahl des Bösen, kommt man zu einer wenig befriedigenden Lösung zwischen Natur und Freiheit. Die intelligible Tat der Religionsschrift, in der sich das Subjekt auf die grundsätzliche Präferenz des Ungesetzlichen vor dem Gesetzlichen festlegt und damit eine Instanz der Verantwortung für das Böse schafft, ist ihrerseits weder gesetzlich frei noch begründet, sie kann jedoch in der Kantischen Konzeption als Lösung angesehen werden. In dieser Konzeption gilt grundsätzlich, dass man vom »ought« zum »is« überschreiten kann. Die intelligible Tat erhält deswegen objektive praktische Realität, weil nur dadurch Moral und Freiheit konsistent denkbar sind. Ein hoher Preis, den der Kantianer hier zu zahlen hat.
Kurze Vorgeschichte des Bösen Das Böse und der Böse haben eine dramatische Real- und Gedankengeschichte, deren Darstellung Bände um Bände füllen würde, ein Weltregister. Ganz kurz: Zeus, Poseidon und Hades regierten getrennt im Himmel, im Meer und in der Unterwelt, die Erde beherrschten sie gemeinsam; einen Ort der Bösen oder gar des Bösen gab es nicht. Erst mit dem Christentum trennte sich in Europa das | 67
moralische Böse vom allgemeinen Übel und begann seine Laufbahn im Rückgriff auf testamentarische und hellenistische Texte. Eine der christlichen Vorformen ist die Lehre von der Erbsünde; sie ist die durch den Sündenfall der ersten Menschen, Adam und Eva, (»peccatum originale originans«) bewirkte Sündhaft igkeit des Menschengeschlechts (»peccatum originale originatum«). Der Mensch ist böse von Anbeginn. Die mittelalterliche und frühneuzeitliche Malerei, aber auch Dantes Divina commedia zeigen eindrucksvoll die Aussicht auf das Paradies der Guten und die Hölle der Bösen; die wahrhaft Bösen werden auch von Christus, dem Erlöser, nicht erlöst werden, sondern sind in alle Ewigkeit zur Peinigung verdammt. Das Gute, Gott und die Guten sind oben im Licht, das Böse und der Böse und die Bösen sind unten in der Finsternis, die einen himmlisch schön, die anderen urhässlich. Mit der Überzeugung, dass das Oben und Unten und Schöne und Hässliche so vielleicht nicht stimmen könnte, schwand allmählich die anschauliche Grundlage für den Vatergott oben und den Teufel unten, das wunderbare Halleluja und das schreckensvolle Höllenfeuer. Shakespeare stellt mit Richard III. und Jago radikal böse Menschen auf die Bühne, die aus dem desolaten »I am myself alone«, »I am I« (oder »I and I«), also aus einem leeren absoluten Ich handeln, mit einer bindungslosen Lust an der Zerstörung,89 schon jenseits von Himmel und Hölle in ihrem sich zerstörenden »Ich«. Mit der wachsenden Aufk lärung entfernte sich besonders der Teufel aus dem Weltbild und überlebte allenfalls als Mephisto und im Bühnenfinale von Don Giovanni. Und das Böse? Wie steht es mit dem Bösen bei Kant? Gelingt es Kant, das Böse und die Bösen, wenn schon nicht den Bösen vor der modernen Zerrüttung zu retten? Platon leugnet, dass es ein moralisch schlechtes Handeln trotz besserer Einsicht und Erkenntnis geben kann; wer das Gute wirklich erkennt, handelt gut. Kant dagegen interessiert nicht die Erkenntnis, sondern der freie Wille. Der freie Wille und sein Gesetz sind nach ihm die Grundlage nicht nur des Guten, sondern auch des Bösen. Aber wie soll das angehen?
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1. »Die Wirklichkeit des Moralisch-Bösen in der Welt«90 Eine Vorbemerkung: In der Kantischen Problementwicklung lassen sich klar drei Muster in drei Phasen erkennen. Am Anfang steht die rationalistische Vorstellung, gemäß der das Gute eine ontologische »perfectio« und das Böse eine Einschränkung des Guten und des Seins ist. Die Theodizee hat die Aufgabe, Gott angesichts des Defizits in seiner Schöpfung zu rechtfertigen. Sodann folgt zweitens die kurze Phase, in der Kant den moral-sense-Philosophen folgt; vom Guten und Bösen gibt es nur einen Reflex im menschlichen Gefühl. In der dritten Phase folgt auf Verstand und Gefühl der Wille. In der Ordnung, die retrospektiv in der KdU von 1790 entwickelt wird, gehört zu jedem der drei Vermögen eine entsprechende Kritik: Kritik des reinen Verstandes 1781; Kritik des Gefühls 1790; Kritik der praktischen Vernunft bzw. des Willens 1788. Die »Analytik« der KpV durchläuft diese drei Möglichkeiten, indem sie vom Willensgesetz ausgeht, den Begriff des Guten und Bösen folgen läßt und mit dem Gefühl der Achtung abschließt. In keiner Phase seiner moralischen Überlegungen hat Kant an der Wirklichkeit des bösen Handelns und des bösen Charakters von Menschen gezweifelt, und auch nicht daran, dass dieses Urteil in der allgemeinen Menschenvernunft verankert ist. In der Anthropologie (1798) heißt es: »Da aber doch auch die Erfahrung zeigt: daß in ihm [dem Menschen, RB] ein Hang zur thätigen Begehrung des Unerlaubten, ob er gleich weiß, daß es unerlaubt sei, d. i. zum Bösen, sei, der sich so unausbleiblich und so früh regt, als der Mensch nur von seiner Freiheit Gebrauch zu machen anhebt, und darum als angeboren betrachtet werden kann: so ist der Mensch seinem sensibelen Charakter nach auch als (von Natur) böse zu beurtheilen, […].« (VII 324,24–29) In der »Kritischen Beleuchtung der Analytik der reinen praktischen Vernunft« gibt es einen drastischen Anwendungsfall in Form eines empirisch erkennbaren Bösewichts. Wir beziehen, heißt es dort, Handlungen auf das intelligible Substrat in uns. »In dieser Rücksicht, die unserer Vernunft natürlich, obgleich unerklärlich ist, lassen sich auch Beurtheilungen rechtfertigen, die, mit aller Gewissenhaft igkeit gefällt, dennoch dem ersten Anscheine nach aller Billigkeit ganz zu widerstreiten scheinen. Es giebt Fälle, wo Menschen von Kindkant versucht, das böse zu retten – vergeblich? | 69
heit auf, selbst unter einer Erziehung, die mit der ihrigen zugleich andern ersprießlich war, dennoch so frühe Bosheit zeigen und so bis in ihre Mannesjahre zu steigen fortfahren, daß man sie für geborne Bösewichter und gänzlich, was die Denkungsart betrifft, für unbesserlich hält, […].« Gleichwohl rechne man ihnen ihre Verbrechen als Schuld zu; denn die üblen Handlungen sind »die Folge der freiwillig angenommenen bösen und unwandelbaren Grundsätze […].« (V 99,30–100,13)91 Daß ein dermaßen stigmatisiertes Kind am Ende alle bösen Erwartungen erfüllt und übertrifft, versteht sich von selbst. »Freiwillig angenommenen bösen und unwandelbaren Grundsätze« – warum nur? Einfach so? Und um was für eine Freiheit soll es sich handeln? Die Wirklichkeit des Bösen, des Hanges, die Abweichung vom moralischen Gesetz in die Maximen aufzunehmen, werde in der gesamten Menschengeschichte dokumentiert. »Daß nun ein solcher verderbter Hang im Menschen gewurzelt sein müsse, darüber können wir uns bei der Menge schreiender Beispiele, welche uns die Erfahrung an den Thaten der Menschen vor Augen stellt, den förmlichen Beweis ersparen.« (VI 32,34–33,2) Sowohl im viel gelobten Naturzustand wie auch in zivilisierten Völkern aller Zeiten und Länder lasse sich das häufig völlig motivlose grausame, böse Handeln beobachten und belegen. Shakespeare, den Kant nicht nennt, war sicher derselben Meinung. Radikal böse Handlungen und Gesinnungen finden sich nicht nur bei den bekannten Schauergestalten auf der Bühne der Geschichte, sondern in allen Winkeln des banalen Alltags. Das Böse läßt sich nicht nur bei anderen beobachten, sondern wird untrüglich vom eigenen Gewissen der Akteure schmerzhaft vermerkt. Es reagiert nicht auf unkluges Handeln, sondern zeigt das Unmoralische an. Das »forum internum« tagt auch dann, wenn sich kein äußerer Beobachter fi ndet (vgl. VI 400,22–401,21).
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2. Die Möglichkeit des freien bösen Handelns »Der Begriff der Freyheit verliert alle Würde, alle Erhabenheit für mich, so bald er ein Vermögen, auch Böses zu wählen, ausdrücken soll.« 92
Alle reden vom Wetter, vom Bösen, vom Schicksal und vom Glück. »Es gibt indessen auch usurpierte Begriffe, wie etwa Glück, Schicksal, die zwar mit fast allgemeiner Nachsicht herumlaufen, aber doch bisweilen durch die Frage: quid juris, in Anspruch genommen werden, da man alsdann wegen der Deduktion derselben in nicht geringe Verlegenheit gerät, indem man keinen deutlichen Rechtsgrund weder aus der Erfahrung, noch der Vernunft anführen kann, dadurch die Befugnis seines Gebrauchs deutlich würde.« (A 84–85) Ist der Mensch befähigt, böse aus Freiheit zu handeln, oder ist die Rede vom Bösen metaphysisch umwölkt und in unserer postmetaphysischen Zeit obsolet geworden? Alle sprachen vom Bösen, aber wir sind belehrt durch Freud und Marx und durchschauen das Gemeinte als Pathologie des menschlichen bedingten Bewusstseins. Gelingt Kant die Deduktion des Bösen aus Freiheit? Wir wenden uns zuerst dem Begriff des Bösen im Zweiten Hauptstück der KpV (V 57–71) zu. Dort erscheint er im Titel der »Tafel der Kategorien der Freiheit in Ansehung der Begriffe des Guten und Bösen«, in der Tafel selbst kommt allerdings weder das Gute noch das Böse vor, daher rührt vielleicht im Titel die Wendung »in Ansehung«. Gut und böse sind rein moralische Prädikate, die im nicht-moralischen Handeln etwa unter hypothetischen Imperativen keine Anwendung haben. Wir können uns also auf den Teil der Tafel konzentrieren, der eindeutig nur moralisch ist. Die Argumentation ist kompliziert,93 aber wir müssen bestimmten Begriffswindungen folgen, um die Theorie freizulegen. Das Zweite Hauptstück der »Analytik der praktischen Vernunft« versucht zu zeigen, dass nicht die Vorstellung des Guten den sittlichen Willen bestimmt, sondern umgekehrt das Sittengesetz den Willen und dessen Gegenstand, das Gute. Nun fügt Kant im Text diesem Gegenstand (Singular im Titel) überraschend »sein Gegentheil« hinzu (V 57,21). Es fällt schwer, das Gegenteil eines Gegenstandes zu denken. kant versucht, das böse zu retten – vergeblich? | 71
In der KpV geht Kant also über zu einer Zweiheit von moralischen Gegenständen und bestimmt sie so: »Die alleinigen Objekte einer [sc. reinen, RB]94 praktischen Vernunft sind also die vom Guten und Bösen. Denn durch das erstere versteht man einen nothwendigen Gegenstand des Begehrungs-, durch das zweite des Verabscheuungsvermögens, beides aber nach einem Princip der Vernunft.« (V 58,6–9) Und kurz darauf: »Was wir gut nennen sollen, muß in jedes vernünft igen Menschen Urtheil ein Gegenstand des Begehrungsvermögens sein, und das Böse in den Augen von jedermann ein Gegenstand des Abscheues; […].« (V 60,37–61,2) Begehren und Verabscheuen, dieser anthropologische oder gar animalische Kontrast ist Kant vorgegeben im Zusammenhang der Erörterung des Guten und Bösen. In der unpaginierten »Vorrede« der Grundsätze des Natur- und Völckerrechts, die zwar erst 1754 publiziert, aber am 4. September 1749 von ihm unterschrieben wurde, schreibt Christian Wolff: »Da aber der Mensch vermöge der Natur überhaupt bestimmet ist das Gute zu begehren und das Böse zu verabscheuen; so ist die innere Güte ein Bewegungsgrund gewisse Handlungen auszuüben, und die innere Häßlichkeit ein Bewegungsgrund gewisse Handlungen zu unterlaßen. Daraus erzeuget sich nun die natürliche Verbindlichkeit; und die Lenckung der Handlungen, wovon ich geredet habe, nimmt die Gestalt eines Gesetzes an, so von der Natur selbst gegeben worden.« »Des Menschen Vermögen zu begehren ist überhaupt bestimmt, das Gute zu begehren; und das Vermögen zu verabscheuen, das Böse zu verabscheuen.«95 Man sieht: Christian Wolff setzt etwas objektiv als gut oder böse Erkennbares voraus und bezieht das sittliche Begehrungsund Verabscheuungsvermögen auf diese Vorgaben. Kant repetiert sicher nicht die Wolffsche ontologische Ordnung, sondern nimmt zunächst eine subjektivistische Wende vor: Wir begehren nicht das Gute als solches, sondern umgekehrt: das Begehren macht erst, dass sein Objekt gut ist. Wir verabscheuen nicht das Üble bzw. Böse, sondern umgekehrt: das Objekt des Abscheus ist übel bzw. böse – so die Vorstellung der antiken Sensualisten und z. B. von Hobbes und Locke.96 Die Geltungsdifferenz von Gut und Schlecht wird in diesem Modell durch die subjektive Attraktion oder Repulsion kreiert (oder das eigene Denken: »There is nothing either good 72 | kapitel II
or bad, but thinking makes it so«, sagt Hamlet), es gibt sie nicht als solche in der vorgegebenen Gegenstandswelt unseres Erkennens oder Wollens. Diese subjektivistische Auffassung der moralischen Werturteile ist gut verständlich, sie wird seit Platon immer wieder diskutiert.97 Kant verbindet nun mit der Destruktion eines dem Willen vorgegebenen, objektiv erkennbaren Guten und Bösen (V 58) und ihrer Subjektivierung eine neue Wende der Bestimmung von Gut und Böse derart, dass beides nicht von unserer subjektiven Attraktion (Lust) und Repulsion (Unlust) bestimmt ist, sondern einer gesetzlichen Fixierung durch das Grundgesetz der Freiheit des Willens unterliegt: Wenn die Wertbestimmung im Bereich der bloß subjektiven Attraktion und Repulsion verbleibt, ist sie nicht, wie Kant verschiedentlich in Übereinstimmung mit der Ästhetik der KdU sagt, allgemein mitteilbar98 und damit so wenig allgemein verbindlich wie die Prädikate des Angenehmen und Unangenehmen. Erst der Primat des Gesetzes und die Unterwerfung der Werte Gut und Böse unter das Sittengesetz stiftet eine neue Objektivität und die Möglichkeit, gute und böse Objekte eines notwendigen und damit allgemein-vernünft igen Begehrens und Verabscheuens festzulegen.99 Die verbindliche, objektive Wertdifferenz von Gut und Böse soll also die Folge der gesetzlichen Bestimmung unseres subjektiven, freien Willens oder der reinen praktischen Vernunft sein, sie führe zu dem, »was an sich gut oder böse ist« (V 62,4; auch 8).100 Dies ist der Balanceakt, an dem Gut und Böse hängen: Die Subjektivierung durch die Abhängigmachung der moralischen Werte von unserem Vermögen des Begehrens und Verabscheuens, und zweitens die erneute Objektivierung durch die reine praktische Vernunft, die unsere Willkür bzw. Handlung bestimmt und damit das Gute und Böse als allgemein und notwendig nicht nur in der Beurteilung, sondern im Handeln selbst ermöglichen soll. Gelingt dieses höchst artifizielle Unternehmen? Sieht man einmal von der genauen Bestimmung und Funktion der Kategorien der Freiheit ab, so wird man an Kants Aussage anknüpfen können, »daß sie [die Kategorien, RB] in ihrer Ordnung von den moralisch noch unbestimmten und sinnlich bedingten zu denen, die, sinnlich unbedingt, blos durchs moralische Gesetz kant versucht, das böse zu retten – vergeblich? | 73
bestimmt sind, fortgehen.« (V 66,13–15) Zuvor ist die Rede von »der Einheit des Bewußtseins einer im moralischen Gesetze gebietenden praktischen Vernunft oder eines reinen Willens« (V 65,24–26), oder davon, dass »das Princip der Sittlichkeit ein reines, a priori den Willen bestimmendes Gesetz sei« (V 63,5–6); oder: »Nur ein formales Gesetz, d. i. ein solches, welches der Vernunft nichts weiter als die Form ihrer allgemeinen Gesetzgebung zur obersten Bedingung der Maximen vorschreibt, kann a priori ein Bestimmungsgrund der praktischen Vernunft sein.« (V 64,22–25) Diejenigen Kategorien also, die »blos durchs moralische Gesetz bestimmt sind«, sind für uns bei der Suche nach der Möglichkeit des Bösen einschlägig. Wir müssen weiter hinzunehmen, dass sich das moralische, rein formale Gesetz in Geboten und Verboten ausspricht, das letztere etwa als Lügen- oder Selbstmordverbot. Und wir können an die obige Dichotomie von Begehren und Verabscheuen anknüpfen und folgern, dass die Gegenstände des Gebots unter der formalen Bestimmung des Freiheitsgesetzes begehrt, die Gegenstände des Verbots dagegen verabscheut werden sollen. Wenden wir uns der Tafel selbst zu, so fi nden wir, dass sich die ersten drei Kategorien auf das Mannigfaltige des Begehrungsvermögens überhaupt beziehen; erst die Modalität hat entsprechend der Urteils- und Kategorientafel der KrV keinen Inhalt mehr, sondern subsumiert diesen unter das moralische Gesetz in seiner zweifachen Gestalt des Gebots und Verbots. Es ist damit das (moralisch) Erlaubte ein Objekt des Begehrens, das Unerlaubte dagegen ein Objekt des Verabscheuens; die Pflicht zu erfüllen wird unter dem Gesetz der Sittlichkeit begehrt, das Pflichtwidrige verabscheut. Damit ist jedoch eine durchgängige Bestimmung der Maximen »in Ansehung« des Begriffs des Guten möglich und notwendig, das Böse kommt nicht vor, es sei denn, es werde dem Guten als verabscheuungswürdig subsumiert. Es kann als selbständiger, dem Guten gleichgeordneter Begriff in der kategorialen Freiheitsordnung so wenig erscheinen wie das Nichtseiende »in Ansehung« der kategorialen Bestimmung des Mannigfaltigen unserer Erscheinungen – was nicht ist, ist kein Gegenstand der Erfahrung, und so kann auch nur das Gute aus der gesetzlich bestimmten Freiheit resultieren, nicht das Böse. 74 | kapitel II
Natur und Freiheit bilden eine vollständige Disjunktion, für das Böse könnte sich ein Platz nur in ausgedachten Intermundien finden, jedoch nicht in der theoretischen oder praktischen, der phänomenalen oder noumenalen Realität. Entsprechend wird zwar im dritten Hauptstück der KpV, »Von den Triebfedern der reinen praktischen Vernunft« (V 71,27), im Titel von Triebfedern im Plural gesprochen, aber dann folgt der Singular aus guten Gründen: »Achtung fürs moralische Gesetz ist also die einzige und zugleich unbezweifelte moralische Triebfeder, so wie dieses Gefühl auch auf kein Object anders, als lediglich aus diesem Grunde gerichtet ist.« (V 78,20–22) Diese eine Triebfeder der Achtung erwächst unmittelbar aus dem Bewusstsein des Freiheitsgesetzes, das sich in seinen Tugendgeboten äußert (V 83,3 ff.). Wir ergänzen: Die Tugendgebote äußern sich in Form von Geboten und Verboten, das Bewusstsein des moralischen Gesetzes führt entsprechend unmittelbar zum Pfl ichtgefühl und zum gefühlten Abscheu vor dem, was der Pfl icht zuwider läuft (s. bes. VI 320,35–322,39).101 Aber es gibt keine durch die reine praktische Vernunft bewirkte Triebfeder der Missachtung des moralischen Gesetzes. Kants Problemfrage, wie eine Kausalität aus Freiheit zu denken ist, bezieht sich nur auf die Kausalität des moralischen Gesetzes, nicht auf die Kausalität des Illegalen – aus einer gesetzlich bestimmten Freiheit kann das Böse nicht entspringen, und aus einer ungesetzlichen auch nicht, denn es gibt sie nicht. Läßt sich das Böse als Gegenstand des menschlichen reinen und ergo freien Willens bei Kant retten? Die sorgfältigen Untersuchungen besonders von Bobzien und Graband führen zuerst die beiden Begriffe des Guten und Bösen in ihrer Untersuchung mit, streifen sie dann aber ab und kommen auf das Problem des Bösen als ein Erzeugnis der Kausalität aus gesetzlicher Freiheit nicht zurück. Georg Geismann schreibt, als böse könne eine Tat »nur qualifiziert werden, wenn man ihren Begriff auf die transzendentale Idee der Freiheit gründet.«102 Die transzendentale Idee der Freiheit in der KrV ist nicht zu positiver Realität erhoben durch das moralische Gesetz.103 Aber die böse Tat widerspricht der positiven moralischen Idee der Freiheit – das ist das Problem. Wir benötigen die moralische, gesetzliche Freiheit, und eben diese schließt eine Bestimmung zum Bösen aus und braucht sie. kant versucht, das böse zu retten – vergeblich? | 75
A propos KrV. Geismann ist mit vielen anderen Autoren der Meinung, dass sich die moralische Lehre von 1781 nicht unterscheide von der der KpV. Ein dabei übersehener Unterschied kann rasch gezeigt werden. In der KrV spricht Kant von der transzendentalen Möglichkeit der praktischen Freiheit mit Verweis auf die spontane Verursachung etwa der Handlung, vom Stuhl aufzustehen (A 450). Diese noumenale Spontaneität, die als solche (nicht in der phänomenalen Darstellung) der Naturgesetzlichkeit enthoben sein soll, wird mit Gottes freier Schöpfung verglichen, die selbstredend keiner noumenalen Gesetzlichkeit unterliegt. Beides ist auf der Reflexionsstufe der KpV unmöglich, weil es 1788 keine spontane Einzelursache mehr gibt, sondern einzig das Gesetz der Freiheit. Weder Gottes Schöpfung noch mein Akt, auf dem Stuhl sitzen zu bleiben oder aufzustehen, ist hier von Interesse, es sei denn, die Handlung sei das Resultat meines moral-gesetzlich bestimmten freien Willens. Wenn dies nicht der Fall ist, fällt meine Handlung auf die Naturseite, wie spontan sie mir auch zu sein dünkt. Erst 1788 stehen sich zwei Formen der Gesetzlichkeit gegenüber, die der Natur und der Freiheit, und in diesem neuen Theoriegerüst stellt sich die Frage, ob die von Kant behauptete Möglichkeit der freien bösen Handlung wirklich in seiner Theorie fundiert ist. Die gesetzlich bestimmte Freiheit ist die des »mundus intelligibilis«; aus ihr muß gehandelt werden, wenn die Handlung frei und somit imputabel ist; also kann man zwar von einer bösen Handlung reden wie von Glück und Schicksal, aber sie nicht denken oder gar realisieren, weil der Begriff widersprüchlich ist. Die Momente der Kategorientafel werden nicht widersprüchlich, denn das Ungesetzliche ist ja als Gegenstand eines Verbots zu registrieren, und dem Verbot können wir aus Freiheit folgen. So wenig wie sich Wunder in der Natur ereignen können, so wenig gibt es böses Handeln unter der Bedingung der Freiheit. Unser vorläufiges Resümee: Kant spricht zwar noch vom Bösen und markiert seinen Ort, aber er deduziert es nicht als wirklich möglich, wenigstens nicht in der KpV.
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3. Willkür und Wille Kant hat geschwankt, ob er die subjektive Willkürfreiheit zu dem Vermögen machen soll, das sich für oder gegen den freien gesetzlichen Willen entscheidet und das eine oder das andere wählt. Hiermit wäre der theoretische Ort benannt, an dem sich der Mensch in freier Verantwortung für das Gute oder das Böse entscheidet. »Die Freyheit der Willkühr in Ansehung der Handlungen des Menschen als Phänomenon besteht allerdings in dem Vermögen, unter zwey entgegengesetzten (der gesetzmäßigen und gesetzwidrigen) zu wählen und nach dieser betrachtet sich der Mensch selbst als Phänomen. – Der Mensch als Noumen ist sich selbst so wohl theoretisch als praktisch gesetzgebend für die Objecte der Willkühr und so fern frey aber ohne Wahl.« (XXIII 248,29–34) Weil der Wille im Gegensatz zur Willkür das Gesetz selbst ist, ist er Gesetzgeber der Willkür. »Eben darum ist er auch in allen Menschen Gut und es giebt kein gesetzwiedriges Wollen.« (XXIII 248,8–9) Eben dies führt zu dem Resultat, dass der freie Wille nicht der Ursprung des Bösen sein kann. Die »Einleitung der Metaphysischen Anfangsgründe der Rechtslehre« wendet sich jedoch ausdrücklich gegen diese Auffassung. »Die Freiheit der Willkür aber kann nicht durch das Vermögen der Wahl, für oder wider das Gesetz zu handeln, (libertas indifferentiae) definirt werden – wie es wohl einige104 versucht haben, – obzwar die Willkür als Phänomen davon in der Erfahrung häufige Bespiele giebt.« (VI 226,12–16) Wie es also zur freien Annahme von Maximen, die dem Gesetz widersprechen, kommen kann, ist rätselhaft – dass dies permanent geschieht, zeigt die Erfahrung. Damit diese Handlungen imputabel sind, müssen sie frei sein. »Eine jede Übertretung des Gesetzes kann und muß nicht anders als so erklärt werden, daß sie aus einer Maxime des Verbrechers (sich eine solche Unthat zur Regel zu machen) entspringe; denn wenn man sie von einem sinnlichen Antriebe ableitete, so wäre sie nicht von ihm, als einem freien Wesen, begangen und könnte ihm nicht zugerechnet werden; wie es aber dem Subject möglich ist, solche Maxime wider das klare Verbot der gesetzgebenden Vernunft zu fassen, läßt sich schlechterdings nicht erklären; […].« (VI 321,27–33) kant versucht, das böse zu retten – vergeblich? | 77
Die subjektive Willkür ist in ihrer Maximenbildung frei, sie kann sich wie Herkules für die Neigungen oder für die Sittlichkeit entscheiden. Wie es aber zu dieser oder jener Entscheidung kommt, bleibt eine »unbegreifl iche Eigenschaft der Freiheit« (VI 380,36). Diese Freiheit ist nicht mehr die Freiheit des Willens im »mundus intelligibilis«, sondern die der subjektiven Willkür, die der Dichotomie der beiden Welten entzogen ist. So gibt es zwei Pole; einmal die eigene Gesetzgebung des freien Willens bzw. der reinen praktischen Vernunft, zum anderen die freie Willkür des Subjekts, für oder gegen die gesetzliche Freiheit zu agieren.105 Damit wäre es möglich, das Unerlaubte und Pfl ichtwidrige frei zu begehren und die Pfl icht und das Erlaubte frei zu verabscheuen, also etwas Böses zu tun und zu verantworten. 1788 hatte Kant von freiwillig angenommenen bösen und unwandelbaren Grundsätzen gesprochen (V 99,37–100,14). Der Verbrecher bestimmt seine Maxime, sich der Gesetzgebung des freien Willens entgegen zu stellen, freiwillig, aus freier, wiewohl unerklärbarer Willkür, nicht aus freiem gesetzlichem Willen. Aber was heißt »freiwillig«? Anfang der siebziger Jahre hatte Kant die Spaltung in theoretische Spontaneität (der »Analytik« der KrV) und praktische Freiheit (in der intelligiblen Welt) noch nicht vollzogen. Ich setze den Text der Mitschrift einer vorkritischen Anthropologie-Vorlesung hierher.106 »Der erste Gedanke der bey dem Menschen, bey dem Gebrauch seines innern Sinnes entstehet, ist das Ich. Es ist merkwürdig, daß wir uns unter dem Ich so viel vorstellen, denn bey Zergliederung deßelben finden wir, daß wir uns unter demselben folgende Stücke dencken. I.) Die Einfachheit der Seele, denn das Ich drückt nur den Singularem aus, denn wenn die Seele zusammengesezt wäre, und ein jeder Theil den Gedanken haben möchte, so müßte es heißen Wir denken. II.) Die Substantialitaet der Seele, d. i. daß das Ich kein Praedicat von einem andern Dinge sey, ob ihm gleich als dem Subject, viel Praedicate beygelegt werden können. Denn Z. E.: wenn ich sage: ›ich will das, ich denke das‹ so sondre ich doch alle diese Praedicate von dem Ich ab, und betrachte mich als das Subject von dem alles dieses praedicirt wird. III.) Eine vernünft ige Substantz […] so reflectire ich über die Vermögen, die in der Seele liegen. IV.) Die Freyheit der Seele. Wenn ich das 78 | kapitel II
Ich dencke: so sondre ich mich von allem andern ab, und dencke mich unabhängig von allen äußern Dingen. Eben dieses nun, daß man, wenn man das Ich nennt, sich gleichsam zum MittelPunkt oder StandPunkt aller Dinge macht, worauf alles seine Beziehung hat, […].« (XXV 244,22–245,16) Man sieht: Hier haben wir die psychologische Freiheit pur, die mit Gesetzlichkeit nichts zu tun hat. Aber hier erfahren wir auch nichts über die Möglichkeit des Bösen. Die von Kant in den neunziger Jahren verfestigte Auffassung hat den Mangel, dass die Willkür eine Hilfskonstruktion ist, die in den zwei Welten von Natur und Freiheit keinen Ort hat. Kant benutzt sie, aber er liefert für seine Thesen kein Fundament.107 Im ZweiWeltensystem der Transzendentalen Kosmologie, das der KpV als Grund diente, ist die Willkür ein exterritoriales Gebilde, denn sie kommt aus einer anderen Sparte der »metaphysica specialis«, der Psychologie. Also: Kant benutzt einen Freiheitsbegriff, der in der dualen Weltordnung nicht lokalisierbar ist, er benötigt und benutzt und verbietet ihn, um eine Entscheidung für oder gegen das moralische Gesetz des »mundus intelligibilis« zu rekonstruieren, aber auch für andere Bereiche, in denen der Freiheitsbegriff unabhängig vom Moralgesetz benutzt wird, so bei den hypothetischen Imperativen. In der KdU teilt Kant die hypothetischen Imperative der theoretischen Philosophie zu, also dem Gebiet der Naturgesetze, nicht mehr der Freiheitsgesetze (V 171–173). »Alle technisch-praktischen Regeln (d. i. die der Kunst und Geschicklichkeit überhaupt, oder auch der Klugheit, als einer Geschicklichkeit auf Menschen und ihren Willen Einfluß zu haben), so fern ihre Principien auf Begriffen beruhen [und damit den Tieren nicht zugänglich sind, RB], müssen nur als Corollarien zur theoretischen Philosophie gezählt werden.« (V 172,23–27) Kant ist partout nicht bereit, bei dieser Gelegenheit zu sagen, dass der Begriff der Regel (im Gegensatz zum moralischen Gesetz) natürlich eine Freiheit sui generis voraussetzt, ihr zu folgen oder nicht, vulgo die Willkürfreiheit, die mit der moralischen nicht identisch ist und deren Verhältnis zur letzteren man gern erfahren möchte. Unterstellt man sie nicht in dieser und in anderen Passagen, gerät man in größte Turbulenzen. Wir benötigen sie auch in der Erklärung des Zweckbegriffs, der so bestimmt wird: Zweck kant versucht, das böse zu retten – vergeblich? | 79
sei »der Gegenstand eines Begriffs, sofern dieser als die Ursache von jenem (der reale Grund seiner Möglichkeit) angesehen wird« (V 220,1–3); die »vorgestellte Wirkung, deren Vorstellung zugleich der Bestimmungsgrund der verständigen wirkenden Ursache zu ihrer Hervorbringung ist, heißt Zweck.« (V 426,7–9) Verständig heißt: Begriffe und damit Alternativen vorzustellen und frei zum Bestimmungsgrund zu wählen. Als letzter Zweck der Natur ist der Mensch befähigt, »sich selbst überhaupt Zwecke zu setzen und (unabhängig von der Natur in seiner Zweckbestimmung) die Natur den Maximen seiner freien Zwecke überhaupt angemessen als Mittel zu gebrauchen […]. Die Hervorbringung der Tauglichkeit eines vernünft igen Wesens108 zu beliebigen Zwecke überhaupt (folglich in seiner Freiheit) ist die Cultur.« (V 431,24–30). Also in freier Willkür außerhalb der Frage von Moral und freiem Willen, gewissermaßen als deren »Vorschein«109. Zweck sei, so heißt es in der Tugendlehre, »ein Gegenstand der freien Willkür, dessen Vorstellung diese zu einer Handlung bestimmt (wodurch jener hervorgebracht wird).« (VI 384,33–34) Es gibt technische und pragmatische Zwecke und am Ende einen Zweck, der zugleich Pflicht ist. »Hier ist also nicht von Zwecken, die der Mensch sich nach sinnlichen Antrieben seiner Natur macht, sondern von Gegenständen der freien Willkür unter ihren Gesetzen die Rede, welche er sich zum Zweck machen soll. Man kann jene die technische (subjective), eigentlich pragmatische, die Regel der Klugheit in der Wahl seiner Zwecke enthaltende: diese aber muß man die moralische (objective) Zwecklehre nennen; […].« (VI 385,19–24) Wir setzen uns selbst die technischen und pragmatischen Zwecke nach subjektiven Regeln, man würde meinen: aus freier Willkür, aber diesem Akt wird nicht mehr zugestanden, frei zu sein. Die freie Willkür erscheint an der Stelle des freien Willens, sie ist auf das Gebiet der Moral und ihrer Gesetze beschränkt. Das anonyme Vermögen, sich nach Regeln selbst Zwecke zu setzen, gehört jetzt offenbar zur Naturlehre, speziell der Anthropologie (VI 385,26; vielleicht auch XXVII 479–482).
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4. Die intelligible Tat Wir haben versucht, den Spuren der Willkür zu folgen, um zu sehen, ob sie bei der Suche nach einer Deduktion des Bösen hilfreich sein kann. Dies wurde nicht sichtbar. Vielleicht führt die Idee weiter, dass dem empirischen Charakter ein intelligibler zugrunde liegt, den sich der Mensch selbst verschafft. Bei dem bösen Kind der KpV war die Rede von »freiwillig angenommenen bösen und unwandelbaren Grundsätze[n]« (V 100,12–13). »Freiwillig«? Sicher nicht im Freiheitskonzept des vom moralischen Gesetz bestimmten »mundus intelligibilis«. Die Annahme dieser Grundsätze ist offenbar grundlos. Aber wie kann es dann die Tat eines verantwortlichen Subjekts und nicht das Treiben eines Luftballons sein? »Unwandelbar?« Wie kann das chancenlose Kind dann noch Subjekt des kategorischen Imperativs sein? Das ist innerhalb der Kantischen Theorie unmöglich; es hieße, dass wir es wenn nicht mit Teufeln, so doch mit sonst nicht näher bestimmten Unmenschen zu tun haben. Die Religionsschrift will diesen Fehler vermeiden und das Böse an die Möglichkeit des moralischen Wandels und Fortschritts binden. Kant lehrt 1792 bzw. 1793 ebenfalls, jeder Mensch erwirke selbst sein moralisches Versagen und sei entsprechend für sein böses Handeln verantwortlich. Wir werden allesamt nicht durch eine Naturmacht überwältigt oder vom Teufel in einen vorläufigen Besitz genommen, sondern machen selbst die Neigungen immer schon zu Protagonisten unserer Willkür. In der Religionsschrift wird so das radikal Böse der Menschen überhaupt in einer intelligiblen Tat begründet. »Es kann aber der Ausdruck von einer That überhaupt sowohl von demjenigen Gebrauch der Freiheit gelten, wodurch die oberste Maxime (dem Gesetze gemäß oder zuwider) in die Willkür aufgenommen, als auch von demjenigen, da die Handlungen selbst (ihrer Materie nach, d. i. die Objecte der Willkür betreffend) jener Maxime gemäß ausgeübt werden. Der Hang zum Bösen ist nun That in der ersten Bedeutung (peccatum originarium) und zugleich der formale Grund aller gesetzwidrigen That im zweiten Sinne genommen […]. Jene ist intelligibele That, bloß durch Vernunft ohne alle Zeitbedingung erkennbar; […].« (VI 31,21–33)110 Der empirische kant versucht, das böse zu retten – vergeblich? | 81
Charakter des bösen Menschen ist der Ausdruck des ihm zugrunde liegenden intelligiblen Charakters, den die Person sich selbst zuzieht. Ist diese Konstruktion haltbar? Der Akt der Annahme böser, verkehrter Grundsätze in einer intelligiblen Tat ist entweder begründet oder unbegründet. Im ersten Fall gerät man in einen unendlichen Regreß, im zweiten handelt es sich um einen epikureischen Zufall, ein »clinamen«111 der intelligiblen Atome, irgendeines Vermögens des Subjekts, ein translunares Wunder. Wie kann die Intelligibilität mit etwas verbunden werden, was ihr gerade entgegen gesetzt ist, indem es ihre Ordnung verkehrt? In beiden Fällen ist nicht ersichtlich, warum der Mensch sich die anonyme Tat als seine zueigen machen soll, damit aber auch, welchen Erklärungswert die intelligible Tat gegenüber der Konstatierung der Unerklärbarkeit realer böser Gesinnungen haben kann.112 In der Konzeption der intelligiblen Tat der Religionsschrift lassen sich zwei fundamentale Motive ausmachen. Das eine, wichtigste, ist die Annahme, dass ohne eine derartige Selbsterzeugung des Bösen keine Moral möglich ist. Es gibt kein Gutes ohne das Böse als freie Tat eines verantwortlichen Subjekts. Jedem bösen Handeln, das man beobachtet oder dessen man sich bewusst wird, liegt eine grundsätzliche Maximenverkehrung zugrunde. Und jetzt Kants These: Da die Moral nur unter dieser Voraussetzung möglich ist, gibt es sie. Man denke an die Postulate von Gott und Unsterblichkeit, die ihre objektive praktische Realität daher erhalten, weil ohne sie die Moral zur Chimäre wird.113 In der »Rechtslehre« von 1797 formuliert Kant den Grundsatz in folgender Weise im Hinblick auf das äußere Mein und Dein: »Denn wenn es nothwendig ist, nach jenem Rechtsgrundsatz zu handeln, so muß auch die intelligible Bedingung (eines bloß rechtlichen Besitzes) möglich sein.« (VI 252,21–24) Kant operiert mit dem Prinzip, dass das unbedingte Sollen zum Sein dessen führt, was das Sollen ermöglicht; also: das »ought« ist die beglaubigte Grundlage des »is«. Das Sollen ist durch das Faktum der Vernunft unumstößlich gewiß, damit auch die durch das Gesetz bestimmten Begriffe des Guten und Bösen. Das freie böse Handeln läßt sich also deduzieren aus der durch das »ought« gestifteten objektiven Realität der intelligiblen Tat. Sie ist die Vernunft version 82 | kapitel II
der Erbsünde. Bei der Beobachtung und Selbstzuschreibung bösen Handelns können wir auf eine fundamentale Maximenverkehrung rekurrieren und sind dadurch davor bewahrt, die Taten aus dem Walten des Schicksals, den Direktiven der gesellschaft lichen Umstände in einer Klassengesellschaft, dem Wüten des Unbewußten oder den Steilvorlagen der Neuronen und ihrer Synapsen im Gehirn erklären zu müssen. Hier gilt nach Kant die Devise, dass das Sollen durch keine dieser Seinsarten erreicht wird. Es gibt einen zweiten, sekundierenden Gedanken zur Rettung der intelligiblen Tat und damit des radikalen Bösen in der Religionsschrift. Während das böse Kind 1788 unverbesserlich ist, steht dem radikal Bösen des Menschengeschlechts eine »ursprüngliche[n] Anlage zum Guten in der menschlichen Natur« (VI 26,2–3) entgegen; das Böse kann im Fortschritt zum moralisch Besseren allmählich, wenn auch nicht endgültig überwunden werden. Die grundsätzliche Maximenverkehrung ist in dieser Version im Guten begründet, weil allererst durch die generelle Selbstermöglichung des Bösen die Rückgewinnung des Nicht-Verkehrten zu einer Aufgabe der eigenen Vernunft werden kann; wir hätten damit eine sublimierte »pia fraus« – »fraus« (Betrug) ja, aber im Hinblick auf das vielfältige Gute, das dadurch ermöglicht wird, doch »pia«, doch fromm und gut. Letztlich ist auch durch das Abweichler-Atom bei Epikur-Lukrez erst ein Wirbel und dann die Welt entstanden. Die Notwendigkeit eines Kampfes gegen das Böse ist bei Kant nicht im Fatum eines »per aspera ad astra« begründet, sondern sie ist selbstverschuldet wie die Unmündigkeit. Wenn wir uns mit Mühe emporarbeiten, so arbeiten wir die Schuld ab, die wir selbst täglich neu begehen. Selbst das Böse wird in diesem Gedanken dem Selbst in einer metaphysischen »oikeiosis« zugeeignet. Der intelligiblen Tat geht kein Imperativ voraus, sondern dieser wird umgekehrt erst aus ihr ermöglicht. Der Mensch kreiert sich selbst als defi zitäres Vernunft wesen und erzeugt damit den Sinn des Lebens.
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5. Das Böse und das Hässliche Wir sahen: Die KpV führt zwar den Begriff des Bösen ein, soweit es jedoch der Gegenstand des gesetzlich bestimmten freien Willens ist, wird es verabscheut und ist damit ein Aspekt des Guten im Hinblick auf das Verbot. Wie die KpV nur das Gute als Gegenstand eines freien Willens ermöglicht, so die KdU in der Geschmackslehre nur das Urteil des Schönen, nicht des Hässlichen oder Nicht-Schönen. Nur das Schönheitsurteil (neben dem des Erhabenen) ist im freien Spiel der Erkenntniskräfte (V 217,22; 24; 30 u. ö.) begründet. Ästhetische Urteile erheben den rechtlichen Anspruch, allgemein und notwendig zu gelten. Schon zur Allgemeinheit des Urteils bedarf es der Mitteilungsfähigkeit, die nur unter der Bedingung der harmonischen Einstimmung der Erkenntniskräfte, Einbildungskraft und Verstand, zur Ermöglichung eines Erkenntnisurteils überhaupt gegeben ist. Dies letztere ist jedoch nur beim Schönen der Fall, nicht beim Hässlichen.114 In beiden Fällen verweist Kant häufig auf das empirische Faktum, dass wir Menschen und ihre Taten als hässlich und böse kennzeichnen.
6. Was bleibt? Natur und Freiheit stehen einander gegenüber als Felder unterschiedlicher gesetzlicher Bestimmungen; sie sind nichts anderes als das Substrat der beiden Gesetzgebungen des Verstandes und der Vernunft. Wie es in der Natur kein widergesetzliches Wunder geben kann, so in der Freiheit kein widergesetzliches Böses. Aus Freiheit böse zu handeln ist apriori unmöglich. Was landläufig als böse geführt wird, muß also konsequent in die Natur überführt werden, sei es in die noch in der Naturgeschichte befindliche Gesellschaft, das naturbestimmte Unbewußte oder auch die Kapriolen der Neuronen und ihrer Synapsen im Gehirn. Kant setzt dagegen auf die unausweichliche Realität der Moral und damit des Guten und des Bösen; denn ohne das letzte ist auch das Gute nicht möglich. Die moralische Notwendigkeit erzwingt eine Selbstverursachung des Bösen in einer je eigenen intelligiblen Tat, die ihre Realität aus dem 84 | kapitel II
kategorischen Imperativ schöpft und sich als Ausgangspunkt alles Guten in dieser Welt erweist. Eine faustische Vision, an die zu glauben große Geisteskraft erfordert.
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III. Der kategorische Imperativ – gültig überall und immer?
Der kategorische Imperativ enthält zwei Stufen, erstens die der Maximen beim geplanten Handeln und zweitens der Kontrolle der Maximen: Nur wenn sie tauglich sind, allgemeine Gesetze zu bilden, soll nach ihnen gehandelt werden. Der Imperativ nimmt hiermit, so unsere These, die Dualität von Naturzustand und Zivilzustand auf; der einzelne Mensch bestimmt natürlicherweise seine Handlungsmaximen nach eigenen, meist neigungsbedingten Gesichtspunkten, das allgemeine Gesetz bildet dagegen das Gesetz des Zivilzustandes ab, die »volonté générale«. Im zweistufigen kategorischen Imperativ steckt also die sittliche Notwendigkeit des »exeundum est e statu naturali« als eine immer neue Aufgabe des Menschen, aus der Wahl der Maximen nach subjektiver Willkür in den Vernunftzustand überzutreten, in dem sich die Handlungsmaximen als mögliche Akte der »volonté générale« ausweisen müssen. So wenig wie das Verallgemeinern des Herumtappens unserer Sinne zur objektiven Erkenntnis führt, so wenig gelangt man durch die Universalisierung der Maximen zur geforderten Gesetzlichkeit. Hier Heino, dort Haydn. Ist das Gesetz des kategorischen Imperativs die einzige Quelle der sittlichen Willensbestimmung, oder gibt es Aporien, in denen die Gesetzesbestimmung des Willens zu sittlichen Irrtümern führt und es Pflicht wird, zu lügen und sich selbst zu töten?
1. Der kategorische Imperativ – kein Prinzip der Universalisierung von Maximen Eine der verschiedenen Formulierungen der »formula« lautet: »Handle nach der Maxime, die sich selbst zugleich zum allgemeinen Gesetze machen kann.« (IV 436,30–437,1) Die Grundidee dieses fast populären Sittlichkeitsprinzips scheint gut verständlich zu sein: Jeder Mensch verfährt bei Handlungen, die sich auf Men| 87
schen in moralischer Weise beziehen, nach praktischen Regeln oder Maximen; nun soll man prüfen, ob die jeweilige Maxime der Handlung ein allgemeines Gesetz sein könnte, und je nach dem Resultat des Tests die geplante Handlung unterlassen oder sie ausführen, und dieses »soll« gilt rigoros, also unangesehen des Nutzens oder Schadens, der dem Handelnden oder sonst einer Person im Hinblick auf das angestrebte inhaltliche Ziel erwächst. Wenn das eingeplante Mittel oder das Ziel den Test nicht besteht, fällt beides, Mittel und Ziel, dadurch fort. Das »Soll« des Imperativs besagt, dass meine Handlungsmaximen nicht naturwüchsig dem Kriterium der Gesetzlichkeit gerecht werden. Ich soll mich kritisch zu ihnen verhalten und sie selbst prüfen; dieser Akt ist nicht an andere delegierbar. Zwei Auffassungen des kategorischen Imperativs besiegeln seine Untauglichkeit, wenn sie zutreffen. Die eine ist die Interpretation als eines leeren Formalismus, die andere als einer Aufforderung, die Maximen der Handlung in ihrem Inhalt zu universalisieren. Die erste wird von Hegel und Scheler vorgetragen; die zweite von fast allen neueren Interpreten, besonders aus dem angelsächsischen Traditionsraum, nach 1968 auch in Deutschland. Wir werden versuchen, die in der Tradition der Moralphilosophie einmalige Zweistufigkeit (Maxime – Gesetz) im Rückgriff auf die schon angesprochene Rechtsphilosophie zu klären. Hegel brauchte einen vorbestimmten Platz für seine eigene ultimative Philosophie und zeigte daher die Einseitigkeit seiner Vorbereiter Kant und Fichte. Kant habe zwar den moralischen Standpunkt gewonnen, diesen aber »zu einem leeren Formalismus« gemacht »und die moralische Wissenschaft zu einer Rednerei von der Pflicht um der Pflicht willen«115. »Die weitere Kantische Form, die Fähigkeit einer Handlung, als allgemeine Maxime116 vorgestellt zu werden, führt zwar die konkretere Vorstellung eines Zustandes herbei, aber enthält für sich kein weiteres Princip, als jenen Mangel des Widerspruchs und die formelle Identität. – Daß kein Eigenthum Stattfindet, enthält für sich ebenso wenig einen Widerspruch, als daß dieses oder jenes einzelne Volk, Familie u. s. f. nicht existiere, oder daß überhaupt keine Menschen leben.«117 Hier nur so viel: Hegel nimmt nicht zur Kenntnis, dass Kant in der Rechtslehre die praktische Notwendigkeit, das mögliche äußere Meine nicht 88 | kapitel III
durch zuwiderlaufende Handlungen aufzuheben, aus der Rechtlichkeit der äußeren Freiheit als Postulat aufstellt und daraus ein Erlaubnisgesetz des äußeren Besitzes gewinnt (VI 246–247). Das Volk bzw. besser der Staat und die Familie sind Rechtssubjekte, die Kant ebenfalls nicht aus dem Satz vom Widerspruch gewinnt, sondern aus dem Rechtstitel des äußeren Mein und Dein. Autoren, die Kant nicht kritisieren, sondern sich auf ihn berufen, fassen den kategorischen Imperativ fast durchgehend als ein Gebot, die Maxime der eigenen Handlung zu universalisieren118. Diese Version kann sich einmal für originär kantisch halten, oder aber sie korrigiert Kant, indem sie ihn von unnötigen metaphysischen Tollheiten entschlackt. Dies letztere Programm verfolgt Habermas, aber auch John Rawls. Bernard Yack charakterisiert das Vorgehen von John Rawls bei der Befreiung Kants von unmodernem Ballast so: »In the end, Kant’s claim about our shared moral identity requires a leap of faith, though not an unreasonable one, beyond the reality we experience and can judge theoretically. – It is precisely this leap beyond empirical reality that Rawls wants to avoid in his version of Kantian liberalism. He claims to have reformulated Kant’s arguments in a way that brings them into line with ›respectable empiricism‹. The original position, Rawls claims, provides ›a procedural interpretation of Kant’s conception of autonomy and the categorial imperative‹ that makes Kant’s metaphysical faith in a noumenal order unnecessary. The popularity and influence of Rawls’s version of liberalism surely owe something to acceptance of this claim that, unlike Kant, he need not rely on unrealistic and disrespectable metaphysical assumptions about human beings to justify his liberal conclusions.«119 Yack zeigt, wie Rawls philosophische, hier Kantische Positionen benutzt, um sie in empirische Sachverhalte einzuschreiben und in abgemilderter Form dort wieder zu entdecken. »His turn to social practice was dictated at least in part by a desire to avoid the unrealistic and a priori picture of moral personality advanced by Kant.«120 Rawls betont zu Recht, dass er Kant nicht interpretiert, sondern umpolt. Yack seinerseits wirft Kant dasselbe wie Habermas vor: Das einzelne Subjekt mache seine moralischen Vorstellungen zum Maßstab für alle anderen, ohne diese an der Vorstellungsstift ung der kategorische imperativ – gültig überall und immer? | 89
teilnehmen zu lassen. Damit aber verfalle der Anspruch universeller Geltung.121 So paraphrasiert Habermas das von ihm häufig herangezogene Kantische Moralprinzip als Forderung, »dass gültige moralische Gebote ›universalisierbar‹ sein müssen«122. Erst die empirische Verallgemeinerbarkeit bringe die postmetaphysische Bodenhaft ung, die den Moralvorstellungen des Kantischen Einzelnen fehle. Steckt die Universalisierbarkeit analytisch im moralischen Gebot? Ist sie die notwendige und hinreichende Bedingung der Moralität des Gebots im Gegensatz zum technischen oder pragmatischen Gebot? Ist die erfolgreich universalisierte Maxime identisch mit Kants Gesetz? Im Umkehrschluß verbieten sich Maximen, die nicht verallgemeinerbar sind. Mein harmloser Vorsatz, jeweils am Monatsbeginn mein sämtliches Geld vom Konto abzuheben, kann schwerlich verallgemeinert werden, denn wenn alle dasselbe wollen und tun, bringen alle die Weltwirtschaft zum Einsturz und die Menschheit und sich selbst in das größte Elend, was niemand machen sollte. Das gilt selbstredend auch von jedem anderen Tag, so dass ich mein Geld überhaupt nicht abheben kann und ergo verhungern muß, was wiederum niemand wollen sollte. Lassen wir diese unphilosophischen Spielereien beiseite. Warum spricht Kant durchweg nicht vom Universalisieren oder Verallgemeinern123 der Maximen und nicht vom Gebot, sondern vom allgemeinen Gesetz? Wer den Unterschied nicht beachtet, verfehlt die Kantische und damit vielleicht die bessere Hälfte aller Moralphilosophie. Sie wurde zuerst in der Literatur des 19. und 20. Jahrhunderts in den Horizont der Anthropologie und empirischen Psychologie gebracht, und Universalisieren heißt jetzt natürlich, bei allen Menschen nachfragen, ob sie einverstanden sein und alle dasselbe, also denselben Inhalt, wollen können. In der kritischen Moralphilosophie der Grundlegung und KpV sind jedoch zunächst sinnlich affizierte Vernunft wesen die Adressaten, von denen Menschen eine Teilklasse bilden (ob es andere Vernunft wesen gibt oder nicht, ist dabei gleichgültig). Kant warnt dagegen immer wieder davor, die Moral in der Anthropologie zu begründen und also die Gesetzlichkeit nicht in der Form, sondern den Inhalten zu gewinnen. Das zweite Fundament des Universalisierungsirrtums liegt im Interessenbegriff. Die in den je subjektiven Maximen genannten 90 | kapitel III
Inhalte werden als Interessen geführt, die verallgemeinerbar sein sollen. Die Entstehungsphase ist nicht das späte 19., sondern das 20. Jahrhundert, eine Phase, in der die Kantinterpretation auf breiter Front angelsächsisch bestimmt wurde und der Begriff des Interesses an David Hume anschließen konnte. Dadurch verlor Kant den unzeitgemäßen Form- und Notwendigkeitsaspekt und konnte in die neueren philosophischen Strömungen integriert werden. Eine verwandte Empirisierung wird vorgenommen, wenn man den Imperativ aus dem verallgemeinerten Nutzen gewinnen will; auch hier werden die Vernunft wesen gestrichen und durch die uns nahe stehenden Menschen ersetzt; dass die im Imperativ formulierte Gesetzlichkeit dabei verloren geht, liegt auf der Hand. Nun ist die Universalisierungsfalle nicht einfach eine historisch bedingte Fehlleistung, sondern beruht auf eigentümlichen Schwierigkeiten des kategorischen Imperativs. Wie kommt es, dass der kategorische Imperativ als »formula« der Sittlichkeit so einfach klingt und dann doch hartnäckig falsch interpretiert wird? Wir stellen einige Schwierigkeiten heraus und machen dann einen Vorschlag, der die suggestive Einfachheit als Falle erklären könnte. Einige Schwierigkeiten – es wird nicht der gesamte Komplex der kritischen Moralphilosophie thematisiert, sondern nur die Stufung von der Maxime zum Gesetz; das Gesetz wird nicht nur als universelle Regel (nach V 36,14) bestimmt, sondern als die ideelle Verlautbarung der moralisch-gesetzgebenden Person; damit kommt zur Allgemeinheit die Öffentlichkeit hinzu, in der alle wissen, dass alle das Gesetz kennen. Zuerst zur Maxime, dann zum Gesetz.
2. Maximen Die bewusste oder unbewußte Bildung einer Maxime durch den Handelnden ist eine Erkenntnisoperation, die die geplante singuläre Handlung als Fall einer allgemeinen (daher »maxima«) Regel artikuliert und sprachlich jedem anderen Vernunft wesen zugänglich machen kann: »Immer wenn ich […].«124 Die Handlung kann auch in einer Unterlassung bestehen. Tiere können bestimmte, von uns entdeckbare Regeln in ihrem Verhalten befolgen, aber sie sind der kategorische imperativ – gültig überall und immer? | 91
zu keiner eigenen Maximenbildung fähig.125 Menschen handeln dagegen unvermeidlich nach Maximen, selbst wenn sie in einer romantischen Laune meinen, unmittelbar ihrer Natur oder Gestimmtheit zu folgen, einfach so; auch diese vermeintliche Unmittelbarkeit ist nicht bei den Tieren, aber bei den Menschen Inhalt einer Maxime, die sie, die vermeintliche Unmittelbarkeit, eo ipso als unwahr demaskiert. Fehlen die Maximen oder Regeln, so wird nicht gehandelt, etwa bei Anfällen oder bloßem Verhalten. Die Maxime ist idealiter widerspruchsfrei. Die Handlungsregel z. B., erst dann Ruhe zu geben, wenn einem die Konstruktion eines viereckigen Kreises gelungen ist, scheitert an ihrem Widerspruch. Ein Zustand von vielerlei Maximen, die sich widersprechen und so das Individuum gegen sich selbst aufbringen, ist nicht widersprüchlich, sondern unbequem und unklug; man wird sie also möglichst homogenisieren. Dasselbe ist tunlich auch für eine Gruppe von Menschen, eine Familie oder einen Clan, und sogar für die Menschheit im Ganzen – homogene Handlungsmaximen sind nützlich und ergo klug und können eigentlich von allen gewollt werden. Sie bestehen den Verallgemeinerungstest. Es ist aber nicht ausgeschlossen, dass einige Genies just aus diesem Grund ausscheren und das kurze, abenteuerliche Leben der Piraten dem bürokratischen Einerlei vorziehen. Ich bin Dynamit, ich folge nicht dem »man« und nicht der Herde. Welche Notwendigkeit hat der Universalisierer dem entgegen zu setzen? Eine Schwierigkeit bei der Bildung der Maxime einer Handlung tritt dadurch auf, daß jede Handlung naturgemäß vielfach beschreibbar und entsprechend unter viele Regeln subsumierbar ist. Ich trete abends in mein Zimmer und schalte das Licht ein. Diese Handlung geschieht nach einer technischen Maxime (»Wenn […], dann […]«), kann auch in den pragmatischen Zusammenhang meiner Glücksrealisierung gestellt werden und kann drittens die Beziehung zu moralischen Wesen tangieren. Die Beleuchtung kann das verabredete Zeichen für einen Scharfschützen sein, dass er jetzt seine Mordtat begehen soll. Die Maxime dieser Mordhilfe-Handlung lautet anders als die technische oder pragmatische Regel, obwohl die Handlung in der identischen Handbewegung besteht. Kant muß der (nicht immer klar formulierten) Meinung sein, dass alle menschlichen technischen und pragmatischen Handlungen 92 | kapitel III
(mit ihren unterschiedlichen Regeln) moralisch relevant sein können und dass sich die Maxime in moralischer Hinsicht einfach und eindeutig formulieren läßt. Welchem Vermögen entspringen die Maximen? Wir plädierten dafür, dass es die freie Willkür (nicht der freie Wille) sein muß; darauf ist später zurückzukommen. Es ist schwer zu sehen, wie die Verallgemeinerung meiner inhaltlich bestimmten Maximen eigentlich funktionieren soll. Es muß ein Inhalt verbleiben, der nun auf seine Qualität, verallgemeinerbar zu sein, überprüft wird. Soll ich mich empirisch kundig machen? Soll ich Briefe mit Antwortporto versenden, ob alle Beteiligten und Betroffenen mein Interesse am Verbot von Macdonald und der Nachtflüge teilen? Verbitten sich die Verallgemeinerungsinterpreten derartige Albernheiten, so bleibt der Inhalt ihrer Tests trivial; verallgemeinerbar ist nicht einmal die friedliche Maxime, es allen recht zu machen, denn sie läßt sich nicht zugleich auf die Universalisten und auf ihren Gegner anwenden. Was hat all das mit Kant zu tun? Mit dem Rigorismus? Mit der Erhabenheit der Sittlichkeit? Mit der Parallelisierung von Natur- und Freiheitsgesetz?
3. Allgemeines Gesetz Die Handlungsmaxime soll sich zum allgemeinen Gesetz qualifizieren können. Was heißt »Gesetz«? Das Gesetz enthält einmal die Widerspruchsfreiheit der Maxime und die relative Allgemeinheit (»Immer wenn […]«; »Alle können […]«) ihrer universalisierten Form, es ist jedoch auf keine Weise aus der Maxime durch eine logische Operation der Verallgemeinerung zu gewinnen. Denn das Gesetz enthält den Gedanken, dass es in einer bloßen Form besteht oder ihr entspringt; dass der Mensch sich selbst als Gesetzgeber denken soll; dass das Gesetz für alle Vernunft wesen gilt, also für eine Pluralität von nicht isolierten, sondern gesetzlich verbundenen Subjekten. Der Begriff des Gesetzes trägt seit dem biblischen Dekalog, den Vorsokratikern und Solon eine Aura der Würde und Erhabenheit. Für Kant ist in der ihm durch Elternhaus und Schule präsenten der kategorische imperativ – gültig überall und immer? | 93
christlichen Religion die vernünft ige Lehre als solche entscheidend, nicht die schrift liche Nachricht des Evangeliums, wie er Lavater 1775 mitteilt. Die Lehre enthalte Gottes Gesetz, und dies liege uns jederzeit vor Augen (X 178,20). Römer 7, 7 steht: »Aber die Sünde erkannte ich nicht, außer durchs Gesetz.« Gott ist Gesetzgeber und Richter (X 178,22) und gütiger Exekutor, der die Umstände des Handelns, die nicht in unserer Gewalt sind (»in potestate nostra«, X 178,7; 27; 180,6–7), zu unseren Gunsten ergänzt. Kant konzipiert das vom Testament angeregte Moralsystem schon 1775 etatistisch, naturrechtlich. Platon schreibt die Nomoi (Gesetze), ihm folgen die Stoiker, nach denen der göttliche Logos oder Nomos das physische und sittliche All durchwaltet; Cicero verweist auf die ehrwürdigen Zwölftafelgesetze und verfasst einen Traktat De legibus. Hobbes wird in der Nachfolge dieser hellenistischen Position die Möglichkeit des Unrechts vom staatlichen Gesetz abhängig machen,126 Gott gibt nach Leibniz der Natur die Gesetze. In Abwandlung eines Spruches können wir für das 17. und 18. Jahrhundert sagen: »Just pronounce the word »law«, and all is o’kay«. Rousseau sieht die Äußerungsform der »volonté générale« (im Gegensatz zur »volonté de tous«127) im Gesetz; hierin liegt, so unsere These, ein entscheidender Impuls für Kants emphatischen Gebrauch des Gesetzesbegriffs in der Moral.128 In diese Richtung weist eine Bemerkung von Ernst Cassirer: »Dieser Enthusiasmus für die Kraft und die Würde des Gesetzes ist es, was Rousseaus Ethik und was seine Politik kennzeichnet: und hierin ist er zum eigentlichen Vorgänger von Kant und Fichte geworden.«129 Bei Fichte heißt es im Grundsatz der Sittenlehre: »Handle so, daß du die Maxime deines Willens als ewiges Gesetz für dich denken könntest.«130 Der Epikureer sagt: Sehr gern, ich bemesse meine Vergnügen zwar nicht für die Ewigkeit, aber doch für eine unabsehbare Lebensdauer. Der Platoniker sagt: Sehr gern, ich treibe reine Theorie ohne Ende und lasse mich möglichst nicht durch die Praxis stören. So könnten sich die Einzel-Iche ihre Maximen als ewige Gesetze für sich denken, an andere Menschen ist hier bei Fichte, anders als bei Rousseau und Kant, nicht gedacht. In der Kantischen Philosophie ist ausgemacht, dass natürliche Ursachen nur dann wirken können, wenn sie gesetzlich bestimmt 94 | kapitel III
sind. Eine (auch gesetzlose) »causa noumenon« ist ein Relikt aus früheren Zeiten; was für Kants kritische Moralphilosophie von 1788 einzig zählt, ist das Freiheits- oder Moralgesetz. Es enthält dieselbe Notwendigkeit wie das Naturgesetz, dem es entgegengesetzt ist, hier Freiheit, dort Natur, beide sind nur möglich auf Grund der ihnen eigentümlichen Gesetze (nicht umgekehrt!). Wenn Kants Moralphilosophie mit dem Begriff der Verallgemeinerung rekonstruiert wird, geht diese gesetzliche Notwendigkeit und Apriorizität verloren, alles sinkt zurück in den leutseligen Empirismus.
4. Maxime und Gesetz Die Stufung von Maximen und Gesetzen findet sich nur bei den kategorischen Imperativen, nicht den hypothetischen. Die »Wenn…, dann«-Abfolge formuliert eine Bedingung zur Erreichung des Bedingten, die Abfolge von Maxime und Gesetz läßt sich dagegen nicht in eine logische Sequenz bringen. Sie folgt somit nicht aus der Struktur des Imperativs als solchen, der hypothetisch und kategorisch sein kann.131 Maxime und Gesetz stehen zueinander im Verhältnis einer teilweisen Identität, aber auch einer qualitativen Differenz. Die Maxime im Verhalten gegenüber Personen muß widerspruchsfrei sein und den Charakter einer subjektiv-allgemeinen Regel haben, sie muß des weiteren gesetzestauglich sein können, so dass ich sie nicht zu verwerfen oder zu ändern brauche, wenn sie den Gesetzestest besteht. Wenn ich aus dem Gefühl des Anstands nach der Maxime handle, nie einen Menschen zu betrügen, kann ich nach dieser Maxime auch qua Gesetz und aus Achtung vor dem Gesetz handeln, auch mit der für die Praxis vielleicht irrelevanten Änderung, dass die anderen nicht nur Menschen sind, sondern als Vernunft wesen gedacht werden. Gravierender ist die grundsätzliche Differenz von Maxime und Gesetz, die besagt, dass sich die Maxime durch keine Verallgemeinerung »für alle« in ein Gesetz verwandelt. Ein für Kant nahe liegender Vergleich: Man kann durch keine weitere Verkomplizierung im ptolemäischen Paradigma zu Kopernikus gelangen, sondern nur durch einen für Ptolemäus irrationalen plötzder kategorische imperativ – gültig überall und immer? | 95
lichen Sprung. Ptolemäus tappte herum und ließ sich durch Inhalte leiten, Kopernikus ging ein Licht auf. Der Sprung von der Maxime zum allgemeinen Gesetz ist der Übergang in eine »ganz andere Ordnung«, die sich durch das Gesetz entdeckt; es ist die Ordnung der Freiheit und Autonomie, von der sich die postmetaphysischen Rationalisierer und Verallgemeinerer der Maximen nichts träumen lassen. Es gibt eine weitere Dualstruktur als Hintergrundmetapher; diese ist das in den Träumen zitierte Diktum: »Wenn wir wachen, so haben wir eine gemeinschaft liche Welt, träumen wir aber, so hat ein jeder seine eigne.« (II 342,4–6)132 Die Maximen sind die Leitfäden, an denen sich die Menschen im Naturzustand und in ihren partikularen Willensbildungen orientieren und entlang träumen, sie sind ohne notwendigen sozialen Zusammenhang und führen nur zufällig zu Friedenspausen. Das Gesetz dagegen ist das Gesetz der gemeinsamen Welt, gemäß dem die Maximen, welchen Inhalt sie auch haben, zum Zusammenklang gezwungen werden. Erst mit diesem von allen Inhalten abstrahierenden Gesetz der gemeinsamen Welt von Personen macht sich der Mensch selbst zum Weltbürger. Man sieht auch hier: Man kann aus den Träumen nicht durch Aggregieren oder Komplexitätssteigerung in den Wachzustand gelangen, sondern nur durch einen qualitativen Sprung. Die Maximen sind privat und können geheim bleiben, die allgemeinen Gesetze, die sich der vernunftgeleitete Wille gibt, sind selbstredend öffentlich; die Akteure, an die sie sich wenden, leben nicht monadisch in getrennten Welten und folgen in ihren Maximen und vielleicht auch universellen Gesetzen, jeder für sich, sondern sind zu denken als Vernunft wesen in einer gemeinsamen Öffentlichkeit, einer res publica. In der Tradition der Ethik scheint es keinen Vorgänger einer dual gestuften Anlage zu geben. In der Stoa werden zwei Pfl ichtentypen unterschieden, die »kathekonta« und das »katorthoma«. Aber diese Differenz steht der Zweiteilung von weiten und engen bzw. strikten Pflichten nahe, die also in den Pfl ichtenbereich des kategorischen Imperativs selbst gehört. Desgleichen die Einteilung von Privatrecht und Strafrecht. Sie gehört zu dem schon erreichten Rechtsbereich des »status civilis«, die Maximen sind dagegen noch von aller Sittlichkeit frei und formulieren nur die Regel, nach 96 | kapitel III
der die einzelne Handlung von dem individuellen Vernunft wesen konzipiert wird. Maxime – Gesetz, hierin liegt eine duale Anlage, deren Reihenfolge nicht umgekehrt werden kann. Der Typ dieser Stufung ist aus der Kantischen Philosophie von der Schätzung der lebendigen Kräfte bis ins Opus postumum bekannt.133 In diesem speziellen Fall wird die erste Stufe durch ein allgemein verstehbares Prinzip meiner natürlichen Handlung gebildet, die zweite Stufe bildet eine Norm, ein Soll im Status der Unbedingtheit. Also: Das Gesetz läßt sich nicht durch Verallgemeinerung oder Universalisierung der Maxime gewinnen – keiner der beiden Begriffe oder Operationen wird von Kant je angeführt,134 und nach den vorhergehenden Äußerungen verfehlen sie den entscheidenden Punkt. Gefordert wird, dass die faktische Maxime sich einpassen läßt in eine ideelle, vernunft notwendige Gesetzesordnung sui generis. Daß dies Kants Konzept ist, ist eigentlich nicht zu leugnen, wie groß auch die Schwierigkeiten sind, in die der Interpret hiermit gerät und die er gern durch Akkommodierung vermeiden möchte. Nun können wir mit pragmatischer Sicherheit annehmen, dass Kant dasselbe macht wie Platon bei seiner Suche nach der Gerechtigkeit in der Politeia; er projiziert das Problem sittlichen individuellen Handelns auf die große Wand von vorstaatlichem und staatlichem Zustand. Maximen sind die individuellen, wiewohl schon allgemein verständlichen Regeln im Naturzustand; und der kategorische Imperativ befiehlt sein »eundum est e statu naturali in statum civilem«. Der »status naturalis« ist dadurch gekennzeichnet, dass in ihm »jeder seinem eigenen Kopfe folgt« (VI 312,15). Hier »kann sich jemand zur Maxime machen, keine Beleidigung ungerächt zu erdulden« (V 19,19–20). Was eine Beleidigung ist, legt er selbst fest, und auch, wie die Rache aussehen muß; dasselbe tut sein Gegner. Im Naturzustand herrscht die Maxime in universalisierter Form, denn alle folgen ihr notgedrungen und viele sogar gern. Die Vernunft ist das Prinzip einer gemeinsamen Welt, die im äußeren Handeln nur durch Zwangsgesetze erreichbar ist. Im Sinne dieses Vernunftprinzips ist die Maxime der Selbstrache nicht gesetzestauglich, selbst wenn alle dieser Maxime zustimmen und sie in Ewigkeit universalisierbar ist, denn sie liegt im Interesse aller Kannibalen, die sich an der Rache höllisch freuen. Kant intendiert der kategorische imperativ – gültig überall und immer? | 97
offenbar einen Paradigmenwechsel; es geht nicht um die Verallgemeinerbarkeit von Maximen (»weiter so, aber alle«), sondern einen qualitativen Wechsel von der bloß privaten oder auch allgemein akzeptierten Maxime zu etwas anderem, dem Gesetz. Die Vernunft sagt dem Wildwest-Bewohner, in den gesetzlich geregelten Staat zu treten und, mit Rousseau, zum »citoyen« zu werden, zu dem jeder Mensch geboren und bestimmt ist. Also: Realisiere in deinem Handeln den allgemeinen Willen, die »volonté générale«; eben das ist die Selbstgesetzgebung, die Autonomie gegenüber der Heteronomie, in der du sonst verbleibst, denn wenn jeder seinem eigenen Kopf folgt, folgt er nicht dem autonomen formalen Gesetz der Freiheit, sondern dem heteronomen Diktat seiner jeweiligen wechselnden Vorstellungen und Neigungen, tertium non datur. Das Pendant bei Platon ist die Stufung von »doxa«, der bloßen Meinung, und »episteme«, der Erkenntnis. Im Zustand der Meinungen herrscht Streit oder zufällige, vielleicht der Erschöpfung verdankte Meinungsgleichheit; die »episteme« ist dagegen für alle identisch und führt daher, wird sie nur erreicht, notwendig zum Frieden. In der Höhle hausen die Menschen mit Meinungen und Maximen, steigen sie jedoch zum natürlichen Sonnenlicht empor (»Exeundum est e spelunca«), erwerben sie Erkenntnisse, die den Status von Gesetzen haben und die Menschheit aus dem Streit zum Frieden führen. Beim Kantischen Staat handelt es sich um eine Rechtsgesellschaft, den die Bürger durch den idealen Vertragsschluß kreieren; in der Ethik oder Sittlichkeit ist es die Weltgesellschaft als »Reich der Zwecke«, das die Menschen qua Vernunft wesen zu ihrer sittlichen Norm machen. In beiden Fällen entprivatisiert, entpsychologisiert sich der Handelnde und macht sich zum Mitstifter und Erhalter einer Institution, zu der er als »zoon politikon« bestimmt ist. Das Abstreifen der sich naturaliter aufdrängenden Inhalte und der auf sie gerichteten Neigungen und der Übergang zur bloßen Form (mit dem Ziel der (Rück-)Gewinnung sozialförderlicher oder –verträglicher Inhalte) garantiert die Kommensurabilität des nunmehr allgemeinen notwendigen Wollens. Der Mensch wird zum sittlichen Subjekt, indem er sich aus der solipsistischen Monologstruktur in den Staat einer Pluralität von Subjekten begibt. Dies geschieht nicht auf dem Weg der Verallgemeinerung hin zur 98 | kapitel III
»volonté de tous«, sondern durch den Eintritt in eine völlig neue Ordnung. Diese Ordnung enthält apriori die Übereinstimmung eines jeden mit der Vernunftordnung aller anderen. Der kategorische Imperativ internalisiert somit die Zweistufigkeit des »status naturalis« und »civilis«; er nimmt den Zustand der natürlichen Maximenbildung auf und weist auf das verbindliche Gesetz, das bei Rousseau und Kant republikanisch erzeugt wird, also dem Postulat der Autonomie unterliegt.135 Der Imperativ ist irrational; er ergibt sich nicht durch die Rationalisierung der wildwüchsigen Maximen zum gemeinsamen Morgengesang, sondern stellt der Willkür, auch der allgemeinen, das Gesetz entgegen. Auf der Folie des zweistufigen Naturrechts wird deutlich, warum Kant nicht nur vom Gesetz, sondern vom allgemeinen Gesetz spricht. Der Begriff des Absolutismus leitet sich vom »legibus solutus« her: Der König gibt das Gesetz, ist ihm jedoch nicht unterworfen; die Allgemeinheit des Gesetzes besagt also, dass ihm jeder, auch das gesetzgebende Subjekt, gleichermaßen unterworfen ist, jeder ist die Republik, »l’état c’est moi«, aber das Ich eines jeden. Wie der König des Absolutismus hat auch Gott keinen Platz mehr in der Republik, er war »législateur«, ohne Bürger sein zu können oder zu wollen. Man bemerkt den Wandel, der sich von Platon zu Kant vollzieht. Bei beiden wird heuristisch vom Individuum zur Großprojektion übergegangen. Bei Platon realisiere ich meine Natur als Bürger im gerechten Staat, der die gerechte und damit gute, eigentliche Seele als makròs ánthropos darstellt, bei Kant realisiere ich in gleicher Weise meine Natur, indem ich meine naturwüchsigen, anarchischen Neigungen in eigener Vernunft tätigkeit einem sozialkompatiblen Gesetz unterwerfe und mich gewissermaßen zu einem demokratischen Souverän mache, nicht »legibus solutus«, sondern als freier und damit gleicher und selbständiger Bürger im Rechtsstaat. In der gerechten Polis erkennt der einzelne Mensch seine isomorphe Seele, der Mensch realisiert sich daher selbst als Bürger, er ist, wie Aristoteles sagen wird, ein »zoon politikón«. Bei Kant bringt analog der Staat jeden mit den von ihm idealiter mitgegebenen Gesetzen zur Freiheit. Deshalb sind Freiheit und Moralität Wechselbegriffe, auf einander bezogen als »ratio cognoscendi« und »essendi«. Bei Platon ergibt sich eine Schichtung in der gemeinsamen der kategorische imperativ – gültig überall und immer? | 99
Realisierung eines gerecht differenzierten Guten; bei Kant ergibt sich eine egalitäre, autonome Gesetzesordnung, die als solche die Freiheit unter Gesetzen darstellt. Das subjektive Belieben des Naturzustandes, in dem jeder nach eigenen Maximen handelt, wird beendet durch die von allen erlassenen Gesetze, die in ihrer Minimalbestimmung erstens das Handeln kompatibel regeln und zweitens die unbestimmten Zwecke eines jeden (das Glück) fördern. Bei Platon und Aristoteles wird das Individuum restlos durch die Polis bestimmt; bei Kant bleiben die Zwecksetzungen im Rahmen des Reichs der Zwecke den unvorhersehbaren, subjektiv willkürlichen Zwecksetzungen überlassen – wenn sie nur nicht die gleiche Freiheit aller anderen zerstören, sondern möglichst fördern. Noch ein Hinweis zur Differenz von Platon und Kant. Die Platonische Seelen- und Polisanalyse kulminiert im Begriff des Guten, die Kantische im Begriff des Gesetzes. Die Erkenntnis des Guten ist kompliziert und Sache der Philosophenherrscher, die Willensbestimmung durch das Gesetz ist einfach und Sache der eigenen praktischen Vernunft eines jeden. Dort beruht die Ordnung auf einem objektiven höchsten Wert, hier auf einer subjektiven Handlung, einem Gedankenexperiment, das jeder vollziehen soll und kann. In der Philosophie vor Kant, z. B. bei Leibniz, ist Gott der Gesetzgeber der Natur; welches die Naturgesetze sind, müssen wir stückweise in Erfahrung zu bringen suchen und sind uns der Notwendigkeit dieser vorgeblichen Gesetze niemals sicher; aber der Glaube kann die Lücken füllen. Die subjektivistische Wende führt zu dem paradoxen Ergebnis, dass, transzendental betrachtet, nicht Gott, sondern umgekehrt unser Verstand der Natur das Gesetz gibt. Die reine praktische Vernunft hat 1788 die parallele Aufgabe, der Freiheit das Gesetz zu geben. »Exeundum est e statu naturali« – die naturwüchsigen Maximen sollen geprüft werden, ob sie als Freiheitsgesetze fungieren können. Das Gegenstück zum Naturzustand der bloßen je subjektiven Maximen, die in das Freiheitsgesetz zu überführen sind, müsste das Herumtappen der Vor-Wissenschaftler sein, die sich in ihren vielfachen Meinungen nach den Sachen richten und sich vergeblich bemühen, aus den Beobachtungen allgemeine Gesetze zu gewinnen; das Resultat: sie streiten, es herrscht das »bellum omnium contra omnes« der Gelehrten. In der Theorie 100 | kapitel III
führt ein »glücklicher Einfall« (B XI) zur Umkehr, in der Moral ist es der Imperativ, sich nicht nach neigungsorientierten Meinungen und Maximen zu richten, sondern dem Gesetz der Vernunft. Die Analyse der Morphologie des kategorischen Imperativs führte auf die Schrittfolge von Natur- und Zivilzustand als der Pausvorlage, der sich der Imperativ verdankt. Dafür gibt es auch ein Dokument, das den Imperativ in statu nascendi aus den zwei Rechtszuständen zeigt. In den Bemerkungen in den Beobachtungen über das Gefühl des Schönen und Erhabenen wird mit der Zweistufigkeit der moralischen Willensbildung experimentiert und der Privatwille dem öffentlichen Willen der Menschen entgegengesetzt, »voluntas est vel propria hominis vel communis hominum. […] Est autem voluntas communis in statu collisionis praegnantior propria.« (XX 161,2 und 16–17) Wenn sich die private Maxime und der Gemeinwille widersprechen, ist das letztere zu wählen, denn »obligatio ex communi hominum [sc. voluntate]« (XX 161,36) ist wichtiger. Alle Darstellungen des kategorischen Imperativs rekurrieren an entscheidenden Stellen darauf, dass der Mensch das Gesetz gibt. Das Grundgesetzt der reinen praktischen Vernunft sei: »Handle so, daß die Maxime deines Willens jederzeit zugleich als Princip einer allgemeinen Gesetzgebung gelten könne.« (V 30,37– 39) Konrad Cramer paraphrasiert zu Recht: »Ein solches Prinzip ist gleichsam ein Verfassungsgrundsatz, kraft dessen allgemeine Gesetze gegeben werden, […].«136 Es wurde bereits erörtert, dass es zu den wesentlichen Merkmalen der Konstellation von Maxime und Gesetz bzw. Natur- und Zivilzustand gehört, dass sich die zweite Stufe nicht aus der ersten herleiten läßt, sondern nur durch einen Übersprung, eine Art Revolution, gewonnen wird. Sowohl bei einer Nutzinterpretation wie auch bei der Universalisierung wird versucht, die zweite aus der ersten durch eine Form der Rationalisierung zu gewinnen. Es ist die Hoff nung, der Naturzustand könne durch eine kluge Kommerzialisierung aller Interessen der Beteiligten und Betroffenen oder irgendeine Form der Deliberation gewonnen werden. Platon, Rousseau und Kant, aber auch Hobbes setzen dagegen auf eine nicht ableitbare Wende im Entweder-Oder. Die Maximen können sich universalisieren wie immer sie mögen, sie bringen es nie zum Status eines Gesetzes. Der kategorische Imperativ nimmt mimetisch der kategorische imperativ – gültig überall und immer? | 101
teil an dem unerklärbaren Überschritt von naturalen Vorteilskalkülen eines oder aller zu einer Vernunftordnung eigener Dignität. Ich denke, hiermit ist die Zweistufigkeit befriedigend aus dem Zweiphasen-Modell von »status naturalis« und »status civilis« erklärt. Es sollen die faktischen, nur subjektiven Regeln unserer Handlungspläne kritisch überprüft werden an einem nur formalen Kriterium: Passen sie in eine öffentliche Ordnung, die dem Gesetzeswillen aller entspringen kann, das Handeln aller konfliktfrei regelt und die Zwecke anderer mit den eigenen kompatibel macht? Der kategorische Imperativ besagt: Ich soll erstens meine naturwüchsigen Maximen dem Gesetzestest unterwerfen, und ich soll zweitens dem Ergebnis entsprechend handeln, ohne auf einen Schaden oder Nutzen zu blicken. In dieser doppelten Maßnahme liegt mein ideeller Überschritt von meiner Willkürmaxime zum gesetzlichen Handeln entsprechend einer »volonté générale«. Nach Kant ist dazu grundsätzlich jeder erwachsene Mensch in der Lage.137 Das Gesetz ist entweder ein Gebot oder Verbot oder eine Erlaubnis, es ist strikt oder weit, es legt einen formalen Rahmen fest, in dem ich so wie jede andere Person nach eigener Willkür handle, und einen Inhalt, nämlich mich selbst und andere freie Vernunftwesen, also Menschen, als Zweck an sich. Dies gilt mutatis mutandis für das Sittengesetz der Person wie für das Rechtsgesetz des Staats. Die gesetzliche Begrenzung der Freiheit eines jeden durch die aller anderen ermöglicht im Staatswesen die Ausübung privater Zwecksetzungen. In diesem Sinn läßt sich der kategorische Imperativ umformulieren in den Imperativ, sich und andere unverletzt sein zu lassen und sich gegenseitig darin zu fördern. Eben dies ist im Naturzustand der je eigenen Maximen nicht möglich, in ihm lädiert jeder jeden, weil es keine – außer durch Zufall – kompatible Handlungsbegrenzungen gibt. Man gewinnt auf diese Weise eine Grundlage für das Verständnis der dualen Anlage von Willkür und Wille. Die Willkür ist verantwortlich für die Bildung von Maximen im Naturzustand; sie steht jedoch unter dem bedingungslosen Gesetzessoll des Willens und damit dem Diktat, aus der gesetzlosen Willkürfreiheit zum gesetzlich freien Willen überzugehen. Es gibt jedoch für den Menschen keine Möglichkeit, den inneren Naturzustand ein für allemal 102 | kapitel III
abzulegen und nur noch »citoyen« zu sein; das »exeundum« gilt für jeden Augenblick des Lebens, auch wenn der Übergang sich in einer inneren Revolution ereignet. Nimmt man die Stufung von »status naturalis« und »status civilis« als Folie der Stufung von Maxime und Gesetz, ergibt sich notwendig ein doppelter Begriff von Freiheit; der eine ist die »wilde Freiheit« des Naturzustandes, der zweite der gesetzlich geordnete, in dem das Gesetz selbst sich bestimmt als Freiheitsgesetz und der Freiheit allererst zur Existenz verhilft . Liegt diese Dopplung der Unterscheidung von Willkür und Wille zugrunde, zu der sich Kant erst allmählich durchringt? Zum doppelten Freiheitsbegriff hat er sich nie bekannt, wenn ich richtig sehe. Die natürliche Freiheit der Maximenbildung muß im dualen Schema von Natur und Freiheit der Natur und ihrer Gesetzlichkeit anheim fallen, und damit wird diese Freiheit zur Illusion, gesehen aus der Perspektive der eigentlichen Freiheit mit ihrer eigenen Gesetzlichkeit. Wenden wir uns der Rechtslehre zu, so stoßen wir auf folgendes vielleicht analoge Phänomen. Kant spricht bei der Bestimmung der bürgerlichen Rechte von Freiheit, Gleichheit und Selbständigkeit (VI 313,29–315,22). Die letztere Qualität kommt nur den Aktivbürgern zu, die freien, gleichen, aber unselbständigen Bürger werden dagegen durch Naturqualitäten (Frauen, Kinder) oder die Positionen in der bürgerlichen Gesellschaft näher charakterisiert.138 Nur die aktiven Bürger bestimmen die Gesetze, denen sie unterworfen sind, sind also im strikten Sinn autonom, nur sie sollen vor Gericht auft reten und Verträge schließen können. Aber die unselbständigen Bürger müssen, sofern sie keine Kinder sind, zum Schließen von Verträgen in der Lage sein, so beim Ehevertrag, so beim Vertrag des Lohnabhängigen mit seinem Arbeitgeber. Um welche aktive Freiheit handelt es sich? Wir sollen aus der Anarchie der situativen Maximen und ihrem unberechenbaren Schwanken zwischen Gewalt und Schmeichelei übertreten in eine gesetzlich bestimmte Ordnung von Personen, die eben dadurch frei, damit aber auch gleich sind.139 Dieser menschlichen Möglichkeit gilt Kants ganze Emphase; wir sollen aus der Abhängigkeit von den Neigungen und dem Taumeln der wechselnden Maximen übertreten in eine völlig andere Ordnung, die der Freiheit und des Gesetzes. Hierin liegt die Würde des Mender kategorische imperativ – gültig überall und immer? | 103
schen, hier nach Kant seine Bestimmung. Kein postmetaphysischer Fußgänger der Verallgemeinerung wird diese Sphäre je erreichen.
5. Eine chimärische Ethik Interpretiert man den kategorischen Imperativ als Prinzip der Universalisierung, wird unverständlich, dass Kant nach der Entwicklung des Freiheitsgesetzes in der Analytik der KpV in der Dialektik plötzlich erklärt, dass ohne Erfüllung einer bestimmten Bedingung das moralische Gesetz »phantastisch und auf leere eingebildete Zwecke gestellt« sei (V 114,8)140. Auch in der KrV hieß es, die moralischen Gesetze könnten als solche noch als »leere Hirngespinste« (A 811) angesehen werden. Die Vernunft wird die Ausführbarkeit unserer Pflicht ohne die Annahme von Gott und Unsterblichkeit »für eine ungegründete und nichtige, wenn gleich wohlgemeinte Erwartung halten und, wenn sie von diesem Urtheile völlige Gewißheit haben könnte, das moralische Gesetz selbst als bloße Täuschung unserer Vernunft in praktischer Rücksicht ansehen.« (V 471,21–28) Die Bedingung, die das Moralgesetz vor dem Chimären-Vorwurf schützt, ist der begründete Glaube an Gott und die Hoff nung auf Unsterblichkeit. Wir hatten oben gesehen, dass die kritische Moralphilosophie den theologischen Absolutismus durch den Republikanismus ersetzt, und jetzt zeigt sich eine überraschende Rückkehr zur Theologie. Sie impliziert, dass unsere autonomen Gesetze angesehen werden können als die Gesetze eines göttlichen Gesetzgebers und dass dieser Gesetzgeber vorgestellt wird als der Garant, dass das notwendige Objekt unseres moralischen Willens, das Weltbeste, keine Chimäre ist; als Weltschöpfer und Weltregent wird Gott unser moralisches Bemühen mit Erfolg krönen, durch die Unsterblichkeit wird unser vergebliches irdisches Bemühen nicht unklug und unvernünftig sein. »Lasciate ogni speranza« – im Infernum ist moralisches Handeln absurd, aber im »Regnum Dei« ist es vernünft ig, der Vernunft gemäß zu handeln. Im Genfer Entwurf des Contrat social wandte Rousseau gegen Diderot ein, dass dessen »volonté générale« des Menschengeschlechts (ohne staatliche Verfassung) eine »véritable chimère«141 sei, weil ihr eine exekutive Institution fehle. Wer in der allgemei104 | kapitel III
nen Menschengesellschaft wirklich moralisch handelt, ist ein deplazierter Narr. Die GMS experimentiert noch mit einem anderen Modell als die KpV. Sie entwickelt in den beiden ersten Abschnitten den kategorischen Imperativ als einzig mögliches Sittenprinzip, das aber als solches noch nicht gewährleistet, dass es nicht »eine chimärische Idee ohne Wahrheit« (IV 445,6)142 ist. Die Wahrheit wird im dritten Abschnitt durch den Rekurs auf die Differenz von Ding an sich und Erscheinung erwiesen; als moralisch Handelnde nehmen wir nicht den Standpunkt in der Erscheinungswelt, sondern in der Verstandes- oder intellektuellen Welt ein, die den Grund der bloßen Erscheinungen bildet. Von Gott ist hier keine Rede, die intelligible Welt wird republikanisch gedacht. Die Systemposition der Moraltheologie in der KpV wird sichtbar, wenn man den Blick für die Konstellation freigibt, in der Kant seine Gedanken anschaulich darstellt. »Analytik« und »Dialektik« bestehen aus vier Teilen und sind nach dem Schema 1, 2, 3 / 4 organisiert. Die »Analytik« enthält drei Teile, das Grundgesetz, die Begriffe und die Ästhetik (Triebfeder), dann tritt als vierter Teil die »Dialektik« hinzu. Die KpV folgt damit derselben Anlage wie die Urteils- bzw. Kategorientafel, die nach drei inhaltlich besetzten Positionen (der Quantität, Qualität und Relation) die Modalität folgen läßt. »Die Modalität der Urteile ist eine ganz besondere Funktion derselben, die das Unterscheidende an sich hat, daß sie nichts zum Inhalte des Urteils beiträgt (denn außer Größe, Qualität und Verhältnis ist nichts mehr, was den Inhalt eines Urteils ausmachte,) sondern nur den Wert der Copula in Beziehung auf das Denken überhaupt angeht.« (A 74)143 Die Modalität bestimmt die vorher besetzten inhaltlichen Positionen in den Alternativen von Möglichkeit, Wirklichkeit und Notwendigkeit. In den »Grundsätzen des reinen Verstandes« wird die Modalität durch den Titel der »Postulate des empirischen Denkens überhaupt« (A 218)144 ausgefüllt. Sie führen keine neuen Inhalte ein (A 219; 233), und tatsächlich sind die drei Postulate im Einzelnen zurückbezogen auf die Möglichkeit der Axiome der Anschauung, die Wirklichkeit der Antizipationen der Wahrnehmung und die Notwendigkeit der Analogien der Erfahrung (A 218); also: keine neuen Inhalte, wie die Urteilstafel schon ankündigte. Ohne uns in die komplizierte der kategorische imperativ – gültig überall und immer? | 105
Frage zu vertiefen, wie sich dies nun auf die Trias von Verstand, Urteilskraft und Vernunft bezieht (A 219), gehen wir den hier genannten »Hirngespinsten« (A 222) nach, die wir aus der Moralphilosophie kennen: Ohne die Postulate der Moraltheologie könnten die moralischen Gesetze bloße Chimären, Hirngespinste sein. Hier: Die Postulate des empirischen Denkens schützen uns davor, dass Hirngespinste wie die Visionen von Swedenborg oder erdachte Grundkräfte145 in das Territorium der Erfahrungen dringen. Die Postulate demonstrieren, dass die drei vorhergehenden Grundsätze die einzig möglichen sind, sie sorgen für die Grenzziehung nach außen und verbannen die Hirngespinste. »Andere Formen der Anschauung« fallen apriori fort, und: »Ob andere Wahrnehmungen […] zu unserer gesamten möglichen Erfahrung gehören, und also ein ganz anderes Feld der Materie noch stattfi nden könne, kann der Verstand nicht entscheiden, er hat es nur mit der Synthesis dessen zu tun, was gegeben ist.« (A 230–231) Hier gewährleisten die Postulate, dass nichts anderes einen Anspruch auf Möglichkeit, Wirklichkeit und Notwendigkeit erheben kann als die vorherigen Titel. Das Pendant der Vergewisserung nach innen, die Demonstration, dass unsere Vorstellungen selbst keine bloßen Ideen ohne Realität sind, geschieht durch die »Widerlegung des Idealismus« (B 274). Es soll gewährleistet werden, dass die Axiome der Anschauung, die Antizipationen der Wahrnehmung und die Analogien der Erfahrung nicht bloße Vorstellungen liefern, denen die Wirklichkeit noch fehlt, die also Hirngespinste und Chimären sind. Gegen diesen Einwand liefert Kant 1787 ein neues Argument, das uns in seiner Konstruktion hier nicht zu interessieren braucht. Zurück zur KpV. Die Postulate, von denen die Dialektik handelt, garantieren die Wirklichkeit (oder Notwendigkeit) dessen, was zuvor noch als bloße Chimäre angesehen werden konnte. Ohne die Theologie ist die moralische Ordnung der »Analytik« ein bloß gedankliches Treibgut. Erst der Nachweis der objektiv praktischen Realität von Gott und Unsterblichkeit macht die nur gedachte Ordnung zum Festland. Wer dem moralischen Traum schon vorher Wirklichkeit zubilligt und nach ihm handelt, ist ein ehrenwerter Narr so wie Spinoza und Diderot. Die Triebfeder moralischen Handelns pocht auf Ausschließlichkeit, es soll nur aus Achtung vor dem Gesetze gehandelt werden; es 106 | kapitel III
mag, so können wir ergänzen, begleitende Neigungen geben, etwa die Freundesliebe, aber das entscheidende Kriterium ist die Achtung, die auch dann wirksam sein soll, wenn die Liebe erkaltet. Aber hiermit sind die Wirklichkeit und Notwendigkeit des Handelns unter dem kategorischen Imperativ vollständig gewährleistet – wie kann jetzt noch der Chimärenverdacht erhoben werden, der nur durch die Postulate von Gott und Unsterblichkeit ausgeräumt wird? Das Pendant zum Abweis einer möglichen SwedenborgWirklichkeit ist die Idee, dass sich die Postulate inhaltlich ganz auf die Moral der Analytik beziehen und aus dem Glauben und der Hoff nung keine weiteren inhaltlichen Pflichten kommen können; Glaube und Hoff nung sind auf die Moral restringiert, die das einzig mögliche Pfl ichtprinzip angibt. So wie Swedenborg auf die kategorial ausgewiesene Wirklichkeit verpflichtet wird, so die Kirche auf die moralische Wirklichkeit der reinen praktischen Vernunft. Gott ist Gott für uns, und dieses »für uns« ist festgelegt durch die einzig mögliche Moral, die der Analytik.146 Das Pendant zum Abweis des theoretischen Idealismus ist die Widerlegung des moralischen Idealismus. Die Postulate in der Dialektik der KpV widerlegen den Chimärenverdacht, die Pflichten der Analytik seien Phantasiegebilde. Aber können sie diese letzte Aufgabe wirklich erfüllen? Die objektive praktische Realität der Postulate ist nicht in einem gesonderten Fundament des Glaubens begründet, sondern leitet sich aus dem kategorischen Imperativ der Analytik der KpV selbst her. Zieht sich die Moral damit an ihrem eigenen Schopf aus dem Sumpf ihrer glücklosen Gesetze?147 Um die Konstruktion zu verstehen, ist es gut, auf ihren Ursprung in der frühen Neuzeit zurück zu gehen. Nach der Vorherrschaft von Platon und Aristoteles setzten sich die hellenistischen Schulen durch. Die Stoa wurde bewundert wegen ihrer moralischen Prinzipien, zugleich jedoch kritisiert: Der stoische Weise sei in Wirklichkeit ein Narr, weil sein Rigorismus, der ihn zum Tod führen könne (Cato), sich in Nichts auflöste; am Ende stehe die sittliche Person mit leeren Händen da, die Moral sei eine Chimäre. Hier genau helfe die christliche Religion und fülle mit dem Glauben an Gott und der Hoff nung auf Unsterblichkeit das Desiderat und verhelfe der Moral zur Realität, die vor der Vernunft Bestand habe.148 Man sieht, dass hier die christliche Ergänzung der Moral eigenständig begründet der kategorische imperativ – gültig überall und immer? | 107
bzw. geglaubt wird, jedenfalls nicht zur Vollendung der Sittlichkeit aus dem ersten Teil abgeleitet wird. Kant dagegen macht den Glauben und die Hoff nung von der Moral abhängig; begeht er damit einen Zirkel? Eine unter Chimärenverdacht stehende Moral kann schwerlich mit einem selbst erzeugten Postulat aus der Phantasie zur Wirklichkeit gebracht werden; die Kantische Moral kann jedoch mit dem schon oben angesprochenen legitimen Überschritt vom »ought« zum »is« die für ihre Geltung notwendigen Setzungen vornehmen und damit den Gegenständen von Glaube und Hoffnung, Gott und Unsterblichkeit, objektive praktische Realität verleihen, praktische Realität, nicht theoretische. In einer lockeren Redeweise kann dann der Chimärenverdacht geäußert werden: Käme den Postulaten kein »is« zu, dann könnte auch der kategorische Imperativ nicht sein. Daß das »ought« unabdingbar gilt, kann in dieser Argumentation nicht ernsthaft in Frage gestellt werden. Die Sittlichkeit führt zu einer Handlungsnorm, die nicht aus der üblichen Praxis (des Opportunismus) abgeleitet wird und daher mit den bestehenden Verhältnissen in einem möglichen Konflikt steht. Sittliches Handeln kann somit zur Zerstörung des Glücks und aller Zwecke des höchsten Guts führen, das sich das moralische Subjekt zum Ziel gesetzt hat. Nun gibt es zwei Formen des Glaubens und der Hoff nung. Der Handelnde glaubt entweder vorweg an eine bestehende göttliche Weltordnung und bettet sein Handeln in sie ein, oder aber er braucht diese Ordnung und leitet Glauben und Hoff nung aus der sonst drohenden Verzweiflung ab. Es scheint so, dass Kant beide Wege beschreitet. Der zweite ist der des Philosophen, der die Moral vor den Glauben und die Hoff nung stellt und im Bewusstsein dieser seiner Anordnung den Glauben und die Hoff nung nur als Arrangement seiner Gedanken kultiviert, aber zugleich der Meinung ist, das gewöhnliche sittliche Bewusstsein rekonstruiert zu haben. Lampe & Co. analysieren dagegen ihre Moral und ihren Glauben nicht, sondern nehmen die moralischen Gesetze als Ausdruck des göttlichen Willens, der zugleich die Gewissheit vermittelt, dass die Moral nicht in einer nie zu korrigierenden Katastrophe, sondern glücklich endet. So kann der Glaube als Sinnstifter einer autonomen, nicht autarken rigorosen Moral gelebt werden; ein wirkliches Scheitern gibt es nicht. In dieser Weise rekonstruiert Kant Leben und Wirken seines Dieners. 108 | kapitel III
Wenn Lampe jedoch die KpV liest, erkennt er: Sein naiver Glaube und die Hoff nung waren in Wirklichkeit nur Köder der Moral, die diese zur erweiterten Selbstrealisierung und zur Abwehr der Verzweiflung auslegt; das wusste Kant, ohne es Lampe zu sagen. Nachdem er die Postulatenlehre der KpV durchschaut hat, steht Lampe vor der Alternative, moralischer Opportunist und Skeptiker oder aber Stoiker zu werden. Der Opportunist und Skeptiker hält die moralischen Vorstellungen für nur subjektives Treibgut, der Stoiker ist dagegen von der objektiven Pfl icht der Moral als solcher überzeugt und beschränkt sich auf die Erfüllung dessen, was er in seiner Gewalt hat, mag dies nun in der Welt glücklich ausgehen oder nicht. »Ultra posse nemo obligatur« – meine Pflicht kann sich nicht auf die Realisierung des höchsten Guts beziehen, sondern nur auf die Bemühung. Wenn diese scheitert, betrifft mich das Misslingen nicht als sittliche Person, sondern als begrenzten Menschen. Descartes löste das Idealismusproblem auf folgende Weise. Es findet sich unter meinen Vorstellungen, den »ideae«, auch die Vorstellung Gottes, eines Wesens, das meine eigene Realität unendlich überschreitet. Nun kann diese Vorstellung entsprechend nicht von mir ausgehen, sie verweist auf Gott als ihren einzig möglichen Ursprung. Damit aber habe ich auch die Möglichkeit, meine Weltvorstellungen als objektiv gültig zu erweisen, denn Gott kann mich in einer so hartnäckigen Überzeugung nicht täuschen wollen.149 Im kategorischen Imperativ ist zunächst nichts, was über ihn hinaus auf einen göttlichen Urheber verweist, er stellt sich als solcher nicht als göttliches Gebot dar. Das Sittengesetz verpfl ichtet den Menschen bis zur Selbstaufgabe – dass man nur aus sittlichem Anstand sein Leben läßt, ist eine Vorstellung, die jedem sittlichen Wesen vertraut ist. Der Überhang liegt erst in der sittlichen Notwendigkeit der Realisierung des höchsten Guts, das in seinem Glücksanteil nicht in der begrenzten Gewalt des Menschen ist. Legitimiert jedoch dieser Riß zwischen menschlicher Pfl icht und menschlichem Können den Glauben an ein Wesen, das mein Unvermögen ausgleicht und damit gewährleistet, dass das moralisch Gesollte à la longue auch wirklich wird? Der parallele Gedanke bei Descartes: Gott hat uns als Wesen geschaffen, die mit einer unüberwindlichen Kraft genötigt werden, der kategorische imperativ – gültig überall und immer? | 109
an die Realität der Außenwelt zu glauben. Als allmächtiges und gütiges Wesen kann er seinem Geschöpf diese Überzeugung nicht als Lüge zubereitet haben; wir sind also befugt, die Vorstellungen von der Welt grundsätzlich als wahr anzunehmen. Kant: Unsere Natur bringt es notwendig mit sich, dass wir als freie Wesen moralisch handeln sollen, als natürliche Wesen jedoch unweigerlich das Glück erstreben; beides ist im Begriff des höchsten Guts vereint, zu dessen Verwirklichung wir verpfl ichet sind. Nun würde uns die reine praktische Vernunft zu etwas Unvernünft igem nötigen, wenn das höchste Gut vom Zufall abhinge. Nur ein Gott kann also das Vernunft projekt von der Möglichkeit befreien, chimärisch zu sein. Unter den Postulaten begegnet erneut die Freiheit, also die Position, die in der triadischen Metaphysik neben der Psychologie (Unsterblichkeit) und der Theologie qua »mundus intelligibilis« offen steht. Vielleicht läßt sich dies erneute Vorkommen in der Dialektik zusätzlich so interpretieren: Der kategorische Imperativ ist ein Faktum unseres Bewusstseins, das damit unsere Freiheit als »ratio essendi« des uns präsenten Soll erkennbar macht. Ist jeder Mensch mit diesem Bewusstsein ausgestattet? Wir müssen aus Gründen der Wirklichkeit der Moralität eben dies postulieren. Mit dieser Selbstsetzung ist die Möglichkeit geschaffen, gemäß dem Freiheitsgesetz in Recht und Ethik auch dann zu verfahren, wenn die anderen Subjekte entweder kein sittliches Bewusstsein haben oder aber ein ganz anderes, etwa in anderen Kulturen. Der Imperativ ist imperial: Die reine praktische Vernunft drängt sich auch dort mit einem Oktroy auf, wo ihr die apriorische Anerkennung fehlt. Dem amoralischen Zombie geschieht kein Unrecht, wenn er gemäß den freiheitlichen Rechtsprinzipien behandelt und bestraft wird; wer dagegen anderen Moralvorstellungen anhängt, müsste sie verteidigen, und hier wird er nach Kant mit der Einzigkeitsthese des kategorischen Imperativs als eines Pfl ichtprinzips schon in den Abschnitten 1 und 2 der GMS konfrontiert. Seine theoretische Vernunft informiert daraufh in die praktische Vernunft, dass sie sich zum Kantianismus zu bekehren habe. Es ist leicht zu sehen, dass die nach Hare und in Deutschland ab 1968 vorherrschende Interpretation des kategorischen Imperativs diese theologische Fundierung ebenso wie die intelligible Welt der 110 | kapitel III
GMS beiseite schiebt; beides wird durch die Idee der Universalisierung der privaten Interessen überflüssig. Ein gutes Dokument ist die Interpretation von Markus Willaschek, der jenseits allen Verdachts einer ideologischen Beeinflussung die Universalisierungsthese vorträgt und die Moraltheologie ausschließt, sie wird mit keinem Wort mehr erwähnt. An die Stelle der Form und Notwendigkeit und des Rigorismus tritt das Austarieren gemeinsamer Interessen, an die Stelle der Kantischen Republik die Demokratie der Gegenwart. (Die Universalisierungspartei interpretiert Kants Differenz von Ding an sich und Erscheinung als den Unterschied von Standpunkten und verschiedenen Ansichten; es bieten sich identische Etwasse einmal als »Dinge an sich selbst betrachtet« dar, zum anderen als diese Dinge, wie sie uns erscheinen.150 Dagegen steht die Vorstellung, dass zwar Erscheinungen unleugbar als Erscheinungen einer noumenalen Welt gedacht werden müssen, dass aber Ideen der reinen Vernunft notwendig ein Ding an sich sind, aber nicht erscheinen können, so etwa Gott und Unsterblichkeit.)
6. Grenzprobleme Kants Moralphilosophie erhebt den Anspruch, alle moralischen Konflikte im Prinzip lösen zu können. Das Reich der Zwecke enthält keine Antinomie oder unheilbare Risse. Mit der Präferenzordnung von engen und weiten Pflichten ist jederzeit ein Leben ohne tragische Konfl ikte möglich, und die Pfl icht zu erkennen ist jederzeit problemlos möglich. Dafür dient der Kompaß als Vergleich aus der Naturordnung. »Es wäre hier leicht zu zeigen, wie sie [die gemeine Menschenvernunft, RB] mit diesem Compasse in der Hand in allen vorkommenden Fällen sehr gut Bescheid wisse, zu unterscheiden, was gut, was böse, was pflichtmäßig, oder pflichtwidrig sei […].« (IV 404,1–3) Der Kompaß ist eine Art kleiner Stoiker, der sich selbst treu bleibt und sich unbeirrbar die richtige Richtung weist, »semper idem«. Nun ist der Kompaß jedoch kein autarkes System, das sich unfehlbar selbst bestimmt, sondern er kann den Benutzer in die Irre führen, einmal, wenn Eisen in der Nähe die Kompaßnadel beeinflußt, zum andern, wenn sich der Benutzer zufällig auf dem der kategorische imperativ – gültig überall und immer? | 111
magnetischen Nord- oder Südpol befindet und starrsinnig in die Richtung geht, die die Nadel zufällig anzeigt. Die Benutzung des Kompasses setzt Urteilskraft voraus; dasselbe gilt für den kategorischen Imperativ. Beide sind nicht flächendeckend gültig. Für den außenstehenden Betrachter verkehrt sich in Extremfällen die Achtung für die Gesetzestreue in Abscheu und Verachtung. Der Mensch »muß Achtung vor dem Gesetz in sich selbst haben, um sich nur eine Pfl icht überhaupt denken zu können.« (VI 403,4–6) Auf dem Nord- und Südpol haben wir jedoch nach dem Kompaßvergleich einen gesetzlosen Zustand; die Kompaßtreue wird zum Kompaßwahn. Was ist in ihm zu tun? Entgegen Kants Meinung gibt es, so scheint es, sittliche Konfl ikte, die sich nicht mit der Gesetzesethik lösen lassen, sondern nur mit einem sittlich geschulten situativen Urteil, orientiert an der Selbstachtung.
7. Ethisch-rechtliche Aporien Es soll im Folgenden zuerst eine Situation von sittlicher Relevanz vergegenwärtigt werden, in der die reine praktische Vernunft paralysiert ist und bei der Frage: »Was soll ich tun?« keine Auskunft geben kann. Als Beispiel dient die Aporie der Pockenimpfung, die Kant nicht löst, sondern an die Regierung delegiert. Danach werden Situationen angeführt, in denen der kategorische Imperativ so wenig handlungsorientierend sein kann wie der Kompaß auf dem Nordpol.
Die Aporie der Pockenimpfung In der »Tugendlehre« von 1797 heißt es: »Wer sich die Pocken einimpfen zu lassen beschließt, wagt sein Leben aufs Ungewisse, ob er es zwar thut, um sein Leben zu erhalten, und ist so fern in einem weit bedenklicheren Fall des Pfl ichtgesetzes, als der Seefahrer, welcher doch wenigstens den Sturm nicht macht, welchem er sich anvertraut, statt dessen jener die Krankheit, die ihn in Todesgefahr bringt, sich selbst zuzieht. Ist also die Pockeninoculation erlaubt?« 112 | kapitel III
(VI 424,3–8; s. a. XII 424,3–8; XXI 144?)151 Hier geht es also um Leben und Tod, und im Gegensatz zum eigentlichen Thema der Tugendlehre nicht um die Zwecke, die sich jemand setzt, sondern um die Handlung, die geboten, verboten oder erlaubt ist, die eigentlich in die Rechtslehre gehört. Nun kann der Autor Kant als Theoretiker die Frage offenlassen und zum nächsten Kapitel übergehen, der Mensch in einer praktischen Lebenssituation hat diese bequeme Möglichkeit der Vertagung oder bloßen Frage jedoch nicht; für ihn führt die epoché zu einer Stellungnahme im aut-aut der Entscheidung, denn wer die Impfung hinausschiebt, verneint de facto die Erlaubnis und kann dadurch den späteren Pockentod verschulden. In dieser Lage war ein junger Graf Dohna, der am 28. August 1799 an Kant schrieb, seine Braut habe die Blattern noch nicht gehabt, aber ein »Vorfall in unsrer Familie wo eine junge Frau von 19 Jahren in dem Kindbette die Blattern bekam und ohne Rettung starb, welche Erfahrung man häufig macht«, stelle jetzt unaufschiebbar die Frage, ob die Braut sich impfen lassen solle oder nicht. »Ich halte sie [die Impfung, RB] für erlaubt, da ich doch mein Leben noch auf etwas Ungewisseres wage, wenn ich es darauf ankommen laße, von einem böseren Gifte, zu einer gefährlicheren Zeit, und unvorbereitet angesteckt zu werden. Ich bitte Sie herzlich lassen Sie mich wissen, was das Gesetz spricht, sobald als möglich.« (XII 283–284) Man meint, Kant würde auf der Grundlage seiner Gesetzesethik eine Entscheidung formulieren, er tut jedoch etwas anderes, das höchst interessant ist; er erwägt, »[…] daß nämlich die Regierung die Pockeninoculirung durchgängig anbefehle, da sie dann für jeden Einzelnen unvermeidlich: mithin erlaubt ist.« (XV 972,8–10) Das Individuum ist in der Kantischen Konstruktion des Falles der Pockenimpfung durch die unaufschiebbare Entscheidung pro oder contra überfordert. Auf der einen Seite steht das strikte Gebot, alle willkürlichen Lebensgefährdungen zu unterlassen, auf der anderen die Pfl icht, alles sittlich und physisch Mögliche für die Erhaltung des Lebens zu tun. Der Brief des Grafen Dohna zeigt diesen Konflikt, den er selbst nicht lösen kann; er ruft zur Urteilsfindung die Autorität des Philosophen an, und dieser verweist ihn auf die Autorität der Regierung. Kant unterstellt sogleich die positive Entscheidung der Regierung, die das Individuum, das die der kategorische imperativ – gültig überall und immer? | 113
Pockenimpfung vornehmen läßt, moralisch entlastet: Aber nach welchem Prinzip entscheidet die Regierung? Sicher nicht nach dem Moralprinzip »Fiat iustitia – pereat mundus«, sondern nach der Losung »Salus populi suprema lex esto!« Für die Regierung dreht sich die Ordnung, die wir in der Kantischen Philosophie fanden, um: Das Gute ist nicht dadurch gut, dass es gesetzlich ist, sondern das Gesetz wird erlassen, weil es ein als solches erkanntes Gutes realisiert, das Überleben der größtmöglichen Menge. Die Regierung verfährt utilitaristisch; sie nimmt die statistisch auft retenden Todesfälle in Kauf und rettet damit die größtmögliche Zahl von Bürgern. Innerhalb der Kantischen Theorie befinden wir uns damit (cum grano salis) in dem Kapitel des Übergangs vom Privat- zum öffentlichen Recht (VI 296–305)152. Die öffentliche Gerichtsbarkeit urteile anders als das bloße Vernunft recht. »Die Frage ist […] hier nicht bloß: was ist an sich recht, wie nämlich hierüber ein jeder Mensch für sich zu urtheilen habe, sondern: was ist vor einem Gerichtshofe recht, d. i. was ist Rechtens?« (VI 297,11–13) Auf sich allein gestellt, fi ndet der Mensch, dass er bei einer Pockenimpfung »die Krankheit, die ihn in Todesgefahr bringt, sich selbst zuzieht«, wie Kant formulierte. Für den Gerichtshof ändert sich der Gesichtspunkt; er urteilt nach der »Idee des öffentlichen Rechts« (VI 297,17), nach der Staatsräson der Rechtsrealisierung im Ganzen.
Jenseits der Gesetzesethik? Kant spricht ein absolutes Lügenverbot sowohl in der Rechtsbeziehung zwischen Menschen wie auch, in der Tugendlehre, in der Selbstbindung des Menschen an die innere Wahrhaft igkeit, aus (bes. VI 429–431 »Von der Lüge«153). Die Rechtsbeziehung ist das Thema in der Schrift Über ein vermeintes Recht aus Menschenliebe zu lügen (1798). Jemand gewährt einer anderen Person in seinem Haus ein Versteck vor dem ihn verfolgenden Mörder. Ist er gegenüber dem Mörder, falls sich eine Antwort auf dessen Nachfrage nicht vermeiden läßt, verpflichtet, die Wahrheit zu sagen? Nach Kant spielt in der Moral weder der Nutzen oder Schaden, den meine Aussage anrichtet, eine Rolle, 114 | kapitel III
noch ein Recht des designierten Mörders, sondern allein die Tatsache, dass eine Lüge das Recht der Menschheit überhaupt lädiert (vgl. VI 308,4–6: »Aber sie thun überhaupt im höchsten Grade unrecht, weil sie dem Begriff des Rechts selber alle Gültigkeit nehmen […].«). Ich bin zur Wahrhaft igkeit im Verhältnis zu anderen Menschen absolut verpflichtet. Wahrhaft igkeit bedeutet, dass ich nichts sage, von dessen Wahrheit ich nicht überzeugt bin. »Es ist also ein heiliges, unbedingt gebietendes, durch keine Convenienzen einzuschränkendes Vernunft gebot: in allen Erklärungen wahrhaft (ehrlich) zu sein.« (VIII 427,24–26) Es ist ein gewaltiger Fels, der hier vor allen listigen Ausflüchten liegt, mit einer Lüge selbstherrlich und für sich und die eigenen Gefühle und Kalküle vorteilhaft die Welt zu ordnen. Kants Imperativ besagt, niemals zu lügen, also etwas zu sagen, was nicht der eigenen Wahrheitsüberzeugung entspricht. Wunderbar, sagt unser Kantianer, und jeder wird ihm zustimmen und so die Korruption der Welt mit einem Schlag beenden. Aber ist diese Meinung haltbar? Ich erkläre gegenüber dem Kind, dass es so gut läuft wie ein Olympiasieger – eine glatte Lüge, aber ich möchte ihm Mut machen. Ist meine Erklärung verboten? Sicher nicht. Der Schauspieler erklärt gegenüber dem Publikum, er sei Hamlet. Eine klare Lüge.154 (Wahrhaft iger schon Schnock: »Ich bin der Löwe! Und ich bin nicht Löwe, sondern Schnock!«) Oder handelt es sich deswegen um keine Lüge, weil die Fiktion von allen durchschaut wird? Gehört dies zu den »Convenienzen«, die das Vernunftgebot denn doch einschränken dürfen? Im Theater der Gesellschaft kann jemand erklären: »Dero ergebenster Diener I. Kant« (X 2,7–9); »Ew. Königl. Majestät allerunterthänigster Knecht Immanuel Kant« (X 3,29–31); »Ew. Kayserl Majestät allerunterthänigster Knecht Immanuel Kant« (X 6,19–21). Kant denkt nicht daran, nach Potsdam oder Petersburg zu fahren, um dort den Stallknecht und Diener am Hof zu spielen. Eine durch Konvention aber doch erlaubte Lüge? »Niemand wird ja dadurch betrogen.« (VI 431,19) Aber die Lüge wird nicht dadurch bestimmt, dass jemand durch sie betrogen wird (VI 430,1–4). Der Nachbar ist geistig verwirrt und hält sich für Napoleon. Ich begegne ihm und erkäre auf seine dringende Nachfrage: »Aber ja, Sie sind Napoleon, das wissen doch alle!« »Natürlich, Sie sind aus der kategorische imperativ – gültig überall und immer? | 115
Glas, vorsichtig bei den Treppen dort!« Ich weiß, dass jede Erklärung, die mit der Wahrhaft igkeit vereinbar ist, eine Katastrophe auslöst. Lüge ich aus Menschenliebe? Soll ich, wenn Napoleon mich bedrängt, ihm in unserer Wahnenklave doch die Wahrheit sagen? Die Ärztin weiß, dass das Kind in Kürze sterben wird. Sie erklärt, nachdem die Eltern dies ebenfalls gesagt haben: »Ja, natürlich, bald wirst du wieder zu Hause sein«. Wir merken an: Es gibt keine Erklärung ohne Adressaten, sie ist nicht an Steine und Bäume gerichtet, sondern an Menschen; ihr Zustand ist Gegenstand der Beurteilung. Kann diese Beurteilung dazu führen, dass ich aus sittlichen Gründen meine Wahrhaft igkeitspflicht aussetzen muß und umgekehrt die Lüge nicht nur erlaubt, sondern sogar zur Pflicht wird? Platon: »Jeder wird wohl sagen, wenn einer von einem Freunde, der ganz bei besonnenem Mute war, Waffen empfangen hat und dieser sie im Wahnsinn wiederfordert, er ihm dergleichen weder verpfl ichtet ist wiederzugeben noch selbst recht täte, wenn er sie ihm wiedergäbe oder ihm in einem solchen Zustande von allen Dingen die Wahrheit sagte.«155 »Jeder wird wohl sagen« – so in der Antike, zu Kants Zeiten und in der Gegenwart. »Von allen Dingen die Wahrheit sagte« – das Lügenverbot wird ausgesetzt durch den Affektzustand der anderen Person. Wer in einem Vertragsverhältnis steht und zur Herausgabe der Waffe verpflichtet ist, ist hiermit nicht von der Pflicht dispensiert, von seiner Urteilskraft Gebrauch zu machen und zu beurteilen, ob die jetzige Herausforderung überhaupt ein Fall der vertraglichen Vereinbarung sein kann. Verachtet wird, wer hier urteilslos dem Wortlaut des Vertrages folgt und nicht von der Lüge Gebrauch macht. »Pacta sunt servanda« – wenn keine Umstände auft reten, die diese Regel außer Kraft setzen.156 Ich begegne vor dem Haus »einem eben jetzt mit Mordsucht Umgehenden« (VIII 427,2–3), auch »Mörder« genannt (VIII 427,10). Was ist genau ein »mit Mordsucht Umgehender«? Man wird zunächst sagen, ein eindeutig pathologischer Fall, bei dem ich der Pflicht, »in allen Erklärungen wahrhaft (ehrlich) zu sein«, so wenig unterliege wie beim betrunkenen Nachbarn aus Glas. Ob jemand mit Mordsucht umgeht und also nicht bei Sinnen ist, ist Gegenstand meiner Beurteilung.157 Wenn jemand einer anderen Person in seinem Haus Unter116 | kapitel III
schlupf gewährt, so kann diese Person unterstellen, dass der Hausbesitzer sich nach den allgemeinen sittlichen Regeln verhält und nicht dem »mit Mordsucht Umgehenden« auf Anfrage mitteilt, dass sie im Haus ist, im Keller hinter der grünen Planke. Dieses abnorme Verhalten hätte der Hausbesitzer ankündigen müssen, um dem Flüchtigen die Möglichkeit zu belassen, sich an einem nach menschlichem Ermessen sichereren Ort zu verstecken. Nehmen wir die Erweiterung dieser einzelnen Person, die mit Mordsucht umgeht, zu einem völkisch taumelnden Vernichtungssystem, dann ist die nächstliegende Auskunft , dass ich in dieser groß angelegten Psychiatrie in bestimmten Situationen keiner Wahrheitspfl icht in meinen Erklärungen unterliegen kann. Der Kompaß des moralischen Imperativs verliert seine Orientierung; verabscheut wird, wer sich trotzdem an seine Nadel klammert. Hier ist sittlich geboten, nach Maximen zu handeln, die kein öffentliches Gesetz werden können. Wer vor den Toren der Vernichtungslager darauf pocht, dass nicht gelogen werden darf, wird, anders als Kant meint, auf zwei Reaktionen der sittlich Urteilenden stoßen. Erstens: Die Gemeinschaft der sittlich urteilenden Personen verachtet ihn, und zweitens: Das eigene Gewissen, wenn es überhaupt intakt ist, verurteilt die Person, die in dieser Situation vor der Lüge zurückschreckt. Hier wird nicht »aus Menschenliebe« gelogen, sondern um vor dem Urteil anderer und seines eigenen Gewissens bestehen zu können. Das sittliche Urteil unbeteiligter Personen wird von Kant selbst für zuverlässig gehalten (IV 454,20–455,9), und dasselbe gilt für das eigene Gewissen (VI 400,22–401,21). In beiden Foren wird somit demjenigen, der in Extremsituationen lügt, testiert, dass dies nicht aus unkontrollierter Menschenliebe geschehen muß oder geschieht, sondern aus sittlichen Motiven. Nach Kant gibt es keine sittlichen Gründe für ein vom Gesetz abweichendes Urteil, sondern nur psychologische Ursachen wie im Fall von Cesare Beccaria (VI 334,37–335,2). Bei ihm stören die Neigungen (»teilnehmende[r] Empfi ndelei einer affectirten Humanität«) das Urteil der reinen praktischen Vernunft. Schon der Titel denunziert in derselben Weise die Gegenposition – dass Cesare Beccaria und Benjamin Constant sachliche Gründe für ihre theoretische Position haben, wird von vornherein aus dem Blick geräumt. der kategorische imperativ – gültig überall und immer? | 117
An die Stelle des allgemeinen Gesetzes und des Lügenverbots tritt am sittlichen Nord- oder Südpol die Selbstachtung als vage Orientierung. Sie ist zugleich ein Kriterium für den Mißbrauch der Lüge und des Betrugs. Es ist desaströs, das Individuum mit der Befugnis auszustatten, nach eigenem Gustus den sittlichen Notstand auszurufen und mithilfe von Lügen einen Glücksvorteil für sich und die Seinen heraus zu handeln. Die Tatsache, daß die sittenwidrige Korruption seit Abraham und dem Trojanischen Krieg bis zur Königsberger Stadtverwaltung in der Lüge, die dem Lügner gerechtfertigt scheint, ihren Grund hat, führt Kant dazu, hier nicht mit einer Kasuistik dem Listigen das Tor zu öff nen. Wir hatten es bisher zu tun mit Situationen, in denen sich für eine Person eine Alternative stellt zwischen Lügen und nicht Lügen. Nach welcher gesetzestauglichen Maxime sollen Personen handeln, wenn die Herrscher den Menschen als bloße Sachen nehmen, »indem sie ihn theils thierisch, als bloßes Werkzeug ihrer Absichten, belasten, theils in ihren Streitigkeiten gegen einander aufstellen, um sie schlachten zu lassen, […]«? (VII 89,12–14) Das individuelle Handeln kann nicht aufgeschoben werden, bis es keine Kriege mehr gibt, aber welches allgemeine Gesetz soll es hier leiten? Wie kann der zwangsrekrutierte Mensch dem Imperativ: »Mache dich anderen nicht zum bloßen Mittel, sondern sei für sie zugleich Zweck« (VI 236,27–28) nachkommen? Soll er sich seinem Eid entsprechend am Schlachten beteiligen oder nicht? Die Selbstmordrate der preußischen Armee war, wie zeitgenössische Erhebungen zeigen, erschreckend hoch; aber auch der Ausweg des Selbstmords ist nach Kant versperrt. Das Verbot des Selbstmords galt nicht in Preußen (wie in England), aber aus guten Gründen in der preußischen Armee. Salvo D’Acquisto, ein italienischer »brigadiere«, wurde am 23. September 1943 von einer deutschen SS-Einheit gezwungen, die Namen von vermeintlichen Attentätern zu nennen. Die SS-Einheit hatte 22 Zivilisten zusammengeführt, um sie zu erschießen, falls die Attentäter nicht genannt würden. Salvo D’Acquisto versuchte vergeblich zu zeigen, dass es sich nicht um ein Attentat, sondern einen Unfall gehandelt hatte. Da er die SS-Führer nicht von diesem tatsächlichen Sachverhalt überzeugen konnte, bekannte er fälschlich, der einzige Attentäter zu sein, und wurde füsiliert. Handelte 118 | kapitel III
er aus verblendeter Menschenliebe oder nach dem Ehrbegriff des Soldaten? Ist die einhellige Meinung aller, die D’Acquistos Handeln als sittlich lobenswert beurteilen, ein durch Affekte bedingter Irrtum? Dem Kantischen Lügenverbot bzw. Gebot der Wahrhaft igkeit liegt die Auffassung zugrunde, dass die Lüge ein internes Verhältnis von Wahrheitsüberzeugung und sprachlicher Äußerung gegenüber anderen ist. Es könne kein Recht geben, sich mit der Äußerung wissentlich in einen Gegensatz zur Wahrheitsüberzeugung zu stellen, weil damit alles Recht überhaupt im Prinzip aufgehoben werde.158 Kant isoliert das Subjekt von allen äußeren Umständen und möchte so eine autarke Beziehung gewinnen, auf der sittliche Verhältnisse aufbauen können. Unsere Frage: Ist diese Auffassung haltbar? Wie ist mit dem Phänomen umzugehen, dass diese Position in Extremlagen in ihr Gegenteil umschlägt: Wer nicht beurteilt, wem er die Wahrheit sagt und wem er die Waffe aushändigt und in welcher Situation er sich äußern muß, verliert die Selbstachtung und die Achtung anderer. Wie ist hiermit umzugehen? Es ist für Kants Lügenverbot gleichgültig, ob die Lüge mündlich oder schrift lich erfolgt. Sie kann auch darin bestehen, dass frühere seinsnahe, jetzt kompromittierende Passagen stillschweigend aus neuen Auflagen mit feinsten philosophischen Wahrheiten entfernt werden. Es gibt keinen sachlichen Grund, in das Problemfeld der Lüge nicht auch die nicht-sprachliche Täuschung einzubeziehen; in ihr wird dem Adressaten etwas suggeriert, was nicht der Wahrheitsüberzeugung des Akteurs entspricht. An die Stelle der sprachlichen Symbole mit relativ festen Bedeutungen treten Zeichen, die einen größeren Spielraum der Interpretation eröff nen oder eröff nen können. Der Lastwagenfahrer gibt vor einer Bergkuppe mit dem Arm das Zeichen, dass die Straße zum Überholen frei ist. Mit diabolischem Vergnügen sieht er kurz danach, wie zwei Autos auf der Gegenfahrbahn ineinander rasen und in Flammen aufgehen. Das Lügenverbot ist um das Täuschungsverbot zu ergänzen, das denselben Problemen einer gesetzlichen Geltung unterliegt. Es kann Situationen geben, in denen die Täuschung Pfl icht ist. Handelt A, der Diener von B, aus Pfl icht oder pflichtgemäß, wenn er den Gift trunk, den B für die Ermordung von C zubereitet hat, der kategorische imperativ – gültig überall und immer? | 119
durch ein Schlafmittel oder Leitungswasser ersetzt? Jedenfalls: A täuscht B, und wir tun uns schwer, die Handlung von A als solche für verwerflich zu halten. Summa summarum: Es gibt kein Recht, aus Menschenliebe zu lügen. Kann es jedoch sogar eine Pflicht geben, in sittlich aporetischen Situationen nach eigenem situativen Urteil zu lügen und zu täuschen? Wer sich hier einem durch die Umstände außer Kraft gesetzten Gesetz unterwirft , wird von anderen und vermutlich auch seinem eigenen Gewissen verachtet. Wer umgekehrt die Lüge als Mittel benutzt, um für sich selbst oder die andere Vorteile zu erwirtschaften, wird idealiter vor dem inneren Gerichtshof und von anderen für ehrlos gehalten, in Übereinstimmung mit Kant: Es ist die Teilnahme an der Korruption, die jeder im Allgemeinen verurteilt. Wir fügen unserer Darlegung, die an großen Gedankenbögen nicht arm ist, eine weitere Großidee hinzu. So wie das Moralgesetz die Freiheit bestimmt, so die Geometrie die reine Anschauung; diese Analogie gehörte oben zur Interpretation der »Transzendentalen Ästhetik«. Nun scheiterte die Geometrisierung der reinen Anschauung an deren Eigensinn, der sich auf die unendliche Teilbarkeit und die Dreidimensionalität des Raumes und seiner Anschauung berief. In ihr gibt es z. B., so wurde sichtbar, keinen Punkt im erwünschten Sinn der Nichtteilbarkeit eines Etwas im Raum. Unsere Frage war: Scheitert die Prätention, den Raum der reinen Anschauung und damit den Weltraum der Euklidischen Geometrie zu unterwerfen? Können wir parallel feststellen, dass die Prätention des Moralgesetzes, die Freiheit rundum zu bestimmen, an den Eigentümlichkeiten menschlichen Handelns scheitert, die sich der durchgängigen Bestimmung durch das Gesetz entziehen? In beiden Fällen kommt eine Philosophie zum Zuge, die die hier räumliche, dort freiheitliche Gegebenheit einer völligen exakten Bestimmung unterwerfen möchte. Wirklich ist in beiden Feldern offiziell nur, was sich dort der euklidischen Geometrie, hier der formalen Gesetzlichkeit der Freiheit unterwirft und derart bestimmbar ist. Wie sind die Fragen unserer kritischen Begleitlektüre zu beantworten?
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»Die Selbstentleibung ist nicht Selbstmord« (XXIII 400,4) These: »Die Selbstentleibung ist ein Verbrechen (Mord).« (VI 422,10) Wie die Lüge, so widerspricht die Selbsttötung einer strikten Pflicht gegen sich selbst und ist somit verboten. Wer dem Verbot zuwiderhandelt, tut dies entsprechend aus unsittlichen Motiven der Neigungen und Gefühle, etwa zur Schmerzvermeidung. Er benutzt damit sein eigenes Leben als bloßes Mittel für den gewünschten Zweck. »Das Subject der Sittlichkeit in seiner eigenen Person zernichten, ist eben so viel, als die Sittlichkeit selbst ihrer Existenz nach, so viel an ihm ist, aus der Welt vertilgen, welche doch Zweck an sich selbst ist; mithin über sich als bloßes Mittel zu ihm beliebigen Zweck zu disponiren, heißt die Menschheit in seiner Person (homo noumenon) abwürdigen, der doch der Mensch (homo phaenomenon) zur Erhaltung anvertrauet war.« (VI 423,1–6) Oder: »Der Selbstmord ist die höchste Verletzung der Pfl icht gegen sich selbst. […] (Die Abscheulichkeit bestehe darin, RB) daß der Mensch seyne Freyheit braucht um sich selbst zu destruiren, […] er kann über alles disponiren, was zu seiner Person gehört aber nicht über seine Person und nicht die Freyheit wieder sich brauchen.«159 Gegenthese: Nicht jede Selbstentleibung ist Selbstmord. Anders als bei der Lüge vertritt Kant im Fall des Selbstmordes auch die Gegenposition, dass die Selbsttötung erlaubt oder gar geboten sein kann. Ein sittliches Motiv, sich das Leben zu nehmen, ist das Wissen darum, dass das eigene Weiterleben ohne sittlichen Wert ist. Der Mensch ist verbunden zur Selbsttötung, wenn sonst das Gebot des »honeste vive« nicht erfüllt werden kann und die Menschheit in der eigenen Person entehrt wird. Bei einem Massenurteil verkünde das Gericht, »ein jeder solle die Freiheit der Wahl zwischen dem Tode und der Karrenstrafe haben; so sage ich: der ehrliche Mann wählt den Tod, der Schelm aber die Karre; so bringt es die Natur des menschlichen Gemüths mit sich. Denn der erstere kennt etwas, was er noch höher schätzt, als selbst das Leben, nämlich die Ehre; […].« (VI 333,36–334,3)160 Die Ehrenrettung läßt es gleichgültig werden, ob die betreffenden Personen sich selbst töten oder durch andere gehängt werden. Wird man hier sophistisch genau, dann macht man den Selbsttötungsgegner Sokrates zum Selbstmörder, der kategorische imperativ – gültig überall und immer? | 121
weil er den Schierlingsbecher selbst in die Hand nahm und austrank. – Sextus Tarquinius vergewaltigt Lucretia, die sich wegen ihrer verlorenen Ehre das Leben nimmt. Anders als bei der Lüge ergänzt Kant seine Ausführung »Von der Selbstentleibung« durch »Casuistische Fragen«. Die erste enthält ein Problem, das sich notwendig auch der Kantischen Philosophie stellt: »Ist es Selbstmord, sich (wie Curtius) in den gewissen Tod zu stürzen, um das Vaterland zu retten?« (VI 423,18–19) Es muß nicht gleich das Vaterland sein, es genügt schon eine andere Person. Das allgemeine sittliche Urteil, an das auch Kant sich wendet, wird bei einer derartigen Rettung nicht von Selbstmord sprechen, sondern ohne Umschweife von Heroismus. Admet soll sterben, er sucht jemanden, der oder die für ihn in die Unterwelt gehen könnte. Nur seine Frau Alkestis ist bereit dazu – soll ihr dies vom kategorischen Imperativ als Selbstmord untersagt werden? Sodann Friedrich II. (VI 423,25–31): Der König, der in Gefangenschaft gerät, ist eine Gefahr für den Staat, der dadurch erpressbar wird. Friedrich II. war daher gut beraten, im Krieg Gift mit sich zu führen. Die Selbsttötung wäre hier ein Akt, der erlaubt, wenn nicht sogar geboten ist. Ein anderes sittliches Motiv, sich selbst zu eliminieren, ist die Ansteckung durch Tollwut, durch die man andere Menschen gefährden kann (VI 423,22–424,2). Resümierend können wir festhalten, dass es in drei Fällen einen objektiven sittlichen Grund der Selbstaufopferung oder Selbsttötung161 geben kann. Entweder widerspricht das eigene Weiterleben dem »Honeste vive«-Prinzip, oder die Lebensaufgabe ist das einzige Mittel, eine Pflicht gegenüber anderen Menschen zu erfüllen (Tollwut), oder der Abweis des Lebensopfers wird aus sittlichen Gründen vom Beobachter als verachtenswert beurteilt (Hilfe). Während die Selbsttötung dann erlaubt oder gar geboten ist, wenn ein sittlicher Zweck besonders der Selbstachtung nur durch die Eliminierung meiner Person erreicht wird, soll eben dies im Fall der Lüge nicht gelten: Wenn ein sittlicher Zweck nur durch den Gebrauch der Lüge erreicht wird, ist diese nicht erlaubt oder gar geboten – ist diese Ungleichbehandlung systematisch zu rechtfertigen?
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Kants Position Kants Position ist klar: Wir haben in unserer praktischen Gesetzgebung die Ordnung zu entwerfen und sie im eigenen Handeln zu realisieren, die einzig notwendig Gerechtigkeit und Frieden impliziert – nur dies ist unsere Aufgabe, und dies ist sie wirklich. In unserem sittlichen Verhalten richten wir uns nach dem Imperativ unserer eigenen Vernunft und nichts anderem, wie immer die Folgen unseres sittlichen Handels in der Erscheinungswelt sind. Kant nimmt Stellung gegen das Individuum, das das vermeintlich Gute unmittelbar hier und jetzt realisieren will, statt den Umweg über das allgemeine Gesetz zu nehmen, aus dem erst bestimmt wird, was gut und böse ist. Wer sich in den genannten Fällen mit Lug und Trug gegen das eklatante Unrecht zur Wehr setzt, handelt als Rebell gegen die sittliche Ordnung und seinen bescheidenen Platz in ihr. Wir haben versucht zu zeigen, dass es nach Kant selbst Orte der Paralyse der gesetzlichen Ordnung gibt.
Eine weitere Kasuistik »Was hätten Sie denn gemacht?« Kreons Erlaß untersagt, den Staatsfeind Polyneikes, der tot vor dem Stadttor liegt, zu bestatten. Daß Antigone dem Befehl zuwider handelt, ist nicht in ihrer subjektiven Liebe, sondern in einer Totenordnung begründet. Sie bestreut die Leiche des Bruders mit Erde und nimmt die staatliche Konsequenz in Kauf. Der kategorische Imperativ stellt sich auf die Seite Kreons und untersagt Antigones Handeln. Sie handelt nach einer vorstaatlichen Ordnung wie analog die Ordnung der Rache, die erst durch die Eumeniden (Aischylos) außer Kraft gesetzt wird. Aber damit ist der tragische Konflikt nicht aus der sittlichen Welt geschafft. Eine Heeresabteilung ist eingeschlossen und droht ohne den Abwurf von Nahrungsmitteln aus Flugzeugen zu verhungern. Der zuständige Offi zier hat jedoch den strikten Befehl, Nahrungsgüter nur dann abzugeben, wenn der Erhalt durch die Empfänger schrift lich bestätigt wird; er verweigert die Hilfe. Als guter Kantianer? der kategorische imperativ – gültig überall und immer? | 123
Natur und Freiheit In der »Tugendlehre« der MdS werden die »Ästhetische[n] Vorbegriffe der Empfänglichkeit des Gemüths für Pfl ichtbegriffe überhaupt« aufgezählt und erläutert. »a) das moralische Gefühl«, »b) vom Gewissen«, c) »von der Menschenliebe« »d) von der Achtung« (VI 399–403). Zur Lektüre: Die Vierzahl besagt, dass Kant glaubt, über ein Prinzip der Vollständigkeit zu verfügen; die sichtbare Anordnung gemäß den Titeln (»das moralische Gefühl«, »vom, vom, vom«, also 1 / 2, 3, 4) gibt dem moralischen Gefühl eine Sonderstellung; dem Leser ist damit die Aufgabe gestellt, beides zu erklären; die Vollständigkeit und die 1, 2, 3 / 4-Konstellation in umgekehrter Reihenfolge; eine isolierende Betrachtung mag für bestimmte Zwecke unumgänglich sein, die konstellative wird jedoch zunächst vom Text selbst gefordert. Es soll hier nur ein Bereich exemplarisch herausgegriffen werden, der des Gewissens. Das Gewissen »ist nicht etwas Erwerbliches, und es giebt keine Pfl icht sich eines anzuschaffen; sondern jeder Mensch, als sittliches Wesen, hat ein solches ursprünglich in sich.« (VI 400,23–25) Jeder gesteht gerne zu, dass der Mensch als sittliches Wesen auch über ein Gewissen verfügt. Aber ist jeder Mensch ein sittliches Wesen? Kant ist offensichtlich dieser Meinung. Ist sie zwingend, und wenn nicht, warum hält Kant an ihr fest? Eine Alternative zu der Kantischen Vorstellung, dass jeder Mensch als sittliches Wesen geboren wird, wären Menschen, die wir als vernünft ige Wesen, aber nicht als Vernunft wesen mit der Qualität moralischer Zurechenbarkeit, also als sittliche Wesen, einordnen müssen.162 Jedem Leser fallen dazu sogleich etliche Beispiele ein. In einer Buchbesprechung heißt es in der SZ vom 2. Juli 2007 über Leni Riefenstahl: »dass ihr ausweislich ihres Werks die Seele abging und dieses Vakuum in ihrer Persönlichkeit durch einen schier grenzenlosen Opportunismus gefüllt wurde, der sie wertethischen Differenzierungen gegenüber völlig unempfänglich machte.« Was sollte uns nötigen zu der irritierenden Annahme, Hitler und Goebbels, Stalin und Madoff seien sittliche Wesen mit einem Bewusstsein des kategorischen Imperativs und dem Echo ihrer Taten im Gewissen gewesen? Da es der Natur auch auf anderen 124 | kapitel III
Gebieten beliebt, Bastardwesen auf die Erde zu schicken, warum nicht auf dem Gebiet der Moral und des Gewissens? Im normalen Gang der Zivilgesellschaft gleichen sie sich den moralischen Forderungen an, so wie der Farbenblinde lernt, eine bestimmte Schachtel als rot zu bezeichnen – so machen es alle; bei der Ampel sehen alle nach oben, auch unser Farbenblinder, und er bleibt wie sie stehen. Sprachphilosophen liefern dazu die entsprechende Theorie, dass sowieso alles ein Sprech- und Sprachspiel ist. Aber in gesellschaft lichen oder persönlichen Situationen, die aus dem Lot geraten, zeigt sich die moralische Blöße; denn den nur vernünft igen Wesen fehlt der sonst angeborene Sinn, sie werden zu Monstern aus der Sicht der Vernunft wesen. Können Personen auf Grund von Hirnverletzungen u. a. ihr ursprüngliches Verantwortungsgefühl einbüßen? Nach der Theorie von 1797 muß Kant diese Möglichkeit einräumen, denn die »Empfänglichkeit des Gemüths für Pflichtbegriffe überhaupt« (VI 399,2–3) ist eine Naturgabe, die entsprechend auch lädierbar sein muß. Wie will Kant a priori wissen, dass die Menschen als Gattungswesen über das Selbst-Forum des Gewissens verfügen? Daß alle Menschen Vernunft wesen sind und nicht nur vernünft ige Wesen? In der theoretischen Erkenntnis wird den Mitbürgern testiert, womöglich dumm zu sein: »Der Mangel an Urteilskraft ist eigentlich das, was man Dummheit nennt, und einem solchen Gebrechen ist gar nicht abzuhelfen.« (A 134 Anm.) Gilt in der Moral dagegen, dass aus dem »ought« das »is« erzeugt wird und sich so bei jedem Menschen ein Gewissen findet, weil wir mit den Wesen, die sich uns in der äußeren Gestalt von Menschen präsentieren, als Vernunft wesen und ergo moralisch umgehen sollen? Damit würde es die Moral erzwingen, den Menschen, die tatsächlich nur über eine instrumentelle Vernunft verfügen, den Status von moralisch zurechnungsfähigen Vernunft wesen zu verleihen.
der kategorische imperativ – gültig überall und immer? | 125
IV. Aporien der Rechtslehre
Es werden nach einer grundsätzlichen Klärung des inneren Zusammenhanges von Rechts- und Tugendlehre einzelne Probleme erörtert, besonders des Besitzrechts, mit dem Kant das Privatrecht zu vereinheitlichen sucht. Die Auslegung des Vertragsrechts auf besitzrechtlicher Grundlage dürfte kaum haltbar sein. Zerbricht damit die Systematik des Privatrechts?
1. Die Einheit von Rechts- und Tugendlehre Rechtslehre und Tugendlehre unterliegen dem kategorischen Imperativ: »Wir kennen unsere eigene Freiheit (von der alle moralische Gesetze, mithin auch alle Rechte sowohl als Pflichten ausgehen) nur durch den moralischen Imperativ, welcher ein pflichtgebietender Satz ist, aus welchem nachher das Vermögen, andere zu verpfl ichten, d. i. der Begriff des Rechts, entwickelt werden kann.« (VI 239,16–21)163 Anders als bei Fichte, ist nach Kant die Freiheit kein Gegenstand einer ursprünglichen Einsicht, sondern kann nur als »ratio essendi« des Gesetzes erschlossen werden (auch V 4,28–37). Fichte versucht dagegen, das Recht als Administration der jedem erkennbaren äußeren Freiheit zu entwickeln,164 dadurch sind Bürger seines Staats auch Wesen mit bloß instrumenteller Vernunft, während Kant die für alles Recht konstitutive moralische Zurechenbarkeit von Handlungen nicht den bloß vernünftigen, sondern nur den Vernunft wesen, den Personen, zubilligt. (VI 26,8–11; 418,7–13 u. ö.) Entsprechend heißt es in der »Einleitung in die Metaphysik der Sitten«: »Person ist dasjenige Subject, dessen Handlungen einer Zurechnung fähig sind. […] woraus dann folgt, daß eine Person keinen anderen Gesetzen als denen, die sie (entweder allein [Tugendlehre, RB], oder wenigstens zugleich mit anderen [Rechtslehre, RB] sich selbst giebt, unterworfen ist.« (VI 223,24– 31) »Der oberste Grundsatz der Sittenlehre ist also: handle nach | 127
einer Maxime, die zugleich als allgemeines Gesetz gelten kann.« (VI 226,1–2) Entgegen anderen Auffassungen165 wird also die gesamte Metaphysik der Sitten getragen vom kategorischen Imperativ und der in ihm ausgesprochenen moralischen Pflicht. »Verbindlichkeit ist die Nothwendigkeit einer freien Handlung unter einem kategorischen Imperativ der Vernunft.« (VI 222,3–4) Man denke nur an das Eherecht; es empfängt ebenso wie das Strafrecht seine Direktiven aus dem moralischen Prinzip der Würde der Person. Die Federführung liegt bei der reinen praktischen Vernunft, und wenn es gleich im § 2 heißt »Rechtliches Postulat der praktischen Vernunft« (VI 246,4), so ist der Begriff der praktischen Vernunft durch den der reinen praktischen Vernunft problemlos ersetzbar (vgl. VI 246,16; 249,22 u. ö.). Die reine praktische Vernunft begründet das Personsein als Imperativ an die Person selbst (»Sei ein rechtlicher Mensch«, VI 236,24) und limitiert alle Gesetzgebung nach dem Prinzip, dass der Mensch nicht nur als Mittel, sondern zugleich als Zweck anzunehmen ist. Daher sind z. B. medizinische Experimente mit zum Tode Verurteilten im Rechtsstaat strikt verboten (VI. 332,3–10). Wäre Kant anderer Meinung, könnte man dies sicher in Form einer ausdrücklichen Erklärung in der Rechtslehre fi nden. Es stünde der hypothetische Imperativ zur Verfügung, die Rechtslehre wäre dann eine Klugheitslehre. Zu dieser Auffassung lädt folgendes Argument ein: »Exeundum est e statu naturali«, wenn man nicht »aus aller Verbindung mit andern« herausgeht (VI 236,31–237,1). »Unterwirf dich den bürgerlichen Gesetzen oder meide menschliche Gesellschaft.« (XIX 244,27–28; Refl. 7081) Diese Ausweichmöglichkeit gibt es nicht für die Tugendpfl ichten im engeren Sinn. Ein anderer Punkt, der die verfehlte Interpretation von Ebbinghaus, die Rechtslehre gehöre nicht zur Moralphilosophie, veranlasst haben wird, ist die Differenz von Menschen als Gesetzgebern und als Untertanen. Die staatlichen Gesetze entspringen idealiter den Aktivbürgern, die die Gesetze für moralische Wesen, also Personen erlassen; diesen Gesetzen wären jedoch auch Wesen unterworfen, die nur über eine technische Vernunft verfügen, ohne Vernunftwesen zu sein. Wir brauchen auf die systematische Schwierigkeit nicht einzugehen, sondern begnügen uns mit dem Hinweis, dass Kant hierin 128 | kapitel Iv
kein Problem gesehen hat, durchgängig vom kategorischen, nie vom hypothetischen Imperativ des Rechts zu sprechen. Selbstverständlich ist die Transzendentalphilosophie und ihre Grenzziehung der theoretischen Erkenntnis vorausgesetzt; darauf beruht die Konzeption eines nicht-phänomenalen, rein intelligiblen Begriffs des Besitzes. Den Juristen braucht die transzendentalphilosophische Ermöglichung z. B. der naturalen Erzeugung einer Person nicht zu interessieren, aber: »Der philosophische Rechtslehrer wird diese Nachforschung bis zu den ersten Elementen der Transscendentalphilosophie in einer Metaphysik der Sitten nicht für unnöthige Grübelei erklären, die sich in zwecklose Dunkelheit verliert, wenn er die Schwierigkeit der zu lösenden Aufgabe und doch auch die Nothwendigkeit, hierin den Rechtsprincipien genug zu thun, in Überlegung zieht.« (VI 281,33–37) Kant erklärt ganz eindeutig: Die Metaphysik der Sitten setzt die Transzendentalphilosophie voraus und greift auf deren Ergebnisse zurück, und für beide Teile, die Rechtslehre und die Tugendlehre, ist der kategorische Imperativ konstitutiv. Christian Ritter will in seinem 1971 erschienenen Buch Der Rechtsgedanke Kants nach den frühen Quellen166 zeigen, dass der Rechtsgedanke der Metaphysik der Sitten schon in den frühen siebziger Jahren komplett vorliegt. Vielleicht der juristische, aber nicht der philosophische Rechtsgedanke, denn dass 1797 ganz neue Begründungen auftreten, kann niemand leugnen, der die Vorarbeiten im Bd. XXIII der Akademie-Ausgabe durchblättert.167 Im sonst harmlosen Titel kündigt sich schon die Absicht einer Reduktion der Kantischen Rechtsphilosophie auf eine positivistische Rechtslehre an. Kants Aussagen sind so eindeutig und einfach,168 daß man für die aller Philologie zuwiderlaufende Interpretation nach einer externen Erklärung sucht. Für Julius Ebbinghaus war nach eigenem Bekunden ein Motiv, den Juristen eine für sie problemlos zu akzeptierende Rechtslehre zu bieten, ohne kategorischen Imperativ, ohne Transzendentalphilosophie, ohne Metaphysik. Diesem JuristenKant ist danach der Einbruch in die historische Kant-Forschung gelungen. Daß die positiven Rechtsgesetze auch für den Menschen gelten, der sich um die Fundierung in der Freiheitsgesetzgebung der reinen praktischen Vernunft keine Gedanken macht, versteht sich aporien der rechtslehre | 129
von selbst; aber die Lektüre Kants muß nicht aus der Perspektive eines Untertans vollzogen werden. Es ist ganz einfach: Für die Bürger als Untertanen genügt der Gehorsam aus Angst vor der Strafe; da können sie auch Teufel oder Aristotelische Sklaven sein. Für die Bürger als Gesetzgeber ist der Mensch Person, er hat seine unverletzliche Würde und darf nie als bloßes Mittel benutzt werden. Der kategorische Imperativ gibt die Richtlinie für die Gesetzgebung, nicht für den Gehorsam, wiewohl es eine ethische Pfl icht ist, der Rechtsgesetzgebung aus Achtung vor dem Gesetz zu folgen. Wenn wir die Rechtslehre Kants zu den bleibenden Teilen seines Werks zählen (bei allen folgenden Fragen im Einzelnen), dann wegen ihrer Einbettung in die Moral (nicht Ethik, nicht Tugendlehre). Die Stufung von Rechtslehre und Tugendlehre entspricht dem von Kant vielfach gebrauchten Schema der Abfolge Außen-Innen.169 Der kategorische Imperativ wird in zwei Varianten für die jeweilige Lehre formuliert: »Der categorische Imperativ: handle nach der Maxime der Übereinstimmung deiner Freyheit mit der von jedermann nach allgemeinem Gesetze, läßt es unbestimmt welchen Zweck der Mensch habe – der aber handle so daß du wollen kanst Deine Maxime solle ein allgemeines Gesetz werden ist ein Imperativ der sich auf einen Zweck bezieht den wir haben oder uns setzen sollen.« (XXIII 257,22–27)170 Es ist die Stufung von außen – die äußere Übereinstimmung der Freiheit mit der aller anderen – nach innen: Mein jeweiliges Wollen, das sich auf einen Zweck bezieht, den zu haben nun gesollt wird. Diese Stufung wird auch mit der Differenz von »littera legis« und »anima legis« gemeint (V 152, XXVII 533). Die Stufung ist jeweils mit der Dualität von außen und innen erschöpfend. Man sieht auch an diesem grundlegenden Muster, dass die Rechtslehre für sich keinen Bestand hat und ihr Zurechtstutzen zum Juristen-Buch der Kantischen Philosophie widerspricht.
2. Haben und Erwerben Kant entwickelt das Privatrecht in der römisch-rechtlichen Tradition und stützt sich besonders auf Gottfried Achenwalls Ius naturale 171. Bei Achenwall gibt es die alte Zweiteilung von Sachenrecht 130 | kapitel Iv
und Personen- oder Vertragsrecht; die Hausgesellschaft wird unter das Vertragsrecht subsumiert.172 Die Neuerung Kants besteht in der Schaff ung eines Besitzrechtes (possessio noumenon), das sich auf ein äußeres Mein und Dein überhaupt bezieht; unter den Titel dieses Besitzrechtes soll nicht nur außer dem Sachenrecht das Vertragsrecht fallen, sondern auch das Hausrecht, das Elemente sowohl des Sachen- wie auch des Personenrechts vereint. In der Hintergrundsystematik dirigiert die Kategorie der Relation den Gedanken: »Der äußeren Gegenstände meiner Willkür können nur drei sein: 1) eine (körperliche) Sache außer mir; 2) die Willkür eines anderen zu einer bestimmten That (praestatio); 3) der Zustand eines Anderen in Verhältniß auf mich; nach den Kategorien der Substanz, Causalität und Gemeinschaft zwischen mir und äußeren Gegenständen nach Freiheitsgesetzen.« (VI 247,18–23; s. a. 259,31–35) Die Äußerlichkeit des jeweiligen äußeren Mein und Dein ist entweder räumlich oder zeitlich. Im Sachenrecht ist das Meine ein räumlich Äußeres, im Vertragsrecht ein zeitlich Äußeres, bezogen jeweils auf mein Hier und Jetzt. Das Hausrecht soll eine Synthese von Sachen- und Vertragsrecht, also von Raum- und Zeitäußerlichkeit bilden. Mit dem Aufrufen von Raum und Zeit bezieht sich Kant natürlich auf die »Transzendentale Ästhetik« der KrV zurück. Die eigentliche Rechtsbeziehung ist intelligibler Natur, so dass die raumzeitliche Äußerlichkeit nur eine Darstellung des Vernunft rechts ist. In oder hinter dem physischen Besitz (der Apfel in meiner Hand) steckt, wenn der physische Besitz rechtlich (der Apfel nicht z. B. gestohlen) ist, ein Vernunft titel, die »possessio noumenon«, die es ermöglicht, dass der Apfel auch »in einem anderen Orte des Raumes, als darinnen ich mich befinde« (A 23) gegen den Augenschein meiner ist. Die drei Positionen der Relation werden durch das »Rechtliche Postulat der praktischen Vernunft« (VI 246,4–247,8) modal als notwendig möglich bestimmt. Wenn Kant mit dem Postulat beginnt,173 dann stellt er hier in der praktischen Philosophie die Welt programmgemäß auf den Kopf,174 denn das Postulat hat seinen Ort in der theoretischen Philosophie in der letzten Kategorie, der der Modalität, man vergleiche die Grundsätze des reinen Veraporien der rechtslehre | 131
standes (A 218 ff.), also am Ende der Viererordnung und nicht am Anfang. Kant nimmt für das übergeordnete Besitzrecht des Postulats (1) nur Elemente in Anspruch, die im Sachenrecht (2) angetroffen werden und sich nicht auf das Vertragsrecht (3) übertragen lassen.175 Damit scheitert auch die systematische Herleitung des Hausrechts (4). Vom Privatrecht und damit von der Rechtslehre insgesamt lassen sich, so scheint es, nur Teilbereiche retten, die in eine neue Systematik überführt werden müssten. Vom »Rechtlichen Postulat der praktischen Vernunft« heißt es, man könne es ein Erlaubnisgesetz der praktischen Vernunft nennen, »was uns die Befugniß giebt, die wir aus bloßen Begriffen vom Rechte überhaupt nicht herausbringen könnten: nämlich allen andern eine Verbindlichkeit aufzulegen, die sie sonst nicht hätten, sich des Gebrauchs gewisser Gegenstände unserer Willkür zu enthalten, weil wir zuerst sie in unseren Besitz genommen haben.« (VI 247,2–6) Nur im Sachenrecht gibt es eine »res nullius« (VI 246,7–8) und eine Verbindlichkeit, die allen anderen durch meine »prima occupatio« auferlegt wird.176 Damit bleiben das Personen- oder Vertrags- und das Hausrecht ohne die rechtliche Möglichkeit, die das Postulat für das Sachenrecht schafft und die Kant auch für die beiden nachfolgenden Positionen in Anspruch nimmt. Es soll jedoch dieses Problem nicht näher erörtert werden,177 sondern nur die Frage, ob sich das Vertragsrecht unter das Besitzrecht in der von Kant entwickelten Form subsumieren läßt. Um die folgende Erörterung des »Besitzes der Willkür einer anderen Person« in der Anlage der Metaphysik der Sitten verorten zu können, vergegenwärtigen wir uns noch einmal die Disposition der Lehrstücke. Die Schrift handelt von speziellen Problemen der Philosophie der Freiheit und ihrer Gesetze gegenüber der Philosophie der Natur und ihrer Gesetze. Innerhalb der Gesetzlichkeit der Freiheit werden zwei Handlungsbereiche unterschieden: Der äußere, der sich am Leitfaden der Relationskategorie auf Sachen, äußere Handlungen und Personen bezieht (VI 247,16–23), und der innere der eigenen willentlichen Intentionen. Der erste ist die Rechtslehre, der zweite die Tugendlehre. Prekär ist die Trennung u. a. bei der rechtlichen Bestimmung von Handlungen als intentionaler Akte, etwa bei der Unterscheidung von Mord und Totschlag. Zu den 132 | kapitel Iv
Problemen gehört auch die von Kant reklamierte Möglichkeit des rechtlichen Besitzes der Willkür einer anderen Person in einem Vertrag, denn die Willkür kann nur das innere Mein eines Jeden sein, auf das das Recht offiziell nicht zurückgreifen kann. Läßt sich also im Vertragsrecht die Willkür eines anderen unter den Besitztitel des äußeren Mein und Dein subsumieren?178 D. h. Kann A eine Willkürparzelle von B und vice versa durch Vertrag erwerben und besitzen? Dies wird von Kant im »Ersten Hauptstück. Von der Art etwas Äußeres als das Seine zu haben« (VI 245,6–7, aber auch im zweiten Hauptstück im Abschnitt »Vom persönlichen Recht« (VI 271,2) angenommen. Es werde die Willkür eines anderen durch den Vertrag zum äußeren Gegenstand meiner Willkür (VI 247,18–20), also zum rechtlich Meinen. »Ich kann die Leistung von etwas durch die Willkür des Andern nicht mein nennen, wenn ich bloß sagen kann, sie sei mit seinem Versprechen zugleich (pactum re initum) in meinen Besitz gekommen, sondern nur, wenn ich behaupten darf, ich bin im Besitz der Willkür des Andern (diesen zur Leistung zu bestimmen), obgleich die Zeit der Leistung noch erst kommen soll; das Versprechen des letzteren gehört demnach zur Habe und Gut (obligatio activa), und ich kann sie zu dem Meinen rechnen, aber nicht bloß, weil ich das Versprochene (wie im ersten Falle) schon in meinem Besitz habe, sondern auch, ob ich dieses gleich noch nicht besitze. Also muß ich mich, als von dem auf Zeitbedingungen eingeschränkten, mithin vom empirischen Besitze unabhängig, doch im Besitz dieses Gegenstandes zu sein denken können.« (VI 248,8–20) »im Besitz dieses Gegenstandes« – welches Gegenstandes? Es ist entweder theoriegemäß die Willkür des Anderen179 oder aber die versprochene Leistung oder sogar nicht die Leistung (tradendi oder faciendi), sondern die zu liefernde Sache. Wie ist zu entscheiden? Für die letzten beiden Varianten spricht die Tatsache, dass die Rechtslehre für die äußeren Handlungen zuständig sein soll, nicht aber für das innere Mein und Dein. Das rechtliche Postulat der praktischen Vernunft lautet: »Es ist möglich, einen jeden äußern Gegenstand meiner Willkür als das Meine zu haben; d. i. eine Maxime, nach welcher, wenn sie Gesetz würde, ein Gegenstand der Willkür an sich (objectiv) herrenlos (res nullius) werden müsste, ist rechtswidrig.« (VI 246,5–8) Jede Willkür ist das innere Mein einer Person, sie ist also niemals aporien der rechtslehre | 133
eine »res nullius« (außer beim geborenen Sklaven des Aristoteles) und kann daher nicht der äußere Gegenstand der Willkür eines anderen werden; nur eine Leistung in Raum und Zeit ist dazu in der Lage. Die Willkür gehört zum inneren Mein des anderen, die Leistung ist eine durch seine Willkür zu verursachende Tätigkeit in unserer Erfahrungswelt in Raum und Zeit. Diese bestimmte Tätigkeit, die »praestatio«, ist durch den Vertrag festgelegt; der Vertrag entsteht durch »den vereinigten Willen beider« (VI 272,13)180. Der vereinigte Wille kann nur als intelligibel gedacht werden, denn unter Zeitbedingungen wäre er ein empirisches Faktum ohne die Möglichkeit, die Willkür der beiden Vertragspartner über die Zeit hinweg zu verpflichten. »Pflicht ist diejenige Handlung, zu welcher jemand verbunden ist.« (VI 222,31) Der Vertrag ist der Quell der Verpflichtung zu einer so gearteten äußeren, sicht- oder hörbaren Handlung, »sibi contracta«. Jeder Vertragspartner, so schlagen wir, gegen Kant vor, erwirbt in t1 nicht eine Willkürparzelle des anderen, sondern das Recht auf die vereinbarte Leistung, also die Handlung (tradendi oder faciendi) in t2. Die Willkür, die als Ursache der Handlung oder Tätigkeit fungiert, bleibt dabei das nicht interessierende innere Seine eines jeden; der Promittent hat sich nur zu einer bestimmten Tätigkeit zu einer bestimmten Zeit im vereinigten Willen vertraglich verpfl ichtet und gebraucht seine Willkür in t2 entsprechend. Damit ist die Forderung Kants, dass ich die Leistung nicht im Moment des Vertragsabschlusses erwerbe und nicht sogleich verliere, erfüllt, denn B’s äußere Handlung in t2 gehört mit Vertragsabschluß ab t1 zum intelligiblen Seinen von A, jedoch nicht B’s innere Kausalität und Willkür. Sie ist und bleibt im natürlichen und rechtlichen, unveräußerlichen Besitz des anderen, denn nur die Wirkung der Willkür, die Leistung, ist rechtlich vorweg an A veräußert und prospektiv zum äußeren Seinen geworden. Der Vertrag läßt sich nicht mit Shylock besitzrechtlich so interpretieren, dass ich zwar nicht ein Stück Fleisch aus dem Körper der anderen Person herausschneide, sondern, noch schlimmer, mir ein Stück ihrer Seele, die bestimmte Willkür, rechtlich mit ihrer Zustimmung aneigne. Im Abschnitt »Vom persönlichen Recht« heißt es: »Dieses mein Recht aber ist nur ein persönliches, nämlich gegen eine bestimmte 134 | kapitel Iv
physische Person, und zwar auf ihre Causalität (ihre Willkür) zu wirken, mir etwas zu leisten, nicht ein Sachenrecht gegen diejenige moralische Person, welche nichts anders als die Idee der apriori vereinigten Willkür aller ist, und wodurch ich allein ein Recht gegen jeden Besitzer derselben erwerben kann; als worin alles Recht in einer Sache besteht.« (VI 274,5–12) A wirkt auf die Kausalität bzw. Willkür von B, hat diese aber nicht, wie Kant meint, in ihrem Besitz, sondern es wird im Gegenteil von ihrer, also B’s, Kausalität und Willkür gesprochen. Die Willkür und ihr Gebrauch bleiben somit – gegen Kants Intention – als das Innere von B in dessen unveräußerlichem Besitz; sie ist für A auch im Kantischen Text immer die »Willkür eines anderen« (VI 247,19 u. ö.). Wie das zitierte »wirken« von A auf die Kausalität von B genau aussehen soll, ist schwer zu erraten. Eine Kausalität von A auf die Kausalität von B? Die Kausalität oder Willkür von B wird, so unser Vorschlag, dirigiert vom gemeinsamen Vertrag, in ihm gibt es keinen Willkürtransfer von einer Person zur anderen, so dass die (naturale) Willkür des anderen (rechtlich) zu meiner Willkür wird, sondern eine Bestimmung der von B zu erbringenden »That (praestatio)«. Diese Leistung ist durch den gemeinsamen Vertrag im rechtlichen, virtuellen181 Besitz von A. Sie ist beim Vertragsabschluß in t1 noch zeitlich entfernt in t2, so wie die von mir rechtlich besessene Sache räumlich entfernt sein kann. Genau so sagt es Kant zuweilen. Was erwerbe ich vom anderen im Vertrag? »[…] eine That desselben, dadurch jene Sache in meine Gewalt gebracht wird, damit ich sie zu der meinen mache.« (VI 273,34–274,1) Die Tat des Transfers der Sache, nicht aber die Kausalität der Willkür zu dieser Tat. So auch in den Vorarbeiten: »Die Erwerbung eines Objects der Willkühr ist […] 2) nur durch doppelseitige der promißion und acceptation da jeder für sich selbst etwas nämlich eben dasselbe will daß geschehe […].« (XXIII 214,30–33) Das zu erwerbende Objekt der Willkür ist ein Phänomen in Raum und Zeit. Man erwirbt etwas »durch doppelseitige Willkühr indem es zugleich ein Object der Willkühr eines andern ist der seine Verbindung mit demselben in Absicht auf meine Ergreifung aufhebt d. i. durch acceptation […].« (XXIII 218,3–5) Das sind Überlegungen, die offenbar vor der Idee formuliert wurden, die Willkür selbst zum Gegenstand des wechselseitigen intelligiblen Besitzes zu machen. So auch XXIII 304,28–29: aporien der rechtslehre | 135
»Also, daß eine Sache, eine gewisse Handlung einer Person außer mir, endlich auch eine Person selbst außer mir, mein sey […].« Die gewisse Handlung einer Person außer mir als das Meine kennzeichnet das Vertragsrecht; das Meine ist die künft ige Handlung, nicht die Willkür der anderen Person. Das rechtlich Meine von A besteht dann, wie gesagt, nicht im Besitz einer Willkürparzelle von B, sondern im rechtlichen, noch nicht physisch realisierbaren Besitz der vereinbarten Tätigkeit und deren eventuellem Produkt, wobei die Willkür insgesamt als unveräußerbares Inneres das Seine von B bleibt. Die vertraglich vereinbarte äußere Handlung entspringt der Kausalität oder Willkür von B und kann im Gesang bestehen, aber auch in bestimmten Körperbewegungen bei der versprochenen Fürbitte oder der Bedienung einer Maschine zur Erzeugung von abgetrennten Produkten. Die Tätigkeit ist auf jeden Fall eine in der Raum-Zeitwelt erfahrbare personengebundene Leistung, die nach dem Abschluß des Vertrages im rechtlichen Besitz (possessio noumenon) von A ist. Bricht B den Vertrag, lädiert er A an seinem rechtlichen Besitz der im Vertrag in t1 festgesetzten äußeren Tätigkeit in t2. Dieser Verlust kann wie Diebesgut von B zurückgefordert werden. Zur Stärkung des Rechts kann der Vertrag Sanktionen enthalten. Bei diesem Vorgang kann nicht gut davon die Rede sein, dass B beim Vertragsbruch »seine« (im Sinn des physischen Besitzes) Willkür, die aber rechtlich doch das äußere Meine von A sein soll, verdreht oder zurückbehält und dadurch A lädiert. A gelangt nach Kants Hauptlinie der Argumentation im Vertrag in den rechtlichen Besitz einer auf die Zukunft gerichteten Willkürparzelle von B; es ist die Willkür, sich zu einer bestimmten Leistung in t2 zu bestimmen. Aber was bestimmt dann noch der gemeinsame Wille im Vertrag? Es kann nur die Willkür des Vertragspartners B sein, in t2 etwas Bestimmtes zu leisten. Die Willkür ist also schon gemeinsam festgelegt, wobei diese Festlegung nicht wiederum besitzrechtlich zu interpretieren ist; damit würde das eigenständige Personenrecht aufgehoben. Die Willkür bleibt somit physisch und rechtlich das innere Seine von B; wenn B seine Willkür nicht im Sinne der vertraglichen Festlegung in t2 gebraucht, dann wird A durch B verletzt, weil die versprochene Leistung rechtlich zum Seinen von A gehört. 136 | kapitel Iv
Nach Kants Auffassung müsste die Willkür von B im physischen Besitz von B bleiben, nicht aber im rechtlichen. Warum erwähnt Kant diese für seine Auffassung essentielle Unterscheidung nicht selbst?182 Wenn B’s Willkürparzelle sich im rechtlichen Besitz von A befindet, ist das Verhältnis von B zur eigenen Willkür als physischer Besitz zu erklären, er ist gewissermaßen nicht der Eigentümer, sondern Mieter oder Pächter der ihm naturaliter zukommenden Willkür. Mit der Leistung in t2 hört der Mietvertrag gegenüber dem rechtlichen Besitzer auf und B ist wieder im rechtlichen und physischen Besitz seiner eigenen Willkür. Was wohl absurd sein dürfte. Was geschieht, wenn die Willkürparzelle sich als unfähig oder paradoxerweise als nicht willens erweist, die vereinbarte Tätigkeit zu erbringen? Die Willkür von B versagt, ist vom Leben fortgespült – trägt A den Schaden, weil die faule Willkürware zwar sein Eigentum war, aber nun auf und davon ist? Wenn B die versprochene Leistung in t2 nicht erbringt, hält sich A an B mit der Unterstellung, dass B im Besitz seiner Willkür und ergo für ihren Gebrauch verantwortlich ist. Sonst könnte B antworten, die Nichterfüllung des Vertrages tue ihm leid, aber er sei seit dem Abschluß des Vertrages nun einmal nicht mehr Herr im eigenen Haus, die Willkürparzelle in t2 sei im Besitz von A, A solle also bitte gegen A Klage führen, also gegen sich selbst. – Kersting paraphrasiert: »[…] im Vertrag hat sich der Promittent eben dieser rechtlichen Freiheit begeben und sie dem Akzeptanten übertragen, der jetzt an seiner Statt über diese seine Freiheit zu leisten oder nicht zu leisten disponiert.«183 Es disponiert also der Akzeptant über die Willkür des nunmehr rechtlich enteigneten Promittenten. »[…] zu leisten oder nicht zu leisten« – nein, im Vertrag des gemeinsamen Willens ist die Leistung des Promittenten in t2 zugunsten des Akzeptanten nach Kant festgelegt; der letztere kann nicht darüber disponieren, ob die Leistung erbracht wird oder nicht; vielleicht liegt dem Promittenten sogar an der Durchführung des Gesanges aus Karrieregründen. Wenn der Akzeptant ihn nicht mehr hören kann, ist dies seine Sache und sein Leiden; akzeptiert ist akzeptiert, die Leistung in t2, und nicht, so korrigieren wir Kant, die freie Willkür der anderen Person. Wenn der Vertrag personenrechtlich interpretiert wird, erlangt A seine vertraglich zugesicherte (von der Willkür abgetrennte) peraporien der rechtslehre | 137
sönliche Leistung, auch wenn B zur Zeit der vereinbarten Vertragserfüllung in t2 nicht willkürlich, sondern im Zustand der Trance, der Verzückung, der Hypnose etc. handelt. B verspricht A, ihm in t2 einen Diamanten zu liefern. B beschließt jedoch danach, ein billiges Falsifi kat abzugeben; auf Grund einer Verwechselung durch den Angestellten C erhält A den vereinbarten Diamanten. Kann A, der von der Willküränderung seines Vertragspartners B hört, B verklagen? Nach Kant liegt ein Vertragsbruch vor; die Richter schicken B lächelnd nach Hause. B bestimmt seine Willkür, die von t1 bis t2 in seinem physischen Besitz, zugleich aber im rechtlichen Besitz von A, zur Leistung in t2, wird jedoch durch äußere, nicht zu verantwortende Umstände an der äußeren Handlung der Vertragserfüllung gehindert. Nach Kant ist damit der Vertrag erfüllt. Dies kann jedoch nicht in der Absicht einer Vertragstheorie liegen; es muß geregelt werden, wie mit dem weiter bestehenden Anspruch von A auf die Leistung von B umzugehen ist. Das Vertragsrecht ist Teil der Rechtslehre; deren allgemeines Prinzip lautet: »Eine jede Handlung ist recht, die oder nach deren Maxime die Freiheit der Willkür eines jeden mit jedermanns Freiheit nach einem allgemeinen Gesetze zusammen bestehen kann.« (VI 230,29–31) Der Kantische Vertrag als Besitz der Willkür einer anderen Person widerspricht, so vermuteten wir oben, dem Rechtsprinzip, gemäß dem das Thema der Rechtslehre nur und ausschließlich die äußeren Handlungen von Personen und ihre gesetzliche Kompatibilität sind. Mit dem rechtlichen Besitz der Willkür einer anderen Person wird gegen die Äußerlichkeit des Rechts verstoßen.184 Der Vertrag ist rechtlicher Natur und daher mit einem Zwangsrecht verbunden; das »jus cogendi« kommt A gegen B (und vice versa) zu im Hinblick auf die zu erbringende äußere Leistung als dem rechtlichen Besitz von A. Daß es zu dieser Leistung einer inneren Willkürbestimmung in t2 durch den Promittenten B bedarf, interessiert nicht. Ergo: Rechtlich relevant, so scheint es, ist nicht der Besitz der Willkür einer anderen Person, sondern der rechtliche Anspruch auf die Handlung in t2 durch B. In dieser letzteren Fassung wird der Vertrag selbst nicht besitzrechtlich gefasst, wohl aber die vereinbarte Leistung, die ein Phänomen im Raum zur Zeit von t2 ist 138 | kapitel Iv
und an der A ein Recht gegen B hat, an B’s Gesang etc. Wird in der Kantischen Theorie das Personenrecht dem Sachenrecht untergeordnet und das Innere eines Menschen unnötig und widersprüchlich zum äußeren Seinen eines anderen gemacht?185 Generell wird man als ein zentrales Motiv des Privatrechts ansehen, dass Kant eine systematische Einheit von Sachen- und Personenrecht anstrebte und dass ihm dies nur möglich schien auf einer besitztheoretischen Grundlage. So wurde die Willenseinheit des Vertrages interpretiert als wechselseitiger Besitz der Willkür des Vertragspartners, also in Analogie zum Sachenrecht. Ist dieser Versuch der Reduktion des Privatrechts auf das Besitzrecht gelungen? Welches Interesse konnte Kant an dieser Neufassung des Personenrechtes haben? Einmal war es sicher der Gedanke einer einheitlichen Gesamtfassung des Privatrechts; es tritt vielleicht ein anderer Impuls hinzu. John Locke ist der Meinung, Atheisten dürften kein Bürgerrecht erhalten. Warum? Sie haben keinen Grund, ihre Verträge und Versprechen zu erfüllen, wenn sie es straflos unterlassen können; nur die Angst vor der göttlichen Strafe hält die Gesellschaft im prekären Bereich von Versprechen und Verträgen zusammen. »Those are not at all to be tolerated who deny the being of God. Promises, covenants, and oaths, which are the bonds of human society, can have no hold upon an atheist.«186 Die besitzrechtliche Fassung des Personenrechts macht in der Theorie das Problem des Vertrauens überflüssig, denn im Besitzrecht spielt traditionell die »fides« keine Rolle. War Kant an der Eliminierung eines gewissermaßen weichen Bestandes wie Vertrauen aus der harten Rechtslehre interessiert? Menschen mit ihren Verträgen und Familien kommen und gehen, der Erdboden dagegen bleibt, und seine konsensuale Aufteilung bleibt ein Problem, das sich dynamisch durch die Rechtsgeschichte von der »prima occupatio« bis an den nie erreichbaren ewigen Frieden erstreckt. Die Evolution des Vernunft rechts verdankt sich wesentlich der unausgesprochenen Ansicht, dass der Boden als ein durch die Kugelform der Erde limitiertes und damit knappes Gut ist, dessen friedliche, konsensuale Aufteilung der Gegenstand und das Ziel von Krieg und Frieden unter den Menschen ist. Das Vertrags- und Familienrecht sind dagegen statisch, der große Boaporien der rechtslehre | 139
gen von der ursprünglichen Besitzergreifung bis zur Anerkennung durch alle anderen hat zum Gegenstand nur den Sachbesitz.
3. Das auf dingliche Art persönliche Recht Außer dem reinen Personen- und dem Sachenrecht fi ndet sich eine Mischform des Verhältnisses von Menschen untereinander wie zu Sachen, die gleichwohl Personen bleiben: das auf dingliche Art persönliche Recht. »Dieses Recht ist das des Besitzes eines äußeren Gegenstandes als einer Sache und des Gebrauchs desselben als einer Person.« (VI 276,19–20) Zunächst ist diese Rechtskonstruktion ansprechend. Sie soll den Personenstatus aller Beteiligten wahren, und zugleich dem Faktum genügen, dass z. B. Kinder nicht mündig sind und die Eltern deswegen über sie körperlich verfügen können müssen. Das Kind, das über die Straße läuft, um zu zeigen, dass der Autoverkehr nicht gefährlich ist, muß physisch an dieser sonst verdienstlichen Demonstration gehindert werden können, ohne gleich zur Sache zu werden. Nun soll hier die Willkür der Person wie im Vertragsrecht in den partiellen Besitz der jeweils anderen Person übergehen; damit scheint das Hausrecht von derselben Misslichkeit affi ziert wie schon das Vertragsrecht, denn der Titel des Besitzes läßt sich auf die Willkür im Vertrag kaum anwenden. Wir fragen, ob das Hausrecht noch folgenden Makel hat: Kant konstruiert es als ein abgeschlossenes Rechtsterritorium im Privatrecht. Für dieses Territorium gilt das Rückholrecht des Hausherrn; wenn die Kinder, die Frau oder das Gesinde das Haus ohne Genehmigung verlassen, so kann »man sie zurück holen und als das äußere Seine von jedem Besitzer abfordern […], ehe noch die Gründe, welche sie dazu vermocht haben mögen, und ihr Recht untersucht werden dürfen.« (VI 284,3–5) Das bedeutet aber, dass die Hausinsassen außer dem »pater familias« nicht an die Öffentlichkeit treten können, um wirkliche oder vermeintliche Rechtsverletzungen im Haus vor einen Richter zu bringen. Scheitert damit das Hausrecht an Kants eigenen Prinzipien der Freiheit und Gleichheit? Wir wenden uns beim Hausrecht nur dem Eherecht und der These der natürlichen Unmündigkeit der Frau zu. 140 | kapitel Iv
Kants These ist, die Menschen würden sich beim Geschlechtsverkehr wechselseitig zu Sachen machen, was ihrem Personenstatus widerspreche. Nur unter der Bedingung der Ehe sei der Geschlechtsverkehr rechtlich möglich, denn in ihr würden beide Partner zu einer Person in einer Lebensgemeinschaft (VI 277,9–279,26). Zunächst: Die philosophische Rechtfertigung und Verteidigung der Monogamie gegen die Polygamie und das Konkubinat (VI 278,24–279,26) ist eine humanitäre Tat ersten Ranges. In einer Gesellschaft der Adelsprivilegien und der Abhängigkeit der Mägde von den Hausherren und der Prostitution der Frauen aus den unteren Schichten stellt Kant fest, dass mit dem Geschlechtsverkehr die Ehe verbunden ist. Statt sich über die Einzelheiten nach Herrenmanier zu erheben und zu mokieren, hätte man diesem Emanzipationsakt der Frauen zunächst ein Denkmal errichten sollen. Aber erreichen Kants Argumente das Beweisziel? Die erste These lautet, der Geschlechtsverkehr stelle einen Sachgebrauch der Partner dar, denn »der natürliche Gebrauch, den ein Geschlecht von den Geschlechtsorganen des anderen macht, ist ein Genuß, zu dem sich ein Theil dem anderen hingiebt.« Dies aber widerstreite »dem Rechte der Menschheit an seiner eigenen Person« (VI 278,6–9). Was macht den Sachgebrauch genau aus? Der Genuß in wechselseitiger Hingabe? Den gibt es in vielfältigen Formen ohne Geschlechtsverkehr, aber warum soll darin eine Verletzung des Rechts der Menschheit liegen? Aber genau das müsste der Fall sein, wenn Kants Argument schlüssig sein soll. Im Anhang der zweiten Auflage wird das wechselseitige Genießen ergänzt durch die Gefahr der Schwängerung und eventuell tödlichen Niederkunft und der Aufzehrung der Kräfte (VI 359,24–360,7). Diese neuen Argumente zeichnen den Geschlechtsverkehr aus gegenüber anderen Formen des leiblichen gegenseitigen Genießens, die sicher nicht das Recht der Menschheit tangieren. Aber die Beweiskraft ist gering, denn die »Schwängerung und daraus vielleicht erfolgende […] tödtliche Niederkunft« (VI 359,35–36) läßt sich erstens durch empfängnisverhütende Klugheit aus der Welt schaffen und existiert zweitens auch in der Ehe; wenn die Kräfte des Mannes »von öfteren Ansprüchen des Weibes an das Geschlechtsvermögen« aufgezehrt werden (VI 360,1–2), dann wird man ihm raten, nicht so spät mit dem Geschlechtsverkehr zu beginnen. aporien der rechtslehre | 141
Nimmt man an, Kant habe sein Ziel erreicht und gezeigt, dass der Geschlechtsverkehr eine Verletzung des Rechts der Menschheit an unserer Person darstelle, dann kommt das zweite Problem: Wie kann die Ehe den Geschlechtsverkehr ohne Rechtsverletzung ermöglichen? Die Ehe ist die Rechtsform, in der es möglich sein soll, »daß, indem die eine Person von der anderen gleich als Sache erworben wird, diese gegenseitig wiederum jene erwerbe; denn so gewinnt sie wiederum sich selbst und stellt ihre Persönlichkeit wieder her.« (VI 278,10–13) So entsteht eine personale Einheit, in der nicht mehr zwei getrennte Personen auft reten und sich zu einem rechtswidrigen Sachgebrauch hingeben. Aber ist der nunmehr einen Person der Selbstgenuß oder der Selbstverzehr und eventuell die Selbstvernichtung erlaubt? Nach Kant sind die Menschen keine Eigentümer ihres bzw. ihrer Körper, sondern sind in der leiblichen Selbstbeziehung vernunft rechtlich eingeschränkt. Die faktischen Zerstörungen, die mit dem Geschlechtsverkehr außerhalb der Ehe verbunden sein sollen, wiederholen sich völlig identisch in der Ehe und unterliegen jetzt, so folgern wir, dem Vernunft verbot im Selbstverbrauch des einen Körpers. Was also bleibt? Lassen sich die Kantischen Argumente retten? Frauen spricht Kant die Möglichkeit ab, mündig werden und aktiv an der sittlichen und rechtlichen Gesetzgebung teilnehmen zu können (u. a. VI 314,28–29). Die Ehe ist ein naturales und juridisches Verhältnis zweier Personen ungleichen Geschlechts. Wie die im Rechtsverkehr unmündige Frau einen Ehevertrag eingehen kann, wird nicht beantwortet. Wer soll den Vertrag unterschreiben, wenn nicht sie? Also muß sie auch Aktivbürgerin sein können. Oder ist die Frau zwar im Besitz einer freien Willkür, nicht aber eines gesetzlichen Willens? Aber die freie Willkür sollte dann auch reichen für eigenständige Geschäftsabschlüsse und damit den Status, Aktivbürgerin sein zu können. Kants Urteil über die Unmündigkeit der Frau hat seinen systematischen Ort in der Metaphysik der Sitten; es ist ein Erfahrungsurteil von apriorischem Charakter, so wie das Urteil über die Kugelform der Erde, die Zweigeschlechtigkeit der Menschen oder die Neigung der Menschen, ihre gesetzliche Freiheit zu verletzen. Bis auf den ersten Fall gilt, dass Ausnahmen zugelassen sind, denn die biologische Natur erzeugt auch bastardhafte Produkte, z. B. wenn 142 | kapitel Iv
eine Frau gelehrt und eigentlich ein Mann ist und »sich gleich einen Bart umhängen« kann (XX 229,35–230,3). Die Kompetenz der Frauen in der Politik, der Geschäftsführung und in den Wissenschaften lag schon für Homer, Platon und a fortiori in Kants Zeit so offen zu Tage, dass über die Gegenmeinung in Troja, Athen und im urbanen, multikulturellen Königsberg nicht mehr ernsthaft nachgedacht wurde. Kant war Bürger der Universität, und wir müssen annehmen, dass sie als reine Männersache doch eine größere unbewußte Zensur ausübte, als man anzunehmen geneigt ist. Kants Urteil ist gesteuert durch die Korporation, die sein halbmönchisches Leben geformt oder ermöglicht hatte.187 Er wurde dadurch um die Chance gebracht, auch als der Aufk lärer für das weibliche Geschlecht die nachfolgende Geschichte mitzugestalten. Er legte im Gegenteil der Aufk lärung in diesem Bereich Steine in den Weg.
4. Was »im Grunde unrecht« ist Im höchst wichtigen und höchst vernachlässigten letzten Hauptstück des Privatrechts, das den jede Lektüre abweisenden Titel »Von der subjectiv-bedingten Erwerbung durch den Ausspruch einer öffentlichen Gerichtsbarkeit« (VI 296,13–14) trägt, werden vier Musterfälle einer Antinomie188 aufgestellt, die jeweils besagen, daß vor dem bürgerlichen Gerichtshof andere Regeln gelten als im Vernunft- oder Naturrecht. Es sei ein Fehler, das rechtliche Prinzip, das ein Gerichtshof »anzunehmen befugt, ja sogar verbunden ist, […] auch objectiv für das, was an sich selbst recht ist, zu halten« (VI 297,23–26). Auf der einen Seite gibt es also das Recht, das »an sich recht« ist, auf der anderen Seite das im Staat geltende Recht (VI 297,11–13).189 Eine Zwischenbemerkung: Kant sagt, bei der Differenz von dem, was an sich recht und was vor einem Gerichtshof rechtens sei, gebe es vier Fälle, wo beiderlei Urteile verschieden und entgegengesetzt ausfallen und dennoch neben einander bestehen können. (VI 297,11–15) Vier Fälle heißt: Nur vier Fälle, und diese werden in einer nicht willkürlichen, sondern notwendigen Ordnung vorgelegt, wobei die vierte Position, die des Eides, die übrigen aporien der rechtslehre | 143
inhaltlich bestimmten umfaßt. Die Interpretationspraxis seit der Publikation der Rechtslehre übersieht hartnäckig, daß Kant auch hier die apriori bestimmte Konstellation des 1, 2, 3 / 4 einhält und der Interpret damit aufgefordert ist, dies bitte zu beachten und zu zeigen, daß die Ordnung im bestimmten Fall nicht willkürlich ist. Die Praxis, die Sätze Satz für Satz mit der Lupe zu betrachten und nicht zunächst einem nachweislichen Ganzen zuzuordnen, führt zum Erstickungstod der vernünft igen Interpretation. – Der Staat kann für rechtens erklären, was dem Recht an sich widerspricht.190 Er verfährt dabei nicht willkürlich, sondern richtet sich auf das Recht als seinen Zweck, denn nur unter kalkulierter Verletzung des Vernunft rechts läßt sich am Ende das Recht überhaupt realisieren. Die Rechtsprechung des Staats ist an ein Ziel gebunden, die Verwirklichung des Rechts an sich, aber dieses Ziel erzwingt im Vorfeld eine Abwendung von diesem Recht. Kant kreiert damit eine neue Variante der Staatsräson: Zur Rechtsverwirklichung muß das Recht an sich suspendiert werden können. Das Festland beginnt zu wanken, wenn man liest, dass dem Staat die Maßnahme der Folter zusteht, nicht der physischen (von ihr spricht Kant nicht), aber doch der »tortura spiritualis«: » […] im bürgerlichen Zustande, wenn man annimmt, daß es kein anderes Mittel giebt, in gewissen Fällen hinter die Wahrheit zu kommen, als den Eid, muß von der Religion vorausgesetzt werden, daß sie jeder habe, um sie als ein Nothmittel (in casu necessitatis) zum Behuf des rechtlichen Verfahrens vor einem Gerichtshofe zu gebrauchen, welcher diesen Geisteszwang (tortura spiritualis) für ein behenderes und dem abergläubischen Hange der Menschen angemesseneres Mittel der Aufdeckung des Verborgenen und sich darum für berechtigt hält, es zu gebrauchen. – Die gesetzgebende Gewalt handelt aber im Grunde unrecht, diese Befugniß der richterlichen zu ertheilen: weil selbst im bürgerlichen Zustande ein Zwang zu Eidesleistungen der unverlierbaren menschlichen Freiheit zuwider ist.« (VI 304,28–305,2)191 Der Staat also tut, was »im Grunde unrecht« ist. Und wo ist die Grenze? Kann auf die hier genehmigte Tortur des Geistes nicht die »tortura corporalis« folgen? Das Vernunft recht als solches sieht als rechtmäßigen Eigentümer z. B. den Erstbesitzer, solange dieser sein Eigentum nicht recht144 | kapitel Iv
lich veräußert hat; im Staat dagegen ist rechtmäßiger Eigentümer, wer einen vielleicht gestohlenen Gegenstand nach den Marktregeln erstanden hat. Nur nach dieser Maxime ist der zügige Waren- und Rechtsverkehr möglich. Vielleicht läßt sich diese Position als eine typisch moderne identifi zieren, die grundsätzlich weniger nach dem Herkommen wie in traditionalen Gesellschaften fragt, sondern nur dem gegenwärtigen und künft igen Funktionieren, hier des freien Warenverkehrs. Kant löste dadurch z. B. folgendes Problem: Europa importierte den Zucker, den Sklaven auf den amerikanischen Plantagen erarbeitet hatten – widerrechtlich nach dem Vernunft recht. Nach dem Recht im Staat verlor der Zucker seine anrüchige Herkunft, wenn er nach den Marktregeln gekauft wurde. Einmal im Handel, war das Illegale legal, eine frühe Art der Geldwäsche. (Im Rückgriff auf das Vernunft recht wurde dagegen der Zuckerkauf in England boykottiert). Wie entscheidet die Regierung in der Alternative, entweder das Recht oder das Wohl des Volkes zu verletzen? »Soll er lieber sein Volk untergehen lassen und also seinem höchsten Zweck entgegen handeln, oder sein Wort brechen?«192 Bei der Pockennot fanden wir, dass die Regierung utilitaristisch handeln darf und das Staatswohl über die Gesichtspunkte oder Aporien individueller Moralität stellt. Aber wie steht es mit der Rettung des Volks und damit der Institution des Rechts durch Wortbruch? Es handelt sich nicht um »ein vermeintes Recht, aus Menschenliebe zu lügen« (VIII 425– 430), sondern um einen Rechtskonflikt: Die »salus populi« ist die Vorbedingung der Rechtsrealisierung und damit Gegenstand eines kategorischen rechtlichen Imperativs. Muß der Regent einen Wortbruch in Kauf nehmen, um pfl ichtgemäß die Rechtsinstitution des Staats zu retten? Er muß befugt sein, im Krieg Bürger als bloßes Mittel zu benutzen, wenn er die Invasion einer fremden Armee abwehrt. Kant hat diese Konflikte nicht für sich thematisiert, aber vermutlich gesehen, dass sie nicht auflösbar sind außer durch die Maxime der Staatsräson, dass das Recht, das der Staat setzt, mit dem Vernunft recht nicht überein zu stimmen braucht, um gültig zu sein.
aporien der rechtslehre | 145
5. Recht und Gerechtigkeit Erkundigt man sich in Nachschlagewerken unter dem Stichwort »Gerechtigkeit« nach den wichtigsten Autoren, wird Kant nur selten genannt. Er wird als Rechtsphilosoph geführt, aber die Frage eines gerechten Menschen und eines gerechten Staats scheinen tatsächlich keine zentrale Rolle zu spielen. Im angelsächsischen Sprachbereich wird von einer »theory of justice« gesprochen, ohne zwischen Recht und Gerechtigkeit zu unterscheiden, und da begegnet Kant als einer der wichtigen Autoren. Keine Schrift führt im Titel den Begriff der Gerechtigkeit, und keine einschlägige Äußerung Kants hat irgendeine Bekanntheit erworben. Andererseits ist das Problem der Gerechtigkeit so zentral in der tradierten Reflexion über menschliches Zusammenleben, dass man vermuten wird, dass es auch bei Kant präsent ist, jedoch in einer anderen Form als in der Antike und im Mittelalter.193 Eine erste Vermutung geht in folgende Richtung: So wie in der KpV der Begriff des Guten eine Funktion des Gesetzesbegriffes wird und nicht das Gute das Gesetz, sondern umgekehrt das Gesetz das Gute bestimmt, so wird die traditionelle Gerechtigkeit bei Kant eine Funktion des Rechts, das allererst festlegt, was im Einzelnen gerecht und ungerecht ist. Im Naturzustand gibt es keine Gerechtigkeit, weil keine Gerichtsbarkeit. Alle Erwerbung (von Sachen) sei nur provisorisch, »so lange sie noch nicht die Sanction eines öffentlichen Gesetzes für sich hat, weil sie durch keine öffentliche (distributive) Gerechtigkeit bestimmt und durch keine dies Recht ausübende Gewalt gesichert ist.« (VI 312,30–33) Aber nach welchen Gesichtspunkten soll die Bestimmung vorgenommen werden? Die »lex iustitiae« (»Gesetz der Gerechtigkeit«), von der in der Einleitung in die Rechtslehre gesprochen wird (VI 237,8), bezieht sich auf das »Suum cuique« (»Jedem das Seine«) – keine Gerechtigkeit der Verteilung, sondern die Beurteilung von Besitzansprüchen gemäß den Rechtsgesetzen. Das Gesetz sage, »was und wovon der Ausspruch vor einem Gerichtshofe in einem besonderen Falle unter dem gegebenen Gesetze diesem gemäß, d. i. Rechtens ist (lex iustitiae), wo man denn auch jenen Gerichtshof selbst die Gerechtigkeit eines Landes nennt, und, ob eine solche sei oder nicht sei, als die 146 | kapitel Iv
wichtigste unter allen rechtlichen Angelegenheit gefragt werden kann.« (VI 306,11–16) »Die moralische Person, welche der Gerechtigkeit vorsteht, ist der Gerichtshof (forum) […].« (VI 297,6–7) Bei der »Allgemeinen Eintheilung der Rechtspfl ichten« heißt es vorsichtig: »›Tritt in einen Zustand, worin Jedermann das Seine gegen jeden Anderen gesichert sein kann‹ (Lex iustitiae).« (VI 237,7–8) Und wenn hier eine einzige Person fast den gesamten Boden in seinem provisorischen Besitz hatte, muß die »Gerechtigkeit« ihr dieses Suum zusprechen und durch die Exekutive gegen jeden anderen sichern. Der Staat schreibt das als gerechten »status quo« fest, was ohne Rechtsverletzung in der Gewalt der jeweiligen Person ist. Wo bleibt die Gerechtigkeit im Sinn einer ausgewogenen Landverteilung? Kants Antwort muß lauten: Sie wird sich durch den Handel allmählich einstellen, denn der übermäßige Besitz eines Einzelnen hält dem Markt so wenig Stand wie das Grundeigentum des Adels (dazu VI 324,21–325,7; 329,4–35); eines Tages wird auch dieser Teil des Bodens jedem angeboten, der den Preis entrichten kann, ob Christ oder Jude. Kant konzipiert die Staatsgesellschaft in der Form der »liberalen Marktwirtschaft«194, wie sie von Adam Smith entworfen wurde. Die Produzenten, die ihre Ware auf dem Markt anbieten, sind selbständige Bürger; jeder Passivbürger, der nicht durch sein Alter oder Geschlecht am Status des Aktivbürgers gehindert wird, muß die Möglichkeit haben, sich zu diesem Status eines selbständigen Bürgers emporzuarbeiten (VI 315,21). Kant wird der Meinung sein, dass die Arbeit und die Zirkulation der Waren für eine sozial ausgewogene Güterverteilung sorgen. »Ein französischer Minister berief einige der angesehensten Kaufleute zu sich und verlangte von ihnen Vorschläge, wie dem Handel aufzuhelfen sei: gleich als ob er darunter die beste zu wählen verstände. Nachdem Einer dies, der Andere das in Vorschlag gebracht hatte, sagte ein alter Kaufmann, der so lange geschwiegen hatte: Schafft gute Wege, schlagt gut Geld, gebt ein promptes Wechselrecht u. dgl., übrigens aber ›laßt uns machen‹!« (VII 19,35–20,13) Schon der Lockeschüler Shaftesbury forderte eine liberale Wirtschaftspolitik, die Abschaff ung der Hindernisse (»embargo«) und das »laissez faire, laissez aller«.195 Im Zuge des neostoischen Naturverständnisses ist die liberale Wirtschaft natürlich, die Staatsmonopole sind dagegen artifiziell und verstoßen aporien der rechtslehre | 147
gegen die Natur.196 Der freie Markt sorgt für Gerechtigkeit, deshalb braucht die Kantische Rechtstheorie sich um die »iustitia« nur in Form der Justiz zu kümmern, nicht aber in Form einer besonderen sittlichen Qualität des Staats oder der Gesellschaft , wie dies bei Platon und Aristoteles bis tief in die Neuzeit der Fall ist, etwa in der Figur des gerechten Herrschers. Wie die Gerechtigkeit sich auf natürliche Weise selbst einstellt, wenn der Staat nur die richtige Infrastruktur liefert, so auch das Glück der Bürger, das kein gesondertes Thema bildet und das doch mitgeführt wird. In beiden Fällen wehrt sich die bürgerliche Gesellschaft gegen die Monopolwirtschaft und die Glückfürsorge des Absolutismus. Der Markt wird es richten.
6. Das Strafrecht Strafe soll sein. »Das Strafgesetz ist ein kategorischer Imperativ, und wehe dem! welcher die Schlangenwindungen der Glückseligkeitslehre durchkriecht, um etwas aufzufinden, was durch den Vortheil, den es verspricht, ihn von der Strafe, oder auch nur einem Grade derselben entbinde nach dem pharisäischen Wahlspruch: ›Es ist besser, daß ein Mensch sterbe, als daß das ganze Volk verderbe‹; denn wenn die Gerechtigkeit untergeht, so hat es keinen Werth mehr, daß Menschen auf Erden leben.« (VI 331,31–332,3) Also nicht: »Strafe muß sein«197, denn dafür kann es viele Gründe geben, etwa leerstehende teure Gefängnisse, Billigproduktion durch die Insassen etc., Gründe, die für Kant bei der Straferörterung wenig zählen: Das kategorische Soll stiftet eine kategoriale Differenz gegenüber dem vielseitigen klugen Muß. Gegen die Grundidee des Kantischen Strafrechts ist auf den ersten Blick wenig einzuwenden: »Das Strafrecht ist das Recht des Befehlshabers gegen den Unterwürfigen, ihn wegen seines Verbrechens mit einem Schmerz zu belegen.« (VI 331,4–5)198 Der Unterwürfige ist Person und kann diesen Status durch sein Verbrechen nicht verlieren; er wird als Person bestraft . Er kann folglich nicht für medizinische Zwecke verwendet werden (VI 332,3–10), er wird durch sein Verbrechen nicht zum Feind oder »outlaw«, zur Bestie, die man möglichst qualvoll umbringen kann 148 | kapitel Iv
und soll.199 Kein Denker vor Kant hat dies im Grundsatz herausgearbeitet. Die folgende Kritik an seiner Theorie setzen diesen revolutionären Gedanken voraus: Jeder Mensch bleibt Person – gegen Platon, gegen Aristoteles, gegen den Heiligen Thomas und John Locke und Rousseau. Bestraft wird der Täter zunächst, weil er verbrochen hat, nicht aber, damit er oder die Gesellschaft durch den möglichst öffentlichen Strafvollzug geläutert und verbessert werden (VI 331,20–29). Die einfachste Form, das Ausmaß und die Art der Strafe zu bestimmen, ist zweifellos das von Kant vorgeschlagene »jus talionis«; dabei erhält der Täter genau die Tat zurück, die er selbst begangen hat. Damit ist sicher gestellt, dass er sich nicht beschweren kann – er leidet, was sein Opfer erlitt. Es bleibt gewahrt, dass der Täter nicht nur als Mittel für irgendeinen Zweck benutzt und dadurch zur Sache gemacht wird. Schon Kant sieht selbst, dass das so rechtlich und einfach scheinende »jus talionis« bei vielen Verbrechensarten nicht durchführbar ist. Man nehme nur den Hochverräter, für den die Todesstrafe vorgesehen ist; er kann nicht gut dadurch bestraft werden, dass er nun seinerseits verraten wird. Der Mörder dagegen soll getötet werden (VI 333,11–12). Hier beginnen unsere Fragen: Ist es einzusehen, warum das Augenausstechen und Foltern des Folterers nicht durchführbar sein sollten, wie Kant offenbar annimmt? Wodurch zeichnet sich die Todesstrafe, die Kant emphatisch fordert, vor diesen Varianten aus, bei denen nicht der ganze Kopf abgeschlagen, sondern nur Teilstücke lädiert oder entfernt werden? Es kann nicht die zeitliche Erstreckung des Strafvollzugs sein, denn die Prozedur wenigstens beim »Auge um Auge, Zahn um Zahn« braucht nicht länger als der Vollzug der Todesstrafe zu dauern. Verzichtet Kant nur aus affektierter Humanität, also unsachlich, bei Augen und Zähnen auf die nach dem Talionsprinzip gerechte Strafe? Ist Kants Position halbherzig? Sollte er entweder ganz auf das »jus talionis« bei der qualitativen Strafzufügung verzichten oder aber die genannten Varianten zulassen? Im ersten Fall kann einzig das Würdeprinzip der Grund des Verzichts sein. Das heißt aber: Alle leiblichen Strafen widersprechen der Würde des Menschen, zu den leiblichen Strafen gehört jedoch auch die Tötung des Mörders. Die einzigen Strafarten, zu denen die freien und gleichen Bürger aporien der rechtslehre | 149
einer Republik sittlich oder rechtlich befugt sind, ist die Vermögens- oder Freiheitsstrafe, ergänzt durch den Zwang zu sozial nützlichen Arbeiten. Es läßt sich hinzufügen, dass auch die historische Entwicklung zur Abschaff ung der Todesstrafe gelangt; ein Symptom ist das Verstecken der Tötung in ferne Betonbauten, und an die Stelle des schwer handhabbaren Beils ist die Giftspritze getreten, die von den Angestellten oder Azubis problemlos bedient wird, notfalls zwei- oder dreimal mit nur geringer Erhöhung der Kosten. Bei Kant ist die Regulierung von Konflikten im Privatrecht und die Verfolgung und Bestrafung von Verbrechen ein Hoheitsrecht des Staats; seine Organe haben dazu nicht nur ein Recht, sondern eine Pflicht im allerhöchsten Rang: »Das Strafgesetz ist kategorischer Imperativ […].« (VI 331,31–32) Es muß nicht nur aus Klugheitsgründen Strafe sein, sondern sie soll sein. 7. Was bleibt? Kants Rechtslehre ist keine technische Anweisung zum konfl iktfreien Verkehr von Wesen, die über äußere Handlungsfreiheit verfügen, sondern ist ein Teil der Moralphilosophie neben und vor der Ethik oder Tugendlehre. Die praktische Notwendigkeit ist kein »Muß«, sondern ein im kategorischen Imperativ begründetes »Soll«. Unsere Fragen bezogen sich auf Einzelteile der Rechtslehre in der Abfolge, die der Kantische Text vorgibt, also ohne eigene systematische Absicht. Zuerst: Ist die Aufhebung der traditionellen Zweiteilung von Sachen- und Personenrecht in einem einheitlichen Besitzrecht gelungen, konkret: Läßt sich der Vertrag als intelligibler Besitz der Willkür einer anderen Person fassen? Kants Vertrags-Konzept führt in schwer auflösbare Aporien, desgleichen das Haus-, besonders das Eherecht. Die Gerichtsbarkeit des Staats wird im Vorfeld mit Befugnissen ausgestattet, etwas zu tun, was »im Grunde unrecht« ist – wo sind die Grenzen dieser Ermächtigung der Staatsräson? Ist die Gerechtigkeit das Folgeprodukt gut geordneter Rechtsverhältnisse? Kommt Kant zu einer Lösung, die der Vorordnung des Gesetzesbegriffs vor dem des Guten in der KpV gleicht? Ist das Strafrecht konsistent? Oder gelangt man mit Kantischen Prinzipien zu einer Revision, die auch die Abschaff ung der Todesstrafe enthält? 150 | kapitel Iv
V. Zwecke der Natur »Kritik der teleologischen Urteilskraft« »La seule génération des corps vivants et organisés est l’abîme de l’esprit humain«, Rousseau.200
Es werden Probleme der Beurteilung der Naturzwecke erörtert. Die totalisierende Behauptung, in einem Naturzweck sei alles zugleich Mittel und Zweck, erinnert an das Problem der geometrischen Determiniertheit der reinen Anschauung des Raumes und die durchgängige Bestimmung der Freiheit durch das moralische Gesetz. Läßt sich die begriffliche Bestimmung des Naturprodukts retten ? Wie paßt die Konfliktgeschichte der Menschheit in die harmonischzweckmäßige Natur ?
1. Die Argumentationslinie Kants Grundidee ist folgende: Descartes und Hobbes, Gassendi und Mersenne, auch noch Spinoza entwickelten nach dem Vorbild von Demokrit und Epikur eine teleologiefreie Idee der Natur. Im Rückgriff auf stoische, auch aristotelische und christlich-theologische Vorstellungen kehrten jedoch die Nachfolger, allen voran Leibniz und Locke zur Naturteleologie zurück. Kant trägt beiden Positionen Rechnung. Die Grundsätze des Verstandes, die die Basis einer Newtonischen Physik bilden, sind zweckfrei; wir stoßen jedoch auf Naturprodukte, die uns nötigen, in ihrer Analyse vom Zweckbegriff Gebrauch zu machen. Er wird durch die reflektierende Urteilskraft geliefert und kann derart eine theologiefreie Wissenschaft des Organischen (Naturzwecke) bei gleichzeitiger Geltung der zweckfreien Verstandesgrundsätze ermöglichen. In der Folge dieses Gedankens sind wir genötigt, die Natur im Ganzen als zweckmäßig anzusehen, und dies wiederum soll es ermöglichen, an die Teleologie des freien moralischen Willens anzudocken und so die Kluft zwischen Natur und Freiheit zu überbrücken. zwecke der natur | 151
Der gesamte Komplex der Analytik, Dialektik und Methodenlehre der »Kritik der teleologischen Urteilskraft« hat vier Teile. Erstens (A): Die objektive Zweckmäßigkeit der Natur zerfällt in einer vollständigen Disjunktion in zwei Bereiche: die relative, äußere und die (absolute)201 innere Zweckmäßigkeit eines Naturwesens. Es ist wieder die uns schon vertraute Stufung. Die erste Stufe relativer Zweckmäßigkeit berechtigt nicht zu teleologischen Urteilen – dass etwas für etwas anderes zweckmäßig ist, kann am Ende auf Zufall beruhen (§ 62–63). Zweitens (B): Die Erfahrung zeigt uns Einzeldinge als Naturzwecke, die uns nötigen und berechtigen, sie in der Reflexion als teleologisch zu beurteilen; für die reflektierende Urteilskraft ist in ihnen alles Mittel und Zweck (vorbereitend § 64, ausgeführt § 65, Konsequenz § 66). Drittens (C): Ausweitung dieses Prinzips auf die Beurteilung der Natur im Ganzen, also auch die relative Zweckmäßigkeit. Die Natur ist insgesamt ein Reich der Zwecke (§ 67). Der Mensch ist als selbst Zwecke setzendes Wesen der letzte Zweck der Natur. Viertens (D): Übergang vom letzten Zweck der Natur zum Endzweck der reinen praktischen Vernunft, durch den beantwortet wird, wozu die Natur überhaupt da ist. Die Realisierung des Endzwecks ist die Bestimmung des Menschen, die nur möglich wird, wenn die Natur seinen Zwecken entgegen kommt.202 Zu D: Ausgehend in B vom einzelnen Naturzweck, z. B. dem Baum, und dessen begriffl icher Bestimmung, gelangt Kant in C zur teleologischen Beurteilung der gesamten Natur, die also nicht mehr nur nach der »causa efficiens« gemäß der »Analytik« der KrV insgesamt determiniert ist, sondern auch nach der »causa finalis«; es gibt für uns keine Lücke im Zweckdeterminismus der Natur. In dieser flächendeckenden Finalität aller Dinge bleibt gleichwohl eine Frage offen: Wozu die zweckmäßig angelegte Gesamtnatur da ist. Wir gehen hiermit von den teleologischen Bestimmungen der existierenden Dinge über zur Frage nach der fi nalen Modalität (D): Wozu gibt es sie in ihrer Zweckmäßigkeit? Die Antwort auf diese vernunft notwendige Frage fi ndet sich nicht mehr in der Natur, sondern in der reinen praktischen Vernunft. Hier löst die praktische reflektierende Urteilskraft die theoretische Reflexion ab (s. V 447,16–17; 456,11–15), und die Technik der Natur weicht der praktischen Vernunftbestimmung. Der Konvergenzpunkt liegt im 152 | kapitel v
höchsten Gut, das in der Welt zu realisieren wir bestimmt sind, das jedoch in der Glückskomponente nicht in unserer Gewalt liegt; wir müssen daher aus moralischen Gründen glauben, dass Gott die Einhelligkeit von Moralität und Glück im Reich der Zwecke der Natur ermöglicht.
2. Der Naturzweck »§ 66. Vom Princip der Beurtheilung der innern Zweckmäßigkeit in organisirten Wesen. Dieses Princip, zugleich die Defi nition derselben, heißt: Ein organisirtes Product der Natur ist das, in welchem alles Zweck und wechselseitig auch Mittel ist. Nichts in ihm ist umsonst, zwecklos, oder einem blinden Naturmechanism zuzuschreiben.« (V 376,8–14; auch XXI 210,11–13) Die Argumentation, die zu dem angeführten Prinzip hinführt, beginnt folgendermaßen: »Die Erfahrung leitet unsere Urtheilskraft auf den Begriff einer objectiven und materialen Zweckmäßigkeit, d. i. auf den Begriff eines Zwecks der Natur nur alsdann, wenn ein Verhältniß der Ursache zur Wirkung zu beurtheilen ist, welches wir als gesetzlich einzusehen uns nur dadurch vermögend finden, daß wir die Idee der Wirkung der Causalität ihrer Ursache, als die dieser [der Ursache, RB] selbst zum Grunde liegende Bedingung der Möglichkeit der ersteren [der Wirkung, RB], unterlegen.« (V 366,27–367,3) Ein Erfahrungsding existiert als Naturprodukt oder Naturzweck, »wenn es von sich selbst […] Ursache und Wirkung ist« (V 370,36–37), d. h. es muß »sich zu sich selbst wechselseitig als Ursache und Wirkung verhalten« (V 372,16)203. Diese kausale Wechselseitigkeit 204 der Glieder in einem einzigen Naturding lässt sich zunächst nur in paradoxer doppelter Zeitrichtung denken, so dass von der Ursache in t1 zur Wirkung in t2 eine (die einzig daneben mögliche)205 Kausalität von t2 zu t1 zugesellt wird. Der reale nexus effectivus wird durch den idealen (nur vorgestellten) nexus finalis oder idealis (V 372,23–35) im entgegen gesetzten Zeitsinn ergänzt. Mit dieser Doppelbödigkeit der gegenläufigen Kausalbezüge liegt in dem einen, sich selbst organisierenden Selbst des Dinges beides: Die materiale Realität der Naturursachen und -wirkungen gemäß dem Kausalgrundsatz der KrV (t1 – t2) und die zwecke der natur | 153
ideale »Realität« der Zweckursachen (t2 – t1). Die erste gewährleistet, dass die Bestimmungen der KrV nicht auf wunderbare Weise von jedem Grashalm außer Kraft gesetzt werden, die zweite, dass die Zweckhaftigkeit des organisierten Naturprodukts gerettet wird, allerdings um den Preis, dass die reflektierende Urteilskraft auf eine aus der subjektiven Vernunft stammende Komponente zurückgreifen muß, denn die ideelle Antizipation im Zweckbegriff ist unsere Zutat, sie ließe sich also nicht im Energiehaushalt der Natur als Sonderposten anführen.206 Die gegenläufige Kausalität von Ursache und Wirkung wird von vornherein räumlich im Körper gedacht und in der Vorstellung der antizipierten Wirkung auch zeitlich, also schematisiert (V 220,8–9: »Die Vorstellung der Wirkung ist hier der Bestimmungsgrund ihrer Ursache und geht vor der letztern vorher«); deswegen ist sie paradox.207 Im sich organisierenden Produkt der Natur ist für unsere Beurteilung wechselseitig alles Zweck und Mittel (V 376,11–14), jedes Glied also dem anderen äußerlich. Das innere zeitliche und räumliche Auseinander bewahrt vor dem Ungedanken, dass ein ungeteiltes Ding von sich Ursache (»causa sui«) und Zweck ist. Die »Zergliederer der Gewächse und Th iere« (V 376,24) suchen nach der genauen »causa fi nalis« der Teile eines Naturprodukts, ihrer Struktur und Lage; wozu dienen die Blätter der Bäume? Der bestimmte Zweck kann nur so gedacht werden, dass er die Wirkung zeitlich antizipiert und die »causa efficiens« zu ihrer mechanischen Hervorbringung bestimmt. Daß alles im Naturzweck eine bestimmte Funktion hat, besagt die reflektierende Urteilskraft und liegt der Forschung als Maxime zugrunde. Zugleich kann die Naturwissenschaft am »Studium der Natur nach ihrem Mechanism« (V 384,1) festhalten, denn die Grundsätze des Verstandes gelten uneingeschränkt für Physik und Chemie; sie untersuchen, wie bestimmte Zwecke als Wirkungen einer bestimmten »causa efficiens« verwirklicht werden. Daher kann von einem »transcendentale[n] Princip der Zweckmäßigkeit der Natur« (V 414,10) gesprochen werden; transzendental, denn ohne dieses Prinzip wäre Naturerfahrung nicht möglich, sondern würde sich in unendlichen Zufälligkeiten à la Epikur verlieren. Nun überblendet Kant diese Dualität der zwei Richtungen auf dem eindimensionalen Zeitstrahl durch die zeitlose Opposition 154 | kapitel v
von Verstand und Vernunft; der »nexus effectivus« sei eine »Causalverbindung, sofern sie bloß durch den Verstand gedacht 208 wird« (V 372,19–20), der Zweckbegriff gehöre dagegen der Vernunft an (V 372,25)209. Hiermit überschreiten wir den nur phänomenalen und zeit-paradoxen Bereich; die Vernunft präsenz im Naturzweck läßt sich nicht auf die zeitliche Struktur der Antizipation des kausal zu bewirkenden Zustandes in t2 einhegen, sondern, so unsere These, sie ist wesentlich bestimmt durch die Verbindung der Teile zu einem Ganzen. Als die Form dieses Ganzen, das die Teile zu Gliedern macht, die umgekehrt das Ganze bewirken, wird der Naturzweck sogleich im § 64 charakterisiert (V 369,30 ff.). Zugleich: Die Vernunft totalisiert die Zweckanlage; »alles« ist Mittel und Zweck. Dieses »alles« wird der Brückenkopf sein zur reinen praktischen Vernunft, die die Zweckhaft igkeit von »allem« fordert, um Natur und Freiheit verbinden zu können. Wir halten schon hier fest, dass Kant die Zwecke der Natur aus subjektiven Ressourcen des erkennenden Subjekts und dessen reflektierender Urteilskraft ermöglicht, während die heutige Biologie eine objektive Emergenz der Materie annimmt. Ein einfaches Emergenzphänomen, das schon im Hellenismus als Beispiel diente, ist das Wasser, dessen einzelne Moleküle nicht flüssig sind, wohl aber eine bestimmte Anzahl. In gleicher Weise haben Naturprodukte oder Naturzwecke wie Pflanzen und Tiere Eigenschaften, die die einzelnen Materieteile nicht aufweisen, wohl aber eine bestimmte Anzahl und Anordnung. Der moderne Biologe behauptet wie Kant eine Zweiteilung organisierter Naturprodukte. In der ersten Ebene sind Physik und Chemie zuständig, in der zweiten die Biologie mit ihren nicht reduzierbaren Emergenzphänomenen. Während der Hellenismus und die gegenwärtige Biologie von objektiven Emergenzen sprechen, zieht Kant die subjektive reflektierende Urteilskraft heran, um den teleologischen Überschuß der Materie zu erfassen. Die Emergenztheorie hat den Vorteil, dass sie das Phänomen des Lebens und auch des Bewusstseins eingliedern kann in Naturerscheinungen, die es auch im Elementarbereich gibt, wie das Beispiel des Wassers zeigt. Kant dagegen restringiert die Intervention der reflektierenden Urteilskraft auf die Finalität der Naturprodukte und des Ökosystems der Natur insgesamt. zwecke der natur | 155
Der Zweckbegriff steht der reflektierenden Urteilskraft durch die praktische Vernunft zur Verfügung. Nun werden zwar die hypothetischen Imperative aus der moralisch-praktischen Philosophie verwiesen und der theoretischen zugerechnet (V 171,13– 173,36), aber das besagt nicht, dass der in ihnen gebrauchte Begriff der Zwecke und der Zweckmäßigkeit nicht aus der praktischen Vernunft stammt. Und: Zur Zwecksetzung sind nicht nur (moralisch) zurechnungsfähige Vernunft wesen in der Lage, sondern auch bloß vernünft ige Wesen, zu denen man die Teufel rechnen könnte, die (»wenn sie nur Verstand haben«) einen ihren Zwecken entsprechenden Teufelsstaat konzipieren können (V 26,8–11 u. ö.; VIII 366,15–29). Es ist für die Gesamtanlage der KdU nicht unwichtig, dass der gesamte Bereich der teleologischen reflektierenden Urteilskraft auch Wesen offen steht, die nur über den instrumentellen Zweckbegriff verfügen und sich widerspruchsfrei mit dem Begriff eines letzten Zwecks ohne die Idee eines Endzwecks begnügen. Die (später so benannte) Biologie ist nicht nur theologieresistent (V 382,35–383,37), sondern auch moralimmun.210 Von hier ausgehend, sollen im Folgenden Probleme der »Kritik der teleologischen Urteilskraft« exponiert werden. Führen sie zum Scheitern der Theorie?
3. Erstes Problem: Die Form des Naturzwecks Größte Schwierigkeiten bereitet es schon in der »Kritik der ästhetischen Urteilskraft«, einen konsistenten Formbegriff zu entdekken.211 Beim Urteil über Naturprodukte oder Naturzwecke operiert die reflektierende Urteilskraft mit einem Modell, gemäß dem in einem derartigen Gegenstand alles zugleich Mittel und Zweck ist. Es heißt jedoch vom Naturprodukt auch, »daß seine Form nicht nach bloßen Naturgesetzen möglich sei« (V 370,1–2) – was heißt hier »Form«? Die Teile eines Naturprodukts verbinden sich dadurch zur Einheit eines Ganzen, »daß sie von einander wechselseitig Ursache und Wirkung ihrer Form sind.« (V 373,18–19) Hier kommt offenbar ein Formbegriff ins Spiel, der weder aus der Ästhetik noch aus der Logik entlehnt ist, sondern eher an den Aristotelische Begriff des 156 | kapitel v
»eidos«, der »Idee« (V 373,7; 12; 20 u. ö.) anknüpft, also als »causa formalis« auft ritt. Diese Form oder Idee stiftet in dieser Version die Einheit eines bestimmten Seienden, hier des Naturprodukts. Auf diesen Formbegriff geht das von Kant häufig wiederholte Diktum des »forma dat esse rei« zurück. Im Opus postumum steht: »Ein organischer Naturkorper wird also als Maschine (ein seiner Form nach absichtlich gebildeter Körper) gedacht.« (XXI 569,6–7) Und: »Zur Verbindung des Mannigfaltigen in der Vorstellung der Einheit des Objects (des Ganzen) gilt das Princip der Scholastiker: Forma dat eße rei: d. i. die Art der Zusammensetzung des Vielen zum Begriffe des Einen geht vor dem letzteren a priori vorher.« (XXI 569, Anm. 7–10) Offi ziell werden in der KdU nur die »causa efficiens« und die »causa finalis« anerkannt; sie müssen die notwendigen und hinreichenden Instrumente bei der Erklärung eines Naturzwecks bilden. In einer konsequenten Lehre der Naturprodukte oder Naturzwecke müsste die Ursache, die die Einheit begründet, der Zweck sein, dem das Naturprodukt dient, also jeweils ein externer Bereich in der Natursymbiose. Kants Beispiel: Gras und Rentier (XXI 560). Alles am Grashalm bestimmt sich einheitlich aus seiner Funktion, einem anderen Lebewesen als Futter zu dienen. Die gesamte Natur, auch der solitäre Baum, müsste dechiff rierbar sein am Maßstab des Nutzens für den Menschen: »[…] (das Moos der Eiswüsten fürs Renthier): endlich diese Vernunft lose Thierspecies für Menschen.« (XXI 567,17–18; auch 570,11–12) Dass Kant diese anthropozentrische Teleologie vertritt, läßt sich kaum bezweifeln. Nun verfährt Kant anders. Aus methodischen Gründen werden zuerst in sich geschlossene Mittel-Zweck-Gebilde aufgesucht wie etwa das eines Baumes, bei dem ein externer Zweck seines Daseins und seiner Form nicht erwähnt wird. Die äußere Zweckbeziehung folgt in einem zweiten Schritt bei der Integration des Naturprodukts in ein externes Zwecksystem der Technik der Natur im Ganzen. Das Naturprodukt ist also vorerst ein nur intern agierendes finales Relationensystem. Fehlt nicht bei diesem Zugang ein Grund des Seins und der bestimmten Einheit der finalen Bezüge aller Teile unter einander? Wenn alles nur Mittel und zugleich Zweck ist, ist nichts dazu befähigt, diese vielen Relationen einheitlich zu dirigieren. Der Baum steht da wie ein erratischer Block, ein Endzweck, er zwecke der natur | 157
richtet sich nicht nach einer Aufgabe, die er für die übrige Natur zu erfüllen hat. »Ein Baum zeugt erstlich einen andern Baum nach einem bekannten Naturgesetze« (V 371,7–8); zu lesen im Plural, denn der Baum hat Blüten und bedarf des Windes oder der Bienen, um mit anderen Bäumen einen Baum zu erzeugen. »Es giebt nur eine einzige äußere Zweckmäßigkeit, die mit der innern der Organisation zusammenhängt und […] im äußeren Verhältniß eines Mittels zum Zwecke dient. Dieses ist die Organisation beiderlei Geschlechts in Beziehung auf einander zur Fortpflanzung ihrer Art; […]. Dieses hier macht allererst ein organisirendes Ganze aus, obzwar nicht ein organisirtes in einem einzigen Körper.« (V 425,24–33) Ein anderes seit der Antike bekanntes, organismusähnliches Phänomen sind die arbeitsteiligen Kolonien der Bienen, die räumlich getrennt als Mittel und Zweck agieren und auf diese Funktionen innerlich eingestellt sind. Im Opus postumum wird über die Selbstkonzeption des Ganzen eines Organismus nachgedacht. Ein organischer Körper sei »ein solcher dessen jeder Theil von Natur um des andern Willen in ihm selbst da ist wo also auch umgekehrt der Begriff des Ganzen die Form der Theile äußerlich sowohl als innerlich (in Figur und Textur) bestimmt.« (XXII 283,6–9; auch 501,11–19) Der »Begriff des Ganzen« wird für das wechselseitige Mittel-Zweck-System der Teile also vorausgesetzt, eine »causa formalis« neben oder über dem Ineinander von »causa efficiens« und »fi nalis« der einzelnen Glieder. Es ist in Kants Beispiel der objektive Begriff des Baumes in seiner spezifischen Bestimmtheit (immer: für die hier nicht mehr genannte reflektierende Urteilskraft). Diese Isolation der Binnenbeziehungen des Naturzwecks wird notwendig durch das Postulat, alle Vorgänge in der Zweck-Natur im Prinzip mechanistisch rekonstruieren zu können, denn die organisierten Produkte gehören zu den Erscheinungen, die insgesamt den Grundsätzen des Verstandes, besonders der »causa efficiens«, unterliegen. Wir zitierten schon oben: »Aber das Princip: alles, was wir als zu dieser Natur (Phaenomenon) gehörig und als Product derselben annehmen, auch nach mechanischen Gesetzen mit ihr verknüpft denken müssen, bleibt nichts desto weniger in seiner Kraft: weil ohne diese Art von Causalität organisierte Wesen, als Zwecke der Natur, doch keine Naturproducte sein würden.« 158 | kapitel v
(V 422,14–19) Eine externe Kantische Zweckbeziehung – etwa der Nutzen des Mooses für das Rentier, der Bienen in einem Staat – hat jedoch kaum eine Chance, auch nach mechanischen Gesetzen erklärbar zu sein: Wie sollte sich hier die Mittel-Zweck-Beziehung in der Ebene der auf Kontakt angewiesenen »causa efficiens« darstellen lassen? Es legt sich nahe, analog nach dem Verbleib der »causa materialis« zu fragen; jedes Naturprodukt hat ein materielles Dasein in Raum und Zeit, es ist angewiesen auf eine vorgängige Materie in seiner Umgebung, die auch nach der Assimilierung als Materie erhalten bleibt. »Die Materie, die er [sc. der Baum, RB] zu sich hinzusetzt, verarbeitet dieses Gewächs [der Baum, RB] vorher zu specifisch-eigenthümlicher Qualität, welche der Naturmechanism außer ihm nicht liefern kann, und bildet sich selbst weiter aus vermittelst eines Stoffes, der seiner Mischung nach sein eigenes Product ist.« (V 371,17–21) Später wird von einer internen Ursache gesprochen, welche die »schickliche Materie« herbeischaffe (V 377,20). Die Materie muß »schicklich«, zweckmäßig, sein, um assimiliert werden zu können; für diese Harmonie zu sorgen, ist Aufgabe der Technik der Natur, die nicht nur in der Binnenkausalität des Naturzwecks präsent sein kann, sondern auch in der Gesamtkomposition der Natur, die die speziellen Naturzwecke ermöglicht. Unsere Frage: Wo ist bei der Analyse des Naturprodukts als eines wechselseitigen Mittel-Zweck-Systems ein Grund der Einheit dieses Systems? Macht Kant deswegen eine Anleihe bei der »causa formalis« bzw. dem »eidos«, der Idee der Aristotelischen Tradition, ohne dies jedoch theoretisch zu rechtfertigen? Wenn es heißt, »[…] nach einem Begriffe von ihm [dem Ding, RB], der vorhergeht und den Grund dieser Form enthält« (V 192,22–23), dann wird man diesen vorhergehenden Begriff mit der Idee identifizieren, die nicht einer der vielen Zwecke im Naturprodukt ist, sondern die Einheit des Ganzen, die »causa formalis«. Es ist nicht unwichtig, sich die Komplikationen der Kantischen Teleologie in ihrem Kernbereich zu vergegenwärtigen, um zu erkennen, dass sich die spätere Entwicklung hin zu Darwin auch als Versuch begreifen läßt, interne Probleme der vorhergehenden Lehren von den Naturzwecken zu lösen. Eines der rätselhaften Phänomene in dieser Auseinandersetzung dürfte darin bestehen, dass zwecke der natur | 159
Kant sich intensiv zum Baum äußert, jedoch mit keinem Wort zu den vorstellungsfähigen nichtmenschlichen Naturprodukten. Wo bleiben die Tiere? Sie verfügen über Vorstellungen212 und können diese assoziativ verknüpfen; sie orientieren sich bei ihrer Eigenbewegung nach ihren Vorstellungen im Raum und verhalten sich zweckmäßig. Hier hängt die Zweckmäßigkeit jedoch deutlicher als bei den Pflanzen von der wechselnden Umwelt ab, sie ist dadurch integrierender Bestandteil des nicht mehr nur internen MittelZweck-Systems. Das Verhalten birgt für höher entwickelte Tiere ein Risiko, auf das sie sich einstellen, wie immer der psychische Ablauf dabei beschaffen ist; zur Teleologie der Tiere gehört das Risiko-Verhalten. Läßt sich die Frage, ob Tiere selbst Zwecke setzen, apriori ohne empirische Untersuchungen entscheiden? Ist es der Kantischen Teleologie abträglich, dass er die Tiere als Bindeglieder zwischen Pflanzen und Menschen aus seiner Untersuchung ausschließt?
4. Zweites Problem: Alles ist Mittel und Zweck Im Naturprodukt wirken »nexus effectivus« und »finalis« zusammen (immer: »für den, der es beurtheilt«, V 373,24–25). Die Finalität des Naturzwecks ist dabei so zu denken, dass es sich einerseits um zu produzierende einzelne Glieder des Ganzen handelt, die dann bei der Naturforschung als bestimmter Zweck ermittelt werden können, andererseits um den Naturzweck insgesamt, um die »absolute Einheit« und Form des Ganzen (V 377,1–16). Alles ist organisiert und ist Organ, sowohl die einzelnen Glieder wie auch das Totum. Der Naturzweck ist eine funktionale absolute Einheit. Man vergleiche schon 1787 in der zweiten Auflage der KrV: »Nach der Analogie mit der Natur lebender Wesen in dieser Welt, an welchen die Vernunft es notwendig zum Grundsatze annehmen muß, daß kein Organ, kein Vermögen, kein Antrieb, also nichts Entbehrliches, oder für den Gebrauch Unproportioniertes, mithin Unzweckmäßiges anzutreffen, sondern alles seiner Bestimmung im Leben genau angemessen sei, zu urteilen, müßte […].« (B 425) Hier ist das dirigierende Vermögen noch die Vernunft, in der KdU ist es die reflektierende Urteilskraft . Wir richten unser Augen160 | kapitel v
merk auf die totalisierende Bestimmung empirischer Gegebenheiten. Wie wird das bestimmte Ganze des Naturzwecks bestimmt, wie kommt der Unterschied zwischen Tanne und Blütenbaum zustande? Nicht aus der jeweils »innern Form« (V 378,12) und nicht aus dem äußeren Gebrauch, den andere Lebewesen von dem fertigen Naturprodukt machen. Die Diversität der Naturprodukte entzieht sich damit der Naturerkenntnis. Wir müssen bei der Entstehung der jeweiligen Gattungen oder Arten auf einen Schöpfungsakt rekurrieren. Alles ist erkennbar Mittel und Zweck, aber dies kann sich nicht beziehen auf den Naturzweck selbst im Hinblick auf seine natürliche Besonderung. Weiter: Wir waren ausgegangen von einem Ding unserer Erfahrungswelt (V 366,27); aber gibt es Dinge, wie sie Kant als organisierte Produkte der Natur definiert? Die negative Antwort kann verschiedene Gründe anführen. Einmal den elementaren Tatbestand, dass jedes derartige arbeitsteilige Produkt seine eigene Zerstörung vorbereitet und so der Preis der Selbsterhaltung zugleich die zweckwidrig-zweckmäßige Selbstvernichtung ist. Das Sterben ist keine Krankheit und erfolgt nicht nur durch äußere Einwirkung, sondern ist, wie der frühe Kant annahm, das natürliche Ergebnis des individuellen Lebens (I 198,4–34).213 Bezieht man den Begriff des Naturprodukts jedoch nicht auf das sterbliche Individuum, sondern auf die Gattung, entsteht die Schiefheit, dass der Baum sich nicht allein als Gattungswesen reproduzieren kann, sondern angewiesen ist auf externe Mittel, die im Naturprodukt selbst organisierend eingeplant, aber nicht auffi ndbar sein müssen. Die Zweigeschlechtigkeit wird nur einmal marginal angesprochen (V 425,24–33), aber sie ist für die von Kant betrachteten Naturprodukte essentiell, beim Blütenbaum durch eine externe Bestäubung. Dann aber muß die Vorstellung des Naturzwecks als ein »organisirtes [Ganzes] in einem einzigen Körper« (V 425,32–33) durch den eines partiell räumlich getrennten organisierenden Ganzen (V 425,32) ersetzt werden; die Bestäubung ist etwas anderes als die Assimilation einer Materie von »äußere[r] Zweckmäßigkeit« (V 425,16). Etwas Externes ist aktiv in die Arbeitsteilung des Naturprodukts integriert. zwecke der natur | 161
Zum anderen ist die Feststellung, innerhalb des Naturprodukts sei alles Zweck und wechselseitig auch Mittel, kaum haltbar, denn die Naturforschung trifft auf Teile der Naturprodukte, die nicht dem Ganzen und den anderen Teilen als Mittel dienen. Wir brauchen nur an das alte Beispiel der Brustwarzen des Mannes zu denken; welche Organfunktion kommt ihnen zu? Das Gegenstück sind Teile, die zwar als Mittel dienen, aber nicht auf Dauer als Zweck vom Ganzen erhalten werden; man denke an die Blätter von Laubbäumen, die im Herbst absterben.214 Jeder Organismus stößt eigene Teile, also »Zwecke«, von sich als bloße, jetzt ausgediente Mittel ab und organisiert sich im Rhythmus einiger Jahre materialiter gänzlich neu, was Kant durchaus vertraut war, was aber gegen seine Formel verstößt, denn damit verlieren die Glieder den Status eines Zwecks. Wollte man auf die materiale Erhaltung der Blätter im Herbst verzichten und nur die Form in Betracht ziehen, die sich zyklisch215 mit wechselnden Blättern erhält, verlässt man die empirische Ebene, in der Kant die Naturprodukte findet. Kant bestimmt das Naturprodukt aus bloßen Begriffen; die empirische Forschung hat die Aufgabe, die Begriffsvorgabe einzulösen, gelingt dies nicht, handelt es sich um ein Defizit der Forschung, nicht ihres Objekts. Hermann von Helmholtz schrieb vom menschlichen Auge, »dass er, wenn ihm ein Optiker ein so nachlässig gearbeitetes Instrument verkaufte, sich vollständig berechtigt halten würde, es ihm zurückzugeben.«216 Kant würde umgekehrt Helmholtz, wenn er eine so nachlässig geschriebene Arbeit über das menschliche Auge einreichen würde, diese zurückgeben mit der Aufforderung, in einem erneuten Versuch dem Gegenstand bitte gerecht zu werden. Oder ist bei Kant vorgesehen, dass die Mittel-Zweck-Relation nicht optimal sein muß? Das wird nicht angedeutet und widerspräche auch der apriorischen All-Bestimmung. Diese letztere mindert Kant nicht herab zu einer bloß heuristischen Maxime! So bleibt der Zweifel, ob Realien der Natur wie die Naturprodukte überhaupt definierbar sind, da sie im Gegensatz zu mathematischen Objekten (nach der Kantischen Auffassung) nicht von uns gemacht, sondern entdeckt werden, die Entdeckung läßt jedoch Raum für eine fortschreitende Erkenntnis, die eine endgültige Defi nition ausschließt. Kant selbst unterwirft die Naturzwecke der 162 | kapitel v
Reflexionsidee eines abgeschlossenen Systems, in dem alles durch es selbst bestimmt ist. Was ist mit »alles« gemeint? Auch die kleinsten Materieteile müssen Glieder des Ganzen sein, die nicht nur wie Leibnizsche Monaden das partikulare Ganze des Baumes spiegeln, sondern ihm intentional zu Diensten sind, aber auch von ihm erhalten werden? Haben wir hier einen Ansatzpunkt für die Theorie der Gene in der modernen Biologie? In einer früheren Phase blieb Kant beim Versuch, das organische Leben zu bestimmen, in der rein empirischen Ebene. In der (noch nicht edierten) Mitschrift »Dönhoff« der Vorlesung über Physische Geographie um 1782 heißt es: »Wenn wir nun die drey Reiche der Erde durchgehn, so sollte das Mineralreich wohl das erste seyn, denn die Natur Geschöpfe aus dem Mineralreich sind von der einfachsten Struction und >man< sieht an ihnen wenigstens keine innere Zwecke. Bei einer jeden Pflanze, ist ein Theil um des andern willen da, und zum Theil sogar durch den andern da. Der Halm kann nicht ohne Wurzel wachßen, und ohne Halm kann die Wurzel nicht existiren. So auch beim Menschen. Die Hand kan ohne Magen nicht da seyn und ist auch durch ihn da.«217 Hier wird das Naturprodukt (noch ohne die Restriktion: nur für die reflektierende Urteilskraft) als Gegenstand empirischer Erkenntnis und Beobachtung hingestellt, aber nicht mit einem All-Satz definiert. Kant kennt die Modifi kation von Lebewesen durch natürliche und künstliche Zucht und die Änderung der Lebensbedingungen. In der ältesten Fassung der Vorlesung zur Physischen Geographie steht: »Die Nordischen Völker, die nach Spanien übergegangen sind, haben nicht allein eine Nachkommenschaft von Körpern, die lange nicht so groß und stark als sie waren, hinterlassen, sondern sie sind auch in ein Temperament, das dem eines Norwegers oder Dänen sehr unähnlich ist, ausgeartet.« (XXVI 96,12–18; IX 317,29–33) Wenn es eine Änderung in der Konstitution der Lebewesen gemäß neuen Lebensbedingungen gibt, dann muß es auch eine Gradierung der Mittel-Zweckrelation der Naturprodukte geben. Damit wird aber auch ermöglicht, dass Teilstücke ihre ursprüngliche Funktion verlieren, jedoch zeitweise weiterhin vererbt werden. zwecke der natur | 163
Kant sieht jedoch die Naturprodukte trotz der Ahnung einer »Archäologie der Natur« (V 428,32; auch VII 193,24; 323,27) in der KdU als statische Einheiten an. Eine defizitäre Teilhabe (»methexis«) des Empirischen an der Defi nition, alles im Naturprodukt sei Mittel und Zweck, ist nicht vorgesehen. Läßt sich diese Lehre retten? Wir waren in zwei anderen Bereichen auf das Phänomen einer idealen Bestimmtheit gestoßen: Das in reiner Anschauung konstruierte Dreieck ist ein Dreieck und bedeutet es nicht, und die Freiheitsgesetze sind in sich kohärente notwendige Bestimmungen, denen der Mensch in jeder empirischen Lage folgen soll. In beiden Fällen lag eine Überforderung der Wirklichkeit vor, denn keine Anschauung, wie rein sie auch ist, kann den Bestimmungen der euklidischen Geometrie wirklich genügen, und die moralischen Gesetze sind nicht dazu in der Lage, die Handlungen flächendekkend zu bestimmen. Wir benutzten das Kantische Bild vom Kompaß – an den Polen verliert er seine Weisungsfunktion. Wir stehen jetzt erneut vor einer totalisierenden Bestimmung nicht des Raumes und nicht der Freiheit, sondern der Naturzwecke. In ihnen soll alles Mittel und Zweck sein. Die Vernunft bemächtigt sich empirischer Naturdinge und bestimmt sie in der Reflexion totalisierend so, dass Vernunft und Wirklichkeit zusammen fallen, wenn auch mit dem Vorbehalt, dass die Vernunft dies (nur) notwendig zum Grundsatz annehmen müsse. Krankheiten und Bastardbildungen, das physisch und psychisch gestörte Lebewesen, das Kahle und Abartige fallen für die Vernunft aus dem Netz der Naturzwecke heraus. Konkludent auch, dass hier der Tod nicht zu retten ist. Was bleibt? Weder Krankheit noch Tod, sondern nur Naturprodukte, in denen alles Zweck und zugleich Mittel ist. Aber gibt es sie? Für Kant ist zwingend, das »Princip der Beurtheilung der inneren Zweckmäßigkeit in organisirten Wesen« (V 376,9–11) auf einen »übersinnlichen Bestimmungsgrund« (V 377,11) zu beziehen und damit die Naturprodukte ganz teleologisch zu fassen. Der übersinnliche Bestimmungsgrund durchherrscht die Naturprodukte ganz oder gar nicht – eine metaphysische Setzung, die die Erfahrung erblicher Belastungen in höchste Bedrängnis bringt.
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5. Drittes Problem: Die Finalität der Natur in der Geschichte der Menschheit »Von dem letzten Zwecke der Natur als eines teleologischen Systems« lautet die Überschrift des § 83 in der Methodenlehre der »Kritik der teleologischen Urteilskraft«. Der letzte Zweck der Natur kann nicht die Glückseligkeit des Menschen sein, sondern seine Kultur (V 430,4–5). Die Natur zwingt den Menschen, seine Kultur selbst hervorzubringen – so muß die reflektierende Urteilskraft die Naturgeschichte aus der Vorzeit bis in die Gegenwart beurteilen. Lernten wir bisher die Naturteleologie als zyklische Veranstaltung kennen, bei der im Musterfall des Naturprodukts alles zugleich Mittel und Zweck sein soll, sind wir jetzt mit dem Fortschrittskonzept einer Konfl iktgeschichte konfrontiert. Dort eine zyklisch-friedliche Natur, hier eine linear-bellizistische Menschheitsgeschichte, die ausbricht aus dem Kreislauf der Natur und eine einmalige, mit Unterbrechungen geradlinige Emanzipation aus der natürlichen Fremd- zur moralischen Selbstbestimmung vollzieht. Dort die ewige Wiederkehr des Gleichen, hier die lineare einmalige Selbstentwicklung. Die Grundstruktur des geradlinigen Fortschrittsgedankens ist die des Antagonismus der Menschen untereinander, sie kämpfen gegen einander, um in den Besitz der knappen Güter der äußeren Habe, der Ehre und der Macht zu gelangen. Die zweckorientierte providenzielle Natur treibt die Menschheit mit dem entfesselten Willen, alle anderen zu übertrumpfen, in einen Kampf zuletzt der Staaten gegen einander und entwickelt unter dieser Pression die natürlichen Anlagen der Kultur, Zivilisation und am Ende sogar der Moral. War die zyklische Natur vom Prinzip der Gleichheit aller Glieder als Mittel und Zweck bestimmt, so ist ihr Mittel unter den Menschen die Ungleichheit (V 432.14)218, mit der Ungleichheit entsteht das glänzende Elend von Not und Luxus und der Zwang, »alle Talente, die zur Cultur dienen, bis zum höchsten Grade zu entwikkeln.« (V 433,14–15) Die Menschen agieren auf der Bühne nur mit ichbezogenen Absichten, aber die Natur wird das Widerstrebende am Ende, so weiß der Philosoph, zu einem guten Ganzen zusammen fügen. Der Philosoph weiß auch, dass die Menschheit das sich abzeichnende Ende nie erreichen wird. zwecke der natur | 165
Diese Natur verfährt rein utilitaristisch, ihr ist das Toben eines Tamerlan wichtiger als die gute Tat eines Rentners, und die segenreichste Figur der neueren Rechtsgeschichte ist zweifellos Hitler, auf den die europäische Einigung, eine Friedensphase in Europa von bisher unbekannter Dauer und sogar die UNO zurückgehen. In einer »philosophischen Geschichte« (VIII 31,9–10) gebührt den Monstren ein besonderer Platz. Die Utilitäts-Teleologie gibt es nicht in der außermenschlichen organischen und symbiotischen Natur, sondern nur in der Geschichte der Menschheit im Ganzen. Auch von ihr kann gelten, dass nichts umsonst ist, sondern alles als nützliches Mittel dem Endzweck der Gattungsgeschichte dient, nicht jedoch gilt, dass in dieser Natur alles zugleich Mittel und Zweck ist. Im Krieg als dem Extrem aller nützlichen Übel fungieren die Menschen nur als Mittel, und Ehrsucht, Herrschsucht und Habsucht 219 sind auf ihre Weise rücksichtslos gegen alle Konkurrenten und gewillt, die Menschen als Sachen zu gebrauchen. Das Modell des Antagonismus als der Triebkraft der Geschichte fi ndet sich in der Kosmogonie der Allgemeinen Naturgeschichte und Theorie des Himmels (1755): Die Attraktion und Repulsion der Materieteile bewirken die Ausbildung unseres Kosmos. Die Kräfte für sich sind blind und wirken rein mechanisch, die Anlage im Ganzen ist jedoch gesteuert durch ein ursprüngliches Programm der Vorsehung. In der antagonistischen Mechanik von 1755 fehlt noch die Vernichtung schon fertiger Systemteile, wie es in der Evolution der menschlichen Gattung geschieht; ganze Staaten können einander umstürzen und verschlingen, bis am nie erreichbaren Ende aller Tage ein stabiles Rechts- und Tugendsystem realisiert ist. Kant versucht in der KdU, diese antagonistisch prozedierende Natur in das teleologische Kontinuum vom einzelnen Naturprodukt bis hin zum moralischen Endziel der Menschen zu integrieren. Tatsächlich kann jedoch der Geschichtsdämon in jeder präsenten Generation die Beziehung auf einen moralischen Endzweck in der Welt zerstören. Das höchste Gut, dem wir verpfl ichtet sind, kann in einer Tamerlan-Natur nicht mit Sicherheit Fuß fassen, sondern läuft Gefahr, vom nächsten geschichtsmächtigen Gnom weggewischt zu werden. 166 | kapitel v
Das Programm der reflektierenden Urteilskraft ist jetzt, jede Privation, jedes Übel und alles Böse als Mittel für den moralischen Fortschritt der Menschheit zu erkennen.220 Diese Mittel sind selbstredend nicht wiederum Zweck des Guten, das sie bewirken, und damit ist die Definition des Naturprodukts auf die Kulturgeschichte der Menschheit nicht anwendbar. Wer sich dieser teleologischen Kulturgeschichte der Menschheit zuwendet, sieht sich nolens volens in der Lage, die negativen Kräfte des Bösen und der Übel als Mittel des Fortschritts zu erkennen und somit zu rechtfertigen. Die Tätigkeit des Geschichtsphilosophen ist eine wahre Theodizee.221 Es stehen sich also zwei Teleologietypen gegenüber. Beim ersten ist es die Kooperation aller Glieder der Naturprodukte, die sich durch ihre Mittel-Zweckbeziehungen selbst erzeugen und erhalten, beim zweiten ist es die paradoxe Kraft des Negativen, des Bösen und der Übel, die den Erhalt und Fortschritt des Systems der menschlichen Gattung hervorbringen und deren moralischer Bestand die Frage beantworten soll, wozu alles da ist. Die Teleologie im Sinne eines Naturprodukts ist das Modell der Kantischen Moral im Sinn der Beziehung eines jeden auf alle anderen als Mittel und zugleich als Zweck; so lautet der kategorische Imperativ: »daß alle Maximen aus eigener Gesetzgebung zu einem möglichen Reiche der Zwecke, als einem Reiche der Natur, zusammenstimmen sollen.« (IV 436,24–26) Die allseitige Erfüllung dieses Imperativs würde die Menschheit der Natur im ersten Sinn der Teleologie angleichen; wir handeln »naturae convenienter« oder »secundum naturam«, wie die Natur.222 Die Teleologie im Sinn der gegenstrebenden Kräfte von Ehrsucht, Herrschsucht und Habsucht (V 433,1) ist produktiv auf dem Umweg der Negation, des Ausschlusses aller anderen vom eigenen Profit. Die Teleologie der organischen Natur ist im Gegenteil produktiv durch gegenseitige Teilnahme. Man wird vermuten, dass die beiden Teleologietypen zwei unterschiedliche Prinzipien realisieren, die in noch größerer Allgemeinheit einander entgegenstehen, die des Miteinander und des Gegeneinander, der Unmittelbarkeit und der Vermittlung durch Negation, wobei der letzte Typ erst durch eine Zusatzannahme zu einem positiven Ergebnis führt. zwecke der natur | 167
In dem einen wird eine symbiotische Natur charakterisiert, die statisch-zyklisch zu denken ist, in dem anderen eine KonkurrenzNatur, die den Fortschritt der Menschheit mit blinder Gewalt vorantreibt. Die erste Natur ist die der Moral, in der jeder Mensch niemals nur Mittel, sondern zugleich Zweck sein soll, die zweite ist die der Überwindung der Konkurrenten in einer Progression mit allen Mitteln. Dieselbe Dualität fi nden wir bei Adam Smith. Einmal die Theory of Moral Sentiments (1759), zum anderen der Wealth of Nations (1776); diese Dopplung entspricht den beiden Typen von Naturteleologie, die Kant in der KdU entwickelt. Auf der einen Seite wird die Moral der sympathetischen Einfühlung entwickelt, auf der anderen Seite die Wirtschaftsform des Kapitalismus, der zum Reichtum der Nationen führen soll. Die erste setzt auf die Erfüllung in der Gegenwart, die zweite auf den Umweg über die Gegenwart zur Zukunft. Vielleicht auch: Der Kampf des Guten mit dem Bösen als planetarisches Schauspiel. Wir sahen, dass die Initialzündung der Menschheitsgeschichte in einer unerklärbaren Maximenverkehrung des Menschen in einer intelligiblen Tat liegt.223 Eine »pia fraus«, denn mit dem Beginn des Bösen beginnt auch die für den Menschen segensreiche Konfl iktgeschichte; er arbeitet sich selbst aus dem selbstverschuldeten Unheil empor und stiftet dadurch das Gute, das an sich jederzeit ganz einfach zu verwirklichen wäre. Sucht man nach anderen Sphären der Realisierung dieser beiden Grundverhältnisse, wird man sicher auf der Seite des Miteinander fündig in der Ästhetik des Schönen. Hier leuchtet die harmonische Kooperation von Einbildungskraft und Verstand hervor, und es ist einladend, das Erhabene der Gegenseite zuzurechnen: Die Grundlage ist beim Erhabenen der Kontrast des Übergroßen und Übermächtigen zu den Kräften der Einbildungskraft ; erst auf diesem Umweg der Niederschlagung wird das Gefühl der Lust am Erhabenen erzeugt. Im Schönen nehmen alle Teile Rücksicht auf einander, im Erhabenen zeigen sich die Größe und die Macht rücksichtslos, demütigen den sinnlichen Menschen und erhöhen dadurch die Moral. In den Beobachtungen über das Gefühl des Schönen und Erhabenen (1764) gehört die zyklisch-organische Moral zur Domäne des weiblichen, der lineare Kampf um Habe, Ehre und Herrschaft zum männlichen Geschlecht (II 228–243). Man wird hier zwei 168 | kapitel v
Typen der Ethik vermuten, die von Kant noch nicht mit diesen Etiketten charakterisiert werden: Die Gesinnungs- und die Verantwortungsethik. Die erste kontrolliert alle Handlungsabsichten, ob in ihnen die Menschen als Zweck oder nur als Mittel erscheinen, die zweite ist am Erfolg orientiert und setzt die Mittel gemäß ihrer maximalen Effizienz ein. Es legt sich nahe, in dieser Stufung die Präfiguration einer linken und rechten Politik zu sehen; auf der einen Seite die wechselseitige Fürsorge als Handlungsmodell,224 auf der anderen der Fortschritt, für den die Maxime des »private vices, public benefit«, der Maximierung des Profits gilt. In den erfolgreichsten Gesellschaftsmodellen der Gegenwart stehen sich beide Typen als Parteien gegenüber und versuchen, sich gegenseitig zu korrigieren und möglichst auf die eigene Seite hinüberzuziehen. Hiermit wäre die Beobachtung von Machiavelli, dass der Antagonismus von Plebejern und Aristokraten Rom zu Blüte verhalf, gewissermaßen auf den Begriff gebracht und auf zwei Archetypen politischer Konzepte zurückgeführt. Darwin wird die Konfliktgeschichte der Menschheit auf die organische Natur übertragen und die Einheit unter dem Titel des »survival of the fittest« begreifen. Blinde Konkurrenz ist das durchgängige Erhaltungsprinzip. Kein Zufall, so können wir hinzufügen, dass Peter Kropotkin ein Gegenmodell der Entwicklung entwarf, in dem nicht die Konkurrenz, sondern die Kooperation von Lebewesen den Vorteil gegenüber den Querulanten bringt.225 Kant stellt die beiden Reflexionsformen nicht getrennt heraus und entsprechend nicht einander gegenüber, sondern liefert eine Vorzeichnung, die der Interpret näher ausmalen kann.
6. Vorsehung und Theodizee Wie ist gewährleistet, dass die Triebkräfte von Ehrsucht, Herrschsucht und Habsucht (V 433,1) nicht auf Dauer in der menschlichen Gesellschaft wirksam sind und dass nicht mit einer harmonischschönen, sondern einer bellizistischen Formation in Ewigkeit zu rechnen ist? Mandeville hat die Maxime des »private vices, public benefit« formuliert. Die Ungleichheit unter den Menschen, auf die zwecke der natur | 169
Kant als einen positiven Motor setzt, wäre dann nicht eliminierbar. Was hat Kant dem entgegen zu setzen? Wie kann des weiteren gewährleistet werden, dass der permanente Konkurrenzdruck, mit dem die Natur die Menschen zu höchsten Leistungen anspannt, nicht in ein technisches Delegationssystem mündet, das zwar immer raffiniertere Produktionsformen in automatisierter Form ermöglicht, aber zu einer Verarmung der menschlichen Fähigkeiten und Tätigkeiten führt?226 Kant sieht aber in der Geschichte gerade eine ständige Zunahme an Selbstdisziplinierung und kultureller Bereicherung der Menschen. Was hat die Theodizee der praktischen Vernunft den Fehlschlägen der theoretischen Vernunft 227 entgegen zu setzen? Die Kantische Geschichtsphilosophie sieht eine Vorsehung am Werk; wir leben nicht im Infernum, sondern in einer Welt, in der es sinnvoll ist, sich moralisch anzustrengen. Eben diese Weltanschauung benötigt die praktische Vernunft, um nicht ohne Aussicht als Sisyphus vor der ansteigenden Mühe der Alltagswelt zu stehen. Ist es geplant als »self fulfi lling prophecy«? Dann müsste jeder Einzelne auf alle anderen setzen – warum sollte er dies tun? Warum hat Kant seine Rechtfertigung der Übel und des Bösen in der Menschheitsgeschichte nicht unter dem Titel »Über das Misslingen [nicht] aller philosophischen Versuche in der Theodizee« (1791) erörtert als den einzigen Fall, in dem nun doch eine Rechtfertigung der Übel gelingt? Dies wäre vielleicht in dem Argument einzurücken (dort II c), wo der Theodizeeversuch abgewiesen wird im Hinblick auf Gottes Ratschluß, der überschwänglichen Seligkeit im Himmel ein Erdenleben voranzustellen, »wo wir eben durch den Kampf mit Widerwärtigkeiten jener künft igen Herrlichkeit würdig werden sollten.« (VIII 260,15–16) Nun liegt in der Geschichtsphilosophie die Rechtfertigung nicht im individuellen Tugendkampf, um das Würdigkeits-Zertifi kat zu bekommen, sondern im kollektiven Emporarbeiten zur Moralität. Gott ist gerechtfertigt, weil er wollte, dass die Menschheit im Ganzen zur moralischen Besserung durch eigene Anstrengung gelangt und nicht gratis gleich am höchsten Punkt der Tugendskala abgesetzt wird.228 Aber was gewährleistet, dass wir bei diesem Handel nicht genarrt werden? Vor allem jene, die bei fortwährender sozialer Ungleichheit (V 432,14) unten schmachten und von der Kultivierung wenig zu erwarten haben? 170 | kapitel v
Verdirbt Kants Obsession, dass die sinnlichen Neigungen an allem Schuld sind, auch hier den Blick? »[…] dagegen [ist] aber der Zweck der Natur auch nicht zu verkennen, der Rohigkeit und dem Ungestüm derjenigen Neigungen, welche mehr der Thierheit in uns angehören und der Ausbildung zu unserer höheren Bestimmung am meisten entgegen sind (der Neigungen des Genusses), immer mehr abzugewinnen und der Entwickelung der Menschheit Platz zu machen« (V 433,25–30) – schon Jago hat kein Interesse an den Neigungen des Genusses. Neigungen stimmen häufig friedlich, nicht böse. Damit aber wäre die wachsende Beherrschung der Neigung nicht der entscheidende Punkt, wenn sich denn dies überhaupt feststellen läßt. Ehrsucht, Herrschsucht und Habsucht richten sich auf knappe Güter im Wettstreit mit anderen; es ist nicht erkenntlich, wie sie bei wachsender Zivilisierung allmählich weichen sollten und können, ohne dass die antagonistische Zivilgesellschaft kollabiert. Auf ein anderes Problem, das mit dem Übergang von der Naturzur Moralphilosophie verbunden ist, wurde schon hingewiesen. Kant verlässt die Domäne der theoretisch-reflektierenden Urteilskraft und geht über zum Zweckbegriff der Moral.229 Für die theoretische Vernunft läßt sich keine Tendenz der Natur zur Verwirklichung des höchsten Guts und damit des Endzwecks des Menschen ausmachen, so wie man in der »Leibnitz-Wolfischen Epoche« (XX 306,10), also in der dogmatischen Metaphysik meinte, aber die praktische Vernunft erhebt das, was für die Moral notwendig sein muß, zu einer objektiv-praktischen Realität; der Schritt vom »ought« zum »is« ist für Kant legitim, wie wir oben sahen. »Daß die Welt im Ganzen immer zum Bessern fortschreite, dies anzunehmen berechtiget ihn keine Theorie, aber wohl die reine praktische Vernunft, welche nach einer solchen Hypothese zu handeln dogmatisch gebietet. […] Man kann und soll die Welt nach der Analogie mit der physischen Teleologie, welche letztere uns die Natur wahrnehmen läßt, (auch unabhängig von dieser Wahrnehmung) a priori, als bestimmt, mit dem Gegenstande der moralischen Teleologie, nämlich dem Endzwecke aller Dinge nach Gesetzen der Freyheit zusammen anzutreffen annehmen, um der Idee des höchsten Gutes nachzustreben […].« (XX 307,16–34) An die Stelle der reflektierenden Urteilskraft tritt hier eine Wahrnehmung, der sich zwecke der natur | 171
die Naturteleologie unmittelbar präsentiert, und die Funktion der »Kritik der reflektierenden Urteilskraft« wird von der praktischen Vernunft übernommen. Hier wird der Verdacht erregt, dass die Überführung der Zweckhaft igkeit der Natur im Urteil der reflektierenden in die absolut gebotenen Zwecke der reinen praktischen Vernunft vielleicht nicht gelungen ist.230
7. Drei Stufen der Sittlichkeit Es gibt einen Übergang von der theoretisch reflektierenden Urteilskraft zur praktischen, von der Frage innerhalb der Naturteleologie nach dem partikularen und generellen, aber immer immanenten »Wozu?« zur übergreifenden Frage: Wozu ist die nach Auskunft der reflektierenden Urteilskraft teleologisch konzipierte Natur überhaupt da? (vgl. V 434,11) Die Menschheit ist dazu bestimmt, das höchste Gut in der Welt zu verwirklichen. Im höchsten Gut sind Moralität und Glück(seligkeit) vereint. Eine Voraussetzung des höchsten Guts ist der Friede, dem das höchste Übel, der Krieg, entgegen wirkt, wenn er auch, wie der Philosoph weiß, im Plan der Vorsehung ein Mittel des Guten ist. Vergegenwärtigen wir uns die drei Komponenten, mit denen Kant im Hinblick auf die Realisierung des höchsten Guts in der Welt operiert. Der einzelne Mensch (1) ist mit dem kategorischen Imperativ konfrontiert, der ihn in ein konsistentes Freiheitssystem nötigt. Der Imperativ kann bedingungslos sein, da die Existenz selbst kein absolutes Gut und selbst der gewaltsame Tod nicht das »summum malum« ist, das gegen die Gesetzesbefolgung ausgespielt werden könnte. Der Staat (2) hat die Pflicht der Rechtsrealisierung und kann dieser Pfl icht nur nachkommen, indem er sich nicht durchgehend an das eindeutige Vernunft recht hält, sondern an ein staatlich (subjektiv) bedingtes Recht. Ohne ein nach der Staatsräson gebeugtes Recht läßt sich die Pflicht der Rechtsrealisierung nicht erfüllen.231 Der Staat steht im Gegensatz zum einzelnen Menschen unter der Pfl icht der Selbsterhaltung auch mit Mitteln, die nur eingeschränkt moralisch sind. Die (von Kant nicht so genannte) Staatsräson richtet sich in Grenzfällen nicht nach der 172 | kapitel v
Gesetzesform der praktischen Vernunft, sondern nimmt ein höheres Recht der Rechtsrealisierung in Anspruch, das den Rechtsbruch auf der niederen Ebene legitimiert. Die Vorsehung (3) dagegen verfährt völlig ohne Rücksicht auf Moral, um das moralische höchste Gut, den Frieden, durchzusetzen. Sie benutzt die Individuen und die Staaten ausschließlich als Mittel, um zu dem Geschichtsziel des Friedens zu streben. So gelangen wir zu drei Stufen: Der einzelne Mensch steht unter dem rigorosen Gebot des kategorischen Imperativs; der Staat muß zur Selbsterhaltung Mittel einsetzen können, die vom Recht an sich abweichen, und die Vorsehung endlich verfährt gänzlich utilitaristisch, um am fernen, nicht erreichbaren Ende den Frieden als das höchste politische Gut zu ermöglichen.
8. Was bleibt? Kant ermöglicht als erster neuzeitlicher Autor eine theologiefreie Zweckforschung der Natur, unsere heutige Biologie. Er stellt sie neben die Physik und Chemie und reflektiert über ihre notwendige Einheit. Er fasst die Menschheitsgeschichte als Teil der Naturgeschichte und stellt sie zugleich der Natur entgegen, um sie in einer Systemeinheit von Natur und Freiheit wieder zusammen zu führen. Die Menschheitsgeschichte ist das Feld von intraspezifischen Auseinandersetzungen, die zur Herausbildung einer Staaten- und Kulturwelt und am Horizont auch der Moral führen. Die Konzeption der Konfliktnatur brauchte Darwin nur noch auf die außermenschliche Natur zu übertragen – der Darwinismus ist damit gewissermaßen ein Ableger des Kantianismus. Ein Unterschied ist jedoch einschneidend; Kant denkt vor der Zeitenwende von 1789, Darwin folgt auf sie; bei Kant werden latente Anlagen entwickelt, so dass alle Zukunft immer schon in der Vergangenheit da war, bei Darwin dagegen führt die Selektion zu Neuerungen, die in keinem Tableau der Gesamtgeschichte vorher verzeichnet waren; die Entwicklung hat sich von allen Plänen der Vorsehung emanzipiert und stößt epikureisch blind in die Zukunft. Bei Kant läßt sich studieren, wie die Welt in einem Gesamtzusammenhang der Vernunft gedacht und erkannt werden kann; die Zeitenwende aus der Verganzwecke der natur | 173
genheit in die Zukunft löst jedoch diese Bande auf. Was bleibt? Die einheitliche Bestimmung von Natur und Freiheit im Menschen, in der Kant sein System gipfeln sah, scheint nicht mehr legitimierbar zu sein. Aber es ist seltsam, dass es eine Natur gibt, die so gut zu Darwin passt; darwinistisch hat sie nicht entstehen können. .
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VI. Kritik und Aufklärung
Die Kantische Aufklärungsidee ist nicht theoretischer, sondern entschieden praktischer Natur; sie richtet sich gegen den absolutistischen Staat und die Kirche, die die rechtliche und ethische Autonomie des Menschen verhindern und in einem Prozeß der Aufklärung der Bürger und der Menschen durch einen republikanischen Staat und eine kosmopolitische Vernunft religion ersetzt werden.
1. Zum Begriff der Aufklärung In einer weiten Fassung des Begriffs der Aufk lärung ist alle öffentliche, veröffentlichte Reflexion, die sich in Europa als Philosophie verstand und versteht, Aufk lärung. Die Vorsokratiker wandten sich kritisch-reflektierend und auf Begründungen drängend gegen den Mythos mit seinen bizarren Welterklärungen, diese Protoaufklärung wurde verschärft in der Sophistik und dann von Platon fortgesetzt.232 Die platonischen Dialoge kritisieren die schlecht durchdachten Meinungen, die Vorurteile, den Autoritäts- und Aberglauben der Gesprächsteilnehmer und entwickeln nach dem eingestandenen Nichtwissen neue, auf Gründe gestützte Prinzipien. Aufk lärung in diesem Wortgebrauch enthält wenigstens drei Elemente: Sie bezieht sich thematisch auf Vorstellungen von etwas Ganzem und für den Menschen Wichtigem, sie kritisiert die bestehenden Fehlmeinungen hierüber, und sie verspricht drittens eine Lösung der nunmehr offenen Probleme.233 Die Fehlmeinungen und Vorurteile sind das Produkt der Unvernunft in den Subjekten oder auch der Gesellschaft und Tradition, die Erkenntnis dagegen erhebt ihren Geltungsanspruch durch die Gründe, die der Gesprächsteilnehmer sich zueigen macht oder machen soll. Bei den ersteren ist der Protagonist gewissermaßen das Opfer seiner Neigungen oder Umstände und Autoritäten, bei der erstrebten Erkenntnis ist dakritik und aufklärung | 175
gegen entscheidend, dass er selbst die Erkenntnis erfragt und sie selbst einsieht. Nun verbinden wir mit dem Begriff der Aufk lärung zugleich eine bestimmte Epoche234 und ein in ihr entwickeltes Programm. Nach allgemeinem Konsens ist Kant der prominenteste Wortführer der Sache der Aufk lärung in der nach ihr benannten Epoche, und bei Kant ist es wiederum der erste Absatz der Aufk lärungsschrift von 1784, der unvermeidlich zitiert wird, wenn das Wort oder der Begriff der Aufk lärung im deutschen Sprachraum aufgerufen wird: »Aufk lärung ist der Ausgang des Menschen aus seiner selbst verschuldeten Unmündigkeit. […] Sapere aude! Habe Muth dich deines eigenen Verstandes zu bedienen! Ist also der Wahlspruch der Aufk lärung.« (VIII 35,1–8)235 Wer sich mit der Schrift und ihrem Programm beschäft igt, wird zu klären haben, warum sich von einer wortwörtlichen Aufk lärung, vom »illuminismo«, der »ilustración«, dem »enlightenment« keine Spur findet. An keiner Stelle begegnet die obligate Metapher von der zunehmenden Helle, von der Morgenröte, dem Licht, das die Dunkelheit immer mehr vertreibt. Das Wort »Morgenröte« benutzt Kant selbst nur in einem Zitat (VIII 399,1). Hier muß ein Schlüssel zum Verständnis der Konzeption liegen. Ich will gleich hier die Erklärung dieses Befundes anführen: Spätestens 1770 bricht Kant mit der Vorstellung sowohl der Rationalisten wie auch der Empiristen, bei der Erkenntnis handle es sich um ein Kontinuum vom Dunklen und Verworrenen der Sinnlichkeit zum Klaren und Deutlichen des Verstandes. Nach dieser Vorstellung ist Aufk lärung ein kontinuierlicher Prozeß der Aufhellung, vergleichbar dem zunehmenden Sonnenlicht, das die Nacht besiegt. Die Vorstellung verbietet sich für Kant in zwei unterschiedlichen Ebenen. Einmal liefert die Sinnlichkeit eine klare und deutliche Erkenntnis, etwa in der Geometrie, und umgekehrt sind Vernunftbegriffe wie der des Rechts häufig dunkel und verworren (A 43–44). Damit ist die Vorstellung eines Erkenntniskontinuums von der dunklen und verworrenen Sinnnlichkeit zum »clare et distincte« des Verstandes hinfällig geworden. Zweitens aber ist die von Kant geforderte Aufk lärung nicht wie bisher eine Sache der theoretischen Erkenntnis, sondern der praktischen Vernunft, des Willens. Die praktische Vernunft oder der Wille können mit dem Licht nichts anfangen, sondern haben 176 | kapitel vi
andere Merkzeichen. Wichtig ist nicht das zunehmende Wissen, sondern der Mut zur Autonomie im Sittlichen und Rechtlichen, die Revolution der Denkart, nicht der Prozeß einer immer besseren Erkenntnis. Der erste Absatz lädt den Leser zu einem Irrtum ein, dem Hegel und auch Adorno und Horkheimer in der Dialektik der Aufklärung (1944) erlegen sind. Die Schrift im Ganzen zeigt, dass die Aufk lärung, die Kant meint, keine Sache des Verstandes ist und nichts mit theoretischer oder instrumenteller Erkenntnis zu tun hat,236 sondern sich an die praktische Vernunft richtet, und hier wiederum an zwei Institutionen, die das christliche Europa beherrschen, den absolutistischen Staat und die machthabende Kirche. Diese Aufk lärung ist also keine Sache der »paideia«, der »cultura animi« oder der Bildung auf den verschiedenen Gebieten der Erkenntnis, und sie ist keine Sache einzelner oder auch vieler getrennter Individuen; dazu bedürfte es keines Mottos. »Wenn denn nun gefragt wird: Leben wir jetzt in einem aufgeklärten Zeitalter? so ist die Antwort: Nein, aber wohl in einem Zeitalter der Aufklärung.« (VIII 40,17–19) Aufk lärung ist hier das Programm einer Epoche, sie lebt aus dem Bewusstsein des gemeinsamen »Endlich!«, des Selbstbewusstseins und der praktischen Gewißheit, nun endlich der Bestimmung der Menschheit durch eigene Anstrengung näher zu kommen. Aufk lärung ist Sache eines jeden, aber nur in einem gemeinsamen Zusammenwirken und mit klar benennbaren Gegnern. Diese politisch-kulturelle Situation ist neu und läßt sich zwar in einigen Teilaspekten zurück datieren, jedoch nicht in ihrer Idee im Ganzen. Sie wird zuerst 1781 in der Vorrede der KrV formuliert: »Unser Zeitalter ist das eigentliche Zeitalter der Kritik, der sich alles unterwerfen muß. Religion, durch ihre Heiligkeit, und Gesetzgebung durch ihre Majestät, wollen sich gemeiniglich derselben entziehen. Aber alsdann erregen sie gerechten Verdacht wider sich, und können auf unverstellte Achtung nicht Anspruch machen, die die Vernunft nur demjenigen bewilligt, was ihre freie und öffentliche Prüfung hat aushalten können.« (A XI) Die Aufk lärungsschrift geht auf diesem Weg weiter, sie zielt auf die Kritik und Befreiung von Thron und Altar und ihre Ersetzung durch die Republik und ein ethisches Gemeinwesen.237 Kritik und Aufk lärung ist also der Titel, den sich eine Epoche selbst verlieh, und das Programm, das kritik und aufklärung | 177
nicht an diese Epoche gebunden, sondern universell sein will, zielt auf Autonomie in rechtlicher und ethischer Hinsicht. Die Aufk lärung ist kein Einfall, das Leben besser und weniger irrtumsanfällig zu gestalten, sondern sie artikuliert einen Rechtsanspruch des Bürgers und Menschen, die Autonomie und damit seine ursprüngliche Bestimmung zu verwirklichen. Die Kantische kritische Aufk lärung ist somit erstens kein theoretisches Lernziel, kein »advancement of learning«, und sie wird zweitens nicht von Einzelnen bewältigt; drittens hat sie keine beiläufigen Verbesserungen zum Ziel, sondern enthält das zentrale Gebot der reinen praktischen Vernunft: Es soll die Heteronomie durch die Vormundschaft gesellschaft licher Institutionen zurückgenommen und in rechtliche und ethische Autonomie verwandelt werden. Der Mensch ist zur sittlichen Selbstbestimmung bestimmt, im Rechtsbereich zur Republik und in der Ethik zu einer Selbstgesetzgebung, die sich von den Einflüsterungen der Offenbarungsreligion befreit und zu einer eigenen sittlichen Gemeinschaft gelangt. Die rechtliche Autonomie der Menschen wird in der Aufk lärungsschrift nur vorsichtig angedeutet, aber sie gehört zu deren Intention und Wirkungskraft. Der Autonomie-Gedanke der praktischen Vernunft ist im Kantischen Konzept nur möglich durch die Begrenzung der theoretischen Erkenntnis. Die kritische Philosophie begann 1766 mit der von Locke übernommenen Idee der Grenzsetzung unserer Erkenntnis; für das begründete Wissen ist konstitutiv das begründete Nichtwissen. Aufk lärung ist in der Locke-Kant-Linie Aufk lärung des notwendigen Nichtwissens, oder es gibt sie nicht. Das ist anders in der Linie Leibniz-Wolff-Fichte, in der Gott der höchste, aufgeklärteste Philosoph (»summus philosophus«) ist und folglich die Grenzbestimmung unbekannt bleibt. Die erste Phase der deutschen Aufk lärung, die ihr den Namen gab, intendiert eine unbegrenzte Vermehrung des Lichtes der Erkenntnis gegen das Dunkel der Vorurteile, so auch die Äquivalente der ilustración, des enlightenment, der illumination; die zweite, Kantische Phase, mit der wir uns befassen, läßt die Lichtmetapher fallen und zielt auf die Kraft der praktischen Vernunft, des Willens. Dort das Dominieren der theoretischen Erkenntnis, der das Han178 | kapitel vi
deln irgendwie folgen wird, hier der Imperativ der vernunftgewollten Selbstbestimmung gegen die Fremdherrschaft.238 Unsere Überlegungen zerfallen in drei Teile: Wir wenden uns zuerst der von Kant nicht primär gemeinten Aufk lärung des Verstandes zu, untersuchen dann die Front der beiden Mündigkeitsund Freiheitsverhinderer Staat und Kirche und gehen danach auf die Frage ein, welche Frontstellung sich heute mutatis mutandis ergeben kann, wenn das Programm der Aufk lärung zu den bleibenden Teilen der Kantischen Philosophie gehören soll.
2. Die Emanzipation des theoretischen Verstandes Im alten Athen lachte man über den Sophisten Hippias von Elis, der als Tausendkünstler auft rat und sich in allen Lebenslagen nur seines eigenen Verstandes bedienen wollte und der alles selber machte, ohne sich der Leitung eines anderen, sei es Schusters, sei es Schneiders oder Redners, zu bedienen. In einer arbeitsteiligen Gesellschaft ist dies Unterfangen eine unaufgeklärte Donquijoterie. Aber damit ist die Verstandesseite als Thema der Aufk lärung nicht aus der Welt geschafft. Ich erinnere an drei Varianten. Aufklärung belehrt den Verstand auf den Gebieten seiner Unkenntnis, sie korrigiert die falschen Meinungen und Vorurteile, die den Zugang zur Wahrheit versperren, und sie erklärt drittens alles Wissen, das das Subjekt sich nicht wirklich selbst angeeignet hat, zu bloßem Plunder. Den Verstand des Lesers auf Gebieten, die ihm bislang unbekannt waren, zu belehren und ihn umfassend über den aktuellen Stand des Wissens zu informieren, ist Ziel der Encyclopédie ou Dictionnaire raisonné des sciences, des arts et des métiers (1751–1772). Das Werk ist die Fortsetzung vieler Enzyklopädien der Neuzeit, besonders des Barock, aber die Epoche der Aufk lärung kürte dieses Pariser Monumentalwerk freier Schriftsteller und Gelehrter zu einem weltberühmten Standardwerk der verkörperten Aufk lärung schlechthin. Es war im Prinzip jedem zugänglich, und es behandelte alle Wissensgebiete durch die besten Fachleute in der Sprache, die das Lateinische als universelles Kommunikationsmittel abgelöst hatte. Wer sich über Vorurteile, über das Selbst des Menschen, kritik und aufklärung | 179
über Mündigkeit und Staat und Kirche informieren wollte, konnte hier die neuesten Erkenntnisse finden. Die Emphase der Kooperation bei einem Unternehmen, das kein barocker Universalgelehrter mehr bewältigen konnte, die Einbeziehung technisch-handwerklichen und industriellen Erkennens und Könnens, die Abwendung von der Gelehrsamkeit eines Standes hin zur Öffentlichkeit aller Interessierten, die Eleganz der Sprache machte die Encyclopédie zu einem Werk, das zu keiner Zeit in der vorhergehenden Geschichte hätte geschrieben werden können.239 Hier scheint sogar Kants »Revolution der Denkart« (B XI) und die gesellschaftspolitische Emphase gegen Thron und Altar vorweggenommen. Diderot schrieb am 26. 9. 1762 an Sophie Volland: »Cet ouvrage produira sûrement avec le temps une révolution dans les esprits, et j’espère que les tyrans, les oppresseurs, les fanatiques et les intolérants n’y gagneront pas. Nous aurons servi l’humanité […].«240 Francis Bacon hatte den theoretischen Teil mit seinem Advancement of Learning (1605) in der Idee vorweg genommen und als »bucinator«, als Trompeter der Aufk lärung, angekündigt.241 In Deutschland entsteht das monumentale Werk von Christian Wolff, der die Erkenntnis der Menschheit vertiefen und erweitern will. Hier wird die wortwörtliche Aufk lärung durch das Sonnenlicht propagiert und in bildlichen Darstellungen illustriert. Das Licht des Erkennens erregt nach Wolff zunehmend die Lust, dem Erkennen das Handeln folgen zu lassen. Dies war das Programm der Philosophen, aber auch der aufgeklärten Despoten, aber eben Despoten. Das epistemische Projekt lädt die Fürsten zur Teilnahme ein, es stellt ihnen nicht das Ideal oder gar Programm der Republik entgegen. Kein Fürst des Staats oder der Kirche soll durch Wolff entmachtet werden. Zweitens. Das epistemische Defi zit, das die Aufk lärung bekämpft, ist nicht das bloße Nichtwissen, sondern das Pseudo-Wissen, das Vorurteil, die falsche Meinung, die epistemische Verblendung. Dies ist, wie schon erwähnt, ein sokratisches Thema; die athenischen Bürger, besonders die politisch herausragenden Personen, sind geblendet durch ein vermeintliches Wissen, das zunächst destruiert werden muß, um dann methodisch das wirkliche Wissen aufzubauen. In der Lehre von den Idolen im Novum Organum (1620) demaskiert Bacon die Idole der menschlichen Natur 180 | kapitel vi
und der Gesellschaft, um an ihrer Stelle die wirkliche Erkenntnis anzusiedeln.242 Descartes stellt die Vorurteilskritik an den Anfang der Meditationen (1641); sie werden nicht unter dem Titel der Idole, sondern der Meinungen, der opiniones243, verhandelt und betreffen die Dinge der Außenwelt, des eigenen Körpers und die mentalen Leistungen wie z. B. die irrtumsanfällige Mathematik. Erst nach dem methodischen Zweifel kann der feste Punkt als Viertes gewonnen werden, von dem aus sich eine stabile Erkenntnis der Psychologie, der Theologie und der Kosmologie aufbauen läßt. Der dreiteilige therapeutische Verlauf von erstens Kritik des Pseudo-Wissens, zweitens Krise des Nichtwissens, drittens Gewinn wirklicher Erkenntnis wiederholt sich im Dreischritt und Dogmatismus, Skeptizismus, Kritizismus. Kant erhebt den Begriff der Kritik zum Achsenbegriff seiner drei bzw. vier Kritiken und erklärt: »Unser Zeitalter ist das eigentliche Zeitalter der Kritik, der sich alles unterwerfen muß.« (A XI) Erst in der zweiten Hälfte der achtziger Jahre wird ihm klar, dass er die Tradition der drei Gebiete des Wahren, Guten und Schönen kritisch destruieren und neu begründen kann. Unser drittes Argument: Pseudo-Erkenntnis ist alles Wissen, das wir uns nicht aus eigener Kraft selbst angeeignet haben. John Locke wendet sich der Notwendigkeit des Selbstdenkens am Ende des ersten und des vierten Buches seines Essay Concerning Human Understanding (zuerst 1690) zu. Wie in seiner Theorie der persönlichen Identität und des Eigentums liegt auch der Erkenntnis ein stoisches Modell zugrunde, gemäß dem sich der Mensch sei es seine eigenen Taten aus früherer Zeit durch den eigenen Akt des Gedächtnisses im Hinblick auf die persönliche Identität, sei es Teile der Natur durch eigene Arbeit als Besitz zueignet (»appropriate«). Auch bei der menschlichen Erkenntnis stehen wir vor der Aufgabe, uns die Inhalte des Wissens selbst einzuverleiben, sie uns selbst anzueignen statt sie wie etwas Fremdes nur zu rezitieren. Nur durch die eigene Einverleibung kann ich meinen Erkenntnisbesitz auf Nachfragen verteidigen.244 So wie die Pflanzen und Tiere den materiellen Stoff ihrem eigenen physischen System aus eigener Kraft assimilieren müssen, so soll der Mensch sich den Logos, den Lern- und Erkenntnisstoff, selbst zu eigen machen. Auch hier begegnet wie in der kritik und aufklärung | 181
Eigentumstheorie als Schlüsselbegriff die Arbeit, »labour of our Thoughts«245. Durch die Einbettung der Selbst-Konzeption in die Naturphilosophie ist die Lockesche Theorie jedoch stationär und individualistisch.246 Die Erweiterung, die diese Gedanken bei Kant erfahren, wird schon durch den Programmtitel der Aufk lärung angekündigt; Aufk lärung ist nicht mehr Sache nur eines Individuums, sondern der Gesellschaft, falls sich dieser Begriff schon in diesem Sinn anwenden läßt. Bei Kant ist entsprechend der Aufruf zum Mut des Selbstdenkens sozial- und geschichtsphilosophisch angelegt. 247 Außer dieser Einverleibung des Wissens durch das selbst tätige, selbst denkende Subjekt gibt es bei Locke eine Interessenkonstellation, die sich bei den Aufk lärern wieder findet. Lockes Essay Concerning Human Understanding nahm, wie er in der »Epistle to the Reader« schreibt, seinen Ausgangspunkt in Fragen und Schwierigkeiten, »that have not a little perplex’d Morality and Divinity, those parts of Knowledge, that Men are most concern’d to be clear in.«248 Das »concernment«, die »cura«, Sorge, das Interesse, das ist stoisch, die Sorge aber um Gotteserkenntnis und Moral sind christlich und neuzeitlich. Und hier fi nden wir dieselbe Konstellation wie z. B. in Christian Garves Rede von der »Aufk lärung derjenigen Objecte die mir die wichtigsten sind, diese ruhige Untersuchung moralischer und religiöser Wahrheiten.«249 Bei Kant wird beides in einer symptomatischen Weise institutionell-gesellschaft lich gefasst als »Thron und Altar«, gegen die sich die neue, zweite Aufk lärung wendet. Bevor der Schritt vom isolierten Individuum zur Gesellschaft verfolgt wird, soll noch eine Kantische Stereotype der Aufk lärungsphilosophie eingerückt werden, die die Spannung von Individuen und »jedem anderen« mitreflektiert. Das Projekt der Aufklärung verlangt, gestützt durch die reine praktische Vernunft, die Kultur der Umsicht und Urteilskraft , so dass wir, in welcher gesellschaft lichen Situation auch immer, möglichst frei von Ideologie und Idolen, eine politisch-kulturelle Lage beurteilen und dem Urteil entsprechend handeln können.250 Da wir ständig in Akte des Urteilens und gesellschaft lich-politischen Handelns involviert sind, liegt diese schwer abzulehnende Forderung schon analytisch in dem, was wir permanent mehr oder weniger aufmerksam tun: 182 | kapitel vi
Selbst denken, an der Stelle jedes anderen denken, jederzeit mit sich selbst einstimmig denken. Kant nennt diese drei Forderungen an verschiedenen Orten in seinen Spätschriften.251 Er beachtet dabei streng die Anordnung – warum? Warum stellt er die dritte Position nicht einmal an den Anfang (gemäß der alten Maxime »variatio delectat«)? Es fällt nicht nur die Konstanz der Reihenfolge und der Anzahl auf, sondern auch der Gleichklang mit den drei Formeln des Ulpian in der Kantischen Rezeption: »Honeste vive, neminem laede, suum cuique«. Am Anfang steht die Selbstbegründung der Person als solcher; sodann folgt die Beziehung auf jeden anderen, und drittens die Einstimmigkeit unter einer Ordnung, die mich selbst und die anderen vereint. In der Kategorientafel: Substanz des Selbst, Kausalität im Hinblick auf andere, Wechselwirkung von Selbst und Anderen. Man sieht: Eine Änderung der Reihenfolge ist nicht möglich. In beiden Fällen resultiert die letzte Position aus den beiden ersten (V 295,14–19 und VI 237,9–12). Dies ist die ungefähre Rekonstruktion der Konstellation, die für Kant die Richtlinie abgab und ihn zu der aufk lärerischen Idee des notwendigen Dreischritts führte. Abschließend möchte ich noch einmal auf den Tausendkünstler Hippias von Elis zurückkommen. Er steht dem Ideal des Diogenes von Sinope, des Kynikers, nahe, in allen Lebensdingen autark zu sein; der eine will die Autarkie durch Vervielfältigung des eigenen Könnens, der andere durch extreme Reduktion der eigenen Bedürfnisse erreichen. Beide misstrauen dem System der Delegation, das die arbeitsteilige Gesellschaft entfaltet und das Platon und Aristoteles akzeptieren, wenn auch in den Maßen, die die Natur vorzeichnet.252 Platon und Aristoteles sind in eine Kritik der Arbeitsteilung und der politischen 253 Ökonomie involviert, die Hippias und Diogenes durch ihre individuellen Lösungen vermeiden, aber indirekt zum Thema erheben. Wir werden sehen, dass die Kantische Aufk lärung eine Kritik der Ökonomie nicht vorsieht, aber ermöglicht oder, so wird man sagen müssen, bei jeder Fortführung erzwingt. Wir werden auf diese spezielle Kritik und Aufk lärung zurückkommen.
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3. Praktische Aufklärung I Oben wurde aus der ersten Auflage der KrV zitiert; der Text fährt fort: »Unser Zeitalter ist das eigentliche Zeitalter der Kritik, der sich alles unterwerfen muß. Religion, durch ihre Heiligkeit, und Gesetzgebung durch ihre Majestät, wollen sich gemeiniglich derselben entziehen.« (A XI) In den Bemerkungen in den ›Beobachtungen über das Gefühl des Schönen und Erhabenen‹ heißt es schon: »Unter allen Ständen ist keiner unnutzlicher als der Gelehrte solange er in der Natürlichen Einfalt ist u. keiner Nothiger als derselbe im Standes der unterdrückung durch Aberglauben oder Gewalt« (XX 10,18–20), »Aberglaube oder Gewalt«: Kirche und Staat als Exponenten der inneren und äußeren Unterdrückung. Im Inneren die Kirche, im Äußeren der Staat, sie unterdrücken die Selbstbestimmung des Menschen in Ethik und Recht. Kant operiert entsprechend in der Aufk lärungsschrift mit zwei Gegnern einer aufk lärerischen Kritik, mit Thron und Altar, Staat und Kirche. Der Staat tritt als Gegner kaum in Erscheinung, aber am Schluß wird ausdrücklich gesagt, dass er neben der Kirche das eigentliche Thema bildet: »Aber die Denkungsart eines Staatsoberhaupts, der die erstere [sc. die Aufk lärung in Religionssachen] begünstigt, geht noch weiter und sieht ein: daß selbst in Ansehung seiner Gesetzgebung es ohne Gefahr sei, seinen Unterthanen zu erlauben, von ihrer eigenen Vernunft öffentlichen Gebrauch zu machen und ihre Gedanken über eine bessere Abfassung derselben sogar mit einer freimüthigen Kritik der schon gegebenen der Welt öffentlich vorzulegen […].« (VIII 41,15–21) In den ersten drei Absätzen ist nur vom Individuum die Rede; es ist von der Aufgabe, sich seines eigenen Verstandes in essentiellen Angelegenheiten (wir erfahren erst später, welche das ungefähr sein könnten) zu bedienen, hoff nungslos überfordert. Locke wird korrigiert: Wichtig ist nicht die naturgegebene oder gesellschaftlich bedingte Borniertheit, sondern der Mangel an Mut, über den jeder verfügen kann, so dass der Mangel an Aufk lärung nicht an den Umständen liegt, sondern an jedem selbst und somit selbst verschuldet ist: »Sapere aude!« »Faulheit und Feigheit«: der Appell an den Mut eines jeden, selbst zu denken. »Es ist so bequem, unmündig zu sein. Habe ich ein Buch, das für mich Verstand 184 | kapitel vi
hat, einen Seelsorger, der für mich Gewissen hat, einen Arzt, der für mich die Diät beurtheilt, u.s.w., so brauche ich mich ja nicht selbst zu bemühen.« (VIII 35,13–16) Das ist flüchtig notiert und führt doch gut ein in die konstellative Gedankenführung. Warum gerade diese drei Beispiele? Beginnen wir mit dem Arzt; er ist zuständig für den menschlichen Körper und wird an der Medizinischen Fakultät ausgebildet; dann kommt der Seelsorger, der an der Theologischen Fakultät studiert. In der Trias von Seele, Körper und äußeren Gütern 254 fehlt der Jurist, der nur vage mit dem Buch angesprochen wird, weil er hier tatsächlich keine Funktion hat. Wir werden gleich auf eine andere Konstellation treffen, die nicht in der auf das Individuum bezogenen Güterordnung fundiert ist, sondern in der korrespondierenden Gesellschaft sordnung. Wenn Kant das »ganze schöne Geschlecht« als Opfer der falschen Vormünder beklagt, ist dies nicht falsch zu verstehen, denn Frauen sind nach der Meinung des aufgeklärten Autors naturaliter minorenn, bei ihnen ist jede Aufk lärung verlorene Liebesmühe. Die ersten drei Absätze bilden das Präludium, das zwar rhetorisch gelungen ist, jedoch auch in die Irre führen kann. Mit dem Verstandesbegriff wird der Eindruck erweckt, als gehe es um eine zeitlose theoretische Erkenntnis, die man im Studium erwerben und deren Inhalt man sich nun selbst aneignen könne. Das führt weg von dem Bereich, in dem Autonomie und Heteronomie ihren Ort haben, wie gleich danach zu sehen ist. Sodann ist mit der Metapher von Unmündigkeit und Mündigkeit nur das Individuum angesprochen, die Aufk lärung, die Kant propagiert, betrifft jedoch die Epoche, das Publikum, nicht die privaten Einzelnen. Sodann suggeriert Kant, wie wir schon sahen, Frauen sollten sich an der Aufk lärung beteiligen; aber nach allen anderen Äußerungen ist dies nicht seine Meinung.255 Die wenigen Individuen, denen die heroenhafte Befreiung von den Vormündern gelingt, kommen und gehen ohne Zusammenhang und ohne Folgen. Erst in der Vergesellschaft ung kann die Aufk lärung zu einer geschichtsmächtigen Kraft werden, wobei die Bindung an das unaufgebbare Selbst erhalten bleibt, erst in der aufgeklärten Gesellschaft bleibt das Selbst jedoch keine sporadischzufällige Erscheinung, sondern wird auf Dauer mündiges Subjekt kritik und aufklärung | 185
in einer historischen Bewegung 256 gemäß der Bestimmung des Menschen und der Menschheit. Trotzdem ist der Appell an die Bemühung des eigenen Verstandes aufschlussreich. Die Universitäten finden sich nicht im biblischen Schöpfungsbericht, sondern sind eine spätere Kreation der Menschen, die es überhaupt erst ermöglicht, das eigene Denken an eine Institution zu delegieren. Denkt Ihr für mich – dieser künstliche Zustand entstellt das ursprüngliche natürliche Selbstdenken! Man sieht: Auch die Aufk lärungsschrift will noch alte Rechte und Pflichten freilegen, ihre Innovation ist restaurativ, sie will die »old liberties«, die die Menschen selbstvergessen, selbstverschuldet, verloren, jetzt wieder in Besitz nehmen. In Kants Geschichtsdenken ist beides vereint: Die Restitution des Ursprünglichen und die Öffnung von etwas ganz Neuem durch die zuvor unmögliche selbst erworbene Autonomie des Menschen in Recht und Ethik. Mit dem Übertritt vom Individuum zum Publikum tritt die Dichotomie von staatlicher »res publica« und literarischer Öffentlichkeit in der Republik der Gelehrten auf den Plan; deren Antagonismus bildet das Zentrum der Kantischen Reflexion. Die beiden Republiken sind einander in mannigfaltigen Weisen zu- und gegengeordnet. Der Staat tritt dem Leser als feudaler Ständestaat entgegen, denn die drei Funktionsträger des Finanzrats, Offiziers und Geistlichen (VIII 36,34 ff.; 37,27–38,32: Offi zier, Bürger,257 Geistlicher) vertreten die drei Stände, über denen der Vierte, der König, steht. Der Vierte ist, wie häufig in der Konstellation 1, 2, 3 / 4, der Hoff nungsträger: »[…] räsonnirt soviel ihr wollt und worüber ihr wollt; aber gehorcht!« (VIII 37,3–4) Dem König ist allerdings nicht präsent, dass das freie Räsonnement die Monarchie aushöhlen und durch die freie Republik ersetzen wird.258 Mit dem »räsonnirt soviel ihr wollt und worüber ihr wollt« leitet er seine Abdankung ein. Das Diktum ist das Echo zweier Sätze aus der römischen Antike. Einmal klingt das von Cicero kolportierte »Oderint dum metuant« (»Sollen sie mich ruhig hassen, solange sie mich fürchten«) im literarischen Duktus nach,259 zum anderen, inhaltlich wichtiger, das Wort des Heiligen Paulus: »Gebt dem Kaiser, was des Kaisers ist«260. Der Glaube, die Gegeninstanz zur weltlichen Macht, ruft zur Anerkennung der Zweiteilung auf; wir ergänzen: nur durch 186 | kapitel vi
Unterwerfung ist der Sieg auf Dauer zu erringen. Die Aufk lärung ist zunächst auf ein friedliches Verhältnis mit der Despotie angewiesen, um sie durch eine allmähliche Änderung der Denkart in eine Republik zu verwandeln. Die duale Anlage bleibt jedoch auch in einer doppelten Republik der Gelehrten und Republik des Staats bestehen; Kant zielt nicht auf eine Aufhebung des Staats, sondern nur eine allmähliche Metamorphose. Der Mensch bleibt immer beides, Untertan und Kosmopolit; nur ist es in der ersten Rolle zugleich der Gesetzgeber der Gesetze, denen er sich unterwirft. Die staatliche Ordnung wird in der Viererkonstellation als vollständig und abgeschlossen gekennzeichnet, das Publikum dagegen ist in liquider Bewegung mit Publikationen, die nicht absehbar sind und die der kreativen Phantasie der Gelehrten entspringen. Auf der einen Seite die Wahrung der Vergangenheit, auf der anderen die Öff nung für die Zukunft. Das ist die zentrale Achse der Aufk lärungsschrift: Hier die stabile Ordnung, dort die bewegliche Öffentlichkeit, die die Ordnung mit ihrer Kritik und Korrektur in die Zukunft treibt. Für den Leser, der sich mit den konstellativen Ordnungen bei Kant befasst hat, ist klar, dass wir auf dieselbe Konstellation wie in der Urteilstafel gestoßen sind: 1, 2, 3 / 4, der König tritt als abschließendes Element zu den inhaltlich vollständigen drei Ständen hinzu und eröff net den Raum für das Publikum, für die Kritik und Korrektur des Ständestaats. Diese Bewegung trifft die staatliche Ordnung von außen, aus der kosmopolitischen Zivilgesellschaft. Im Streit der Fakultäten (1798) wird Kant dieselbe Konstellation so gestalten, dass die drei oberen Fakultäten die traditionelle Ordnung repräsentieren, während die untere Philosophische Fakultät den kritischen Bewegungsimpuls bringt. Die konstellative Ordnung ermöglicht es Kant, in allen drei Fällen mit einer bildhaften Figur zu spielen, wie sie im Fall der Urteilstafel tatsächlich im Druck verwendet wird. Für die Aufk lärungsschrift sieht die Ordnung so aus, dass dem etablierten Zentrum von Bürger (Finanzrat), Geistlichem und Adel das kosmopolitische Publikum gegenüber steht. Dort die geschlossene Form, hier die offene, dort die Vergangenheit, hier die Zukunft. Dort Thron und Altar, hier die Rechtliche Republik und das Ethische Gemeinwesen. Der König steht als Vierter auf kritik und aufklärung | 187
der Traditionsseite, aber er ermöglicht die Opposition der Zukunft, indem er die Aufk lärung nicht verhindert. Die (nicht so benannte) Opposition von »offen – geschlossen« findet sich auch in der KrV in der Antinomie der Vernunft, deren offene Seite mit dem Stichwort des Epikureismus charakterisiert wird, während die geschlossene unter dem des Platonismus fi rmiert (A 471). Der Platonismus passt nicht schlecht zur geschlossenen Ständeordnung der feudalen Vergangenheit und Gegenwart, während die Idee der Zukunft und der Evolution der Vernunft durch die streitbaren Publikationen nicht zu Epikur passen will, sondern eher zum Kosmopolitismus der Stoiker. Dort der Bürger eines bestimmten Staats, hier der Mensch als Bürger der Welt. Die Öffentlichkeit ist bei Kant notwendig auf dem Weg zur Vernunft, über die der Philosoph schon konzeptuell verfügt, die aber noch in die geschichtliche Wirklichkeit transformiert werden muß. Die Vernunft bedient sich zur Selbstentwicklung der Kritik, die unter einer höheren Vorsehung auf das stimmige Ende hinausläuft. Also hier eher die Stoa als Epikur. Die Öffentlichkeit bleibt in der Republik erhalten; sie soll gewaltenteilig sein; den drei Gewalten der Legislative, Judikative, Exekutive tritt die Presse jetzt in Form einer vierten Gewalt als unabhängiges Korrektiv entgegen. Diese Struktur wird von Kant nicht ausgearbeitet, aber vorbereitet. Jede Gesellschaft ist antagonistisch: Der entscheidende Streit der Kräfte ist der von stabilem, tradierten Kern und innovativer Änderung. Hiermit fi ndet sich in der Kantischen Schrift eine Präfiguration der späteren republikanischen Parteien des Fortschritts, der Linken, und der Erhaltung, der Rechten. Als ob gerade eine Revolution das staatliche Gefüge erschüttert hätte, durchzieht die Kantische Schrift die Warnung, die öffentliche Ordnung bloß nicht zu stören. Jeder Bürger ist und sei zunächst Teil der Staatsmaschine, er ist zum Gehorsam verpfl ichtet, die Subordination 261 ist unaufk ündbar. Nur im ruhenden Staat, und mag er auch despotisch sein, ist die tief greifende welthistorische Bewegung der Aufk lärung möglich, sicher nicht in der Anarchie. Wie die Stabilität des römischen Reichs die Entwicklung der christlichen Kirche ermöglichte, so ermöglicht einzig der in sich stabile, wenn auch despotische Staat das große Unternehmen, die 188 | kapitel vi
Bestimmung des Menschen durch Aufk lärung zu fördern. Aber im letzten Satz steht es unverhohlen: der Mensch sei »mehr als Maschine« (VIII 42,1). Wenn er mehr als Maschine ist, dann ist er nicht nur Untertan eines despotischen Staats, sondern gemäß seiner ursprünglichen Bestimmung gesetzgebendes Glied einer Republik. Hier formuliert Kant in nuce sein 1789, hier vollzieht sich die weltgeschichtliche Revolution, besser Reform, denn dass eine politische Revolution kontraproduktiv ist, schreibt Kant schon hier (VIII 36,28–33). Es gibt das »heilige Recht« der Publikationsfreiheit 262. Liegt in der wiederholten Verwendung des Begriffs der Heiligkeit eine bewusste Politik, so dass der Raum der Kirche jetzt vom Publikum eingenommen werden soll? Aus der Narrenfreiheit des Hofnarren, der sagen konnte, was ihm einfiel, es musste nur witzig sein, ist die Publikationsfreiheit des Gelehrten geworden. Kant versucht zu zeigen, dass die gelehrten Schriften keine Agitation betreiben und den Staatskörper bzw. die Staatsmaschine nicht zerrütten, sondern im Gegenteil fördern, aber dass sie, unabhängig von den Schadensoder Nutzerwägungen, zu den Menschenrechten gehören und im gleichen Vernunft recht verankert sind wie der Staat selbst; ihr Verbot überschreitet daher die Kompetenz des Staats. Eine durchsichtige List: Der Staat bleibe, so suggeriert die Vernunft, in seiner Ruhe ungefährdet, wenn die Gedanken in ihrer gelehrten Allgemeinheit öffentlich zirkulieren. Sie sind, da allgemein, nicht subversiv – aber jeder Leser versteht, dass sie den monarchisch-feudalen Staat in eine Republik verwandeln wollen und dass aus den Teilen der Staatsmaschine Glieder eines Organismus werden. Die Ambivalenz der nachcartesischen Zirbeldrüse drückt sich darin aus, dass die Gedanken zum inneren Mein und Dein gehören, das der staatlichen Kontrolle apriori entzogen ist; niemand kann in meinen Geist hineinblicken und dort Geistesprodukte ausmachen, die verboten sind. Andererseits ist die von Kant geforderte Öffentlichkeit nur durch Druckwerke zu realisieren, die zum äußeren Mein und Dein gehören, die man messen und wiegen, überprüfen und ergo auch konfiszieren kann. Die Aufk lärer ziehen die Zirbeldrüse zum Geist hinauf, die Zensurbehörden zum Körper hinab. Kant stellt hiermit ein erst in der Neuzeit nachweisbares selbstkorrektives mobiles System gegen eine sich immunisierende polikritik und aufklärung | 189
tische Herrschaft , auch Philosophenherrschaft. Platon und Aristoteles, Cicero und Hobbes haben eine Polis oder einen Staat im Blick, die keine Kräfte der Selbstverbesserung entwickeln, schon der Gedanke an »res novae« erzeugt Abscheu und Todesurteile. Dagegen wird jetzt gestellt: Es mag immer die Erkenntnis der Ideen als ultimative Instanzen geben – wenn diese Erkenntnis in einem Urteil formuliert wird, so ist es entweder wahr oder falsch, es steht dann vor der Alternative, sich durch Autorität (realiter im Grenzfall: mit Gewalt) durchzusetzen oder sich einem Forum der Kritik zu stellen. Dies letztere als institutionalisierte Innovation ist vor der Aufk lärung unbekannt und gehört danach zu den Instrumenten einer wenn auch nicht aufgeklärten, so doch sich selbst aufk lärenden Gesellschaft. Kant benutzt nicht den Begriff der Presse- oder Preßfreiheit. Die von ihm als angeborenes Recht geforderte Publikationsfreiheit ist jedoch politisch identisch mit der Freiheit der Presse, und beide sind Vorläufer der sog. Vierten Gewalt. Diese setzt den gewaltenteiligen Staat mit Legislative, Judikative und Exekutive voraus und formiert als unabhängige vierte Instanz die Öffentlichkeit, die sich im Medium des gedruckten Buches oder Aufsatzes artikuliert. Die Aufk lärungsschrift von 1784 ist also in einer ihrer Facetten das Plädoyer für die Zulassung der Vierten Gewalt. Wenn Kant bewusst die Publikationsfreiheit auf gelehrte Publikationen beschränkt, dann im Sinne des Schutzes einer allgemeinen öffentlichen Metareflexion, die sich aller Eingriffe in die Tagespolitik und überhaupt in die tatsächlichen Verhältnisse in den Staaten enthält. Die Öffentlichkeit soll nicht zur politischen Potenz und Gegenmacht in der einen einheitlichen »res publica« werden, sondern etabliert sich in einer anderen Dimension. Es ist das exklusive Medium der gelehrten Öffentlichkeit, die sich nicht einmischt und die keine Macht neben oder über der weltlichen Gewalt beansprucht. In diesem Sinn ist die Reflexion über Aufk lärung und Öffentlichkeit auch eine Selbst-Reflexion über die Grenze von Theorie und Praxis. Daneben thematisiert sie das Problem, wie der Zwangsstaat zum Vernunftstaat nicht mit Zwangsgewalt gezwungen, jedoch mit der sanften Gewalt der Einrede gelockt werden kann. Den rechtlichen Zwangsstaat zur Rechtlichkeit zu zwingen ist widersprüchlich; ihn jedoch mit einer vierten Gewalt in die Rechtlichkeit hinein 190 | kapitel vi
zu publizieren, ist rechtens, die Freiheit der Feder, unsere Zirbeldrüse gegen den Körpergiganten, bewegt ihn am Ende doch. Auf die Dauer kann die falsche Praxis der Theorie und der Einsicht nicht widerstehen. Hiermit spielt die These »Die Weisheit muß den Höfen aus den Studierzimmern kommen« (Refl. 1436; XV 628,1–2). Sie wird näher ausgeführt im »Geheimen Artikel zum ewigen Frieden« mit dem darin paradoxen Aufruf, die Philosophen nicht geheim, sondern »öffentlich sprechen zu lassen« (VIII 369,32–33). Aufk lärung ist die öffentliche Reflexion über die Prinzipien der Vernunft, die sich in der geschichtlichen Realität manifestiert. Sie ist Sache der Gelehrten, fordert jedoch die Freiheit eines jeden naturaliter mündigen Menschen, an ihr teilzunehmen und sich in ihrer Öffentlichkeit zu artikulieren. Der Gegenstand sind die allgemeinen Institutionen der menschlichen Gesellschaft im Hinblick auf die Frage, ob sie die öffentliche Mündigkeit und Überlegung fördern oder behindern. Aufk lärung ist damit immer zugleich der Versuch, sich selbst zu bestimmen und zu begrenzen. Meinungsdifferenzen und ein Streit der Fakultäten und Philosophen sind unvermeidlich und der Sache förderlich – jedoch nur innerhalb der Grenzen der reinen Vernunft . Werden diese überschritten, sieht die Regierung die öffentliche Ordnung gefährdet und schafft die Vernunft republik kurzerhand ab (VIII 144,8 ff.). Kants Schrift selbst ist die exemplarische Durchführung öffentlicher Aufk lärung in einer Metaebene; sie geht nicht auf konkrete gesellschaft liche Mißstände im allgemeinen ein, sondern zeigt explizit und exemplarisch den Rechtsort an, der für kritische Verlautbarungen zur Verfügung steht.
4. Praktische Aufklärung II »Tantum religio potuit suadere malorum!« Lukrez.
»Ich habe den Hauptpunkt der Aufk lärung, d. i. des Ausganges der Menschen aus ihrer selbst verschuldeten Unmündigkeit, vorzüglich in Religionssachen gesetzt […].« (VIII 41,10–12) Aber was will Kant kritik und aufklärung | 191
genau? Soll der Gläubige mit den »pastores«, den Menschenhirten, über einzelne Glaubensartikel diskutieren? Soll er ihnen androhen, eine neue Sekte zu gründen, in der man in der Kirche die Mütze aufbehält? Worauf bezieht sich das Mündigwerden? Es muß sowohl für die Kirche wie auch für den Staat gelten, und es muß sich um den grundsätzlichen Kontrast von Heteronomie und Autonomie, nicht um Bagatellen handeln. Um die eigentliche Brisanz der Aufklärungsschrift zu verstehen, muß man andere Schriften und auch aufk lärerische Themen heranziehen und so die grundsätzliche Verkehrung entdecken, die hier eher oberflächlich und regimetreu mit eingestreuter adulatio (aus Angst vor dem bigotten Nachfolger) angesprochen wird. Was zeigt sich, wenn die Untertanen nicht als Philosophen und Publizisten, sondern als Menschen und Bürger von ihrer eigenen Vernunft öffentlichen Gebrauch machen? Die Kirche und die nach ihren Richtlinien ausgebildeten Theologen stellen eine ihre Existenz sichernde Bedingung: Am Anfang allen Unterrichts besonders in moralischen Dingen steht der Glaube, dann folgt die von ihm dirigierte Moral und letztlich die Verbindung von beidem in der Hoff nung auf Unsterblichkeit. Glaube, Liebe, Hoff nung ist die Sequenz, auf der jede Kirche insistiert, wie immer die Konfessionen im Einzelnen aussehen. Glaube, Liebe, Hoff nung ist die Trias, die die Kirche als Vierte lehrt und überwacht.263 Über den Inhalt des Glaubens unterrichten heilige Bücher, in denen das steht, was die Priester und Pastoren in ihnen fi nden. Der Laie muß sich dieser Deutungshoheit beugen. Kant will den Bann brechen und wie schon Shaftesbury und Spalding die Reihenfolge umkehren: Erst die Moral, und dann der aus ihr folgende Glaube und die Hoff nung.264 Mit dieser Verkehrung in der Reihenfolge ist die Autonomie des Gläubigen gewährleistet und die Möglichkeit und auch Notwendigkeit einer »Religion innerhalb der Grenzen der bloßen Vernunft« gegeben. »Tantum religio potuit suadere malorum!« »Zu so vielen Übeln hat die Religion die Menschen verführen können!« klagt schon Lukrez265; die genannte Verkehrung der Reihenfolge hegt den Glauben ein auf das moralisch Gebotene und schützt in der Idee die Menschheit vor dem Unheil einer nicht durch Sittlichkeit domestizierten Religion. Man sieht, wie hier der Kirchenglaube so konzipiert wird, dass die Institution die sittliche Autonomie verhindert. Deswegen 192 | kapitel vi
schreibt Kant nach der Publikation der Träume eines Geistersehers (1766) an Mendelssohn von seinem Widerwillen und Haß gegen die Anmaßung heutiger Metaphysik (X 70,11–22). Diese Pseudo-Metaphysik ermöglicht eine Kirche, die den Menschen die Selbstbestimmung raubt. »Écrasez l’infâme!« hatte Voltaire als Stichwortgeber der Aufk lärung gerufen. Beide treten als Intellektuelle auf, Kant ab 1766, Voltaire seit seiner Geburt. Aber Kant will nicht agitieren, er bleibt auch in dieser Rolle der Theoretiker und stützt seine Gegnerschaft gegen die Mächte der Unmündigkeit, Kirche und Staat, auf ausgearbeitete Gründe, von denen er überzeugt ist, dass sie à la longue eine unwiderstehliche Geschichtsmacht gewinnen. Die Kirche soll zu einem ethischen Gemeinwesen werden, zu dem sich Menschen zusammen fi nden, die erkannt haben, dass die sittlichen Aufgaben, vor die sie ihre eigene praktische Vernunft stellt, ihr eigenes Vermögen überschreiten. Wenn wir auf unsere Titelfrage zurückblicken, können wir hier notieren: Dieser Gedanke bleibt und ist wirksam in Organisationen wie dem »SOSKinderdorf«, dem »Roten Kreuz« oder »Ärzte ohne Grenzen«. Mit der Umkehrung der Ordnung von Moral und Glauben wird der Mensch der Vormundschaft der Seelenhirten entzogen, die scheinbar zu ihrem Guten wirken, sie jedoch tatsächlich der Möglichkeit berauben, mündig zu werden. Der Parallelgedanke beim Staat ist leicht zu entdecken: Es soll das Rechtsgesetz das eigene Gesetz des selbständigen Bürgers sein, so dass der obrigkeitliche Staat in die Republik freier Bürger verwandelt und auch hier aus der Heteronomie Autonomie wird. Entsprechend ist die Parallelschrift zur Religion innerhalb der Grenzen der bloßen Vernunft (1793) die Metaphysik der Sitten (1797), dort speziell die »Metaphysischen Anfangsgründe der Rechtslehre«. Hierauf also zielt die Aufk lärung: Kritik und Ablösung der Heteronomie und Unmündigkeit in Kirche und Staat, Umwandlung der Kirche in ein weltweites sittliches Gemeinwesen und des despotischen Staats in eine Republik freier, die Gesetze selbst bestimmender Bürger. Den Seelsorgern, die ihre Herde vorsorglich unmündig halten, korrespondieren die Herrscher, die vorgeblich wissen, worin das Glück ihrer Untertanen besteht, und ihm dieses anbefehlen. Das leicht durchschaubare Ziel ist in beiden Fällen nicht das Seelenkritik und aufklärung | 193
und leibliche Wohl der Menschen und Bürger, sondern der Erhalt der Privilegien, die an einen Erkenntnishiat zwischen Thron und Altar auf der einen Seite und den Untertanen auf der anderen gebunden sind. Man sieht den Anti-Platonismus der Aufk lärung. In der Polis von Platon kommt die theoretische und praktische Vernunft den Herrscher-Philosophen zu, während der untere Stand sich in der Tugend der Bescheidenheit, der temperantia, zu üben hat. Die Aufklärung zielt auf die Zerstörung der – an Platon vermittelt anknüpfenden – Ständeordnung und ihre Überführung in eine Republik rechtlich freier und deswegen gleicher Bürger. Anders als Platon und Aristoteles akzeptiert Kant den Gedanken, dass die politische Gesellschaft kontraktualistisch verfasst ist, der Vertrag jedoch als handlungsleitende Idee, nicht als historisches Faktum. Es wird in der Aufk lärungsschrift kurz ein Problem angesprochen, das mindestens seit Rousseaus Contrat social auf der Agenda der Philosophen steht. Sind die Vertragspartner einer Staatsgesellschaft an die Einhaltung der Verträge gehalten? Es lassen sich für unseren Zweck drei Positionen unterscheiden. Rousseau wendet sich gegen einen Unterwerfungsvertrag, in dem das Volk darauf verzichtet, als Rechtsperson zu gelten; so etwa bei Thomas Hobbes.266 Es ist ein Vertrag der Rechtlosigkeit, der sich selbst aufhebt. Fichte hält es für möglich, dass jeder Vertragspartner bei Änderung seiner Absichten einen Vertrag einseitig auflösen kann, speziell den Unterwerfungsvertrag, mit dem der Feudalstaat gerechtfertigt wird.267 Drittens Kant: »Aber sollte nicht eine Gesellschaft von Geistlichen […] berechtigt sein, sich eidlich unter einander auf ein gewisses unveränderliches Symbol zu verpflichten, um so eine unaufhörliche Obervormundschaft über jedes ihrer Glieder und vermittelst ihrer über das Volk zu führen und diese sogar zu verewigen? Ich sage: das ist ganz unmöglich. Ein solcher Contract, der auf immer alle weitere Aufk lärung vom Menschengeschlechte abzuhalten geschlossen würde, ist schlechterdings null und nichtig; […] Das wäre ein Verbrechen wider die menschliche Natur, deren ursprüngliche Bestimmung gerade in diesem Fortschreiten besteht; […].« (VIII 38,33–39,11) Was ist am Konzilbeschluß genau rechtswidrig? Die Verpfl ichtung jedes der Glieder und damit des Volks auf ein gewisses Symbol oder erst die 194 | kapitel vi
Verfügung der Unveränderlichkeit dieses Symbols? Kant verlangt offenbar ein Glaubensbekenntnis auf Abruf, das also seine Geltung so lange beansprucht, wie es nicht durch einen neuen Konzilsbeschluß abgelöst wird, so wie ein Unterwerfungsvertrag des Volks mit einem Herrscher so lange gilt, wie die Volksversammlung ihn nicht aufhebt und die Regierungsform den veränderten Umständen anpasst. Hier finden wir die Vorstellung der Geschichtlichkeit von Rechtsinstitutionen; jede Epoche muß darüber neu befinden können, ob Thron und Altar oder andere Veranstaltungen in der bisherigen Form beizubehalten oder zu ändern sind. Und in diesem Zusammenhang erscheint der höchste Begriff überhaupt: Die Bestimmung der Menschheit.268 Das besagt, dass die hier angedeutete Position nicht historistisch-skeptisch ist, sondern sich gewissermaßen unter der Obhut einer Vernunft idee sieht, zu der hin sich die geschichtlichen Institutionen entwickeln. Zum Aufk lärungsprojekt gehört auch die kurze Schrift »Über das Mißlingen aller philosophischen Versuche in der Theodicee« (1791). Ihr strategisches Ziel ist nicht leicht zu entdecken, und man ist geneigt, sie als Etüde auf einem älteren akademischen Feld zu betrachten, vorbereitet durch Kants Satz in der KrV: »Ich behaupte nun, daß alle Versuche eines bloß spekulativen Gebrauchs der Vernunft in Ansehung der Theologie gänzlich fruchtlos und ihrer inneren Beschaffenheit nach null und nichtig sind; daß aber die Prinzipien ihres Naturgebrauchs ganz und gar auf keine Theologie führen, folglich, wenn man nicht moralische Gesetze zum Grunde legt, oder zum Leitfaden braucht, es überall keine Theologie der Vernunft geben könne.« (A 636) Es werden 1791 Argumente der Apologeten der Theodizee gegen deren Gegner vor einem fingierten Gerichtshof der Vernunft vorgetragen; Kant zeigt in Übereinstimmung mit der KrV, dass das gesamte Verfahren ohne Grundlage ist, da sowohl die Apologeten wie auch die Gegner die Kompetenzen der spekulativen Vernunft überschreiten. Wir müssen es mit Hiob halten, der sich nicht anmaßt, Gottes Wege zu kennen, sondern sich nur an den auf seine Moral gebauten, theoriefreien Glauben hält. Mit seiner Gesinnung »bewies er, daß er nicht seine Moralität auf den Glauben, sondern den Glauben auf die Moralität gründete.« (VIII 267,10–11)269 Wer sind die Ankläger und wer die Apologeten? Auf jeden Fall sind Theologen und Leute der Kirche in kritik und aufklärung | 195
den gelehrten Streit involviert, die Schrift wendet sich mit Emphase gegen die Arroganz der theoretischen Theologie. Der ungelehrte Hiob steht bei den drei mal drei Argumentationsgängen in der jeweils vierten Position immer schon als Sieger am Ziel.270 Die moralische Position weist das Pro und Contra zurück und erklärt das Gerichtsverfahren der theoretischen Vernunft für illegitim. Wir sahen schon: Wenn es heißt: »Über das Mißlingen aller philosophischen Versuche in der Theodicee«, muß der Leser restringierend hinzufügen, dass es sich nur um die spekulativen Versuche handelt, denn der der praktischen Vernunft misslingt keinesfalls.271 Wir haben versucht, Kants Begriff (nicht bloßen Wortgebrauch) der Aufk lärung zu entwickeln. Er gehört in das Gebiet der moralisch-praktischen Vernunft und bezieht sich damit apriori notwendig auf die Rechts- und Tugendlehre; damit ist die Gegeninstanz, gegen die sich die Aufk lärung kritisch wendet, im zeitgenössischen Feld einerseits der despotische Staat, zum anderen die Kirche, die einen bedingungslosen Glauben fordert. Beide sind Institutionen einer versteinerten Heteronomie, gegen die die Aufk lärung, begreift man sie in der Kantischen Form, die zweiteilige Autonomie fordert. Die Schrift vollzieht also einen Wechsel von der Theorie zur Praxis, vom Verstand zum Willen, vom Licht zur Gravitationskraft der Sonne im Planetensystem. Moses Mendelssohn wies in seinem Beitrag »Ueber die Frage: was heißt aufk lären?« (1784) der Aufk lärung noch die Theorie zu, der Kultur dagegen die Praxis.272 »Aufk lärung verhält sich zur Kultur, wie überhaupt Theorie zur Praxis; wie Erkenntniß zu Sittlichkeit […].«273 Kant koppelt die Aufk lärung von der theoretischen Erkenntnis ab und macht sie zu einem exklusiven Moment der Autonomie, zu der jeder Mensch und Bürger verpflichtet und also auch idealiter berechtigt ist. »Die Revolution eines geistreichen Volks«, heißt es 1798 von dem Ereignis in Frankreich (VII 85,19); es versteht sich von selbst, dass die praktische Aufk lärung eine gebildete Zivilgesellschaft voraussetzt und daß Kants Akzentuierung der Moral nicht besagt, dass sie nicht begleitet sein muß von einem Höchststand der Kultur. Turbulenzen in der Südsee zählen nicht und machen nicht Epoche.
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5. Was bleibt? Wohl nicht die »Dialektik der Aufklärung« »Dialektik der Aufk lärung« ist der vermutlich neu geprägte Begriff und Titel eines Buches von Theodor W. Adorno und Max Horkheimer.274 Mit dieser Figur ist gemeint, dass die Aufk lärung sich die Befreiung von der Gewalt der Natur und dem bloß mythischen Denken zum Ziel setze, aber beidem blind verfalle und sie so ihr Ziel nicht nur nicht erreiche, sondern sie die Gegenmacht der Natur verstärke. Die Aufk lärung enthält also von ihrem Beginn an ihre eigene Verkehrung. Der Beginn der Aufk lärung soll zusammenfallen mit dem Beginn der bewussten Menschheitsgeschichte; sie verstrickt sich in ihr Gegenteil. Das Buch ist nach den formalen Kriterien ein Aufk lärungswerk. Es hat ein allgemeines Thema zum Gegenstand, eben den notwendigen Umschlag der Aufk lärung in ihr Gegenteil, und ist damit gelehrter Natur; es will über einen Missstand belehren und beteiligt sich damit an dem Projekt der Suche nach einer Behebung des Verfehlten, selbst wenn dies nach dem Fatum der Menschheit nicht möglich sein sollte. Andererseits verfällt die Schrift selbst der Dialektik, über die sie nur zu informieren und aufzuklären vorgibt. Wenn die Unwahrheit der Verhältnisse alldurchdringend ist (53), entgehen ihr auch die eben dies beklagenden Autoren nicht. Diese notwendige Reproduktion der Verkehrung wird in der Schrift nicht zum Gegenstand der Selbstreflexion erhoben, sondern vollzieht sich in ihr: Die Schrift wird auch bei sympathetischer Annäherung zu einem Dokument der beklagten Zerstörung der Vernunft. Wie wollen sich die Autoren den Pauschalurteilen über alle Aufk lärung selbst entziehen? »Denken, in dessen Zwangsmechanismus Natur sich reflektiert und fortsetzt, reflektiert eben vermöge seiner unaufhaltsamen Konsequenz auch sich selber als ihrer selbst vergessene Natur, als Zwangsmechanismus.« (53–54) »Schlaue Selbsterhaltung bei den Oberen ist der Kampf um die faschistische Macht, und bei den Individuen die Anpassung ans Unrecht um jeden Preis.« (111) Die »Verblendung aber ist ein konstitutives Element jeglichen Urteils, ein notwendiger Schein.« (228) Die Dialektik der Aufklärung ist Ankläger und Opfer ihrer eigenen Diagnose, sie thematisiert und vollzieht die Verkehrung ihrer Zielsetzung. Diese Selbstverstrickung vollziehen die Autoren offenbar naiv, denn sie merken kritik und aufklärung | 197
nicht, dass sie immer auch über sich selbst reden und klagen. Diese manichäische Verblendung ist noch erstaunlicher als bei Ödipus und dem Dorfrichter Adam, denn auch am Schluß gelangen die beiden Autoren nicht zur Einsicht, dass sie selbst zum Gegenstand gehören, den sie bejammern, und dass sie nun über die ganze Sache noch einmal nachdenken müssten. Wenn die Verblendung alle Urteile durchdringt, rettet nur das Schweigen. Die Dialektik der Aufk lärung wird einerseits plakativ deklariert, sodann wird sie dem Leser im immer wiederholten Lamento über das unsägliche Grauen der Menschengeschichte sei es als Bann der Natur (nie wird geklärt, was »die Natur« ist), sei es im vergeblichen Ausbruchversuch der Vernunft demonstriert. Als Beleg dienen ausgewählte Texte von Philosophen (etwa Kant), Schrift stellern (de Sade) und Dichtern (Homer). Das Ziel ist immer dasselbe, es erlaubt die größten Lizenzen im Umgang mit den Quellen nach der Devise, dass die Quelle notfalls ausgetauscht werden könnte, denn irgendein Beleg für die unwiderlegbare Generalthese wird sich finden lassen. Ich wende mich kurz der Bezugnahme auf Kants Aufk lärungsschrift zu; mit ihr beginnt der II. Exkurs »Juliette oder Aufk lärung und Moral« (100). Die ersten Sätze sind interessant, weil sie denselben Fehler enthalten wie Hegels Darlegungen zur Aufk lärung in der Phänomenologie des Geistes (1807). »Aufk lärung ist in Kants Worten ›der Ausgang des Menschen aus seiner selbstverschuldeten Unmündigkeit. Unmündigkeit ist das Unvermögen, sich seines Verstandes ohne Leitung eines anderen zu bedienen.‹ ›Verstand ohne Leitung eines anderen‹ ist von Verstand geleiteter Verstand. Das heißt nichts anderes, als daß er vermöge der eigenen Konsequenz die einzelnen Erkenntnisse zum System zusammenfügt.« (100) Es folgen Erläuterungen aus der KrV über das Verhältnis von Verstand und Vernunft. Die Autoren enden ihr Eingangszitat an der Stelle, an der Kant ihren Interpretationsweg verstellt und erklärt, warum die Unmündigkeit selbst verschuldet ist. Die gesamte Fragestellung ist eindeutig auf die praktische Vernunft gerichtet und hat mit dem Verhältnis von Verstand und Vernunft nichts zu tun. Mit ihrem Abbiegen vom Text verlassen die Autoren den Boden der Kantischen Philosophie, für die die Differenz von theoretischer, auch instrumenteller Vernunft und reiner praktischer Vernunft fundamental ist. Die 198 | kapitel vi
gesamte Folgeerörterung zur Aufk lärung hat viel mit dem Schuft de Sade und der lüsternen Juliette, aber nichts mit der praktischen Vernunft und der Moral zu tun. Das Interesse der Denunzierung verfälscht die vorgebliche Erkenntnis bis in die kleinsten Winkel der Advokatenkunst, die die Autoren zu ihrem »Nous accusons« virtuos benutzen. Sie nehmen obstinat nicht die Differenz der Kantischen Moral und des Utilitarismus zur Kenntnis; die Vernunft der ersteren ist nicht die Rationalität, die sie ihr unterstellen, sondern gerade die Überprüfung der Effi zienz an Kriterien, die nicht der Mittel-Zweck-Rationalität des Utilitarismus entstammen. So vollzieht sich nicht nur eine magisch gesteuerte Dialektik der Aufklärung hinter dem Rücken der Autoren, sondern ist Programm in der Selbstverhexung. Die Autoren hätten lernen können, dass Aufk lärung immer auch selbstreferentiell ist, also selbstkritisch, mit Locke und Kant: grenzsetzend. Keine Spur davon bei den beiden berühmten Autoren. Ihre Dialektik der Aufk lärung vollzieht sich zwischen den zwei Polen des vernunft losen Anfangs der Menschheit und des vernunftlosen Endes. Vor dem Anfang der Vernunft liegt die identitätsphilosophisch träumende Tierheit, am Ende kehren die Tiere zurück, froh über das Ende des grauenvollen Exkurses in die Geschichte der Menschen. Hegel kümmert sich so wenig wie die beiden Autoren der Dialektik der Aufklärung um eine faire Interpretation der Kantischen Schrift .275 Er greift das Stichwort des Glaubens auf, der für Kant eine gewisse Rolle spielt, und stellt dann Glauben und Wissen gegenüber, wobei im dialektischen Widerspiel das eine auch immer das andere ist. Für Kant sind die Kirche und ihr Glaube kein Gegenstand des besseren oder geminderten Wissens, sondern ausschließlich Akteure auf dem Gebiet der moralischen Bestimmung des Menschen. Die Geschichte wird rücksichtslos dem eigenen Ziel unterworfen und kolonisiert; die Autoren der Aufk lärung erhalten bei dem Verfahren keine Möglichkeit, gehört zu werden. Die Dialektik der Aufklärung wird so zu einem rechtswidrigen Schauprozeß. Nach den Prinzipien der Aufk lärung ist dagegen das Verhältnis des Interpreten zu den zu interpretierenden Autoren oder Schriften auch ein rechtliches; sie haben einen Anspruch, gehört zu werden. Es ist symptomatisch für die dialektische Verkehrung der Aufk lärung, kritik und aufklärung | 199
dass Adorno und Horkheimer die Frage von Recht und Unrecht an keiner Stelle erwähnen; wie ihrem Zeitgenossen Heidegger (und zuvor Nietzsche) ist ihnen diese fundamentale Sorge der Aufk lärung gänzlich fremd. Wenn etwas sachhaltig ist an ihrer Grauensdiagnose, dann ist es die permanente Rechtsverletzung der Menschheit – und in ihrer Hermeneutik beteiligen sie sich an diesem Unheil, indem sie das Recht des Autors, angehört zu werden, in jedem Textbezug verhöhnen. Die zitierten Autoren werden zu bloßem Material ihrer Horizontverschmelzung. So machen sich Adorno und Horkheimer nicht nur zu Teilen des Falschen im Ganzen, sondern beteiligen sich aktiv am Unrecht, das sie beklagen. Was also will die Dialektik der Aufklärung? Will sie uns belehren? Dann müsste gezeigt werden, wie im ringsum Falschen das Aufdecken des Wahren doch möglich ist; aber nach welcher Logik? Nach welchen Kriterien, die der allgemeinen Verhexung entzogen sind? Will sie uns verbessern? Welche Moral hält dem Naturfluch, der über allem liegt, wohl stand? Auch da fi ndet sich nichts. So drängt sich das Urteil auf: »Much ado, but little remains«.
6. Was bleibt? Bestimmte politische Ziele der Aufk lärungsschrift sind erreicht; die despotische Staatsmaschine, deren ersetzbare Teile die Bürger waren, ist im öffentlichen Ansehen der Demokratie als einer organischen gewaltenteiligen Republik mit Bürgern als ihren Gliedern gewichen. Die Kirche hat die Macht verloren, durch das Glaubensmonopol zu diktieren, was gut und böse ist; im aufgeklärten Bewusstsein hat die Moral den Vortritt vor dem Glauben, so wie Kant es forderte. Das Wissen, das in jede Aufk lärung eingeht, ist anerkannter Faktor der Wissensgesellschaft . Und: »Nur Wissen kann Wissen beherrschen«.276 Es bedarf, so scheint es, der besseren Ausführung, aber keiner innovativen Aufk lärung, um immer neu die Idee einer säkularen Republik zu entwickeln. Ist damit die philosophische Idee der Aufk lärung abzuheften unter dem Titel »Bleibt von selbst«? Die Aufk lärung über die Aufk lärung kann nicht gut in einer leer laufenden Selbstreflexion der »ignava ratio«, der faulen Schulver200 | kapitel vi
nunft bestehen, sondern in der Aufgabe der Übersetzung: Läßt sich und wie läßt sich das Kantische Programm in neuen Verhältnissen virulent halten? Die Opposition gegen Diktatur und Fundamentalismus bedarf als solche keiner weiteren Philosophie, sie wird fortgesetzt von Gruppierungen, die erst durch die Aufk lärung möglich wurden und als deren Grundlagen die heutigen Verfassungen ausreichen. Die Unheil brütende Vorrangstellung des Glaubens vor der Moral schwelt in allen Ländern und muß und kann nur durch die Lebendigkeit der Ideen der Aufk lärung eingedämmt werden. Wenn das Potential der Barbarei, das in den Religionen liegt, nicht durch Aufk lärung domestiziert wird, droht ein Rückfall in die Glaubensdespotie. Der Titel des Fundamentalismus zeigt den Gegensatz zum Aufk lärungsprogramm einer Religion innerhalb der Grenzen der bloßen Vernunft. Will man am Projekt der Aufk lärung festhalten, wird man seine Kantische zeitgemäße Begrenzung auf die kritische Destruktion von Thron und Altar aufheben und eine erweiterte Konzeption in Anspruch nehmen, zu der die Kantische Losung auch einlädt. So viel zur bequemen Seite, auf der kaum Widerspruch zu erwarten ist. Die unbequeme Seite wird sichtbar, wenn man sich den inflationären Gebrauch des Wortes »Aufk lärung« ansieht. Die Jugend wird über die Intimvorgänge und Gefahren der Sexualität aufgeklärt, die Bevölkerung einer Stadt über die Gefahrlosigkeit von Explosionen in den Chemiewerken, etc. etc. Es sind Aufk lärungen der Klugheit. Jedermann wird diese Aufk lärung begrüßen, aber das ist nicht, was bei der Kantischen Aufk lärung gemeint ist. Deren unbequeme Eigenheit liegt in der Fundierung jenseits der Empirie. Diese qualifizierte Aufk lärung ist, wie sich zeigte, in einer apriorischen Moral begründet. Wir machten uns vertraut mit Defi ziten des Apriorismus, die eine pauschale Übernahme der Kantischen Moralphilosophie unmöglich machen. Der kategorische Imperativ als Kompaß ja, aber der Kompaß wird am Nord- und Südpol unserer Erden-existenz außer Kraft gesetzt. Die Grenze der Paralyse, die wir ausmachten, war vage: Die Unterwerfung unter das Sittengesetz sollte dann nicht möglich sein, wenn sie der Selbstachtung widerspricht und dem Beobachter und dem eigenen Gewissen das Gefühl der Verachtung abnötigt. Das Beispiel der kritik und aufklärung | 201
gesetzwidrigen Sittlichkeit war Schindler, der mit Lügen Juden rettet. Die nachfolgenden Überlegungen zielen auf Gefährdungen der Mündigkeit in Formen, die Kant meistens noch nicht kennen konnte. Sie sind Objekte einer philosophischen Reflexion und nicht bloßer Klugheitserwägungen. Die Aufzählung geschieht ohne System und könnte entsprechend fortgesetzt werden.
a. Selbst denken und die kritische Distanz zu Sprache und Bildern Das dritte Buch, »Of Words«, des Essay Concerning Human Understanding unterbricht die Untersuchung, die von den Begriffen oder »ideas« zur Erkenntnis in Urteilen und Schlüssen fortschreiten wollte. Es handelt sich um eine Vorreflexion möglicher Erkenntnis durch eine kritische Betrachtung der üblichen Sprache, die als Mittel der Thesaurierung und der Mitteilung von Erkenntnissen dient. Hier entfaltet der Protokritiker Locke eine fulminante Destruktion des Scheins, den die Metaphern mit sich führen, Wörter in der Funktion von Plakaten, die ein unkritisches Folgeverhalten wollen. Natürlich kollidiert diese Aufk lärungsidee mit dem Sprachglauben, sie wendet sich gegen die Verfallenheit des Seinsdenkens an die Schablonen der vorzugsweise deutschen Sprache und insistiert auf ein Denken in übersetzbaren Urteilen. Im Hintergrund das Ideal des aufgeklärten Bürgers, der in eigener Verantwortung und Kompetenz die Schablonenwand der Sprache durch eigenes Denken zu durchstoßen vermag. Etymologie hat mit der gesuchten Sacherkenntnis nichts zu tun. Dasselbe gilt für die Suggestion durch Bilder, der die sog. ikonische Wende hilflos gegenüber steht. Bilder bedürfen der Reflexion im Denken, damit wir zu ihnen in ein vernünft iges Verhältnis kommen. Ohne diese Denkleistung überfällt uns das Bild so, wie die Tiere von der Zeichenwelt, in der sie leben, geleitet werden. Genau dies ist das Ziel der Reklame, die mit ihren Bildern und Slogans einen vorprädikativen Status der Menschen anvisiert und ihn in das Höhlendasein zurückzaubern möchte. 202 | kapitel vi
Die Manipulation der Menschen ist nicht nur in der Sphäre der kommerziellen Gesellschaft allgegenwärtig, sondern auch in der Politik und ihren Medien in Bild und Sprache. Es ist eine Aufgabe der Aufk lärung, den »linguistic« und den »iconic turn« zum Thema der philosophischen Reflexion zu machen und, so das vorhersehbare Ergebnis, die Prärogative des Denkens vor der Sprache und den Bildern zu retten. Bediene dich deines eigenen Verstandes, nicht deiner eigenen Sprache oder der Bilder; wir gehen vom »iconic turn« zum »linguistic turn« hin zum Verstand mit dem eigenen Denken.277
b. Erkenntnis gegen Praxiswahn und Hedonismus Die Epoche der Aufk lärung selbst hat hier das Fanal ausgerufen: »Man is born for action!«, und Kant ist in seiner Karriere immer stärker vom Primat der praktischen Vernunft überzeugt. Mit der Wende der Französischen Revolution richtet sich der Blick aus der Vergangenheit in die Zukunft und aus der Kontemplation und Erkenntnis zum Handeln und Machen. Schlagwortartig: die Produktion treibt den Konsum und der Konsum die Produktion vor sich her, bis beides kurzfristig kollabiert und das Wechselspiel neu beginn. In der alten Struktur von Erkennen, Fühlen und Wollen ist die Erkenntnis der Verlierer, und im Zuge der Weltausbeutung für die hedonistische Lebensform sind das Wollen und Fühlen die Gewinner; die Erkenntnis hat nur instrumentellen Charakter. Das sind unangenehm große Gedankenbögen, auf einiges werden wir im Kapitel über die politische Ökonomie zurückkommen. Relevant ist dieses Thema für den klassischen Ort der kritischen Erkenntnis, die Universität. Das Projekt der Aufk lärung gehört entsprechend ins Zentrum der Auseinandersetzungen um die Universität in Europa und den Erhalt von Orten, die der Erkenntnis als solcher auf den verschiedenen alten akkreditierten und neuen Gebieten gewidmet sind. Hier sind Lehre und Forschung in ihrem Kernbereich zu erhalten, abgeschirmt von der Bevormundung durch eine ungebildete Bürokratie und ihre schmalen Gedanken von der vorgeblichen Relevanz für die Gesellschaft. kritik und aufklärung | 203
Die Aufk lärung, die sich in Lehre und Forschung vollzieht, führt ein in das methodische Handwerk der Erkenntnis. Der Beginn ist immer die Feststellung eines Irrtums in der bisherigen Meinung und Forschung, der Fortgang besteht in einer neuen Idee, den Irrtum zu überwinden und durch einen Vorschlag zu ersetzen, der sich seinerseits der Kritik und Korrektur stellt. Die bürgerliche Gesellschaft hat ein Recht auf eine Institution, in der die Ideologien und Meinungen zur Natur und Geschichte einer kritischen Prüfung unterzogen werden und die interessierte Öffentlichkeit die Ergebnisse der unparteiischen Untersuchung erfährt, handle es sich um den Klimawandel, die Geschichte des Vorderen Orients oder den Beginn des Universums.
c. Die Gefährdung der Rechtsidee durch die Demokratie Die moderne gewaltenteilige Demokratie ist ein Erzeugnis der Aufk lärung. Das juridische Autonomieprinzip wird von Locke, Rousseau und Kant vertreten: Jeder dazu naturaliter oder durch weitere Qualifi kationen befähigte Bürger nimmt direkt oder indirekt teil an der Gesetzgebung und gehorcht damit idealiter nur den Gesetzen, die er selbst gegeben hat. Ein zentrales Problem der Realisierung des gewaltenteiligen Rechtsstaats wird prägnant von Rousseau in der Trennung von »volonté de tous« und »volonté générale« formuliert. In der Legislative soll sich nicht der reale Mehrheitswille aussprechen, sondern die Idee des Allgemeinwillens. Damit stehen sich Aspekte gegenüber: Erstens. Der reale Mehrheitswille und der ideale Allgemeinwille können in einen krassen Gegensatz treten, zweitens. Der ideale Allgemeinwille kann sich nur durch den Mehrheitswillen realisieren. Nun werden in der modernen Demokratie der Wille der Einzelnen und der staatlich relevante, zur Gesetzgebung qualifizierte Wille durch Parteien vermittelt, deren Funktion in der Verfassung festgelegt wird. Der Streit der Parteien um die Macht im Staat ist unvermeidlich an der »volonté de tous« ausgerichtet, so dass der Allgemeinwille marginalisiert wird. Damit entfernt sich jedoch die Demokratie vom Rechtsstaat und überlässt dessen Realisierung dem Zufall, es sei denn, die Bürger werden vom Staat selbst 204 | kapitel vi
zu Rechtsbürgern gebildet. Es gehört zu den essentiellen Aufgaben des freiheitlichen Staats, seine eigenen Voraussetzungen in Form einer aktiven Aufk lärung und Bildung permanent zu erneuern und sich nicht selbst um die Mündigkeit zu bringen. Schwierig ist allerdings, die um Mehrheiten werbenden Parteien an diese elementare Pflicht zu binden; es ist wenig werbeträchtig, die Infrastruktur einer demokratischen Gesellschaft zu erhalten und zu verbessern. Je stärker sich der aufgeklärte, d. h. lernfähige Allgemeinwille im Einzelwillen tatsächlich ausprägt, desto besser steht es um die Demokratie und ihre Abwehrkräfte gegen totalisierende Einflüsterungen. Die Zerstörung des Allgemeinwillens durch den Interessenwillen der Parteien, also die Orientierung an der faktischen, vielleicht schon manipulierten »volonté de tous« fi ndet in der Theorie ihr Pendant in der Uminterpretation des kategorischen Imperativs zum Gebot, die Maximen zu universalisieren.278 Der Test, den die Kantische Ethik angeblich fordert, sei die Prüfung, ob das, was ich aus meiner subjektiven Perspektive will, auch von allen anderen gewollt werden kann. Warum soll ich mich nach dem Willen aller als der »ultima ratio« richten? Es ist sichtlich dieselbe Destruktion der Kantischen Idee, wie sie in der Parteiendemokratie am Rechtsstaat vorgenommen werden kann. Der ideelle Allgemeinwille wird empirisiert und damit entstellt. Was bleibt? Die Klärung dieses Sachverhalts und die Erinnerung daran, dass die Empirisierung des Allgemeinwillens zur faktischen »volonté de tous« eine Gefahr für den Rechtsstaat bildet. Wer ist der Träger der Idee gegen den gefälligen Demokratismus? Kants Vorsehungsglaube führte ihn zu der Meinung, dass die Kultivierung, Zivilisierung und Moralisierung im Fortschritt begriffen sind und an Präsenz gewinnen. Welche Ressourcen hat die »volonté générale« gegen die »volonté de tous«? Hier zeigt sich, dass die Rechtswirklichkeit an eine Kultur der Vernunft und der Erkenntnis gebunden ist, die weder bei Rousseau noch Kant institutionell verankert ist. Sie zu realisieren ist ein erstrangiges Bildungspostulat der Demokratie.279 Auf Wunder ist nicht zu hoffen.
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d. Die mediale Lenkung der Öffentlichkeit Die öffentliche Selbstreflexion mündiger Bürger wird nicht mehr primär durch die souveränen Staaten und eine die Menschen beherrschende Kirche gefährdet oder zerstört, sondern durch Faktoren, die Kant noch nicht vertraut waren. Die anti-aufk lärerische Gewalt, die sophistisch die Öffentlichkeit vertritt und die Ziele der Aufk lärung in ihren Maskenspielen permanent repräsentiert und verrät, sind die Medien. Die pauschal so genannten Medien durchsetzen die Aktionsräume von Politik, Kultur, Wirtschaft, Finanzen. Kant dachte an eine Publikationsfreiheit, die für gelehrte Bücher und Aufsätze reserviert ist, die sich nicht in die gesellschaft lichen und politischen Belange direkt einmischen, sondern die grundsätzlichen Probleme in einer Metaebene diskutieren. Die intendierte Öffentlichkeit ist kritisch; an ihr partizipieren nur Gelehrte, die in den Zirkeln der Gelehrsamkeit neue Ideen oder Erkenntnisse vortragen und erörtern, immer unter dem Vorbehalt der Revision bei stärkeren Gegenargumenten. These: In der heutigen Öffentlichkeit spielen Kritik und Begründung so wenig eine Rolle wie in der Öffentlichkeit der mittelalterlichen oder absolutistischen Herrscher, die öffentliche Resonanzböden für ihre eigenen Interessen schufen. Die heutigen Medien kehren aus der Aufk lärung zurück in die Öffentlichkeit höfischer Interessen zur fürsorglichen Leitung ihrer Untertanen. Thron und Altar wollten keine Öffentlichkeit der Argumente, sondern der suggestiven Wörter und Bilder, nicht für mündige Bürger, sondern für gläubige Untertanen. Antithese: Die nationale und internationale Öffentlichkeit ist kritisch, wie es die intellektuellen Ressourcen überhaupt zulassen. Auch der Refrain, es gebe keine kritische Öffentlichkeit, darf bei jeder Gelegenheit publiziert werden. Bernard Stiegler stellt sein Buch Die Logik der Sorge. Verlust der Aufklärung durch Technik und Medien (2008) unter das Motto »Sapere aude! Habe Muth dich deines eigenen Verstandes zu bedienen, ist also der Wahlspruch der Aufk lärung.« Er analysiert den Fernsehsender Canal J, der die kindliche und jugendliche Aufmerksamkeit für den Markt kolonisiert und damit ein eigenes Mündigwerden zerstört. Das Programm der Medien betreibt direkt oder 206 | kapitel vi
indirekt die Entmündigung oder Infantilisierung der Bürger auf allen Kanälen. Kant forderte Publikationsfreiheit für den Austausch prinzipieller Meinungen unter den Gelehrten. Thema sollten ausschließlich vermeintliche Erkenntnisse sein, die zu beurteilen einer breiteren Öffentlichkeit und den staatlichen Behörden Kompetenz und Interesse fehlte. Der institutionelle Rückhalt lag in einer Universität, deren gelehrte Produkte durch die Fakultäten selbst statt durch staatliche Behörden zensiert werden sollten. So sollte die Zensur nicht aufgehoben, sondern nur aus der zentralen staatlichen, fachlich überforderten Behörde an die staatlichen Universitäten delegiert werden. Diese Vorstellung wurde gänzlich obsolet durch die Auflösung der Gelehrsamkeit als des Privilegs einer Zunft; faktisch operierte schon Kant mit einer Illusion, denn die Publikationen freier Schriftsteller wie Voltaire und Hume ließen sich nicht den schwerfälligen Zunftbehörden der Universitäten zuordnen. Die Universitäten waren zudem fast europaweit in einem Zustand, der die europäische Aufk lärung am ersten Tag ihrer Zensurtätigkeit liquidiert hätte. Auch die Reservierung der Publikationsfreiheit für die gelehrte Welt war prekär. Wie läßt sich eine sichere Grenze ziehen zwischen gezielter Agitation und gelehrtem Gedankenaustausch? Kants Texte selbst liefern für diese Schwierigkeit zwei Beispiele. Das erste ist die gewollt durchsichtige Verschleierung der Bezüge auf aktuelle politische Ereignisse. Die preußische Regierung bekämpfte die Französische Revolution, Kant befürwortete nicht sie selbst, aber ihr Ergebnis, sprach aber vernebelnd-treffsicher nicht von Frankreich, sondern von der »Revolution eines geistreichen Volks« (VII 85,19). Das zweite Beispiel ist die klare politische, wiewohl nur rechtsmetaphysisch vorgetragene Absicht, die despotische Staatsmaschine der europäischen Monarchien in republikanische Staatsorganismen zu transformieren. Das ist keine unmittelbare politische Einmischung und Attacke, aber eine langfristige Subversion des »status quo«. Also auch hier eine prekäre Grenzziehung zwischen Freiheit der Gelehrsamkeit und der tagespolitischen Presse. Mit der Integration der Publikationsfreiheit für gelehrte Meinungen in die generelle Pressefreiheit und deren technisch bedingte kritik und aufklärung | 207
Erweiterung zu einer allgemeinen Medienfreiheit tritt jedoch eine von Kant nicht vorhersehbare qualitative Änderung ein. Die Medien sind zu einer Macht gelangt, für die der Titel einer Vierten Gewalt ein Euphemismus ist. Sie ist nicht in die gewaltenteilige Republik integriert und deren Idee verpflichtet, sondern ist längst zu einer zweiten neuen Natur ausgewuchert. Die Medien reduzieren in ihren optisch und akustisch zugänglichen Kanälen die redundante Wirklichkeit auf bestimmte, leicht konsumierbare Teilstücke. Sie gestalten die Rezeption von kriegerischen Überfällen und friedlichem Land- und Stadtleben nach ihren eigenen Gesichtspunkten, sie modellieren Zuhörer und Zuschauer nach Opportunität und Marktanteil, sie dirigieren den Glauben und den Agnostizismus, die Tabus, die Verhüllungen und die Entblößungen, die Blödheit und das Gelächter, den Zuschnitt der Gesichter und die Stellung der Zähne. Zweifellos hat sich in einigen Ländern die kritische Aufk lärung in den Medien etabliert, die Zeitdosierung und Aufmerksamkeitszerstückelung wirken jedoch immer zugleich zugunsten der Gegenaufk lärung und Entmündigung nach günstigem Marktprofi l in homogener Konsumentensprache. Die Medien erlangen eine Macht der Meinungslenkung, die die hausbackene Beeinflussung durch die Kirche übertrifft und den Imperativ der Aufk lärung, sich seines eigenen Verstandes zu bedienen, zu einer neuen Bestimmung führt. Will man also die Aufk lärungsidee auch nach der Epoche der Aufk lärung erhalten, so muß sich der Imperativ auf den selbständigen Umgang mit den Medien beziehen. Das Aufklärungsgebot bezieht sich auf beides. Suche durch die Medien zu erfahren, wie es in der Wissensgesellschaft um die Welt bestellt ist, denn dein Handeln geschieht nicht in einem apolitischen Vakuum, sondern in einem bestimmten, schwer zu beurteilenden Kräftefeld; und suche zweitens der Entmündigung kritisch zu begegnen, denn sie sind durch die Einwirkung merkantiler und politischer Interessen grundsätzlich suspekt. Zu den traditionellen Topoi der Aufk lärung gehört die Warnung vor dem bloßen »man« gegenüber einer eigenen profi lierten, selbst begründeten Meinung; »man« geht, »ubi itur, non ubi eundum est«, wie es bei Horaz heißt und von Rousseau und vielen anderen Autoren zitiert wird. Die Medien produzieren Verhaltensmuster in 208 | kapitel vi
Serie und versehen sie mit dem Gütesiegel des »Selbst«, das sie eben dadurch stillschweigend und infam beiseite räumen. Die Steuerung der Bedürfnisse mit der Suggestion, sie seien tatsächlich meine eigenen, ist ein prekäres Gebiet, weil es das Selbst an sich und als solches nicht gibt und die Selbstbestimmung in den umherwirbelnden Lebensumständen nicht durch bewährte, dem Markt und den Medien entzogene Muster ermöglicht wird. Der Messdiener wurde nach dem fertigen Muster Priester oder Professor und konnte sich so wirkungsvoll über das »man« der Menge erheben. Diese Schablonen versagten schon immer, aber sie bewährten sich zum Schein in der bürgerlichen Gesellschaft. Es scheint so, dass es keine relativ stabilen schichtenspezifischen Orientierungen mehr gibt, sondern ein schnell wechselndes international ausgelegtes Angebot, in dem sich niemand mehr gegen das vulgäre »man« abgrenzen kann, sondern in es integriert ist, ob nun in der ersten oder der zweiten Klasse. Wenn die Medien rufen, komme alle.
e. Kritik der politischen Ökonomie Auf der Oberfläche läßt sich mit folgendem Schema operieren: Kant folgt den Vorstellungen von Adam Smith, der die neue, von den staatlichen Monopolen befreite Wirtschaft untersucht und Akteure findet, die nur den eigenen Interessen folgen. Aber wie kommt der Reichtum der Nation bzw. das Gemeinwohl zustande, wenn niemand es intendiert? Smith sieht in diesem Emergenzphänomen des Kapitalismus das Wirken der Natur oder der »invisible hand« Gottes. Marx möchte diese Funktion aus der dann doch allzu unsichtbaren Hand der Vorsehung in die Hände oder die Hand eines geeinten Proletariats legen; Lenin wird zum vorhersehenden einen Kopf der Arbeiter und Bauern. Dieser Lenin-Alptraum ist ausgeräumt, die Menschheit kehrt bestürzt und bescheiden zu Smith und Kant zurück. Was Kant im Hinblick auf Thron und Altar versuchte, ist nunmehr auszuweiten zu einem Projekt der Domestizierung des neuen »infâme«, des zügellosen Kapitalismus in Wirtschaft und Finanzen. Gilt hier ein neues »sapere aude«, wage es, Dich Deines eigenen ökonomischen Verstandes zu bedienen? Ersetzt die internationale Wirtschafts- und Finanzwelt die hausbackenen Feinde kritik und aufklärung | 209
Thron und Altar? Die politische Ökonomie ist ein Thema der praktischen Philosophie, weil die Ökonomie in einer fundamentalen Weise über das Personsein der Menschen befi ndet. Das »honeste vive«, auf das noch näher einzugehen ist, läßt sich nicht ohne Rücksicht auf die wirtschaft liche Lage des Menschen realisieren. Bei Kant selbst ist der Sektor einer Kritik der politischen Ökonomie ausgeblendet; weder Technik noch Ökonomie sind Zentren seiner Aufmerksamkeit; wenn vom Fortschritt gesprochen wird, dann vom Fortschritt der Metaphysik und Moral, nicht jedoch der sich anbahnenden Industrie und des Handels. Der Kathederkantianismus hielt sich besonders nach 1933280 an diese Regel, über Politik und politische Ökonomie nicht zu reden. Unter dem Stichwort »Was bleibt?« wird man jedoch auf die Gegenseite treten und für eine konsequente Anwendung der Aufk lärungsidee auch auf die Sphäre von Wirtschaft und Finanzen, also eine Kritik der politischen Ökonomie, plädieren. Kants Nichtbeachtung der Ökonomie – nachdem es eine Lehrtradition im Aristotelismus gab – mag darin begründet sein, dass die Ökonomie insgesamt jetzt zu den privaten, nicht mehr staatlichen Zwecksetzungen gehört, deren formale Rechtsstruktur philosophisch eminent wichtig ist, jedoch nicht das materiale Subsystem. Dieses ist Gegenstand einer Erfahrungswissenschaft, die von der apriorischen Notwendigkeitsphilosophie ermöglicht, nicht aber thematisiert wird. Zuständig ist allenfalls die Ethik. Nun kann man einen Gedanken aus der Rechtslehre von 1797 herausgreifen, um eine Verbindung von Kantischer Philosophie und politischer Ökonomie freizulegen. Alle Bürger, heißt es dort, seien rechtlich frei und gleich, sie zerfallen jedoch in aktive und passive Staatsbürger. Die letzteren sind entweder durch ihre Natur (Frauen, Kinder), durch ein Verbrechen oder durch den wirtschaftlichen Stand (keine eigenständige Berufstätigkeit) nur passiv; im Hinblick auf die letzte Gruppe sollen jedoch die Gesetze »nicht zuwider sein«, sich »aus diesem passiven Zustande zu dem activen empor arbeiten zu können« (VI 315,22–24). Kant macht in diesem Fall also die Selbständigkeit des »citoyen« im Staat an der Selbständigkeit des »bourgeois« in der bürgerlichen Gesellschaft fest (VI 314,17–315,22 und VIII 294,3–296,36), niemand wird behaupten wollen, dass diese schon 1793 oder 1797 schwer bestimmbare 210 | kapitel vi
Trennlinie im 21. Jahrhundert noch praktikabel ist; trotzdem bleibt die Forderung der Aufk lärungsschrift erhalten, dass gleiche und freie Staatsbürger auch aktiv an der Gesetzgebung mitwirken und so ein Stück rechtlicher Autonomie statt der gänzlichen Fremdbestimmung realisieren können. Eine Vorbedingung ist unsichtbar: Die Bildung und Bindung der Bürger an das Gemeinwesen; die Demokratie wird nur dann nicht zur Medien-Farce, wenn die Bürger erstens kompetent sind, die Materie der Gesetze zu durchschauen, und sich zweitens an das Wohl des Gemeinwesens gebunden fühlen. Es gehört zu den Aufgaben des Staats, diese Vorbedingungen seiner eigenen Dauer zu realisieren. In der Sphäre, in der hier Anknüpfungspunkte in der Ökonomie für kantgemäße Kritik und Aufk lärung namhaft gemacht werden sollen, lassen sich die Gründe nennen, die schon Fichte gegen den liberalen Handel geltend machte: Der Handel der entwickelten Nationen erzeugt eine rechtswidrige Abhängigkeit oder auch Unterwerfung in weniger entwickelten Nationen.281 Wenn diese Diagnose stimmt, enthält die Kantische Rechtslehre eine unaufhebbare Antinomie:: Aus Rechtsgründen ist die Möglichkeit des freien Handels notwendig – Aus Rechtsgründen ist die globale Expansion des Handels nicht möglich. Die Antinomie fi ndet sich in gleicher Weise im Finanzsystem. Limitiert auf ein begrenztes Gebiet, so Fichte, ist die Waren- und Geldzirkulation mit den Grundrechten der Menschen kompatibel; expandiert sie jedoch in weniger entwickelte Teile der Erde, erzeugt sie unweigerlich ein höchstes Unrecht, in dem sie die Völker ihrer Lebensgrundlage beraubt. Die Aufk lärung kann in diesem Dilemma keine Position beziehen, sondern dringt auf die Durchdringung der antinomischen Struktur. Einfacher scheint ein Aufk lärungsdesiderat bezüglich der universellen Folgen des ökonomischen Handelns für künft ige Generationen. Wenn im Sinn der Aufk lärung von einer Menschheitsgesellschaft gesprochen wird, kann sie nicht auf die Geschichte bis zum Zeitpunkt der Gegenwart begrenzt werden, sondern umfasst auch die Zukunft. Hat die künft ige Menschheit einen Rechtsanspruch, der durch gegenwärtiges Handeln lädiert werden kann? Wie läßt sich dieses Recht künft iger Generationen genau fi xieren und positivieren? kritik und aufklärung| 211
Subtiler ist eine Verbindung der Kantischen Aufk lärungsidee und der Ökonomie im Zentrum der Erkenntnis und ihrer Interpretation als eines Machens. Dies beginnt schon bei der Wahrnehmung. »Da die Zusammensetzung nicht in die Sinne fallen kann, sondern wir sie selbst machen müssen: so gehört sie nicht zur Receptivität der Sinnlichkeit, sondern zur Spontaneität des Verstandes, als Begriff a priori.« (XX 275,39–276,2) Sodann: »[…] daß, um die Möglichkeit eines Dinges zu beweisen es damit nicht gnug sey, in seinem Begriffe keinen Wiederspruch zu finden, sondern man müsse dessen Gegenstand im Verstande machen können, entweder, wie in der Geometrie, durch reine Anschauung (in der Construction des Begrifs) oder, wie in der Naturwissenschaft, aus dem Stoffe und nach den Regeln, die uns Erfahrung darbietet.« (XX 416,2–8) Der objektiv gegebene Raum ist endlich und wird gemacht (XX 420,15). Der Verstand ist eine Produktionsstätte von Erkenntnissen, die Johann Georg Schlosser abschätzig als »Formgebungsmanufaktur«282 bezeichnete. Die Auffassung der Erkenntnis als einer Operation des Herstellens geht in zwei Richtungen. Die eine ist die soziale der Mitteilung, die andere ist die von Kant nicht angesprochene Delegation der Herstellung an andere Produzenten als den Menschen. Die Mitteilbarkeit ist ein »terminus technicus« der Kantischen Philosophie. Das ästhetische Urteil muß allgemein mitteilbar sein (V 217,1 u. ö.); Gut und Böse sind Begriffe, die sich aufgrund der gesetzlichen Bestimmung »allgemein mittheilen lassen« (V 58,27). Ohne die ihr inhärierende Tätigkeit werde, wie Kant am 1. Juli 1794 an Beck schreibt, keine Erkenntnis »Anderen communicabel«. Wenn die Troglodyten in ihren Garküchen sitzen, ist ihre Lust rein privat und läßt sich nicht allgemein mitteilen so wie die Erkenntnis. »Wir können aber nur das verstehen und Anderen mittheilen, was wir selbst machen können.« (XI 515,10–11) Die qualifizierten Mitteilungen sind also Anweisungen zur Reproduktion des Gemeinten durch den Empfänger. Die von Kant nicht ausgeführte Richtung des Machens alles Verstehbaren wäre folgende: Wenn die Regel der Erzeugung einem materiellen Etwas implantiert wird, kopiert es die Erzeugung, auch ohne die mentale Einheit des Subjekts, die nach Kant für alles Erkennen und Verstehen benötigt wird. Die emphatische Rede 212 | kapitel vi
des Selbstdenkens kann nicht darüber hinweg täuschen, dass die Denk-Operation teilweise auch ohne das menschliche Selbst vollziehbar ist. Dies ist die Grundlage aller modernen Produktion; sie ahmt nur nach, aber sie funktioniert wunderbar. Es muß alles nur installiert werden, und schon alarmiert das Haus allein die Feuerwehr bei geringstem Brandgeruch, es schreit bei winzigen Geräuschen den Einbrecher an, so dass er tot umfällt, der Computer redigiert die Pläne zur Marslandung und informiert eine automatische Fabrik in China, dass gerade die vorletzten Exemplare eines Oberhemdes in München und Seattle gekauft werden und 1000000 neue zu produzieren sind etc. etc. Für alles ist die Regel des Machens und Nachmachens die entscheidende Funktion. Die Delegation des Selbstdenkens an die »Oberaufsicht« (VIII 35,21) von Staat und Kirche klingt harmlos neben der mentalen Enteignung durch Vorfabrikate der Gesellschaft. Hiermit kehren wir zurück zu unserem Zwischentitel der »Kritik der Ökonomie«. Die aufgeklärte Produktion ist an die Materie und Energie delegiert und sieht uns Selbstdenker unwiderruflich aus jedem Gerät entgegen. Das Delegieren selbst wird schon von den geringsten Organismen praktiziert, die Tiere und Menschen sind ohne die Delegation von Funktionen an unterschiedliche Teile nicht denkbar, und die gesamte Arbeitsteilung und maschinelle Produktion setzt die Naturvorgabe fort.283 Das Leben ist an die Delegation und das Überbieten in den Grenzzonen gebunden. Dieser zivilisatorische Naturprozeß läßt sich durch feine Worte und Begriffsdichtungen so wenig beeinflussen wie der Wasserfall durch die Gegenreden des Mynheer Pieter Peeperkorn und Peter Sloterdijk. Aber zur Aufk lärung gehört ein Begriff von dem, was vorliegt. Worauf dieser Naturprozeß des Machens und Delegierens am Ende hinausläuft , weiß keiner.
kritik und aufklärung | 213
VII. Die Würde des Menschen
Es wird dafür plädiert, daß ein unhinterschreitbarer Gedanke der Kantischen Philosophie in dem Konzept der Würde des Menschen besteht. Er bildet zugleich ein objektives Recht und eine subjektive Pflicht; seine Geltung ist unabhängig von theoretischen Erkenntnissen über die Natur des Menschen und des Kosmos, von theologischen und metaphysischen Konzepten über das Wesen des Menschen und von einer Relativierung gegenüber Tieren und ihrer genetischen Nähe. Die Bestimmung des Würdebegriffs ist jedoch außer durch diese Abgrenzungen schwierig; aber es lassen sich Läsionshandlungen benennen, die der Würde widersprechen, etwa die Folter. Die Würde ist unverhandelbar. Der Würdebegriff liegt den Menschenrechten zugrunde.284
1. Vorüberlegungen Daß jedem Menschen als Person schon vor der Geburt und nach seinem Tod eine Würde zukomme, ist ein gänzlich unantiker Gedanke und läßt sich wohl auch im Mittelalter nicht finden. Es gibt die »dignitas« des römischen Bürgers, Amtsträgers oder Greises, aber nicht die dem Menschen als solchem zukommende Würde. Es gibt ein experimentum crucis: Welchen Einwand hätten Platon und Aristoteles und der Heilige Thomas gegen den Vorschlag, dass ein zum Tode verurteilter Verbrecher für medizinische Experimente benutzt wird und so wenigstens auf diese Weise zum Wohl der Polis oder auch Menschheit bzw. der Christenheit beiträgt?285 Mit dem Gegensatz von Preis und Würde wird früh gespielt. »Demokrit sagte, er wolle lieber eine einzige ursächliche Erklärung fi nden, als dass ihm das Perserreich zueigen werde.«286 Hier, bei den Griechen, die Erkenntnis um ihrer selbst willen, dort die unermesslichen Reichtümer der asiatischen Despotie. Die Erkenntnis hat ihre Würde, der Reichtum und die Macht haben ihren Preis; die | 215
Würde läßt sich mit keinem Preis verrechnen. In der Stoa wird der Gedanke tradiert, dass der Mensch als Person eine Würde besitzt; er wird weitergereicht zu den Römern und zur Scholastik, verstärkt durch Bezüge zum Alten und Neuen Testament.287 In der Renaissance entstehen zahlreiche Traktate zur Würde des Menschen; u. a. schreibt Giannozzo Manetti (1396–1459) De dignitate et excellentia hominis (1452 verfaßt, 1532 publiziert); ihm folgt Pico della Mirandola (1463–1494) mit seiner später so betitelten Oratio de dignitate hominis, verfasst 1485, publiziert 1496; Kant dürfte keines der beiden Werke gelesen haben. In ihnen wird die »dignitas« als Kontrast zur »miseria hominis conditionis« herausgestellt, immer in der Vertikale zwischen Tier und Gott. Das Kantische Bezugsfeld ist dagegen einzig das der zwischenmenschlichen Handlungen. Die Würde bildet ein Abwehrrecht gegen andere Menschen, und sie ist zugleich eine persönliche Pfl icht der Selbstrealisierung. Die Pfl icht ist die Grundlage des gleichwohl angeborenen und unverlierbaren Rechts. »Die Würde des Menschen ist unantastbar«, formuliert das Grundgesetz der Bundesrepublik Deutschland (I, Abs 1) und kann sich dabei auf Kant berufen, nicht wortwörtlich, aber ganz in seinem Sinn. Habermas: »Menschenwürde ist ein moralisch definierter Rechtsbegriff. Er hebt aus der Moral der gleichen Achtung für jeden genau den Ausschnitt heraus, der in der Gestalt von Menschenrechten ausbuchstabiert werden kann und in der Form von Grundrechten positive Geltung erlangen soll. In der Idee der Menschenwürde sind die besonderen, statusgebundenen Ehrbegriffe der frühen Neuzeit egalitär verallgemeinert worden. Sie gebietet die Art von gleichem Respekt und gegenseitiger Anerkennung, die Bürger eines demokratisch verfassten Gemeinwesens einander als unvertretbaren Individuen schulden. Sie ist für den Sinn der Verfassungsordnung im Ganzen konstitutiv und steht nicht auf gleicher Stufe mit den Grundrechten, die diese Ordnung in verschiedenen Hinsichten spezifizieren. Nicht weil sie ›angeboren‹ wäre, ist die Menschenwürde ›unantastbar‹, sondern weil sie kein Grundrecht unter anderen ist und sich daher der üblichen Abwägung mit angeblich kollidierenden Grundrechten entzieht.«288 Im Folgenden sollen einige Gedanken Kants zusammen geführt werden, die in der Formel der Unantastbarkeit der Würde des Menschen ihren Ausdruck finden.289 216 | kapitel vii
2. Der Mensch als Zweck an sich Was ist ein Zweck? Nach Kant ein Geschehen oder Fabrikat, das zu seiner Hervorbringung einer antizipierenden Vorstellung von ihm bedarf. Die Möglichkeit von Zwecken hängt also ab von Wesen, die bestimmte Absichten haben und ihnen gemäß handeln und produzieren können. Die Rede vom Zweck ist analytisch verbunden mit der Frage, um wessen Zweck es sich handelt, wer das vorstellende Subjekt der »causa finalis« ist. Kants Rede vom Zweck an sich ist, so scheint es, ein hölzernes Eisen, etwa wie »Erscheinung an sich«. Doch zuvor noch ein Blick auf die relativen Zwecke. Bezogen auf die menschlichen Erkenntnisvermögen, ist die Relation von Ursache und Wirkung (»causa efficiens« im Gegensatz zur »causa fi nalis«) dem Verstand zugeordnet, während die Mittel-ZweckBeziehung zur Vernunft gehört. Nun kann man sich eine Welt denken, die von Wesen mit Verstand und Vernunft bevölkert ist, deren Zwecke jedoch so beschaffen sind, dass sie vorbehaltlos für den weiteren Gebrauch als bloßer Mittel zur Verfügung stehen. Sie verfügen nach späterer Terminologie nur über eine instrumentelle Vernunft; sie sind nach Kant bloß vernünft ige, jedoch keine Vernunft wesen. Wir kommen in der lebendigen Natur somit zur Dreiteilung von vernunft losen, bloß vernünft igen und Vernunftwesen.290 In der KdU wird von dieser Ordnung Gebrauch gemacht: Gäbe es nur vernunft lose Wesen, »so würde das Dasein einer solchen Welt gar keinen Werth haben, weil in ihr kein Wesen existirte, das von einem Werthe den mindesten Begriff hat. Wären dagegen auch vernünft ige Wesen, deren Vernunft aber den Werth des Daseins der Dinge nur im Verhältnisse der Natur zu ihnen (ihrem Wohlbefinden) zu setzen, nicht aber sich einen solchen ursprünglich (in der Freiheit) selbst zu verschaffen im Stande wäre: so wären zwar relative Zwecke in der Welt, aber kein (absoluter) Endzweck, weil das Dasein solcher vernünft igen Wesen doch immer zwecklos sein würde.« (V 449,2–10)291 Das Dasein der bloß vernünft igen Wesen mit ihren immer wieder relativen Zwecken wäre zwecklos, aber nicht unmöglich, Turbo-Wesen, die im Fluß der Erscheinungen keinen Halt, aber ihr Glück und Unglück fi nden. Sie müssen natürlich in der Mittel-Zweck-Findung frei sein oder besser: sich die würde des menschen | 217
frei vorkommen, jedoch nicht im ausgezeichneten Sinn der intelligiblen Freiheit unter dem Moralgesetz. Vernünft ige Wesen (wie etwa die Teufel) sind geeignete Biologen, da sie über den Zweckbegriff verfügen; sie sind also auch in der Lage, Naturzwecke oder Naturprodukte zu erkennen. Ein organisiertes Produkt ist nicht Endzweck oder Zweck an sich, aber »für sich selbst Zweck der Natur« (V 368,35), auch »an sich Naturzweck[s]« (V 375,17), dies wenigstens für die reflektierende Urteilskraft. »Ein organisirtes Product der Natur ist das, in welchem alles Zweck und wechselseitig auch Mittel ist.« (V 376,11–12) Wir sind haarscharf beim Zweck an sich und Reich der Zwecke, denn in der Pflanze ist nichts bloß Mittel, sondern zugleich auch Zweck. Was zeichnet den Menschen als Zweck an sich gegenüber dem aus, was »an sich selbst Naturzweck« ist und in einem von der Natur organisierten Mittel-Zweck-Verbund steht? Dass die Formulierung eines Zwecks an sich diese Zumutung mit sich führt, wusste Kant. Der Zweck an sich sistiert die menschliche Zirkulation von Mitteln und Zwecken und den Gebrauch der Zwecke bloß als erneuter Mittel zu anderen Zwecken im technischen und pragmatischen Umgang mit den Gegenständen und vielleicht auch Personen und stellt etwas heraus, was die Logik dieses Verhaltens umkehrt. Die Vernunft (des Vernunft wesens, nicht des nur vernünft igen Wesens) fordert einen Endpunkt der relativen Zwecke, einen Zweck aller Zwecke. Wenn es reine praktische Vernunft gibt, dann muß es etwas geben, »dessen Dasein an sich selbst einen absoluten Werth hat, was als Zweck an sich selbst ein Grund bestimmter Gesetze sein könnte« (IV 428,3–5). Das ist hier noch provisorisches »Postulat« (IV 429,35): Es ist der Mensch, der für jedes vernünft ige Wesen notwendig Zweck an sich selbst ist, subjektiv und objektiv, »weil ohne dieses überall gar nichts von absolutem Werthe würde angetroffen werden; wenn aber aller Werth bedingt, mithin zufällig wäre, so könnte für die Vernunft überall kein oberstes praktisches Princip angetroffen werden.« (IV 428,29–33) Nun stellt der Mensch notwendig sich selbst und andere Vernunft wesen als Dasein an sich selbst vor; also hat der kategorische Imperativ ein Subjekt als Zweck an sich selbst: »Handle so, daß du die Menschheit sowohl in deiner Person, als in der Person eines jeden andern jederzeit zugleich als Zweck, niemals bloß als 218 | kapitel vii
Mittel brauchst.« (IV 429,10–12) So konstituiert sich der Mensch als ein Wesen, das nicht rückhaltlos zur Verfügung steht, wenn denn die Vernunft gefragt wird. Diese Selbstkonstitution des Menschen als eines Vernunft wesens unterscheidet ihn von einem Zweck im Naturprodukt, das gewissermaßen noch im Naturschlaf befangen ist, während die Vernunft des Menschen hellwach ist. Der Grundgedanke in Kants Biologie, dass kein Glied ein in seiner Mittelfunktion verschleißbarer Teil ist, sondern immer auch der Zweck aller anderen, zeigt den Abstand vom Menschenreich der Zwecke: In ihm vereinigen sich in der Idee Vernunft wesen, die sich selbst und alle anderen als Zwecke setzen. Ihr Handlungsgesetz verbietet, andere Menschen nur als Mittel zu verschleißen, und gebietet, sie so weit wie möglich als zwecksetzende Wesen zu erhalten und zu fördern. Da diese Struktur ihrer eigenen Vernunft entspringt, sind sie paradoxerweise Zwecke an und für sich, unabhängig also davon, dass sie im Mittel-Zweck-System als Zweck aller anderen programmiert sind. Bei der Konsolidierung des Postulats zu einem erwiesenen Satz im dritten Abschnitt der Grundlegung setzt sich das Subjekt als sich frei wissendes Wesen außerhalb der Erscheinungen und kann sich dabei auf die Trennung von Ding an sich und Erscheinung in der KrV berufen. Erst hier wird die Rede vom Dasein an sich selbst und Zweck an sich nicht nur postuliert, sondern gewissermaßen objektiv fundiert. Der Zweck an sich ist zwar relativer Zweck und nicht nur Mittel, gewinnt sich jedoch darüber hinaus als Zweck an sich durch das eigene Freiheitsgesetz. Als freier Zweck an sich entzieht sich die Person einer phänomenalen Bestimmung durch vernünft ige Wesen und wechselt über zum noumenalen Dasein der Vernunft wesen.
3. »Sei ein rechtlicher Mensch (honeste vive)« Kant stellt diese Pflicht an den Anfang seiner »Allgemeinen Eintheilung der Rechtspflichten« (VI 236,19); die Einteilung folge dem Ulpian, also einem Autor des Corpus iuris civilis. Damit war die Zugehörigkeit des »honeste vive« zum Recht statt zur Tugendlehre autorisiert, aber Kant wusste, dass diese Zuordnung keineswegs die würde des menschen | 219
eindeutig war. Aus Ciceros Academica kannte er den Hinweis: »Honeste autem vivere, quod ducatur a conciliatione naturae, Zeno statuit fi nem esse bonorum, qui inventor et princeps Stoicorum fuit.«292 Nach Zeno also war das »honeste vive« das höchste sittliche Ziel überhaupt. Über die Frage, wohin nun eine Pflicht des Menschen gegen sich selbst gehört, ist viel geschrieben worden.293 Die Pfl icht wird erläutert durch den Satz: »Mache dich anderen nicht zum bloßen Mittel, sondern sei für sie zugleich Zweck.« (VI 236,27–28) Die Herkunft aus der allgemeinen Sittenlehre ist deutlich, denn die Formel, der Mensch sei nicht bloßes Mittel, sondern zugleich Zweck, wird von Kant in der Grundlegung entwickelt: »Handle so, daß du die Menschheit sowohl in deiner Person als in der Person jedes andern jederzeit zugleich als Zweck, niemals bloß als Mittel brauchst.« (IV 429,10–12) Diese Mittel-Zweck-Ordnung findet sich nach meiner Kenntnis weder in der antiken Ethik noch Rechtslehre noch sonstwo vor Kant. Der Imperativ in der Grundlegung richtet sich auf ein Handeln im Hinblick auf alle Vernunft wesen überhaupt, in der Rechtslehre ist hier die einzelne Person dagegen Subjekt und alleiniges Objekt: Handle so, dass die anderen dich nicht misshandeln und nur als Mittel gebrauchen.294 Eine paradoxe Pfl icht: Ich soll verhindern, dass andere mich mißhandeln! Mit dieser Selbst-Pflicht bewegen wir uns, so scheint es, in der Tugendlehre. Es heißt jedoch erläuternd: »Diese Pfl icht wird im folgenden295 als Verbindlichkeit aus dem Rechte der Menschheit in unserer eigenen Person erklärt werden (Lex iusti).« (VI 236,28–30) Die Pflicht wird also ausdrücklich auf eine Rechtsbasis gestellt. Außerdem ist sie als kategorischer Imperativ unabhängig von dieser Erklärung. Rousseau formuliert das Paradoxon, dass der Staat den Bürger notfalls zur Freiheit zwingt: »[…] que quiconque refusera d’obéir à la volonté générale y sera contraint par tout le corps: ce qui ne signifie autre chose sinon qu’on le forcera d’être libre; […].«296 Er nimmt das alte Motiv auf, dass alle Menschen frei geboren seien, und läßt, so können wir interpretieren, den Staat seine Bürger notfalls durch Zwang zu dieser Freiheit führen. Der Imperativ des »honeste vive« richtet sich zwar an das einzelne Subjekt in Form einer inneren Selbst-Pflicht, der Bürger kann 220 | kapitel vii
jedoch kontrollierbar gegen sie verstoßen und dann rechtlich gezwungen werden, den Zustand der Selbsterniedrigung zu verlassen, etwa im Fall der Prostitution, die von der Person freiwillig eingegangen und vom Rechtsstaat mit Zwang unterbunden werden kann. Im »honeste vive« verbindet sich das angeborene, nicht verlierbare Recht der Menschheit in unserer Person mit der Pfl icht, diesem als einem Abwehrrecht Geltung zu verschaffen, es gewissermaßen selbst zu erwerben, um es zu besitzen. Bevor wir diese paradoxe Selbst-Pflicht näher erläutern, soll die Frage gestellt und beantwortet werden, warum diese Rechtspfl icht in der »Einleitung in der Rechtslehre« steht, also vor dem Privatund öffentlichen Recht. Alle Rechte und Pfl ichten, die in diesen beiden Bereichen entwickelt werden, betreffen die Beziehung zwischen Personen. Nun korrespondieren allen Rechten bestimmte Pflichten anderer; von den Pfl ichten gilt jedoch die alte Regel, dass sie den Menschen nicht einfach von außen treffen wie irgendeine Gewalt, sondern der Mensch sie sich selbst zuzieht, »omnis obligatio sibi contracta est«. Wer in die Rechts- und Pfl ichtenwelt mit seiner natürlichen Mündigkeit integriert wird, muß sich in einer normativen Selbstreferenz dazu qualifi zieren, Korrespondent von Rechten und Pflichten zu sein. Selbst der Verbrecher, der das Rechte-Pfl ichten-System soweit an ihm ist zu zerstören versucht, tut dies als Glied der Rechtsgesellschaft, nicht als Holzklotz oder Tier. Diese Reflexionsstufe erreichen weder John Locke noch Rousseau.297 Konkret betrifft die Rechtspflicht den Ausgang aus dem Naturzustand in den »status civilis«; im Staat wird die Rechtsperson im Grundsatz davor geschützt, nach Belieben die Beute anderer zu werden. Als allgemeine Rechtspflicht läßt sich das Bedeutungsfeld erweitern zur Pfl icht, auf die Realisierung oder den Erhalt von Verhältnissen hinzuwirken, in denen die Rechtsperson geachtet und nicht zum bloßen Mittel entwürdigt wird. Der Status der Rechtsperson mit ihrer unantastbaren Würde ist keine Naturgabe, sondern muß moralisch durch die Personen selbst erworben und erhalten werden. Sie ist jedoch angeboren, unverletzlich und unverlierbar.298 Das Paradoxon löst sich so auf: Als freie Vernunft wesen sind wir qua homo noumenon mit einer unverlierbaren Würde die würde des menschen | 221
ausgestattet; als sinnlich affi zierte Menschen unterliegen wir der Pflicht, dieser Würde gemäß zu handeln.
Weitere Bestimmungen der Kantischen Würde-Idee Innerhalb der früheren und jetzigen Debatte299 lassen sich folgende Grenzen ziehen: A. Kants Würde-Konzept ist unabhängig von theoretischen Erkenntnissen über das Universum, die Stellung des Menschen in ihm, die biologische Konstitution des Menschen, seine Physiologie und Psychologie. B. Sie ist des weiteren unabhängig von aller Theologie, Offenbarung und metaphysischen Wesenserkenntnissen. C. Sie stellt den Menschen nicht in eine Konkurrenz mit Tieren und deren nur durch uns formulierbaren und realisierbaren Würde-Ansprüchen. A. Die Aufforderung des »honeste vive« und die korrespondierende Würde sind als kategorischer Imperativ unmittelbar bewusst und bedürfen daher keiner mittelbaren theoretischen Erkenntnisse. Die Unmittelbarkeit der Forderung der Selbstachtung und Menschenachtung entspricht dem Raum- und Zeitbewußtsein als unmittelbarer Anschauungen; sie sind durch keine begriffliche Erkenntnis einem Wesen zu vermitteln, das über diese Anschauungen nicht verfügt. Hierin liegt die Trennung von theoretischer und praktischer Vernunft; die KpV setzt mit dem kategorischen Imperativ genau an der Stelle ein, an der in der KrV die Anschauung steht. Legt man dies zugrunde, dann ist die Geltung des Würdeanspruchs durch keine theoretische Erkenntnis über den Urknall, über die Gewichtlosigkeit unseres seinsvergessenen Daseins im Weltall, über unser Elend als bloßer Pilze auf einem Kleinstplaneten, über den Menschen als Schatten eines Schattens zu relativieren. Das mag alles wahr und beeindruckend und bedrückend sein, aber davon ist jetzt keine Rede. B. Etwas so Übersinnliches wie die Würde und die Pflicht »Sei ein rechtlicher Mensch« treibt den Menschen, wenn es dafür im gesamten Universum keine atomare Stütze gibt, ins gerade Gegenteil, das Jenseits. Die Würde wird als verloren beurteilt, wenn sie nicht fundiert wird im Glauben an Gott, in einer bestimmten Offenbarung oder in einer metaphysischen Wesenserkenntnis des Men222 | kapitel vii
schen. Wer hier Zweifel äußert, zimmert schon an einem neuen Auschwitz, lautet die unverhohlene Drohung. Die Pflicht und das Recht, von denen bei Kant die Rede ist, sind dagegen nicht in einer privilegierten Jenseits-Erkenntnis begründet, sondern beziehen sich nur auf das Verhältnis der Menschen zu sich selbst und zu anderen in moralischer Hinsicht. Wenn es überhaupt Moral gibt, dann ist sie universell und unabhängig von den vielen Religionen oder dem Wesenswissen von Schriftgelehrter. C. Es mag sein, dass unsere Gene zu 99% mit denen anderer Primaten identisch sind, dass einige Primaten einen fast aufrechten Gang von Ast zu Ast erreichen; die praktische Vernunft ist jedoch an eine verstandesmäßige Infrastruktur gebunden, für die es bei den Tieren keine Anzeichen gibt. Daher können nicht sie uns, wohl aber wir ihnen einen würdeähnlichen Status erteilen und sie entsprechend nicht als Sachen, sondern beseelte Lebewesen behandeln. Adorno bejammert, die Würde sei »Selbsterhöhung des Tiers Mensch über die Tierheit.«300 Ganz richtig; aber diese Selbsterhöhung schließt nicht aus, dass die Tiere wegen ihrer Schönheit und Stärke bestaunt und wie Freunde behandelt werden, dass der Naturschutz sich zunehmend gegen ihre grausame Behandlung in allen Geschichtsphasen und Ländern wendet, dass ihre artgerechte Haltung angestrebt und in vielen Fällen auch erreicht wird. Soviel zur Außenabgrenzung. Sucht man nun, die Sache selbst näher zu bestimmen, gerät man in größte Schwierigkeiten, jedoch in keine aussichtslose Lage. Wie bei Kant das äußere Mein und Dein durch den Charakter der Lädierbarkeit bestimmt wird (VI 245,9–11), so läßt sich die Realität der Würde des Menschen durch eine eindeutige Läsion verifi zieren: die Folter. Kant nennt ein anderes Beispiel, auf das schon verwiesen wurde: »Was soll man also von dem Vorschlage halten: einem Verbrecher auf den Tod das Leben zu erhalten, wenn er sich dazu verstände, an sich gefährliche Experimente machen zu lassen, und so glücklich wäre, gut durchzukommen; damit die Ärzte dadurch eine neue, dem gemeinen Wesen ersprießliche Belehrung erhielten? Ein Gerichtshof würde das medicinische Collegium, das diesen Vorschlag thäte, mit Verachtung abweisen; denn die Gerechtigkeit hört auf eine zu sein, wenn sie sich für irgend einen Preis weggiebt.« (VI 332, 3–10)301 die würde des menschen | 223
Hier wird die objektive praktische Realität des Person- und Würdebegriffs an der Läsion erkennbar. Die positive Bestimmung ist zwar schwieriger, aber nach diesem ersten Schritt unverzichtbar. Es ist im Einzelnen zu bestimmen, wann das menschliche Leben und damit das Dasein der Person beginnt und wann es endet, wie mit Embryonen und wie mit Komapatienten zu verfahren ist. Damit wird die Frage »Was bleibt?« beantwortet. Gegen die Versuchung, den Menschen als bloße Sache zu bestimmen, steht die Idee Kants, der »den Menschen als sittlich gebundenes, freies Wesen beschreibt, das niemals nur als Objekt oder Mittel gebraucht werden darf. Somit ist Kants Moralphilosophie die eigentliche geistesgeschichtliche Quelle des Bundesverfassungsgerichts, wie überhaupt auf ihn die Bestimmung des Menschen als geistig-sittlichen Wesens zurückgeht, die Begründung der Menschenwürde aus der sittlichen Autonomie des Einzelnen, aus dessen Fähigkeit zu verantwortlicher Selbstbestimmung.«302
4. Epilog und Anfang: Kant als Rebell gegen die Gesellschaftsordnung 1781 schrieb Kant in der ersten Auflage der KrV: »Unser Zeitalter ist das eigentliche Zeitalter der Kritik, der sich alles unterwerfen muß. Religion, durch ihre Heiligkeit, und Gesetzgebung durch ihre Majestät, wollen sich gemeiniglich derselben entziehen. Aber alsdann erregen sie gerechten Verdacht wider sich und können auf unverstellte Achtung nicht Anspruch machen, die die Vernunft nur demjenigen bewilligt, was ihre freie und öffentliche Prüfung hat aushalten können.« (A XI) Kirche und Staat sind die Adressaten der Aufk lärung, und die Rechtsphilosophie der Metaphysik der Sitten richtet sich ebenso wie der Streit der Fakultäten (2. Abschnitt) gegen den Despotismus und plädiert für eine gewaltenteilige Republik, die Religion innerhalb der Grenzen der bloßen Vernunft möchte die Menschheit von der Kirche des Offenbarungsglaubens zu einer Kirche der reinen Sittlichkeit führen. Die KrV selbst wurde, wie wir sahen, als Revolution der Philosophie interpretiert und später mit der Französischen Revolution verglichen. 224 | kapitel vii
Kant tritt jedoch nicht als Kritiker der gesellschaft lichen Ordnung auf, auch nicht in den genannten späteren Schriften. Anders in den privaten Notizen, die er in seinem mit leeren Blättern durchschossenen Exemplar der Beobachtungen über das Gefühl des Schönen und Erhabenen (1764) niederlegte. Wer dem Willen eines anderen unterworfen ist, ist verächtlich (XX 66,3–6)303; ein anderer darf nicht »sein« nennen, was ich gearbeitet habe (67,6– 8); in unseren Verfassungen ist ein jeder Mensch verächtlich, der eine Livree trägt (93,23–25); wenn »wir zu den Bedürfnissen die Arbeiten eines andern zählen, warum nicht auch seine Frau« (98,14–15). Es sind Gedankenexperimente, die nicht zur Ausführung bestimmt sind, sondern zum Auffi nden einer gerechten Gesellschaftsordnung. Ihr Autor war weise genug, sie nicht zu publizieren. Kant verhielt sich zeitlebens loyal zu den Institutionen, in denen er lebte: Die Universität, die Stadt, der Staat. Er hätte dem Ruf nach Erlangen oder Halle folgen können, aber wie Sokrates in Athen verblieb, so Kant in Königsberg;304 es ist keine Kritik je bekannt geworden, mit der er sich öffentlich oder in seiner Amtsführung als Ordinarius, Dekan und zweimaliger Rektor gegen seine Universität gestellt hätte.305 Er mußte die soziale und rechtliche Katastrophe in Preußen im Siebenjährigen Krieg ebenso wie Lessing zur Kenntnis nehmen, er wusste von der Drangsalierung der Soldaten in der preußischen Armee. Der preußische Soldat war rechtlos, die Staatslosung »suum cuique« galt für ihn nicht, denn er konnte z. B. das Erbe seiner Eltern nicht antreten, hatte keine Beschwerdemöglichkeit und befand sich in derselben Situation wie der Angehörige eines Strafbataillons eines beliebigen Staats. D. h. die preußische Armee bestand unterhalb der adligen Offi ziersränge aus Sklaven im Staatsbesitz. Das Spießrutenlaufen muß auch in der Königsberger Garnison stattgefunden haben. Kant sagte dazu nichts in seinen Briefen oder Publikationen. Die Bemerkungen sprechen jedoch eine andere Sprache. In seinen privaten Notizen der Jahre 1764–1765 lodert eine Empörung, die in den Druckschriften und Briefen nicht gezeigt wird. Die zitierten Sätze zeigen, dass Kant zwei Fundamente der Gesellschaftsordnung in Frage stellt, einmal die Feudalherrschaft , zum anderen, weiter reichend, die Appropriation der Arbeitsprodukte durch die Besitzer der Produktionsdie würde des menschen | 225
mittel. Es lohnt sich, die einschlägigen Passagen der Bemerkungen näher zu betrachten. Auch hier fehlt, was Voltaire als der erste europäische Intellektuelle vorführte: Das Benennen eines Einzelfalles, Jean Calas, und eines exemplarischen »J’accuse«306. Kant bleibt auch in seinen privaten Anklagen immer im Allgemeinen, er macht keinen konkreten Vorfall publik, wie es ihn in Preußen ebenso wie in Frankreich gab. Auch bei Kant wirkt die Loyalität des Untergebenen zur politischen Ordnung; seine Haltung ist verbunden mit der Meinung, dass der ungestörte Gang der Dinge notwendig zur Selbstabschaff ung des Unrechts führen werde und jede Einmischung im Einzelfall den Fortgang nur hindere; zudem werde die Aufk lärung in der Sphäre des Allgemeinen, wie er sie betrieb, bis hin zu den Thronen dringen und die allmähliche Änderung fördern.
Die Bemerkungen als literarisches Dokument Die Bemerkungen sind als Notizen in Kants eigenem, mit leeren Seiten durchschossenem Exemplar der Beobachtungen über das Gefühl des Schönen und Erhabenen in verschiedenen Publikationen vorgestellt worden, ich nenne nur die Einleitung der Edition im Rahmen der Akademie-Ausgabe durch Gerhard Lehmann (XX 471–475) und die Darlegungen von Marie Rischmüller in ihrer Neuausgabe im Band 3 der Kant-Forschungen (1991). Es kann hier nicht versucht werden, diesen kompetenten Darlegungen neue Erkenntnisse entgegen zu stellen. Wichtig ist der neue Titel der Rischmüller-Ausgabe: Es handelt sich bei den Notizen im durchschossenen Autorexemplar der Beobachtungen nicht um »Bemerkungen zu« diesem Text, sondern um inhaltlich ungebundene »Bemerkungen in« ihm. Daher ist Lehmanns Titel »Bemerkungen zu den Beobachtungen […]« irreführend, und der Abdruck dieser Beobachtungen in der Akademie-Ausgabe Band XX (außer in Band II) sinnlos; man kann leicht feststellen, dass es keine Entsprechungen zwischen dem Text der Bemerkungen und dem Begleittext der Beobachtungen gibt. Sehr wohl finden sich viele inhaltliche Affinitäten, aber die Ausführungen der Bemerkungen lassen von sich aus nicht darauf schließen, dass sie Bemerkungen zu einem anderen Text sein sol226 | kapitel vii
len. Die Bemerkungen, die uns interessieren, haben auch in ihrer kritischen Tendenz nichts mit den amüsanten Beobachtungen zu tun, sondern gehören zu einem anderen philosophischen Genre, das ganz von der Rousseauschen Kontrastierung der damaligen Gesellschaft und der Ordnung der Natur bestimmt ist. Wir gehen so vor, dass wir unsere Aufmerksamkeit auf einen kurzen Abschnitt richten, der einem rechtsphilosophischen Problem gewidmet ist und eine gewisse kompositorische und gedankliche Einheit darstellt. Es ist der Text XX 65,21–68,8, in der Ausgabe von Marie Rischmüller (Kant 1991) S. 52 (»Der Grund der […].«) bis S. 54 (»[…] gemäß zu seyn.«).
Der Aufbau und das philosophische Bezugsfeld der ausgewählten »Bemerkung« Thema ist der Selbstbesitz des Menschen aufgrund seiner spontanen Willkür. Sie macht das eigentliche Ich aus und kann nicht ohne Widerspruch veräußert werden. Auf die unveräußerliche freie Willkür folgt der eigene Leib, der Teil des Ich ist, weil er von der Willkür bewegt wird. Drittens dann die Welt. Es ist möglich, sich Weltteile durch eine eigene Tat anzueignen, das äußere Seine »gehört durch die Handlungen seiner Willkühr gleichsam zu seinem Selbst.« (67,3–4) Kinder sind im Sachbesitz der Eltern, so lange sie keine eigene freie Willkür haben. Kant geht also von einer inneren Bestimmung, der Willkür, nach außen zum eigenen Leib und dann den äußeren Gegenständen in der Welt. Hier begegnen sich im Mein und Dein verschiedene Menschen und bedürfen eines Grenzkriteriums des Eigentums. Kinder stehen zwischen den Menschen und den Weltdingen, weil sie zwar Menschen sind, aber noch nicht über eine freie Willkür verfügen. Wir finden also eine klassische Bewegung von innen nach außen, wie sie z. B. von Descartes in umgekehrter Richtung in den Meditationen praktiziert wird. Der methodische Zweifel beginnt bei den äußeren Weltdingen, geht über den (vielleicht gläsernen) eigenen Leib und erreicht dann die innere Evidenz, etwa in Rechenoperationen. Die vierte Position wird vom nicht bezweifelbaren Zweifel selbst eingenommen. Kant geht umgekehrt aus von der inneren die würde des menschen | 227
Willkür und gelangt über den Leib zu den äußeren Weltgegenständen, während die vierte Position vom Kind, einem Mischwesen zwischen Sache und Person, eingenommen wird. Wie bei Descartes gewährleistet der vierteilige Aufbau eine gewisse Vollständigkeit. – Wir lassen die eingestreuten Bemerkungen zur Gesetzgebung Gottes fort, weil sie den Hauptgedanken nicht berühren. Die Überlegungen sind rechtsphilosophischer Natur, die jedoch nicht in der Tradition des römischen Rechts und des Naturrechts von Gottfried Achenwall entwickelt werden, sondern zur neostoischen Natur- und Selbstphilosophie gehören. Wir werden diese Beziehung näher aufweisen, zumal sie den Philosophiehistorikern des 18. Jahrhunderts meist unbekannt ist. Die Aussage in unserem Abschnitt, ein bestimmter Gegenstand gehöre gleichsam zum Selbst dieses oder jenes Menschen, ist ohne die stoische oikeiosis-Lehre nicht möglich; der spätere Kant wird sie nicht mehr wiederholen. In der folgenden Darstellung werden wir einzelne Problembereiche aus dem fortlaufenden Text herausgreifen und kommentieren.
Die freie Willkür bzw. der freie Wille In den Bemerkungen vertritt Kant folgende Position: Ich kann entweder gänzlich meine Handlungen aus freier Willkür bestimmen, ich kann jedoch auch einen Grad meiner Freiheit aufgeben oder sie drittens gänzlich opfern. Im letzten Fall trete ich in den Zustand der Sklaverei. Sklave zu sein ist hässlich und verächtlich, weil »unvollkommen u. wiedersprechend« (66,4). Hier wird also ein Subjekt konzipiert, das in der vollkommenen Verfügungsgewalt der eigenen Willkür verbleiben kann und soll. Jede private und jede herrschaft liche Unterwerfung sind Einbußen an der anthropologischen Grundbestimmung völlig freier Willkür. Wo fi nden wir ein solches Wesen? Man kann an Rousseaus »homme de nature« denken, aber auch an den stoischen Weisen, der sich gänzlich selbst bestimmt und völlig autonom ist. Der stoische Weise ist »bey der Natur« (66,7), er lebt »naturae convenienter« und eben dadurch aus eigener Willkür, die nichts anderes ist als seine eigene Natur. Kant selbst gibt keine näheren Anhaltspunkte, wie und wo der völlig selbstbestimmte Mensch zu denken oder anzutreffen ist, sondern 228 | kapitel vii
läßt es bei dieser Andeutung. Wer sich jedoch ein wenig in der europäischen Reflexionsgeschichte auskennt, hat hier schon ein sicheres Kennzeichen stoischer Philosophie, also: Nicht Platon, nicht Aristoteles, nicht die Scholastik, sondern der Neostoizismus, wie wir ihn auch bei John Locke und Jean-Jacques Rousseau finden.307 Dieses Ideal der gänzlichen Selbstbestimmung erfährt, wie schon gesagt, zwei Formen der Einbuße, eine partielle und eine totale. »Der Grad der potestatis legislatoriae setzet die Ungleichheit voraus u. macht daß ein Mensch gegen den andern einen Grad Freyheit verliert. Dieses kann nur geschehen wenn er seinen Willen selber eines andern seinem aufopfert wenn er dieses in Ansehung aller seiner Handlungen thut so macht er sich zum Sclaven.« (65,24–66,3) Vorausgesetzt ist in beiden Fällen die jetzt herrschende »Ungleichheit« unter den Menschen, wie Rousseaus 2. Discours von 1755 schon im Titel festhielt, in dem es um die »inégalité parmi les hommes« ging. Die Menschen geraten in ein System der Abhängigkeit; Kant wählt in einer späteren Bemerkung als Beispiel der partiellen Abhängigkeit die Dienerschaft beim Adel. »Auch in unsern Verfassungen ist uns ein jeder Mensch verächtlich der in einem großen Grade unterworfen ist – Liverey.« (93,23–25) Als Diener verliert der Mensch einen hohen Grad seiner Freiheit und wird verachtet, weil er nicht mehr im eigentlichen Sinn des Wortes ein Mensch ist. Es ist die Zeit von Sturm und Drang und der kühnen rebellischen Wörter. Nimmt man Kants Deklaration ernst, dann sind alle Dienstverhältnisse als rechtswidrig sofort aufzulösen, die Ungleichheit unter den Menschen wäre mit einem Streich abgeschafft und der Mensch in seiner eigentlichen Natur wieder hergestellt. Die Ständegesellschaft hindert die Menschen daran, sie selbst, Menschen, zu sein. Sie ist widersprüchlich, und der logische Widerspruch äußert sich ästhetisch in der Hässlichkeit (66,6) und moralisch in der Verächtlichkeit (66,6).308 Die Kritik von Kant ist wahrhaft radikal, die bestehende Gesellschaft läßt sich in keinem Punkt retten. Wer seine eigene Willkür gänzlich an einen anderen entäußert, macht sich zum Sklaven. Dies ist ein häufig wiederholter Vorwurf gegen den Absolutismus oder Despotismus Hobbesscher Prägung, bekannt sind die an die Tore der Paläste gehämmerten die würde des menschen | 229
Sätze Rousseaus: »Renoncer à sa liberté c’est renoncer à sa qualité d’homme, aux droits de l’humanité, même à ses devoirs. Il n’y a nul dédomagement possible pour quiconque renonce à tout. Une telle renonciation est incompatible avec la nature de l’homme, et c’est ôter toute moralité à ses actions que d’ôter toute liberté à sa volonté.«309 Der Verzicht auf die Freiheit ist unvereinbar mit der menschlichen Natur – hier konnte Kant die Grundlage für seine eigene Analyse finden.
Der Leib »Der Leib ist mein denn er ist ein Theil meines Ichs und wird durch meine Willkühr bewegt.« (66,11–12) So wie meine Willkür mir von Natur gänzlich zu eigen ist, so auch mein Leib als das unbezweifelbare erste Einflussgebiet des Willens. Der Leib ist mein, weil er von meiner Willkür durchdrungen ist und meinen Willkürbestimmungen in den äußeren Handlungen unmittelbar folgt. Die Selbstverfügung über meinen Leib kann nicht wegräsonniert werden, indem man den Leib zur »res extensa« schlägt und nur die »res cogitans« als Hoheitsgebiet des »ego« erklärt. Diese rein rationale Möglichkeit scheitert, wenn der Wille und nicht die »cogitatio« als unbezweifelbarer Ausgangspunkt gewählt wird. Wir mögen es verstehen oder nicht: Unser Körper ist zu einem großen Teil mit den willentlichen Impulsen so verknüpft, dass ich den Arm hebe, wenn ich es will. Wer also den Leib enteignen will, enteignet das Ich von sich selbst und begeht etwas Widersprüchliches. Das Argument ist rein naturalistisch; setzt man die freie Willkür als ein natürliches Vermögen des Menschen (wir ergänzen: und nicht der Tiere) an, so folgt das Mein-Sein des Leibes auf Grund der unmittelbaren Verknüpfung von Willkür und Körper, nach früherer Auffassung: Von Seele und Leib. Ich selbst stecke gewissermaßen ganz in meinem Leib, soweit und weil er eine natürliche Domäne meines Willens ist. In der Metaphysik der Sitten gibt es kein gesondertes Kapitel über den Leib des Menschen, das Wort begegnet eher zufällig einmal in der Tugendlehre (VI 452,17). Es wird jedoch durchgängig 230 | kapitel vii
vorausgesetzt, dass das moralische Subjekt in seinem Leib präsent ist und dadurch Rechts- und Tugendpflichten entstehen. Die Frage, wie die Präsenz der Person in ihrem Leib zu denken ist, ist für die Metaphysik der Sitten nicht mehr einschlägig, während die Bemerkungen dafür eine Lösung durch die Willens-Theorie anbieten.
Die Welt Hier beginnen die eigentlichen Schwierigkeiten. Wie ist es möglich, von einem Mein und Dein im Hinblick auf Weltteile zu sprechen, die getrennt existieren von meiner Willkür oder meinem eigenen Leib? Wie kann der Apfel, den ich nicht in meiner Hand halte, meiner sein? Er liegt jetzt dort hinten, folgt also nicht meiner Willkür wie mein eigener Körper, und trotzdem: Ich behaupte, er sei mein. Wie läßt sich diese Paradoxie lösen? Wo liegt der legitimierende Ursprung des Eigentums? Ist es die »prima occupatio«, der gemäß diejenige Person als Eigentümer gelten soll, die eine Sache zuerst entdeckt und in Besitz genommen hat? Oder ist es die Entscheidung des Papstes in Rom, der in aller Demut den Spaniern diese und den Portugiesen jene Länder zuspricht, indem er eine Linie auf der Landkarte zieht? Oder soll man überhaupt auf Eigentum verzichten, wie einige Kirchenväter wollen, die in der Einführung des trennenden »meum« und »tuum« das Grundübel der Menschheit sahen? »Die gantze belebte oder unbelebte Welt die nicht eigene Willkühr hat ist mein in so fern ich sie zwingen u. sie nach meiner Willkühr bewegen kann.« (66,12–14) Dies ist gewissermaßen das Axiom oder Grundpostulat der Weltaneignung durch die Individuen. Was mein sein soll, muß meiner Willkür unterworfen sein. Die Willkür erweitert sich also über den eigenen Leib hinaus auf andere Dinge, und sie tut dies nicht durch irgendwelche Linien auf Landkarten im Vatikan, sondern durch die willentliche reale Ausübung eines Zwanges oder einer Bewegung auf die Dinge des möglichen oder wirklichen äußeren Mein oder Dein. Die Aneignung geschieht nicht symbolisch und durch Deklarationen, sondern werktätig durch den eigenen Leib in der Auseinandersetzung mit den Naturdingen. Aber gibt es dann nicht ein Mein und Dein die würde des menschen | 231
bei Lebewesen der niederen Natur? Gehört dann nicht das Wespennest den Wespen und der Biberbau den Bibern? Wir werden darauf achten müssen, wie Kant diesen bloß naturalen Besitz vom menschlichen Eigentum unterscheidet. »Die Sonne ist nicht Mein. Bey einem andern Menschen gilt dasselbe, also ist [sie? RB] keines Eigentum eine proprietat oder ein ausschliessendes Eigenthum.« (66,14–16) Keines Menschen Willkür kann die Sonne von ihrer Bahn abbringen, also gehört sie niemandem. Hier gibt es keine Zugriffsmöglichkeit und keinen Konflikt unter den Menschen. Bei der Sonne ist dies bis heute so; beim Mond liegen die Dinge inzwischen anders, da gibt es seit dem 20. Juli 1969 eine nationale Flagge, die allen anderen Nationen sagt, dass dieses Territorium durch Anlandung nicht eigentlich in Besitz genommen, aber doch zum ersten Mal beflaggt wurde; Kolumbus zeichnete 1492 die Insel Santa Maria durch die spanische Flagge als das neue Herrschaftsgebiet der Reyes Católicos aus. Aber wie steht es mit der irdischen »natura inferior«, die wir physisch unserer Willkür unterwerfen können, so dass es nur noch das Problem der Begrenzung gegen die Willküransprüche anderer gibt? Der Text lautet: »In so fern ich aber ausschließungsweise mir etwas zueignen will so werde ich des andern Willen wenigstens nicht gegen den meinigen oder nicht seine That wieder die Meinige voraussetzen. Ich werde also die Handlungen ausüben die das mein bezeichnen den Baum abhauen ihn zimmern p.p. Der andre Mensch sagt mir das ist sein denn es gehört durch die Handlungen seiner Willkühr gleichsam zu seinem Selbst.« (66,16–67,4) Bei dem Akt einer exklusiven Zueignung mache ich die Sache zu einem Gegenstand meiner Willkür; dies läßt sich nur unter der Bedingung durchführen, dass die Sache nicht bereits das Seine eines anderen ist und damit in seinem Willkürbereich liegt. Wer sich etwas mit dem Anspruch des Eigentums zueignet, setzt also diese allgemeine Spielregel voraus. Aber wie geht die ursprüngliche Aneignung vonstatten, wenn einmal ausgeschlossen ist, dass die Sache bereits der Willkür eines anderen unterliegt? Vorgeschlagen wird eine Doppelstrategie: Einerseits gibt es die naturale Seite der Handlung, etwa das Bearbeiten eines Baumes310, zum anderen die symbolische: »Der andere Mensch sagt mir das ist sein […]«; die Aneignung durch Arbeit ist also zu denken als ein Akt, der impli232 | kapitel vii
zit mit einer verbalen Deklaration verbunden ist. Tiere bezeichnen ihr Revier; die Zeichen der Menschen sind darüber hinaus jedoch sprachlich formulierbare Symbole. Nur wenn beides zugleich auftritt, erste Arbeit und Symbol, kann der Akt der Aneignung als rechtens aufgefasst werden. Der Autor, der die Aneignung durch Arbeit vertreten hatte, ist John Locke. In seinem Second Treatise of Government (1690) hatte Locke die stoische Theorie der oikeiosis, der physischen »appropriatio«, für die Lösung der Frage, wie die Übereignung von Teilen der »communio originaria« an einzelne Individuen zu denken ist, fruchtbar gemacht: »Though the Earth, and all inferior Creatures be common to all Men, yet every Man has a Property in his own Person. This no Body has any Right to but himself. The Labour of his Body, and the Work of his Hands, we may say, are properly his. Whatever then he removes out of the State of Nature hath provided, and left it in, he hath mixed his Labour with, and joyned to it something that is his own, and thereby makes it his Property. It being by him removed from the common state Nature placed it in, it hath by his labour something annexed to it, that excludes the common right of other Men.«311 Kant wendet sich 1797 gegen diese krude Täuschung; man müsse die Sachen personifi zieren »und, gleich als ob jemand sie sich durch an sie verwandte Arbeit verbindlich machen könne, keinem Anderen als ihm zu Diensten zu stehen, unmittelbar gegen sie sich ein Recht zu denken; […].« (VI 269,7–9) Ein Teilgedanke fi ndet sich auch in den Bemerkungen, wenn es heißt, die Sache gehöre »durch die Handlungen seiner Willkühr gleichsam zu seinem Selbst.« (67,3–4) Sie wird also gleichsam dem Selbst einverleibt, wie die Lockesche Theorie der »appropriatio« besagt. Aber die symbolische Ebene ergänzt in den Bemerkungen, wie schon gezeigt, die naturalistisch-magische, denn hier bedarf es einer sprachlichen Deklaration, um die Rechtsverbindung nicht zwischen Person und Sache, sondern zwischen Personen über die Sache zu fi xieren. Kant folgt Rousseau, der im Contrat social die Arbeitstheorie von Locke übernimmt, die Arbeit jedoch nicht in ihrer naturalen Beziehung des Menschen zur Natur belässt, sondern zu einem Zeichen macht, »[…] le travail et la culture, seul signe de propriété qui au défaut de titres juridiques doive être respecté d’autrui.«312 die würde des menschen | 233
Die Überlegungen von Locke und Rousseau zielen auf die Erstaneignung beim Übergang von der »communio originaria« zum Privateigentum. Nun wird man sagen, dass genau dies die Problemlage auch bei Kant ist, er sich also gegen keine bestehende Gesellschaft s- und Eigentumsordnung wende, sondern sich mit einem fernen Gelehrtenproblem beschäft ige. Die abstrakte Reflexion wird jedoch bei Kant explosiv, wenn er bemerkt: »Wenn wir zu den Bedürfnissen die Arbeiten eines andern zählen warum nicht auch seine Frau.« (98,14–15) Das ist nicht mehr eine Ursprungsfrage des Privatbesitzes, sondern die Aneignung der Produkte anderer Personen in der zeitgenössischen Gesellschaft, handle es sich um traditionelle Abhängigkeiten oder um die Produktion in Fabriken – wie können die Produkte dem Besitzer gehören und nicht den Arbeitern, die das Erzeugnis durch ihre Willkür herstellen und denen es folglich gehören muß? »Wenn ich von einem reichen erbete der sein Vermögen durch Erpresssung von seinen Bauren gewonnen hat u. ich schenke dieses an die nämliche arme so thue ich im bürgerlichen Verstande eine sehr grosmüthige Handlung, im natürlichen aber nur eine gemeine Schuldigkeit.« (40,4–7) Das bedeutet, dass die Produkte den Produzenten gehören, wenn es in der Gesellschaft mit rechten Dingen zugeht, den Bauern und Arbeitern, nicht den Gutsherrn und Fabrikbesitzern. Aber dann kann auch der Hinweis auf eine Erpressung fehlen, denn das Unrecht steckt in der Ungleichheit, die den einen zum Reichen, den anderen zum Armen macht; der Arme muß seinen Leib und dessen Arbeit verkaufen, um leben zu können, ob der Gutsherr ihm nun den legalen Lohn zahlt oder ihn nach den geltenden Vorstellungen zusätzlich erpresst. Kant verfolgt diese Frage nicht näher, er beschäftigt sich in den Bemerkungen ausführlicher mit der Degradierung der livrierten Diener durch die Unterwerfung unter die Willkür der adligen Herrn. Das Problem der Arbeit und der Produktion der Bauern und Arbeiter selbst wird Karl Marx aufgreifen und dabei auf demselben stoischen Fundament argumentieren wie Kant in seinen Gedankenfragmenten. Der Hinweis auf die Frau des andern soll zunächst den Gedanken nur drastisch verschärfen und will kein eigener Beitrag zur Stellung der Frau sein; aber um den Vergleich zwischen den Arbei234 | kapitel vii
ten und der Frau eines anderen zu ermöglichen, muß die Frau als Gegenstand der Willkür des Mannes gedacht werden. Kant möchte im Allgemeinen die Frau nicht zur Sache machen, sondern zu einer unmündigen Person, die als Sache besessen, aber als Person behandelt wird (VI 248,21–29 u. ö.). Daniel Damler hat in seiner Publikation Wildes Recht. Zur Pathogenese des Effektivitätsprinzips in der neuzeitlichen Eigentumslehre (2008) dargelegt, wie die Arbeitstheorie besonders bei Locke durch die Problemlage der Besiedlung Nordamerikas erwuchs. Anders als Spanier und Portugiesen in Südamerika lasen die englischen Siedler den Ureinwohnern keine schrift lichen Deklarationen vor, sondern sie kultivierten das Land und vollzogen dadurch einen als Recht ausgegebenen Akt. In einer der von Damler herangezogenen Quellen wird der terminus technicus des »appropriate« schon 1628 verwendet, aber in einer von Locke abweichenden Weise: Es habe ursprünglich ein natürliches und ein ziviles Recht gegeben, »the first right was natural when men held the earth in common, every man sowing and feeding where he pleased, and then […] they appropriated certain parcels of ground by enclosing and peculiar manurance, and this in time gave them a civil right.«313 Hier werden Arbeit und Aneignung nicht als ein und dasselbe genommen, wie es Locke im Rückgriff auf die ihm vertrauten stoischen Quellen tut. Erst dadurch wird die Appropriation, die ihr zeitgenössisches Anwendungsfeld in den nordamerikanischen Kolonien hat,314 zu einem Theoriestück, das Rousseau und Kant und Marx benutzen können.
Kinder Sie sind Zwischenwesen, die in ihr Dasein als mündige Personen hineinwachsen, bis dahin aber der Direktive der Eltern bedürfen. Aber warum sollen sich die Eltern ihrer Kinder annehmen? »Da sie aber so fern eine Sache der Eltern seyn weil sie nur durch ihre Willkür leben so ist es moralisch gut von ihnen regirt zu werden.« (67,15–17) Hier ist die Fürsorge für die Kinder offenbar noch eine Frage der guten Moral der Eltern und nicht des Rechts. Die Kinder leben »nur durch ihre Willkür«, aber daraus soll nur eine Folgedie würde des menschen | 235
rung gezogen werden, die nun auch gilt, wenn man ein verlassenes Kind irgendwo antrifft. Der spezifische Pflichtcharakter gegenüber dem eigenen Kind ist noch nicht gefunden. 1796 versucht Kant, die Beziehung der Eltern zu den Kindern rein rechtlich zu fassen; aus der Zeugung in der Ehegemeinschaft folge »eine Pfl icht der Erhaltung und Versorgung in Absicht auf ihr Erzeugniß, d. i. die Kinder als Personen haben hiemit zugleich ein ursprünglich-angebornes (nicht angeerbtes) Recht auf ihre Versorgung durch die Eltern, bis sie vermögend sind, sich selbst zu erhalten; […].« (VI 280,17–20)
Das soziale Gewissen Kant merkt durch die Rousseau-Lektüre, dass irgendetwas nicht stimmt in der zeitgenössischen Gesellschaft . »Der Mensch mag künsteln so viel er will so kann er die Natur nicht nöthigen andre Gesetze einzuschlagen. Er muß entweder selbst arbeiten oder andre vor ihn, und diese Arbeit wird andern so viel von ihrer Glückseligkeit rauben als er seine über das Mittelmaas steigern will.« (39,5–8) Die Tätigkeit des Gelehrten ist keine Arbeit, sie setzt jedoch die Arbeit anderer voraus; hier findet ein Glücksraub statt wie in der ganzen Ständegesellschaft , die sich allmählich neu formiert zur modernen Klassengesellschaft. Kein antiker oder mittelalterlicher Autor, kein Heiliger und kein Gelehrter hat je selbstkritisch die gesellschaft lichen Grundlagen seiner eigenen Existenz und Tätigkeit reflektiert, kein Franziskaner, kein Leibniz und kein Christian Wolff. Das soziale Gewissen entstand in England zu Beginn des 18. Jahrhunderts und teilte sich allmählich den kontinentalen Gelehrten und Intellektuellen mit. Es wird beobachtet, dass die Privilegien und die Unterdrückung zwei Seiten der einen Gesellschaft sind, die nur durch die Ungleichheit überleben kann.315 Hier muß der bekannte Passus zitiert werden, der den historischen Umbruch markiert: »Ich bin selbst aus Neigung ein Forscher. Ich fühle den gantzen Durst nach Erkenntnis u. die begierige Unruhe darin weiter zu kommen oder auch die Zufriedenheit bey jedem Erwerb. Es war eine Zeit da ich glaubte dieses allein könnte die Ehre der Menschheit machen u. ich verachtete den Pöbel der von nichts weis. 236 | kapitel vii
Rousseau hat mich zurecht gebracht. Dieser verblendende Vorzug verschwindet, ich lerne die Menschen ehren u. würde mich unnützer finden wie den gemeinen Arbeiter wenn ich nicht glaubete daß diese Betrachtung allen übrigen einen Werth ertheilen könne, die rechte der Menschheit herzustellen.« (44,8–16) Subjektiv kann man hier vom sozialen Gewissen sprechen, objektiv von sozialer Gerechtigkeit. Beides ist noch nicht terminologisch, wohl aber als Postulat in der Sache präsent. Hier kommt es auch literarisch zu einer ganz ungewöhnlichen Nahaufnahme. »Wenn ich in die Werkstatt des Handwerkers trete so wünschte ich nicht daß er in meinen Gedanken lesen konnte. […] Ich nehme wahr daß ich nicht einen Tag ohne seine Arbeitsamkeit leben könne […].« (102,7–11)316 Das Wort fehlt noch, aber die Sache ist klar: Kant merkt, dass er zu den Ausbeutern gehört, die sich gegen das Naturrecht, gegen die »Ordnung der Natur«, die Produkte anderer aneignen. So sind die privaten Bemerkungen (im Gegensatz zu den publizierten Beobachtungen) ein Labor der Zukunft ; sie probieren, in welche Richtung eine menschengerechte Gesellschaft gehen müsste. Der Zweifel an der Rechtmäßigkeit der Aneignung der Produkte durch den Besitzer der Produktionsmittel ließ sich nicht mit dem römischen Recht artikulieren; denn die Ungleichheit unter den Menschen und der Verkauf der Arbeitskraft der einen an die anderen ist formal völlig korrekt. Um diese formal korrekten Verhältnisse aufbrechen zu können, bedurfte es der stoischen »oikeiosis«-Lehre in der Lockeschen Fassung und der Übertragung der Regel, dass das Produkt dem Produzenten gehört, aus der Sondersituation der Verteilung der »communio originaria« in die zeitgenössische Gesellschaft. Kant tut eben dies andeutungsweise; Marx wollte mit dieser Idee die versteinerten Verhältnisse zum Tanzen bringen, ohne Fortüne. Kant fand einen besseren Weg.
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Anmerkungen
Eine ausführliche Darlegung der Auseinandersetzungen findet sich in Frederick C. Beisers The Fate of Reason (1987). – Im Folgenden wird Kant mit wenigen Ausnahmen nach der Akademie-Ausgabe der Gesammelten Schriften (Berlin 1900 ff.) zitiert, meistens mit bloßer Band-, Seiten- und Zeilenangabe; auf die 1. und 2. Auflage der KrV wird mit A oder B plus Seitenzahl nach der Meiner-Edition verwiesen. In der Orthographie folgt das Manuskript den Intuitionen eines Schreibprogramms, besonders bei der Alternative von ß oder ss. Die Texte der Zitate werden dagegen originalgetreu wiedergegeben. 2 »Mit Hn. Kant’s Critik der reinen Vernunft, welche vor einigen Jahren erschien, ist eine neue Epoche der Philosophie angegangen […] die Revolution, die es stiften wird, und stiften muß, ist nur erst im Anfangen begriffen.« (Schütz am 7. 5. 1785, zit. nach Schröpfer 2003, 197). 3 Zur frühen Kant-Rezeption vgl. immer noch die bewundernswerte Arbeit von Erich Adickes, German Kantian Bibliography (1893–1896). 4 Vgl. dazu Siebel 1952, 43 ff. 5 Schulze 1996, 98–129. 6 Fichte 1962 ff. III 4, 93 – Brief an Reinhold vom 28. 9. 1799. S. a. I 2, 110. 7 Hegel 1968, IV 325–346 und 387–414 – Glauben und Wissen A und C. 8 Ebbinghaus 1986 ff., III 5. 9 Wolff 2009; s. a. Wolff 2001. 10 Vgl. A 587–588: »[…] daß nämlich erstlich von irgendeiner gegebenen Existenz (allenfalls auch bloß meiner eigenen) ein richtiger Schluß auf die Existenz eines unbedingt notwendigen Wesens stattfinde […].« 11 Vgl. A 23 »dazu muß die Vorstellung des Raumes schon zum Grunde liegen«; »ist selbst nur durch gedachte Vorstellung allererst möglich«. 12 Vgl. A 30: »wenn die Vorstellung der Zeit nicht a priori zum Grunde läge«. 13 Vgl. A 24: »Der Raum ist eine notwendige Vorstellung a priori, die allen äußeren Anschauungen zum Grunde liegt.« A 31: »Die Zeit ist eine notwendige Vorstellung, die allen Anschauungen zum Grunde liegt«. 14 Vgl. II 81,17: »Von dem schlechterdings nothwendigen Dasein.« S. a. Refl. 3874 (XVII 321,2–5), eine Vorform der Ziffer 2: »Raum und Zeit sind blosse Möglichkeiten, deren Gegentheil, d. i. kein Raum und keine Zeit, unmöglich ist. (Es ist kein Raum, es ist keine Zeit).« Der dann folgende Schritt fällt 1781 fort: »Nun gründen sich Raum und Zeit auf etwas wirkliches, also ist etwas wirkliches absolut nothwendig.« – Im zweiten Schritt gibt es sowohl in der Theologie wie 1
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auch in der »Transzendentalen Ästhetik« Rücksichten auf den vorhergehenden bzw. nachfolgenden Schritt, die uns hier jedoch nicht zu interessieren brauchen. 15 Vgl. »Alle Möglichkeit ist in irgend etwas Wirklichem gegeben, entweder in demselben als eine Bestimmung oder durch dasselbe als eine Folge.« (II 79,17–19; 83,3: »worin und wodurch«; 88,17–18: »in […] oder wenigstens durch«; 89,21–22 u. ö.) 16 Vgl. auch I 394,33; II 388,2 und 391,10. 17 Beim ontologischen Beweis tritt eine gewisse Irritation auf, die in der doppelten Notwendigkeit der Ziffer 2 wiederkehrt. 18 Man sollte wenigstens nicht (nur) an Newtons und Clarkes Raum »tamquam sensorium Dei« denken (wie Adickes bei Kant XVII 377,28–30), weil Kant die Zeit gleichberechtigt wie Malebranche mitführt. 19 Vgl. dazu die Argumente von Darius Koriako gegen Henry Allison und Daniel Warren, Koriako 2005, 26–29. 20 Mit dem »praeter« soll eine Verschiedenheit nichtsinnlicher Art angezeigt werden; vgl. dazu XXI 66,5 u. ö. 21 Vgl. auch Koriako 2005, 39. 22 Zu diesem Gedanken lädt B 5 ein mit dem Abstraktionsprozeß von allem Empirischen, wobei der Raum übrig bleibe, »und den könnt ihr nicht weglassen.« (B 5–6) Aber das ist ein Argument für den zweiten Teil von Ziffer 2, A 24, und hat mit der Problemstellung von Ziffer 1 nichts zu tun. 23 Koriako 1999, 214. 24 Vgl. die von Wolff 2009 angeführte Literatur. 25 Wolff 1962, 462 – Philosophia prima sive Ontologia § 600–601. Vgl. bei Kant II 403,29: »rebus sublatis«. 26 Dies führt zu einer gewissen Indifferenz gegenüber der Frage, ob eine Konstruktion auf dem Papier oder in der reinen Anschauung ausgeführt wird (vgl. B 741–742). Wichtig ist, dass die reine Anschauung grundsätzlich das Terrain der Realisierung der Geometrie ist. Aber kann sie dies – so unsere Frage – überhaupt sein? 27 Zur notwendigen Aktualisierbarkeit der reinen Anschauung s. Koriako 1999, 274 u. ö. 28 Zum Kantischen Abstraktionsbegriff vgl. II 394,15–28 – De mundi sensibilis […] § 6 mit der Unterscheidung von abstrakt und abstrahiert. 29 Koriako 1999, 187. 30 Nach Euklid 1962, 1: »Die Enden einer Linie sind Punkte.« Auf die Differenz der Auffassung dieser Definition bei Euklid und Kant wird später eingegangen. 31 Vgl. weiter Schmitz 1989, 25–26, bes. Anm. 51. 32 »Niemand möge ohne Geometriekenntnisse eintreten«, Elias 1900, 118,18. 33 Nach dem Sprachgebrauch der 2. Auflage der KrV. 34 Dies nur als Hinweis auf die 2. Auflage der KrV, die für unsere Einwände keine zusätzlichen Gegenmaßnahmen entwickelt. Anmerkungen | 239
Euklid 1962, 1 – Elemente, Definitionen 1. Vgl dazu Steele 1936. Kants Meinung: VIII 191,36–192,38. 37 In einer analogen Reflexion über die Aristotelische Lehre vom Raum schreibt Hans-Günter Zekl: »[…] eine Linie kann real, d. h. gezeichnet werden, nur dann, wenn man als Vorausbedingung dazu die – materielle – Fläche schon hat, in der oder auf der das geschehen soll.« (Zekl 1990, 37) 38 Falkenburg 2000, 111. 39 Apostelgeschichte 17, 28. 40 Brandt 2008b. 41 Höffe 2003, 81–106. 42 So auch Unruh 2007, 263–264. 43 Höffe 2003, 98. 44 Höffe 2003, 87. 45 Das Wort »Räumlichkeit« wird auch von Kant nicht benutzt. 46 Der Gestaltbegriff wird in der Schrift nur bei Körpern verwendet, II 381,15; 382,10; 383,21. Wenn Kant hier von einem Raum als »Grundbegriff« spricht, wird er 1770 und 1781 den Raum als vorgängige Anschauungsform begreifen. Der von uns zitierte Text hat dieselbe Funktion wie Ziffer 1 in der KrV, s. bes. die Formulierung »weil nur durch ihn das Verhältniß körperlicher Dinge möglich ist, und daß, weil der absolute Raum kein Gegenstand einer äußeren Empfindung […]ist.« 47 »[…] et qualibet constructione postulatorum s. etiam problematum mentali […].« (II 402,31–32) In welchem kontrollierbaren Verfahren diese mentale Konstruktion in der reinen Anschauung und in Gedanken (ohne die empirischen Instrumente Zirkel und Lineal) bestehen soll, sagt Kant nicht. 48 Die Wendung des »oculis subjicere« gehört zur antiken rhetorischen Beglaubigungsstrategie, s. Lausberg 1960, s. v. oculus; sub oculos subjectio. 49 Die Parallele darf man nicht zu genau nehmen. 50 S. unten S. 176 ff. 51 Vgl. dazu die Stellensammlung bei Koriako 1999, 129–130. 52 Hermann Schmitz spricht vom Kontrast von divisivem und additivem Raum, s. Schmitz 1989, 23–37. 53 Zu dem Gegensatz vgl. Schmitz 1989, 28 ff. 54 Vgl. Koriako 1999, 288. 55 Wolff 2001, 211. 56 Anm. RB: Es gibt jedoch vielfach die Wendung einer »(reinen) Anschauung des Raumes« (sc. und nicht der Zeit), so dass die Rede von einem »Raum der Anschauung« leicht zu gewinnen ist, es müsste ergänzt werden »Raum der reinen Anschauung«. XXII 73, 23–24: »dem Raum und der Zeit der Anschauung«. 57 Wolff 2001, 222. 58 Wolff 2001, 213. Hier korrigiert sich Wolff und weist darauf hin, dass die Wahrheit der Geometrie sich erst durch die Beziehung auf empirische Anschauung erweise, Wolff 2009 35 36
240 | Anmerkungen
Reich 1947. Der Aufsatz Reichs ist von großer Luzidität im Gegensatz zu der Meinungssammlung von Reidemeister, gegen den sich Reich wendet. Leider wurde die Arbeit nicht in die Werkausgabe (Reich 2001) übernommen. 60 Reich 1947, 585. 61 Vgl. dazu unten 143–145. 62 Wolff 2009, 288, Anm. 7. 63 Koriako 1999, 122: »Die Aufgabe des Verstandes beschränkt sich vielmehr darauf, diese sinnlich gegebenen Raumdeterminationen abstraktiv und reflexiv zu bearbeiten […].« 64 Euklid 1962, 57–59 – Elemente III § 16 (L. 15). 65 Vgl. Diels-Kranz 1956, II 266 – Über die Mathematik (»Bekämpfung der Auffassung der Geometer, die Tangente berühre den Kreis nur in einem Punkte«). 66 Vgl. Koriako 1999, 309. Koriako verweist in der Anm. 102 überzeugend auf John Lockes gleiche Argumentation; eine wichtige Rolle spielt auch David Humes Enquiry Concerning Human Understanding, die Kant in der Übersetzung Philosophische Versuche über die Menschliche Erkenntniß von 1755 vertraut war; vgl. dort die Gegenüberstellung »mathematical« und »moral sciences« (VII 1). Die ersteren seien sinnlich, klar und bestimmt; jeder Unterschied werde sofort bemerkt; der Augenschein begleite die einzelnen Beweisschritte. Die moralischen oder metaphysischen Einsichten und Beweise blieben demgegenüber immer unsicher. 67 Zit. nach Schmitz 1997, 212. 68 Ergo muß er postuliert werden. 69 Bei Euklid erscheint der Kreis nicht unter den Postulaten, sondern als Nr. 15 der Definitionen: »Ein Kreis ist eine ebene, von einer einzigen Linie umfaßte Figur mit der Eigenschaft, daß alle von einem innerhalb der Figur gelegenen Punkte bis zur Linie laufenden Strecken einander gleich sind« (Euklid 1962, mit Zusätzen). Die Begriffe Punkt, Linie, Fläche und Figur sind bei Euklid in den Ziffern 1–14 definiert worden, so dass er sie nicht zu konstruieren und zu postulieren braucht. 70 S. Koriako 1999, 222–237. 71 Aber auch Kant an Kiesewetter am 9. 2. 1790: »Das Bewußtsein aber des Raumes ist eigentlich ein Bewußtsein der Synthesis, wodurch wir ihn, aber, wenn man will, den Begriff eines Zusammengesetzten nach dieser Form des äußeren Sinnes, konstruieren, d. h. ihn ziehen.« (Kant 1986, 940) »Ihn« muß sich auf den Begriff des Zusammengesetzten, etwa den Begriff der Linie, beziehen. 72 Vgl. II 397,33–398,1: »Mathesis itaque pura, omnis nostrae sensitivae cognitionis formam exponens, est cuiuslibet intuitivae et distinctae cognitionis organon […].« 73 Vgl. V 90,12–13: »Die Analytik der theoretischen reinen Vernunft wurde in transcendentale Ästhetik und transcendentale Logik eingetheilt […]«; auch 59
Anmerkungen | 241
89,20–25; Brandt 2007; zur Tendenz, die transzendentale Ästhetik dem Verstand zu unterwerfen, s. auch Schmitz 1989, 33. 74 Diels-Kranz 1956 II 166 – Heraklit Fragment 67a. oder mit Wilhelm Busch: »[…] und einzig in der engen Höhle / des Backenzahnes weilt die Seele.« 75 Wir gehen nicht auf die Komplikation ein, die die Kantische Philosophie seit den Träumen verfolgt: Die Unterscheidung von Fremdkörpern und eigenem Körper im Raum und die Bestimmung des Ich im Hinblick auf beides. Die Schwierigkeiten führen im Opus postumum zu einer grundsätzlich neuen Thematisierung des Problems. S. dazu die gründlichen Erörterungen bei Bochicchio 2006. 76 Vgl. auch II 397,24; A 42 (»nicht notwendig jedem Wesen, obzwar jedem Menschen zukommen muß«); A 45 (»für jeden menschlichen Sinn überhaupt gilt«). 77 Unruh 2007, 177. 78 Kant selbst eliminiert, wie wir sahen, 1770 die Sonderstellung der RechtsLinks-Orientierung in der Raumerkenntnis, indem er deren Alogizität für den Raum (und die Zeit) überhaupt geltend macht. Auch Adickes 1924, I 239. 79 Vgl. die vorzügliche Kommentierung durch Unruh 2007, 127–151. 80 Ganz allgemein gilt, dass eine Vorstellung »jederzeit eine Handlung« sei (VIII 222,22). 81 Mit der Freiheitstheorie von 1788 verfällt das Denken und Erkennen konsequent der Naturseite, vgl. u. a. XXVII 479–482. Hier bestünde also eine Möglichkeit, Kants Zustimmung zu unserem unkantischen Experiment zu gewinnen. 82 Wenn ich richtig sehe, ist die Präzisierung des Arguments in der B-Auflage für unsere Überlegung nicht von Bedeutung. 83 Brandt 2007. 84 Dazu Brandt 2007, 505–507. – Zu ergänzen ist, dass die Kategorientafel der KrV ursprünglich der 1, 2, 3 / 4-Ordnung der Urteilstafel folgt, dann jedoch von der Einteilung in mathematisch und dynamisch überformt und aus dem ursprünglichen Ansatz gebracht wird. Die Zweiteilung, die dem Muster der Schätzung folgt, führt dazu, dass die Modalität mit der Relation (also 4 und 3) den beiden vorhergehenden Kategorien gegenübergestellt wird, während im ursprünglichen Ansatz die Modalität zu den drei inhaltlich bestimmten Kategorien tritt. Richtig wäre es nach der ersten Anlage gewesen, die Relation als dynamische Kategorie den beiden vorhergehenden Größenbestimmungen gegenüberzustellen. Die erste Anlage wird so schon in der ersten Auflage der KrV teilweise zerstört. 85 Dazu Brandt 1999a, 150–157. 86 In der Zeit fehlt das Pendant zu den inkongruenten Gegenstücken von 1768, die die Subjektivität des Raumes 1770 erzwangen; 1781 operiert Kant nur mit der These des synthetischen Charakters von Geometrie und Arithmetik, um die Anschauung von Raum und Zeit gegen die Analytizität (Satz vom Widerspruch als Wahrheitskriterium der Rationalisten) durchzusetzen. 242 | Anmerkungen
Moses Mendelssohn kritisiert Kants »eodem tempore« in seinem Brief vom 25. 12. 1770 (X 116,6–12, s. a. X 100,31–32). 88 Dazu Brandt 2007, 361–368. 89 Reichert 1998, 298–310 (»›Ich bin ich‹. Auftritte neuer Formen des Bösen in der Frühen Neuzeit«). 90 So Kant VIII 258,24–25. 91 Zur stoischen Vorlage vgl. Steinmetz 1994, 693: Chrysipp habe die Auffassung vertreten, »die Schlechtigkeit entstehe durch äußere Einflüsse, […]. Wie kann unter dieser Annahme erklärt werden, dass bei gleicher Ernährung und Erziehung durch die gleichen Eltern und Erzieher und bei der Fernhaltung äusserer Reize manche Kinder missraten? […] Poseidonios folgert, dass Laster nicht von aussen in die Seele eindringen können, wenn sie nicht eine Wurzel in der Seele selbst haben.« In den herangezogenen Poseidonios-Fragmenten (Poseidonios ed. Theiler, Fr. 416 und 423) fehlt, wenn ich nichts übersehen habe, der Begriff der Wurzel, den Steinmetz benutzt (riza; radix – radikal); in der KpV spricht Kant bei dem aus der Stoa stammenden bösen Einzelkind noch nicht vom radikal Bösen. Von Luther weitergereicht wurde jedoch auch Matthäus 7, 15–20: Die Menschen werden gesehen als gute und schlechte Bäume mit jeweils guten und schlechten Früchten. Vielleicht stammt das radikale Böse der Religionsschrift von den Wurzeln dieser Christen-Bäume. 92 Jacobi 1986, 226. 93 Eine überzeugende Erörterung stammt von Claudia Graband 2005; auch immer noch Bobzien 1988. 94 Nach V 57,15; 22; 31; 32. 95 Wolff 1980 – Grundsätze des Natur- und Völckerrechts »Vorrede«. Vgl. auch S. 68, § 109. Man beachte, dass Wolff von der Bestimmung des Menschen handelt und entsprechend das Böse nicht begehrt und das Gute nicht verabscheut wird. Wie eben dies trotzdem dem Menschen entgegen seiner Bestimmung möglich ist, wird von Wolff nicht geklärt. 96 Hobbes 2003, 223 – Leviathan XXIX 6; Locke 1975, 259–260 – An Essay Concerning Human Understanding II 21, 43. Platon und Aristoteles sind ebenfalls der Meinung, dass jeder nach dem handelt, was ihm gut scheint (Nikomachische Ethik I 1), halten es jedoch für möglich, das wahrhaft Gute zu erkennen und dementsprechend zu handeln. 97 Platon, Euthyphron 6e ff. 98 Vgl. V 58,27 und 217,1. Man beachte, daß der Passus V 216,30–217,7 die exakte Aufnahme des »Paradoxons der Methode« V 62,36–63,4 ist und sich dadurch das Kriterium der allgemeinen Mitteilbarkeit in beiden Fällen ergibt. 99 Dazu bezüglich der transzendentalen Gegenstandsbestimmung Unruh 2007, bes. 84–85. 100 Das Vorbild ist natürlich die neuzeitliche Staatstheorie, so bei Thomas Hobbes im Leviathan: »But otherwise it is manifest that the measure of Good and Evil Actions, is the Civill Law.« (Hobbes 2003, 223) 87
Anmerkungen | 243
Vgl. auch Klemme 1999, 147. Geismann 2007, 303. 103 U. a. Graband 2005, 43. 104 In diesem Fall: Kant selbst. 105 Willaschek 1992, 47–53. 106 Vgl. XXV 10,18–27, auch 244,22–245,14. 107 Klemme 1999. 108 Der Gebrauch dieses Begriffs stimmt überein mit der Nomenklatur von VI 26,8–9 u. ö. 109 Brandt 2007. 110 Dazu höchst kritisch Goethe 1988, 166; Schiller 1955, 280–282. 111 Lucretius 2009 – De rerum natura II 292. 112 Willascheck 1992, 276 ff. 113 S. hier S. 104–111. 114 Brandt 2007, 393 ff. 115 Hegel 1956, 120 – Grundlinien der Philosophie des Rechts § 135. Vgl. Hegel 1968, IV 435–437 – Wissenschaftliche Behandlungsarten des Naturrechts u. ö. Hegel folgt Pistorius 1975, 166. 116 Als »maxima« hat jede Maxime Allgemeinheitscharakter: »Immer wenn ich…«; »Alle suchen ihren Vorteil…«. 117 Hegel 1956, 120–121 – Grundlinien der Philosophie des Rechts § 135. 118 In Interpretationen, die eher der deutschen Tradition verpflichtet sind, wird von der Verallgemeinerung der Maximen gesprochen, in amerikanischen Dependenzen von der Universalisierung. Kant kennt weder das eine noch das andere Wort und – so unsere These – auch nicht die mit ihnen gemeinte Sache. 119 Yack 1993, 230–231. 120 Yack 1993, 234. 121 Yack 1993, 239. 122 Habermas 2005, 52 u. ö. In Bezug auf Kants Selbstverständnis wäre die Diskursethik nur ein methodischer Anhang, in dem die Prinzipien vorausgesetzt sind und Einübungsdiskurse stattfinden. 123 Wann genau kommen diese Begriffe auf? 124 Vgl. die sorgfältige Erörterung Höffe 1977, 356–366. 125 Daher könnte nicht parallel zur Einführung von Tieren in der Rubrik »Vorstellungsfähige Lebewesen« eine Aktion zur Zulassung von Tieren in die praktische Philosophie stattfinden. Sie handeln nach allen Indizien und Zeichen nicht nach der Vorstellung von Regeln oder Maximen. 126 Brandt 2008c. 127 Vgl. dazu Kants Erläuterung zum »Wille[n] Aller« V 28,12–28. 128 Eine kurze Studie mit langen Literaturlisten bringt Jan Schröder in: »›Gesetz‹ und ›Naturgesetz‹ in der frühen Neuzeit« (2004). Wichtig für uns ist die große Anzahl von Autoren, die das Natur- und Moralgesetz direkt parallelisieren. 101 102
244 | Anmerkungen
Cassirer 1932, 351. Fichte 1962 ff. I 3, 30 – Grundsatz der Sittenlehre. 131 Schwaiger 1999. 132 Dazu Brandt 2008 c. 133 Brandt 2007, 505–507. Ein weiteres Beispiel einer typischen Stufung ist die Abfolge Ästhetik – Logik in der KrV; die Reihenfolge kann nicht umgekehrt werden, sondern markiert den Schritt vom Äußeren der Sinnlichkeit zum Inneren des Denkens mit der Aufgabe der Rückbindung des Denkens an die Anschauung zur Ermöglichung synthetischer Natuerkenntnis; prononciert wird die Opposition von Außen und Innnen IV 285–286 angesprochen. 134 Kant unterscheidet in der KpV generelle von universellen Regeln (V 36,14). Die ersteren seien bei der Glückverfolgung erreichbar, aber niemals die letzteren, »die jederzeit und nothwendig gültig sein müssen« (V 36,15–16). Es wird nicht gesagt, dass hierin eine Anweisung für die Prozedur der Gewinnung des allgemeinen Gesetzes liegt. Wie viele andere Autoren führt auch Willaschek 1992 beide als Kantische Begriffe (u. a. »§ 12 – Verallgemeinerbarkeit und freier Wille«, 215–231). Die Freiheit, die bei Kant allein auf die Form der Gesetzlichkeit bezogen wird, begnügt sich bei Willaschek mit einer »vernünftigen Überlegung« (Willaschek 1992, 219); aber damit kann auch ein Utilitarist einverstanden sein. Damit kehrt Willaschek bei der KpV zur KrV zurück (ibid.). »alle anderen« – ebenfalls nicht gebraucht? Dasselbe gilt für den Begriff der Rationalität, der zwischen Verstand und Vernunft nicht unterscheidet. Ratio-nal kann auch das bloße Verhalten sein. 135 Schon vor Kant ist das Naturrecht in die Ethik eingedrungen, dazu kurz Schwaiger 2008, 221–222. Allgemein kann man auf Kant anwenden, was von Leibniz gesagt wurde: er sei »ein universaler Geist von juristischer Grundhaltung« (Schneider 2009, 86). 136 Cramer 2001, 120. 137 Dies gilt nur für die Prinzipienebene; in der Anthropologie wird den Frauen die Möglichkeit abgesprochen, an der moralischen Gesetzgebung teilzunehmen. 138 Vgl dazu Rehm 2006, 101–112. Rehm wendet sich korrekt gegen eine Interpretation, gemäß der »the general will only comes about by, and is nothing else than, the will of individuals reflecting in a rational fashion on their longterms interests« (106–107). Derselbe Fehler wird, wie wir sahen, begangen, wenn man den kategorischen Imperativ als Aufforderung fasst, die eigenen partikularen Maximen zu verallgemeinern. 139 Hobbes setzt die Gleichheit an die erste Stelle und folgert aus ihr die Freiheit (Hobbes 2003, 86–90), Locke und Kant beginnen umgekehrt mit der Freiheit, aus der die Gleichheit analytisch folgt: »[…] und Gleichheit entspringt aus der wahren Freiheit […].« (VI 122,4–5; s. a. VI 237,29–238,11). Hobbes und seine kirchlichen Feinde nehmen die Gleichheit als Datum der Natur (jeder kann jeden im Prinzip töten) oder der Schöpfung (Gott hat alle Menschen gleich ge129 130
Anmerkungen | 245
schaffen) und setzen damit nicht die Freiheit, sondern die Abhängigkeit an den Anfang der menschlichen Gesellschaft. 140 Der Gegenstand des Zweifels richtet sich auf das höchste Gut; da dieses aber der notwendige Zweck allen moralischen Handelns ist, wird mit der Vorstellung, dass es nicht grundsätzlich realisierbar ist, auch das Gesetz selbst hinfällig. Eine differenzierte Betrachtung des Verhältnisses von moralischem Gesetz und notwendigem Endzweck findet sich in der KdU § 87, V 447–453. Gibt es einen »athée vertueux«? – Das Wort »Chimäre« ist ein Äquivalent für Trugbild, Hirngespinst. 141 Rousseau 1959 ff., III 284. Etymologisch läßt sich hier wenig gewinnen. 142 Hier wörtlich noch auf den Einzigkeitsanspruch bezogen. 143 Till Hoeppner hat in seiner Magisterarbeit an der Humboldt-Universität Berlin 2009 gezeigt, worin die Struktur und Vollständigkeit der Urteils- und Kategorientafel begründet ist. 144 Sie vermehren die inhaltlichen Bestimmungen »nicht im mindesten« (A 219; 233). 145 Zu Swedenborg vgl. A 222–223 und Brandt 2008c. 146 Dazu Brandt 2008b. 147 Wir begegneten schon dem Pendant der »intelligiblen Tat«, die ihre Wirklichkeit daraus ableitet, dass ohne sie die Moral nicht möglich ist. 148 Vgl. hierzu Brandt 2001, 246–259 mit weiterführender Literatur. 149 Descartes 1964, VII 45–52 – Meditationes III. 150 Willaschek 1992, 14 u. ö. Hoyos 2008, 172. 151 Casas 1996, 241 hält die Problematik für marginal, denn wer sich die Pocken einimpfen lasse, tue dies, »um sein Leben zu erhalten«; Kant selbst sieht in der Frage ein moral-, speziell rechtsphilosophisches Dilemma. 152 Vgl. dazu unten S. 143–145. 153 Die Argumentation des Kapitels ist nicht leicht zu erkennen. Man muß drei Teile voneinander unterscheiden. Zuerst (VI 429,4–430,8) wird eine (nicht so benannte) Exposition des Begriffs der ethischen Lüge in fünf Schritten geliefert, dann (430,9–430,19) folgt die kritische Frage und Lösung des in der Lüge praktizierten Selbstverhältnisses, also die Deduktion der Möglichkeit der Lüge, und drittens folgen erläuternde Bemerkungen (430,19–431,3). Die Exposition der Lüge beginnt mit einer allgemeinen Definition (429,4–13), bestimmt sodann die Lüge in den eigenen Augen des Lügners als Verletzung der Würde der Menschheit (429,13 bzw. 14–23), danach als Wegwerfung und Vernichtung der Menschenwürde und durch die zweckwidrige Sprachverwendung die Erniedrigung unter den Wert einer Sache, so dass eine »blos täuschende Erscheinung vom Menschen, nicht der Mensch selbst« verbleibt (429,24–34) und endlich als »Verbrechen des Menschen an seiner eigenen Person« (430,7). Aber mit diesem Selbstverhältnis ergibt sich ein Widerspruch (430,13) der Person zu sich selbst; die Auflösung und damit die Deduktion der Möglichkeit der geschilderten Wirklichkeit ist nur durch die kritische Unterscheidung von »homo noumenon« 246 | Anmerkungen
und »homo phaenomenon« möglich. (430,9–19; vgl. VI 417–418 und IV 453,16, 454,6–10 und 21 zum Begriff der Deduktion). 154 Platon und ihm folgend Rousseau möchten aus Gründen der sittlichen Identität der Personen das Schauspiel aus der Polis bzw. Stadt verbannen, vgl. Platon 1958 ff., III 127–128 – Politeia III, 394b–395b und Rousseau 1959 ff., V 1–125 – Lettre à d’Alembert. 155 Platon 1958 ff., III 74 – Politeia I, 331c. 156 Die Erörterung des Depositums in der KpV (V 27,20–28,3) setzt die Rechtsinstitution des Eigentums und damit die des Depositums voraus (entgegen Hegels Annahme). Das Depositum einzubehalten, wenn sein Vorhandensein nicht mehr nachweisbar ist, kann kein Gesetz sein, weil die öffentliche Deklaration dieser Absicht das Depositum als Institution voraussetzt und zugleich unmöglich macht. Eine wesentlich kompliziertere Analyse bringt Cramer 2001. Unsere Ausführungen konzentrieren sich, wie schon angekündigt, auf ein Segment der Schwierigkeiten. 157 Enskat 2006 ist der Meinung, daß in einer Situation der moralischen Notwehr die Lüge erlaubt sei. Diese Situation trete dann ein, wenn eine andere Person mich unrechtmäßig zur Aussage nötigt. Enskat befaßt sich nicht mit Kants Auffassung, daß ich durch die Lüge in rechtlicher Hinsicht dem »Recht überhaupt« Abbruch tue, es also auf den Zwang, den die andere Person auf mich ausübt und den ich für unrechtmäßig halte, nicht ankommt. Argumentiert man gegen Kant, ist die Situation einzubeziehen, in der eine Person ohne Notwehr lügt wie etwa Schindler bei der Rettung von Juden. In dieser und ähnlichen Situationen kann es m. E. nicht nur eine Lügenbefugnis geben, sondern auch eine Pflicht (zur Alternative s. a. VIII 426,9 und 11). 158 Vorbildlich herausgearbeitet von Ebbinghaus 1986 ff., I 407–420. 159 Kant 2004, 174. Vgl. weiter dort S. 217–225. 160 Vgl. auch Kant 2004, 175–180. 161 Vgl. auch Casas 1996, 242–250. 162 Zur Differenz s. VI 26,8–11; 418,7–13 u. ö. 163 S. auch die »Bestimmung des Gegenstandes« in der Metaphysik der Sitten Vigilantius XXVII 479–482. Zum grundsätzlichen Verhältnis von Rechts- und Tugendlehre u. a. Casas 1996, 19–116. 164 Hierzu vgl. die luzide Darstellung Kersting 2001. 165 S. Mori 2008, 64 ff. 166 Dem Buch liegt die Dissertation an der Rechts- und Staatswissenschaftlichen Fakultät der Universität Freiburg i. Br. zugrunde. 167 Vgl. auch Brocker 1987, 17–20. 168 Einfach im Sinn des Faktums, dass der kategorische Imperativ und die Transzendentalphilosophie vorausgesetzt und in die Erörterung einbezogen werden; die Frage, wie dies im Rückbezug auf die KrV und KpV und deren Aussagen möglich ist, ist keinesfalls einfach, weil Kant seine Position im Detail vielfach geändert hat. Anmerkungen | 247
S. oben S. 62. Zurückgehend auf IV 429 und 434. 171 Vgl. Bd. XIX 323–441 »Erläuterungen zu G. Achenwalls Iuris naturalis Pars posterior«. 172 Vgl. Achenwall 1995, 100 und 111. 173 Wir müssen einräumen: textlich oder gedanklich, denn bei Bernd Ludwig stehen die drei Formen der »äußeren Gegenstände meiner Willkür« vor dem Postulat, vgl. Kant 1998, 54 und 57. 174 Programmgemäß, denn eben dies fordert die KpV. 175 Das Unternehmen wird erleichtert durch die Doppeldeutigkeit des Begriffs der Sache, der sich sowohl auf ein körperliches wie auch unkörperliches Etwas beziehen kann; s. die Rede von der Sache in § 2 und 3 und der »(körperlichen) Sache außer mir« (VI 247,19); so auch der Gebrauch von »res« als und im Unterschied von »res corporalis« bei Achenwall 1995, 96. 176 Über die schon früher angeführten Argumente (Brandt 1999b) hinaus lese man XXIII 286,2–10, eine Vorarbeit zum Erlaubnisgesetz, die sich eindeutig nur auf den Sachenbesitz und hier die communio originaria bezieht, s. bes. das »aller anderen, die es ihm verwilligen« (XXIII 286,8–9). In diesen Gedankenkomplex gehört auch die Fehlplazierung von VI 250,18–251,31. 177 Vgl. dazu Brandt 1999b. 178 Mir ist keine Publikation bekannt, die hierin ein Problem sieht; Manfred Brocker, Kants Besitzlehre, handelt nur vom Sachbesitz oder Eigentum. 179 Kant schreibt in den »Bemerkungen in den Beobachtungen über das Gefühl des Schönen und Erhabenen« (also ca. 1765–1766): »[…] sed possum meam voluntatem alteri devincire« (XX 160,23–24), ich kann meinen Willen einem anderen verbindlich machen; aber das ist noch keine besitzrechtliche Übertragung. 180 Vereinigte bzw. gemeinsame Willkür, Einheit der Willkür: XXIII 305,5–6; im Folgenden werden diese unterschiedlichen Varianten nicht unterschieden. 181 Vgl. XXIII 212,30–31: »Man kann diesen Besitz den Virtuellen nennen zum Unterschied von dem Actuellen.« 182 Die Unterscheidung wird benutzt von Kersting 1993, 300 (im Hinblick auf die Freiheit, von der zwar bei Grotius, aber nicht bei Kant die Rede ist). 183 Kersting 1993, 300. 184 Es ist schwierig, das Prinzip der Äußerlichkeit schon in den Grundlagen einzuhalten, denn jede Handlung ist auf einen Zweck gerichtet, hat als äußere also einen inneren, intentionalen Hintergrund. »Zweck ist ein Gegenstand der freien Willkür, dessen Vorstellung diese zu einer Handlung bestimmt (wodurch jener hervorgebracht wird). Eine jede Handlung hat also ihren Zweck […].« (XXIII 384,33–385,1) Kant teilt, wie sich zeigte, die Handlung in ihre beiden Komponenten auf und behandelt den äußerlich-formalen Ablauf in der Rechtslehre, die innere Zwecksetzung in der Tugendlehre. – Der Vertrag muß gemäß dem Prinzip der Äußerlichkeit als mündliche oder schriftliche, also äußerliche Sprachhandlung genommen werden. 169 170
248 | Anmerkungen
Vielleicht läßt sich damit John Lockes Vorgehen im Second Treatise of Government (1690) vergleichen, der einen engen Begriff von »property« hat, daneben jedoch einen weiten. Unter dieses weite Eigentum werden die drei neuzeitlichen Güter von Leben, Freiheit und Boden begriffen: »[…] to unite for the mutual Preservation of their Lives, Liberties and Estates, which I call by the general Name, Property.« (Locke 1970, 368 – Second Treatise of Government § 123). So dominiert bei Kant das Sachen- bzw. Besitzrecht im Privatrecht, wie die »property« in Lockes Natur- und Staatsrecht. 186 Locke 1975, 94–95. Vgl. auch z. B. Grotius 1939, 328 – De jure belli ac pacis II 11 »De promissis« mit Berufung auf Cicero. 187 Dazu Hörisch 2006. 188 Kant benutzt den der Sache nach passenden Begriff hier nicht. 189 Kant bedient sich zur theoretischen Artikulation der Vorstellungen der Dissertation von 1770, wenn er die Verwechselung von beidem ein »vitium subreptionis« nennt, VI 297,21–22. In der Sache gibt es die beiden Gesichtspunkte schon in der »Einleitung in die Rechtslehre« VI 236,8–16. In den Bemerkungen in den ›Beobachtungen über das Gefühl des Schönen und Erhabenen‹ wird die »Ordnung der Natur« gegen die gesellschaftliche Verfassung »im Stande der Ungleichheit u. Ungerechtigkeit« gestellt, XX 10,5–6; 14,1–4; 40,1–3: »Die Begriffe der bürgerlichen Gerechtigkeit u. der Natürlichen u. die daraus entspringende Empfindung von Schuldigkeit sind sich fast gerade entgegen gesetzt.« 190 Dazu ausführlich Falcioni 1999. 191 Zum Eid vgl. auch VIII 268,27–269,40. Zum christlichen Verbot des Eides s. Mt. 5, 33. 192 Pistorius 1975, 167. 193 Wichtig für unsere Fragestellung sind die Arbeiten von Hasso Hofmann; s. bes. Hofmann 2008, 65–73. 194 Wir benutzen diesen Begriff zur ungefähren Orientierung. 195 Shaftesbury 1963, I 45–46 – »Freedom of Wit and Humour«, Section II. 196 Brandt 2007. 197 Vgl. jetzt Hassemer 2009. 198 Zu ergänzen ist, dass der Befehlshaber zu dieser Handlung nicht nur berechtigt, sondern auch verpflichtet ist. 199 Brandt 2008d. 200 Rousseau 1959 ff. IV 580 – Emile IV. 201 Nach der Formulierung vom »absoluten teleologischen Urtheile«, V 369,2; auch »absolute Einheit der Vorstellung« V 377,4–5. 202 Vgl. V 258,7; 262,12; 292,13; 431,6. 203 Die Formulierung kommt der sicher nicht intendierten »causa sui«-Vorstellung Gottes nahe, denn wenn das Naturprodukt »von sich selbst Ursache und Wirkung ist«, dann ist der Tatbestand des spinozistischen Gottes erfüllt. Aber die Begriffe von Ursache und Wirkung sind bei Kant als zeitlich schematisierte 185
Anmerkungen | 249
Begriffe zu nehmen. Die Frage des Anfangs der Naturprodukte wird nicht gestellt; Selbstschöpfungen können sie nicht sein. 204 Nicht zu verwechseln mit der Wechselwirkung der KrV. 205 Von Seneca stammt das Beispiel der zweckmäßigen Kapitalanlage beim Hausbau (V 372,29–373,3), und hier verwendet Seneca gegen seine sonstige Lehre (s. 65,4) das Vier-Ursachen-Schema von Aristoteles: »Quarta causa est faciendi propositum. Quid est propositum? Quod invitavit artificem, quod ille secutus fecit: vel pecunia est haec, si venditurus fabricavit […].« (Seneca 1974, 538–541 – Epistulae morales ad Lucilium 65, 4–6) Kant betont mit-gegen Seneca, »daß es nicht mehr als diese zwei Arten der Causalität [sc. nexus efficiens und finalis, RB] geben könne.« (V 373,2–3) Dasselbe sagt Leibniz: »Alle Dinge in der Natur können auf zweifache Weise erklärt werden, durch das Reich der Macht oder die Wirkursachen und durch das Reich der Weisheit oder die Zweckursachen […]; wobei sich beide Reiche überall durchdringen, die Gesetze selbst von beiden jedoch unvermischt bleiben.« Zit. nach Busche 2008, 150 (Vgl. die detaillierte Analyse von Senecas Ursachenlehre in Santozki 2006, 317–326. Generell zur Genese und Systematik der kantischen Ursachen- und Zwecklehre s. dort Kapitel IV »Die Antike in der ›Kritik der teleologischen Urteilskraft‹«, 230–505). 206 Kant wird im Spätwerk zuweilen auch die finalen Ursachen zu den realen zählen: »vires moventes sunt vel causarum efficientium, vel finalium« (XXI 198,7–8). 207 Herausgestellt XXI 183,15–16; 184,23–185,3 u. ö. 208 Soll dieses »gedacht« emphatisch nur auf die nicht-schematisierte Kategorie des Verstandes bezogen werden? Warum sagt Kant nicht »durch den Verstand erkannt wird«? 209 Die Vorstellung von »abwärts« und »aufwärts« (V 372,21; 26; 28) kann sich 1. auf räumliche (IX 348,23) oder 2. zeitliche (VIII 29,35) Sachverhalte oder 3. die Relation von Bedingung und Bedingtem beziehen, dies letztere 4. auch in Zeitverhältnissen (A 409–411). Unsere Passage changiert zwischen der 3. und 4. Möglichkeit. 210 Zu dem für Kant schwierigen Übergang von der theoretisch-reflektierenden zur (moralisch) praktischen reflektierenden Urteilskraft vgl. Brandt 2007, 482–488. 211 Brandt 2007, 393–496. Der nachfolgende Text dieses Kapitels ist in kurzen Partien diesem Buch entnommen. Zur Frage der Möglichkeit der Schönheit reiner Empfindungen vgl. meinen Beitrag zur Festschrift für Peter Baumanns 2010. 212 S. die ausführliche Studie von Naragon 1987. 213 Auch Brandt 2007, 477–480. 214 Kants Hinweis auf die Entblätterung eines Baumes durch einen äußeren Akt (V 277,13–16) ist zu ergänzen durch das Abwerfen der Blätter durch den Baum selbst. 250 | Anmerkungen
Das Wort gibt es bei Kant wohl nicht. Zit. nach Voss 2008, 122. 217 Physische Geographie Dönhoff (um 1782), Transkription Werner Stark, S. 79. Eine derartige Beobachtung fehlt (noch?) in der Physischen Geographie Holstein (um 1758–1759). 218 Mit der Formulierung »Ungleichheit unter Menschen« (V 432,14) zitiert Kant den Titel von Rousseaus Discours De l’inégalité parmi les hommes (1755). 219 Zu dieser festen Trias vgl. Brandt 1998, 51–81. 220 Hier gehen in die Mittel der Natur, die die reflektierende Urteilskraft entdeckt, auch die eigenen Zwecke der Menschen ein, die »private vices«, die zum »public benefit« führen, ohne dass die menschlichen Akteure dies beabsichtigen; auf diese Komplikation soll hier nicht eingegangen werden. 221 Zum Theodizee-Problem s. das nächste Kapitel. 222 S. die Erläuterung des zitierten Textes IV 436,32–36. 223 S. oben 81–84. 224 Es kann auch paternalistisch verwaltet werden, wie die Sozialphilosophie Christian Wolffs und der spätere Partei-Sozialismus vorführt. 225 Kropotkin 1910. 226 S. dazu unten 209–213. 227 »Über das Misslingen aller philosophischen Versuche in der Theodizee«, 1791 (VIII 253–272). 228 Vgl. Kant über sein eigenes Unternehmen in der »Idee zu einer allgemeinen Geschichte in weltbürgerlicher Absicht«: »Eine solche Rechtfertigung der Natur – oder besser der Vorsehung – ist kein unwichtiger Bewegungsgrund, einen besonderen Gesichtspunkt der Weltbetrachtung zu wählen.« (VIII 30,18– 21) 229 Vgl. dazu Pauen 1997. 230 Vgl. Frank und Zanetti 1996, 1322–1330. 231 S. oben 143–146. 232 Mittelstraß 1970. 233 Zu der logischen Bewegung vgl. die Diskussion des Sokrates mit dem Knaben-Sklaven im Menon 1. Falsche Meinung, 2. Destruktion der Meinung und Krise, 3. Aufbau der richtigen Erkenntnis. 234 Sie beginnt nach der Renaissance zu verschiedenen Zeiten in den westeuropäischen Ländern und endet kurz vor 1800. 235 Zu den historischen Umständen der Schrift vgl. Hinske (Hrsg.) 1973, Einleitung. 236 Zum Problem s. Coves 2004, 221 (das »sapere aude« in szientistischer und antiszientistischer Tendenz). 237 Das sieht Kants Gegner Johann August Eberhard sehr gut, der 1789 einen Aufsatz publiziert mit dem Titel »Über die wahre und falsche Aufklärung, wie auch über die Rechte der Kirche und des Staates derselben« (s. Hinske (Hrsg) (1973) XLIV, Anm. 68). 215 216
Anmerkungen | 251
Vgl. auch Schneiders (Hrsg.) 2001, 10–12. Zum »Geburtsfehler einer Aufklärung durch Wissenschaft« vgl. Enskat 2008, 327–341: »Die Maßlosigkeiten des szientistischen Urmodells des Aufklärung«. 240 Diderot 1955–1970, IV 172. 241 Bacon 1962–1963, IV 579 – De Dignitate et Augmentis Scientiarum IV 1. In England beginnt die Aufklärung ebenso wie in Frankreich wesentlich früher als im deutschen Sprachraum, ohne sich als solche zu benennen. 242 Auch Bacon bedient sich einer juridischen Denkweise, wenn er die Fremdherrschaft der Idole denunziert. 243 Meinungen nicht im versöhnlichen Sinn Platons, sondern in der Abwehrhaltung der Stoiker: Jede bloße Meinung ist falsch und verwerflich, weil sie das wahre Wissen verhindert. 244 Locke 1975, 100–102 und 706–719 – An Essay Concerning Human Understanding I 4, 23 und IV 20. 245 Locke 1975, 52 – An Essay Concerning Human Understanding I 2, 10 u. ö. 246 Noch ganz in Lockescher (auch Wolffscher) Manier behandelt Kant das Selbstdenken um 1770, s. in der Logik Philippi XXIV 321; zur Wolff-Nähe s. Hinske 1973, XVII. 247 Aber auch Locke hatte gleich im § 4 des Conduct of the Understanding (in Königsberg 1755 in Übersetzung erschienen) geschrieben, die Menschen würden 1. statt selbst zu denken anderen Leuten blinden Glauben schenken, 2. statt der Vernunft den Neigungen folgen und 3. statt sich mit anderen zu bereden und zu beratschlagen den eigenen, häufig nicht zutreffenden Einsichten folgen (Locke 1963, III 213–216 – Conduct of the Understanding § 4). 248 Locke 1975, 11; auch 45 – An Essay Concerning Human Understanding, »Epistle to the Reader«. 249 Zitiert nach Hinske 1973, LXII–LXIII. Die »Wichtigkeit« nimmt das »concernment« auf. 250 Das Vermögen der geschulten Urteilskraft ähnelt der Aristotelischen phronesis. Zum Thema der Urteilskraft generell s. Enskat 2008. 251 S. V 294; VII 200; 228; Brandt 1999a, 333–334. 252 Vorzüglich Schmitt 1998. 253 Politisch, nicht häuslich (oikos = Haus) wie bei Xenophon. 254 Es ist dieselbe Ordnung, in die Descartes zu Beginn der Meditationen die falschen Meinungen bringt. 255 Dazu oben S. 141–143. 256 Der Begriff der Bewegung wird in diesem Sinn von Kant noch nicht gebraucht. 257 Für den Bürger steht vorher der Finanzrat, weil die Bürger als einziger Stand Steuern zahlen. Offizier für den Adelsstand, weil unter Friedrich II. nur Adligen der Zugang zu Offiziersstellen offen stand. 238 239
252 | Anmerkungen
Man sieht, dass hier Staat und Gesellschaft noch identifiziert werden müssen. 259 Cicero 1964, 84 – De officiis I 28, 97. 260 Neues Testament Matthäus 22, 21. 261 Kant meidet den Begriff der Subordination, er begegnet jedoch in der Berlinischen Monatsschrift, Hinske (Hrsg.) 1973, 403. 262 Vgl. dazu XXIV 93 u. ö. Vgl. auch die emphatische Erklärung A 752– 753. 263 Bei den vier Kardinaltugenden sind die temperantia, fortitudo und prudentia auf bestimmte Inhalte der Gesellschafts- und Seelenordnung bezogen, die vierte dagegen, die iustitia, formt die Einheit und das Maß der drei vorhergehenden Tugenden. Es bedarf also keiner Instanz, die der Trias erst ihre richtigen Inhalte gibt, wie in den christlichen Tugenden. 264 Dazu Brandt 2007. 265 Lucretius 2009 – De rerum natura I 101. 266 Rousseau 1959 ff., III 355–358 – Du contrat social I 4. 267 Fichte 1962 ff., I 1, 236 ff. – Beitrag zur Berichtigung. 268 Vorher war bereits die Rede vom Beruf des Menschen, VIII 36,11; s. auch 65,22–35. 269 Zur Herkunft dieser Gedankenfigur von Shaftesbury und Spalding vgl. Brandt 2007. 270 Die konstellative Ordnung orientiert sich an dem Muster 1, 2, 3 / 4. Nur durch diese Ordnung ist der im Titel formulierte Anspruch gerechtfertigt, »alle« Versuche in der Theodizee zu erfassen und ihr Misslingen zu zeigen. Die Schrift kann ohne den Blick für die Konstellation der Argumente nur unvollständig interpretiert werden. 271 Dazu s. oben S. 170–172. 272 Hinske (Hrsg.) 1973, 445. 273 Hinske (Hrsg.) 1973,446. 274 Im Folgenden werden die Verweise auf die Schrift in den Text eingerückt. Benutzt wird die Ausgabe im Verlag de Munter, Amsterdam 1968. Dazu Hinske (Hrsg.) 1973, XIV–XV; Scholz 1998, 157–159. 275 Hegel 1949, 383–413 – Phänomenologie des Geistes VI »Der Geist«, B II. 276 Nach Küppers 2008. 277 Brandt 2009b. 278 Vgl. oben S. 87 ff. 279 Vgl. dazu Wetz 1998, 96–108. 280 Vorher gab es ein breites Interesse kantianisierender Autoren an wirtschaftlichen Fragen, man denke etwa an Karl Vorländer. Zu einem ähnlichen Phänomen in der Fichte-Rezeption vgl. Brandt 2009c. 281 Weber 1900; Brandt 2009c. 282 Schlosser 1795, 183. 283 Dazu Brandt 1999c, bes. 71–82. 258
Anmerkungen | 253
Zur Literatur vgl. Dietmar von der Pforten 2006. VI 332,3–10; s. unten S. 223. 286 Diels-Kranz 1956, II 166 – Demokrit B 118. 287 Einige wenige Hinweise bei Wetz 1998, 20–28. 288 Habermas 2009. Zum analogen Rechtsbegriff des Kantianers Friedrich Schiller s. Schings 1996, 101–129: »V. Rechte der Menschheit. Die Stunde des Marquis Posa«. Zur jetzigen Debatte Wetz 1998. 289 Eine umsichtige Darstellung bringt Hruschka 2002; mit umfassender Literaturbearbeitung Sensen 2009; die folgenden Erörterungen kommen zu demselben Ergebnis wie Sensen, dass der Fundamentalbegriff natürlich der der Freiheit und des Freiheitsgesetzes ist. 290 S. oben S. 127. 291 Zu der Dreiheit vgl. auch XXVIII 248,3 ff.; Aristoteles 1957 – Nikomachische Ethik 1156a6 ff. 292 Cicero 1961, 94 – Academica Priora (Lucullus) II 131. 293 Vgl. bes. Gregor 1963, 113–127: »The Nature of Perfect Duties to oneself«. 294 Eine verwandte Formulierung findet sich in der Allgemeinen Literatur Zeitung Nr. 237 vom 5. 9. 1792: »Verhindere jeden, der dich oder einen anderen Menschen als ein bloßes Mittel behandelt.« Rez. Hufeland. 295 Die in Aussicht gestellte Erklärung findet sich weder in der publizierten Fassung noch in den erhaltenen Vorarbeiten. 296 Rousseau 1959 ff., III 364 – Du Contrat Social I 7. 297 Dazu Brandt 2008d. 298 Zur Einordnung des Rechts der Menschheit in unserer Person im Begriffsfeld des Rechts vgl. Casas 1996, bes. 49 ff. 299 Dazu Wetz 1998. 300 Adorno 1970, 99. 301 Vgl. schon oben S. 128. Mit dem Hinweis auf den Preis spielt Kant auf den Kontrastbegriff der Würde an. Zu dem vertrauten Kontrast von Preis und Würde vgl. schon Aristoteles, Politik 1258a5–14; Hobbes 2003, 63–64. 302 Wetz 1998, 88. S. auch 139–140. 303 Bei Verweisen auf die Bemerkungen wird im Folgenden auf die Bandangabe (XX) verzichtet. – Dieses Kapitel erscheint im Erstdruck in: Susan Meld Shell und Richard Vekley (Hrsg.), Kant’s ›Observations‹ and ›Remarks‹. A Critical Guide, Cambridge University Press. 304 Beide natürlich mit Aufenthalten außerhalb der Stadt. 305 Euler 1999. 306 Voltaire erlangte 1765 die Rehabilitierung des Toulouser Kaufmanns Jean Calas, der auf Betreiben der katholischen Kirche fälschlich angeklagt und 1762 gerädert wurde. »J’accuse«: So Emile Zola in der sog. Dreyfus-Affäre 1894– 1906. 307 Dazu allgemein Brandt 2003. 284 285
254 | Anmerkungen
Die Dreiheit von Widersprüchlichkeit, Hässlichkeit und Verachtung nimmt die antike Trias von Wahrem, Schönem und Gutem auf, die die Folie der drei Kritiken bildet. 309 Rousseau 1959 ff., III 356 – Du Contrat Social I. 310 Dasselbe Beispiel konnte Kant bei David Hume finden. In der Inquiry Concerning the Principles of Morals stand: »Where a man bestows labor and industry upon any object which before belonged to nobody, as in cutting down or shaping a tree […].« (Hume 1957, 125) Hume argumentiert dann assoziationspsychologisch, nicht naturalistisch wie Locke und nicht naturalistisch und symbolisch wie Rousseau und Kant. 311 Locke 1970, 305–306 – The Second Treatise § 27. Zur Beziehung dieser Vorstellung zur stoischen oikeiosis-Lehre vgl. Brandt 2003. 312 Rousseau 1959 ff., III 366 – Du Contrat social I 9. 313 Damler 2008, 38, Anm. 38. 314 Locke 1970, 310–311 – The Second Treatise § 36. 315 Ein später Reflex findet sich in der KdU: »Die Geschicklichkeit kann in der Menschengattung nicht wohl entwickelt werden, als vermittelst der Ungleichheit unter Menschen: da die größte Zahl die Nothwendigkeit des Lebens gleichsam mechanisch, ohne dazu besonders Kunst zu bedürfen, zur Gemächlichkeit und Muße anderer besorgt, welche die minder nothwendigen Stücke der Cultur, Wissenschaft und Kunst, bearbeiten und von diesen in einem Stande des Drucks, saurer Arbeit und wenig Genusses gehalten wird, […].« (V 432,13–19) 316 In Kürze wird diese Beobachtung zu einem Topos, vgl. Knigge 1999, 193: »Der redliche fleißige Handwerker ist viel vornehmer als der faule, schlechte Minister, und nur die Verderbnis der menschlichen Einrichtungen hat einen so lächerlichen Vorzug eines Standes vor dem anderen eingeführt.« 308
Anmerkungen | 255
Literatur (auch nicht zitierte, jedoch benutzte Schriften)
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Personenregister
Achenwall, Gottfried 130, 228, 248 Adickes, Erich 238, 239, 242 Adorno, Theodor W. 177, 197, 200, 223, 254 Allison, Henry E. 239 Aristoteles 51, 55, 59, 99, 100, 107, 134, 148, 149, 183, 190, 194, 215, 229, 243, 250, 254 Bacon, Francis 180, 252 Bakunin, Michail Alexandrowitsch 11 Beccaria, Cesare 117 Bering, Johannes 10 Bobzien, Susanne 75, 243 Brocker, Manfred 247, 248 Busch, Wilhelm 242 Busche, Hubertus 250 Casas, Vincente Durán 246, 247, 254 Cassirer, Ernst 94, 245 Chrysipp 243 Cicero 94, 160, 186, 190, 220, 249, 253, 254 Cohen, Hermann 11 Constant, Benjamin 117 Coves, Faustino Oncina 251 Cramer, Konrad 101, 245, 247 Damler, Daniel 235, 255 Darwin, Charles 59, 159, 169, 173, 174 Demokrit 151, 215, 254 Descartes, René 8, 20, 109, 151, 181, 227, 228, 246, 252 Diderot, Denis 104, 106, 180, 252
Diels, Hermann 241, 242, 254 Dönhoff 163, 251 Ebbinghaus, Julius 11, 128, 129, 238, 247 Eberhard, Johann August 10, 251 Einstein, Albert 15 Elias 239 Engels, Friedrich 11 Enskat, Rainer 247, 252 Epikur 83, 151, 154, 188 Erhard, Johann Benjamin 10 Euklid 9, 31, 33, 34, 35, 36, 37, 39, 45, 47, 49, 50, 52, 239, 240, 241 Euler, Werner 254 Falcioni, Daniela 249 Falkenburg, Brigitte 34, 240 Feder, Johann Georg Heinrich 11 Ferrarin, Alfredo 13 Ferraris, Maurizio 13 Fichte, Johann Gottlieb 10, 11, 12, 55, 88, 94, 127, 178, 194, 211, 238, 245, 253 Frank, Manfred 251 Freud, Sigmund 71 Garve, Christian 11, 140 Gassendi, Pierre 151 Geismann, Georg 75, 76, 244 Graband, Claudia 75, 243, 244 Gregor, Mary 254 Grotius, Hugo 248, 249 Habermas, Jürgen 89, 90, 216, 244, 254 | 267
Hamann, Johann Georg 11 Hassemer, Winfried 249 Hegel, Georg Wilhelm Friedrich 11, 88, 177, 197, 198, 199, 238, 244, 247, 253 Heidegger, Martin 57, 77, 200 Helmholtz, Hermann von 126, 162 Herder, Johann Gottfried 11 Herz, Marcus 10 Hinske, Norbert 251, 252, 253, 254 Hobbes, Thomas 72, 94, 101, 151, 190, 194, 243, 245, 254 Hoeppner, Till 246 Höffe, Ottfried 36, 37, 240, 244 Hofmann, Hasso 249 Holstein 127, 251 Horaz 162, 208 Hörisch, Jochen 249 Horkheimer, Max 177, 197, 200 Hruschka, Joachim 254 Hufeland, Gottlieb 254 Hume, David 9, 10, 59, 91, 207, 241, 255 Jacobi, Friedrich Heinrich 243 Kersting, Wolfgang 137, 247, 248 Kierkegaard, Sören 11 Kiesewetter, Joh. Gottfried Karl Christian 241 Klemme, Heiner F. 13, 14, 244 Knigge, Adolf Freiherr von 255 Kopernikus, Nicolaus 95, 96 Koriako, Darius 15, 28, 239, 240, 241 Kranz, Walther 241, 242, 254 Kropotkin, Peter 169, 251 Küppers, Bernd Olaf 253 Lausberg, Heinrich 240 Lehmann, Gerhard 226 Leibniz, Gottfried Wilhelm 10, 15, 33, 34, 36, 38, 49, 59, 94, 100, 151, 163, 178, 236, 245, 250 268 | Personenregister
Locke, John 9, 32, 72, 139, 149, 178, 181, 182, 184, 199, 202, 204, 221, 229, 233, 234, 235, 237, 241, 243, 245, 249, 252, 255 Lucretius 83, 191, 193, 244, 253 Malebranche, Nicolas 26, 239 Manetti, Giannozzo 216 Marx, Karl 11, 71, 209, 234, 235, 237 Mendelssohn, Moses 8, 64, 193, 196, 243 Mersenne, Marin 151 Mirandola, Pico della 216 Mittelstraß, Jürgen 251 Mori, Massimo 247 Naragon, Steve 250 Nietzsche, Friedrich 200 Novalis 11 Pauen, Michael 251 Pawlow, Iwan Petrowitsch 59 Pforten, Dietmar von der 254 Pistorius, Hermann Andreas 244, 249 Platon 12, 31, 33, 47, 55, 68, 73, 94, 97, 98. 99, 100, 101, 107, 116, 143, 148, 149, 175, 183, 190, 194, 215, 229, 243, 247, 252 Rawls, John 89 Rehm, Michaela 245 Reich, Klaus 45, 47, 241 Reichert, Klaus 243 Reidemeister, Kurt 241 Reinhold, Karl Leonhard 10 Rischmüller, Marie 226, 227 Ritter, Christian 129 Rousseau, Jean Jacques 94, 98, 99, 101, 104, 149, 151, 194, 204, 205, 208, 220, 221, 228, 229, 230, 233–236, 237, 246, 247, 249, 251, 253–255
Santozki, Ulrike 13 Schelling, Friedrich Wilhelm Joseph 11 Schiller, Friedrich 10, 244, 254 Schlegel, Friedrich 11 Schlosser, Johann Georg 212, 253 Schmitt, Arbogast 252 Schmitz, Hermann 239, 240, 241, 242 Schmitz, Markus 241 Schneider, Hans-Peter 245 Schneiders, Werner 252 Scholz, Oliver R. 253 Schröder, Jan 244 Schultz, Johann 10 Schulze, Gottlob Ernst 10, 238 Schütz, Christian Gottfried 10, 238 Schwaiger, Clemens 245 Seneca 250 Shaftesbury, Anthony Earl of 147, 192, 249, 253 Shakespeare, William 68, 70 Siebel, Fritz 238 Smith, Adam 147, 168, 209 Spalding, Johann Joachim 192, 253 Spinoza, Baruch de 106, 151 Stark, Werner 251
Steele, Arthur Donald 240 Steinmetz, Peter 243 Stiegler, Bernard 206 Swedenborg, Emanuel von 106, 107, 246 Unruh, Patrick 57, 240, 242, 243 Vaihinger, Hans 15 Volland, Sophie 180 Voltaire 193, 207, 226, 254 Voss, Julia 251 Warren, Benjamin 239 Weber, Marianne 253 Wetz, Franz Josef 253, 254 Willaschek, Marcus 13, 111, 244–246 Wolff, Christian 9, 10, 23, 33, 72, 239, 243, 251, 252 Wolff, Michael 14, 15, 43, 44, 47, 49, 180, 236, 238, 239, 240, 241 Yack, Bernard 89, 244 Zanetti, Véronique 251 Zekl, Hans Günter 240
Personenregister | 269