Geisteswissenschaft – was bleibt?: Zwischen Theorie, Tradition und Transformation 9783495820377, 9783495490686


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Inhalt
Hans Joas / Jörg Noller: Geisteswissenschaft – was bleibt?
I. Was ist Geisteswissenschaft?
Carl Friedrich Gethmann: Der Geist der Geisteswissenschaften zwischen Naturalismus und Mentalismus
1. Natur und Geist
2. Erfahrungswissenschaften vom objektiven Geist
3. Verstehen
3.1 Kritik der »expressionistischen« Hermeneutik
3.2 Grundzüge einer konventionalistischen Hermeneutik
Literaturverzeichnis
Jörg Noller: Geisteswissenschaft zwischen Tradition und Transformation.
1. Ambivalenzen des Geistes
2. Humboldts kritischer Geistbegriff
2.1 Merkmale des Geistes
2.2 Geist der Sprache
2.3 Geist der Geschichte
2.4 Bildung des Geistes
3. Transformation des Geistes
Literaturverzeichnis
Hans-Ulrich Lessing: Die Geisteswissenschaften und die Hermeneutik
1. Verstehen als Methode: Diltheys hermeneutische Grundlegung der Geisteswissenschaften
2. Verstehen als Geschehen: Gadamers Begründung einer philosophischen Hermeneutik
3. Plädoyer für eine erneuerte Hermeneutik
Literaturverzeichnis
Hans Joas: Soziologie zwischen Geistes- und Naturwissenschaft.
1. Die Entstehung der Soziologie und die Herausbildung eines Kanons
2. »Geist« oder »Handlung« als Schlüsselbegriff
3. Das Exempel der Religionssoziologie
Literaturverzeichnis
Dieter Thomä: Geist, Kultur, Gesellschaft.
Literaturverzeichnis
Vittorio Hösle: Was sind und zu welchem Ende studiert man Geisteswissenschaften?
I.
II.
III.
IV.
V.
Literaturverzeichnis
II. Probleme und Perspektiven der Geisteswissenschaft
Susanne Lüdemann: Lesen, Schreiben, Deuten
Literaturverzeichnis
Gerhard Lauer: Über den Wert der exakten Geisteswissenschaften
I. Grimms Wörter: »genau« und »ungenau«
II. Die Geburt der exakten Methode aus dem Geist des Heiligen
III. Das Lob der formalen Exaktheit
IV. Geisteswissenschaften des 21. Jahrhunderts
Literaturverzeichnis
Annette Vowinckel: Geschichtswissenschaft zwischen echten und falschen Fragen
Literaturverzeichnis
Malte Rehbein: Über Historik im Digitalen
1. Einleitung
2. Prämissen
3. Digitale Quellen: Kontinuität und Wandel
3.1. Fallbeispiele: Medienwandel in der politischen Provokation
3.1.1. Boten und Presse: »Emser Depesche«
3.1.2. Massenmedien: »Sportpalastrede«
3.1.3. Social Media: Trump
3.2. Kontinuität und Wandel historischer Forschung
4. Historik im Digitalen
4.1. Über die historische Methode
4.2. Ein Fallbeispiel
4.3. Digitale Quellenkritik
4.4. Digitale Quellen und Heuristik
4.4.1. Über Fälschungen
4.4.2. Menschliche und maschinelle Äußerungen
4.4.3. Das Webarchiv
4.4.4. Das perfekte Archiv
5. Digitale Hermeneutik
Literaturverzeichnis
Sybille Krämer: Was bedeutet ›Geist‹?
1.
2.
3.
4.
5.
6.
7.
8.
9.
10.
Literaturverzeichnis
Die Autorinnen und Autoren
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Geisteswissenschaft – was bleibt?: Zwischen Theorie, Tradition und Transformation
 9783495820377, 9783495490686

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Geist und 5 Geisteswissenschaft Hans Joas Jörg Noller (Hg.)

Geisteswissenschaft – was bleibt? Zwischen Theorie, Tradition und Transformation

VERLAG KARL ALBER

https://doi.org/10.5771/9783495820377

.

B

Hans Joas / Jörg Noller (Hg.) Geisteswissenschaft – was bleibt? Zwischen Theorie, Tradition und Transformation

VERLAG KARL ALBER

A

https://doi.org/10.5771/9783495820377 .

Geist und 5 Geisteswissenschaft Herausgegeben von Hans Joas (Berlin) Martin Mulsow (Erfurt) Jörg Noller (München) Birgit Recki (Hamburg) Thomas Zwenger (München) Wissenschaftlicher Beirat: Karl Ameriks (Notre Dame), Myriam Bienenstock (Tours), Thomas Buchheim (München), Christoph Demmerling (Jena), Faustino Fabbianelli (Parma), Markus Gabriel (Bonn), Anton Friedrich Koch (Heidelberg), Isabelle Mandrella (München), Michael Quante (Münster), Pirmin Stekeler-Weithofer (Leipzig), Violetta L. Waibel (Wien), Paul Ziche (Utrecht), Günter Zöller (München)

Band 5 Die Reihe bietet ein offenes Forum für Monographien, Tagungsbände und Editionen von Texten, welche Fragen nach den spezifischen Gegenständen, Bedingungen und Möglichkeiten der Geisteswissenschaften zum Thema haben. Im Zentrum steht der Begriff des Geistes, der kritisch auf sein hermeneutisches und systematisches Potential hin befragt werden soll. Die Reihe will insofern zur Selbstbestimmung und Selbstbesinnung der Geisteswissenschaften beitragen. Dabei wird bewusst eine Verbindung von philosophischen Themen mit angrenzenden Bereichen wie Ideen-, Begriffsgeschichte sowie Soziologie, Kulturwissenschaft und Theologie angestrebt.

https://doi.org/10.5771/9783495820377 .

Hans Joas / Jörg Noller (Hg.)

Geisteswissenschaft – was bleibt? Zwischen Theorie, Tradition und Transformation

Verlag Karl Alber Freiburg / München

https://doi.org/10.5771/9783495820377 .

Hans Joas / Jörg Noller (Eds.) The Humanities – what will remain? Between Theory, Tradition and Transformation The contributions of this edited volume aim to consider and determine the objectives, limitations and challenges of the humanities in the 21st century. The book focuses on the following crucial questions: In which sense can the humanities be called a »science«? What are the humanities and what does »Geist« stand for in the German notion of »Geisteswissenschaften«? What is the relationship between the natural sciences and the humanities? What are the promises and dangers of digitalization in the humanities?

The Editors: Hans Joas received his PhD in Berlin in 1979 and taught at universities in Erlangen, Berlin, Erfurt, Freiburg, and New York. He is Ernst Troeltsch Professor at the Humboldt University of Berlin and Professor of Sociology and Social Thought at the University of Chicago. Joas is the recipient of numerous prestigious awards, e. g., the Max Planck Research Award (2015) and the Prix Paul Ricœur (2017). Jörg Noller studied at the universities of Munich and Tübingen. He received his PhD with a thesis on the problem of autonomy after Kant. He was a research fellow in Chicago, Pittsburgh, and Notre Dame (USA). Noller currently works on his habilitation on »personal life forms«.

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Hans Joas / Jörg Noller (Hg.) Geisteswissenschaft – was bleibt? Zwischen Theorie, Tradition und Transformation Die Beiträge des Sammelbandes setzen sich zum Ziel, die Gegenstände, Grenzen und Herausforderungen der Geisteswissenschaften im 21. Jahrhundert zu bedenken und zu bestimmen. Folgende Fragen stehen dabei im Zentrum: Inwiefern ist Geisteswissenschaft eine Wissenschaft? Was ist überhaupt Geist? Wie verhalten sich Naturwissenschaft und Geisteswissenschaft zueinander? In welchem Verhältnis stehen Geisteswissenschaft und Kulturwissenschaft? Was sind die Chancen, was die Gefahren der Digitalisierung in den Geisteswissenschaften?

Die Herausgeber: Hans Joas hat nach Promotion und Habilitation in Berlin als Professor unter anderem an Universitäten in Erlangen, Berlin, Erfurt, Freiburg und New York gelehrt. Seit dem Jahr 2000 ist er Professor für Soziologie und Mitglied des Committee on Social Thought an der University of Chicago, seit 2014 auch Ernst-Troeltsch-Honorarprofessor an der Humboldt-Universität zu Berlin. Er hat zahlreiche Auszeichnungen erhalten, so 2015 den Max-Planck-Forschungspreis und 2017 den Prix Paul Ricœur. Jörg Noller studierte an den Universitäten Tübingen und München. Er promovierte über das Autonomieproblem im Ausgang von Kant. Forschungsaufenthalte führten ihn nach Chicago, Pittsburgh und Notre Dame (USA). Zurzeit arbeitet er an seiner Habilitation zum Thema »personale Lebensformen«.

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© VERLAG KARL ALBER in der Verlag Herder GmbH, Freiburg/München 2019 Alle Rechte vorbehalten www.verlag-alber.de Satz und PDF-E-Book: SatzWeise, Bad Wünnenberg Herstellung: CPI books GmbH, Leck Printed in Germany ISBN (Buch) 978-3-495-49068-6 ISBN (PDF-E-Book) 978-3-495-82037-7

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Inhalt

Geisteswissenschaft – was bleibt? Zur Einführung Hans Joas / Jörg Noller

. . . . . . .

9

Der Geist der Geisteswissenschaften zwischen Naturalismus und Mentalismus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Carl Friedrich Gethmann

17

Geisteswissenschaft zwischen Tradition und Transformation. Perspektiven nach Wilhelm von Humboldt . . . . . . . . . . . Jörg Noller

34

I.

Was ist Geisteswissenschaft?

Die Geisteswissenschaften und die Hermeneutik . . . . . . . . Hans-Ulrich Lessing

50

Soziologie zwischen Geistes- und Naturwissenschaft. Das Exempel der Religionssoziologie . . . . . . . . . . . . . . Hans Joas

70

Geist, Kultur, Gesellschaft. Zur Begründung und Kritik von Geisteswissenschaft . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Dieter Thomä

85

Was sind und zu welchem Ende studiert man Geisteswissenschaften? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Vittorio Hösle

104

7 https://doi.org/10.5771/9783495820377 .

Inhalt

II. Probleme und Perspektiven der Geisteswissenschaft Lesen, Schreiben, Deuten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Susanne Lüdemann Über den Wert der exakten Geisteswissenschaften Gerhard Lauer

137

. . . . . . 152

Geschichtswissenschaft zwischen echten und falschen Fragen . . Annette Vowinckel

174

Über Historik im Digitalen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Malte Rehbein

183

Was bedeutet ›Geist‹? Eine etwas andere ›Philosophie des Geistes‹ mit Seitenblick auf die digitalen Geisteswissenschaften . Sybille Krämer

224

Die Autorinnen und Autoren . . . . . . . . . . . . . . . . .

251

8 https://doi.org/10.5771/9783495820377 .

Geisteswissenschaft – was bleibt? Zur Einführung Hans Joas / Jörg Noller

Von Friedrich Heinrich Jacobi stammt die These, dass »der Geist keine wißenschaftliche Behandlung verträgt, weil er nicht Buchstabe werden kann.« Jacobi hat daraus weitreichende Schlüsse gezogen: »Er, der Geist, muß also draußen bleiben vor den Thoren seiner Wißenschaft; wo sie ist, darf Er Selbst nicht seyn. Darum buchstabieret, wer den Geist zu buchstabieren wähnt, zuverläßig immer etwas anderes, wißentlich oder unwißentlich.« 1 Kann es dann überhaupt eine Geistes-Wissenschaft geben? Fest steht jedenfalls: Es gibt kaum einen anderen philosophischen Begriff, der so bedeutungsschwer und zugleich so wenig spezifisch erscheint wie der Begriff des Geistes. 2 Das deutsche Wort »Geist« umfasst die Bedeutungen der griechischen Wörter »lógos«, »noûs«, »pneúma«, »thymós«, »daímon« und auch »psyché«, entsprechend im Lateinischen Wörter wie »ratio«, »mens«, »spiritus«, »animus«, »anima«, »genius« und »sensus«. 3 Das Historische Wörterbuch der Philosophie spricht mit Blick auf diese Polysemie davon, dass es vergeblich sei, die Geschichte des Geistes »auf einen Begriff zu bringen«; vielmehr müsse versucht werden, »sie in ihrer Fülle, Vielfalt und in der wenigstens mitunter sichtbaren Konsequenz ihrer Entfaltung dem Verstehen zu vergegenwärtigen.« 4 Wenn schon der Begriff des Geistes problematisch ist, dann nicht weniger der Begriff der Geisteswissenschaft. »Wozu Geisteswissenschaften?« lautet der Titel eines 2003 erschienenen Sammelbandes, 1 Jacobi an Fichte (1799), in: Werke Gesamtausgabe [JWA] 2,1, hg. v. Klaus Hammacher und Walter Jaeschke, Hamburg 1998 ff., 187–240. 2 Vgl. dazu neuerdings Jörg Noller/Thomas Zwenger (Hg.): Die Aktualität des Geistes. Klassische Positionen nach Kant und ihre Relevanz in der Moderne (= Geist und Geisteswissenschaft, Bd. 1). Freiburg/München 2018. 3 Vgl. Hartmut Buchner: Art. »Geist«, in: Handbuch philosophischer Grundbegriffe, Bd. 2, hg. v. Hermann Krings u. a., München 1973, 536–546, hier 538. 4 Ludger Oeing-Hanhoff: Artikel »Geist«, in: Historisches Wörterbuch der Philosophie, Bd. 3, hg. v. Joachim Ritter, Basel 1974, 154–158, hier 157.

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Hans Joas / Jörg Noller

der »kontroverse Argumente für eine überfällige Debatte« liefern möchte. 5 Noch kritischer wurden die Geisteswissenschaften 20 Jahre zuvor, in dem von Friedrich Kittler herausgegebenen Band Austreibung des Geistes aus den Geisteswissenschaften: Programme des Poststrukturalismus betrachtet. Kittler diagnostizierte darin drei »Austreibungen des Geistes«, die den Geist höchstpersönlich, aber auch den Menschen und die Geschichte betreffen: Zum einen das dem Geist Unbewusste, welches nach Freud von der Psychoanalyse erstmals wissenschaftlich erschlossen wurde. Zum anderen der Geist der Geschichte, der nach Saussure durch die Linguistik des Signifikanten ersetzt wurde. Und schließlich der Geist der Menschheit, der in Frazers Totemism and Exogamy (1910) durch eine »anhistorische Ethnologie« ersetzt werde. 6 Wenn Friedrich Kittler tatsächlich recht gehabt haben sollte, dann wäre die Frage des vorliegenden Bandes – »Geisteswissenschaft – was bleibt?« – mit einem lapidaren »Nichts« zu beantworten. Doch so einfach lässt sich der Geist wohl nicht austreiben. Ungeklärt bleibt dabei nämlich die Frage, wer oder was eigentlich der Geist ist, der da ausgetrieben wird, und was für eine Wissenschaft es ist, die den Geist zum Gegenstand hat. Der vorliegende Sammelband will das Phänomen der Geisteswissenschaft aus drei Perspektiven beleuchten; er will ihre Theorie, ihre Tradition und ihre mögliche Transformation thematisieren und problematisieren. Damit soll nicht zuletzt die Frage nach der Bedingung der Möglichkeit von Geisteswissenschaft überhaupt aufgeworfen werden, die folgende Fragen nach sich zieht: Was ist überhaupt Geist? Was ist überhaupt eine Geistes-Wissenschaft? Inwiefern ist Geisteswissenschaft eine Wissenschaft? Wie verhalten sich Geistesund Kulturwissenschaft zueinander? Wo sind in diesem Feld die Sozialwissenschaften angesiedelt? In welchem Verhältnis stehen Geistes- und Naturwissenschaften? Wie manifestiert sich Geistiges im Medium der Schrift und Geschichte und wie kann es hermeneutisch erschlossen werden? Worin besteht der »Nutzen« der Geisteswissenschaft, und wie lässt er sich in Zeiten der zunehmenden Ökonomisierung begründen? Und schließlich: (Wie) kann Geisteswissenschaft digital betrieben werden? Die folgenden Beiträge sind von Vertretern Wozu Geisteswissenschaften? Kontroverse Argumente für eine überfällige Debatte, hg. v. Florian Keisinger u. a., Frankfurt/M. 2003. 6 Friedrich A. Kittler: Austreibung des Geistes aus den Geisteswissenschaften. Programme des Poststrukturalismus, Paderborn u. a. 1980, 9. 5

10 https://doi.org/10.5771/9783495820377 .

Geisteswissenschaft – was bleibt?

und Vertreterinnen verschiedener Disziplinen verfasst und bieten dadurch eine Vielfalt von Perspektiven: der Philosophie, der Soziologie, der Kulturwissenschaft, der Literaturwissenschaft, der Geschichtswissenschaft und der »Digital Humanities«. Carl Friedrich Gethmann (Siegen) behandelt in seinem Beitrag die Stellung der Geisteswissenschaften im Kontext des universitären Fächerspektrums. Er problematisiert die Annahme, dass sich alle wissenschaftlichen Disziplinen vollständig in Natur- und Geisteswissenschaften aufteilen ließen. Der Beitrag unternimmt den Versuch, zwischen zehn Arten von Wissenschaften zu unterscheiden. Leitend ist dabei die Differenz von apriorischen Wissenschaften wie der Philosophie und der Mathematik sowie der aposteriorischen Wissenschaften, welche die Natur, die Gesellschaft, die Geschichte und Sprache betreffen. Jörg Noller (München) untersucht die Bedeutung des Geistbegriffs historisch-systematisch nach Wilhelm von Humboldt, dessen Werk sich in besonderer Art zum Verständnis der ›Geistes‹-Wissenschaften eignet. Denn Geist bedeutet bei Humboldt weniger eine Substanz oder einen bestimmten Gegenstand, als vielmehr die (transzendentale) Bedingung der Möglichkeit des Verstehens überhaupt. Dies zeigt sich insbesondere in der Struktur der Sprache, die nicht monologisch, sondern wesentlich dialogisch zu verstehen ist, aber auch in Geschichte und Bildung. Der Beitrag von Hans-Ulrich Lessing (Bochum) unterzieht das hermeneutische Erbe der Geisteswissenschaften einer Betrachtung. Dabei konfrontiert er die beiden wahrscheinlich wirkungsmächtigsten hermeneutischen Konzeptionen des 20. Jahrhunderts miteinander – die Wilhelm Diltheys und die Hans-Georg Gadamers. Der Beitrag plädiert abschließend für eine erneuerte Hermeneutik: Diese muss einerseits auf die geschichtliche Bedingtheit des Interpreten reflektieren, aber andererseits auch versuchen, eine gewisse Objektivität zu erlangen, indem sie kritische und verbindliche Standards der Interpretation entwickelt. Der Beitrag von Hans Joas (Berlin) reflektiert auf die Spannung zwischen Geistes- und Naturwissenschaften, welche die Soziologie seit ihrer Entstehung in sich enthält. Während andere sozialwissenschaftliche Disziplinen wie Ökonomie und Psychologie sich meist ganz dem Vorbild der Naturwissenschaften anzugleichen versuchen, bleibt die Soziologie in dieser Hinsicht zerrissen oder von Vermittlungsversuchen bestimmt. Der Beitrag will dieses Bild in drei Schrit11 https://doi.org/10.5771/9783495820377 .

Hans Joas / Jörg Noller

ten konkretisieren: 1. anhand der Kanonbildung in der Geschichte der Soziologie in Hinsicht auf Methoden und Theorien; 2. anhand der ehrgeizigsten Synthese des Faches in der Mitte des zwanzigsten Jahrhunderts (Talcott Parsons, The Structure of Social Action, 1937), weil diese in Gestalt einer Handlungstheorie den Ausweg aus der inneren Zerrissenheit gefunden zu haben beansprucht und den idealistischen Leitbegriff »Geist« ablösen will; 3. anhand der Entwicklung auf dem Gebiet der Subdisziplin Religionssoziologie, weil hier – insbesondere beim religiösen Gemeinschaftshandeln, beim Verständnis des Heiligen und bei der Herausbildung religiöser Institutionen – die potentielle Überlegenheit eines (auch gegenüber Parsons verbesserten) handlungstheoretischen Vorgehens demonstriert werden kann. Ohne einen Ausweg aus den Schwierigkeiten der Benennung von Disziplinen, die das menschliche Handeln zum Gegenstand haben, bieten zu können, folgt aus diesen Überlegungen ein indirektes Plädoyer für den Reichtum der hermeneutischen und pragmatistischen Traditionen in der Soziologie. Der Beitrag von Vittorio Hösle (Notre Dame) versucht, eine Geschichte der Geisteswissenschaften zu skizzieren, die diese nicht einfach als Kompensationsgeschehen im Sinne Odo Marquards deutet, sondern in ihrem Eigenrecht ernst nimmt. Dabei wird der Frage nachgegangen, worin das eigentliche Unterscheidungsmerkmal der Geisteswissenschaften besteht. Der Beitrag demonstriert, was die Geisteswissenschaften leisten können und überprüft kritisch ihre wissenschaftliche Leistung hinsichtlich ihrer positiven wie negativen gesellschaftlichen Konsequenzen. Schließlich untersucht der Aufsatz, worin die Grenzen der Geisteswissenschaften bestehen und kritisiert gegenwärtige geisteswissenschaftliche Tendenzen. Dabei soll zugleich angedeutet werden, wie die Kooperation mit solchen Disziplinen, die nicht geisteswissenschaftlich ausgerichtet sind, Lösungswege für die gegenwärtigen Geisteswissenschaften eröffnen kann. Susanne Lüdemann (München) reflektiert in ihrem Beitrag auf das Verhältnis der deutschen Tradition der »Geisteswissenschaften« und der internationalen »Humanwissenschaften«. Sie problematisiert den traditionellen Begriff der »Geisteswissenschaft« und dessen Orientierung am deutsch-idealistischen und metaphysischen Begriff des »Geistes« angesichts der künftigen Herausforderungen, die die darunter immer noch subsumierten Fächer im Zeitalter der Globalisierung betreffen. Angesichts der zunehmend szientistischen und empiristischen (Selbst-)Ausrichtung ehemals anders sich verstehen12 https://doi.org/10.5771/9783495820377 .

Geisteswissenschaft – was bleibt?

der Disziplinen wie etwa der Soziologie, Psychologie, Linguistik und selbst der Philosophie und Geschichtswissenschaft verweist der Beitrag auf die unerlässlichen hermeneutischen und philologischen Tätigkeiten. Humanwissenschaften sollten demnach weniger von ihrem Gegenstand – sei es der »Geist« oder die »Kultur« – her betrachtet werden, als von ihren spezifischen Aktivitäten: Lesen, Schreiben, Deuten. Gerhard Lauer (Basel) reflektiert auf die problematische Unterscheidung zwischen »genauen« und »ungenauen« Wissenschaften, die Jacob Grimm im Jahr 1846 vorgenommen hat. Denn diese Unterscheidung impliziert die Auffassung, dass die Entwicklung der Wissenschaften nur eine Richtung hin zu den exakten Wissenschaften, den Naturwissenschaften, kenne. Der Beitrag argumentiert dafür, dass Grimm und mit ihm viele Geisteswissenschaftlerinnen und -wissenschaftler die Tradition der »exakten Geisteswissenschaft« nicht genügend kennen. Er versteht sich denn auch als ein Plädoyer für diese häufig übersehene, aber dennoch wichtige Tradition. Der Beitrag von Dieter Thomä (St. Gallen) diskutiert die Aufgabe der Geisteswissenschaft mit Blick auf den Begriff des »Geistes«. Für die Bestimmung des »Geistes« sind verschiedene Oppositionen zentral, wie etwa die Opposition zwischen Geist und Körper oder der Gegensatz zwischen Europa als dem »Hort des Geistes« und dem Rest der Welt. Der Beitrag diskutiert diese Oppositionen u. a. mit Blick auf Descartes, Dilthey, Husserl, Paul Valéry, Julien Benda und Max Horkheimer. Er konfrontiert ferner den Begriff des Geistes mit den verwandten Begriffen der »Kultur« und »Gesellschaft« und analog dazu die »Geisteswissenschaft« mit der »Kultur-« und »Sozialwissenschaft«. Anhand einer aufschlussreichen Konstellation aus den 1920er Jahren wird dann die »Krise« des Geistes und der Geisteswissenschaft exemplarisch am Streit zwischen dem Hochschulpolitiker Carl Heinrich Becker und dem Romanisten Ernst Robert Curtius dargestellt. Der Beitrag zeigt, dass eine Begründung der Geisteswissenschaft gerade insofern problematisch ist, als sie die Isolierung einer rein geistigen Sphäre zum Ziel hat. Anne Vowinckel (Potsdam) problematisiert die gegenwärtige Stellung der Geschichtswissenschaft und deren disziplinäre Beurteilung. Manche verstehen sie als eine »Herrschaftswissenschaft«, für andere ist sie gar keine Wissenschaft, sondern nur eine Art akademische Erzählkunst. In der Praxis sind für die Geschichtswissenschaft jedoch andere Fragen von Relevanz, etwa die nach dem Verhältnis 13 https://doi.org/10.5771/9783495820377 .

Hans Joas / Jörg Noller

von nationaler und transnationaler Geschichte, nach der Bedeutung der Digitalisierung für das wissenschaftliche Arbeiten oder nach dem Ort der DDR in der deutschen Geschichte des 20. Jahrhunderts. Der Beitrag versteht sich als eine kritische Bestandsaufnahme und gibt einen Ausblick auf die Zukunft des Fachs im 21. Jahrhundert. Der Beitrag von Malte Rehbein (Passau) betrachtet die »digitalen Geisteswissenschaften« (»Digital Humanities«), die gegenwärtig einer Transformation in drei zentralen Bereichen unterliegen: dem des Untersuchungsgegenstands der jeweiligen Forschung und des epistemologischen Status der daraus gewonnenen Erkenntnisse, dem der Methodik sowie zunehmend auch dem der forschenden Akteure. Diese drei Bereiche sind von Entwicklungen der digitalen (Computer)-Technologie besonders betroffen. Hieraus entstehen methodologisch neue Ansätze, die anderen Wissenschaftszweigen ähneln und diesen oft auch entlehnt sind, wie sich am Beispiel der Informatik zeigen lässt. Der Beitrag argumentiert dafür, dass eine digital transformierte Geschichtswissenschaft kein bloßes Hybrid aus Geistesund Naturwissenschaft ist. Vielmehr ist sie jenseits der Alternative von nicht-empirischem Apriori und rein empirischem Aposteriori anzusiedeln. Zwar wird das »Was?«, »Wie?« und »Wer?« der Geisteswissenschaften digital transformiert, doch bleibt die Frage nach dem funktionalen »Warum?« identisch. Denn das Ziel der Geisteswissenschaften besteht nach wie vor darin, Deutungs- und Sinnangebote zu schaffen. Mit der Sammlung dieser Beiträge möchten die Herausgeber zu einer Diskussion über die Geisteswissenschaften und ihr gegenwärtiges Potential beitragen, die sich über leichtfertige Stereotypisierungen erhebt und wissenschaftsfremden Instrumentalisierungen Widerstand entgegenzusetzen ermöglicht.

14 https://doi.org/10.5771/9783495820377 .

I. Was ist Geisteswissenschaft?

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Der Geist der Geisteswissenschaften zwischen Naturalismus und Mentalismus 1 Carl Friedrich Gethmann

In den Diskussionen über die Organisation der Universität, die Struktur des akademischen Studiums und verwandte Fragen hat sich eine Klassifikation wissenschaftlicher Disziplinen als Selbstverständlichkeit gewissermaßen eingefräst, nämlich die Unterstellung, dass alle wissenschaftlichen Disziplinen vollständig und disjunkt in Naturund Geisteswissenschaften einzuteilen seien. Belastet man diese Unterscheidung, werden oft den Geisteswissenschaften durch eine Bindestrich-Formulierung die Sozialwissenschaften an die Seite gestellt. Ferner wird oft unterschiedslos von Geistes- oder Kulturwissenschaften ohne weitere Klärung der Begriffe Geist und Kultur gesprochen. Klassifikationen müssen grundsätzlich formalen Kriterien genügen. 2 Dazu gehört, dass die Grundgesamtheit (totum dividendum) bestimmt sein muss. In Bezug auf die Einteilung der Wissenschaften in Natur- und Geisteswissenschaften ist jedoch unbestimmt, ob man damit eine Einteilung aller wissenschaftlichen Disziplinen oder aber nur eine Teilklasse dieser, beispielsweise der Disziplinen der (ehemaligen) Philosophischen Fakultät, durchführen möchte. Die Unterscheidungshinsicht (ratio disjunctionis) muss korrelativ sein und einen klaren Unterscheidungszweck erkennen lassen. Die Klassifikation muss schließlich vollständig sein, d. h. jedes Element der Grundgesamtheit muss einer der Teilklassen angehören, sowie disjunkt, d. h. kein Element darf beiden Klassen angehören. 3 Der Autor dankt Dr. Tim Rojek (Münster) für Hinweise auf Verbesserungen und Ergänzungen. 2 Im Anschluss an Aristoteles, Met V, 25–26, vgl. de Vries (1952), Rand-Nr. 175–179. – Eine amüsante Illustration von Verstößen gegen die Regeln korrekten Unterscheidens bietet Borges (1922). 3 Eine korrekte Wissenschaftsklassifikation wäre demgemäß bspw. die für den Hochschulbau wichtige Unterscheidung zwischen Wissenschaften, die im Freien (z. B. Teile der Sportdidaktik), und solchen, die in geschlossenen Räumen betrieben werden, welche wiederum in stapelbare (in höheren Geschossen durchführbare, z. B. Mathematik) 1

17 https://doi.org/10.5771/9783495820377 .

Carl Friedrich Gethmann

In Bezug auf die beiden letztgenannten Kriterien gibt es bei der Unterscheidung von Geistes- und Naturwissenschaften eine Reihe von Verlegenheiten. Bezüglich der Vollständigkeit kann man nach der Zuordnung von Philosophie und Mathematik fragen, bezüglich der Disjunktheit ist auf Fächer wie Psychologie oder Geographie hinzuweisen, die man durchaus der einen oder der anderen Teilklasse zurechnen kann. Endgültig gerät man in Verlegenheit, wenn man Disziplinen wie Architektur, Sportdidaktik, Siegelkunde, Kriminologie subsumieren soll. In Kürze: die Unterscheidung von Geistes- und Naturwissenschaften genügt den Kriterien für eine korrekte Klassifikation nicht. Ein für viele Zwecke besserer Klassifikationsvorschlag 4 besteht darin, 10 Sorten von Wissenschaften zu unterscheiden. Die erste Disjunktion ist die zwischen apriorischen und aposteriorischen Wissenschaften. Apriorische Wissenschaften 5 sind 1. Philosophie und 2. Mathematik. Aposteriori lassen sich die Themenbereiche Natur, Gesellschaft und Geist unterscheiden. Bezogen auf die »Natur« (in unterschiedlicher Bedeutung) sind 3. Naturwissenschaften (Physik, Chemie) 4. Lebenswissenschaften (Biowissenschaften und medizinische Disziplinen) und 5. Ingenieurwissenschaften zu nennen. Auf Gesellschaft beziehen sich 6. Verhaltenswissenschaften (Psychologie, Soziologie, Politologie), 7. Jurisprudenz und 8. Ökonomie, die jeweils nicht aufeinander reduzierbar sind. Innerhalb des »Geistes« lassen sich unwillkürlich Geschichte und Sprache unterscheiden, es ergeben sich somit 9. die historischen Wissenschaften und 10. die Philologien. Wissenschaftssorten Apriori Aposteriori

1. Philosophie 2. Mathematik

Natur unbelebt belebt gestaltet

3. Naturwissenschaften (Physik, Chemie) 4. Lebenswissenschaften (etwa Medizin) 5. Ingenieurwissenschaften

und nicht stapelbare (nur im Erdgeschoß durchführbare, z. B. – wegen des Gewichts der Geräte – Bauingenieurwesen) unterschieden werden können. 4 Diese Klassifikation ist auch in Gethmann (2010) zu finden, allerdings fehlen dort die medizinischen Disziplinen. 5 Der Begriff des apriorischen Wissens unterstellt hier nicht wie im Kantischen Sprachgebrauch die Universalität und Notwendigkeit dieses Wissens, sondern lediglich die präsuppositionelle Funktion bestimmter Wissensinhalte relativ zu materialen Wissenskontexten.

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Der Geist der Geisteswissenschaften zwischen Naturalismus und Mentalismus

Gesellschaft explanativ 6. Verhaltenswissenschaften (Psychologie, Soziologie, Politologie) normativ 7. Jurisprudenz 8. Ökonomie Geschichte 9. Historiographie Sprache 10. Philologien

Extensional werden im Folgenden mit »Geisteswissenschaften« zunächst nur die unter den Ziffern 9 und 10 genannten Fächergruppen zusammengefasst. Allerdings besteht die Antwort auf die Frage, welche Wissenschaften Geisteswissenschaften sind, nur oberflächlich in einer extensionalen Aufzählung von wissenschaftlichen Disziplinen. Genauer ist zu fragen, in welchen wissenschaftlichen Disziplinen die Methode geisteswissenschaftlichen Verstehens vorrangig exekutiert wird.

1.

Natur und Geist

Die Unterscheidung von Natur- und Geisteswissenschaften greift hinsichtlich des Materialobjekts auf die Unterscheidung Natur – Geist zurück. Diese Unterscheidung hat ihren wissenschaftsphilosophischen Ursprung im Kontext der cartesischen Substanzmetaphysik. Hinsichtlich der Frage nach der Substanz, also dem, was ohne Zutun anderer Entitäten existiert 6 , führt Descartes eine doppelte Unterscheidung an, nämlich die zwischen substantia increata und creata, für letztere wiederum die Unterscheidung von res cogitans und res extensa. 7 Die Unterscheidung von Geist und Natur folgt somit (meist implizit und anonym) dem cartesischen Substanz-Dualismus. Eine folgenreiche Kategorienvermengung entsteht nun daraus, dass oft unbedacht die res cogitans des Descartes (bei Hegel dem subjektiven Geiste entsprechend) als »Geist der Geisteswissenschaften« bestimmt wird. Bspw. sehen manche Neurowissenschaftler in Geisteswissenschaftlern (einschließlich Philosophen) solche Leute, die an die Existenz der res cogitans glauben, während diese Neurowissenschaftler glauben, beweisen zu können, dass die res cogitans »nichts anderes 6 »Substantia est id quod nulla alia re indigeat ad existendum« (vgl. Descartes, Princ. Philos. I 51.) 7 Descartes, a. a. O. I 52.

19 https://doi.org/10.5771/9783495820377 .

Carl Friedrich Gethmann

als« eine Form der res extensa ist. 8 In diesem Zusammenhang soll im Folgenden von einem Cartesianismus der Wissenschaftsphilosophie gesprochen werden, der in der ontologischen Auffassung liegt, dass alle Gegenstände der Wissenschaften entweder solche der res cogitans (Seele, mind) oder der res extensa (Welt, body) sind. 9 Gegen diesen ontologischen und wissenschaftsphilosophischen Dualismus hat Hegel den Begriff des »objektiven Geistes« zur Geltung gebracht. Hegel rekonstruiert damit die Existenz von Phänomenen, die dem individuellen Akteur ebenso vorgegeben sind wie Naturphänomene, die aber vom Menschen gemacht sind. 10 Hegel weist darauf hin, dass der subjektive Geist: »Form der Beziehung auf sich selbst« ist, während der objektive Geist »Form der Realität als einer von ihm hervorzubringenden und hervorgebrachten Welt, in welcher Freiheit als vorhandene Notwendigkeit ist«, ist. Die ontologische Wendung von der Freiheit als vorhandener Notwendigkeit charakterisiert die Gegenstände des objektiven Geistes einerseits als durch Menschen gemacht (somit ähnlich dem subjektiven Geist) und andererseits als dem Individuum vorgegeben (somit ähnlich der Natur). An dieses Strukturmerkmal ist zu erinnern, wenn über Methoden der Geisteswissenschaften diskutiert wird. Phänomene des objektiven Geistes, die in der Proliferation der Geisteswissenschaften in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts eine besondere Rolle spielen, sind Geschichte, Sprache, Sitte, Staat / Recht, Religion und Kunst. 11 Als Beispiel kann die Sprache dienen, die dem Individuum in dem Sinne vorgegeben ist, dass es in eine bestehende Sprache hinein soVgl. Roth (1997), bes. 300 ff. (»Geist als physikalischer Zustand«); vgl. dazu Gethmann (2006). 9 Descartes Unterscheidung der drei Substanzen war maßgebend für die Einteilung der Subdisziplinen der Speziellen Metaphysik in (Natürliche) Theologie, (Philosophische) Kosmologie und (Rationale) Psychologie bei Ch. Wolff und in der rationalistischen Schulphilosophie (vgl. die drei Kapitel der Transzendentalen Dialektik in Kants Kritik der reinen Vernunft vom Ideal der reinen Vernunft, den Paralogismen und den Antinomien der reinen Vernunft). – Eine fundamentale Kritik des Cartesianismus erfolgte erst im 20. Jahrhundert durch Martin Heidegger ([1927], §§ 19–21 u. ö.; abhängig davon Ryle [1949]. (Ryle veröffentlichte die erste englischsprachige Rezension von Sein und Zeit (Ryle [1929])) und Ludwig Wittgenstein, Philosophische Untersuchungen. Vgl. Gethmann/Sander (2002). 10 Vgl. Enzyklopädie, § 385. 11 Hegels Unterscheidung zwischen Phänomenen des objektiven und des absoluten Geistes wird hier vernachlässigt, weil sie in der folgenden Geschichte der Wissenschaftstheorie der Geisteswissenschaften keine Rolle spielt. 8

20 https://doi.org/10.5771/9783495820377 .

Der Geist der Geisteswissenschaften zwischen Naturalismus und Mentalismus

zialisiert wird. Sprache ist dem Individuum somit vorgegeben wie ein Naturphänomen, aber sie ist ein Produkt menschlicher Tätigkeit. Mit dem Recht liegt ein weiteres Phänomen vor, das dem Individuum vorgegeben ist, aber Gesetze entstehen nicht in der Natur, sondern resultieren aus menschlichen Handlungen. Daneben können aber auch eine Reihe weiterer Gegenstände des objektiven Geistes wie Wirtschaft und Wissenschaft genannt werden, weil sie dem Strukturmerkmal in ähnlicher Weise entsprechen. Der Geist tritt uns also in diesen Fällen in objektiver Form entgegen, also quasi natürlich, aber menschengemacht. So zeigt sich, dass die Disjunktion zwischen res cogitans und res extensa nicht aufgeht, weil noch etwas Drittes vorliegt, das sich in die cartesische Klassifikation nicht adäquat einfügen lässt. Das Strukturmerkmal »von Menschen gemacht, aber dem Individuum vorgegeben« lässt sich allgemein als »Konventionalität« dieser Phänomene bezeichnen. Die Interpretation der Gegenstände des objektiven Geistes als Konventionen soll entsprechend Konventionalismus genannt werden. Demgegenüber soll die Interpretation der Gegenstände des objektiven Geistes als Naturgegenstände als Naturalismus, die Interpretation der Gegenstände des objektiven Geistes als Gegenstände des subjektiven Geistes als Mentalismus bezeichnet werden. Die Geschichte der Geisteswissenschaften und der Methodologie der Geisteswissenschaften ist nun durch eine merkwürdige methodologische Labilität zwischen naturalistischen und mentalistischen Reduktionismen geprägt, während die konventionalistische Rekonstruktion durch unzureichende Unterscheidungen gewissermaßen verschenkt wird. Dies soll schematisch durch die folgende Übersicht illustriert werden. (a) Geschichte • Naturalismus: Datenbank für vergangene Ereignisse • Mentalismus: individuelle Identitätsvergewisserung • Konventionalismus: kollektive Identitätsvergewisserung (b) Sprache • Naturalismus: akustisches Signalsystem • Mentalismus: Ausdrucksinstrument für seelische Vorgänge • Konventionalismus: Medium sprachlicher Kooperation (c) Sitte (ἔθος, Moral) • Naturalismus: Handlungsdisponierung durch Konditionierung • Mentalismus: Realisierung des vom Akteur »gut Gemeinten« • Konventionalismus: Regeln gewaltfreier sozialer Interaktion 21 https://doi.org/10.5771/9783495820377 .

Carl Friedrich Gethmann

(d) • • •

Staat / Recht Naturalismus: Machtausgleichsagentur Mentalismus: Verehrung als Erscheinungsform des Absoluten Konventionalismus: Institutionen als bewehrte Ensembles von Regeln der Friedenssicherung (e) Religion • Naturalismus: Surrogat für vorenthaltene Befriedigung • Mentalismus: Projektion subjektiver Glücksvorstellungen • Konventionalismus: realitätsstiftender Sinnentwurf (f) Kunst • Naturalismus: Ornamente zur Gewährleistung evolutionär erfolgreichen Partnerwahlverhaltens • Mentalismus: ›Ausdruck‹ kreativer Künstler-Genialität • Konventionalismus: Medium der Vermittlung nicht-propositionaler Erfahrung

2.

Erfahrungswissenschaften vom objektiven Geist

Die Entwicklung der Konzeption einer Erfahrungswissenschaft von den Gegenständen des objektiven Geistes ist im wesentlichen in 3 Schritten verlaufen. (a) I. Kant sieht in seiner Schrift Der Streit der Fakultäten (1798) die Rolle der Fächer der Artistenfakultät, die bis dahin als Dienstleistungsfächer für die Höheren Fakultäten angesehen wurden, dahingehend aufgewertet, dass er ihnen einen eigenen Wahrheitsanspruch zuerkennt. Diese Aufwertung war neben bildungspolitischen Notwendigkeiten, nämlich der akademischen Lehrerausbildung, ausschlaggebend für die Gründung der Philosophischen Fakultät in der Berliner Universität durch Wilhelm von Humboldt (1810). (b) Erst Hegels Entdeckung, dass neben dem subjektiven Geist und der Natur eine weitere Gegenstandskategorie anzunehmen ist, nämlich der objektive Geist, gibt der Forderung Kants nach einem eigenständigen Wahrheitsanspruch der Fächer der Artistenfakultät ein angemessenes ontologisches Fundament. (c) Allerdings nimmt Hegel an, dass die Gegenstände des objektiven Geistes genuine Themen der Philosophie seien. W. Dilthey macht in seiner epochalen Einleitung in die Geisteswissenschaften (1883) 12 12

Dilthey (1914), XV-XX.

22 https://doi.org/10.5771/9783495820377 .

Der Geist der Geisteswissenschaften zwischen Naturalismus und Mentalismus

demgegenüber die Gegenstände des objektiven Geistes zu einem eigenen Typ Erfahrungswissenschaft, den Geisteswissenschaften. Zugleich versucht Dilthey, durch die Unterscheidung von Natur- und Geisteswissenschaften Ordnung in die Disziplinenvielfalt der Philosophischen Fakultät zu bringen. Obwohl Dilthey also hinsichtlich des epistemologischen Status der Geisteswissenschaften Hegel widerspricht, bleibt Hegels Bestimmung des objektiven Geistes für ein historisch angemessenes Verständnis von Geisteswissenschaften entscheidend. Deswegen müssen nach Dilthey drei Sorten von Erfahrungswissenschaften unterschieden werden: Naturwissenschaften, Psychologie als Wissenschaft vom subjektiven Geist und Geisteswissenschaften als Wissenschaften vom objektiven Geist. Seit der 2. Hälfte des 19. Jahrhunderts sind immer neue Versuche zu registrieren, den Methodenstatus der Geisteswissenschaften genauer zu bestimmen. Insbesondere die Weiterführung von Hegels Begriff des objektiven Geistes hat nach Dilthey einer einfachen Rezeption dieses Grundgedankens im Wege gestanden. Dies beginnt schon damit, dass die hier verwendete Bedeutung von »Geist« nicht ohne weiteres in andere Sprachen übersetzt werden kann. So heißt es in einer bekannten englischen philosophischen Enzyklopädie zum Ausdruck »Geisteswissenschaften«: The term Geisteswissenschaften was coined in Germany in the middle of the nineteenth century to translate John Stuart Mill’s phrase ›the moral sciences‹. The English phrase is rarely used and a modern equivalent is not easy to find.

Und zum Ausdruck »Geist« heißt es: It is difficult to translate the term Geist and impossible to indicate succinctly in English relationships between words that are obvious in German. 13

In der Tat gibt es erhebliche lexikalische Schwierigkeiten mit der äquivoken Übersetzung des Ausdrucks »Geist« ins Englische. Der »Heilige Geist« ist der »Holy Ghost«, der »Geist der Zeit« wäre zu übersetzen mit »spirit of the age«, während die »geistige Welt« am besten wohl mit »cultural world« übersetzt wird. Die sprachlichen Probleme mögen ein Grund dafür gewesen sein, dass vor allem die Neukantianer schnell versucht haben, den 13

Rickman (1967), 275.

23 https://doi.org/10.5771/9783495820377 .

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Ausdruck »Geisteswissenschaften« durch den Ausdruck »Kulturwissenschaften« zu ersetzen. Vor allem aber wollte man sich durch die Anerkennung dieses Wissenschaftstyps nicht zugleich auf die Hegelsche Geist-Metaphysik verpflichten. Folglich haben die Neukantianer versucht, den Ausdruck »Kultur« ohne die Prämissen der Hegelschen Geistmetaphysik zu explizieren. Dabei bot sich die aus der Tradition der Sprachphilosophie entnommene Terminologie von »Sinn« und »Bedeutung« eines sprachlichen Ausdrucks an. H. Rickert macht ganz ähnlich wie Hegel darauf aufmerksam, dass es neben den Phänomenen der Natur und des Seelenlebens »etwas Drittes« gibt, »das wir unmittelbar erleben, und das weder als körperlich noch als seelisch real zu bezeichnen ist« 14 . Für dieses Phänomen den Begriff des »Geistes« im Sinne des »objektiven Geistes Hegels« zu verwenden 15 , hält Rickert zwar für sachgerecht, befürchtet jedoch »Konfusionen«, die die Verwechslung der unterschiedlichen Geistbegriffe hervorrufen können. 16 Deswegen zieht er es vor, an die Stelle des Begriffes des Geistes denjenigen der Kultur »als Inbegriff des sinn- und bedeutungsvollen Seins« 17 zu setzen. Die Kultur bildet »ein Gebiet von sinnlich realen, aber zugleich sinn- und bedeutungsvollen Vorgängen« 18 , die den eigentlichen Gegenstand der Kulturwissenschaften bilden. W. Windelband charakterisiert entsprechend die Naturwissenschaften als generalisierend, nomothetisch, die Geisteswissenschaften dagegen als individualisierend, idiographisch. 19 Die von Rickert und Windelband mit dem Begriff der Kulturwissenschaften etablierten Folgeprobleme liegen somit in der Parallelisierung von Kultur-/Naturwissenschaften mit den Kategorien des Singulären/Allgemeinen und der darauf beruhenden Tendenz, die epistemologischen Ansprüche der Geisteswissenschaften zu regionalisieren und damit zu partikularisieren. 20

Rickert (3 1924), 17. Vgl. den Hinweis auf Hegel in Rickert (3 1924), 22. 16 Rickert (3 1924), 22, 25. 17 Rickert (3 1924), 23. 18 Rickert (3 1924), 27. 19 Windelband (1904), 136–160. 20 Die Umorientierung der Geisteswissenschaften zu »regional studies« ist der letzte Ausläufer dieser Entwicklung, gemäß der beispielsweise die Altphilologien die Aufgabe übernehmen sollen, Tourismusmanager für Griechenland und Italien auszubilden. 14 15

24 https://doi.org/10.5771/9783495820377 .

Der Geist der Geisteswissenschaften zwischen Naturalismus und Mentalismus

Beide Zuordnungen lassen sich allerdings leicht infrage stellen. Einmal haben es die Naturwissenschaften durchaus mit singulären Gegenständen zu tun (9. Mond des Jupiter, Frühe Kreidezeit, dieses Stück Kupfer, …), während die Geistes-/Kulturwissenschaften durchaus auch generalisierend arbeiten (Verfall der Reichsidee, Zeitgeist, historische Entwicklung, Regeln der indogermanischen Lautverschiebungen, …). Diese und andere Abgrenzungsprobleme zwischen Natur- und Kulturwissenschaften haben ab dem ausgehenden 19. Jahrhunderts zu einer differenzierten Diskussion um die wissenschaftstheoretischen Grundlagen der Geistes- bzw. Kulturwissenschaften geführt. Dabei hängen die wissenschaftsphilosophischen Rekonstruktionen der Grundlagen der Geistes- bzw. Kulturwissenschaften direkt von den in den philosophischen Schulzusammenhängen entwickelten Philosophemen ab. Auffällig ist, dass es fast ausnahmslos deutsche Autoren sind, die in diesem Zusammenhang eine Rolle spielen: NeoNeuHegelianismus Kantianismus Dilthey Spranger Litt

Windelband Rickert M. Weber Cassirer

Phänomenologie

Scheler Rothacker Gadamer

Konstruktivismus / Anal. Phil.

von Wright Schwemmer Tuomela

Die wissenschaftsphilosophische Reflexion auf die kognitive Besonderheit der Geistes- bzw. Kulturwissenschaften kreist um die Begriffe von Verstehen, Sinn und Auslegung. Dabei kommt es darauf an, den Begriff des Sinns nicht nach dem Muster einer von einem Autor versteckten Entität zu betrachten, deren Auffindung Aufgabe einer methodischen Fahndung wäre, sondern den Sinn als das Ergebnis der systematischen Rekonstruktion der Konstitution des objektiven Geistes zu betrachten. Dieses Explikationsverfahren heißt aus gutem Grund Aus-Legung, weil es darum geht, etwas zu entfalten, das eingefaltet von vornherein mitgesetzt ist. Dabei ist der individuelle Autor eines Textes, eines Kunstwerks oder einer Rechtssetzung nicht als der individuelle Urheber einer Wirkung angesprochen. In diesem Fall hätte man mit der res cogitans zu tun. Vielmehr geht es darum, die überindividuelle Verbindlichkeit und Anerkennung zu rekonstruieren, die durch die Intentionen des individuellen Urhebers nicht erklärt sind. Ein Kunstwerk, wenn es als Gegenstand objektiven Geistes 25 https://doi.org/10.5771/9783495820377 .

Carl Friedrich Gethmann

interpretiert wird, kann nicht (nur) als »Ausdruck« eines individuellen Genies, ein Rechtskodex nicht (nur) aus den individuellen Motiven des Rechtserfinders verstanden werden. Aus wissenschaftsphilosophischer Sicht liegt der Grund für die unklaren ontologischen Orientierungen in den Konfusionen zwischen der Bestimmung der Gegenstände und der auf sie bezogenen Deutungskategorien in den Geisteswissenschaften (und verstehenden Sozialwissenschaften). Unter Inkaufnahme starker Vereinfachungen zeigt folgendes Schema die wichtigsten Unterscheidungen: Kleine Ontologie der Wissenschaften Gegenstände / Deutungskategorien nicht herbeigeführt

Vorgang Ursache/Wirkung

Ereignis nicht beabsichtigt

Verhalten Erleben/Ausdruck

beabsichtigt

Handeln Mittel/Zweck

herbeigeführt

Legende: Termini für den Gegenstandstyp sind kursiv, die entsprechenden Deutungskategorien in Kapitälchen hervorgehoben.

Die Verwechslung von Vorgängen auf der einen Seite mit Verhalten und Handeln auf der anderen Seite ist Grundlage des naturalistischen Fehlverständnisses der Geistes- bzw. Kulturwissenschaften. Die diesbezüglichen Abgrenzungen erscheinen allerdings eher einfach. Demgegenüber ist die Unterscheidung von Verhalten und Handeln und die dementsprechende Unterscheidung der Bedeutungskategorien von Erleben/Ausdruck auf der einen und Mittel/Zweck auf der anderen Seite schwieriger zu illustrieren, nicht zuletzt auch deswegen, weil die Gemeinsprache in dieser Hinsicht wenig distinkt ist und die wissenschaftsphilosophische Rekonstruktion leicht den Eindruck von Willkür hervorruft. Wissenschaftliches Erkennen ist grundsätzlich ein Reduktionsprojekt: Ein Ereignis wird erkannt, indem man es von Π zurückführt auf Φ. Nach dem vorgeschlagenen Schema ergeben sich folgende Reduktionsverhältnisse:

26 https://doi.org/10.5771/9783495820377 .

Der Geist der Geisteswissenschaften zwischen Naturalismus und Mentalismus

Π Vorgang: Verhalten: Handlung:

Φ Wirkung Ausdruck Mittel

Ursache Erleben Zweck

Ob ein Ereignis ein Vorgang / Verhalten / Handeln / … ist, ist dabei nicht Angelegenheit einer adäquaten Beschreibung, sondern einer adäquaten Deutung. Die richtige Frage lautet daher nicht: »Welche Wissenschaften sind Geisteswissenschaften?« (und die Antwort wäre eine Liste solcher Wissenschaften …), sondern »Welche Erkenntnisverfahren (Methoden) sind ›geisteswissenschaftlich‹, d. h. verwenden einen so und so gearteten Verstehensbegriff?« (und die Antwort ist eine Liste von Erkenntnisverfahren). Dabei ist zu beachten, dass in vielen oder [fast] allen Disziplinen (neben anderen Erkenntnisformen auch) Formen des Verstehens involviert sind: einen Text verstehen auch Bauingenieure, eine Formel verstehen auch Linguisten, ein Röntgenbild verstehen Mediziner und Archäologen, die Veränderung eines Organismus verstehen Biologen usw. Dementsprechend erfolgt die Unterscheidung von verstehenden und erklärenden Wissenschaften nicht in Form der Angabe zweier Teilmengen der Menge aller Wissenschaften oder eines Segments derselben, sondern durch die Rekonstruktion der Verstehenselemente im Rahmen der kognitiven Gesamtdarstellung einer Disziplin. Eine solche rekonstruierende Lehre vom Verstehen heißt traditionell »Hermeneutik« 21 .

3.

Verstehen

Unter Aufnahme der oben erläuterten kleinen Ontologie der Wissenschaften lassen sich zwei Formen von Verstehen unterscheiden: Verstehen I: Die Deutung der Gegenstände der Geistes- / Kulturwissenschaften rekonstruiert diese als Ausdruck eines Erlebens, d. h. als Verhaltensphänomen. Es soll daher von einer »expressionistischen« Hermeneutik gesprochen werden. Verstehen II: Die Deutung der Gegenstände der Geistes- / Kulturwissenschaften rekonstruiert diese als Zweck einer Handlung, d. h. Der Ausdruck »Hermeneutik« wird hier im Sinne der allgemeinen Kunstlehre von Verstehen und Auslegung (ars hermeneutica) verwendet, und nicht nur spezifisch auf die Gadamersche und rezeptionsästhetische Variante bezogen.

21

27 https://doi.org/10.5771/9783495820377 .

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als Handlungsphänomene. Es soll daher von einer »konventionalistischen« Hermeneutik gesprochen werden.

3.1 Kritik der »expressionistischen« Hermeneutik Die von Dilthey in den Vordergrund gerückten Kategorien von »Ausdruck« und »Erleben« erzeugen eine starke Suggestion, die Gegenstände des objektiven Geistes reduktionistisch als Ausdruck individuellen Erlebens zu interpretieren. Dieser mentalistische Reduktionismus hat sich bereits in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts mit der Genieästhetik zu einem schwer aufzulösenden Syndrom der Rückkehr des subjektiven Geistes amalgamiert. Indem Dilthey das Verstehen als Nacherleben eines Erlebens rekonstruiert 22 , beschränkt er das Verstehen auf die raumzeitliche Partikularität des Ereignisses und verliert so die Aufgabe der Rekonstruktion seiner relativen »Verbindlichkeit« aus dem Auge. Das Element der relativen (auf die jeweiligen sozialen Kontexte bezogenen) Verbindlichkeit ist es jedoch, das nach der hegelschen Bestimmung des objektiven Geistes die »Notwendigkeit« ist, aus der die Freiheit entsteht. Der expressionistische Verstehensbegriff erfaßt die Phänomene des objektiven Geistes somit als Produkte von Freiheit, aber nicht als vorhandene Notwendigkeit. Ferner wird die Anwendung des Verstehensbegriffs auf solche Vorgänge beschränkt, bei denen die Rede vom Erleben sinnvoll ist. In den anderen Fällen hat man sich mit einer schwer rekonstruierbaren metaphorischen Verwendung auseinanderzusetzen. Dies gilt beispielsweise bei Phänomenen des objektiven Geistes, die zwar auf individuelle Akteure zurückgeführt werden müssen, auf deren individuelles Erleben es aber gerade nicht ankommt (das Gesetzeswerk Solons reagierte auf Konflikte einer interkulturell agierenden Stadtgesellschaft, das Erleben eines Menschen namens Solon ist dabei unerheblich). Bei anonymen kollektiven Akteuren ist die Rede vom Erleben völlig leerlaufend (die mykenische Kultur war keine Schriftkultur, das Erleben der Mitglieder derjenigen Sozietäten, die diese Kultur möglicherweise gebildet haben, ist ohne jede Bedeutung für das Verstehen dieser Kultur). Schließlich wird die Unterstellung eines Nacherlebens eines Erlebens geradezu paradox bei anonymen Akteuren (Die Bewohner von Pompeji sind vom Vulkanausbruch überrascht worden). 22

Dilthey (1824).

28 https://doi.org/10.5771/9783495820377 .

Der Geist der Geisteswissenschaften zwischen Naturalismus und Mentalismus

Die Kritik an der Kategorie des Nacherlebens überträgt sich auch auf die »Reparaturversuche« in der hermeneutischen Philosophie bei H. G. Gadamer. Zwar wird durch die von Gadamer geforderte Wende zur Sprache an die Stelle der Zurückführung eines Ausdrucks auf ein Erleben die Zurückführung einer sprachlichen Äußerung auf ihren Sinn gesetzt. Gadamer setzt dabei bei der Analyse des Gesprächs an, das keine geplante Handlung, sondern ein widerfahrendes Geschehen sei; im Gespräch gehe es daher nicht um das »Sich Hineinversetzen« (gegen Dilthey), somit auch nicht um eine Art Übersetzung. Sprache ist demgemäß in erster Linie nicht Repräsentation, sondern Kommunikation, (sprachliche) Überlieferung: »Kontinuität des Gedächtnisses« 23 . Der Begriff des Gedächtnisses kommt hier vor allem durch die Schriftlichkeit der Sprache und somit der Orientierung am TextParadigma ins Spiel. Allerdings darf der Begriff des Gedächtnisses nicht so verstanden werden, dass das Präsentmachen der Vergangenheit der Kern des Textverständnis ist. Literatur beispielsweise bedeutet »nicht primär, auf vergangenes Leben zurückzuschließen, sondern bedeutet gegenwärtige Teilhabe an Gesagtem« 24 . Gegen Dilthey fordert Gadamer daher die »Ablösung von allem Psychologischen« 25 und die »Rückverwandlung« des Textes als hermeneutische Aufgabe 26 . Der »wahre Sinn des Textes« ist eine »sachliche Norm« 27 : »Denn Texte wollen nicht als Lebensausdruck der Subjektivität des Verfassers verstanden werden«. 28 Zwar wird durch diese Ent-Subjektivierung die methodologische Schwäche des expressionistischen Verstehensbegriffs aufgehoben, dennoch bleibt mit Blick auf Hegels Bestimmung des objektiven Geistes zu fragen, wie der Verbindlichkeitsanspruch der Phänomene des objektiven Geistes, die »sachliche Norm« expliziert wird. Gadamer weist diesen Allgemeinheitsanspruch sogar zurück: »Es kann daher keine richtige Auslegung ›an sich‹ geben, gerade weil es in jeder um den Text selbst geht«. 29 Mit dieser »Situationsgebundenheit« der Auslegung ergibt sich schließlich das Problem, das auch mit Diltheys Explikation des Nacherlebens verbunden ist. Verstehen ist zwar keine Art »innerer Aufführung« in 23 24 25 26 27 28 29

Gadamer (2 1965), 368. Gadamer (2 1965), 369. Gadamer (2 1965), 370. Gadamer (2 1965), 371. Gadamer (2 1965), 372. Gadamer (2 1965), 372. Gadamer (2 1965), 375.

29 https://doi.org/10.5771/9783495820377 .

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der »Intimität der seelischen Innerlichkeit« 30 . Aber auch in der Gadamerschen »linguistischen« Variante des Verstehensbegriffs bleibt das Fehlen einer Grundlegung des relativen Geltungsanspruchs der Gegenstände des objektiven Geistes offenkundig.

3.2 Grundzüge einer konventionalistischen Hermeneutik Die Unterscheidung der ontologischen Grundkategorien der Wissenschaften lässt sich anhand der (wenigstens) drei Bedeutungen von Warum-Fragen explizieren. Auf die Frage »Warum hast Du mir nicht geschrieben?« kann sowohl durch die Angabe eines Vorgangs, eines Verhaltens oder eines Handelns geantwortet werden: •

Vorgang: »Weil ich entführt wurde und die ganze Zeit gefesselt war«. ([empirische] Erklärung) • Verhalten: »Weil der Gedanke an Dich bei mir eine unüberwindliche Schreibphobie erzeugte«. (Verstehen I: Angabe eines Erlebens) • Handeln: »Weil ich dich zum Nachdenken über uns bringen wollte«. (Verstehen II: Angabe einer [rationalen] Handlungserklärung) Die Grundpositionen hinsichtlich der Wissenschaftstheorie der Geisteswissenschaften, der Naturalismus (Alle Phänomene des objektiven Geistes sind (nichts anderes als) Vorgänge und somit empirisch zu erklären 31 ), der Mentalismus (Alle Phänomene des objektiven Geistes sind Verhaltensweisen und somit als Ausdruck eines Erlebens zu verstehen) und der Konventionalismus (Alle Gegenstände des objektiven Geistes sind (Produkte von) Handlungen und somit als Mittel zu einem Zweck zu verstehen) sind somit in den 3 dargestellten ontologischen Kategorien fundiert. Wichtig ist vor allem, der Konfusion zwischen einem (fast ubiquitären) expressionistischen und einem konventionalistischen (operationalistischen) Verstehensbegriff entgegenzutreten. Verstehen im konventionalistischen Sinn betrachGadamer (2 1965), 377. Dazu gehören beispielsweise die Ansätze zu einer Evolutionstheorie des Schönen oder der Neuro-Germanistik.

30 31

30 https://doi.org/10.5771/9783495820377 .

Der Geist der Geisteswissenschaften zwischen Naturalismus und Mentalismus

tet die Gegenstände des objektiven Geistes nicht als Manifestationen von Verhalten, sondern von Handeln. Weder naturale noch mentale Gegenstände weisen nämlich eine Verbindlichkeits- und Anerkennungsstruktur auf, wie sie für die Gegenstände des objektiven Geistes bzw. die Sinngebilde der Kultur konstitutiv ist. Zur Illustration wird häufig auf die konventionelle Geltung des Geldes verwiesen: Die Geltung eines Geldstücks geht weder in den Motiven des Münzprägers noch in den technischen Rezepten des Metallgusses auf. 32 Eine konventionalistische Rekonstruktion des Verstehens verhält sich allerdings parasitär zu einer finalistischen Handlungstheorie. 33 Gemäß einer solchen sind Handlungen nicht durch Ursachen herbeigeführte raumzeitliche Episoden (das wären beispielsweise Verhaltensweisen), sondern Zweckrealisierungsversuche. Ein Zweck ist ein Zustand, der als Folge (von Folgen) der Handlung geplant ist. Mittel eines Zwecks ist diejenige Handlung, die (vermeintlich) ausgeführt werden muß, damit der Zweck sich als ihre Folge (von Folgen) ergibt. Der Zusammenhang zwischen einer rationalen Handlungserklärung im konventionalistischen Sinne mit den Phänomenen des objektiven Geistes / der Kultur ergibt sich allerdings erst, wenn man den individuellen Akteur im Rahmen sozialer Interaktion betrachtet. Von einer Handlungsweise (habitus) ist zu sprechen, wenn ein individueller Akteur ein Handlungsschema unter bestimmten Umständen immer wieder ausführt; er kann »Dasselbe noch einmal tun«. Eine Handlungsgewohnheit (Tradition) entsteht dann, wenn die Mitglieder einer Gruppe ein Handlungsschema unter bestimmten Umständen immer wieder ausführen und diese Fähigkeit an ihre Nachkommen weitergeben. Eine Institution (im weiteren Sinne) entsteht dann, wenn die Anerkennung einer Tradition durch soziale Sanktionen (Prämien, Strafen) bewehrt wird. Eine Organisation (Institution im engeren Sinne) wird darüber hinaus durch institutionalisierte Gewalt gewährleistet. 34 Durch diese Rekonstruktion kann in Bezug auf die Phänomene des objektiven Geistes / der Kultur immer die Mittel/ Zweck-Frage gestellt werden. Somit sind die Phänomene des objekti-

Simmel (1900); Searle (1995) (dt.: Searle [1997]). Auf den engen Zusammenhang zwischen der Explikation des Verstehensbegriffs und den Grundfragen der Handlungstheorie hat besonders prominent von Wright (1971) (dt. von Wright [1974]) hingewiesen. 34 Vgl. Gethmann (1982). 32 33

31 https://doi.org/10.5771/9783495820377 .

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ven Geistes im Prinzip rational erklärbar 35 und dadurch bestimmten Disziplinen gemäß folgender Aufstellung zuzuordnen: Gegenstände des objektiven Geistes → Geistes-/ Kulturwissenschaften Traditionen • Geschichte(n)

→ historische Disziplinen

Institutionen • Sprache(n) • Sitte(n) • Religion(en) • Kunst / Künste

→ philologische Disziplinen → »moral sciences« → Religionswissenschaften → Kunstwissenschaften

Organisationen • Staat(en) / Recht(ssysteme)

→ Politikwissenschaften

Der Zusammenhang zwischen Handlungserklärung und der Interpretation der Gegenstände des objektiven Geistes / der Sinngebilde der Kultur als konventioneller Gebilde von Traditionen, Institutionen und Organisationen konstituiert eine Verbindlichkeits- und Anerkennungsstruktur, die schließlich die Gegenstände des objektiven Geistes/Sinngebilde der Kultur als kritik-zugänglich rekonstruiert. Naturalistisch und mentalistisch rekonstruierte Phänomene können schließlich nur so hingenommen werden, wie sie sind, d. h. Naturalismus und Mentalismus sind durch eine enge Affinitität zu einem normativen Skeptizismus ausgezeichnet. Konventionalistisch rekonstruierte Phänomene können dagegen normativ kritisiert, d. h. an den durch Ethik, Jurisprudenz, Ökonomie, Pädagogik und anderen Normwissenschaften herausgestellten Kriterien gemessen werden. In dem Verzicht auf die Rekonstruktion der relativen normativen Verbindlichkeit der Gegenstände des objektiven Geistes / der Kultur und eines angemessenen Verstehens dieser ist der Kern der »Krise der Geisteswissenschaften« gesehen worden, die keine Leistungs-, sondern eine Anerkennungskrise ist. 36 Vgl. im Anschluss an von Wright (1981) Schwemmer (1976) und Schwemmer (1987). 36 Vgl. dazu Gethmann/Langewiesche/Mittelstraß/Simon/Stock (2006). 35

32 https://doi.org/10.5771/9783495820377 .

Der Geist der Geisteswissenschaften zwischen Naturalismus und Mentalismus

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33 https://doi.org/10.5771/9783495820377 .

Geisteswissenschaft zwischen Tradition und Transformation. Perspektiven nach Wilhelm von Humboldt Jörg Noller

1.

Ambivalenzen des Geistes

Kann es überhaupt Geisteswissenschaft geben? Dies hängt entscheidend davon ab, was wir unter »Geist« verstehen. Bevor nach der Eigentümlichkeit und Problematik der Geisteswissenschaft gefragt werden kann, muss zunächst ihr Gegenstand, der Geist, zum Thema gemacht werden. Doch ist bereits die Annahme, dass es eine Wissenschaft des Geistes gebe, dass also der Geist überhaupt Gegenstand sein könne, problematisch. Der vergebliche Versuch einer begrifflichen Fixierung und Objektivierung des Geistes hat nicht selten dazu geführt, dass er semantisch beschnitten wurde, etwa dann wenn er auf das angelsächsische Wort »mind« reduziert wurde, welches überwiegend psychologisch konnotiert ist. Dagegen bezeichnet das deutsche Wort »Geist« – wie auch das englische »spirit« und das französische »ésprit« – nicht nur erstpersonale Phänomene und Perspektiven, sondern gerade auch drittpersonal zugängliche, die Objektivität besitzen. Geistiges zeigt sich hier, tritt in Erscheinung, auch wenn es dadurch nicht als Substanz verdinglicht gedacht werden darf. Diese Ambivalenz des Geist-Begriffs zwischen Objektivität und Subjektivität hat Friedrich Heinrich Jacobi treffend in seiner Schrift Ueber die Unzertrennlichkeit des Begriffes der Freyheit und Vorsehung von dem Begriffe der Vernunft ausgedrückt. Darin schreibt er, dass »der Geist keine wißenschaftliche Behandlung verträgt, weil er nicht Buchstabe werden kann. Er, der Geist, muß also draußen bleiben vor den Thoren seiner Wißenschaft; wo sie ist, darf Er Selbst nicht seyn. Darum buchstabieret, wer den Geist zu buchstabieren wähnt, zuverläßig immer etwas anderes, wißentlich oder unwißentlich« 1 .

1 Jacobi (1799), Jacobi an Fichte, Beilage II, JWA 2,1, 233. Vgl. zu Jacobis Geistbegriff allgemein: Sandkaulen (2008).

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Geisteswissenschaft zwischen Tradition und Transformation

Wie aber begreift Wilhelm von Humboldt den Geist und die Geisteswissenschaft? Diese Frage ist insofern zentral, als Humboldt vielen als »Gründergestalt der Geisteswissenschaften« 2 gilt, nicht zuletzt durch das nach ihm benannte Bildungsideal der »Einheit von Forschung und Lehre«. Der folgende Beitrag will Humboldts Geistbegriff nachspüren und untersuchen, inwiefern sich dieser für ein kritisches Verständnis von Geisteswissenschaft auch heute noch, gerade auch angesichts der neueren Entwicklungen der »Digital Humanities«, eignet.

2.

Humboldts kritischer Geistbegriff

2.1 Merkmale des Geistes Das Denken und Wirken Humboldts – sei es auf dem Gebiet der Bildung, der Sprache oder der Geschichte – darf als paradigmatisch für die Idee der Geisteswissenschaft gelten. Es ist wohl nicht übertrieben zu behaupten, dass sein Name zum Inbegriff geisteswissenschaftlicher Bildung geworden ist. Selten ist dabei jedoch Humboldts Begriff des Geistes eigens thematisiert worden. Tatsächlich hat Humboldt keine explizite Theorie des Geistes entwickelt. Doch hat dies seinen Grund. Ich werde im Folgenden dafür argumentieren, dass Humboldt deswegen nicht vom Geist als einem theoriefähigen Objekt spricht, weil dies der Natur des Geistes, nicht Buchstabe zu sein, zuwiderlaufen würde, wie Jacobi scharfsinnig zuvor bemerkt hatte. Humboldt hat deswegen eine transzendentale Theorie des Geistes entwickelt, der nicht Gegenstand von geisteswissenschaftlicher Erkenntnis, sondern Bedingung der Möglichkeit einer solchen ist. Es ist gerade Humboldts Begriff des Geistes, der weiteren Aufschluss über die oft unspezifische und allgemeine Rede von »Sprache«, »Bildung« und »Geschichte« gibt. »Geist« ist bei Humboldt der Einheitsbegriff par excellence, insofern er eine bestimmte Form betrifft, die sich in verschiedenen Bereichen – allen voran der Sprache, aber auch der Geschichte und der Bildung – auf je unterschiedliche Art manifestiert und zugleich als treibende und belebende Kraft der Entwicklung und Einheitsbildung fungiert. Geist ist nach Humboldt, anders So in der Bezeichnung der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften anlässlich seines 250. Geburtstages im Jahr 2017.

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formuliert, die Bedingung der Möglichkeit von Bedeutung, und damit wesentlich formal, dennoch nicht freischwebend und abstrakt, sondern immer konkret und intelligibel. Die Bedeutung des Geistes besteht also darin, anderem Bedeutung zu verleihen, Subjekt und Objekt, Verstehendes und Verstehbares in eine sinnvolle Einheit zu bringen. Deswegen ist die Bedeutung des Geistes nach Humboldt eine Bedeutung zweiter Stufe. Geist ist seiner Auffassung nach nichts Gegenständliches, sondern etwas Transzendentales: eine dynamische Form, die einen Zusammenhang von Verständlichkeit eröffnet, in welchen sich Subjekte ›einklinken‹ und so diesen Zusammenhang weiter stärken und festigen können. Diese Form des Geistes, die auf verschiedene Weise flexibel anschlussfähig ist, soll im Folgenden vor dem Hintergrund von Humboldts Sprach-, Geschichts- und Bildungsverständnis weiter analysiert werden. Dabei wird sich herausstellen, dass Humboldt Jacobis Verdikt der Vergegenständlichung dadurch begegnet, dass er den Geist nicht als ein Objekt, sondern als eine transzendentale Struktur und Form denkt, die als solche thematisch werden kann. Der Begriff des Geistes liegt Humboldts Schriften nicht etwa nur unausgesprochen zugrunde, sondern wird von ihm selbst zum Gegenstand einer ausdrücklichen Reflexion gemacht. 3 In seiner 1797 erschienenen Schrift Über den Geist der Menschheit, die wie viele andere seiner Schriften Fragment geblieben ist – sie umfasst in der Werkausgabe nur 13 Seiten – hat sich der dreißigjährige Humboldt wie wohl an keiner anderen Stelle in seinem umfangreichen Werk mit dem Begriff des Geistes befasst. Humboldts Absicht besteht in diesem Text darin, eine »Theorie der Bildung des Menschen« zu entwickeln, um den »mannigfaltigen Arten der Thätigkeit, welche der Mensch zu üben gelernt hat, ihren wahren Werth bestimmen« zu können, wie er in einem Brief an Christian Gottfried Körner bereits vier Jahre zuvor geschrieben hatte. 4 Nichts Geringeres setzt er sich vor, als eine »Schrift über die letzte Bestimmung des Menschen und den großen Stil im Denken, Dichten und Handeln« zu verfassen (GS XIV, 378). Humboldts Begriff des Geistes setzt in besagtem Fragment an einer Beobachtung an, welche die tiefenanthropologische Einheit von Denken und Handeln betrifft. Es geht um ein genuin mensch3 4

Ich knüpfe im Folgenden an Überlegungen in Noller (2018) an. Brief 292 (19. November 1793), 202.

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liches Bedürfnis, das darin besteht »in seinem Denken und Handeln Folge und Einheit zu beobachten [Hervorh. d. V.]«. Der Mensch, so Humboldt, »kann sich nicht begnügen, bei der Beurtheilung der Gegenstände seiner Thätigkeit, und der Wahl seiner Mittel nur bedingten Rücksichten zu folgen, zum Maassstabe dessen, was gut und wünschenswürdig ist, bloss Dinge anzunehmen, die selbst nur in Beziehung auf andere Werth haben muss«; vielmehr gilt nach Humboldt: »[E]r muss ein letztes Ziel, einen ersten und absoluten Maassstab aufsuchen, und dies Letzte muss eng und unmittelbar mit seiner innern Natur verwandt seyn« (GM, 506). Worin besteht der Grund für dieses Streben nach Absolutheit? Das Mittelbare und Bedingte »kann« nach Humboldt »immer nur einseitig entweder unsern Verstand oder unsre Empfindung befriedigen; nur für das, was unser eigentliches und inneres Wesen nahe berührt, erwärmt sich unsre ganze, also unsre beste und wahrhaft menschliche Natur.« (GM, 506 f.) Dieser absolute Maßstab, der die Einheit von Verstand und Empfindung, Rationalität und Sinnlichkeit aufzeigt, ist der »Inbegriff aller Wesen«, die »innere Natur« des Menschen. Diese »innere Natur« besteht allgemein darin, dass der Mensch nach Humboldt »den Genuss verschmähen und das Glück entbehren« kann (GM, 507). In diesem Aufschieben von primär inklinierenden Willenstendenzen von einer zweiten Stufe besteht also nach Humboldt der Grund, die innere Natur, oder mit anderen Worten die Willensfreiheit des Menschen. Derartige Volitionen zweiter Stufe, die den Menschen instande setzen, sich von unmittelbaren Trieben und Neigungen distanzieren zu können, nennt Humboldt den »Begriff der Menschheit«. Er »ist nichts anders, als die lebendige Kraft des Geistes, der sie beseelt, aus ihr spricht, sich in ihr thätig und wirksam erweist [Hervorh. d. V.].« (GM, 515) Der Geistbegriff ist nach Humboldt in zweifacher Hinsicht ausgezeichnet, insofern er »das Wesen der Menschheit auf eine zugleich allgemeine, und doch eigenthümlichere Weise, als Wesen und Kraft selbst« bezeichnet und darin »zugleich auf ihre sinnliche und unsinnliche Natur bezogen« (GM, 515) werden kann. In dieser Einheit, die Vernunft und Natur belebend zusammenfügt, kann ganz allgemein das Wirken des Geistes erblickt werden. Humboldt schließt an diese recht allgemein gehaltene Bemerkung einen längeren Passus an, der wegen seiner Bedeutung für den Geistbegriff in seiner Gänze wiedergegeben werden soll. Humboldt führt darin gleich acht Merkmale an, die ihm zufolge Geist charakterisieren: 37 https://doi.org/10.5771/9783495820377 .

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In beiden Rücksichten – nämlich Wesen und Kraft, sinnlicher und unsinnlicher Natur – schien Geist unter allen Wörtern, deren man sich hätte bedienen können, das Schicklichste; 1., weil es ursprünglich von etwas Sinnlichem, dem Verstärken reizender Getränke durch die Absonderung der wässerigten Theile (Weingeist) hergenommen ist. 2., weil es, streng genommen, nie, es sey denn mit einem besondern Zusatz, das rein Unsinnliche bezeichnet. Man sagt richtiger: Seele und Körper, als Geist und Körper, und sehr häufig reiner Geist. 3., weil es gerade das eigentümliche Wort für dasjenige Unsinnliche ist, dem wir gerade noch genug Körperliches einräumen, um erscheinen zu können, das Synonym von Gespenst. Die Seelen der Verstorbenen wandeln als Geister umher. 4., weil es selbst in dieser Bedeutung mehr Realität hat, etwas Kräftigeres und Stärkeres anzeigt, als das sonst gleichbedeutende Gespenst. So drückt es eine tiefer liegende Verwirrung aus, wenn man sagt: er sieht Geister, als er sieht Gespenster. 5., weil es im psychologischen Gebrauch nie auf das, was bloss mechanisch ist, angewandt wird. Man sagt nie ein geistreicher, immer ein sinnreicher Mechaniker, nie ein geistreicher, immer ein sinnreicher Versuch. Eben so ist auch spirituel und ingenieux verschieden. 6., weil es immer die ganze Beschaffenheit einer Sache, ihr Wesen, nicht eine einzelne Bestimmung andeutet, und daher nie von demjenigen gebraucht wird, was durch eine einzelne Kraftäusserung hervorkommt, wenigstens nicht insofern, als man dies zugleich ausdrückt. Man sagt nie eine geistreiche, immer eine sinnreiche Erfindung, selbst wenn das Erfundene wirklich geistreich wäre. (Doch liegt in dieser Einschränkung offenbar etwas Willkührliches.) 7., weil geistreich und geistvoll immer nur da gebraucht werden, wo Tiefe der rein intellectuellen Kräfte mit Lebendigkeit der sinnlichen Einbildungskraft zusammenkommt. Man sagt immer nur uneigentlich, ein geistvoller Metaphysiker, Mathematiker, Logiker. 8., endlich weil Geist zugleich das herrschende, eigenthümliche und ächte Wesen, im Gegensatz des Buchstabens anzeigt. (GM, 515 f.)

Geistiges ist also nach Humboldt nichts ›Abstraktes‹, sondern immer bezogen auf einen energetischen Grund, und damit konkret und real wirksam. Damit knüpft Humboldt implizit an die hebräische Bedeutung von »ruach« an, einem Geist, der zunächst als etwas Ungezähmtes und Unverfügbares, ja beinahe Wildes, aber zugleich Belebendes und ungeheuerlich ›Inspirierendes‹ auftritt, etwa dann, wenn der Nasiräer Samson im Buch Richter dadurch in Ektase versetzt wird: »Da kam der Geist des HERRN (ruach adonai) über Samson, und Samson zerriss den Löwen mit bloßen Händen, als würde er ein Böckchen 38 https://doi.org/10.5771/9783495820377 .

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zerreißen« (Ri 14,6). Dazu gesellt sich ein intellektuelles Moment: »Geist« ist ein Einheitsbegriff, der eine unhintergehbare Einheit von Leben und Intellekt bedeutet. Humboldt untersucht nun verschiedene Sprachen auf ihre Verwendung und Prägung des Geistbegriffs: »Im Italiänischen ist spirto mehr mystisch, als philosophisch; im Französischen ist vom ursprünglichen Begriff der Distillation vorzüglich die Verfeinerung genommen; im Englischen das Belebende und Feurige des verstärkten Getränks (well spirited).« (GM, 516 f.) Dagegen argumentiert Humboldt vor dem Hintergrund seiner Auflistung der Merkmale des Geistes dafür, dass gerade in der deutschen Sprache die wichtigsten Momente bewahrt geblieben seien: Im Deutschen allein ist der Begriff der Kraft, des ächten Wesens herrschend geblieben. Ganz ursprünglich nemlich rühren alle diese Wörter von dem Begriff des Hauchs, des Windes her. Erst davon, und erst als Metapher für etwas Unsinnliches sind sie auf das Verfahren der Distillation (als nemlich das Ausziehen des Weniger-Materiellen) übergetragen. Indess hat die psychologische Bedeutung wiederum bald mehr, bald weniger von dieser zweiten Metapher an sich gerissen. Am meisten offenbar im Französischen. Im Deutschen ist die uranfängliche Bedeutung sehr herrschend geblieben, und die zweite Metapher zeigt sich nur in einigen Redensarten, wie: den Geist aus einer Sache ziehen u. s. f. Selbst die uranfängliche Bedeutung scheint […] sehr stark gewesen zu seyn; und diese Stärke hat sich besser enthalten, weil die Wurzel [von »Geist«] selbst Deutsch (also durch Ton und Eigentümlichkeit uns näher) ist, dahingegen spirto, esprit und spirit von Spiritus und diess von pneuma herkommt und weder Spiritus noch pneuma bei den Alten philosophisch gebraucht wurden. (GM, 517)

Humboldt argumentiert also implizit dafür, an die hebräische Bedeutung von »ruach« anzuknüpfen: »Der unsinnliche Gebrauch dieser Ausdrücke bei den Alten ist erst durch das Christenthum entstanden, und kommt aus dem Hebräischen her […], und vorzüglich sind die psychologischen Anwendungen des Worts Geist bei den Neueren ihnen fremd.« (GM, 517) Humboldt hat sich in seiner Abhandlung vorgenommen, den Begriff des Geistes in drei Hinsichten zu untersuchen, nämlich: »worin dieser Geist besteht? wie er erkannt? und wie er gebildet wird?« (GM, 515) Doch ist es dazu nicht mehr gekommen. Wie so oft in seinem Werk ist die Schrift Fragment geblieben. Die Fragmentarität seiner Untersuchung des Geistes kann jedoch auch so interpretiert werden, dass darin performativ deutlich wird, dass der Geist gerade 39 https://doi.org/10.5771/9783495820377 .

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nicht als ein Objekt theorie-und systemfähig ist. Ausgehend von den acht im Vorigen gegebenen Charakterisierungen sollen deshalb im Folgenden Humboldts Begriffe der Sprache und der Geschichte rekonstruierend auf diese genannten Merkmale hin transparent gemacht werden.

2.2 Geist der Sprache In seiner im Jahr 1836 erschienenen Schrift Über die Verschiedenheit des menschlichen Sprachbaus und ihren Einfluss auf die geistige Entwicklung des Menschengeschlechts hat Humboldt das Verhältnis von Geist und Sprache folgendermaßen bestimmt: [D]ie Intellectualität und die Sprache gestatten und befördern nur einander gegenseitig zusagende Formen. Die Sprache ist gleichsam die äusserliche Erscheinung des Geistes der Völker; ihre Sprache ist ihr Geist und ihr Geist ihre Sprache, man kann sich beide nie identisch genug denken. (GS, 414 f.)

Objektivität und Bedeutung sind demnach kein Produkt der bloßen Konvention, sondern eines inneren Prinzips oder einer geteilten, zugrundeliegenden Form. 5 Sprachen sind nichts anderes als »lebendige […] Erzeugnisse […] des Geistes« (III,1). Sprachgemeinschaft und Sprache befinden sich nach Humboldt in einer Wechselwirkung: Indem ein Volk der Entwicklung Sprache, als des Werkzeuges jeder menschlichen Thätigkeit in ihm, aus seinem Inneren Freiheit erschafft, sucht und erreicht es zugleich die Sache selbst, also etwas Anderes und Höheres; und indem es auf dem Wege dichterischer Schöpfung und grübelnder Ahndung dahin gelangt, wirkt es zugleich wieder auf die Sprache zurück. (VMS, 414)

Obwohl die Sprache einen überindividuellen Charakter hat, ist sie als genuin geistiges Phänomen nichts Statisches und dinglich Vorkommendes, sondern wesentlich dynamischer und bedeutungskonstituierender Natur, wie Humboldt betont, wobei er an den aristotelischen Begriff der energeia und Form anknüpft: Die Sprache, in ihrem wirklichen Wesen auf gefasst, ist etwas beständig und in jedem Augenblicke Vorübergehendes. Selbst ihre Erhaltung durch die Schrift ist immer nur eine unvollständige, mumienartige Aufbewahrung, die es doch erst wieder bedarf, dass man dabei den lebendigen Vortrag zu 5

Vgl. Schiller (1990), 256.

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versinnlichen sucht. Sie selbst ist kein Werk (Ergon), sondern eine Thätigkeit (Energeia). Ihre wahre Definition kann daher nur eine genetische seyn. Sie ist nemlich die sich ewig wiederholende Arbeit des Geistes, den articulirten Laut zum Ausdruck des Gedanken fähig zu machen [Hervorh. d. V.]. (VMS, 418)

Im Phänomen der Sprache zeigt sich gerade der Vollzugscharakter des Geistes als ein subjektives und transzendentales Wirken, dem Ermöglichen und Verleihen von Bedeutung, welches vom bereits konstituierten Objekt unterschieden werden muss. Humboldt fährt an zitierter Stelle über den Geist fort: Die Sprachen als eine Arbeit des Geistes zu bezeichnen, ist schon darum ein vollkommen richtiger und adäquater Ausdruck, weil sich das Daseyn des Geistes überhaupt nur in Thätigkeit und als solche denken lässt. Die zu ihrem Studium unentbehrliche Zergliederung ihres Baues nöthigt uns sogar sie als ein Verfahren zu betrachten, das durch bestimmte Mittel zu bestimmten Zwecken vorschreitet, und sie insofern wirklich als Bildungen der Nationen anzusehen. (VMS, 419)

Die »Arbeit des Geistes« ist dabei nichts Individuelles, sondern etwas Intersubjektives, welches sich im dynamischen Austausch und Zusammenschluss vernünftiger Wesen ergibt und als solche erst Bedeutung konstituiert: Das in dieser Arbeit des Geistes, den articulirten Laut zum Gedankenausdruck zu erheben, liegende Beständige und Gleichförmige, so vollständig, als möglich, in seinem Zusammenhänge aufgefasst und systematisch dargestellt, macht die Form der Sprache aus. (VMS, 419 f.; Hervorh. d. V.)

Sprache ist also nach Humboldt eine Art »geistige Lebensform« 6 , die ihre Einheit durch die Einheit der Nationen als Sprachgemeinschaft erhält und damit in einer permanenten Wechselwirkung steht. Als solches ist Sprache eine geistige Operation, ein »Verfahren« (VMS, 428), »das bildende Organ des Gedanken«, eine »intellectuelle Thätigkeit« (VMS, 426). Humboldt macht das Wirken des Geistes auch am Sprechakt als solchem fest, der in einer synthetischen Einheit von Zeichen und Bedeutung besteht, in Art einer geistigen ›Rückkopplung‹ oder eines geschlossenen Kreislaufs, in dem Subjektivität und Objektivität permanent im Denken vermittelt werden:

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So die treffende Charakterisierung von Sander (1961).

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Die Thätigkeit der Sinne muss sich mit der inneren Handlung des Geistes synthetisch verbinden, und aus dieser Verbindung reisst sich die Vorstellung los, wird, der subjectiven Kraft gegenüber, zum Object und kehrt, als solches auf neue wahrgenommen, in jene zurück. Hierzu aber ist die Sprache unentbehrlich. Denn indem in ihr das geistige Streben sich Bahn durch die Lippen bricht, kehrt das Erzeugniss desselben zum eignen Ohre zurück. Die Vorstellung wird also in wirkliche Objectivität hinüberversetzt, ohne darum der Subjectivität entzogen zu werden. Dies vermag nur die Sprache; und ohne diese, wo Sprache mitwirkt, auch stillschweigend immer vorgehende Versetzung in zum Subject zurückkehrende Objectivität ist die Bildung des Begriffs, mithin alles wahre Denken unmöglich. Ohne daher irgend auf die Mittheilung zwischen Menschen und Menschen zu sehn, ist das Sprechen eine nothwendige Bedingung des Denkens des Einzelnen in abgeschlossener Einsamkeit. (III, 193)

Doch ist, wie Humboldt betont, Sprache kein rein subjektives Phänomen, sondern von intersubjektiver und dialogischer Natur: In der Erscheinung entwickelt sich […] die Sprache nur gesellschaftlich, und der Mensch versteht sich selbst nur, indem er die Verstellbarkeit seiner Worte an Andren versuchend geprüft hat. Denn die Objectivität wird gesteigert, wenn das selbstgebildete Wort aus fremdem Munde wiedertönt. Der Subjectivität aber wird nichts geraubt, da der Mensch sich immer Eins mit dem Menschen fühlt; ja auch sie wird verstärkt, da die in Sprache verwandelte Vorstellung nicht mehr ausschliessend Einem Subject angehört. Indem sie in andre übergeht, schliesst sie sich an das dem ganzen menschlichen Geschlechte Gemeinsame an, von dem jeder Einzelne eine, das Verlangen nach Vervollständigung durch die andren in sich tragende Modification besitzt. Je grösser und bewegter das gesellige Zusammenwirken auf eine Sprache ist, desto mehr gewinnt sie unter übrigens gleichen Umständen. Was die Sprache in dem einfachen Acte der Gedankenerzeugung nothwendig macht, das wiederholt sich auch unaufhörlich im geistigen Leben des Menschen; die gesellige Mittheilung durch Sprache gewährt ihm Ueberzeugung und Anregung. (VMS, 428 f.)

Sprache ist nach Humboldt also weder ein bloßes Epiphänomen noch Produkt von Konventionen, sondern eine sich intersubjektiv und geschichtlich vollziehende »Arbeit des Geistes«, die zugleich als belebend, bildend und auch als einigend fungiert. Das Geistige der Sprache, das gegenüber ihrer materiellen Seite wie der Phonetik das »erste und Hauptsächlichste« ist, wird auch nicht durch das Logische oder Semantische erschöpft. Vielmehr zählt Humboldt noch die Operation der Einbildungskraft mit hinzu, wodurch die Sprache eine Freiheits-

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dimension erhält, die Humboldt als organisch verfasstes »selbstthätiges Einwirken der Individualität« bestimmt (V, 267). In seinem im Jahr 1827 gehaltenen Vortrag Über den Dualis hat Humboldt den Geist der Sprache weiter bestimmt. Darin wendet er sich gegen die Auffassung, wonach Sprache »ein blosses Verständigungsmittel« sei. Dagegen betont Humboldt, dass sie »der Abdruck des Geistes und der Weltansicht der Redenden« sei (III, 135). In der Sprachlichkeit des Geistes liegt seine Intersubjektivität und Dialogizität begründet: In dem unsichtbaren Organismus des Geistes, den Gesetzen des Denkens, der Classification seiner Kategorieen [!] aber wurzelt der Begriff der Zweiheit noch auf eine viel tiefere und ursprünglichere Weise: in dem Satz und Gegensatz, dem Setzen und Aufheben, dem Seyn und Nicht-Seyn, dem Ich und der Welt. […] Besonders entscheidend für die Sprache ist es, dass die Zweiheit in ihr eine wichtigere Stelle, als irgendwo sonst, einnimmt. Alles Sprechen ruht auf der Wechselrede, in der, auch unter Mehreren, der Redende die Allgeredeten immer sich als Einheit gegenüberstellt. Der Mensch spricht, sogar in Gedanken, nur mit einem Andren, oder mit sich, wie mit einem Andren, und zieht danach die Kreise seiner geistigen Verwandtschaft, sondert die, wie er, Redenden von den anders Redenden ab [Hervorh. d. V.]. (III, 138 f.)

Geist ist damit als sprachliches Phänomen wesentlich intersubjektiv realisiert, wie Humboldt am Prozess des Denkens als solchen festmacht: Schon das Denken ist wesentlich von Neigung zu gesellschaftlichem Daseyn begleitet, und der Mensch sehnt sich, abgesehen von allen körperlichen und Empfindungs-Beziehungen, auch zum Behuf seines blossen Denkens nach einem dem Ich entsprechenden Du, der Begriff scheint ihm erst seine Bestimmtheit und Gewissheit durch das Zurückstrahlen aus einer fremden Denkkraft zu erreichen. Er wird erzeugt, indem er sich aus der bewegten Masse des Vorstellens losreisst, und, dem Subject gegenüber, zum Object bildet. Die Objectivität erscheint aber noch vollendeter, wenn diese Spaltung nicht in dem Subject allein vorgeht, sondern der Vorstellende den Gedanken wirklich ausser sich erblickt, was nur in einem andren, gleich ihm vorstellenden und denkenden Wesen möglich ist. Zwischen Denkkraft und Denkkraft aber giebt es keine andre Vermittlerin, als die Sprache. (III, 138 f.)

Gerade an der Sprache zeigt sich der dialogische Charakter des Geistes, denn sie kann »nicht vom Einzelnen, sie kann nur gesellschaftlich […] zur Wirklichkeit gebracht werden.« Es ist der Geist, der Bedeu43 https://doi.org/10.5771/9783495820377 .

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tung und Verbindung stiftet, sei es zwischen Wort und Objekt, Zeichen und Bezeichnetem, Sprecher und Adressaten: Das Wort muss also Wesenheit, die Sprache Erweiterung in einem Hörenden und Erwiedernden gewinnen. […] Erst durch die, vermittelst der Sprache bewirkte Verbindung eines Andren mit dem Ich entstehen nun alle, den ganzen Menschen anregenden tieferen und edleren Gefühle, welche in Freundschaft, Liebe und jeder geistigen Gemeinschaft die Verbindung zwischen Zweien zu der höchsten und innigsten machen. (III, 139 f.)

Sprache ist als geistige dynamische Form die Bedingung der Möglichkeit der zwischenmenschlichen Verbindung und »geistigen Verwandtschaft«, wie Humboldt sagt.

2.3 Geist der Geschichte In seinen Betrachtungen über die bewegenden Ursachen in der Weltgeschichte, die Humboldt im Jahr 1818, also 20 Jahre nach seinem Geist-Fragment verfasst hat, überträgt er die Form des Geistes auf die Geschichte. Humboldt versteht Geist als einen Zusammenhang, der als solcher nicht unabhängig von denkenden und Sprechenden Subjekten existiert, sondern durch deren Beteiligung permanent aufrecht erhalten werden muss: Denn auch was Frucht des Geistes und der Sinnesart ist, Wissenschaft, Kunst, sittliche Einrichtung, verliert das Geistige, und wird zur Materie, wenn nicht der Geist es immer von neuem belebt. Alle diese Dinge tragen die Natur des Gedankens an sich, der nur erhalten werden kann, indem er gedacht wird. (I, 302)

Humboldt hat den transzendentalen Charakter des Geistes besonders in seinem Vortrag Über die Aufgabe des Geschichtsschreibers aus dem Jahr 1821 weiter ausgeführt und dabei auf seine Form reflektiert: Zu den wirkenden und schaffenden Kräften also hat sich der Geschichtschreiber zu werden. Hier bleibt er auf seinem eigenthümlichen Gebiet. Was er thun kann, um zu der Betrachtung der labyrinthisch verschlungenen Begebenheiten der Weltgeschichte, in seinem Gemüthe eingeprägt, die Form mitzubringen, unter der allein ihr wahrer Zusammenhang erscheint, ist diese Form von ihnen selbst abzuziehen. Der Widerspruch, der hierin zu liegen scheint, verschwindet bei näherer Betrachtung. Jedes Begreifen einer Sache setzt, als Bedingung seiner Möglichkeit, in dem Begreifenden schon ein Analogon des nachher wirklich Begriffenen voraus, eine vorhergängige,

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ursprüngliche Uebereinstimmung zwischen dem Subject und Object. (AG, 596 f.)

Der Geschichtsschreiber muss »alle Richtungen des Geistes verfolgen« (AG, 587). Diese Vermittlung zwischen Subjekt und Objekt fasst Humboldt als geistiges Verstehen auf: Wo zwei Wesen durch gänzliche Kluft getrennt sind, führt keine Brücke der Verständigung von einem zum andren, und um sich zu verstehen, muss man sich in einem andren Sinn schon verstanden haben. Bei der Geschichte ist diese vorgängige Grundlage des Begreifens sehr klar, da Alles, was in der Weltgeschichte wirksam ist, sich auch in dem Innern des Menschen bewegt. (AG, 596 f.)

Diese transzendentale Struktur, die Subjekt und Objekt im Verstehen dynamisch vereint, ist die Form des Geistes. Der Geschichtsschreiber entwirft »ein allgemeines Bild der Form des Zusammenhanges aller Begebenheiten« (AG, 597), die nicht mehr einem »mechanischen Bestimmen einer Begebenheit durch die andre« folgt, sondern vielmehr auf die »lebendigen Kräfte« fokussiert (AG, 598). Geschichte ist deswegen auch kein »todtes, unabänderlichen Gesetzen folgendes, und durch mechanische Kräfte getriebenes Uhrwerk« (AG, 597). Das Wirken des Geistes ist das Wirken der Freiheit, die »Einsicht in die wahrhaft schaffenden Kräfte, dass in jedem Wirken, bei dem Lebendiges im Spiel ist, gerade das Hauptelement sich aller Berechnung entzieht, und dass jenes scheinbar mechanische Bestimmen doch ursprünglich frei wirkenden Impulsen gehorcht.« (AG, 597) Insofern unterscheidet sich der verstehende Geist von der »blosse[n] Verstandesoperation« (AG, 588, die die Geschichte nur als einen mechanisch-kausalen Ablauf erklären, jedoch nicht verstehen kann), so dass keine abstrakte, sondern eine »lebendige Wahrheit« (AG, 596) entdeckt wird. Humboldt grenzt sich in seinem Verständnis der Geschichte neben mechanistischen auch von teleologischen Konzeptionen des Geistes ab und betont stattdessen die Autonomie des Individuums im Prozess seiner Bildung: [D]ies Suchen nach Endursachen, man mag sie auch aus dem Wesen des Menschen und der Natur selbst ableiten wollen, stört und verfälscht alle freie Ansicht des eigenthümlichen Wirkens der Kräfte. Die teleologische Geschichte erreicht auch darum niemals die lebendige Wahrheit der Weltschicksale, weil das Individuum seinen Gipfelpunkt immer innerhalb der Spanne seines flüchtigen Daseyns finden muss, und sie daher den letzten Zweck der Ereignisse nicht eigentlich in das Lebendige setzen kann, sondern

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es in gewissermassen todten Einrichtungen, und dem Begriff eines idealen Ganzen sucht (AG, 595 f.)

Geistigkeit ist keine abstrakte Idee und kein Schema, welches über die Geschichte gelegt wird, sondern bedarf einer steten Aktualisierung: »Denn auch was Frucht des Geistes und der Sinnesart ist, Wissenschaft, Kunst, sittliche Einrichtung, verliert das Geistige, und wird zur Materie, wenn nicht der Geist es immer von neuem belebt.« (AG, 596) Damit steht das Geistige in einer Nähe zum »organische[n] Leben« (AG, 603).

2.4 Bildung des Geistes Die Besonderheit des humboldtschen Geistbegriffs besteht darin, dass darin Individualität und Kollektivität als vermittelt gedacht werden, ohne dabei ein teleologisches Muster zugrunde zu legen. Dies ist Humboldt insofern möglich, als er jedes Individuum aus der Perspektive der Bildung betrachtet, die sich immer inner- und intersubjektiv in Sprache und Gesellschaft vollzieht. Die Bildung des Geistes setzt voraus, dass sich freie Individuen in ihrer Geschichte und Gesellschaft voll entfalten können. Doch wie kann dies gelingen? Humboldt hat in seinen 1792 erschienenen Ideen zu einem Versuch, die Gränzen der Wirksamkeit des Staates zu bestimmen ein Staatsmodell entworfen, welches der Wirksamkeit des Geistes besonders entsprechen soll, insofern es die Rahmenbedingungen individueller Freiheit vorgibt. Der Staat muss die »höchste und proportionirlichste Bildung« der menschlichen Kräfte »zu einem Ganzen« ermöglichen, deren »unerlässliche Bedingung« die Freiheit ist (WS, 64). Der »wichtigste Gesichtspunkt des Staats« ist insofern »immer die Entwikkelung der Kräfte der einzelnen Bürger in ihrer Individualität« (WS, 207), so dass darin die »Ehrfurcht für die Individualität selbsttätiger Wesen« (WS, 222) bewahrt werden muss. Die geistige Bildung des Individuums führt dazu, dass es autonom »eigengebildet« ist und anderes mitbildet. Selbst die leblose Natur, welche nach ewig unveränderlichen Gesezen einen immer gleichmässigen Schritt hält, erscheint dem eigengebildeten Menschen eigenthümlicher. Er trägt gleichsam sich selbst in sie hinüber, und so ist es im höchsten Verstände wahr, dass jeder immer in eben dem Grade Fülle und Schönheit ausser sich wahrnimmt, in welchem er beide im eignen

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Busen bewahrt. Wieviel ähnlicher aber noch muss die Wirkung der Ursache da sein, wo der Mensch nicht bloss empfindet und äussere Eindrükke auffasst, sondern selbst thätig wird? (WS, 65 f.)

In seiner zur selben Zeit erschienenen Theorie der Bildung des Menschen hat Humboldt diese Verbindung von Ich und Welt folgendermaßen charakterisiert: Die Verknüpfung unsres Ichs mit der Welt scheint vielleicht auf den ersten Anblick nicht nur ein unverständlicher Ausdruck, sondern auch ein überspannter Gedanke. Bei genauerer Untersuchung aber wird wenigstens der letztere Verdacht verschwinden, und es wird sich zeigen, dass, wenn man einmal das wahre Streben des menschlichen Geistes (das, worin ebensowohl sein höchster Schwung, als sein ohnmächtigster Versuch enthalten ist) aufsucht, man unmöglich bei etwas Geringerem stehen bleiben kann. (BM, 236)

Die geistige Verbindung von Ich und Welt zeigt sich durch Sprache und Geschichte. Geist ist nicht die Verbundenheit als objektives Resultat, sondern die Bedingung der Möglichkeit dieser Verbindung. Diese Transzendentalität des Geistes ist nichts Abstraktes und vor aller Erfahrung Liegendes, sondern als dynamische Form immer da am Werk, wo gedacht, gesprochen und gesellschaftlich-bildend interagiert wird – insbesondere dort, wo wir von einer Sache ›begeistert‹ sind.

3.

Transformation des Geistes

Humboldt vermeidet, Geist als vollständig objektivierbaren Gegenstand zu begreifen, indem er ihm eine transzendentale Rolle zuweist: Geist ist kein bestimmter Gegenstand der hermeneutischen Betrachtung, sondern die Bedingung der Möglichkeit von Hermeneutik und Bedeutung überhaupt. Durch seine formale Struktur kommt dem Geist eine Tiefendimension und eine Einheitsfunktion zu, die ihn für zahlreiche Gegenstände der »Geistes«-Wissenschaft anschlussfähig macht – sei es der Sprache, der Geschichte oder der Bildung. Diese formale Tiefenstruktur des Geistes, vermeintlich Heterogenes in Beziehung zu setzen und so an Bedeutung gewinnen zu lassen, findet sich auch in neueren Entwicklungen der »Digital Humanities«. Insbesondere das Internet weist eine Strukturanalogie zu einem so formal gefassten Begriff des Geistes auf, die in seiner transzendentalen Verbindungsleistung besteht. Durch seine raumzeitliche Un47 https://doi.org/10.5771/9783495820377 .

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abhängigkeit und Flexibilität erlaubt es das Internet, die reine Beziehung und Synthese ins Zentrum zu stellen, da es selbst zentrumsund substanzlos ist. Es wird so zu einem transzendentalen Medium, das erst den Raum für konkrete und diverse Kommunikation eröffnet. 7 Diese reine Form der Verbindung und Integration wird ermöglicht durch die Form des Hypertextes, Inhalte unmittelbar zu verweisen und zu verknüpfen. Das Internet ist damit strukturell holistisch verfasst, jedoch nicht so, dass es von einem bestimmten Zentrum auf ein bestimmtes Ziel hinauslaufen würde. Vielmehr kann sich jeder Nutzer von einer beliebigen Position heraus in das Netz einklinken und es selbst fortspinnen. Durch die integrative Kraft dieses Netzes, die sich mit Humboldt als nicht-teleologisches, unabgeschlossenes, permanentes Werden (energeia) bestimmen ließe, treten äußerliche Differenzen der Nutzer, die der raum-zeitlichen Fixierung geschuldet sind, immer weiter zurück. Es bleibt dagegen die reine Bezüglichkeit als Horizont und Bedingung der Möglichkeit von Bedeutung. Dies aber könnte gerade die Geisteswissenschaften charakterisieren: eine Offenheit gegenüber der Transformation, ja ihre permanente Tendenz, ihre Form zu erweitern und so neue Bedeutungen zu erschließen und zu ermöglichen.

Literaturverzeichnis Dreyfus, Hubert L. (2 2008): On the Internet, London. Humboldt, Wilhelm von (1792): Ideen zu einem Versuch, die Gränzen der Wirksamkeit des Staates zu bestimmen [WS], in: Werke in fünf Bänden, hg v. Andreas Flitner u. Klaus Giel, Band I, Darmstadt 1980. – (1793): Theorie der Bildung des Menschen [TBM], in: Werke, Bd. I, 234–240. – (1797): Über den Geist der Menschheit [GM], in: Werke, Bd. I, 506–518. – (1818): Betrachtungen über die bewegenden Ursachen der Weltgeschichte, in: Werke, Bd. I, 578–584. – (1821): Über die Aufgabe des Geschichtsschreibers [AG], in: Werke, Bd. I, 585–606. – (1827): Brief an Karl Ferdinand Becker: Sprache als Organismus, in: Werke, Bd. V, 264–268. – (1827): Über den Dualis, in: Werke, Bd. III, 113–143.

Hubert L. Dreyfus (2008, 1) hat dies folgendermaßen beschrieben: »The Internet is not just a new technological innovation; it is a new type of technological innovation; one that brings out the very essence of technology.«

7

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Geisteswissenschaft zwischen Tradition und Transformation – (1827–1829): Ueber die Verschiedenheiten des menschlichen Sprachbaues, in: Werke, Bd. III, 144–367. – (1830–1835): Ueber die Verschiedenheit des menschlichen Sprachbaues und ihren Einfluss auf die geistige Entwicklung des Menschengeschlechts [VMS], in: Werke, Bd. III, 368–756. – (1916): Gesammelte Schriften [GS], hg. v. Königl. Preuß. Akad. d. Wiss., Abteilung Tagebücher, Bd. XIV, 1788–1798, hg. v. Albert Leitzmann, Berlin. – (2015): Briefe, Bd. 2, Juli 1791 – Juni 1795, hg. v. Philip Mattson, Berlin/Boston. Sander, Volkmar (1961): »Sprache als geistige Lebensform«, in: The German Quarterly 34/3, 264–273. Noller, Jörg (2018): »Die Form des Geistes. Humboldts transzendentale Bedeutungstheorie«, in: Die Aktualität des Geistes. Klassische Positionen nach Kant und ihre Relevanz in der Moderne, hg. v. Jörg Noller u. Thomas Zwenger (= Geist und Geisteswissenschaft, Bd. 1), Freiburg/München, 126–138. Sandkaulen, Birgit (2008): »Wie ›geistreich‹ darf Geist sein? Zu den Figuren von Geist und Seele im Denken Jacobis, in: Geist und Psyche. Klassische Modelle von Platon bis Freud und Damasio, hg v. Edith Düsing u. Hans-Dieter Klein, 143–159. Schiller, Hans-Ernst (1990): »Zur sozialphilosophischen Bedeutung des Sprachbegriffs Wilhelm von Humboldts. Seine Beziehung zur kritischen Theorie bei Marcuse, Habermas und Adorno«, in: Zeitschrift für philosophische Forschung, 44/2, 253–272.

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Die Geisteswissenschaften und die Hermeneutik 1 Hans-Ulrich Lessing

Hermeneutik ist die Kunst der Verständigung. Nichtsdestoweniger scheint es von besonderer Schwierigkeit, sich über die Probleme der Hermeneutik zu verständigen. 2

Das Thema »Die Geisteswissenschaften und die Hermeneutik« ist komplex. Es umfasst u. a. die Frage nach der Bedeutung der Hermeneutik für die geisteswissenschaftliche Praxis, die Frage, ob es einen methodologischen Separatismus der Geisteswissenschaften gibt, und die Verstehen-Erklären-Debatte. Ich möchte im Folgenden nicht diese Probleme behandeln, sondern das hermeneutische Erbe der Geisteswissenschaften einer Betrachtung unterziehen, indem ich die wahrscheinlich wirkungsvollsten hermeneutischen Entwürfe des 20. Jahrhunderts vorstelle, um zu zeigen, dass die Hermeneutik keine monolithische Methodologie ist und die Rede von »der« Hermeneutik daher differenziert werden muss. Die beiden hermeneutischen Konzeptionen, von denen nun die Rede sein soll, stammen von Wilhelm Dilthey und Hans-Georg Gadamer. Unter Hermeneutik wird im Allgemeinen die Theorie des Verstehens von Sinn und Bedeutung verstanden. Sie hat eine lange Geschichte, die zurückreicht bis zur Antike. Höhepunkte der Hermeneutik-Geschichte sind einerseits die reformatorische Hermeneutik sowie die Hermeneutik der Aufklärung. Wichtig für die modernen Geisteswissenschaften seit der Mitte des 19. Jahrhunderts ist die hermeneutische Konzeption Schleiermachers, die von ihm in seiner berühmten Akademierede Über den Begriff der Hermeneutik mit Aus Dilthey (1914 ff.) wird im Folgenden ohne Wiederholung von »Dilthey (1914 ff.)« unter der Angabe der (römischen) Band- und der (arabischen) Seitenzahlen zitiert. Sperrungen im Text werden durch Kursivsetzung wiedergegeben. 2 Gadamer (1971), 283. 1

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Die Geisteswissenschaften und die Hermeneutik

Bezug auf F. A. Wolfs Andeutungen und Asts Lehrbuch von 1829 zu einer allgemeinen Methode des Verstehens von Texten und Gesprächen ausgeweitet wird. Wie Dilthey schreibt, gelang Schleiermacher »die definitive Begründung einer wissenschaftlichen Hermeneutik« (V, 327) bzw. einer »allgemeine[n] Wissenschaft und Kunstlehre der Auslegung«. (V, 329) Vom Beginn der Konstituierung der Geisteswissenschaften als zweite große Wissenschaftsgruppe neben den Naturwissenschaften seit der Mitte des 19. Jahrhunderts bestand ein gewissermaßen natürliches Verhältnis zwischen den Geisteswissenschaften und der Hermeneutik. Die Hermeneutik bildete gleichsam die feste, unhinterfragte methodische Basis der Geisteswissenschaften. Bekannte Beispiele für diese Symbiose von Geisteswissenschaften und Hermeneutik bieten vor allem der Historiker Johann Gustav Droysen und der Philologe August Boeckh. Dass heute nicht mehr unbefangen von einer solchen selbstverständlichen methodischen Grundlage der Geisteswissenschaften gesprochen werden kann, belegen nicht nur die verschiedenen Ansätze einer Anti-Hermeneutik, die von Susan Sontag über Roland Barthes, Michel Foucault, Jacques Derrida bis zu Friedrich A. Kittler, Jochen Hörisch und Hans Ulrich Gumbrecht reichen, sondern die Lage der Hermeneutik selbst, die seit Mitte des 20. Jahrhunderts kein einheitliches Bild mehr bietet.

1.

Verstehen als Methode: Diltheys hermeneutische Grundlegung der Geisteswissenschaften

Dilthey gilt üblicherweise als ein Klassiker der Hermeneutik. Das ist zunächst durchaus überraschend, taucht der Begriff »Hermeneutik« in seinem Hauptwerk, der Einleitung in die Geisteswissenschaften (1883), 3 doch überhaupt nicht auf, und die Texte, die explizit Probleme der Hermeneutik behandeln, besitzen im Verhältnis zu seinem Gesamtwerk nur einen verhältnismäßig sehr geringen Umfang. Zu diesen wenigen der Hermeneutik gewidmeten Texten gehört die Abhandlung Die Entstehung der Hermeneutik (1900) 4 – in geDilthey (1914 ff.), I. In: Dilthey (1914 ff.), V, 317–331; Zusätze aus den Handschriften: Dilthey (1914 ff.), V, 332–338.

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Hans-Ulrich Lessing

wisser Weise eine Kurzfassung von Diltheys großer Hermeneutikgeschichtlichen, erst postum veröffentlichten Preisschrift über die Hermeneutik Schleiermachers 5 –, sein Spätwerk Der Aufbau der geschichtlichen Welt in den Geisteswissenschaften (1910) 6 sowie einige kleinere Nachlasstexte aus dem Umkreis des Aufbaus, vor allem Das Verstehen anderer Personen und ihrer Lebensäußerungen. 7 Obwohl nur ein Beitrag zur Geschichte der Hermeneutik, enthält der Aufsatz Die Entstehung der Hermeneutik sehr aufschlussreiche Aussagen zur Hermeneutik-Konzeption Diltheys. So erklärt Dilthey, dass die »Vorgänge von Verständnis und Auslegung« nicht nur für »die ganze philologische und geschichtliche Wissenschaft«, sondern auch für die systematischen Geisteswissenschaften die Grundlage bilden. (V, 317) Diese systematischen Geisteswissenschaften, die zum Gegenstand ihrer Forschung die verschiedenen Systeme der Kultur, wie Recht, Religion, Wirtschaft etc., haben, sind – so Dilthey – »so gut wie die Geschichte in ihrer Sicherheit davon abhängig, ob das Verständnis des Singulären zur Allgemeingültigkeit erhoben werden kann«. (V, 317) Damit besitzen wir einen ersten bedeutsamen Hinweis auf die Tendenz von Diltheys Hermeneutik: ihr Ziel muss es sein, Möglichkeit und Bedingungen der Allgemeingültigkeit bzw. Objektivität des Verstehens zu formulieren. (Vgl. V, 320) Zum Ende seines Aufsatzes bestimmt Dilthey in diesem Sinne als Hauptaufgabe der Hermeneutik: »sie soll gegenüber dem beständigen Einbruch romantischer Willkür und skeptischer Subjektivität in das Gebiet der Geschichte die Allgemeingültigkeit der Interpretation theoretisch begründen, auf welcher alle Sicherheit der Geschichte beruht«. (V, 331; vgl. VII, 217 f.) Das Verstehen ist nach Dilthey eine »Erkenntnisart« (V, 319), die er definiert als »den Vorgang, in welchem wir aus Zeichen, die von außen sinnlich gegeben sind, ein Inneres erkennen«. (V, 318) Ein Verstehen der Natur oder auch eigener Zustände ist daher gemäß dieser Definition kein Verstehen im eigentlichen Sinne. Als Ver-

Die Aufgabenstellung der Schleiermacher-Stiftung lautete: »Das eigentümliche Verdienst der Schleiermacherischen Hermeneutik ist durch Vergleichung mit älteren Bearbeitungen dieser Wissenschaft, namentlich von Ernesti und Keil, ins Licht zu setzen«. Vgl. Misch (1933), 103. Postume Publikation in: XIV, 595–787. 6 In: VII, 77–188. 7 In: VII, 205–220; Zusätze: VII, 220–227. 5

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Die Geisteswissenschaften und die Hermeneutik

stehen wird von Dilthey nur der Vorgang bezeichnet, »in welchem wir aus sinnlich gegebenen Zeichen ein Psychisches, dessen Äußerung sie sind, erkennen«. (V, 318) Zum dreistelligen semiotischen Prozess des Verstehens gehören also ein verstehendes Subjekt, ein zu verstehendes Inneres bzw. Psychisches und sinnlich gegebene Zeichen, die Äußerungen dieses Inneren sind. Dieses so definierte Verstehen »reicht von dem Auffassen kindlichen Lallens bis zu dem des Hamlet oder der Vernunftkritik. Aus Steinen, Marmor, musikalisch geformten Tönen, aus Gebärden, Worten und Schrift, aus Handlungen, wirtschaftlichen Ordnungen und Verfassungen spricht derselbe menschliche Geist zu uns und bedarf der Auslegung.« (V, 318 f.) Da das Verstehen unterschiedliche Grade aufweisen kann, ist die höchste Form des Verstehens an eine entscheidende Bedingung geknüpft: Verstehen »kann nur dann zu einem kunstmäßigen Vorgang werden, in welchem ein kontrollierbarer Grad von Objektivität erreicht wird, wenn die Lebensäußerung fixiert ist und wir so immer wieder zu ihr zurückkehren können«. Dieses »kunstmäßige Verstehen von dauernd fixierten Lebensäußerungen« bezeichnet Dilthey als »Auslegung oder Interpretation«. (V, 319) Daher gibt es auch – so Dilthey – eine Hermeneutik der bildenden Kunst oder der Archäologie. Weil aber allein in der Sprache »das menschliche Innere seinen vollständigen, erschöpfenden und objektiv verständlichen Ausdruck findet«, besitzt »die Kunst des Verstehens ihren Mittelpunkt in der Auslegung oder Interpretation der in der Schrift enthaltenen Reste menschlichen Daseins«. (V, 319; vgl. VII, 217) Die Interpretation schriftlich fixierter menschlicher Äußerungen bildet somit die höchste Form der Auslegung. Verstehen wird, wie er schreibt, »nur Sprachdenkmalen gegenüber zu einer Auslegung, welche Allgemeingültigkeit erreicht«. (V, 331) Dilthey verbindet diesen zweiten wesentlichen Bestandteil seiner Hermeneutik mit der starken These, dass »das Werk eines großen Dichters oder Entdeckers, eines religiösen Genius oder eines echten Philosophen […] immer nur der wahre Ausdruck seines Seelenlebens sein [kann]; in dieser von Lüge erfüllten menschlichen Gesellschaft ist ein solches Werk immer wahr, und es ist im Unterschied von jeder anderen Äußerung in fixierten Zeichen für sich einer vollständigen und objektiven Interpretation fähig«. (V, 320) Für diese Form des Ausdrucks verwendet Dilthey später im Übrigen den Begriff des »Erlebnisausdrucks«. (Vgl. VII, 206) 53 https://doi.org/10.5771/9783495820377 .

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Die »Kunstlehre der Auslegung von Schriftdenkmalen«, eine Zusammenfassung der Regeln der persönlichen Auslegungskunst großer Interpreten (vgl. auch V, 332), ist die »hermeneutische Wissenschaft«. Sie ist eine regelgeleitete Kunstlehre, die das Verfahren der Auslegung »zur bewußten Virtuosität« erhebt (V, 337) und hat die Aufgabe, die Bedingungen allgemeingültigen Verstehens zu fixieren. Die Hermeneutik bestimmt aufgrund der Analyse des Verstehens die »Möglichkeit allgemeingültiger Auslegung« (V, 320; 329), und zusammen mit der Analyse der inneren Erfahrung leistet diese Analyse des Verstehens für die Geisteswissenschaften »den Nachweis von Möglichkeit und Grenzen allgemeingültiger Erkenntnis in ihnen«. (V, 320) Die Hermeneutik wird damit zu einem wesentlichen Bestandteil der philosophischen Grundlegung der Geisteswissenschaften. (Vgl. V, 331) Die notwendige Bedingung des Verstehens ist, wie Dilthey mit Schleiermacher festhält, die »allgemeine Menschennatur« bzw. die Identität des menschlichen Geistes, durch die die »Gemeinschaftlichkeit der Menschen untereinander für Rede und Verständnis ermöglicht [wird]«. (V, 329) Wie Dilthey in einem handschriftlichen Entwurf zu seiner Abhandlung schreibt, ist das Verstehen »das grundlegende Verfahren für alle weiteren Operationen der Geisteswissenschaften«. (V, 333) Daher ist »die erkenntnistheoretische, logische und methodische Analysis des Verstehens für die Grundlegung der Geisteswissenschaften eine der Hauptaufgaben«. (V, 333; vgl. 334) Das Grundproblem der Hermeneutik ist also die Frage, wie allgemeingültiges objektives Verständnis fremder individueller Lebensäußerungen möglich ist. (Vgl. V, 334) Bedingung für ein solches Verstehen ist die Annahme einer weitgehenden Übereinstimmung des Verstehenden mit der zu verstehenden Lebensäußerung. 8 V, 334: »Wie kann eine Individualität eine ihr sinnlich gegebene fremde individuelle Lebensäußerung zu allgemeingültigem objektiven Verständnis sich bringen? Die Bedingung, an welche diese Möglichkeit gebunden ist, liegt darin, daß in keiner fremden individuellen Äußerung etwas auftreten kann, das nicht auch in der auffassenden Lebendigkeit enthalten wäre. Dieselben Funktionen und Bestandteile sind in allen Individualitäten, und nur durch die Grade ihrer Stärke unterscheiden sich die Anlagen der verschiedenen Menschen.« (V, 334) Dieser Gedanke wird in der sog. Individualitätsabhandlung [Über vergleichende Psychologie.] Beiträge zum Studium der Individualität (1895/96, in: V, 241–316) weiter ausgeführt.

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Die Geisteswissenschaften und die Hermeneutik

Die zentralen Punkte von Diltheys Hermeneutik sind damit die folgenden: Verstehen ist »grundlegend für die Geisteswissenschaften« (V, 333), und die Hermeneutik gehört zum Kernbestand der erkenntnistheoretischen Grundlegung der Geisteswissenschaften. Ihr Ziel ist die Herausarbeitung der Bedingungen allgemeingültigen, objektiven Verstehens. Das Verstehen ist ein dreistelliger Prozess, und die Objektivität des Verstehens ist nur bei schriftlich fixierten Äußerungen sichergestellt, wobei die Bedingung des Verstehens die Annahme einer allgemeinen Menschennatur ist, d. h. letztlich die Identität von verstehendem Subjekt und zu verstehender singulärer fremder Äußerung. Diltheys wichtigster materialer Beitrag zur hermeneutischen Grundlegung der Geisteswissenschaften ist seine späte Schrift Der Aufbau der geschichtlichen Welt in den Geisteswissenschaften. Diese große Abhandlung setzt einerseits das Projekt der Einleitung fort und erweitert es andererseits um die Analyse der Bedingungen und Methoden der Geschichtswissenschaft. Die zentralen Begriffe dieser Abhandlung, die im Kern auf eine hermeneutische Grundlegung der Geisteswissenschaften hinausläuft, sind Inneres, (objektiver) Geist, Ausdruck, Verstehen und Realisierung. Das leitende Thema der Schrift ist die Bestimmung des Wesens der Geisteswissenschaften und die Abgrenzung der Geistes- von den Naturwissenschaften durch sichere Merkmale. (Vgl. VII, 79) Diltheys Ausgangspunkt für die Begriffsbestimmung der Geisteswissenschaften ist die Beobachtung, dass sich neben den Naturwissenschaften eine Wissenschaftsgruppe »naturwüchsig, aus den Aufgaben des Lebens selbst« etabliert hat, deren Verbindung auf der Gemeinsamkeit des Forschungsgegenstandes beruht. Zu diesen Wissenschaften gehören u. a. die Geschichte, die Nationalökonomie, die Rechts- und Staatswissenschaften, die Religionswissenschaft, die Literaturwissenschaft, die Musikwissenschaft, das Studium philosophischer Weltanschauungen und Systeme sowie die Psychologie. Diese Wissenschaften sind verbunden durch den Bezug »auf dieselbe große Tatsache: das Menschengeschlecht« (VII, 79) bzw. die »Menschheit oder menschlich-gesellschaftlich-geschichtliche Wirklichkeit«. (VII, 81) Diese vorläufige Begriffsbestimmung muss nach Dilthey allerdings ergänzt werden um die Erklärung der »Art der Beziehung«, die »in den Geisteswissenschaften zu dem Tatbestand der Menschheit besteht«, um den Begriff der Geisteswissenschaften zu vollenden, da 55 https://doi.org/10.5771/9783495820377 .

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eine schlichte Abgrenzung von Natur- und Geisteswissenschaften aufgrund je unterschiedlicher Forschungsfelder (»Tatsachenkreise«) unzureichend ist. Denn – so Diltheys Beispiel – auch die Physiologie untersucht den Menschen, ist aber eine Naturwissenschaft. (VII, 81) Entscheidend für die Zuordnung zur Gruppe der Geisteswissenschaften ist also nicht primär der thematisierte Forschungstatbestand, sondern vielmehr eine »Tendenz«, die zum entscheidenden Abgrenzungskriterium der Geistes- von den Naturwissenschaft wird. Und diese Tendenz ist das Verstehen, d. h. das Erfassen eines Inneren an einem physisch Gegebenen: Durch diese Tendenz, die in den Geisteswissenschaften wirksam ist, wird »die physische Seite der Vorgänge in die bloße Rolle von Bedingungen, von Verständnismitteln herabgedrückt […]. Es ist die Richtung auf die Selbstbesinnung, es ist der Gang des Verstehens von außen nach innen. Diese Tendenz verwertet jede Lebensäußerung für die Erfassung des Innern, aus der sie hervorgeht.« (VII, 82) Die Geisteswissenschaften sind folglich dadurch charakterisiert, dass hier das Verstehen »von dem sinnlich in der Menschengeschichte Gegebenen […] in das zurück[geht], was nie in die Sinne fällt und doch in diesem Äußeren sich auswirkt und ausdrückt«. (VII, 83) Bedeutsam für Diltheys Bestimmung des Begriffs der Geisteswissenschaften sind die Dichotomien von Äußerem und Innerem, außen und innen, physisch und physisch. Die Geisteswissenschaften haben zum Ziel die »Besinnung des Menschen über sich selbst« (VII, 83) und richten sich auf das, was sich im äußeren, sinnlich wahrnehmbaren Geschehen manifestiert. Der Gegenstand der Geisteswissenschaften entsteht somit erst »durch ein besonderes Verhalten zur Menschheit, das […] in ihrem Wesen fundiert ist«. Die Tatbestände, die zum Forschungsfeld der Geisteswissenschaften gehören, wie »Staaten, Kirchen, Institutionen, Sitten, Bücher, Kunstwerke« etc., »enthalten immer, wie der Mensch selbst, den Bezug einer äußeren sinnlichen Seite auf eine den Sinnen entzogene und darum innere«. (VII, 84) Dieses Innere, der eigentliche Gegenstand der Geisteswissenschaften, wird von Dilthey dahingehend bestimmt, dass für seine Erkenntnis nicht auf den psychischen Lebensverlauf, d. h. die Psychologie zurückgegriffen wird. Das Innere ist kein psychisches Inneres, sondern vielmehr »Geist«. An zwei Beispielen macht Dilthey diese These deutlich. Wie er am Zwecksystem des Rechts zeigt, ist das historische Verständnis des 56 https://doi.org/10.5771/9783495820377 .

Die Geisteswissenschaften und die Hermeneutik

Rechts, etwa des Geistes des römischen Rechts, keine psychologische Erkenntnis: »Es ist der Rückgang auf ein geistiges Gebilde von einer ihm eigenen Struktur und Gesetzmäßigkeit.« Der Gegenstand der Rechtswissenschaft sind daher nicht die äußeren Tatbestände und Begebenheiten, »durch die und an denen das Recht sich abspielt«. Sie werden vielmehr nur erst dann zum Gegenstand der Rechtswissenschaft, »sofern diese Tatbestände das Recht realisieren«. (VII, 85) Das zweite Beispiel entnimmt Dilthey dem Bereich der Literaturwissenschaft. Das Werk eines Dichters als äußeres, sinnliches, aus Buchstaben bestehendes Objekt genommen, ist nicht der Gegenstand der literaturgeschichtlichen Forschung. Sondern die Literaturgeschichte und die Poetik »haben nur zu tun mit dem Bezug dieses sinnfälligen Zusammenhangs von Worten auf das, was durch sie ausgedrückt ist«. Und entscheidend ist, dass dieses durch die Worte Ausgedrückte »nicht die inneren Vorgänge in dem Dichter [sind], sondern ein in diesen geschaffener, aber von ihnen ablösbarer Zusammenhang«, eben der geistige Gehalt einer Dichtung. Der Gegenstand, mit dem die Literaturgeschichte oder die Poetik sich beschäftigt, ist »ganz unterschiedenen von psychischen Vorgängen im Dichter oder seinen Lesern. Es ist hier ein geistiger Zusammenhang realisiert, der in die Sinnenwelt tritt und den wir durch den Rückgang aus dieser verstehen.« (VII, 85) Der Gegenstand der Geisteswissenschaften wird somit konstituiert durch das Verstehen, in dem ein geistiges Objekt entsteht. (Vgl. VII, 86) Geisteswissenschaften sind die Wissenschaften, die den Geist im Sinne von Montesquieu, Hegel oder Ihering thematisieren. Im Unterschied zum naturwissenschaftlichen Erkennen wird durch das Verstehen der Gegenstand der Geisteswissenschaften gebildet: »Die Menschheit wäre, aufgefaßt in Wahrnehmung und Erkennen, für uns eine physische Tatsache, und sie wäre als solche nur dem naturwissenschaftlichen Erkennen zugänglich. Als Gegenstand der Geisteswissenschaften entsteht sie aber nur, sofern menschliche Zustände erlebt werden, sofern sie in Lebensäußerungen zum Ausdruck gelangen und sofern diese Ausdrücke verstanden werden.« Daher sind die Geisteswissenschaften fundiert durch diesen »Zusammenhang von Leben, Ausdruck und Verstehen«. Dieser Zusammenhang umfasst »nicht nur die Gebärden, Mienen und Worte, in denen Menschen sich mitteilen, oder die dauernden geistigen Schöpfungen, in denen die Tiefe des Schaffenden sich dem Auffassenden öffnet, oder die beständigen Objektivierungen des Geistes in gesellschaftlichen Gebilden, 57 https://doi.org/10.5771/9783495820377 .

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durch welche die Gemeinsamkeit menschlichen Wesens hindurchscheint und uns beständig anschaulich und gewiß ist« (VII, 86), sondern auch die psychophysische Lebenseinheit selbst, d. h. die auf den Lebensverlauf gerichtete Selbsterkenntnis der menschlichen Individuen. Dies ist somit der zentrale Gedanke Diltheys, der seiner späten Theorie der Geisteswissenschaften zugrunde liegt: durch den »Vorgang des Verstehens« wird einerseits das Leben über sich selbst »in seinen Tiefen aufgeklärt«, und andererseits, das ist sozusagen die andere Seite der Medaille, »verstehen wir uns selber und andere nur, indem wir unser erlebtes Leben hineintragen in jede Art von Ausdruck eigenen und fremden Lebens«. Damit kann Dilthey sagen: »So ist überall der Zusammenhang von Erleben, Ausdruck und Verstehen das eigene Verfahren, durch das die Menschheit als geisteswissenschaftlicher Gegenstand für uns da ist. Die Geisteswissenschaften sind so fundiert in diesem Zusammenhang von Leben, Ausdruck und Verstehen.« Daher gehört eine Wissenschaft nur dann zur Gruppe der Geisteswissenschaften, »wenn ihr Gegenstand uns durch das Verhalten zugänglich wird, das im Zusammenhang von Leben, Ausdruck und Verstehen fundiert ist«. (VII, 87; vgl. VII, 131) Hieraus ergibt sich – so Dilthey –, dass alle leitenden geisteswissenschaftlichen Begriffe von den naturwissenschaftlichen verschieden sind. In den Geisteswissenschaften herrscht folglich die Tendenz, »von der Menschheit, von dem durch sie realisierten objektiven Geiste zurückzugehen in das Schaffende, Wertende, Handelnde, Sichausdrückende, Sichobjektivierende, samt den von ihr aus sich ergebenden Konsequenzen«. VII, 88) Das Erleben ist die Grundlage, Ausdrücke werden als Objektivierungen des Lebens (Geistes) begriffen, die durch Rekurs auf das eigene Leben/Erleben verstanden, also sozusagen revitalisiert werden. Die Geisteswissenschaften sind folglich »im Erleben und Verstehen begründet« (VII, 118), und dies wird zur Grundlage der Erkenntnis ihres Aufbaus. Der Aufbau »geht vom Erlebnis aus, von Realität zu Realität; er ist ein sich immer tiefer Einbohren in die geschichtliche Wirklichkeit, ein immer mehr aus ihr Herausholen, immer weiter sich über sie Verbreiten. Es gibt da keine hypothetischen Annahmen, welche dem Gegebenen etwas unterlegen. Denn das Verstehen dringt in die fremden Lebensäußerungen durch eine Transposition aus der Fülle eigener Erlebnisse.« (VII, 118) 58 https://doi.org/10.5771/9783495820377 .

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Gegenstände der Geisteswissenschaften besitzen Sinn und Bedeutung, »die sie durch das Wirken des Geistes erhalten haben«. (VII, 118) Und jede geisteswissenschaftliche Operation »dient dem Verstehen, das diese Bedeutung, diesen Sinn in ihnen erfaßt«. (VII, 118) Verstehen ist nach Dilthey folglich nicht nur ein »eigentümliches methodisches Verhalten«, das gegenüber sinnhaften Objekten eingenommen wird, sondern das Verstehen ist »sachlich darin begründet, daß das Äußere, das ihren Gegenstand ausmacht, sich von dem Gegenstand der Naturwissenschaften durchaus unterscheidet. Der Geist hat sich in ihnen objektiviert, Zwecke haben sich in ihnen gebildet, Werte sind in ihnen verwirklicht, und eben dies Geistige, das in sie hinein gebildet ist, erfaßt das Verstehen.« (VII, 118) Der für Diltheys Theorie der Geisteswissenschaften fundamentale Ausgang vom eigenen Erleben wird durch das folgende Zitat besonders deutlich: »Ein Lebensverhältnis besteht zwischen mir und ihnen [den Forschungsgegenständen der Geisteswissenschaften, HUL]. Ihre Zweckmäßigkeit ist in meiner Zweckmäßigkeit gegründet, ihre Schönheit und Güte in meiner Wertgebung, ihre Verstandesmäßigkeit in meinem Intellekt.« (VII, 118 f.) Die geisteswissenschaftlichen Begriffe, Urteile und generellen Theorien sind »Abkömmlinge von Erleben und Verstehen«, und im Verstehen ist die »Totalität unseres Lebens immer gegenwärtig«. (VII, 119) Das Erleben der eigenen Zustände und das Verstehen des in der Außenwelt objektivierten Geistigen bilden die beiden Ausgangspunkte der Geisteswissenschaften. Die Geisteswissenschaften übersetzen die »menschlich-geschichtlich-gesellschaftliche äußere Wirklichkeit« zurück in die »geistige Lebendigkeit, aus der sie hervorgegangen ist«. (VII, 119 f.) 9 Eine wichtige Ergänzung seiner Theorie des Verstehens stellt Diltheys Theorie des objektiven Geistes dar. (Vgl. VII, 146–152 und 208–210) Denn neben dem Erlebnis bildet die »Objektivation des Lebens«, die »Objektivierung des Lebens«, die »Objektivität des Lebens« oder die »Manifestation des Lebens« die Grundlage der Geisteswissenschaften. Die Objektivation des Lebens ist die »Realisierung

VII, 136: »Leben, Lebenserfahrung und Geisteswissenschaften stehen so in einem beständigen inneren Zusammenhang und Wechselverkehr. Nicht begriffliches Verfahren bildet die Grundlage der Geisteswissenschaften, sondern Innewerden eines psychischen Zustandes in seiner Gesamtheit und Wiederfinden desselben im Nacherleben. Leben erfaßt hier Leben […].«

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des Geistes in der Sinnenwelt« (VII, 146): »Jede einzelne Lebensäußerung repräsentiert im Reich dieses objektiven Geistes ein Gemeinsames. Jedes Wort, jeder Satz, jede Gebärde oder Höflichkeitsformel, jedes Kunstwerk und jede historische Tat sind nur verständlich, weil eine Gemeinsamkeit den sich in ihnen Äußernden mit dem Verstehenden verbindet; der einzelne erlebt, denkt und handelt stets in einer Sphäre von Gemeinsamkeit, und nur in einer solchen versteht er. Alles Verstandene trägt gleichsam die Marke des Bekanntseins aus solcher Gemeinsamkeit an sich. Wir leben in dieser Atmosphäre, sie umgibt uns beständig. Wir sind eingetaucht in sie. Wir sind in dieser geschichtlichen und verstandenen Welt überall zu Hause, wir verstehen Sinn und Bedeutung von dem allen, wir selbst sind verwebt in diese Gemeinsamkeiten.« (VII, 146 f.) Ein Grundproblem der Diltheyschen Philosophie ist die Tatsache, dass Dilthey – um eine Bemerkung Blumenbergs über zu Simmel 10 zu variieren – kein »harter« systematischer Definierer war. Er arbeitete mit einer fluiden Begrifflichkeit und verzichtete oft auf eine letzte Klärung seiner Leitbegriffe, wie Leben, Erleben, Erlebnis etc. Seine Hermeneutik gründet auf der Möglichkeit der Übertragung des eigenen Erlebens auf das Fremde. Bedingung dieser Transposition ist die grundlegende menschliche Gemeinsamkeit. Paradigmata, an denen Dilthey seine Hermeneutik entwickelt und veranschaulicht hat, sind der lyrische Dichter sowie die große historische Gestalt, und das hermeneutische Grundmodell ist die Biographie. (Vgl. I, 33 f.) Diltheys hermeneutische Konzeption basiert auf zwei Bedingungen des Verstehens: dem Erleben des verstehenden Subjekts und der Einbettung des Verstehenden in einen objektiven Geist eingeübter Sinnerwartungen und Sinnbezüge. Allerdings bringt Dilthey diese beiden Pole – das Erleben und den objektiver Geist – nicht wirklich zum Ausgleich. Denn seine Verstehenskonzeption ist subjektzentriert, d. h. durch einen Primat des verstehenden Subjekts charakterisiert. Damit werden auch die Grenzen seines Entwurfs deutlich: der Fremde, Andere kann immer nur vom eigenen Ich aus verstanden werden. Verstehen bleibt letztlich – so Dilthey – das »Wiederfinden des Ich im Du«. (VII, 191) Und andererseits ist fraglich, wie Dilthey von diesem Ausgangspunkt aus das Verstehen des historischen Ge10

Blumenberg (1976), 127.

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Die Geisteswissenschaften und die Hermeneutik

schehens, das die Erlebensmöglichkeiten des verstehenden Subjekts übersteigt, denken kann. Ob der Hinweis darauf, dass der Mensch ein historisches Wesen ist und als Element der Geschichte daher diese versteht (vgl. VII, 148, 151, 278), ausreicht, die Möglichkeit historischen Verstehens zu begründen, ist wohl eher zweifelhaft. Schließlich kann Dilthey mit seiner Theorie des objektiven Geistes keine Basis legen für eine interkulturelle Hermeneutik, die wohl ohnehin außerhalb seines Horizontes lag.

2.

Verstehen als Geschehen: Gadamers Begründung einer philosophischen Hermeneutik

Gadamer versteht seine Hermeneutik, die er in Wahrheit und Methode (1960) 11 entwickelt, dezidiert als ein Gegenprogramm zur Hermeneutik Diltheys. Man kann Gadamer daher auch als einen AntiDilthey bezeichnen. Die zentrale Intention von Wahrheit und Methode ist die »Überwindung der Hermeneutik des Historismus« (336, Anm. 275) und ihre Ersetzung durch die eigene Hermeneutik. (Vgl. 479) Gegner Gadamers sind neben dem Historismus und der vom ihm sogenannten »traditionellen Hermeneutik« Schleiermachers und Diltheys die Aufklärung sowie der Methodenbegriff der modernen Wissenschaft. Weiterhin wendet sich Gadamer gegen das Selbstverständnis der modernen Geisteswissenschaften, die seiner These nach zu sehr dem methodischen Vorbild der Naturwissenschaften verpflichtet sind, wie er insbesondere in seiner Dilthey-Kritik plausibel zu machen sucht. (Vgl. 315 u. a.) Wesentliche Momente der Hermeneutik des Heidegger-Schülers Gadamer sind die Auffassung des Verstehens als Seinsweise des Subjekts 12 und die Betonung der Wirkungsgeschichte. 13 Die Gegenstellung zu Dilthey wird schon im Untertitel seines Buches offensichtlich: Die von Gadamer intendierte Hermeneutik will keine ausgearbeitet Methodenlehre, kein Regelwerk sein, sondern eine dezidiert »philosophische« Hermeneutik. Diese »philosophische Hermeneutik« reflektiert auf die Bedingungen des VerGadamer (1990). Im Folgenden zitiert im Text unter der Angabe der bloßen Seitenzahl. 12 Gadamer (1986), 440. 13 Gadamer (1986), 443. 11

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stehens. Gadamer beabsichtigt also keine »Kunstlehre« des Verstehens vorzulegen (vgl. 3): »Ich wollte nicht ein System von Kunstregeln entwickeln, die das methodische Verfahren der Geisteswissenschaften zu beschreiben oder gar zu leiten vermöchten. Meine Absicht war auch nicht, die theoretischen Grundlagen der geisteswissenschaftlichen Arbeit zu erforschen, um die gewonnenen Erkenntnisse ins Praktische zu wenden. […] Mein eigentlicher Anspruch aber war und ist ein philosophischer: Nicht, was wir tun, nicht, was wir tun sollten, sondern was über unser Wollen und Tun hinaus mit uns geschieht, steht in Frage.« 14 Damit wird das entscheidende Leitmotiv Gadamers sichtbar, das sein ganzes Werk durchstimmt: Er denkt das Verstehen in den Geisteswissenschaften als ein »Geschehen«, nicht als Akt einer souveränen Subjektivität. Mit seinem Werk unternimmt Gadamer den »Versuch einer Verständigung über das, was die Geisteswissenschaften über ihr methodisches Selbstbewußtsein hinaus in Wahrheit sind«. (3) Die Ablehnung einer Methode des Verstehens und dementsprechend einer Kunstlehre des Verstehens begründet Gadamer damit, dass sie eine falsche Überlegenheit des Interpreten über den Text suggeriere (vgl. 3), womit ein weiteres Grundmotiv seiner hermeneutischen Konzeption angestimmt wird. Gadamer knüpft mit seiner Hermeneutik an Heideggers Hermeneutik der Faktizität und insbesondere an seine Analyse der Vorstruktur des Verstehens an. (Vgl. 270, 274) Für ihn ist Verstehen keine wissenschaftliche Methode, sondern vielmehr ein Phänomen, das als Medium der Welterschließung alle menschlichen Weltbezüge durchzieht. Gadamer möchte zeigen, dass das Verstehen der Überlieferung in der Substanz etwas anderes ist, als das wissenschaftliche Erkennen von Texten, denn im Verstehen der Texte der Tradition wird Wahrheit erkannt, die auf wissenschaftlichem Wege nicht erzielbar wäre. Diltheys Nachruf auf Wilhelm Scherer (1886), 15 in dem dieser Scherers Auflösung der Lebensbindung und die Gewinnung einer Distanz zur Tradition herausstellt, stilisiert Gadamer zum Gegenmodell seiner eigenen Hermeneutik, denn Gadamer geht von der Überlegenheit des Vergangenen aus. In ihm sei Wahrheit enthalten, Gadamer (1986), 438. W. Dilthey: Wilhelm Scherer (ursprünglich: Wilhelm Scherer zu persönlichem Gedächtnis), in: XI, 236–253.

14 15

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Die Geisteswissenschaften und die Hermeneutik

die nur verstehend erschlossen werden kann und eben nicht methodisch-wissenschaftlich. Das Verstehen in den Geisteswissenschaften ist ein wesentlich geschichtliches, d. h. dass »ein Text nur verstanden wird, wenn er jeweils anders verstanden wird«. (314) Damit stellt die »geschichtliche Bewegtheit des Verstehens« das wahre Zentrum der hermeneutischen Fragestellung dar. Verstehen ist daher keine Methode, mit der ein Gegenstand (Text) zu einer objektiven Erkenntnis gebracht wird, sondern hat vielmehr ein »Darinstehen in einem Überlieferungsgeschehen zur Voraussetzung«. (314; 330) Die Forderung nach objektiven Methoden, die die Hermeneutik des 19. Jahrhunderts auszeichnet, ist für ihn die »Folge einer falschen Vergegenständlichung«. (319; 365) Gadamer versucht zu zeigen, dass die hermeneutische Problemstellung nicht auf die Subjektivität des Interpreten und die Objektivität des zu verstehenden Sinnes aufzuteilen ist, da ein solches Verfahren von einem falschen Gegenüber ausgeht. Das »Wunder des Verstehens« bestehe vielmehr darin, dass wir uns dem »überlegenen Anspruch des Textes« öffnen und »der Bedeutung verstehend zu entsprechen, in der er zu uns spricht«. Die Hermeneutik in den historisch-philologischen Geisteswissenschaften ist kein »Herrschaftswissen« (Scheler), d. h. Aneignung des Sinns eines Textes als Besitzergreifung, sondern ordnet sich dem »beherrschenden Anspruch des Textes« unter, wobei Gadamer in der juristischen und theologischen Hermeneutik das wahre Vorbild geisteswissenschaftlicher Hermeneutik zu erkennen glaubt. (316) Und ihre Aufgabe bestehe darin, danach zu fragen, »was das für ein Verstehen was für einer Wissenschaft ist, das in sich selbst vom geschichtlichen Wandel fortbewegt wird«. (314) Seine Grundfrage: »Wie ist Verstehen möglich?« ist – wie er ausführt – eine Frage, »die allem verstehenden Verhalten der Subjektivität, auch dem methodischen der verstehenden Wissenschaften, ihren Normen und Regeln, schon vorausliegt.« 16 Seine einschlägige grundlegende These lautet: »das wirkungsgeschichtliche Moment [ist und bleibt] in allem Verstehen von Überlieferung wirksam […], auch wo die Methodik der modernen historischen Wissenschaften Platz gegriffen hat und das geschichtliche Gewordene, geschichtlich Überlieferte zum ›Objekt‹ macht, das es ›festzustellen‹ gilt wie einen ex16

Gadamer (1986), 439 f.

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perimentellen Befund – als wäre Überlieferung in dem selben Sinne fremd und, menschlich gesehen, unverständlich wie der Gegenstand der Physik«. 17 Verstehen ist nach Gadamer zunächst Einverständnis (vgl. 183 f.), und das Verständnis richtet sich auf die im Text verborgene Wahrheit. (vgl. 189) Verstehen setzt daher die Bereitschaft voraus, sich vom Text etwas sagen zu lassen. (Vgl. 273) Wesentliche Elemente der so verstandenen Hermeneutik sind die Rehabilitierung der Vorurteile und der Tradition. Denn die Revision der Forderung der Aufklärung nach Überwindung aller Vorurteile macht erst den Weg frei für ein »angemessenes Verständnis der Endlichkeit […] die nicht nur unser Menschsein, sondern ebenso unser geschichtliches Bewußtsein beherrscht«. (280; vgl. 281 ff.) Gegen Dilthey argumentiert Gadamer, dass Selbstbesinnung und Autobiographie keine Basis für die Lösung des hermeneutischen Problems darstellen, da durch sie die Geschichte »privatisiert« werde. Dagegen hält er für seine philosophische Hermeneutik fest: »In Wahrheit gehört die Geschichte nicht uns, sondern wir gehören ihr. Lange bevor wir uns in der Rückbesinnung selber verstehen, verstehen wir uns auf selbstverständliche Weise in Familie, Gesellschaft und Staat, in denen wir leben. Der Fokus der Subjektivität ist ein Zerrspiegel. Die Selbstbesinnung des Individuums ist nur ein Flackern im geschlossenen Stromkreis des geschichtlichen Lebens. Darum sind die Vorurteile des einzelnen weit mehr als seine Urteile die geschichtliche Wirklichkeit seines Seins.« (281) Autorität kann auch – wie Gadamer gegen die Aufklärung behauptet – eine Wahrheitsquelle sein, und in der geisteswissenschaftlichen Hermeneutik muss die Tradition zu ihrem Recht gebracht werden. (Vgl. 286) D. h., dass unser stets praktiziertes »natürliches Verhalten zur Vergangenheit« (287), das nicht durch »Abstandnahme und Freiheit vom Überlieferten« geprägt ist (286), sondern durch unser Darinstehen in Überlieferung, »das kein vergegenständlichendes Verhalten [ist], so daß das, was die Überlieferung sagt, als ein anderes, Fremdes gedacht wäre«. Vielmehr ist es – so Gadamer – »schon ein Eigenes, Vorbild und Abschreckung, ein Sichwiedererkennen, in dem für unser späteres historisches Naturell kaum noch Erkennen, sondern unbefangenste Anverwandlung der Überlieferung zu gewahren ist.« (286 f.) Daher teilt das geisteswissenschaftliche Verstehen mit 17

Gadamer (1986), 443.

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Die Geisteswissenschaften und die Hermeneutik

dem Fortleben der Tradition die grundlegende Voraussetzung, »sich von der Überlieferung angesprochen zu sehen«. (287) Diese Überlegungen schlagen sich in Gadamers Verstehens-Begriff nieder: »Das Verstehen ist selber nicht so sehr als eine Handlung der Subjektivität zu denken, sondern als Einrücken in ein Überlieferungsgeschehen, in dem sich Vergangenheit und Gegenwart beständig vermitteln.« (295) Und damit wird die Zugehörigkeit zu einer Tradition zu einer wesentlichen hermeneutischen Bedingung. (Vgl. 294, 295, 296, 319, 462, 466, 467) Verstehen ist kein Versetzen in die seelische Verfassung des Autors, keine Einfühlung, keine Empathie, sondern vielmehr eine »Teilhabe am gemeinsamen Sinn«. (297) Das Ziel des Verstehens wird das »Einverständnis in der Sache« bzw. die Wiederherstellung gestörten Einverständnisses. (297, vgl. 298) Die Dominanz der Überlieferung wird auch in Gadamers Behandlung des hermeneutischen Zirkels deutlich. Der Zirkel – so Gadamer – »beschreibt das Verstehen als das Ineinanderspiel der Bewegung der Überlieferung und der Bewegung des Interpreten«, wobei die Antizipation, durch die unser Textverständnis geleitet wird, »nicht eine Handlung der Subjektivität [ist]«, sondern sich bestimmt »aus der Gemeinsamkeit, die uns mit der Überlieferung verbindet«. (298) Der Sinn der Zugehörigkeit, d. h. »das Moment der Tradition im historisch-hermeneutischen Verhalten«, bedeutet somit eine »Gemeinsamkeit grundlegender und tragender Vorurteile«. Denn die Hermeneutik »muß davon ausgehen, daß wer verstehen will, mit der Sache, die mit der Überlieferung zur Sprache kommt, verbunden ist und an der Tradition Anschluß hat oder Anschluß gewinnt, aus der die Überlieferung spricht.« (300) Bedeutsam für Gadamers Hermeneutik ist die Einsicht, dass der Sinn eines Textes immer seinen Autor übertrifft und Verstehen »kein nur reproduktives, sondern stets auch ein produktives Verhalten« darstellt. (301) Ein überlieferter Text wird von jeder Zeit anders, d. h. auf ihre Weise verstanden. Der wirkliche Sinn eines Textes wird immer auch durch die historische Lage des Interpreten mitbestimmt. (Vgl. 301) Gegen Schleiermachers These, man müsse einen Autor besser verstehen, als er sich selbst verstanden hat, behauptet Gadamer, dass beim Verstehen nicht von einem Besserverstehen gesprochen werden könne: »Es genügt zu sagen, daß man anders versteht, wenn man überhaupt versteht.« (302) Und gegen Dilthey wendet Gadamer ein, 65 https://doi.org/10.5771/9783495820377 .

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dass der Text nicht als ein bloßer Lebensausdruck verstanden werden darf, sondern vielmehr in seinem Wahrheitsanspruch erst genommen werden muss. (Vgl. 302) Mit Heidegger begreift Gadamer den Zeitabstand in seiner hermeneutischen Produktivität, indem er gegen die »naive« Forderung des Historismus, sich in den Geist einer vergangenen Zeit zu versetzen (vgl. 302, 304), deutlich macht, dass die Zeit kein Abgrund ist, der überwunden werden muss, sondern »in Wahrheit der tragende Grund des Geschehens, in dem das Gegenwärtige wurzelt«. (302) Der Zeitabstand – so Gadamer – »läßt den wahren Sinn, der in einer Sache liegt, erst voll herauskommen«. (303) Man muss also, wie Gadamer fordert, den Abstand der Zeit als eine »positive und produktive Möglichkeit des Verstehens« erkennen: »Er ist nicht ein gähnender Abgrund, sondern ist ausgefüllt durch die Kontinuität der Herkommens und der Tradition, in deren Lichte uns alle Überlieferung sich zeigt.« (302) Gadamer versucht die Geschichtlichkeit für die Hermeneutik verbindlich zu machen, indem er im Verstehen die »Wirklichkeit der Geschichte« aufweist, eine Forderung, die er durch den Begriff der »Wirkungsgeschichte« bezeichnet. Verstehen ist daher ein »wirkungsgeschichtlicher Vorgang«. (305; vgl. 305–312) Das »Prinzip der Wirkungsgeschichte«, das Gadamer in die Hermeneutik einbringt, soll das Bewusstsein dafür schärfen, dass der Interpret in der hermeneutischen Situation sich nicht in abstrakter oder reiner Unmittelbarkeit auf den zu verstehenden Text richtet, sondern immer schon den »Wirkungen der Wirkungsgeschichte« unterliegt: »Sie bestimmt im voraus, was sich uns als fragwürdig und als Gegenstand der Forschung zeigt.« (305 f.) Wirkungsgeschichte bedeutet die Anerkenntnis, »daß in allem Verstehen, ob man sich dessen ausdrücklich bewußt ist oder nicht, die Wirkung dieser Wirkungsgeschichte am Werke ist«. (306) Diese Forderung nach einer wirkungsgeschichtlichen Fragestellung richtet Gadamer gegen den historischen Objektivismus des ästhetisch-historischen Positivismus im Gefolge der romantischen Hermeneutik (vgl. 312), der unter Berufung auf seine kritische Methodik die wirkungsgeschichtliche Verflechtung verdeckt bzw. ignoriert, in der sich das historische Bewusstsein selbst befindet. (306) Die Geisteswissenschaften, die keine wissenschaftliche Erkenntnis produzieren, sondern vielmehr Einverständnis, bringen nach Gadamer durch das Verstehen die Überlieferung erneut zur Sprache. 66 https://doi.org/10.5771/9783495820377 .

Die Geisteswissenschaften und die Hermeneutik

Dabei wird die Geschichtlichkeit des Interpreten, d. h. seine Vorurteilshaftigkeit, die Zeugnis ablegt für seine Zugehörigkeit zur Überlieferung, mitgedacht. Möglich wird das Verstehen der Tradition durch das Einrücken in den Überlieferungszusammenhang (vgl. 295, 298) und die Unterwerfung unter den Wahrheitsanspruch der Überlieferung. Gadamers philosophische Hermeneutik ist geprägt von der Ablehnung einer Methode des Verstehens, der Annahme einer Wirkungseinheit von Tradition und Wissen, von der Entmächtigung der verstehenden Subjektivität, der starken Betonung der Autorität, der Bedeutung der Zugehörigkeit und des Klassischen, das durch die Vermittlung von Vergangenheit und Gegenwart ein Modell liefert für alles historische Verhalten. Gadamer begreift seine philosophische Hermeneutik als Analyse der »hermeneutischen Situation«. (307, 476) Die hermeneutische Situation, d. h. das Verhältnis von Interpret und Text, wird, wie er zu zeigen versucht, durch die Vorurteile bestimmt, die wir mitbringen und die den Horizont der Gegenwart ausmachen. Daher denkt er das Verstehen als eine Art »Horizontverschmelzung«. (311) Die Aufgabe der philosophischen Hermeneutik liegt im Aufweis der in aller Subjektivität bestimmenden Substanzialität, d. h. der geschichtliche Vorgegebenheit. (Vgl. 307) Philosophische Hermeneutik ist insofern die Erinnerung an die eigene Geschichtlichkeit und die Bewusstmachung der wirkungsgeschichtlichen Verflechtungen des Interpreten. Gadamer strebt bewusst keine Methodenlehre der Geisteswissenschaften an, sondern unternimmt vielmehr einen Versuch der Besinnung auf das, was die Geisteswissenschaften ihrem Selbstverständnis zum Trotz in Wahrheit sind. Dazu gehört der für seine Konzeption wichtige Nachweis, dass Verstehen kein Akt eines autonomen Subjekts ist, sondern in Wahrheit ein »Geschehen«. (465) Das bedeutet auch, dass sich der Interpret dem Sinnanspruch des zu verstehenden Textes zu unterwerfen hat und ihn nicht bloß als ein historisches Dokument (vgl. 151) oder als einen Ausdruck begreift. Gadamers Hermeneutik – das ist evident – ist eine Hermeneutik der klassischen Texte der eigenen Tradition. Gegen die kritisierte Naivität eines Methodenglaubens stellt er ein anderes Verhältnis zur Tradition, das geprägt ist nicht durch kritische Distanznahme, sondern durch Nachfolge und Unterwerfung unter die Autorität klassischer, d. h. der kritischen Auseinandersetzung enthobener Texte. Er entwickelt keine Wahrheitskriterien des Verstehens, kein kritisches 67 https://doi.org/10.5771/9783495820377 .

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Instrumentarium, und sein Verstehensmodell des anders-Verstehens läuft auf einen uneingestandenen Relativismus hinaus.

3.

Plädoyer für eine erneuerte Hermeneutik

Ab Mitte der 1960er-Jahre erhebt sich eine scharfe Kritik an der Hermeneutik und ihren zentralen Begriffen Sinn und Bedeutung, Interpretation, Subjekt und Autor. Wichtige Stimmen dieser durchaus heterogenen Bewegung der Anti-Hermeneutik sind z. B. Susan Sontag, die gegen die Interpretation argumentiert und statt einer Hermeneutik eine »Erotik der Kunst« fordert, 18 Roland Barthes, der den »Tod des Autors« konstatiert und den Text nicht mehr als ein einheitliches, konsistentes Sinngefüge, sondern als ein »Gewebe von Zitaten aus unzähligen Stätten der Kultur« begreift, 19 und Michel Foucault, der nicht nur den Autor, sondern auch das Werk verabschiedet und an die Stelle des bedeutungsschaffenden Autors Diskurse setzt, die sich in der »Anonymität eines Gemurmels« entfalten. 20 Diese anti-hermeneutischen Angriffe auf den Sinn von Texten und den Autor als Bedeutungsproduzent scheinen mir allerdings ebenso wenig geeignet zu sein, die Praxis der Geisteswissenschaften adäquat zu beschreiben, wie eine naturalistische Hermeneutik, die im modernen szientistischen Gewand die Hermeneutik der Aufklärung revitalisiert (Hans Albert, Axel Bühler). Nötig scheint mir vielmehr, und mit diesem Plädoyer möchte ich schließen, eine erneuerte Hermeneutik, die zwar die Geschichtlichkeit des Interpreten bedenkt, aber die Analyse der hermeneutischen Situation verbindet mit der Generierung und Etablierung kritischer und verbindlicher Standards der Interpretation, die der Vergegenwärtigung des »objektiven« Textsinns dienen und damit Anschluss sucht an die Leitgedanken der klassischen geisteswissenschaftlichen Hermeneutik. Denn das Kerngeschäft oder die Kernkompetenz der Geisteswissenschaften ist und bleibt die Arbeit am Text, d. h. das ZumSprechen-Bringen der Überlieferung. Daher – so meine These – ist die Interpretation, also die Hermeneutik das unverzichtbare metho-

18 19 20

Sontag (2012), 22. Barthes (2000), 190. Foucault (2001), 1030.

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Die Geisteswissenschaften und die Hermeneutik

dische Fundament der Geisteswissenschaften – auch angesichts des modernen Methodenpluralismus.

Literaturverzeichnis Barthes, Roland (2000): »Der Tod des Autors«, übersetzt von Matias Martinez, in: Texte zur Theorie der Autorschaft, hg. v. Fotis Jannidis/Gerhard Lauer/ Matias Martinez/Simone Winko, Stuttgart, 185–193. Blumenberg, Hans (1976): »Geld oder Leben. Eine metaphorologische Studie zur Konsistenz der Philosophie Georg Simmels«, in: Ästhetik und Soziologie um die Jahrhundertwende: Georg Simmel (= Studien zur Literatur und Philosophie des neunzehnten Jahrhunderts. »Neunzehntes Jahrhundert«. Forschungsunternehmen der Fritz Thyssen Stiftung, Bd. 27), hg. v. Hannes Böhringer/Karlfried Gründer, Frankfurt/M., 121–134. Dilthey, Wilhelm (1914 ff.): Gesammelte Schriften (26 Bände), 1914 ff.: Leipzig/ Berlin, 1957 ff.: Stuttgart/Göttingen, 1970 ff.: Göttingen. Foucault, Michel (2001): »Was ist ein Autor?«, übers. v. Hermann Kocyba, in: Ders.: Schriften in vier Bänden. Dits et Ecrits. Band I: 1954–1969, Frankfurt/ M., 1003–1041. Gadamer, Hans-Georg (1971): »Replik«, in: Hermeneutik und Ideologiekritik, hg. v. Jürgen Habermas, Dieter Henrich und Jacob Taubes, Frankfurt/M., 57– 82. – (1986): »Vorwort zur 2. Auflage (1965)«, in: Ders.: Hermeneutik II: Wahrheit und Methode. Ergänzungen, Register (= Gesammelte Werke, Bd. 2), Tübingen, 437–448. – (6 1990): Hermeneutik I: Wahrheit und Methode. Grundzüge einer philosophischen Hermeneutik (= Gesammelte Werke, Bd. 1), Tübingen. Misch, Clara (1933): Der junge Dilthey. Ein Lebensbild in Briefen und Tagebüchern 1852–1870. Zusammengestellt von Clara Misch geb. Dilthey, Leipzig. Sontag, Susan (10 2012): »Gegen Interpretationen«, übers. v. Mark W. Rien, in: Dies.: Kunst und Antikunst. 24 literarische Analysen, Frankfurt/M., 11–22.

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Soziologie zwischen Geistes- und Naturwissenschaft. Das Exempel der Religionssoziologie Hans Joas

Ist die Soziologie Teil der Geisteswissenschaften? Blickt man im Bemühen um eine Beantwortung dieser Frage zunächst auf die institutionellen Strukturen von Universitäten und Akademien in Deutschland, dann ergibt sich kein eindeutiges Bild. Die Zuordnung zu Philosophischen Fakultäten fand sich in den letzten Jahrzehnten ebenso wie die zu eigenen Wirtschafts- und Sozialwissenschaftlichen Fachbereichen. In einer so herausgehobenen wissenschaftlichen Organisation wie der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften (BBAW) entschied man sich für eine klare Trennung von Geisteswissenschaftlicher Klasse einerseits und Sozialwissenschaftlicher Klasse andererseits; im konkreten Leben dieser Akademie führt diese Trennung aber immer wieder zu unplausiblen Aufgabenverteilungen und zu Reibungsverlusten. Auch das Selbstverständnis der Vertreter der einzelnen Disziplinen bietet kein wirklich eindeutiges Bild. Vor allem in den Fächern Psychologie und Wirtschaftswissenschaften ist der Ehrgeiz groß, als Naturwissenschaft oder doch als erfolgreiche Analogiebildung zu den Naturwissenschaften wahrgenommen zu werden. Doch gibt es auch dort intellektuell starke Gegenströmungen etwa in der »Kulturpsychologie« oder den stärker historisch und institutionell ausgerichteten Schulen der Ökonomie. Die Rechtswissenschaften sind aufgrund ihres stark normativen Charakters ohnehin eher als ein Phänomen sui generis zu betrachten. In der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften werden sie den Sozialwissenschaften zugerechnet, während die Theologie, die ja auch nicht einfach eine empirische Disziplin ist, zu den Geisteswissenschaften gezählt wird. Die Ethnologie wird als Sozialwissenschaft verbucht, obgleich in ihr hermeneutische Verfahrensweisen dominieren, die ihre Herkunft aus den Geisteswissenschaften nicht verleugnen können. Und die Soziologie gehört dann ganz selbstverständlich zu der Fächergruppe, der auch Psychologie und Wirtschaftswissenschaften angehören. Sobald von einer Gruppe der 70 https://doi.org/10.5771/9783495820377 .

Soziologie zwischen Geistes- und Naturwissenschaft

»Sozialwissenschaften« die Rede ist, wäre jede andere Zuordnung gewiss unplausibel. Mehr als in jedem anderen Fach scheint mir der Riss zwischen Geistes- und Naturwissenschaften sich innerhalb der Disziplingrenzen der Soziologie selbst zu finden. Weder ist es in diesem Fach je zu einer so klaren Hegemonialstellung einer von den Naturwissenschaften geprägten Orientierung gekommen, wie dies in Ökonomie und Psychologie der Fall ist, noch hat es umgekehrt ein geisteswissenschaftliches Paradigma je vermocht, die Vorbildwirkung der Naturwissenschaften für beträchtliche Teile des Faches Soziologie definitiv zurückzudrängen. Das Kräfteverhältnis der beiden Tendenzen ist in verschiedenen nationalen Fachkulturen dabei recht unterschiedlich. So ist in den USA der Anteil der oft als »Demographen« bezeichneten, stark quantitativ orientierten Vertreter des Faches in der Regel größer als in den entsprechenden deutschen Instituten, aber eine bis zur wechselseitigen Ignoranz gehende Unterscheidung findet sich hier wie dort. In diesem Beitrag soll allerdings kein Lamento darüber angestimmt werden, dass es der Soziologie noch immer nicht gelungen sei, eine eindeutige und von (fast) allen akzeptierte Lösung ihres Identitätsproblems gefunden zu haben. Es soll vielmehr, dem Kontext von Diagnosen zur Lage der Geisteswissenschaften entsprechend, aus den Schwierigkeiten der Lage auf eine mögliche Stärke gerade der Soziologie geschlossen werden. Aus den Schwierigkeiten, die Soziologie zu den Geisteswissenschaften zu rechnen, kann ja hervorgehen, dass der Begriff »Geist« vielleicht selbst so konzipiert ist, dass er nicht nur der Soziologie Probleme bereitet. Es ist denkbar, dass andere Vorstellungen und Begriffe als der des »Geistes« besser geeignet sind, die Eigenständigkeit einer ganzen Reihe wissenschaftlicher Disziplinen zu bezeichnen. Meine Argumentation wird in drei Schritten vorzutragen sein. Zunächst soll (1) ein kurzer Rückblick auf die Entstehung des Faches Soziologie zeigen, wie sehr die Spannung zwischen Geistes- und Naturwissenschaften dieses Fach von Anfang an geprägt hat. Dann wird (2) anhand des ehrgeizigsten Syntheseversuchs des Faches aus der Mitte des zwanzigsten Jahrhunderts die Perspektive auf eine Alternative zum »Geist«-Begriff eröffnet, um schließlich (3) am Beispiel der Teildisziplin Religionssoziologie auf Chancen und Probleme der hier vertretenen Orientierung hinzuweisen.

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1.

Die Entstehung der Soziologie und die Herausbildung eines Kanons

Als eigenständige akademische Disziplin hat die Soziologie mehrere Wurzeln. In sie sind von vornherein mindestens vier verschiedene Strömungen eingeflossen. Es handelt sich erstens um stark philosophisch geprägte Überlegungen über das Wesen menschlicher sozialer Beziehungen überhaupt. Repräsentativ für diesen Typus steht etwa das Werk Georg Simmels, das schon zu dessen Lebzeiten weit über Deutschland hinaus Einfluss gewonnen hat und bis heute als Steinbruch für forschungsleitende soziologische Hypothesen dient. Zweitens aber, und zunächst einmal damit gar nicht verbunden, spielten empirische Untersuchungen über soziale Probleme (wie Armut, Verbrechen, Trunksucht, Ehescheidungen) eine zentrale Rolle. Bei diesen waren meist sozialreformerische Absichten leitend, weshalb viele von ihnen im Rückblick als bloß zeitgebunden erscheinen. Weit darüber hinaus ging die Studie über den »Selbstmord«, die der Begründer der französischen Soziologie, Émile Durkheim, 1897 vorlegte. Er wählte sich diesen Gegenstand nicht so sehr, weil sich in Selbstmordhäufigkeit und -verteilung soziale Probleme verbergen, sondern weil er den Ehrgeiz hatte, das Potential der Soziologie gerade an einem Gegenstand zu demonstrieren, der dem Laien als ausschließlich und im höchsten Sinne individuell erscheinen musste. Dabei entwickelte Durkheim pionierhaft statistische Auswertungsmethoden, die sein Buch zu einem methodischen Klassiker machten. Als dritte für die Soziologie konstitutive Strömung sind die Versuche einzuschätzen, das enorm reiche historische und ethnologische Wissen, welches das neunzehnte Jahrhundert hervorgebracht hatte, umfassend zu systematisieren. Über alle anderen Versuche ragt in dieser Hinsicht bis heute das Lebenswerk von Max Weber hinaus. An vierter Stelle sind dann noch die Versuche zur Zeitdiagnose zu nennen, zur Charakterisierung der Gegenwart oder der »modernen« Gesellschaft überhaupt, wie immer deren chronologische und geographische Erstreckung genau aufgefasst werden mochte. Von großer Bedeutung waren in dieser Hinsicht etwa Ferdinand Tönnies’ Schrift »Gemeinschaft und Gesellschaft« von 1887 mit ihrer dichotomischen Typenbildung. Sie wurde in einem anderen Hauptwerk Durkheims, dem über »Arbeitsteilung«, mit etwas veränderten Akzenten aufgenommen. In der frühen amerikanischen Soziologie mit ihrem starken Interesse an Migrationsproblemen – etwa der Polen in Chicago – wurde das 72 https://doi.org/10.5771/9783495820377 .

Soziologie zwischen Geistes- und Naturwissenschaft

Zweierschema in Richtung eines Dreischritts, nämlich hin zur Erzeugung neuer (»moderner«) Gemeinschaftsformen erweitert. Mit der schleichenden Enthistorisierung des Faches Soziologie hat das Genre »Zeitdiagnose« zumindest in der Außenwahrnehmung des Faches, nicht notwendig in seinem Forschungsbetrieb, eine immer größere Rolle angenommen. Alle bisherigen Behauptungen beziehen sich auf die Epoche der allmählichen Institutionalisierung des Faches nach etwa 1890. Der Name des Faches und erste Entwürfe, die heute eher als amateurhafte Größenphantasien wahrgenommen werden, sind aber älter. Der Name geht auf den französischen Philosophen Auguste Comte zurück, für den das neue, ihm vorschwebende Fach eine »soziale Physik« sein sollte, die in der Zukunft in der Ordnung der Wissenschaften an der Spitze zu stehen und die sozialen Prozesse anzuleiten habe. Nach Comte und vor allem in der angelsächsischen Welt war es dann weniger die Physik, sondern die Biologie, die für die Soziologie prägend wurde. Der epochale Schritt Charles Darwins hin zu einer erklärungsstarken Theorie organischer Evolution nährte die Hoffnung, einen ähnlichen Durchbruch im Verständnis der menschlichen Geschichte zu erzielen und auch soziale Ordnungen als Organismen analysieren zu können. In diese Richtung hatten schon seit langem verbreitete Metaphern gewiesen, die jetzt aber ein Potential der Verwissenschaftlichung anzunehmen schienen. Der bekannteste Vertreter dieser Richtung war Herbert Spencer in Großbritannien. Auch in Deutschland und Österreich gab es ähnliche, von Darwins Erfolg inspirierte Versuche. Aber es ist bemerkenswert, dass die Namen der wichtigsten Vertreter (Albert Schäffle, Ludwig Gumplowicz, Gustav Ratzenhofer) heute fast völlig vergessen sind. Der Grund dafür liegt darin, dass gerade in der deutschsprachigen Welt die historisch orientierten Geisteswissenschaften breit institutionalisiert waren, ertragreich forschten und über ein solch großes Selbstbewusstsein verfügten, dass ihnen die großspurigen Programmatiken der frühesten Soziologen als das Werk von Dilettanten und Scharlatanen erscheinen mussten. Selbst die Bildung des Wortes »Soziologie« – aus der Vermischung einer lateinischen und einer griechischen Wurzel – erschien klassisch gebildeten Geisteswissenschaftlern als Ausweis der Unbildung. Der größte Denker der Geisteswissenschaften in Deutschland, Wilhelm Dilthey, polemisierte in seiner großen »Einleitung in die Geisteswissenschaften« von 1883 gegen Bestrebungen wie die der Soziologie, »welche in der Darstellung des 73 https://doi.org/10.5771/9783495820377 .

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Singularen einen bloßen Rohstoff für ihre Abstraktion erblicken«, und erklärte diese für »genau so abenteuerlich, als je der Traum eines alchemistischen Naturphilosophen war« 1 . Im Laufe seiner weiteren Entwicklung wurde Dilthey klarer, dass er mit seiner Kritik nur einen Teil des neuen Faches traf. Deshalb milderte er seine Polemik etwas ab und erkannte die Soziologie als eine »Richtung des erklärenden Verfahrens« 2 an. Den Charakter einer eigenen wissenschaftlichen Disziplin wollte er ihr aber weiterhin nicht zugestehen. Man kann Max Webers epochales Lebenswerk als Versuch interpretieren, in eben dieser Lage gewissermaßen den Stier bei den Hörnern zu packen und auf konstruktivem Wege die Soziologie den Dilettanten zu entwinden. Seine Arbeit blieb allerdings in vieler Hinsicht – durch seinen frühen Tod, aber möglicherweise auch durch ihre gigantischen Ausmaße – Fragment. Sie ist dennoch ein wesentlicher Ausgangspunkt für einen kanonischen Theoriekern des Faches geworden und geblieben. Auch bezogen auf die USA kann man nicht davon sprechen, dass das Programm Herbert Spencers leitend geblieben wäre. Man hat im Gegensatz zu dieser Unterstellung davon gesprochen, dass bei aller Häufigkeit des Bezugs auf Spencer er mehr als »whipping boy than master« 3 behandelt worden sei. Gerade auch das erste bedeutende Textbuch der amerikanischen Soziologie, William Isaac Thomas’ »Source Book for Social Origins« von 1909 4 , ist in weiten Teilen als Polemik gegen Spencer zu verstehen, und es ist kein Zufall, dass es von den amerikanischen Gelehrten aus der Frühphase der Institutionalisierung des Faches Soziologie am meisten George Herbert Mead gelungen ist, zum festen Bestandteil des Kanons zu werden. Er war zwar gar kein Soziologe, sondern Philosoph und Psychologe, entwickelte aber eine Form der Sozialpsychologie von größter Bedeutung für das Fach. Ihm ging es um die naturalen Grundlagen der menschlichen Spezifik auf dem Gebiet von Kommunikation und Sozialität. Die Gemengelage natur- und geisteswissenschaftlicher Motive in der Entstehung der Soziologie ist also höchst komplex. Nimmt man Max Weber und Émile Durkheim als die unumstrittenen Klassi1 2 3 4

Dilthey (1883), 91 f. Dilthey (1883), 413. Wilson (1968), 155. Thomas (1909).

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Soziologie zwischen Geistes- und Naturwissenschaft

ker des Faches, dann entsteht ein Bild, das sich nicht leicht auf eine kurze Formel bringen lässt. Gewiss ist Weber von den historisch orientierten Staats-, Wirtschafts- und Religionswissenschaften wesentlich geprägt, aber sein Interesse und seine Sympathie galten durchaus auch etwa den neueren Versuchen der Theoriebildung, wie sie von der grenznutzentheoretischen Revolution in der Ökonomie her entstanden. Émile Durkheim klingt in seinem Frühwerk oft ganz comteanisch-naturwissenschafts orientiert. So sehr er sich im Laufe seiner Theorieentwicklung davon löst, so sehr bleibt die Analogiebildung zu naturwissenschaftlichen Theoremen doch typisch für ihn. Seine Theorie funktionaler Differenzierung ist zwar in vielem als Alternative zu Spencer gedacht, aber doch ohne diesen (und Darwin) schwer vorstellbar. Noch eine zentrale Idee seiner späten Religionssoziologie, die der kollektiven Ekstase als des Ursprungs gemeinsamer präreflexiver Bindungen, wird mit einem Begriff aus der Chemie und Physik artikuliert, dem der »Efferveszenz«, der sich ja ursprünglich auf das Aufschäumen von Flüssigkeiten bei Erwärmung richtet. Und nimmt man Mead als dritten Klassiker hinzu, wird die Aufteilung seines Beitrags nach dem Schema Natur- versus Geisteswissenschaften ganz unmöglich. In dieser verwirrenden Lage hilft eine Reflexion auf die Gründe, warum gerade diese Denker zu kanonischen Autoren wurden, weiter. Obwohl dies heute weithin vergessen wird, hat sich der Kanon nicht einfach in einer Art organischem Selektionsprozess ergeben, als hätten sich ohne weiteres Zutun eben die geeignetsten Theorien durchgesetzt. Die Kanonbildung geht vielmehr selbst auf einen bestimmten Autor zurück, nämlich Talcott Parsons, dem es durch seine überragende Stellung in der (westlichen) Soziologie nach dem Zweiten Weltkrieg gelang, seinen Zugriff auf die Vorläufer allgemein verbindlich zu machen. Obwohl er selbst heute kaum mehr gelesen wird, blieb diese Leistung gewissermaßen in anonymisierter Form erhalten. Da bei ihm aber dafür – für die Konstitution der Vorläufer – eine bestimmte theoretische Idee leitend war, lohnt es sich, diese zu prüfen, um auch Auskunft zu der Frage zu erhalten, wie es sich mit der Soziologie und den Geisteswissenschaften verhält.

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2.

»Geist« oder »Handlung« als Schlüsselbegriff

Als Talcott Parsons sich in den 1930er Jahren an sein erstes großes Werk machte – das 1937 zum ersten Mal veröffentlichte umfangreiche Buch »The Structure of Social Action« – sah er sich in einer Lage, in der es zwar bedeutende Schriften gab, die von ihren Verfassern dem neuen Fach Soziologie zugeordnet wurden, aber eigentlich keinen identifizierbaren paradigmatischen Kern dieses Faches. Geprägt von der Ökonomie und geleitet von der Intuition, dass die soziologischen Analysen etwa des Kapitalismus denen der Ökonomen überlegen seien oder zumindest doch ein eigenes Recht neben diesen behaupten durften, unternahm er einen groß angelegten Versuch, aus den Schriften bedeutender (ausschließlich europäischer) Autoren der vorangehenden Generation das Grundgerüst einer umfassenden soziologischen Theorie zu gewinnen und damit auch dem Fach einen festen Platz im Spektrum der Wissenschaften zu verschaffen. Er verband diesen Ehrgeiz mit der quasi-empirischen Behauptung, dass sich in den Schriften u. a. Webers und Durkheims ohnehin bereits eine »Konvergenz« abzeichne. Obwohl Weber und Durkheim zu Lebzeiten gar keine Notiz voneinander genommen hatten, hätten sie, von unterschiedlichen Ausgangspunkten her kommend, doch sich in Richtung auf einen imaginären Konvergenzpunkt zu bewegt, der nur noch nicht von ihnen in aller Klarheit erkannt und formuliert worden sei. Wenn diese Erkenntnis und diese klare und systematische Formulierung aber endlich gelängen, dann würde auch die Soziologie zu einer gefestigten Disziplin mit Aussicht auf stetigen, kumulativen Erkenntnisfortschritt. Es ist hier nicht der Ort, um die schwierigen interpretatorischen und systematisch-theoretischen Argumentationsschritte von Parsons in extenso darzulegen und die jahrzehntelangen Auseinandersetzungen darüber zu referieren. Dies ist an anderer Stelle umfangreich geschehen. 5 Genannt sei nur die kürzeste Bezeichnung, die Parsons selbst für diesen Konvergenzpunkt findet: »the action frame of reference«, ein Bezugsrahmen also in Kategorien einer Theorie des menschlichen Handelns. Wie schon Max Weber war Parsons stark von der modernen (marginalistischen) ökonomischen Theorie und der dahinterstehenden utilitaristischen Sozialphilosophie geprägt. In dieser steht das menschliche Individuum und sein Entscheidungsverhalten im Mittel5

Camic (1989); Joas/Knöbl (3 2011).

76 https://doi.org/10.5771/9783495820377 .

Soziologie zwischen Geistes- und Naturwissenschaft

punkt der Analyse. Die Handlungen der Menschen werden am Leitfaden rationalen Handelns analysiert, wobei es sich um verschiedene Arten von Rationalität, etwa um technische oder ökonomische Rationalität handeln kann und auch das Verhältnis des Leitfadens optimaler Rationalität zur empirischen Wirklichkeit suboptimaler faktischer Rationalität ganz unterschiedlich gedacht werden kann. Parsons versuchte nun zu zeigen, dass in einer solchen Theorie die Relation von Zwecken und Mitteln alle Aufmerksamkeit auf sich ziehe, für die Erklärung der Herkunft der individuellen Handlungszwecke aber kein Weg zur Verfügung stehe. Entsprechend interessierte er sich ähnlich stark wie für Weber und Durkheim für diejenigen Ökonomen, die immerhin Schritte in der Richtung einer Herleitung der Handlungszwecke gegangen seien; es handelte sich dabei um Alfred Marshall und Vilfredo Pareto. Deutlich wurde in seinen theoriegeschichtlichen Rekonstruktionen, dass er den Fokus auf dem menschlichen Handeln durch keinerlei Orientierung an einem Positivismus verlieren wollte, der sich sein Kausalitätsverständnis schlicht von den Naturwissenschaften vorgeben ließ. Deshalb interessierte ihn besonders, wie der seines Erachtens zu Beginn erzpositivistisch gesonnene Durkheim durch das Studium der Spezifik sozialer – im Unterschied zu den »natürlichen« – Zwängen, und vor allem durch das Phänomen der Moral, etwa des Zwangs des eigenen Gewissens, zur schrittweisen Überwindung des Positivismus in einer Handlungstheorie geführt wurde. Im vorliegenden Zusammenhang, nämlich einer Reflexion auf die Stellung der Soziologie in oder zu den Geisteswissenschaften, ist am wichtigsten Parsons’ Umgang mit dem, was er »Idealismus« nannte. Während er in seiner Handlungstheorie von den Positivisten die Betonung der materiellen und sozialen Bedingungen des Handelns aufnehmen wollte und für ihn von den Ökonomen und Utilitaristen, aber auch von Max Weber mit Recht die Zweck-MittelRelation ins Zentrum gerückt wurde, wollte er die »Idealisten« in Hinsicht auf ihre Betonung der »Ideale«, d. h. der letzten Werte und daraus durch Spezifizierung gewonnener Normen beerben. Die Gestalt aber, in der ihm der Idealismus begegnet zu sein scheint, war zwar einerseits die von ihm mit höchstem Respekt behandelte Philosophie Kants, andererseits aber die Geisteswissenschaften seiner Zeit, d. h. vornehmlich während seines Studiums in Deutschland in den 1920er Jahren. Dabei erschien ihm als deren große Gefahr, zu einem »Emanationismus« – seine Bezeichnung – zu 77 https://doi.org/10.5771/9783495820377 .

Hans Joas

werden. Damit ist gemeint eine Denkweise, die verschiedene Epochen und Kulturen oder gar den gesamten Prozess der Weltgeschichte so behandelt, als seien die Institutionen und Deutungssysteme jeweils nur Ausdruck einer dahinterstehenden etwas mysteriösen Entität: eines »Geistes« der Zeit, einer »Volksseele«, eines sich in der Geschichte verwirklichenden »Weltgeistes«. In der aufgeheizten nationalistischen Atmosphäre der Zeit des Ersten Weltkrieges und danach ließen sich auch viele der bedeutendsten Geisteswissenschaftler zu äußerst tendenziösen Hypostasierungen etwa des deutschen »Geistes« hinreißen. 6 Parsons lehnte jede solche Hypostasierung energisch ab und sah gerade in der Kategorialität der Handlungstheorie ein wesentliches Mittel gegen diese Gefahr. Die zentrale Stellung des menschlichen Handelns bewahrt, ihm zufolge und im Anschluss an Max Weber, der ja sehr wohl vom »Geist« des Kapitalismus gesprochen hatte, davor, einem »Geist« Handlungsqualitäten zuzusprechen, Idealen eine Kraft zur Selbstverwirklichung, Institutionen und Traditionen die Fähigkeit zur Selbstperpetuierung auch unabhängig vom Durchgang durch menschliches Handeln. Die Ausführungen von Parsons können gewiss nicht als erschöpfende Behandlung der idealistischen Tradition und der »Metaphysik des Geistes« genommen werden. Parsons entging schon, wie sehr die Vorstellung vom Selbstausdruck eines Geistes zunächst einmal durch die Übertragung von Vorstellungen über den Selbstausdruck von Individuen auf eine überindividuelle Einheit entsteht. Er sah deshalb nicht, wie sehr etwa Johann Gottfried Herders Ausdrucksmodell des menschlichen Handelns grundsätzlich zu der handlungstheoretischen Wende passt, die er selbst vertritt. Der Idealismus schrumpft damit zu einer Vulgärform zusammen, ebenso der Begriff des »Geistes«, dessen Schicksal vor, bei und nach Hegel Parsons nicht überblickt. Aber diese philosophiegeschichtlichen Mängel sollten auch nicht davon ablenken, dass in der Handlungstheorie tatsächlich eine Alternative zur Rede vom »Geist« steckt – mit beträchtlichen Konsequenzen für das Selbstverständnis der Wissenschaften. Offensichtlich ist ja, dass der Begriff des Handelns geeignet ist, zwar die Spezifik des Menschlichen zu bewahren, sie aber nicht durch eine dualistische Unterscheidung des Geistigen vom (bloß) Natürlichen zu fassen. Wenn das Handeln im Zentrum der Analyse steht, dann wirken nicht Gesetzmäßigkeiten der Natur durch den Men6

Joas (2000), 87–125.

78 https://doi.org/10.5771/9783495820377 .

Soziologie zwischen Geistes- und Naturwissenschaft

schen nur hindurch noch gibt es nicht-naturale Entitäten (»Geist«, »Kultur«), die in ähnlicher Weise den Menschen zum Spielball ihrer eigenen Dynamiken machen könnten. Die genaue Vermittlung von »Natürlichem« und »Geistigem« im Menschen wird dann zur Chance, aber auch zur Aufgabe der Handlungstheorie. Entsprechend hat sich Parsons nach Abschluss seines ersten Hauptwerks um die Integration derjenigen Denkansätze bemüht, die ihm in Hinsicht auf diese Vermittlung als die vielversprechendsten erschienen: die Psychoanalyse Sigmund Freuds und die schon erwähnte Sozialpsychologie George Herbert Meads. Sich auf die Schultern dieses großen Synthese-Theoretikers zu stellen, bedeutet, die Wendung von der Zentralstellung des Geist-Begriffs zu der der Handlungstheorie mitzumachen. Es bedeutet nicht, die Einzelheiten seiner spezifischen Handlungstheorie zu akzeptieren. Ich habe mich in meinen Schriften darum bemüht, in sechs Hinsichten über die genannte Handlungstheorie hinauszugehen und entsprechend auch diejenigen Denkansätze zu berücksichtigen, die bei Parsons am Rande blieben, weil er für die weiteren Fragestellungen nicht sensibel genug war. So kann man zeigen, dass bei aller Zentralstellung der Begriffe Wert und Ideal in seiner Handlungstheorie Parsons keinerlei Ansatz fand, um die Entstehung von Werten oder Idealen selbst zum Gegenstand seiner soziologischen Analysen zu machen. Diese Dimension haben erst, an ihn anknüpfend, Alain Touraine und Shmuel Eisenstadt eröffnet; ich selbst habe den reichen Diskurs zu dieser Frage von Nietzsches »Genealogie der Moral« von 1887 ab bis zu Charles Taylor in unserer Zeit zum Ausgangspunkt einer Weiterentwicklung der soziologischen Handlungstheorie genommen. Parsons hat auch die Situation der »Anwendung« von Werten und Normen in Situationen des Handelns viel zu »deduktiv« aufgefasst. Dies wurde in Auseinandersetzung mit ihm von Harold Garfinkel weitergeführt, war aber schon in der amerikanischen Philosophietradition des Pragmatismus, die Parsons fast ganz ignoriert hat, ein wesentliches Thema. Parsons blieb dem Zweck-Mittel-Schema der Handlungstheorie zu sehr verhaftet, was ihm Schwierigkeiten beim Verständnis des Spiels und des Rituals einbrachte. Von diesen Handlungsformen aus wird die Kreativität des menschlichen Handelns viel deutlicher erkennbar, als dies bei ihm der Fall war. Vom Verfehlen des Ausdrucksmodells des Handelns war schon kurz die Rede. Diese Tatsache korrespondiert mit einer ungenügenden Öffnung gegenüber dem, was das Handeln in den Handelnden selbst – und nicht in ihrer Umwelt – bewirkt: der 79 https://doi.org/10.5771/9783495820377 .

Hans Joas

Erfahrung, die sich in einer modifizierten Handlungsfähigkeit niederschlägt. Zwischen Parsons’ Handlungstheorie und seinen Kulturanalysen klafft eine Kluft, die erst seine Schüler Robert Bellah und Clifford Geertz, teilweise anknüpfend an die Symboltheorie des evangelischen Theologen Paul Tillich, zu schließen vermochten. Und das Verhältnis von geschichtlicher Analyse und allgemeiner Theoriebildung kippt bei Parsons wieder in Richtung dessen, was Dilthey an der Soziologie kritisiert hatte und was Weber zu vermeiden gelungen war: eine Suche nach allgemeinen Gesetzmäßigkeiten statt einer schrittweisen Fallgeneralisierung.

3.

Das Exempel der Religionssoziologie

Während der Zeit der Institutionalisierung der Soziologie und bei einigen der intellektuell prägenden Figuren des neuen Faches nahmen Religion und Religionsgeschichte eine zentrale Stellung ein. Vor allem bei Max Weber und in seinen weit ausholenden vergleichenden Studien zur Wirtschaftsethik der Weltreligionen ist dieser Befund ganz unbestreitbar. Bei Émile Durkheim stand die Beschäftigung mit der Religion dort, wo sich ihm zufolge ihre elementaren Formen noch erhalten zu haben schienen – nämlich bei den australischen Aborigines und nordamerikanischen »Indianern« – im Vordergrund, aber er zog aus diesem Studium immer Schlüsse auf die Religion in seiner Zeit und die Dynamik moderner, säkularer Sakralisierungsprozesse – etwa im Nationalismus und in den Menschenrechten. Im Lauf der Fachentwicklung wurde das Thema Religion unter dem Einfluss der Vorstellung, Modernisierung führe zwingend zur Säkularisierung, zunehmend an den Rand gedrängt. Dies hat sich allerdings in den letzten beiden Jahrzehnten stark geändert. Deshalb richtet sich das Interesse heute zunehmend auf die religionstheoretischen Schriften der Klassiker des Faches und steigt die Bereitschaft, in ihrem Rahmen zu forschen und Vorgänger aus der Zeit der Marginalisierung der Religionssoziologie wieder dem Vergessen zu entreißen. Im vorliegenden Zusammenhang kann es nicht um die vielen Aspekte dieser intellektuellen Neuorientierung in Sachen Religion gehen, sondern nur um die Frage, ob die Wende zur Handlungstheorie der Beschäftigung mit Religion auf der Grundlage einer Konzeption des »Geistes« potentiell oder in der Tat überlegen ist. Es wurde schon angedeutet, dass Parsons’ Handlungstheorie wie die von Max 80 https://doi.org/10.5771/9783495820377 .

Soziologie zwischen Geistes- und Naturwissenschaft

Weber stärker gegen die »emanationistischen« Gefahren der Geistkonzeption gesichert ist und insofern hierin eine potentielle Überlegenheit vorliegt. Für eine tatsächliche Überlegenheit – das ergab die Bilanz der jahrzehntelangen Theoriediskussion zu Parsons – erwies sich diese Handlungstheorie aber als zu eng. Wie aber verhält es sich mit einer Handlungstheorie, die die Verengungen von Parsons gegenüber den Klassikern nicht mitmacht oder überwindet? An drei Phänomenbereichen soll hier die Überlegenheit einer nicht-idealistischen, sondern vor allem von Pragmatismus und Hermeneutik geprägten Religionssoziologie kurz dargestellt werden, nämlich an der Analyse religiöser Erfahrung, der Typologie religiöser Akteure und der Typologie religiöser Gemeinschaftsbildungen. Die Konzentration auf religiöse Erfahrung oder auf die religiöse Dimension menschlicher Erfahrungen führte um 1900 einen revolutionären Bruch im Studium der Religion herbei. Dieser Bruch ist insbesondere mit dem Namen des amerikanischen pragmatistischen Philosophen und Psychologen William James verbunden, aber sein Werk hatte Vorläufer in Deutschland und Frankreich und war von größtem Einfluss auf Max Weber und Émile Durkheim. James wandte sich dagegen, Religionen vor allem als Institutionen oder als Doktrinen zu analysieren. Religiöse Lehrgebäude waren für ihn nur unvollkommene menschliche Versuche zur Artikulation intensivster Erfahrungen, religiöse Institutionen entsprechend Versuche, solche Erfahrungen weiterzugeben und in verbindlichen Formen wiederholbar und zugänglich zu machen. Ganz in diesem Sinn begann Max Weber seinen systematischen Entwurf einer Religionssoziologie nicht mit einer Bestimmung des »Wesens« von Religion und noch nicht einmal mit einer klaren Definition. Ihr Gegenstand seien vielmehr die »Bedingungen und Wirkungen einer bestimmten Art von Gemeinschaftshandeln […], dessen Verständnis auch hier nur von den subjektiven Erlebnissen, Vorstellungen, Zwecken des Einzelnen – vom »Sinn« – aus gewonnen werden kann, da der äußere Ablauf ein höchst vielgestaltiger ist« 7 . Weber selbst hatte für die religionskonstitutiven Erfahrungen vor allem den Begriff der Außeralltäglichkeit zur Verfügung. Klarer und ausführlicher als bei Weber finden sich bei James und Durkheim Beschreibungen dieser Erfahrungen und der aus ihnen hervorgehenden Attributionen von übermenschlicher Kraft, wie sie im Begriff des »Heiligen« artikuliert werden. Man könnte 7

Weber (1922), 227.

81 https://doi.org/10.5771/9783495820377 .

Hans Joas

sagen, dass hier der Intellektualisierung des Religionsverständnisses unter dem Einfluss Hegels und der Erstarrung des »wehenden« Geistes zu einer Entität mit eigener Dynamik entgegengetreten und das Wechselspiel von Handlung und Erfahrung auf dem Gebiet der Religionsgeschichte restituiert wird. Wenn das Handeln Leitfaden der Analyse wird, dann ist die Unterscheidung von Handlungsrollen ein wichtiger Schritt. Entsprechend entwickelt Weber ausführliche Überlegungen etwa über die Rolle des Zauberers und des Priesters. Besonders wichtig wurde für sein Interesse an einer historisch weitertreibenden religiösen Dynamik die Rolle des »Propheten«. Grundsätzlich aber ließ seine Theorie nicht nur die priesterliche Verwaltung des Heiligen oder die selbst in Form spezifischer Prophetenrollen vorliegende Initiierung eines Bruches mit einem gegebenen Heiligen zu, sondern auch den ganz ungeplanten und unplanbaren Aufbruch des persönlichen Charismas. Das Wechselspiel von Institution und Charisma, charismatischer Umformung der Institution und institutioneller Einhegung des Charismas wird dann zu einem wichtigen Leitfaden historischer Analysen. Besonders anschaulich scheint mir die Differenz zwischen GeistKonzeption und Handlungstheorie auf dem Gebiet religiöser Gemeinschaftsbildung zu werden. Viel zu wenig bekannt ist, dass es die (protestantische) deutsche Kirchengeschichtsschreibung des neunzehnten Jahrhunderts selbst war, 8 die hier den Weg vom Hegelianismus zur Soziologie bahnte. Unter dem Einfluss Hegels wurde zwar, etwa bei Ferdinand Christian Baur und in der sogenannten Tübinger Schule, die bloß episodische oder »kaleidoskopartige Manier kirchengeschichtlicher Darstellungen« 9 überwunden. Aber an deren Stelle trat der Versuch, Kirchengeschichte als Bewegung der Idee der Kirche zu konzipieren. Das allerdings erwies sich zunehmend weniger als fruchtbares Forschungsprogramm und mehr als Zwangsjacke, in die sich die Kontingenzen der Geschichte des Christentums nicht wirklich pressen ließen. Gegen eine solche gewaltsame Rationalisierung aber wehrten sich etwa Adolf von Harnack und Ernst Troeltsch auf ihre je eigene Weise. An die Stelle einer hegelianischen Konstruktion trat bei ihnen, vor allem bei Troeltsch, der Gedanke von »aus der Idee hervorgehenden Gemeinschaftsformen und deren Rückwirkung auf 8 9

Vgl. Wichelhaus (1963). Wichelhaus (1963), 14.

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Soziologie zwischen Geistes- und Naturwissenschaft

die Idee« 10 . Das aber bedeutete das Studium der Gemeinschaftsformen, die sich Menschen schufen, die von einem Ideal ergriffen wurden – nicht die Konstruktion einer Selbstverwirklichung eines Ideals. Besonders konfliktreich ist dieser Prozess dort, wo die Ideale über die gegebenen Sozialformen hinausreichen, weil dann »der von der religiösen Idee beherrschte oder zu erobernde Boden bereits mit den soziologischen Bildungen des Staates, der Wirtschaft, der Familie, der Gesellschaft besetzt ist, die der religiösen Idee nur eine sehr bedingte Auswirkung möglich machen oder sie in bestimmte Richtungen lenken« 11 . Am Gegenstand Kirchengeschichte erwies sich so der Übergang vom Paradigma des Geistes zu dem von Handlung und Erfahrung als empirisch höchst plausibel, ja fast zwingend. Die Geisteswissenschaften und die Sozialwissenschaften sind Wissenschaften vom Handeln und den Erfahrungen, ihren Bedingungen und Wirkungen, ihren Symbolisierungen und Institutionalisierungen. In all diesen Hinsichten überwiegen ihre Gemeinsamkeiten. Man kann versuchen, den Sozialwissenschaften eine besondere Eignung für die Eigendynamik der nichtintendierten Wirkungen menschlichen Handelns zuzusprechen (so Vittorio Hösle in diesem Band, S. 83). Daran ist richtig, dass etwa eine Theorie des Marktes wesentlich auf eine solche Dynamik zielt. Aber es wäre falsch (und ist auch von Hösle nicht beabsichtigt), damit etwa den Militärhistorikern den Sinn für die Unplanbarkeit kriegerischen Handelns abzusprechen oder umgekehrt die genannten Dynamiken, die den Eindruck des »Naturwüchsigen« machen, nun wirklich der »Natur« zuzuordnen. Das Ergebnis der vorgetragenen Überlegungen ist deshalb ein doppeltes. Zum einen sollte deutlich werden, dass sich zwischen den Geistes- und Sozialwissenschaften keine klare Trennlinie festlegen lässt. Zum anderen wurden Argumente dafür vorgetragen, die Gemeinsamkeit nicht durch den Begriff des »Geistes« auszudrücken. Gewiss ist es schon im deutschen Sprachraum und erst recht international illusorisch, Hoffnungen auf eine Umbenennung dieser Fächerfamilie zu hegen. Aber dennoch müssen diese Überlegungen nicht nutzlos sein, wenn sie Einfluss haben sollten auf die Kriterien zur Bewertung der Qualität der in diesen Fächern geleisteten Arbeit. Wenn diesen Kriterien nämlich eine unreflektierte Übertragung von Standards der Naturwissenschaften oder eine einseitige Orientierung 10 11

Troeltsch (1913), 722. Troeltsch (1913), 722.

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Hans Joas

innerhalb der Geistes- und Sozialwissenschaften zugrunde liegt, wird dies – bei der zunehmenden Abhängigkeit auch der Einzelforschung von Förderprogrammen – zur Fehlleitung kreativer Energien führen.

Literaturverzeichnis Camic, Charles (1989): »›Structure‹ after 50 Years. The Anatomy of a Charter«, in: American Journal of Sociology 95/1, 38–107. Dilthey, Wilhelm (1883): Einleitung in die Geisteswissenschaften. Versuch einer Grundlegung für das Studium der Gesellschaft und der Geschichte, in: Gesammelte Schriften, Bd. 1, Stuttgart/Göttingen 1973. Joas, Hans (1997): Die Entstehung der Werte, Frankfurt/M. – (2000): Kriege und Werte. Studien zur Gewaltgeschichte des 20 Jahrhunderts, Weilerswist. –/Knöbl, Wolfgang (3 2011): Sozialtheorie. Zwanzig einführende Vorlesungen, Berlin. Parsons, Talcott (1937): The Structure of Social Action. A Study in Social Theory with Special Reference to a Group of Recent European Writers, 2 Bde., New York. Thomas, William Isaac (1909): Source Book for Social Origins, Boston. Troeltsch, Ernst (1913): »Rezension von: Walter Köhler, Idee und Persönlichkeit in der Kirchengeschichte. Tübingen (1910)«, in: Historische Zeitschrift 111, 1913, 137–141, wiederabgedruckt in: Ders., Gesammelte Schriften Bd. 4, Tübingen 1925, 721–724. Weber, Max (1922): Wirtschaft und Gesellschaft, Tübingen. Wichelhaus, Manfred (1963): Kirchengeschichtsschreibung und Soziologie im neunzehnten Jahrhundert und bei Ernst Troeltsch, Heidelberg. Wilson, R. Jackson (1968): In Quest of Community: Social Philosophy in the United States 1860–1920, New York.

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Geist, Kultur, Gesellschaft. Zur Begründung und Kritik der Geisteswissenschaft Dieter Thomä

Die Geschichte des Begriffs »Geisteswissenschaft« und der wissenschaftlichen Praxis, die sich dieses Titels bedient, ist reichhaltig, aber zugleich auch begrenzt. Es handelt sich hier um eine sehr deutsche Bezeichnung, die in einem komplizierten Verhältnis zu den Pendants in anderen Sprachen steht – etwa zu den sciences humaines in Frankreich und den Humanities in der angloamerikanischen Welt. Anders als diese Pendants ist die Geisteswissenschaft – so wie der Begriff des Geistes selbst – eng an eine Logik gebunden, die mit Oppositionen operiert. Zu denken ist dabei zuallererst an die Gegenüberstellung von Geist und Körper, von Denken, Rationalität, Spiritualität, Intellektualität auf der einen Seite, dem Physischen auf der anderen Seite. Man könnte dies anhand antiker, vor allem platonischer Vorlagen illustrieren, die mit der Gegenüberstellung von logos und physis operieren. Man könnte auch die christliche Tradition anführen, die das Geistige und das Leibliche unterscheidet. Philosophisch scheint der entscheidende Schritt bei Descartes zu erfolgen, der das denkende Ding vom körperlich ausgedehnten Ding trennt und eine Verselbständigung der geistigen Tätigkeit vorsieht. »Mit ihm«, so sagt Hegel lobend, »treten wir eigentlich in eine selbständige Philosophie ein […]. Hier, können wir sagen, sind wir zu Hause und können wie der Schiffer nach langer Umherfahrt auf der ungestümen See ›Land‹ rufen«. 1 Es ist erstaunlich, dass Hegel das Wort »Land« – also einen durchaus räumlichen, geographischen Begriff – verwendet, denn der erreichte Standort ist eigentlich ein Ort ohne Ausdehnung und ohne Koordinaten. Es ist der Nicht-Ort des Geistes. Durch Descartes ist der Philosophie und der »Bildung« überhaupt – so wieder Hegel – »vergönnt«, das »Prinzip ihres höheren Geistes in Gedanken zu fassen«, also nicht nur in »Anschauungen« 1

Hegel (1971), 120.

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Dieter Thomä

oder »sinnlichen Formen«. 2 Der Geist emanzipiert sich vom Körper, Descartes ist, wie er selbst erklärt, auf dem »beste[n] Weg, die Natur des Geistes und dessen Unterschied zum Körper zu begreifen«. 3 Er sagt auch, »daß ich nichts leichter und augenscheinlicher erkennen kann – als meinen Geist«. 4 Seine Antwort auf die von ihm gestellte Frage, »was wir […] sein mögen«, 5 läuft auf eine Identifikation unseres Seins mit unserem Denken oder mit unserem Geist hinaus. Geisteswissenschaft muss demnach jene Wissenschaft sein, die nicht nur vom Geist ausgeübt wird, sondern auch den Geist zum Gegenstand hat. Sie befasst sich mit den Vollzügen und Erzeugnissen geistiger Tätigkeit. Eingebaut in dieses Verständnis ist eine Opposition zwischen Geist und Körper (auch wenn Hegel im Begriff des »Geistes« Vernunft und Wirklichkeit vereinigen will). Wenn nun der offizielle Schritt vom Geist zur Geisteswissenschaft vollzogen wird – ich meine damit den Schritt, den Wilhelm Dilthey in seiner Einleitung in die Geisteswissenschaften vollzieht –, dann fällt freilich auf, dass die genannte Opposition von Geist und Körper Unbehagen auslöst. Dilthey ist der wichtigste Zeuge für die »Selbständigkeit der Geisteswissenschaften« 6 , dafür also, dass die Geisteswissenschaften einen eigenen Gegenstandsbereich haben und sich mit symbolisch verfassten und durchwirkten Gegenständen befassen. Er betont aber auch, dass er die »Tatsachen des Bewußtseins, in dem wir gemeinsam das ganze Fundament der Philosophie erkennen, anders fassen« will als seine Vorgänger. An dieser Stelle folgt nun ein berühmter Ausspruch Diltheys: »In den Adern des erkennenden Subjekts«, das die »bisherige Erkenntnistheorie« konstruiert hat, »rinnt«, so sagt er, »nicht wirkliches Blut, sondern der verdünnte Saft von Vernunft als bloßer Denktätigkeit«. 7 Nach Hegels Rede vom eigenen »Land« des Denkens und des Geistes erfolgt bei Dilthey nun also eine Art Rückschlag oder Gegenrede. Die Pseudo-Körperlichkeit, die jenem »Land« eigen ist, wird gewissermaßen entlarvt, das Körperliche wird vermisst und soll in Form »wirklichen Blutes« wieder auftreten. Descartes könnte damit

2 3 4 5 6 7

Hegel (1971), 126. Descartes (2005), 15 (I.8); vgl. zu dieser Stelle Hegel (1971), 132. Descartes (1992), 59 (II.16); vgl. zu dieser Stelle Valéry (1957), 829. Descartes (2005), 15. Dilthey (1922), XVII. Dilthey (1922), XVIII.

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Geist, Kultur, Gesellschaft

rein gar nichts anfangen. Er würde wohl sagen: Es wäre schlimm für die Denktätigkeit, wenn sie auf »wirkliches Blut« angewiesen wäre. »Ich bin« – so heißt es bei Descartes – »nicht jenes Gefüge von Gliedern, das man den menschlichen Körper nennt«. 8 Dilthey jedoch misstraut dieser Verselbständigung und will den Geist an das Leben zurückbinden, also die strikte Opposition zwischen Geist und Körper widerrufen. Dieser Widerruf erfolgt nicht unter materialistischen Vorzeichen, sondern gemäß einem Modell der Inklusion, wonach der Geist gewissermaßen über sich hinauswächst. Er will als verstehende, interpretierende, symbolisierende Instanz den Körper oder das Leben miteinbeziehen. Aus der Oppositionsstrategie erwächst eine Inklusionsstrategie. Man kann sie negativ oder positiv motivieren: entweder man versteht sie als Ausdruck des Unbehagens an einer geistigen Sphäre, welche seltsam tot wirkt, oder als Ausdruck des Muts oder Übermuts, Geistiges und Lebendiges zusammenzubringen. Ich werde diesen Punkt zum Anlass weiterführender Überlegungen nehmen, möchte aber zuvor noch einige zusätzliche Belege anführen, die die Logik der Opposition, wie sie der Idee des Geistes und der Geisteswissenschaft innewohnt, illustrieren. Es war bereits davon die Rede, dass Hegel von dem »Land« sprach, das die Philosophie dank Descartes erreicht habe. Das war arg überschwänglich oder einfach übertrieben. Denn dieses »Land« kann mangels Materialität nur ein imaginärer Ort sein. Man stößt aber auch auf Versuche, dem Geist eine veritable geographische Verortung und Verankerung zu verschaffen. Wenn dem Geist – entgegen seiner ätherischen Qualität – ein handfester, greifbarer Ort zugeordnet wird, dann wird er auf eine neue Weise an eine Logik der Opposition gebunden. Er befindet sich nicht in Fundamentalopposition zur körperlichen Welt, sondern hat ein Hier, wo er greifbar ist, und steht in Opposition zu all den Orten, an denen er nicht ist. Das Hier des Geistes ist in den folgenden drei Beispielen, die ich kurz erwähnen will, jeweils dasselbe. Jacob Burckhardt schreibt 1869: Was wir nicht zu wünschen brauchen, sondern schon vorhanden vorfinden, […] das ist Europa als alter und neuer Herd vielartigen Lebens, als Stätte der Entstehung der reichsten Gestaltungen, als Heimat aller Gegensätze, die in der einzigen Einheit aufgehen, daß eben hier alles Geistige zum Wort und zum Ausdruck kommt. Europäisch ist: […] das Durchleben des Geisti-

8

Descartes (1992), 49 (II.7).

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gen nach allen Seiten und Richtungen, – das Streben des Geistes, von Allem, was in ihm ist, Kunde zu hinterlassen. 9

Bei Burckhardt bekommt der Geist eine Adresse – und sie heißt Europa. Das Geistlose findet sich dann anderswo – in Nicht-Europa. (Wo dieser geistlose Raum beginnt und endet – darüber wird ausführlich gestritten, besonders gerne mit Blick auf die USA.) Edmund Husserl diagnostiziert nach dem Sieg des Nationalsozialismus die Krisis der europäischen Wissenschaften. Damit meint er – genau genommen – eine Krise der »Geisteswissenschaften«, die zusammenfällt mit einer Krise des »europäischen Menschentums« schlechthin. 10 Auch Husserl gibt dem Geist eine Adresse und identifiziert ihn mit Europa – so wie er die eigentliche Bestimmung Europas in seiner »geistige[n] Gestalt« sieht. Husserl sagt weiter, dass »andere Menschheitsgruppen […] sich im ungebrochenen Willen zu geistiger Selbsterhaltung doch immer zu europäisieren« suchen, »während wir, wenn wir uns recht verstehen, uns zum Beispiel nie indianisieren werden«. 11 Mit einer interessanten Abwandlung findet sich dieses Motiv auch bei einem Zeitgenossen Husserls, nämlich bei Paul Valéry. Mit seinen eindringlichen Texten zu Descartes und zur »Krise des Geistes« 12 verdient er im hier verhandelten Zusammenhang sowieso Beachtung, aber auch die Koppelung des Geistes an Europa wird von ihm erwogen und für gut befunden. Der europäische Mensch zeichnet sich ihm zufolge nicht durch seine Rasse, seine Sprache oder seine Sitten aus, sondern durch die »Weite seines Wollens« oder durch die »Freiheit des Geistes«. 13 Mit Husserl teilt Valéry die Sorge um die Zukunft dieses europäischen Geistes – in seinen Texten vor 1933 und erst recht danach. Doch Valéry schlägt nicht in die gleiche Kerbe wie Husserl. Er gibt für den »Geist« nämlich eine materiale, historische Ursache an: den reichen Austausch von Gütern und Gedanken, der in Europa oder, genau genommen, im Mittelmeerraum aus kontingenten Gründen in besonderer Weise gepflegt worden sei. 14 Valéry führt den Geist auf unübersichtliche Lebensprozesse zurück. Burckhardt (1929), 368. Husserl (1954), 314; vgl. Thomä (2008). 11 Husserl (1954), 320. 12 Valéry (1957), 787–844, 1255 (zu Descartes), 988–1000 (»La crise de l’esprit«). 13 Valéry (1957), 1014, Valéry (1960), 1086. 14 Valéry (1960), 1086. 9

10

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Geist, Kultur, Gesellschaft

Er operiert mit Oppositionen, die er dem Geist zuordnet, geht aber gewissermaßen subversiv mit ihnen um. Denn der Geist verliert bei ihm seine Eigenständigkeit. Die unübersichtlichen Lebensprozesse, aus denen er den Geist entspringen sieht, beobachtet er in Europa, er reklamiert aber kein Monopol für genau diesen Ort. Geist und Geisteswissenschaft führen also Oppositionen mit sich, die sich auf das Verhältnis zwischen geistiger und materialer Welt oder aber auf das Verhältnis zwischen einer bestimmten Welt – Europa – zu anderen Welten beziehen. An diesem Punkt bietet es sich an, zwei andere Begriffe ins Spiel zu bringen, die eng – gelegentlich auch in inniger Feindschaft – mit dem des Geistes verbunden sind. Ein vergleichender Blick ist deshalb instruktiv, weil diese anderen Begriffe gleichfalls als Kennzeichnungen von Wissenschaften Verwendung gefunden haben. Ich meine Kultur und Gesellschaft sowie entsprechend Kulturwissenschaften und Gesellschafts- oder Sozialwissenschaften. Der Kulturbegriff ist deshalb aufschlussreich, weil er zunächst genau wie der Begriff des Geistes eine Logik der Opposition etabliert, dann aber aus dieser Logik ausbricht. Bekanntlich weist Kultur eine interessante Doppelbedeutung auf. Ihrer ersten Hauptbedeutung nach steht Kultur für die Entfaltung, Bildung, Höherentwicklung des Menschen. Entsprechend ergibt sich eine Opposition zwischen kultivierten Menschen und kulturlosen Menschen oder sogenannten Naturmenschen. Im 19. Jahrhundert – und abgeschwächt bis heute – hat ein Diskurs Hochkonjunktur, der bestimmte Gruppen von Menschen aufgrund ihres Mangels an Kultur auf eine Stufe mit Tieren, wilden Bestien etc. stellt. Man denke nur an den Glöckner von NotreDame aus Victor Hugos Roman von 1831, der von seinen Zeitgenossen (Mitmenschen oder eher Gegenmenschen) als »verpfuschter Affe« 15 bezeichnet wird, oder an den vom Kohlenstaub eingeschwärzten Heizer Yank, den Titelhelden des Theaterstücks The Hairy Ape von Eugene O’Neill aus dem Jahre 1922. In dem Maße, wie Kultur für Hochkultur steht, steht sie mit dem Geist in engster Verbindung. Sie tritt freilich noch in einer anderen Bedeutung auf. Die semantische Spaltung oder Doppelung des Kulturbegriffs erfolgt ziemlich früh, nämlich schon in der Epoche, in der Höherentwicklung als Kultivierung propagiert wird, also in der Zeit der Aufklärung. Die zweite Bedeutung operiert nicht mit der Opposi15

Hugo (1985), 135; vgl. Thomä (2016), 194.

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tion zwischen Kultur und Unkultur, sondern mit Differenzen. Demnach tritt Kultur typischerweise im Plural auf – als Vielzahl von Kulturen – und auf eine Bewertung derselben wird dann verzichtet oder sie wird jedenfalls erheblich abgeschwächt. Der wichtigste Zeuge für diesen anderen – inzwischen fest etablierten oder sogar dominierenden – Kulturbegriff ist wohl Johann Gottfried Herder. Seine Verteidigung der Pluralität von Kulturen richtet sich gegen die Selbstgefälligkeit, mit der Europäer andere Kulturen abwerten und ihre partikulare Lebensweise als Standard univeralisieren. Sie enthält also auch eine Spitze gegen die Gleichung Geist-Europa: Wenn es seit Jahrhunderten der Zweck des verbündeten Europa wäre, die Glück-aufzwingende Tyrannin aller Erdnationen zu sein, so ist die Glücksgöttin noch weit von ihrem Ziele. […] Ihr Menschen aller Weltteile, die ihr seit Äonen dahingingt, ihr hättet also nicht gelebt und etwa nur mit eurer Asche die Erde gedüngt, damit am Ende der Zeit eure Nachkommen durch Europäische Kultur glücklich würden; was fehlet einem stolzen Gedanken dieser Art, daß er nicht Beleidigung der Natur-Majestät wäre? 16

Zu Herder, seinen Vorläufern (bis hin zu Montaigne) und Nachfolgern (bis zu den Postcolonial Studies) wäre viel zu ergänzen. Anhand der Spannung zwischen den geschilderten zwei Kulturbegriffen ließe sich überdies die Karriere der Kulturwissenschaft von Max Weber, Heinrich Rickert und Ernst Cassirer bis zur Gegenwart erzählen. Auf all diese zusätzlichen Punkte kann ich hier nicht eingehen. Es ist erwähnenswert – und alles andere als ein Zufall –, dass Herders Kritik an der Privilegierung der einzig wahren europäischen Kultur und der darin wirksamen Opposition mit einer Kritik an der bereits erörterten Isolierung und Privilegierung des Geistes im Sinne Descartes verbunden ist. Die Opposition zwischen Geist und Leben ist ihm suspekt. So schreibt er: Man hat sich die Vernunft des Menschen als eine neue, ganz abgetrennte Kraft in die Seele hinein gedacht, die dem Menschen als eine Zugabe vor allen Tieren zu eigen geworden […]; und das ist freilich, es mögen es so große Philosophen sagen, als da wollen, philosophischer Unsinn. 17

Die Wissenschaft bringt nicht nur die Kultur, sondern auch die Gesellschaft im Verhältnis und im Gegenzug zum Geist ins Spiel. Die Herder (1989), 335. Herder (1985), 717 f. Zu Herders Dualismus-Kritik vgl. Taylor (1978), 39; Menke (2008), 64 f.; Thomä (2011), 12.

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Einbeziehung der Gesellschaft lässt sich zunächst auf unauffällige, bescheidene Weise bewerkstelligen, die weitgehend im bereits eingerichteten Fahrwasser bleibt. Sie kann aber auch in einer ambitionierten Weise erfolgen – und diese Variante führt dann zur Geburt der Soziologie als Gesellschaftswissenschaft. Die erste, bescheidene Variante hält an der Logik der Opposition von Geist und Körper fest und sieht vor, dass der Geist der physischen Wirklichkeit Sinn und Form gibt. Entsprechend ist dann die Gesellschaft als Objektivation des Geistes aufzufassen. Die Opposition zwischen geistiger und materieller Welt mitsamt der darin eingebauten Hierarchie bleibt dabei erhalten. Um die Einordnung zu erleichtern, könnte man diesen Ansatz als idealistisch bezeichnen. Er findet seinen markantesten Ausdruck bei Hegel, ist aber nicht auf die von ihm entworfenen oder beeinflussten Theorien beschränkt. Die zweite, ambitionierte Variante hält an der Opposition zwischen Geist und Wirklichkeit fest, dreht aber die Hierarchie um. Die Wirklichkeit – zumal die gesellschaftliche Wirklichkeit – bildet den Fixpunkt und Ausgangspunkt. Der Primat liegt bei den realen, gesellschaftlichen Verhältnissen und Lebensbedingungen, während der geistigen Welt nur bleibt, entweder ein ideologisches Elaborat zu sein, das die Wirklichkeit verzerrt und verdunkelt, oder aber, diese Wirklichkeit zu spiegeln. Diesen Ansatz darf man als materialistisch bezeichnen. Er ist eng mit dem Namen Karl Marx verbunden, reicht aber zeitlich zurück in den Französischen Materialismus des 18. Jahrhunderts. Ähnlich wie bei der Kultur lässt sich auch beim Verhältnis zwischen Geist und Gesellschaft eine Entwicklung beobachten, die von der Logik der Opposition zu derjenigen der Differenz führt. Einschlägig hierfür ist etwa das Werk eines Soziologen, der dem Ideologiebegriff großes Gewicht gegeben, ihn aber umgedeutet hat. Karl Mannheim plädiert in seinem Buch Ideologie und Utopie von 1930 – analog zur Pluralisierung der Kulturen – für eine Pluralisierung der Ideologien. Als Ideologien erscheinen bei Mannheim nämlich alle Sinngebungsversuche, in die Menschen in ihrer »Seinsgebundenheit« verwickelt sind. 18 Ihrer »Lebensverlegenheit« 19 helfen sie ab, indem sie Modelle der Welt, in der sie sich bewegen, entwickeln. Die wissenssoziologische Schule, die auf Mannheim als Gründungsfigur zurück18 19

Mannheim (2015), 71. Mannheim (2015), 50.

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geht, macht aus der geschilderten Pluralisierung eine Tugend. Wenn nämlich die Deutungsangebote und Deutungsversuche der jeweils beteiligten und betroffenen Personen in die Beschreibung ihrer Lage eingehen, dann wird anerkannt, dass es sowohl zu einer Pluralisierung wie auch zu einer Neutralisierung von Ideologien kommt. Dass jeder seine befangene Sichtweise hat, die sich von anderen unterscheidet, ist demnach nicht anstößig, sondern unvermeidlich. Gesellschaftswissenschaft oder Soziologie will Wirklichkeitswissenschaft in dem Sinne sein, dass sie die verschiedenen Sichtweisen auf Wirklichkeit als genuinen Bestandteil der Wirklichkeit selbst einbezieht. An dieser Stelle ergibt sich Gelegenheit zu einem Zwischenresümee. Die Diskurse der Kultur und der Gesellschaft legen nahe, dass es in ihnen – und in den ihnen zugeordneten Wissenschaften – zu Konflikten kommt, die im Wesentlichen zwischen Strategien der Opposition und Strategien der Differenz ausgetragen werden. Dagegen scheint der Diskurs des Geistes (und der Geisteswissenschaft) von solchen inneren Konflikten verschont zu bleiben. Der Geist sträubt sich dagegen, sich zu vervielfältigen. Als Plural stünden nur Geister zur Verfügung, die man als Lebensgeister kennt, aber als Gespenster abschreckend findet. Der Geist bleibt – anders als Kultur und Gesellschaft – in der Logik der Opposition stecken. Damit stellt sich die Aufgabe, diese Opposition, die die Rolle der Geisteswissenschaft vorbestimmt, genauer unter die Lupe zu nehmen. Sie lässt sich, wie zu zeigen sein wird, auf zwei unterschiedliche Weisen deuten. Die erste – orthodoxe – Lesart besagt: Die geistige Sphäre ist eine kostbare Errungenschaft, sie steht für die Überwindung der Barbarei, den Aufstieg zur Vernunft. Entsprechend ist die Geisteswissenschaft Garant dafür, dass Urteilskraft, Nachdenklichkeit etc. in der Gesellschaft – oder in der Welt überhaupt – gepflegt, gestärkt, gefördert werden. Es gilt demnach, die Bildung der Menschen durch den Zugang zu geistigen Gehalten zu fördern. Zu befürchten ist umgekehrt der Abfall von geistigen Gehalten, also eine mangelnde Bereitschaft, sich zu Höherem aufzuschwingen. Im Jahr 1927, in einer Zeit also, als sich der Ungeist in Europa – vor allem in Deutschland – rabiat ausbreitete, hat Julien Benda das seinerzeit viel diskutierte, heute kaum mehr gelesene Buch Der Verrat der Intellektuellen (La trahison des clercs) veröffentlicht. Darin finden sich Passagen, die ausgezeichnet zu der gerade geschilderten Lesart passen: »Mich [beschleicht] […] manchmal ein beängstigender Gedanke«, so bekennt Benda: »Ich frage mich dann, ob die Mensch92 https://doi.org/10.5771/9783495820377 .

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heit, wenn sie sich heute in dieser Daseinsordnung niederläßt« – gemeint ist ein Leben in geistiger »Verfinsterung«, fixiert auf materielle Interessen –, »nicht vielleicht nur ihrem eigentlichen Gesetz gehorcht.« Der Geisteskult in der Geschichte der Menschheit erscheint mir lediglich als ein glücklicher Zufall […]. Die menschliche Kreatur ist ganz offenkundig dazu bestimmt, die dingliche Welt zu erobern und alle Regungen zu glorifizieren, die ihr dazu verhelfen. Nur durch die ungeheuerlichste Anmaßung ist es einer Handvoll Stubenhocker gelungen, die Menschheit glauben zu machen, die höchsten Werte seien die geistigen Güter.

Man muss bei diesen Zeilen die Ironie Bendas mithören, also das Despektierliche an dieser Beschreibung nicht für voll nehmen – ebensowenig wie das vermeintliche Lob im folgenden Zitat: »Heute erwacht [die Menschheit] […] aus dieser Illusion, erkennt ihre wahre Natur und ihre eigentlichen Wünsche und stößt den Kriegsschrei aus gegen jene Männer, die sie jahrhundertelang um das Bewußtsein des eigenen Wesens betrogen haben.« Letzten Endes sieht Benda die Menschheit vor der Alternative, entweder »zum wilden Tier« 20 herabzusinken oder doch das schier Unmögliche wahr zu machen, das geistige Leben zu bejahen und dem »Geisteskult« (s. o.) zu frönen. In Bendas Argumentation ist die Logik der Opposition und Hierarchie, von der ich gerade gesprochen habe, aufdringlich wirksam. Entsprechend ist auch sein Appell für den Geist und die Geisteswissenschaft verbunden mit der Forderung an die Intellektuellen, sich nicht in die Niederungen des Alltags zu begeben, sich vor leichtfertiger Einmischung in gesellschaftliche Aktivitäten zu hüten und in der für sie vorgesehenen geistigen Sphäre zu verbleiben. Bendas Position wird – leicht variiert – auch von einigen seiner Zeitgenossen vertreten. So liefert Ernst Robert Curtius 1932 in seinem Buch mit dem dramatischen Titel Deutscher Geist in Gefahr ein entschiedenes Plädoyer für klassische Bildung, Verfeinerung und Vergeistigung des Lebens und Pflege der abendländischen Tradition. Der Geist wird verteidigt gegen die Geistlosigkeit des rein materiellen Lebens und gegen die animalische Dumpfheit primitiver Typen. Er wird auch verteidigt gegen den Ungeist, von dem die Zeit heimgesucht wird, also gegen brutale oder raffinierte Demagogie. 21 Benda (1988), 217 f. Curtius (1932), 54. Instruktiv ist in diesem Zusammenhang eine erst kürzlich editierte Nachlassschrift: Curtius (2017).

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Drei Jahre später – 1935 in Wien (man beachte Zeit sowie auch Ort) – hält Edmund Husserl einen Vortrag, aus dem bereits zitiert worden ist und in dem er der Sache nach Julien Benda nahe kommt: Die Krise des europäischen Daseins hat nur zwei Auswege: Den Untergang Europas in der Entfremdung gegen seinen eigenen rationalen Lebenssinn, den Verfall in Geistfeindschaft und Barbarei, oder die Wiedergeburt Europas aus dem Geiste der Philosophie durch einen den Naturalismus endgültig überwindenden Heroismus der Vernunft. 22

Nebenbei sei erwähnt, dass diese Verteidigung des Geistes bei Husserl mit einem Kulturbegriff einhergeht, der gleichfalls mit der Logik der Opposition operiert: Dem Menschen, der mittels der »philosophischen Vernunft« eine höhere, »neue Stufe« erreichen wird, wird ein niedrigerer Mensch gegenüberstellt, zum Beispiel »der Papua«. 23 Man könnte noch weitere Stimmen ergänzen, etwa diejenige des englischen Dichters und Essayisten T. S. Eliot, der in seinem während des Zweiten Weltkriegs entstandenen Essay Zum Begriff der Kultur eine ähnliche Position zur Rolle des Geistes und der Bildung vertritt. So oder so geht die Verteidigung des Geistes einher mit einer Rechtfertigung der Geisteswissenschaft. Ihr Gegenstandsbereich ist ebenso klar umrissen wie ihr methodisches Selbstverständnis. Indem sie an der Seite des Geistes steht, will sie als Verbündete im Kampf gegen die Barbarei angesehen werden. Man darf annehmen, dass diese positive Bestimmung der Geisteswissenschaft viele Fürsprecher findet – freilich nicht im Kreise derer, die als Repräsentanten der Geistlosigkeit oder des Ungeistes fungieren. Und doch löst diese Verteidigung des Geistes und der Geisteswissenschaften Unbehagen aus – zum Teil sogar bei denjenigen, die sie zu ihrer eigensten Sache machen. Husserl zum Beispiel will den Verdacht zerstreuen, dass seine Position als »intellektualistische [r] Snobismus« erscheinen könnte. 24 Um diesem Unbehagen auf den Grund zu kommen, ist es sinnvoll, sich an eine historische Konstellation zu halten, in der es direkt artikuliert worden ist. Diese Konstellation bietet sich deshalb an, weil in ihr nicht nur das Schicksal des Geistes, sondern auch die Rolle der Geisteswissenschaft verhandelt wird. Ich komme damit zur zweiten – heterodoxen – Lesart von Geist und Geisteswissenschaft. 22 23 24

Husserl (1954), 347 f. Husserl (1954), 337. Husserl (1954), 337.

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Der wichtigste Wissenschaftspolitiker der Weimarer Republik war Carl Heinrich Becker, in Preußen als Kultusminister oder Staatssekretär verantwortlich für die Universitäten von Köln bis Königsberg. Als herausragender Wissenschaftler und Professor für Orientalistik wurde er Politiker, publizierte zahlreiche Schriften zu Universitätsreform und Bildungspolitik und setzte wichtige Berufungen an den von ihm beaufsichtigten Universitäten durch. Er war vom George-Kreis und von der Lebensreformbewegung beeinflusst und machte keinen Hehl – oder gar eine Tugend – daraus, unkonventionell zu sein. 25 Becker hatte die unausgegorene, aber aufschlussreiche Idee, an den Universitäten, für die er zuständig war, Professuren für Soziologie einzurichten: »Soziologische Lehrstühle sind eine dringende Notwendigkeit für alle Hochschulen«, schrieb er schon 1919. 26 Hinter Beckers Engagement stand – wie er eilig erklärte – nicht ein Faible für ein »spezielle[s] Fach«, sondern der Wunsch nach einer »Symbiose« oder »Synopse« der Wissenschaften. 27 Man könnte sagen, dass es ihm eigentlich um eine Professur für Gesellschaft oder vielleicht sogar fürs große Ganze, für die Welt ging. Die Aufsplitterung in Disziplinen behinderte nach Becker den Versuch, Wissenschaft und Gesellschaft, Theorie und Praxis zusammenzubringen – und diesen Versuch erachtete er nach dem Kollaps von Gewissheiten und Alltäglichkeiten in Folge des Ersten Weltkrieges als dringend. Becker blieb ungenannt, war aber gemeint, als der Philosoph und Pädagoge Eduard Spranger misstrauisch bemerkte, neuerdings werde der Bau von »Brücken« zwischen der Universität und dem »Gesamtleben« der Gesellschaft an die »Soziologie« delegiert: »Wer ihr diese Kraft nicht zutraut, wird lieber von inhaltlich ausgemalter Kulturphilosophie reden.« Man merkt, wie beim integrativen Anspruch Beckers Sozial-, Kultur- und Geisteswissenschaft zu verschmelzen scheinen. Immerhin gab Spranger zu: »Irgendein Gegengewicht gegen das Fachbanausentum aber muß es geben. […] Der junge Mann sucht Orientierung in der Welt«. 28 Thomä (2012), 97–111. Im Folgenden übernehme ich in überarbeiteter Form einige Passagen aus diesem Nachwort. 26 Becker (1919), 9. 27 Diese Formulierungen entstammen einem wichtigen Brief Beckers an Ferdinand Tönnies vom 29. 11. 1920. Er ist abgedruckt in Müller (1991), 346–348, hier 347. 28 Spranger (1930), 521 (Hvhg. orig.). Sprangers Vorbehalt gegen die Soziologie deckte sich mit dem Vorbehalt von Curtius (1929), 728: »Daß sich eine Einzelwissenschaft 25

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Die »Soziologie im weitesten Sinne« 29 diente bei Becker als Deckname für den Anspruch auf einen Weltbezug der Wissenschaft, wobei die Welt vor allem als soziale Welt verstanden wurde und die Wissenschaft sich von disziplinärer Ausrichtung und von »Fachschulung« zu verabschieden hatte. Becker kritisierte den Konservatismus des »Schulmäßige[n]« und verteidigte den »Mut zum Dilettantismus«, welcher zum Betreten von wissenschaftlichem Neuland erforderlich sei: »Ein Volk ist senil, das sich vor solchem Dilettantismus fürchtet.« 30 Im Zuge dieser Grenzüberschreitung kam es auch zu einer Entgrenzung der Ausbildung oder zu einer Bejahung von Bildung: »Wichtiger als die Kenntnisse ist die Bildung des Verstandes«, 31 sagte Becker, ging dann aber über das bloß Verstandesmäßige noch hinaus: Wir wollen nicht nur Bildung des Verstandes, sondern Formung des Menschen. […] Das Soziale gehört zum Wesen des Begriffes Mensch. Jede Bildung des Menschen, die Menschenformung sein will, […] muß die soziale Gebundenheit des Menschen in Familie, Arbeitsverband, Gesinnungsgemeinschaft, Stammes- oder Sprachzugehörigkeit ins Auge fassen. 32

Wie bereits angedeutet, stand Beckers »Soziologie« für eine andere Art von Geisteswissenschaft. Dazu kam bei Becker auch ein politisches Anliegen. Er erwartete von der Universität eine starke Reaktion auf die »gewaltige[n] soziale[n] Kräfte« 33 , die in der Gesellschaft wirkten: »Gelingt es, die sozialen Spannungen einer Wirtschaft, die heute von schweren Störungen erschüttert wird, schöpferisch in einer höheren Form wirtschaftlichen und sozialen Lebens aufzulösen, dann haben wir auch die Kulturkrise überwunden.« 34 Auf diejenigen, die sich seinem gesellschaftspolitischen Aufruf widersetzten, war Becker nicht gut zu sprechen. Viele Professoren würden sich, so klagte er, im »tosenden Meer […] auf Inseln der Seligen« zurückziehen und im »satten Frieden« suhlen. 35 Dieser scharfe Vorwurf richtet sich – und das ist angesichts der oben zitierten Voten von Benda und anderen zur Universalwissenschaft aufbläht ist ja nichts Neues«. Dieser Einwand richtete sich gegen Karl Mannheim; vgl. Hoeges (1994), 107. 29 Becker (1919), 9. 30 Becker (1919), 24, 63 (s. o.). 31 Becker (1930), 33. 32 Becker (1930), 27 f. (s. o.). 33 Becker (1930), 11. 34 Becker (1930), 34. 35 Becker (1930), 11.

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bemerkenswert – gegen die Eigenständigkeit oder Abgehobenheit einer geistigen Sphäre. Becker wandte sich gegen »die Überschätzung des rein Intellektuellen, die ausschließliche Vorherrschaft der rationalistischen Denkweise«: »Des Gedankens Blässe kränkelt bei uns alles an.« 36 Natürlich kennt man die Anrufung des Lebens gegen den Geist oder die Verachtung des leblosen, kraftlosen Geistes aus der Lebensphilosophie des 19. und 20. Jahrhunderts, insbesondere aus der Kulturkritik Friedrich Nietzsches. 37 Nietzsche zögerte auch nicht, die Verachtung, mit der die Geistmenschen primitive, animalische Lebensweisen straften, mit der Forderung nach einem neuen Barbarentum zu kontern. 38 (Diese Forderung ist bekanntlich raffinierter und weniger martialisch, als sie auf Anhieb klingt.) Beckers Kritik an »des Gedankens Blässe« war seinerzeit nicht sonderlich originell. Aber aus dem Munde eines Geisteswissenschaftlers und Politikers, der für Geisteswissenschaften zuständig war, klang sie doch provokativ. Man ersieht daraus, dass die Selbstsicherheit, mit der sich der reine Geist als Bollwerk gegen die Barbarei feiert, durchaus fragwürdig ist. Becker – und viele andere – erhoben einen Einwand gegen die Logik der Opposition zwischen Geist einerseits, Geistlosigkeit oder Ungeist andererseits. An dieser Opposition ist tatsächlich etwas faul. Sie ist Ergebnis einer eigenen Art von Denkfaulheit oder – wie man durchaus auch sagen kann – Geistlosigkeit. Wer nämlich den Geist isoliert und dem Geistlosen (rein Körperlichen, Materiellen etc.) gegenüberstellt, verhängt ein Denkverbot über die Frage, wie der Geist wird, was er ist, auf welchen Bedingungen er aufruht, wie er anthropologisch, handlungstheoretisch, sozialphilosophisch mit seinem Anderen vermittelt ist. Das heißt nichts anderes, als dass diejenigen, die die Eigenständigkeit der geistigen Sphäre feiern, dem Geist einen Bärendienst erweisen. Sie versehen ihn mit einem Defekt oder sie leiden insgeheim selbst an einem Defekt, weil sie so tun, als ließe sich der Geist vollständig fassen, wenn man ihn heraushebt und isoliert. Auf den ersten Blick scheint es, als verschaffe man damit dem Geist und der Geisteswissenschaft einen komfortablen Hochsitz. Auf den zweiten Blick aber zeigt sich, dass dieser Hochsitz auf tönernen Füßen steht. 36 37 38

Becker (1930), IX, 28 f. Vgl. Bollenbeck (2007), 155–198. Nietzsche (1988a), 520, Nietzsche (1988b), 18.

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Die beiden von mir unterschiedenen Lesarten, die sich grob als orthodoxe und heterodoxe Deutung von Geist und Geisteswissenschaft bezeichnen lassen, laufen zeitweise nebeneinander her, treffen jedoch gelegentlich auch in scharfer Konfrontation aufeinander. Zu einer solchen Konfrontation kommt es bspw. im Streit zwischen Carl Heinrich Becker und einem Wissenschaftler, mit dem er sich eigentlich in vielen Dingen einig weiß: dem bereits erwähnten Romanisten Ernst Robert Curtius. Becker hielt den Eröffnungsvortrag beim vierten und letzten Davoser Hochschulkurs im Frühjahr 1931, der dem Thema »Erziehung und Bildung« gewidmet war. Darin verpflichtete er die Universität auf das »Bildungsideal« des »Vollmenschen« und sprach von der Heraufkunft eines »dritten Humanismus«. 39 Dahinter stand die Forderung, dass sich Bildung durch Weltläufigkeit oder Welthaltigkeit auszeichnen solle. Becker wusste sich hier einig mit Max Scheler, den er übrigens 1928 auf eine der von ihm etablierten Soziologie-Professuren berufen hatte. (Dem Stellenantritt in Frankfurt am Main kam Schelers Tod zuvor.) Scheler schrieb: »›Nach Bildung streben‹ heißt […] eine […] Teilnahme und Teilhabe an allem suchen, was in Natur und Historie weltwesentlich ist«. 40 Ernst Robert Curtius nahm Anstoß an Beckers Davoser Überlegungen. Mit der von Becker vorgesehenen Öffnung des Geistes für die Welt konnte er nichts anfangen, sie stand seiner Vision einer hochstehenden geistigen und kulturellen Sphäre entgegen. So sagte Curtius: Becker […] betritt […], wie ich glaube, einen gefährlichen Weg, wenn er vor »einseitiger Intellektualisierung« warnt […]. Gerade das Gegenteil täte uns Not: eine straffere Zucht des Denkens und Lernens, eine höhere Achtung der Vernunft, eine größere Ehrfurcht vor der Tradition. Von der Gefahr der Intellektualisierung scheint mir die heutige Jugend weit entfernt.

Becker (1931a), 205, 202; vgl. Becker (1931b), 39. Beckers über den Geist hinausstrebender »Vollmensch« und der »dritte Humanismus« fügen sich in die Denkwelt des George-Kreises ein; vgl. Helbing [Frommel] (1932). Curtius und Becker korrespondieren über Frommels Buch; Curtius kommentiert es reserviert und beklagt dessen Nähe zum Faschismus; vgl. Raulff (2009), 455. Der Begriff des »dritten Humanismus« geht wohl nicht auf den George-Kreis, sondern auf Eduard Spranger zurück, der ihn 1921 geprägt hat. Zu Spranger, Becker und Frommel vgl. Stiewe (2011), 4–12. 40 Scheler (1976), 90 f. 39

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In einem nationalsozialistischen Universitätsroman kann man wörtlich lesen: »Der Intellekt ist eine Gefahr für die Bildung des Charakters.« 41

Im Schluss dieses Zitats verbirgt sich ein Vorwurf, der an Schärfe kaum zu überbieten ist. Curtius verglich hier den demokratischen Minister Carl Heinrich Becker, der Max Horkheimer, Karl Mannheim und zahlreichen anderen jüdischen Wissenschaftlern zu Professuren verholfen hatte, mit einem nationalsozialistischen Autor – und nicht mit irgendeinem. Seine Anspielung bezog sich auf Joseph Goebbels’ Roman Michael, in dem es heißt: »Der Intellekt ist eine Gefahr für die Bildung des Charakters. Wir sind nicht auf Erden, um uns den Schädel mit Wissen vollzupfropfen. Das ist ja alles nebensächlich, was ohne Beziehung zum Leben bleibt.« 42 Curtius gehörte als orthodoxer Verteidiger des Geistes in eine Reihe mit dem bereits erwähnten Edmund Husserl, Julien Benda und anderen. Auf der anderen Seite der Front meinte Curtius Gegner des Geistes zu entdecken, zu denen er skandalöserweise einerseits Becker, andererseits Goebbels zählte. Das Personal der Gegner, denen Curtius sich gegenübersah, kann man noch weiter aufstocken. Ein Platz neben Becker gebührte zum Beispiel dem von ihm geförderten Hans Weil. Er bewegte sich im Umfeld von Karl Mannheim und Max Horkheimer, wurde wie sie ins Exil getrieben und legte 1930 mit seiner Habilitationsschrift Die Entstehung des deutschen Bildungsprinzips ein Standardwerk zum Thema vor. Darin kritisierte er – wie Becker – die Verkümmerung der Bildung und deren Reduktion auf die von der gesellschaftlichen Wirklichkeit isolierte Intellektualität. 43 Einen Platz in Goebbels Nähe nahm Ernst Jünger ein, der dem »Hochverrat des Geistes gegen das Leben« 44 ein Ende setzen wollte. Dort bewegte sich auch Hans Freyer, der gleichfalls an den Davoser Hochschultagen 1931 teilnahm, dort einen protofaschistischen Frontalangriff auf Bildung fern der »Realität« und gegen »freischwebende Intelligenz« lancierte, den »eigentlichen Ernst des Lebens« gegen »Kulturschmuck« stellte und dazu aufforderte, sich der »Masse« und dem »Volksganze[n]« anzuschließen. 45 41 42 43 44 45

Curtius (1932), 20. Goebbels (1929), 14; vgl. Thomä (2006), 218. Weil (1967), 254–257, 163 f., 196 f. Jünger (1932), 40. Freyer (1930/31), 597–599, 611–613, 619, 622–624.

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Im Anschluss an Curtius’ Schema ergibt sich, zusammenfassend gesagt, eine Konfrontation, wie sie verstörender und beunruhigender kaum sein könnte. Auf der einen Seite stehen die Verteidiger des Geistes, die auf der Abgrenzung vom Leben beharren. Auf der anderen Seite stehen diejenigen, die diese Abgrenzung durchbrechen wollen, Zu ihnen gehören einerseits Nationalsozialisten (oder ihnen nahestehende Autoren), andererseits aufrechte Demokraten und entschiedene Gegner des Nationalsozialismus. Es empfiehlt sich, Curtius Schema nicht beizubehalten – und zwar nicht nur deshalb, weil man moralische Bedenken gegen die Annäherung zwischen Goebbels, Becker und all den anderen hätte, sondern aus sachlichen Gründen. Wenn man die Isolierung der geistigen Sphäre durchbricht, dann kann der nächste Schritt, der zu vollziehen ist, doch ganz verschiedene Formen annehmen. Es ist eine Sache, den Geist zur abhängigen Variable des völkischen Lebens zu machen. Es ist eine andere Sache, den Geist durch die Verbindung zum Leben vor seiner Verkümmerung zu bewahren. Es gibt – mit Karl Jaspers gesprochen – einen Weg zwischen der »rohe[n] Lebensnähe« 46 und dem »unfruchtbare[n] Vornehmtun«. 47 Diejenigen, die im Sinne Beckers argumentieren, stehen nicht für Geistfeindschaft, sondern üben gewissermaßen eine rettende Kritik am Geist. Sie werfen den orthodoxen Verteidigern des Geistes und der Geisteswissenschaft vor, ihm faktisch zu schaden. Um zu verdeutlichen, dass die Kritik an der Bildung und der geistigen Sphäre durchaus nicht in die Fänge dumpfer Ideologien geraten muss, möchte ich eine längere Passage aus einer Rede anführen, die Max Horkheimer 1952 anlässlich der Immatrikulationsfeier an der Universität Frankfurt gehalten hat: Es könnte in unserem Fall so sein, daß eben das, was man der angeblich bösen Zivilisation vorwirft, in der scheinbar so guten Kultur unserer Väter schon enthalten war und sich notwendig aus ihr entfaltete. Die sogenannte Bildung der Persönlichkeit, die Verinnerlichung, die Rückwendung des gestaltenden Willens auf sich selbst, so viel Positives sie auch gewirkt haben mögen, trugen doch zweifellos zur Verhärtung der einzelnen Menschen, zum Hochmut, zum Privilegbewußtsein und der Verdüsterung der Welt bei. Indem unter dem Titel der Bildung der gestaltende Wille, und das heißt die Liebe, von der Realität auf das seiner eigenen Formung lebende Indivi-

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Jaspers (1989), 14. Jaspers (1946), 82.

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duum sich zurückwandte, kündigte die Barbarisierung der Menschheit bereits im neunzehnten Jahrhundert sich an. 48

Auch wenn Horkheimer einen hohen Ton anschlägt, bin ich geneigt, ihm zu folgen, und empfehle dies auch denen, die sich heute über den Geist und die Geisteswissenschaften den Kopf zerbrechen. Der Bezug zur »Realität«, von der bei Horkheimer die Rede ist, muss dabei mit Bedacht bestimmt und gesucht werden. Es geht dabei nicht um ein instrumentelles Verständnis von Bildung. Die Realität liefert nicht fixe Prämissen oder Präjudizierungen, aus denen sich Aufträge an die Geisteswissenschaften ableiten lassen. So ist die Verbindung zur Realität, die Bildung, Geist und idealerweise Geisteswissenschaft herstellen können, auch nicht so zu verstehen, dass sie Expertisen zur Verfügung stellen. Experten beantworten Fragen, die ihnen von interessierter Seite gestellt werden. Sie nehmen strukturell eine dienende, unterwürfige Position ein. Damit sollte man sich nicht abfinden. Bildung, Geist und idealerweise auch Geisteswissenschaft taugen vielmehr dazu, das Selbstverständnis der Menschen und der Gesellschaft in Bewegung zu versetzen, zu verändern, aufzustören. Sie stehen den materiellen Interessen nicht gegenüber, sondern sind in die Versuche der Lebensbewältigung immer schon eingebunden und eingeweiht. Angesichts der Forderungen, die von außen – vor allem auch von der Politik – an die Wissenschaften herangetragen werden, angesichts der Erwartung, dass sie einen »Impact« haben sollen, wächst bei vielen Wissenschaftlern die Neigung, sich diesen Forderungen von interessierter Seite komplett zu verweigern und darauf zu beharren, dass Wissenschaft um ihrer selbst willen betrieben wird. Bei der Abwehr falscher Ansprüche hat diese Selbstreferentialität ihren guten Sinn, nicht aber im Umgang mit richtigen Ansprüchen. Wenn nämlich in der Geisteswissenschaft nicht der »Hochmut« (Horkheimer; s. o.) oder das »Vornehmtun« (Jaspers; s. o.) vorherrschen sollen, dann muss es ihr selbst ein Bedürfnis sein, über sich selbst hinauszureichen und die Isolation der geistigen Sphäre zu durchbrechen. So tritt sie an diejenigen, die mit ihr in Berührung kommen, mit dem Anspruch heran: »Du musst dein Leben ändern.« 49

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Horkheimer (1985), 414 f. Rilke (1987), 557.

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Dieter Thomä

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Was sind und zu welchem Ende studiert man Geisteswissenschaften? 1 Vittorio Hösle

Die Geisteswissenschaften spielen heute eine Rolle, die ihnen in keiner früheren Epoche der Menschheit vergönnt war: Sie tummeln sich im Feuilleton und im Rundfunk, also in der Meinungsindustrie, und üben dadurch Einfluss aus, u. a. auf die Bildung politischer Stimmungen; Studiengänge wie derjenige des Kulturwirtes zielen gleich von Anfang an auf die Integration der so Ausgebildeten in Kulturindustrie und Tourismus; und wenn die bekannte These Odo Marquards stimmt, dass die Geisteswissenschaften Modernisierungsschäden kompensieren, indem sie erzählen, 2 dürfen wir ihnen eine glänzende Zukunft vorhersagen – denn die Modernisierungsschäden werden, dessen wenigstens können wir uns sicher sein, in diesem Jahrhundert noch beträchtlich zunehmen, je mehr sich unser nicht universalisierbarer Lebensstil über den ganzen Planeten ausbreitet und immer mehr Ökosysteme und traditionelle Kulturformen zum Einsturz bringt. Das Risiko freilich besteht, dass dieser Einsturz am Ende eine Dimension erreicht, die allerlei Luxus bedroht, so z. B. auch den der Geisteswissenschaften. Denn deren Triumph hängt, so kann man wissenssoziologisch argumentieren, zunächst einmal damit zusammen, dass das durch die wissenschaftliche und besonders die industrielle Revolution ermöglichte unerhörte Wohlstandswachstum der letzten zwei Jahrhunderte immer mehr Menschen von landwirtschaftlicher Arbeit freigesetzt und ihnen ein langes Leben ermöglicht hat, das irgendwie ausgefüllt werden muss; und auch wenn diese wohl wichtigste Weichenstellung in der Geschichte der Menschheit sich hauptsächlich mathematischem, natur- und ingenieurwissenschaftlichem sowie medizinischem Denken verdankt, ist anzuerkennen, dass nicht alle Menschen mathematisch-naturwissenschaftlich ausreichend beIch danke meinem Freund und Kollegen Carsten Dutt für die kritische Lektüre des Manuskripts und zahlreiche Anregungen, die in die letzte Fassung eingegangen sind. 2 Über die Unvermeidlichkeit der Geisteswissenschaften siehe Marquard (1986). 1

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gabt sind, um selbst zu ihm beizutragen, auch wenn wir alle von ihm profitieren. Da gleichzeitig mit der genannten Revolution die Aufklärung erfolgte, die die Autorität der monotheistischen Religionen und später der Metaphysik weitgehend untergrub, traf es sich günstig, dass sich die Geisteswissenschaften als alternativer (und warum sollen wir nicht sagen: kompensatorischer) geistiger Wirkungsbereich sowohl zu Theologie und Erster Philosophie als auch zu Mathematik und Naturwissenschaften anboten. Wer die Theologie nicht mag und die Mathematik nicht beherrscht, trotzdem aber im Wissenschaftssystem unterkommen möchte, mag in den Geisteswissenschaften sein Auskommen finden. Die eben skizzierte Perspektive auf den Aufstieg der Geisteswissenschaften ist zynisch und wäre damit eigentlich der derzeitigen postmodernen Ausrichtung vieler geisteswissenschaftlicher Strömungen affin, wenn nicht selbst Postmodernen verblüffenderweise die eigene Ironisierung stets weniger Spaß machte als diejenige anderer. Das macht sie nicht schon falsch. Dennoch ist sie zutiefst einseitig. Was ich im Folgenden versuchen möchte, ist daher, erstens eine telegraphische Geschichte der Geisteswissenschaften zu skizzieren, die diese, anders als Marquard, nicht einfach als Kompensationsgeschehen deutet, sondern in ihrem Eigenrecht zu verstehen sucht (I). Ich werde zweitens der Sachfrage nachgehen, was das eigentliche Unterscheidungsmerkmal der Geisteswissenschaften ist, wie sie sich seit dem späten 19. Jahrhundert innerhalb des Wissenschaftssystems herausgebildet haben (II). Drittens werde ich zeigen, was die so verstandenen Geisteswissenschaften leisten können – und ihre wissenschaftliche Leistung sowohl auf ihre positiven als auch auf ihre negativen gesellschaftlichen Konsequenzen hin ausloten (III). Schließlich werde ich untersuchen, was die Geisteswissenschaften nicht erbringen können, und in diesem Zusammenhang einige Irrwege in den derzeitigen Geisteswissenschaften kritisieren (IV). Auch wenn dies zunächst einer Zurückweisung einer bestimmten Form geisteswissenschaftlicher Selbstüberschätzung gleichkommt, werde ich jedoch andeuten, wie die Zusammenarbeit mit Disziplinen, die ihrem Wesen nach nicht geisteswissenschaftlich ausgerichtet sind, die Geisteswissenschaften aus ihrer derzeitigen Begrenzung herausführen könnte (V).

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I. Mit einer Teilthese, die er von seinem Lehrer Joachim Ritter übernimmt, 3 hat Marquard 4 völlig recht: Die Geisteswissenschaften, oder um genauer zu sein: die modernen Geisteswissenschaften, sind später als die (modernen) Naturwissenschaften entstanden – Vico folgt auf Descartes, Dilthey auf Kant mit jeweils etwa einem Jahrhundert Verspätung. Zwar ist es durchaus zutreffend, dass einige der Tätigkeiten, die heute zum Wirkungsbereich der Geisteswissenschaften gehören, insbesondere die Geschichtsschreibung und die Klassikerinterpretation, von manchen Hochkulturen recht früh gepflegt wurden; auch ist es unstrittig, dass etwa die indische Linguistik seit Pāṇini und die alexandrinische Philologie wissenschaftlich hochbedeutsame Leistungen vollbracht haben. Aber das ändert nichts daran, dass in der Einteilung der Wissenschaften, die die Philosophen unternommen haben, die Geisteswissenschaften erst sehr spät auftauchen. 5 Man denke an die fünf Wissenschaften, die bei Platon den Aufstieg zur Dialektik vorbereiten, die selber offenkundig keine interpretierende Wissenschaft ist, sondern von idealen Gebilden handelt – nämlich Arithmetik, Geometrie, Stereometrie, Astronomie und Harmonik. 6 Die ersten drei sind Teilbereiche der reinen Mathematik, die beiden anderen Teilbereiche der auf die Natur angewandten Mathematik; denn die Harmonik gehört zur Akustik und hat nichts mit der Interpretation musikalischer Werke zu tun, wie sie einen wichtigen Teil der modernen Musikwissenschaft ausmacht. Aristoteles’ Einteilung der Wissenschaften ist viel reicher, aber auch hier sucht man die Geisteswissenschaften vergeblich. Denn die drei theoretischen Wissenschaften sind nach ihm Mathematik, Physik und Erste Philosophie oder Theologie. 7 Aber behandeln nicht wenigstens seine praktischen und poietischen Disziplinen geisteswissenschaftliche Themen, wie den Staat oder die Dichtung? Sicher kann man in ihnen Einsichten finden, die auch einen modernen Geisteswissenschaftler außerordentlich fesseln; aber es ist entscheidend, den Unterschied im Blick zu behalten. Aristoteles will in Ethik und Politik den Fragen nachVgl. Ritter (1974). Marquard (1986), 99 f. 5 Vgl. zum Folgenden die detaillierten Analysen (mit genauen Belegstellen) in meinem Aufsatz: Hösle (2014). 6 Politeia 528a f., 530c f. 7 Metaphysik 1025b25, 1063b35 ff. 3 4

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gehen, was das gute Leben und der gute Staat sind. Gewiss finden sich in diesem Zusammenhang deskriptive Aussagen, ja, ganze Theorien – man denke an das fünfte Buch der »Politik« über die Revolutionen. Aber auch diese politikwissenschaftlichen Forschungen, die sich zeitweise verselbständigen, gelten einem praktischen Zweck – der Vermeidung von Revolutionen, weil Aristoteles die Stabilität einer Verfassung besonders am Herzen liegt. Die Pointe der modernen Geisteswissenschaften ist jedoch, dass sie sich als theoretische Wissenschaften verstehen, keineswegs als Hilfswissenschaften der praktischen Philosophie. Analoges gilt für Aristoteles’ »Poetik« und »Rhetorik«, die den Dichter und den Redner belehren wollen, wie er zu verfahren hat: »Es sollen Anweisungen an den Dichter gegeben […] werden.« 8 Sicher kann man etwa in der »Poetik« deskriptive und normative Bestimmungen unterscheiden, aber die ersteren dienen den letzteren. Welcher moderne Literaturwissenschaftler jedoch würde seine Aufgabe analog auffassen wollen? Auch die alternative antike Dreiteilung der Wissenschaften, die auf Xenokrates zurückgeht, von den Stoikern aufgenommen wurde und noch bei Kant weiterwirkt, und zwar in Logik, Physik und Ethik, hat offenbar keinen Platz für die Geisteswissenschaften. Das Mittelalter – für das hier Bonaventura mit seiner Wissenschaftseinteilung in »De reductione artium ad theologiam« stehen möge – hat für die verstehenden Wissenschaften mehr Platz als die Antike, und zwar aus zwei Gründen. Einerseits hatte sich nach dem quadrivium, das wir bei Platon vorfanden 9 und das offenbar schon auf die Sophistik zurückgeht, 10 das trivium von Grammatik (die nur die eigene Sprache studiert), Logik und Rhetorik gebildet. 11 Bonaventura integriert es im vierten Kapitel des Werkes in die erste Stufe der Philosophie, in die rationale Philosophie, die von der natürlichen und Söffing (1981), 29. Aufgrund von Platons Unterscheidung der noch ganz jungen Stereometrie von der zweidimensionalen Geometrie handelt es sich eigentlich um ein quinquivium. 10 So scheint Hippias von Elis seinen Unterricht danach eingeteilt zu haben (Platon, Protagoras 318 e). 11 Der Kanon der sieben artes liberales ist allerdings erst in der Spätantike, z. B. bei Martianus Capella, allgemein anerkannt, der Terminus »trivium« für die drei nichtnaturwissenschaftlichen Disziplinen ist sogar erst karolingisch. Aber schon in Varros »Disciplinae« finden wir diese sieben Wissenschaften, daneben freilich auch Medizin und Architektur. Sextus Empiricus’ »Adversus mathematicos« behandelt sechs der artes liberales, nicht jedoch die Logik, da diese zusammen mit Ethik und Physik in »Adversus dogmaticos« kritisiert wird. 8 9

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der moralischen Philosophie abgegrenzt wird. Aber er sieht nicht, dass Logik auf der einen und Grammatik und Rhetorik auf der anderen Seite völlig heterogene Disziplinen sind, auch wenn er an einer Stelle alle unter dem Terminus »interpretativa« zusammenfasst. Andererseits folgt auf die philosophische Erkenntnis als kognitiver Gipfel das Licht der Heiligen Schrift, die nach dem vierfachen Schriftsinn ausgelegt werden muss. Doch auch wenn somit bei Bonaventura die biblische Hermeneutik den Höhepunkt aller Wissenschaften ausmacht, ist es entscheidend zu begreifen, dass diese Form von Hermeneutik nicht nur methodologisch allen Standards der modernen Hermeneutik widerspricht, die seit der Reformation entwickelt werden sollten, sondern dass sie auch inhaltich schwerlich den Geisteswissenschaften zugerechnet werden kann. Denn diesen geht es um den menschlichen Geist, während Bonaventura das Wort Gottes verstehen oder besser: sich aneignen will. In seinem System des Wissens ist die theologische Hermeneutik ganz sicher keine Wissenschaft des menschlichen Geistes. Dagegen lässt sich von Francis Bacons »Advancement of learning« sagen, dass es der im Humanismus dank seines Interesses an der philologisch zuverlässigen Erforschung der Antike erfolgten Neuorientierung des Wissens Gerechtigkeit zu erweisen sucht. Zwar ist auch Bacons erste Unterteilung der Wissenschaften, anders als dann in d’Alemberts von Bacon inspiriertem einleitendem »Discours« zur »Encyclopédie ou dictionnaire raisonné des sciences, des arts et des métiers«, noch diejenige in menschliches und göttliches, d. h. theologisches, Wissen. Aber Bacons primäres Interesse gilt dem ersten. Und er unterteilt beide Formen des Wissens nach der Trias von Erinnerung, Einbildungskraft und Vernunft in Geschichte, Poesie und Philosophie, was zwar zu einer unbefriedigenden Verschränkung von Vermögenspsychologie und Seinsstruktur führt, aber doch Historie und Poesie aufwertet. Der Gegensatz zwischen Geschichte und Philosophie entspricht dabei keineswegs demjenigen von Geistesund Naturwissenschaften, sondern steht orthogonal dazu: Denn nach Bacon gibt es, neben derjenigen von Staat, Kirche und Literatur, eine Geschichte auch der Natur ebenso wie umgekehrt eine Philosophie des Menschen, die neben die rationale Theologie und die Philosophie der Natur tritt (mit der Ersten Philosophie als allgemeiner Grundlage). Diese Philosophie des Menschen wird weiter unterteilt in die Lehre vom Menschen als Individuum und die Lehre vom Menschen als Gesellschaftswesen. Zur ersten gehört die Lehre vom mensch108 https://doi.org/10.5771/9783495820377 .

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lichen Leib und vom menschlichen Geist und seinen Funktionen, zumal Erkennen und Wollen, denen die rationale und die Moralphilosophie entsprechen. Die politische Philosophie umfasst u. a. die Jurisprudenz. Thematisch deckt Bacon, u. a. dank seines Interesses an Geschichte und Poesie, mehr von den Geisteswissenschaften ab, als jeder Philosoph vor ihm es getan hatte. Aber das spezifische methodologische Problem der Geisteswissenschaften kann er noch gar nicht in den Blick bekommen, und zwar weil er ein vorcartesischer Autor ist. Die intellektuelle Revolution Descartes besteht bekanntlich in einer scharfen Scheidung zwischen dem räumlich ausgedehnten und messbaren Physischen und dem Mentalen, das in der Introspektion zugänglich ist und an dem ich, anders als am Physischen, nicht zweifeln kann, weil ein solcher Akt des Zweifelns selbst etwas Mentales wäre. Descartes’ Argumente sind m. E. zwingend, aber sie haben die Philosophie zu einem wesentlich komplizierteren Unternehmen gemacht, als sie es in der Antike und im Mittelalter gewesen war. Insbesondere führt seine Entdeckung zu einer Spaltung von epistemischer und ontologischer Fragestellung. Denn Introspektion erfolgt nur in der ersten Person. Will ich aber kein Solipsist sein, muss ich auch anderen Wesen, zumindest meinen Mitmenschen, Mentalität (sowie ab einem gewissen Mentalitätsniveau die Fähigkeit zur Introspektion) zusprechen, auch wenn sie mir nur vermittelt über Physisches – vom Gesichtsausdruck über Schallwellen bis zu Artefakten – zugänglich ist. In der Dichotomie von Physischem einerseits und in der Introspektion gegebenem Mentalem andererseits ist Fremdseelisches nicht leicht einzuordnen, und das erklärt, warum noch Kant in seinem heroischen Versuch, die transzendentalen Bedingungen der Möglichkeiten der neuzeitlichen Wissenschaft zu klären, sich auf die Naturwissenschaften und eine auf Introspektion gegründete Psychologie konzentriert und dabei die Geisteswissenschaften ignoriert, obwohl sie zu seinen Lebzeiten gerade in Deutschland eine großartige Entwicklung erlebt hatten. Daneben finden sich bedeutsame Grundlegungen der Geisteswissenschaften im 18. Jahrhundert in der schottischen Aufklärung etwa bei Hume und schon vorher in Italien bei Vico. Die weltgeschichtliche Bedeutung seines Hauptwerks »Principj di scienza nuova« von 1725/1744 besteht darin, erstmals einen eigenen Platz für die neue Wissenschaft von der gemeinsamen Natur der Völker gefunden zu haben – sie gilt als dritte Wissenschaft neben der Wissenschaft Gottes (die mit der Wissenschaft des indivi109 https://doi.org/10.5771/9783495820377 .

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duellen Geistes verschränkt wird) und der Wissenschaft der Natur. Vico gibt sogar eine Erklärung dafür, warum die neue Wissenschaft sich erst nach der Naturwissenschaft entwickeln konnte: Selbstwahrnehmung sei schwieriger als die Wahrnehmung eines äußeren Gegenstandes. Entscheidend ist dabei, dass Vico ganz wie die Tradition die Wissenschaft, anders als die Historie, an die Präsenz allgemeiner Strukturen knüpft. Um eine neue Wissenschaft handelt es sich nur deswegen, weil Vico glaubt, allgemeine, sich wiederholende Entwicklungsgesetze entdeckt zu haben. Das Interesse am Partikularen hat, anders als Marquard suggeriert, bei dem Ritterschlag des traditionellen Humanismus zu einer Wissenschaft gerade nicht Pate gestanden. 12 Woher kommt die Begeisterung des 18. Jahrhunderts für die Geisteswissenschaften? Operationen des Verstehens vollzieht die Menschheit, phylo- wie ontogenetisch, seit ihren Anfängen, und auch das Dolmetschen aus Fremdsprachen muss früh vorgekommen sein. Aber das Interesse an der anderen Sprache ist rein instrumentell – sie gilt nicht als legitimes Forschungsobjekt, sicher meist auch deswegen, weil die fremde Kultur als der eigenen unterlegen gilt. Selbst eine Kultur wie die griechische, der wir in Mathematik und einigen Naturwissenschaften Spitzenleistungen verdanken, hat, wenigstens in den uns erhaltenen Texten, nie die einfache Einsicht niedergeschrieben, dass Griechisch, Latein und Persisch einander ähnlicher sind als jedes von ihnen dem Phönizischen. Ich sage »niedergeschrieben«, weil ich nicht ausschließen möchte, dass derartige Bemerkungen bei einem antiken Abendessen gefallen sein mögen; aber sofern dies der Fall war, hat niemand diese Beobachtung der Aufzeichung für wert erachtet. 13 Denn Wissenschaft setzt nicht nur Beobachtungen voraus, sondern auch die Überzeugung von der Würde des Beobachteten, und eben dieses Bewusstsein entsteht, mit Bezug auf fremde Kulturen, im Abendland erst in der frühen Neuzeit. 14 Zentral war Vgl. folgende Paragraphen in der kanonischen Numerierung der Ausgabe Fausto Nicolinis der dritten Auflage: 2, 331, 349. 13 Varro weist in De lingua latina V 96 beiläufig auf Ähnlichkeiten zwischen griechischen und lateinischen Tiernamen hin, möchte jene aber onomatopoetisch erklären. V 103 und VI 96 geht es um vermeinte Lehnwörter aus dem Griechischen. 14 Man könnte Herodots »Historien« als Ausnahme anführen. Doch man vergesse nicht, dass Ziel und Schwerpunkt des Buches die Darstellung des griechischen Sieges über die Perser ist (I 1). Zum Persischen Reich gehörte aber auch Ägypten, das daher mitdargestellt wird. 12

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dabei die humanistische Überzeugung, die antiken Leistungen seien ein vorbildlicher Maßstab, an dem wir uns orientieren sollten. Um sich der antiken, zumal der griechischen Kultur anzunähern, sind besondere hermeneutische Anstrengungen erforderlich, und philologische Hilfswissenschaften beginnen sich zu bilden. Diese gewinnen weiter an Bedeutung durch das reformatorische Pathos des präzisen Rückgriffs auf den Originaltext der Bibel, um die Verfälschungen des Christentums aufzuheben, die in der Scholastik erfolgt seien. Ziel ist es, den eigentlichen Wortsinn zu finden. Spinoza wird im ersten Teil des »Tractatus theologico-politicus« diese Methode zur Vollkommenheit entwickeln, allerdings, anders als die Reformatoren, die Suche nach dem Sinn eines Textes von der Frage nach seiner Wahrheit abkoppeln. Dabei wird sich zeigen, dass viele theologische Ideen in die Bibel später nur hineingelesen wurden – Spinoza kritisiert zumal Maimonides, weil er ihn besonders gut kennt und weil das in einem christlichen Land weniger gefährlich war, aber es versteht sich, dass seine Kritik auch der christlichen Theologie gilt. Da er ferner lehrt, dass jedes Ereignis eine innerweltliche Sekundärursache haben muss, neben welcher auch allgemeine Gesetze zu einer Kausalerklärung erforderlich seien, 15 wird unweigerlich auch das, was als Offenbarung galt, in den Strom kausalen menschlichen Geschehens hineingezogen. Diese Überzeugung, ferner die Übertragung bestimmter Methoden der klassischen Philologie, wie der Unterscheidung von Schichten eines Textes, auf die Theologie, schließlich die Erkenntnis, dass viele der biblischen Aussagen zu Natur und Geschichte sachlich falsch sind, lassen im achtzehnten Jahrhundert bei den historisch Gebildeten den naiven Glauben an die wörtliche Wahrheit der Bibel zusammenbrechen. 16 Auch gegenüber der eigenen Tradition wird es nun möglich, eine externe statt einer internen Perspektive einzunehmen. Damit ist gemeint, dass man den Wahrheitsanspruch von Traditionen ausblendet und kausalwissenschaftlich erklärt, wie es zu ihnen gekommen ist, d. h. etwa Religionswissenschaft statt Theologie betreibt. Die Analyse der Religion in David Humes »The Natural History of Religion« und des frühen Christentums im fünfzehnten und sechzehnten Kapitel von Edward Gibbons »The History of the Decline and Fall of the Roman Empire« sind vielleicht die schlagendsten Beispiele dieser neuen intellektuellen Einstellung, die eine carte15 16

Vgl. Ethica I 21 ff., besonders I 28. Siehe Frei (1974).

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sische Abstraktionsfähigkeit voraussetzt, auch wenn es nun nicht mehr die Natur ist, aus der sich das Ich herausreflektiert, sondern die eigene Herkunftsgeschichte. Arnold Gehlen hat das Außerordentliche dieses Perspektivenwechsels glänzend dargestellt: »Erst mit diesem Schritt wurden die Religionen und Weltanschauungen exotischer oder primitiver Völker überhaupt zu möglichen Gegenständen, während sie dem von der Aufklärung unergriffenen Bewusstsein, das nicht an »religiöse Ideen glaubte«, sondern in dem Medium des Wortes Gottes lebte und von daher alles Begegnende schon vorentschieden vorfand, als Irrlehren, heidnischer Aberglaube oder bestenfalls als kurioser Unsinn erscheinen mussten und abgewehrt wurden, ehe sie überhaupt die Grenze theoretischen Interesses erreicht hatten.« 17 Vermutlich hat Joachim Ritter recht mit der These, dass die Beschleunigung des Geschichtsverlaufs durch die Industrialisierung die Fähigkeit zur Objektivierung der eigenen Geschichte erhöht hat; auf jeden Fall ist letztere gleichen Geistes mit der cartesischen Trennung von res extensa und res cogitans. 18 Die spezifisch Marquard’sche Pointierung, nach der wir der Geisteswissenschaften bedürfen, um etwa in Trachtenmuseen die in der Wirklichkeit verlorengegangenen Volkstrachten zu konservieren, ist demgegenüber eine starke Eingrenzung der Ritterschen These, 19 auch wenn ihr eine partielle Wahrheit nicht abzusprechen ist. 20 Aber beide Kompensationstheorien unterschätzen, meine ich, die in letzter Instanz moralische Wurzel der modernen Geisteswissenschaften. Der Glaube, die eigene Religion oder die eigene Kultur sei die richtige, und zwar einfach aus dem Grunde, dass sie die eigene sei, kollabiert in dem Augenblick, in dem Gehlen (13 1986), 386. Dies hat schon Martin Heidegger in Heidegger (8 2003) richtig gesehen. 19 Auf die wichtigen Unterschiede zwischen den Kompensationstheorien Ritters und seiner Schüler Marquard und Hermann Lübbe hat Carsten Dutt sehr kompetent aufmerksam gemacht: Vgl. Dutt (2008). Ritter erkennt viel deutlicher als seine Schüler den theoretischen, ja, Selbstzweckcharakter der modernen Geisteswissenschaften. Doch leidet seine historische Rekonstruktion daran, dass er die Zeit zwischen Aristoteles und Hegel überspringt; diese Lücke galt es hier zu füllen. – Der Vater der Kompensationstheorie ist Gehlen (vgl. Gehlen [13 1986], 392), der das historisch-psychologische Bewusstsein als »Kompensationsbewegung« gegen Institutionenzerfall und soziale Desintegration deutet, die es gleichzeitig beschleunigt. 20 Etwas der Entstehung der modernen Geschichtswissenschaften Analoges gilt auch für den Nationalismus des 19. Jahrhunderts, von dem E. Gellner treffend schreibt, er predige Kontinuität, verdanke aber seine eigene Existenz einem der größten Brüche in der Menschheitsgeschichte (vgl. Gellner [1983], 125). 17 18

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ich begreife, dass die Angehörigen anderer Kulturen dasselbe Argument für sich geltend machen können. Das intrinsische Interesse an anderen Kulturen – nicht wie bei den frühen Missionaren ausschließlich zu dem Zwecke, Einbruchsstellen für die eigenen Missionsbestrebungen zu finden – ergab sich dort, wo moralisch sensiblen Menschen die Lehre von der Verdammung Andersgläubiger zunehmend unerträglich wurde. Und religiöse Menschen, die an der Gegenwart Gottes in der Wirklichkeit festhielten, mussten zunehmend zur Einsicht gelangen, Gott könne nicht nur in der traditionellen Heilsgeschichte der Juden und Christen präsent sein. Die große theologische Revolution, die mit den Namen Lessings und Herders verbunden ist, besteht darin, erstens auf die Rechtfertigung des Christentums durch vermeintlich zuverlässige historische Texte zu verzichten, und zweitens gleichsam den Sprung nach vorne anzutreten und in der Entfaltung der menschlichen Geschichte als ganzer das Wirken Gottes zu erblicken. Da der Geist höher stehe als die Natur, sei in seiner Entfaltung mehr von Gott zu erkennen als in der Natur. In der Menschheitsgeschichte wird dem Christentum allerdings weiterhin ein bedeutender Platz eingeräumt, und daher sind Herder, Goethe und Hegel, die dieses Programm philosophisch und dichterisch ausarbeiten, durchaus dem Christentum, wenn auch in verschiedenen Graden, verbunden. Sie haben in der deutschen Kultur den Geisteswissenschaften eine gleichsam religiöse Weihe verliehen. Wie für den Verfasser des Johannesevangeliums (4.24) ist für Hegel Gott in seiner höchsten Bestimmung Geist, 21 und daher gipfelt die philosophische Theologie in einer begrifflichen Entwicklung der Kategorien des Geistes ebenso wie in einer Erforschung der Verwirklichung dieser Begriffe in der Geschichte des menschlichen Geistes. Als Mitte des 19. Jahrhunderts der deutsche Idealismus zusammenbrach, u. a. weil seine logischen Grundlagen nicht ausreichend waren und er die rasche Entwicklung der Naturwissenschaften nicht in seine Naturphilosophie zu integrieren vermochte, wurden die Geisteswissenschaften ihrer geistmetaphysischen Fundierung beraubt. Bei Auguste Comte gipfelt die Hierarchie der Wissenschaften in der Soziologie; Theologie und Metaphysik gehören nur in frühere Stufen der geistigen Entwicklung. In diesem Prozess werden die Geistes- und Sozialwissenschaften zunehmend zu wertfreien Wissenschaften, verSiehe § 384 der dritten Auflage der Enzyklopädie der philosophischen Wissenschaften.

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gleichbar etwa der Zoologie. 22 Aber das eine Zeitlang zum Selbstläufer gewordene positivistische Pathos, alle möglichen Fakten über die menschlichen Kulturen zu eruieren, ein Pathos, über das ein Mann wie Platon als vulgär und widerphilosophisch nur die Nase gerümpft hätte, lässt sich im Sinne einer bloßen subtraction story 23 gar nicht begreifen. Es ist nicht so, dass dieses Pathos etwas Natürliches wäre und es nur darauf ankam, die absurde theologisch-metaphysische Fundierung abzuziehen. Ohne diese Grundlegung wäre es zum geistwissenschaftlichen Positivismus nie gekommen, ja, ohne sie hat er letztlich kaum einen Sinn. Auf jeden Fall bedarf es erstens einer Rechtfertigung des Sinns geisteswissenschaftlicher Tätigkeit und zweitens einer Begründung ihrer Fähigkeit, ihre Aufgabe zu erfüllen. Die Spannung zwischen dem enormen Zuwachs an geisteswissenschaftlichem Wissen seit dem 19. Jahrhundert und der Schwierigkeit der Grundlegung dieses neuen Wissenschaftstypus seit Descartes’ Herausforderung belastet uns immer noch. Denn auch wenn Dilthey Kants Programm auf die Geisteswissenschaften auszudehnen gesucht hat, ist er daran gescheitert, hauptsächlich weil die transzendentale Fragestellung nicht leicht zu vereinen ist mit dem radikalen Historismus, der sich aus dem umfassend gewordenen Prozess des Verstehens als natürliche Konsequenz zu ergeben schien. Wenn uns die historischen Geisteswissenschaften vorführen, wie sich die theoretischen Überzeugungen und moralischen Werte der Menschheit über die Jahrhunderte hin wandeln, wieso sollte eine zeitlose Begründung der Geisteswissenschaften möglich sein? Ja, wieso sollten wir uns an die Prinzipien der Aufklärung gebunden fühlen, denen sich die modernen Geisteswissenschaften verdanken? Gadamers »Wahrheit und Methode« schuldet den durchschlagenden Erfolg der Historisierung des Historismus. Das hat auf der einen Seite die positive Konsequenz einer erneuten Öffnung zu einem nicht-positivistischen Verständnis der Geisteswissenschaften gehabt, andererseits aber zu einer Untergrabung der Standards historischen Verstehens geführt, die das 18. und 19. Jahrhundert erarbeitet hatten. Die Geisteswissenschaften sind dann nicht mehr bloß wertfrei, sondern verzichten sogar auf den Anspruch eines »objektiven«, methodisch nachvollziehbaren Verstehens des Interpretandums. Über die Herausbildung der wertfreien Sozialwissenschafen siehe meinen Aufsatz: Hösle (1999). 23 Ich entnehme den Terminus Taylor (2007). 22

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II. Aus dem Gesagten ist schon klar geworden, dass die Geisteswissenschaften als die Wissenschaften begriffen werden müssen, in denen die Operation des Verstehens (bzw. des Interpretierens als des methodisch zugerüsteten Verstehens komplexer Interpretanda) zentral ist. So hat sie schon Wilhelm Dilthey konzipiert, der zu Recht darauf verweist, sie seien nicht einfach Wissenschaften vom Menschen. »Behandelt doch auch die Physiologie eine Seite des Menschen, und sie ist eine Naturwissenschaft. In den Tatbeständen an und für sich kann also nicht der Einteilungsgrund für die Sonderung der beiden Klassen liegen. Die Geisteswissenschaften müssen sich zu der physischen Seite des Menschen anders verhalten als zur psychischen.« 24 Das Wesen der Geisteswissenschaften besteht darin, physische Gegenstände und Ereignisse als Ausdruck bestimmter mentaler Vorgänge zu verstehen. Da wir allen Grund haben, auch höheren Tieren subjektives Erleben zuzusprechen, könnte man auch bestimmte Teilbereiche der Biologie wie die Ethologie als geisteswissenschaftlich im weiteren Sinne des Wortes bezeichnen, aber da, wenigstens soweit wir heute Bescheid wissen, mentale Akte ab einem gewissen Komplexitätsniveau auf den Menschen beschränkt sind, mag man die Geisteswissenschaften als eine echte Teilmenge der Wissenschaften vom Menschen ansehen. Nicht alle mentalen Akte, aber doch diejenigen, die den Geisteswissenschaften besonders am Herzen liegen, sind intentionaler Natur, sie beziehen sich also auf einen – sei es wirklichen, sei es vorgestellten – Gegenstand. Mit Edmund Husserl werde ich vom noetischen und noematischen Bestandteil eines intentionalen Aktes reden. Während ich die Noeseis für etwas Innerweltliches halte, das vermutlich auf einem physischen Ereignis im Gehirn superveniert, ist es ausgeschlossen, dies auch von den Noemata anzunehmen – und zwar u. a. deswegen, weil auch Nicht-Existierendes bzw. Zeitloses zum Noema werden kann. Die Beschäftigung mit einem mentalen Akt kann sich schwerpunkmäßig auf das noetische oder auf das noematische Moment richten, also primär den mentalen Akt aus seiner Äußerung zu rekonstruieren und in seinem kausalen Zusammenhang mit anderen mentalen Akten (u. a. der Interpretation von Äußerungen anderer Personen) zu erklären oder aber das Noema auszuloten suchen. Wer etwa Euklid zu verstehen sucht, mag entweder der Frage nachgehen, 24

Dilthey (5 1968), 81 f.

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was Euklid eigentlich meint und wie er befähigt wurde, seine Theoreme zu entdecken und zu beweisen, oder sich auf die Frage konzentrieren, wo in den »Elementen« Beweislücken vorliegen. Die zweite Fragestellung ist nicht mehr verstehender Natur, auch wenn die menschliche Natur es mit sich bringt, dass wir zu Sachfragen dieser Art nur aufgrund eines langen Prozesses des Verstehens gelangen. Dennoch ist es hoffnungslos, auch nur die erste Frage zu beantworten, wenn man keine sachliche Vertrautheit mit der noematischen Sphäre hat. Denn der auf den ersten Blick unlösbare Zirkel, dass wir mentale Akte anderer nur über Äußerungen erschließen können, die entsprechenden physischen Gebilde aber als Äußerungen mentaler Akte nur dann verstehen können, wenn wir schon einen Zugang zum Geist des anderen besitzen, dieser Zirkel lässt sich nur überwinden, wenn wir annehmen, die intentionalen Akte des anderen seien zwar nicht immer, aber doch in der Mehrzahl wahr. Dies ist keine empirische Annahme, sondern eine transzendentale Voraussetzung; unter allen alternativen Interpretationen müssen wir diejenige auswählen, die am wenigsten Irrtümer zur Folge hat. 25 Wie grenzt man die Geisteswissenschaften von den anderen Wissenschaften ab? Um Geisteswissenschaften handelt es sich dann nicht, wenn zu deren Gegenstandbereich nichts Mentales, oder besser: nichts Intentionales, zu den benutzten Methoden also kein Verstehen gehört. (Bei der Aneignung auch dieser Wissenschaften sind Verstehensprozesse unabdingbar – aber der Gegenstandsbereich einer Wissenschaft ist nicht mit dieser identisch). Das gilt sowohl für Idealwissenschaften wie die Logik und Mathematik als auch für die Wissenschaften der unbeseelten Natur, wie Physik und Chemie, sowie für große Teile der Biologie. Überraschenderweise gilt dies auch für die Philosophie, die keine Geisteswissenschaft ist, auch wenn sie aus Bequemlichkeitsgründen institutionell zu ihnen geschlagen wird, weil man in einer Universität oder Akademie schwerlich einen eigenen Platz schaffen kann, der ihrer Sonderstellung gerecht würde. Sicher ist die Philosophiehistorie eine Geisteswissenschaft – aber das gilt auch für die Naturwissenschaftsgeschichte. Doch sowenig diese mit der Naturwissenschaft zusammenfällt, sowenig lässt sich die Philosophie mit ihrer Historie identifizieren. Dass Mathematik- und Naturphilosophie keine Geisteswissenschaft sind, versteht sich wohl von selbst, aber selbst die Philosophie des Geistes ist keine Geisteswissen25

Siehe Davidson (2 2001).

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schaft; denn ihr Wesen besteht in Begriffsanalyse, nicht im Verstehen von Äußerungen. Der Philosoph will wissen, was zum Wesen des Geistes gehört, nicht was andere über sein Wesen gemeint haben. Auch die Ethik ist, anders als die Ethikgeschichte, selbstredend keine Geisteswissenschaft. Aber handeln nicht die Geisteswissenschaften von Werten? Nun, sie beschreiben die Werteinstellungen, die Menschen und Kulturen haben, offenbar hochkomplexe intentionale Akte. Aber wenn der kurze Abriss der Geschichte der Geisteswissenschaften, den ich gegeben habe, korrekt war, war die scharfe Trennung zwischen der externen Beschreibung von Werten und der eigenen Wertung zentral für die Ausgliederung der Geisteswissenschaften von Theologie und Philosophie gewesen. Nach dieser Emanzipation mag man, oder mag man nicht, an eine eigenständige Wissenschaft namens Ethik glauben; was man sicher nicht mehr tun kann, ist diese Wissenschaft unter die Geisteswissenschaften zu subsumieren. 26 Irreführend sind dagegen die Abgrenzungen, die etwa die Geisteswissenschaften als verstehende den erklärenden Wissenschaften entgegensetzen. Diese Entgegensetzung, die von bedeutenden Theoretikern der Geisteswissenschaft verteidigt wurde, 27 verweist auf etwas Richtiges, wenn sie betont, dass Verstehen den Geisteswissenschaften eigentümlich sei; aber sie irrt, wenn sie den Geisteswissenschaften entweder überhaupt Erklärungen abspricht oder diese nach einem ganz anderen Muster fassen will als nach dem deduktiv-nomologischen. Mir wenigstens scheint Carl Gustav Hempels Subsumtion auch der historischen Geisteswissenschaften unter dasselbe Erklärungsmodell wie dasjenige der Naturwissenschaften im Prinzip richtig, 28 auch wenn die Gesetze, die menschliches Verhalten bestimmen, unvergleichlichlich komplexer sind als selbst diejenigen, die das Wettergeschehen lenken, und auch wenn Menschen auf Gesetze, die ihr bisheriges Verhalten beschreiben, reagieren können, was nicht-intentionalen Wesen verschlossen ist. 29 Doch auch diese Reaktion wird vermutlich einst kausal erklärt werden können, wenn auch nicht durch diejenigen, die gerade nach ihr handeln – denn der Handelnde richtet sich in seiner Intention nach Gründen, nicht nach Ursachen. Dies ist impliziert in Max Webers klassischen Abhandlungen »Die ›Objektivität‹ sozialwissenschaftlicher und sozialpolitischer Erkenntnis« von 1904 und »Der Sinn der ›Wertfreiheit‹ der soziologischen und ökonomischen Wissenschaften« von 1917. 27 Siehe von Wright (1971); Apel (1979). 28 Vgl. Hempel (1965). 29 Siehe meine Ausführungen in Hösle (1997), 208 ff., besonders 226 ff. 26

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Wilhelm Windelbands berühmte Abgrenzung, die historischen Wissenschaften seien idiographisch, beschrieben also Einzelnes, während die Naturwissenschaften nomotheisch seien, also Gesetze aufstellten, 30 scheint mir Bacons und Vicos Wissenschaftstheorie zu unterbieten. Denn selbstredend gibt es auch idiographische Arbeiten zu Naturgebilden – man denke an die Erdgeschichte – und zumindest die Suche nach allgemeinen Gesetzen etwa in der Politikwissenschaft (ein Beispiel wäre Duvergers Gesetz), auch wenn in diesen Gesetzen Ursache und Wirkung meist durch eine Art logischer Beziehung verknüpft sind. Selbst eine biographische Studie, z. B. zu Napoleon, ist nur möglich, weil sie bestimmte individualpsychologische und soziale Gesetze voraussetzt – und zwar immer dort, wo sie das Wort »weil« verwendet. Sozial- und Geschichtswissenschaften handeln nicht von unterschiedlichen Gegenstandsbereichen, sondern nehmen allgemeine Strukturen bzw. individuelle Ereignisse oder Personen in den Blick, die derselben ontologischen Schicht angehören; ihr Unterschied ist also ganz anderer Art als etwa derjenige von Physik und Biologie. Immerhin mag man zugeben, dass die Würde idiographischer Studien mit der Bedeutung ihres Gegenstandes zunimmt; und da nichts komplexer ist als der menschliche Geist und sich in keinem anderen Gebilde mehr geronnener Geist findet als in den großen wissenschaftlichen Theorien und Kunstwerken, ist es sinnvoll, dass diesen konkreten Gebilden wissenschaftliche Studien gelten, die man einer einzelnen Wanze nicht widmen würde. Analog kann ich der These nicht folgen, die Naturwissenschaften seien die mathematisierten, die Geisteswissenschaften die nichtmathematisierbaren Wissenschaften. Denn erstens sind die Naturwissenschaften erst spät mathematisiert worden – die Biologie erst im 20. Jahrhundert –, ohne doch deswegen früher Geisteswissenschaften gewesen zu sein. Zweitens sind einige Sozialwissenschaften, z. B. die Volkswirtschaftslehre wie auch die Theorie von den internationalen Beziehungen, im 20. Jahrhundert erfolgreich mathematisiert worden, und zwar u. a. dank einer mathematischen Theorie, der die Bezugnahme auf Intentionen wesentlich ist – ich meine natürlich die Spieltheorie. Da wir die weitere Entwicklung der Mathematik und der Modellierung menschlichen Verhaltens nicht absehen können, scheint mir die Abgrenzung hinsichtlich des Grades der Mathematisierbarkeit nur den gegenwärtigen Stand der Dinge festzuschreiben. 30

Windelband (4 1911), 136–160.

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Man wird hier einwerfen, ich hätte immer wieder statt der Geistes- die Sozialwissenschaften untergeschoben. Ich gestehe, dass ich dem Beispiel Dilthey gefolgt bin und die Sozialwissenschaften bisher stets unter die Geisteswissenschaften subsumiert habe, und zwar weil ich nicht sehe, wie man beide Gruppen von Disziplinen streng voneinander abgrenzen kann. Denn der Mensch wird ein intentionales Wesen nur durch soziale Vorgänge wie Erziehung; insofern wird jede Analyse seiner Intentionen auch soziale Aspekte berücksichtigen müssen. Ich weiß beim bestem Willen nicht, ob die Kirchengeschichte oder die Sozialgeschichte der Kunst als Sozial- oder Geisteswissenschaften zu betrachten sind. Allerdings kann man einräumen, dass die Sozialwissenschaften besonders dort einschlägig werden, wo es um die nicht-intendierten Konsequenzen menschlichen Verhaltens geht, die manchmal eine Eigendynamik gewinnen, die alle verblüfft. Der systemische Charakter solcher Konsequenzen wurde erst im 18. Jahrhundert entdeckt; das erklärt die an sich erstaunliche Tatsache, dass Isaac Newton Adam Smith vorausgeht, obgleich die Mathematik des ersteren wahrlich komplexer ist als die des letzteren. Diese Eigendynamik des Sozialen ist es, die aus dem Bereich der Geisteswissenschaften in denjenigen des Naturwüchsigen zu führen scheint; doch kann man sich ihr nur nähern, wenn man auf ihren Ursprung zurückgeht, der ohne Verstehensprozesse gar nicht zu fassen ist. Ich muss den homo oeconomicus erst verstanden haben, bevor ich erklären kann, wieso Märkte immer wieder zu nicht-paretooptimalen Resultaten führen.

III. Die bedeutendste Leistung der modernen Geisteswissenschaften ist – um mit einer Trivialität zu beginnen –, dass wir viel mehr über den menschlichen Geist wissen als alle früheren Kulturen, und zwar sowohl über seine mannigfachen Funktionen als auch über deren Entfaltung in der Menschheitsgeschichte. Es hat nie eine Kultur gegeben, die auch nur annähernd so viel über die eigene Geschichte und zumal über die Gegenwart und Vergangenheit anderer Kulturen wusste wie Westeuropa seit dem 19. Jahrhundert. Die Fähigkeit, verschollene Schriften und Sprachen zu entziffern, verstehend in das unterschiedliche Wert- und Kategoriensystem fremder Kulturen einzudringen, ja sogar Kunstwerke aus vergangenen Epochen und fernen Kontinen119 https://doi.org/10.5771/9783495820377 .

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ten ästhetisch zu genießen, ist eine der eindrucksvollsten Leistungen der modernen Geisteswissenschaften. Ich habe gerade auf die idiographische Seite der Geisteswissenschaften Bezug genommen, ihre Interpretation einzelner Produkte des menschlichen Geistes; aber diese ist, wie ich angedeutet habe, nur möglich vor dem Horizont allgemeiner, im Idealfall nomothetischer Theorien. Kants für die naturwissenschaftliche Erfahrung gemünzter Satz »Gedanken ohne Inhalt sind leer, Anschauungen ohne Begriffe sind blind« 31 gilt analog auch für die Geisteswissenschaften, auch wenn der Akt der Interpretation selbst viel komplexer ist als derjenige der Wahrnehmung, sei es der äußeren, sei es der inneren, die beide bei ihm mitwirken. Aber wenn ich verstanden habe, was etwa »Shall I compare thee to a summer’s day?«, also Shakespeares achtzehntes Sonett, auf Deutsch bedeutet, hat die Aufgabe des Interpreten erst begonnen – ich habe das Gedicht formal unter ein Genre zu subsumieren, seine Rolle innerhalb des ganzen Sonettzyklus zu bestimmen, diesen Zyklus zu früheren in Beziehung zu setzen, die Rolle homoerotischer Liebe in der Renaissance zu diskutieren usw. Ich werde dem einzelnen Gedicht also nur gerecht, wenn ich über ein umfassendes System an Kategorien verfüge. Wie kommen wir an diese Kategorien heran? Aus Gründen, die ich hier nicht näher diskutieren kann, 32 halte ich den Begriffsempirismus für aussichtslos, ohnehin normativ – es gibt keinen schlüssigen Weg von Anschauungen oder Interpretationen zu Begriffen –, aber auch deskriptiv: Interessante Kategorienbildungen stammen oft gerade nicht von mit den Fakten Vertrauten, denen wir umgekehrt keineswegs immer originelle Einsichten in neue Begriffe verdanken. Zwar gibt es glücklicherweise auch in den Geisteswissenschaften Gestalten, die sowohl als Empiriker als auch als Theoretiker erstrangig waren; aber man wird dem Phänomen der Begriffsbildung nicht gerecht, wenn man nicht anerkennt, dass immer wieder abstrakte philosophische Begriffe hinter innovativen Kategorienbildungen in den Geisteswissenschaften stehen – Hegels dialektische Logik etwa hinter Ferdinand Tönnies’ »Gemeinschaft und Gesellschaft«. Eine der interessantesten Epochen in der Geschichte der Geisteswissenschaften ist m. E. das zweite Jahrzehnt des zwanzigsten Jahrhunderts gewesen, in dem eine Reaktion gegen die bloße Anhäufung von Fakten durch den Positivismus des 19. Jahrhunderts erfolgte, der am En31 32

Kant, Kritik der reinen Vernunft, B 75/A 48. Siehe von Kutschera (1982), 438 ff.

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de alles wusste, nur nicht wozu. Statt bloßer Agglomeration geht es nun um die Suche nach neuen Kategorien. Zwischen 1915 und 1922 erscheinen vier Bücher, die die Kunstwissenschaft, die Linguistik, die Religionswissenschaft und die Soziologie für immer revolutionieren – Heinrich Wölfflins »Kunstgeschichtliche Grundbegriffe« von 1915, Ferdinand de Saussures postumer »Cours de linguistique générale« von 1916, Rudolf Ottos »Das Heilige« von 1917 und Max Webers ebenfalls postumes Hauptwerk »Wirtschaft und Gesellschaft« (1921/ 22). Was diese Werke auszeichnet und sie so weit über das meiste erhebt, was nachher in den Geisteswissenschaften vorgelegt wurde, ist das vollkommene Gleichgewicht von »hermeneutischer Anschauung« und Begriff, von schier unfasslicher Detailkenntnis in der jeweiligen Sphäre des menschlichen Geistes und kategorialer Durchdringung des Stoffes; letztere leitet bei Otto und Weber über zu einer umfassenden Perspektive auf die Entwicklung der Geistesgeschichte, die als moralisierende Umwandlung des Numinosen zum Heiligen bzw. als Rationalisierung gedeutet wird. Es ist dieses Gleichgewicht von Detailfülle und Blick aufs Ganze, das die genannten Werke zu geisteswissenschaftlichen Klassikern macht – um einen Begriff einzuführen, auf den noch einzugehen sein wird. Umfassende geisteswissenschaftliche Bildung ist nicht nur an sich bewundernswert, weil sie ein Interesse an, idealerweise auch Respekt für andere Formen des Menschseins offenbart; sie hat auch praktische Relevanz. (Unter »praktisch« verstehe ich hier nicht »moralisch«, denn hermeneutische Kompetenzen können sowohl dazu verwendet werden, jemandem zu nutzen, als auch dazu, ihm zu schaden.) Ohne Zweifel haben die Geisteswissenschaften den interkulturellen Austausch beflügelt, den es zwar immer gegeben hat, der aber seit dem 19. Jahrhundert das neue Phänomen der Globalisierung ermöglicht hat. Natürlich spielten wirtschaftliche und technische Faktoren dabei eine mindestens ebenso wichtige Rolle; und sicher hat Ritter recht, wenn er behauptet 33 , die modernen Geisteswissenschaften seien u. a. eine nostalgische Reaktion auf die Herausbildung einer globalen bürgerlichen Gesellschaft gewesen, die die kulturellen Unterschiede weitgehend ignoriert und auf den Menschen als Wesen mit wirtschaftlichen Bedürfnissen setzt. 34 Aber Ritter übersieht die KehrRitter (1974), 128 ff. Hinzukommt die Beschleunigung des Geschichtsverlaufes, die den historischen Geisteswissenschaften eine besondere Rolle verleiht; vgl. Koselleck/Dutt (2013), 66 f.,

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seite: Jene haben diese Ausbildung auch erleichtert, denn wenigstens zu Anfang setzte die neue Weltgesellschaft die Ordnungsstruktur des britischen Empire und anderer Kolonialreiche voraus, und es ist wohlbekannt, wie sehr die britische und die französische Orientalistik des 19. Jahrhunderts mit imperialen Machtinteressen verwoben waren (die deutsche war theoretischer ausgerichtet, weil Deutschland bis zur Einigung 1871 keine, und auch danach nur wenige, Kolonien hatte; vermutlich erklärt dies die Einseitigkeit von Ritters Analyse). 35 »Bildung ist die Sicherung der Emigrationsfähigkeit«, schreibt Marquard zu Recht 36 ; und die Bildung, um die es dabei geht, ist nicht nur technischer, sondern auch geisteswissenschaftlicher Art; denn man muss nicht nur über Ozeane navigieren können, sondern auch mit den Einheimischen umzugehen lernen, wenn man sich in einem anderen Erdteil niederlassen oder auch nur mit diesem langfristig Handel treiben möchte. Diese Emigrationsfähigkeit gilt nun nicht nur für diejenigen, die aus dem eigenen Lande auswandern. Wer sich mit der enormen Vielfalt an Ausdrucksformen des menschlichen Geistes vertraut macht, erweitert seinen Horizont und lässt sich unweigerlich auf Alternativen zum Status quo und zu unhinterfragten, aber fragwürdigen Annahmen der eigenen Kultur ein. Dies impliziert keineswegs, dass er diese Alternativen als den grundlegenden Überzeugungen der eigenen Kultur gleichrangig erachten muss. Denn bloße Existenz bedeutet nicht Geltung. Werden die alternativen Wertüberzeugungen als moralisch niedrigstehend empfunden und verfügt man über Mechanismen der Selbstvergewisserung, etwa im Rahmen einer homogenen sozialen Gruppe, die sich für göttlichen Ursprungs hält, also einer Religionsgemeinschaft, mag man es vermeiden, die eigenen Intuitionen in Frage zu stellen. Man mag sich mit einer intuitionistischen Epistemologie dahingehend beruhigen, ohne Intuitionen gebe es keine Erkenntnisse, und die eigenen seien eben evidenterweise richtig. Mehr noch als die Begegnung mit fremden Kulturen ist freilich das Studium der eigenen Geschichte ein Faktor der Verunsicherung. Nicht nur erkennt man in der eigenen Tradition, wenn man vor-

wo Koselleck auf Kap. XXXIV von Henry Adams’ Autobiographie verweist, in dem vielleicht erstmals das »Gesetz der Beschleunigung« ausgesprochen wird. 35 Vgl. Said (1978). Zur spezifisch deutschen Orientalistik siehe meinen Aufsatz: Hösle (2013). 36 Vgl. Marquard (1986), 110.

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urteilsfrei forscht, gar manches von dem Menschlich-Allzumenschlichen, auf das man empört mit dem Finger zeigt, wenn man es in anderen Kulturen erblickt; man findet, dass viele der historischen Rechtfertigungen der eigenen religiösen oder politischen Überzeugungen vor einer kritischen Geschichtsschreibung nicht bestehen. Seit dem 18. Jahrhundert weiß man, oder kann man wissen, dass die biblischen Texte von unterschiedlichen Autoren mit sehr verschiedenen, untereinander teilweise inkompatiblen Gottesvorstellungen stammen und dass etwa die Christologie der Konzilien nicht diejenige auch nur eines einzigen der ohnehin voneinander in ihrem Verständnis Jesu stark abweichenden Evangelien ist. In »Vom Nutzen und Nachteil der Historie für das Leben« hat Friedrich Nietzsche bekanntlich drei Typen von Historie unterschieden, die monumentale, die antiquarische und die kritische. Sicher ist die letztere derjenige Typus, der am ehesten wissenschaftlicher Überprüfung standhält, auch wenn das politische Bedürfnis nach monumentaler Historie immer noch groß ist, gerade in einem Lande wie den USA, das sich weiterhin für berufen hält, eine hegemoniale Rolle auszuüben. 37 Aber in einer Ära, die den entsetzlichen Missbrauch des Heroismus im 20. Jahrhundert erlebt hat, ist es zunehmend schwieriger, monumentale Historie zu betreiben, und zwar selbst in literarischen Werken. Vermutlich ist die ironische Brechung, mit der Thomas Mann in den Josephsromanen die den drei monotheistischen Religionen gleichermaßen teuren Figuren Jaakob und Joseph behandelt, die höchste Form intellektuell verantwortlicher Idealisierung der Vergangenheit, die wir noch genießen können; denn Ironie gegenüber Josephs Schwächen und aufrichtige Bewunderung der intellektuellen und moralischen Leistung des Monotheismus halten sich in der Tetralogie auf vollkommene Weise die Waage. Eine wichtige Folge der Geisteswissenschaften ist somit der historistische Relativismus, der sich im 19. Jahrhundert auszubreiten beginnt. Er hat viel eher zur Korrosion der Religion beitragen als die Entstehung der modernen Naturwissenschaften. Denn während letztere nur Zweifel an einzelnen Wundergeschichten wecken, aber mit einem Monotheismus durchaus kompatibel sind – ja, ihn genetisch wahrscheinlich sogar voraussetzen –, unterhöhlt die Entdeckung, Das erklärt, warum bestimmte Fakten der amerikanischen Geschichte immer noch tabu sind: Man denke an die Massenerschießungen japanischer Kriegsgefangener im Zweiten Weltkrieg. Dazu siehe Dower (1986).

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dass bestimmte, auf ein heiliges Ursprungsereignis zurückgeführte Riten oder Wertüberzeugungen in Wahrheit viel jüngeren Urspungs sind, nach den eigenen Kriterien sich historisch legitimierender Religionen deren Geltungsanspruch. Der Erfolg Nietzsches zeigt, dass Analoges auch für die Ethik gilt – »Zur Genealogie der Moral« hat dem ethischen Universalismus zweifelsohne geschadet. Aber lässt sich dagegen nicht leicht einwenden, Nietzsche verwechsle Genese und Geltung? Zeigen nicht Vico und Hegel, dass auch ein modernen Standards entsprechendes historisches Bewusstsein mit einer rationalen Theologie vereinbar gemacht werden kann? Gewiss. Doch das Problem ist, dass das ganze Pathos der modernen Geisteswissenschaften darin besteht, sich statt auf Wahrheit auf Sinn zu konzentrieren, damit Geltungsansprüche einzuklammern und ihr Auftreten kausalwissenschaftlich zu erklären. Gerade wer es für seine Aufgabe hält, sich einen umfassenden Überblick über all das, was zu einem bestimmten Thema je vorgebracht worden ist, zu verschaffen, wird selten noch die Zeit haben, sich auf die mit dem Thema verbundenen Sachfragen einzulassen; das Interesse an der Fülle von Noeseis verdrängt dasjenige an den Noemata. Der hochgelehrte Historiker der Philosophie, der kein Interesse an den systematischen Fragen der Philosophie mehr hat, ist ein Resultat dieser Emanzipation der »noetischen« Seite der Geisteswissenschaften von der »noematischen«. Wer in dieser Denkform großgeworden ist, hat oft enorme Schwierigkeiten, Geltungsfragen als solche zu verstehen. Der Verzicht auf eine Auseinandersetzung mit dem Wahrheitsgehalt des Interpretandums kann, wenn er allgemein zu Achselzucken gegenüber der Wahrheitsfrage führt, in letzter Instanz sogar den Wahrheitsanspruch der eigenen Interpretation gefährden: Denn auch dieser ist ein, obzwar reduzierter, Geltungsanspruch. Das Aufgeben dieses letzten Geltunganspruchs, nämlich der Richtigkeit der eigenen Interpretation, wird oft durch einen Trugschluss gefördert, wie man ihn etwa bei Marquard findet, der die Vieldeutigkeit der Geisteswissenschaften aus der Vieldeutigkeit der Lebenswirklichkeit ableitet 38 . Gewiss muss jede Hermeneutik etwa dem Phänomen der Ironie Gerechtigkeit erweisen, und sicher wird der Literaturwissenschaftler in vielen bedeutenden Texten verschiedene Formen von Ambiguität entdecken. 39 Da Geisteswissenschaftler endliche Wesen sind, wird keiner große Texte 38 39

Vgl. Marquard (1986), 107 ff. Siehe z. B. Empson (1949).

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vollständig ausschöpfen, so wie auch kein Biologe schon alles zu einer einzelnen Art gesagt haben kann. Aber für die Geistes- wie die Naturwissenschaftler gilt, dass unterschiedliche Interpretationen nur dann zugleich wahr sein können, wenn sie logisch miteinander verträglich sind. Sich von diesem Prinzip zu verabschieden würde nicht weniger bedeuten als die Geisteswissenschaften ihrer Wissenschaftlichkeit zu berauben und sie vollständig von Mathematik und Naturwissenschaften isolieren, in denen die Unterscheidung zwischen wahr und falsch sowie zwischen erraten und bewiesen eine offenkundige Evidenz hat.

IV. Die Geisteswissenschaften haben ein Verständnis und, in Zusammenarbeit mit den Sozialwissenschaften, zum Teil sogar eine Erklärung menschlichen Verhaltens und der mannigfachsten Produkte des menschlichen Geistes erbracht. Damit haben sie die Provinzialität überwunden, die denjenigen kennzeichnet, der die Selbstverständlichkeiten der eigenen Kultur der ganzen Menschheit zuschreibt oder den Rest der Menschheit als ignorant, bösartig oder von Dämonen besessen verurteilt. Was die Geisteswissenschaften allerdings, gerade nach ihrer Emanzipation vom Deutschen Idealismus, nicht vermögen, ist, die Sachfragen zu entscheiden, um die es in diesen geistigen Produkten auf sehr unterschiedlichem Niveau geht. Das gilt auch für ethische Fragen, in denen der Geisteswissenschaftler qua Geisteswissenschaftler keine besondere Kompetenz hatte. Insofern war die im englischen Sprachraum im 19. Jahrhundert (etwa bei John Stuart Mill) übliche Bezeichnung der Geisteswissenschaften als »moral sciences« 40 irreführend: Sie machte Sinn, solange man eine an Aristoteles geschulte Einteilung des Wissens verteidigte und etwa die Politikwissenschaft letztlich als Teil der praktischen Philosophie oder wenigstens noch der Jurisprudenz konzipierte; unter der Voraussetzung der Wertfreiheit der modernen Sozial- und Geisteswissenschaften ist sie geradezu absurd. Wohlgemerkt: Ich behaupte nicht im mindesten, moderne Geisteswissenschaftler seien unmoralische Nach E. Rothacker (1947), 6, erscheint vielleicht in I. Schiels Übersetzung aus dem Jahre 1849 von Mills »A System of Logic Ratiocinative and Inductive« erstmals der Terminus »Geisteswissenschaften« im Plural.

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Menschen. Das wäre ebenso absurd wie zu sagen, Ingenieure, Ärzte oder Schreiner seien unmoralische Menschen. Aber was Ärzte, Ingenieure, Schreiner und eben auch Geisteswissenschaftler an moralischen Einsichten haben, entstammt nicht ihrer spezifisch wissenschaftlichen oder handwerklichen Ausbildung. Selbst die von der moralischen wohl zu unterscheidende ethische Kompetenz, also die Fähigkeit, moralische Ansprüche rational zu analysieren, ist Geisteswissenschaftlern nicht in besonderem Maße eigentümlich. Da ein Studium der allgemeinen Methodenlehre analytische Fähigkeiten erhöht, werden Geisteswissenschaftler vermutlich meist besser bei der Argumentanalyse sein als Menschen ohne ein Studium; aber es gibt nicht den geringsten Grund anzunehmen, sie seien darin besser als etwa Mathematiker oder Physiker. Denn weder Moral noch Ethik lassen sich auf Verstehensprozesse zurückführen, auch wenn es durchaus ein moralisches Gebot gibt, sich um das Verstehen anderer Menschen zu bemühen. Aber dieses Gebot ist selbst nicht durch Verstehensprozesse zu rechtfertigen. Aber beschreiben nicht viele Geisteswissenschaftler – von Religionssoziologen zu Literaturwissenschaftlern – Werteinstellungen? Gewiss. Aber das ist etwas ganz anderes als Ethik zu betreiben. Kant war vermutlich der größte Ethiker aller Zeiten; doch als Historiker von Werteinstellungen war er inkompetent, weil er die universalistische Ethik des 18. Jahrhunderts für eine anthropologische Konstante hielt. Umgekehrt kann jemand außerordentliches Geschick darin haben, die moralischen Überzeugungen der Germanen in den letzten zwei Jahrhunderten vor Christus aus antiken Berichten, archäologischen Funden und Eigentümlichkeiten ihrer Sprache zu eruieren; aber das macht ihn nicht zu einem Ethiker. (Allerdings muss er wenigstens in der Lage sein, Moralisches von Nicht-Moralischem abzugrenzen.) Aber, so wird man weiterfragen, braucht nicht jeder Historiker, der eine ganze Epoche oder gar längere geschichtliche Verläufe beschreiben will, Werte, die seine Auswahl aus dem Material leiten? Sicher. Wir haben ja schon gesehen, dass Faktenhuberei ohne Kategorien keine guten Geisteswissenschaften hervorbringt – ebensowenig wie sogenannte theoretische Arbeit, die weder vor breitem Hintergrundwissen auf dem betreffenden Gebiet noch aufgrund von Vertrautheit mit einem konsistenten System grundlegender philosophischer Kategorien erfolgt. Doch die Werte, nach denen man das Material sichtet, sind epistemischer, nicht moralischer Natur und hängen von dem subjektiven Erkenntnisinteresse ab, das der entspre126 https://doi.org/10.5771/9783495820377 .

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chende Autor hat. Wer eine Geschichte des Genozids im 20. Jahrhundert schreiben will, wird nicht umhin können, sich über die Massenmorde an Armeniern, Juden, an der Bevölkerung Kambodschas und den Tutsis auszulassen. Das heißt nicht, dass er sie positiv bewertet. Aber was legitimiert das Erkenntnisinteresse von Geisteswissenschaftlern? Sind bestimmte Fragestellungen wertvoller als andere? Fragen dieser Art lassen sich m. E. mit geisteswissenschaftlichen Mitteln kaum beantworten – die Geisteswissenschaftler können nur klären, ob die Antworten, die auf diese Fragen gegeben werden, nach den üblichen Methoden der Geisteswissenschaften gewonnen wurden. Allerdings liegt es angesichts der Wende vom Noema zur Noesis nahe, jene Fragestellungen als besonders relevant auszugeben, die möglichst viele noetische Akte kausal verknüpfen. Damit ist nicht mehr der innere Gehalt eines geistigen Gebildes, sondern seine Wirkung das, was zählt. Die Wende von der internen zur externen Wissenschaftshistorie sowie von der Kunstwerk- zur Rezeptionsästhetik gehört in diesen Kontext, ebenso die Genese der culture studies. Vermutlich ist es richtig, dass in den letzten zwei Monaten des Jahres 2013 in Deutschland mehr Menschen »Fack ju Göhte« gesehen als selbst »Faust I« gelesen haben; denn Wikipedia entnehme ich, dass es mehr als sechs Millionen Zuschauer waren, und ich bin nicht ganz so optimistisch, was die zweite Zahl betrifft. Also liegt es nahe, die Germanistik mit Konferenzen über diesen Film zu beleben statt mit weiteren Büchern über »Faust« zu langweilen. So nahe dies auch liegt, so falsch ist es freilich zu sagen, dass es dafür spezifisch geisteswissenschaftliche Argumente gilt. Denn das implizite Argument ist, dass faktisches Interesse das eigentliche Kriterium von Qualität sei und dass die Gegenwart einen Vorrang vor der Vergangenheit habe. Diese Aussagen mögen richtig oder falsch sein (ich halte sie beide für falsch); aber es sind auf keinen Fall Aussagen, die sich mit Mitteln der Geisteswissenschaften begründen lassen. Auch ist die Metaaussage, es handle sich bei diesen Fragen eben um nichts als subjektive Meinungen, nicht mit geisteswissenschaftlichen Mitteln zu validieren; es ist wiederum eine philosophische Aussage, zu deren Entscheidung es umfassender Erwägungen geltungstheoretischer Fragen bedarf, die nicht Thema dieses Textes sind. Worauf es mir hier allein ankommt, ist, dass derartigen Wendungen in den Geisteswissenschaften unweigerlich den Geisteswissenschaften externe philosophische Weichenstellungen zugrunde liegen, die nicht schon deswegen verschwinden, weil sie nicht explizit 127 https://doi.org/10.5771/9783495820377 .

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reflektiert, sondern aus dem Zeitgeist aufgesogen werden. Geisteswissenschaftler betreiben Etikettenschwindel, wenn sie die legitime Behauptung »Mit geisteswissenschaftlichen Methoden lassen sich Wertfragen nicht lösen« erweitern zu der Aussage »Wertfragen sind völlig subjektiv«. Und sie verwirren alle Standards der Rationalität, wenn sie, aus dem nur zu menschlichen, sie letztlich ehrenden Bedürfnis nach Normativität ihre subjektiven Wertüberzeugungen in Texte hineinlesen, die sie gar nicht mehr sorgfältig interpretieren, weil sie den Glauben daran verloren haben, dass es richtige und falsche Interpretationen gibt. Der Literaturwissenschaftler etwa sollte seine Kompetenz darin haben, die spezifischen Techniken zu beherrschen, mit denen es die Literatur schafft, fiktive Welten vor uns erstehen zu lassen. Er braucht uns nicht mitzuteilen, wie er wirtschaftspolitisch denkt, nicht weil er etwa kein Recht hätte zu wirtschaftspolitischen Meinungen, sondern weil seine Meinungen zu diesen Fragen, anders als die des Ökonomen und Wirtschaftsethikers, nicht mehr Autorität genießen als diejenigen eines beliebigen NichtAkademikers. Er kann sie selbstverständlich äußern, aber nicht mit der Autorität des Professors, die ihm auf einem anderen Gebiet zusteht. Ja, er gefährdet seine Autorität auf diesem anderen Gebiete, wenn er, um die Aufmerksamkeit der Massenmedien zu erhaschen, in die Interpretanda Dinge hineindeutet, die sich dort nicht finden, aber als politisch korrekt heute allgemeinen Anklang finden, und am Ende sogar das Interesse an den spezifischen Kategorien seiner Disziplin verliert. Wenn man sich zu lange als Möchtegern-Politikwissenschaftler aufspielt, riskiert man, die spezifisch literaturwissenschaftliche Kompetenz zu verspielen, die man einst erworben hatte.

V. Wer mir bisher gefolgt ist, wird vielleicht verwirrt sein. Einerseits scheine ich die modernen Geisteswissenschaften zu kritisieren, weil sie normative Fragen nicht mehr zu beantworten wissen und zu einer Paralyse führen: Man kann sich zwar in alles Mögliche hineinimaginieren, aber kennt das Eine, das nottut, nicht mehr, man glaubt an tausend Kulturprodukte zu jeweils einem Tausendsten, doch an keines ganz. Andererseits verwerfe ich die Aktualisierungstendenzen, in denen gegenwärtige Geisteswissenschaftler geistige Produkte der Vergangenheit missbrauchen, um sich den kulturellen Hegemonial128 https://doi.org/10.5771/9783495820377 .

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mächten als Megaphone des moralisch-politisch oder unterhaltungstechnisch Zeitgemäßen anzubiedern. Jedoch besteht kein Widerspruch zwischen den beiden Positionen. Denn ich glaube in der Tat, dass die Geisteswissenschaften aus ihrer zunehmenden Bedeutungslosigkeit nur gerettet werden können, wenn sie sich auf normative Fragen einlassen – aber es sind nicht geisteswissenschaftliche Methoden, mit denen das erfolgen kann. Die Geisteswissenschaften bedürfen einer normativen Fundierung, die nicht aus ihnen selbst stammt; erst in Verbindung mit dieser können sie der Selbstaufhebung entrinnen, die ihnen sonst droht. In der Tat liegt es bei einigen geisteswissenschaftlichen Disziplinen sofort auf der Hand, dass man mit geisteswissenschaftlichen Methoden allein in ihnen nicht erfolgreich sein kann. Ich will hier nicht den Einzug naturwissenschaftlicher Methoden in die Geisteswissenschaften diskutieren, die oft nützlich und manchmal unabdingbar sind, weil das Interpretandum stets ein physisches Objekt ist: Man denke u. a. an die Radiokarbonmethode bei Datierungen in der Archäologie oder auch an Luigi Luca Cavalli-Sforzas Entdeckung der Parallelen zwischen dem genetischen Verwandtschaftsgrad verschiedener Völker und dem Verwandtschaftsgrad der von ihnen gesprochenen Sprachen. 41 Ebensowenig geht es mir hier um die Tatsache, dass der Mensch ein Organismus und damit ein Resultat der Evolution des Lebens ist, so dass vermutlich gar manches an seinem Verhalten biologische Wurzeln hat, oder um das davon streng zu unterscheidende Faktum, dass das Prinzip der natürlichen Selektion Natur und Kultur übergreift und daher auch auf die kulturelle Evolution Anwendung findet, die somit Parallelen zur biotischen aufweist. Nein, worauf ich die Aufmerksamkeit lenken will, ist nicht die Basis der Intention in der res extensa, sondern vielmehr deren noematisches Moment. Sicher kann das Noema eines Interpretandums selber der Methode des Verstehens zugänglich sein. Wer etwa eine Geschichte der Hermeneutik schreibt, muss auf zwei Ebenen interpretieren: Er muss die Texte lesen, die seine direkten Interpretanda sind, und um deren hermeneutische Qualität zu bewerten, muss er sich selbst an die Interpretation der Interpretanda seiner direkten Interpretanda machen. (Interpretation ist offenbar ein mehrstufiges Geschäft.) Das E. J. M. Witzels großartiger Versuch, die ältesten menschlichen Mythen zu rekonstruieren (Witzel [2012]), stützt sich u. a. auf Lingusitik, physische Anthropologie, Genetik und Archäologie (vgl. Witzel [2012], 187 ff.).

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ist jedoch ganz anders im Fall der Historie der Mathematik: Wer über Apollonios von Perge forschen möchte, muss zwei ganz unterschiedliche Methoden beherrschen – er muss hermeneutische Kompetenzen haben, um den griechischen Text richtig zu interpretieren, und er muss mathematische Intelligenz besitzen, um das zu begreifen, worum es Apollonios geht. Wer nicht mathematisch denken kann, steht vor den »Konika« wie vor einem verschlüsselten Buch – nicht anders als derjenige, der Griechisch nicht gelernt hat. Die Geisteswissenschaften müssen also mehr als geisteswissenschaftliche Kompetenzen besitzen, um zumindest bei vielen ihrer Interpretanda ihrer Aufgabe gerecht zu werden. Sie verfehlen ihre Aufgabe eklatant, wenn sie sich auf das Sagen stürzen und das Gesagte ignorieren. Denn die meisten Menschen, die sich äußern, wollen etwas, das sie transzendiert, äußern, und gerade derjenige, der sich nur für ihre subjektive Tätigkeit, und nicht deren Gegenstand, interessiert, nimmt sie nicht wirklich ernst. Aber bedeutet das, dass man Aristoteles’ Naturphilosophie teilen muss, um sie verstehen zu können? Sicher nicht. Denn einen Autor ernst zu nehmen bedeutet keineswegs, ihm zu folgen; gerade wer dessen Wahrheitsanspruch ernst nimmt, hat vielmehr die Pflicht, ihm zu widersprechen, wo seine Argumente nicht Stich halten. Aber auch derjenige, der die »Physik« für durch die wissenschaftliche Revolution des siebzehnten Jahrhunderts überholt hält, kann und muss deren innere Schlüssigkeit, die enorme Leistung bei der Kategorienbildung und die oft stringente Kritik an früheren naturphilosophischen Konzeptionen anerkennen. Das gilt selbst für fiktionale Texte, zumindest wenn deren Autor den Anspruch erhebt, gerade durch das Überschreiten des Faktischen die Wahrheit zu sagen. Wer sich etwa Dante nur als Literaturwissenschaftler nähert, auf den hat das Werk nicht die Wirkung ausgeübt, die Dantes eigentliches Anliegen war. Natürlich braucht man nicht an Dantes Geographie des Inferno oder an das Ptolemäische Weltbild zu glauben, um Dantes Commedia zu verstehen. Durchaus muss aber der Danteinterpret einen Sinn für eine moralische Interpretation des Universums haben; wenn ihm auch dieser Sinn abgeht, wird das Werk nur noch historisches Interesse für ihn haben und damit seinen Klassikerstatus verlieren. Denn klassisch sind jene Texte, die gewissermaßen stets unsere Zeitgenossen bleiben, von denen, und nicht über die, wir lernen wollen. Nichts ist lächerlicher als, um auf der Höhe der Zeit bleiben zu wollen, den letzten Publikationen nachzuhecheln, von denen die größte Zahl in zehn oder fünf Jahren (die 130 https://doi.org/10.5771/9783495820377 .

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Zeiträume werden selber immer kürzer) durch ebenso kurzatmige Produkte ersetzt sein wird, und dies um den Preis, selbst jene Texte zu ignorieren, die noch in Jahrtausenden Klassiker bleiben werden. In den Naturwissenschaften mag ein solches Verhalten angehen, weil in ihnen ein relativ kontinuierlicher Fortschritt stattfindet; aber in Kunst und Philosophie ist ein solcher Fortschritt bei bestem Willen nicht festzustellen. Aber was macht einen Klassiker zum Klassiker? Man sollte Klassiker nicht primär durch ihre langfristige Wirkung definieren, die ja selbst der Frage untersteht, ob sie legitim war oder nicht; Klassiker ist jemand aufgrund der Qualität des eigenen Beitrages zur Lösung eines Problems. 42 Dennoch bleibt es richtig, dass die Wahrscheinlichkeit steigt, ein Werk habe einen hohen Wert, wenn dieser ihm konsistent über einen langen Zeitraum zugesprochen wird; denn auch wenn die Mehrheit nicht als solche recht hat, da viele Menschen einfach den Meinungen folgen, die sie als vorherrschend wahrnehmen, sind Moden kurzlebig und Revolten gegen sie natürlich. Wenn daher ein Autor viele solcher Revolten überlebt hat, hängt das vermutlich an einem inneren Wert. Dieser muss jedoch stets konkret nachgewiesen werden. Da Klassiker somit oft aus der Vergangenheit stammen, braucht es zu ihrem angemessenen Verständnis neben der Sachkompetenz auch die spezifisch hermeneutische Kompetenz, die das eigentliche Spezifikum der Geisteswissenschaften ist. Woran also hängt die Zukunft der Geisteswissenschaften? Erstens dürfen sie die ihnen eigentümliche hermeneutische Kompetenz nicht aufgeben; sie müssen die Standards aufrechterhalten, die seit dem 17. Jahrhundert erarbeitet wurden, um die mens auctoris zu erschließen. Diese preiszugeben, um modischen Theorien nachzulaufen, ist nicht weniger als selbstmörderisch. Es gereicht dem menschlichen Geist zur Ehre, dass er geistige Produkte selbst aus ganz anderen Zeiten und Kulturen zu erschließen in der Lage ist, darunter so großartige wie das Gilgameschepos. Selbst wenn die Inhalte dieser Produkte enttäuschend sein mögen wie auf den ersten Blick diejenigen der Tontafeln in Linear B, die zwar linguistisch hochbedeutsam sind und uns einiges über die Wirtschaftsstruktur der mykenischen Welt verraten, aber noematisch an das nicht heranreichen, was die spätere griechische Welt hervorgebracht hat, ist der formale Akt, in einem fremden Artefakt Geist vom eigenen Geist zu 42

Vgl. meinen Aufsatz: Hösle (2004).

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Vittorio Hösle

erkennen, stets achtunggebietend, zumal der sorgfältige Interpret auch aus jenen Tafeln, durch Erschließen des in ihnen Implizierten, wenigstens Teile einer geistigen Welt erstehen lassen kann. Zweitens sollte der Geisteswissenschaftler eine Sachkompetenz in der Frage besitzen, mit der sich sein Interpretandum beschäftigt. Dazu muss er oft genug eine andere Disziplin außerhalb der Geisteswissenschaft beherrschen; aber das kann den Geisteswissenschaften nur guttun, deren zunehmende Selbstverliebtheit am Ende das Wesen des Geistes verrät, der als intentionaler sich stets auf etwas bezieht und stets über etwas handelt. Sicher ist es dem Geist wesentlich, auch sich selbst zu thematisieren; aber er kann das nur, weil er sich zunächst auf etwas Externes gerichtet hat. Die ersten verstehbaren Äußerungen müssen ja unweigerlich auf etwas Physisches referiert haben. Gerade jenen Texten, die eine größere Sachkompetenz manifestieren und schulen, sollten sich die Geisteswissenschaftler drittens mit besonderer Leidenschaft widmen, also die Klassiker zu bevorzugten Studienobjekten machen. Das gilt selbst dann, wenn die Auswahl der Interpretanda zu Ungleichbehandlungen von Kulturen oder eines Geschlechtes führt; denn nur durch das Studium innerlich bedeutender Interpretanda haben die bisher in der Geschichte zu Unrecht Benachteiligten eine Chance, geistige Gleichheit zu erzielen. Viertens und letztens sollte der Geisteswissenschaftler über einen hinreichend elaborierten Begriff des Geistes verfügen. Geisteswissenschaft ist nicht dasselbe wie Philosophie des Geistes; aber ein Geisteswissenschaftler sollte eine gewisse Vertrautheit haben mit Themen wie dem Leib-Seele-Problem, der Frage nach der Bedeutung, der Eigenart von Entwicklungsgesetzen des Geistes. Und er muss wissen, dass Geist nicht Geist ist, wenn er nicht eine moralische Ordnung anerkennt, in Auseinandersetzung mit welcher sich seine geschichtliche Entfaltung vollzieht. Gewiss sind sich Philosophen zu diesen Fragen nicht einig; aber das entpflichtet nicht von der Verantwortung, sich einen Überblick über die Hauptlösungen zu verschaffen. Es mag sogar sein, dass die Beschäftigung mit der Metaphysik des Geistes den Geisteswissenschaftler dazu führt, auch im Sinngehalt der voraufklärerischen Religionen etwas zu finden, was, bei aller Zirkularität der Argumente, Widersprüchlichkeit der Gottesvorstellung und wissenschaftlich unhaltbarer Hermeneutik, dem Noema wesensverwandt ist, dem er sich selbst verbunden weiß, sofern er seine eigene Aktivität ernst nehmen will: die Idee, dass der letzte Grund der Wirklichkeit ein Geist ist, der die Natur und die sich in ihr entwickelnden endlichen Geister trans132 https://doi.org/10.5771/9783495820377 .

Was sind und zu welchem Ende studiert man Geisteswissenschaften?

zendiert, sich aber in der Selbsterfassung des Geistes innerweltlich gleichsam selbst einholt.

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Nach Abschluss dieses Aufsatzes (2014) ist 2018 meine umfassende Studie Kritik der verstehenden Vernunft erschienen, in der viele Begründungen ausgeführt sind, die hier nur skizziert werden konnten.

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II. Probleme und Perspektiven der Geisteswissenschaft

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Lesen, Schreiben, Deuten Susanne Lüdemann

Die Bezeichnung »Geisteswissenschaften« ist bekanntlich ein deutsches ›Alleinstellungsmerkmal‹. Die unter diesem Label versammelten Fächer heißen andernorts Humanities, Humanidades, sciences humaines oder discipline humanistiche. In diesen Bezeichnungen ist, wie immer verdünnt, noch der Rückverweis auf die studia humaniora der Renaissance enthalten, dem mit den »Geisteswissenschaften« Wilhelm Diltheys institutionell und universitätsgeschichtlich folgenreiche Orientierung an Hegels Begriff des »objektiven Geistes« und der deutschen idealistischen Tradition entgegen steht. Selbst wenn dieser deutsche Begriff des Geistes und mit ihm der der Geisteswissenschaften nicht unübersetzbar wäre und selbst wenn dieser deutsche Geist nicht als »Volksgeist« unheilvoll Karriere gemacht und sich selbst diskreditiert hätte, könnte man heute wohl nicht mehr hoffen, aus der Bezeichnung »Geisteswissenschaften« mehr als historischen Aufschluss über den philosophisch-institutionellen und nationalphilologischen deutschen ›Sonderweg‹ zu gewinnen, dem sie sich verdankt. Man muss nicht Friedrich Kittler sein 1 , um zu sehen und zu sagen, dass die deutsche Bezeichnung »Geisteswissenschaften«, die Orientierung am deutsch-idealistischen und metaphysischen Begriff des »Geistes« mithin, heute nicht mehr taugt, um die gegenwärtige Lage und die künftigen Aufgaben der hierzulande konventionell noch unter diesem label befassten Disziplinen zu bestimmen. »Jedenfalls aber ist unsere philologische Heimat die Erde, die Nation kann es nicht mehr sein«, schrieb Erich Auerbach in seinem programmatischen Aufsatz zur »Philologie der Weltliteratur« bereits 1952. »Gewiss ist noch immer das Kostbarste und Unentbehrlichste, was der »Austreibung des Geistes aus den Geisteswissenschaften. Programme des Poststrukturalismus« lautet der Titel eines 1980 von Friedrich A. Kittler herausgegebenen Bandes, dessen Beiträge den Auswirkungen von Psychoanalyse, Systemlinguistik und Ethnologie auf das traditionelle Konzept Geisteswissenschaften gewidmet waren.

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Philologe ererbt, Sprache und Bildung seiner Nation; doch erst in der Trennung, in der Überwindung wird es wirksam.« 2 Allerdings ist auch die umstandslose Substitution des »Geistes« durch die »Kultur« als gemeinsamen Leitbegriff und Gegenstandsbereich unserer Disziplinen wenig befriedigend, und sei es nur deswegen, weil sich unter dem label »Kulturwissenschaften« in den Philologien seit nunmehr ungefähr 30 Jahren eine Bewegung vollzogen hat, die sich vielleicht am ehesten auf den allgemeinen Nenner einer Abkehr vom Text – und damit von den genuin »geistes«wissenschaftlichen Tätigkeiten des Lesen und Deutens – bringen lässt. Diese Entwicklung wird gegenwärtig noch extrem beschleunigt durch den Medienwandel in der Gesellschaft und durch die mit den sogenannten Digital Humanities allzu oft einhergehende Meinung, die menschliche Lese-, Urteils- und Deutungsleistung ließe sich an computergestützte Verfahren gleichsam delegieren. Was also tun, wenn man trotz im Zeitalter der Globalisierung obsoleter nationalphilologischer Traditionen und trotz der zunehmend szientistischen und empiristischen (Selbst-)Ausrichtung ehemals anders sich verstehender Disziplinen wie etwa der Soziologie, Psychologie, Linguistik und selbst Philosophie und Geschichtswissenschaft auf gewissen für den Fortbestand unserer Gesellschaften doch unerlässlichen und im weitesten Sinne hermeneutischen, philologischen Tätigkeiten bestehen will? Der Vorschlag, den ich im folgenden erneuern 3 möchte, lautet, die Humanities weniger von ihrem Gegenstandsbereich (›Geist‹ oder ›Kultur‹) her zu verstehen als von dem her, was ihre Vertreter tun: nämlich nicht zählen oder messen, sondern das, was der Titel dieses Beitrags nennt: Lesen – Schreiben – Deuten. Deutung (Auslegung, Interpretation, Exegese) spielt ja sowohl als Methode und Praxis wie auch als Gegenstand der Reflexion in den Humanities eine zentrale Rolle, nicht nur in den Philologien, sondern auch im Recht, in der Philosophie, in der Theologie, in der Psychoanalyse und in den Geschichts- und Sozialwissenschaften, sofern sie sich (noch) als ›verstehende‹ Wissenschaften begreifen. Ist in historischer Perspektive die Bibel-Allegorese die Wurzel der moderAuerbach (1967), 310. Es handelt sich im Folgenden um die überarbeitete Fassung der Einleitung zu Lüdemann, Vesting (2017). Der Band ist aus einer Tagung hervorgegangen, deren Ziel es war, den gegenseitigen Austausch ›deutungsgebundener‹ Disziplinen zu vertiefen.

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nen Hermeneutik (sowohl im Recht als auch in den Literaturwissenschaften), so haben im Zuge der Ausdifferenzierung des modernen Wissenschaftssystems die verschiedenen Disziplinen zwar ihre je eigenen Deutungskulturen entwickelt. Zudem sind Deutungen in der Praxis in sehr verschiedene institutionelle Kontexte oder Ordnungen des Diskurses (Foucault) mit unterschiedlichen Performanzen eingebettet: Während die Interpretation eines literarischen Textes durch Literaturwissenschaftler in der Regel nur einer methodisch pluralisierten Forschungslandschaft eine weitere Lesart hinzufügt, hat die Auslegung eines Gesetzes durch den Richter, seine Anwendung auf den Einzelfall, performative Kraft für das Schicksal des oder der Betroffenen. Ein Pfarrer, der in der Sonntagspredigt den Zuhörern die bestimmte Auslegung einer Bibelstelle nahelegt, befindet sich in einer anderen kommunikativen Situation als ein Psychoanalytiker, der in der Kur die Symptome eines Einzelnen deutet, oder ein Jurist, der in seiner Auslegung die Mehrheits- und Minderheitsmeinungen anderer zu berücksichtigen hat. Zudem ist der ›state of the art‹ seit dem linguistic turn zu Beginn des 20. Jahrhunderts längst nicht mehr durch ein gemeinsames hermeneutisches ›Vorverständnis‹ der Tätigkeit des Deutens definiert. Strukturalismus, Psychoanalyse, Diskursanalyse, Rezeptionstheorie und Dekonstruktion haben das Verständnis dessen, was Sprache, was ein Text und was Signifikanten seien, ob überhaupt und wie sie auf den Willen, das Bewußtsein, die ›Intention‹ eines Autors oder den Sinn eines ›eigentlich Gemeinten‹ zu beziehen seien, was demzufolge Deutung sein müsse oder könne, gründlich verändert. Den ›Willen des Gesetzgebers‹ zur arché und zum télos einer juristischen Auslegung zu machen, scheint unter diesen veränderten Prämissen heute methodisch ebenso gewagt wie Schleiermachers Satz, es gelte, den Autor besser zu verstehen, als er selbst sich verstand, oder Leopold von Rankes Glaube, der Geschichtswissenschaftler könne aus den Quellen deuten, »wie es eigentlich gewesen ist«. Schließlich sind durch die Einbeziehung nicht christlicheuropäischer Perspektiven auch noch ganz andere Deutungslehren in den Blick gerückt (etwa jüdische oder islamische, die zum christlichhermeneutischen Intentionalismus und Institutionalismus in Widerspruch stehen). Gegenüber all diesen Quellen der historischen Differenzierung und methodischen Pluralisierung fällt dennoch ins Gewicht, dass die genannten Disziplinen einen verbindlichen Bezug zu Texten (sei es der Literatur, des Gesetzes, der Äußerungen von Patienten oder his139 https://doi.org/10.5771/9783495820377 .

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torischer Dokumente) und damit einen »Imperativ der Interpretation« 4 im emphatischen Sinn des Wortes anerkennen. Sie unterscheiden sich damit grundlegend von allen anderen Wissensgebieten, vorzüglich den sogenannten ›hard sciences‹, die ihre Erkenntnisse mit Hilfe empirischer und statistischer Verfahren der Beobachtung, der Messung und der ›objektiven‹ Validierbarkeit ihrer Ergebnisse gewinnen. Was heißt nun aber Deutung? Die Frage lässt sich einerseits als Methodenfrage verstehen und enthält als solche die Aufforderung zur Selbstreflexion. Gemäß der doppelten Bedeutung des Verbs heißen 5 steht jedoch damit zugleich das Geheiß der Deutung zur Diskussion: Wer oder was heißt uns Deuten? Auf wessen Geheiß deuten wir? Hört man die Frage so, ergeben sich daraus weiterführende Perspektiven wie die auf den Status von Texten in den institutionellen Gefügen unserer Kultur und ihre Einbettung in Interpretationsgemeinschaften. 6 Dieser erweiterte Blickwinkel verbietet es von vorne herein, Deutung in idealisierender (trivial-)hermeneutischer Manier als eine Art divinatorischen Vorgang zwischen einem isoliert deutenden Subjekt und seinem zu deutenden (Text-)Objekt aufzufassen. Stattdessen tritt die »institutionelle Struktur exegetischer Rede« und damit die »dogmatische Funktion« von Deutung in den Blick. 7 Zumindest für die normativen Texte einer Kultur, ihre religiösen und juridischen Gründungstexte, gilt ja, dass sie Verbindlichkeit beanspruchen und insofern nicht negiert werden können. In diesem Sinne sah schon Gottfried Wilhelm Leibniz die »wunderbare Ähnlichkeit« von Theologie und Rechtswissenschaft darin, dass beide »ein authentisches Buch, das die positiven Gesetze enthält, dort die göttlichen, hier die menschlichen«, zur Grundlage haben. 8 Entgegen dem gängigen Zerrbild von Dogmatik besteht die dogmatische Funktion von Deutung, wie Clemens Pornschlegel ausführt, aber nicht in erster Linie darin, eine verbindliche Auslegung normativer Texte autoritär und ex cathedra festzuschreiben 9 , sondern umgekehrt darin, die AnLegendre (2010). Von einem »hermeneutischen Imperativ« spricht allerdings schon Friedrich Schlegel (Schlegel [1981], 69). 5 Vgl. dazu Augsberg, in Lüdemann (2017), 107. 6 Vgl. zum Begriff der Interpretationsgemeinschaft Fish (1980). 7 Vgl. dazu Pornschlegel, Clemens, in: Lüdemann (2017), 39–56. 8 Scripturam seu librum quendam authenticum leges positivas, illic divinas, hic humanas continentem, Leibniz, Nova Methodus § 4; zit. nach: Herberger (1981), 306. 9 Dies wäre vielmehr ein Kennzeichen von Fundamentalismus (nicht von Dogma4

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Lesen, Schreiben, Deuten

passung der Texte an sich wandelnde historische Umstände zu ermöglichen. In diesem Sinne heißt es auch bei Niklas Luhmann: Dogmatische Begrifflichkeit ermöglicht eine Distanznahme auch und gerade dort, wo die Gesellschaft Gebundenheit erwartet. Das geschieht, indem dogmatisches Denken und Interpretieren seine Gebundenheit auf »Materialien« – zum Beispiel auf Normen oder auf heilige Texte oder auf Offenbarungsinhalte – bezieht, über die sie begrifflich disponiert. Auch die Bindung selbst kann dann noch dogmatischer Interpretation unterworfen werden, so dass die Dogmatik ihre Freiheit aus ihrer Gebundenheit herleiten kann: Es wird dann zum Beispiel gesagt, das Bindende sei unergründlich, sei geheimnisvoll oder sei rein historisches Faktum, Positivität – in jedem Falle etwas, was Interpretation verlangt. 10

Deutung erscheint hier als elementare Kulturtechnik, die es ermöglicht, mit der Gebundenheit auf ›Materialien‹ – trivial gesagt: mit der Tatsache, dass es immer schon Vergangenheit(en), die Archive der Überlieferung und die Notwendigkeit verbindlicher Einschreibung gibt – umzugehen, ohne die Zukunftsoffenheit kollektiver und persönlicher Existenz zu verlieren. Gebundenheit auf ›Materialien‹ – auf die Prätexte der kulturellen Überlieferung – spielt in diesem Sinn auch in der Literatur(wissenschaft) eine wichtige Rolle. Es gibt keinen literarischen Text, der nicht im Dialog mit Vorgängertexten stünde, die er seinerseits interpretierte (zitierte, imitierte, kommentierte, parodierte, umschriebe oder kritisierte) und auf diese Weise neuen Lesarten zuführte. 11 Literarische Texte »wenden sich«, wie Clemens Pornschlegel betont, »aber stets auch unmittelbar, über historische Epochen und Zeiten hinweg, an ihre jeweiligen Adressaten, um von ihnen aktualisiert, wiederholt und immer wieder neu interpretiert zu werden«. 12 Literaturwissenschaftlichem Deuten kam dabei ursprüngtik!), egal welcher couleur, der wesentlich im Ausschluss anderer Lesarten besteht und insofern bestrebt ist, Deutung überhaupt zu unterbinden, notfalls mit Gewalt. Damit eine Deutung als solche in Erscheinung treten kann, muss es mindestens eine zweite geben. Der Papst deutet zwar nach wie vor autoritär und ex cathedra, jedoch deutet er seit der Reformation nicht mehr für die gesamte Christenheit und beansprucht das auch nicht. Es gibt eine zweite Deutung, die sich ihrerseits institutionalisiert hat, und die nicht nur das ›authentische Buch‹, sondern auch seine Deutung anders deutet als der Papst. 10 Luhmann (1974), 16. 11 Die Literaturwissenschaft kennt diesen Sachverhalt unter den Namen »Intertextualität«, aber auch »the anxiety of influence« (Bloom [1973]). 12 Pornschlegel (2017), 52. Peter Szondi sieht in dieser »unverminderte[n] Gegenwärtigkeit auch noch der ältesten Texte« einen bedeutenden Unterschied von Philologie

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lich (das heißt im Rahmen der Nationalstaaten des 19. und 20. Jahrhunderts) die Aufgabe zu, die Zusammenhänge der Literaturgeschichte und damit der kulturellen Überlieferung lebendig zu erhalten, für (nationale) Kanonbildung zu sorgen und die Bestände der Tradition immer wieder umzuarrangieren, ihnen immer wieder neue Perspektiven abzugewinnen. Aber auch in der Psychoanalyse beispielsweise stellt sich Gebundenheit auf ›Materialien‹ als Fixierung auf Signifikanten dar, die das Subjekt einschneidend bestimmt haben. »Erinnern, Wiederholen, Durcharbeiten« nennt Freud 13 den psychoanalytischen Prozess der Deutung, in dessen Verlauf es möglich werden kann, solche Fixierungen aufzugeben, »mit seinem Triebschicksal aus der Sackgasse herauszutreten, in der es [das Subjekt, S. L.] die Analyse begonnen hat.« Psychoanalytisches Deuten zielt dabei (ebenfalls) nicht auf die Festschreibung von Sinn, sondern eher auf sein »Abtragen«: auf Widerstand »gegen die Weise, in der der Analysant die Signifikanten immer schon interpretiert, und das heißt deutet und umdeutet, abwehrt, unkenntlich macht, auseinanderreißt, ersetzt. […] Das heißt gewiss nicht, dass der Sinn damit verschwindet. Er ändert sich. Man kann sagen: er wird freigesetzt – im vielfachen Wortsinn.« 14 Hermeneutik (nicht als spezifische Methode, sondern im weitesten Sinn von Auslegung) ist also, wie das bereits Odo Marquardt formulierte, »primär ein Vergangenheitsverhältnis«, ein Erbschaftsund Geschichtswissenschaft. Dem philologischen Wissen sei im Gegensatz zum ›nur‹ historischen »ein dynamisches Moment eigen, […] weil es nur in der fortwährenden Konfrontation mit dem Text bestehen kann, nur in der ununterbrochenen Zurückführung des Wissens auf Erkenntnis, auf das Verstehen des dichterischen Wortes.« (Szondi [2010], 201 f.) Gerade dieses ›dynamische‹ Moment, es immer wieder mit dem ›Text selbst‹ und seinem fortdauernden Geltungsanspruch aufnehmen zu müssen, verbindet aber auch Philologie, Recht und Psychoanalyse (und natürlich Theologie): Es ist das, was die Deutung eines Symptoms oder des Grundgesetzes beispielsweise von der Kommentierung der Goldenen Bulle unterscheidet. Einen Vorschlag von JanPhilipp Reemtsma aufgreifend, ließe sich vielleicht sagen, Philologie, Recht, Psychoanalyse und Theologie haben es mit Texten zu tun, die »nicht paraphrasierbar« (d. h. nicht durch andere Texte ersetzbar sind). Dass »die Meinungen oft nur Ausdruck der Verzweiflung« über diese Unveränderlichkeit der Schrift sind, wusste Franz Kafka – und es lässt sich auch an vielen Interpretationen der geistesgeschichtlichen Schule ablesen, deren »Pietätlosigkeit« genau darin besteht, dass sie – auf dem Weg über das Konstrukt des vom Autor ›eigentlich Gemeinten‹ – den literarischen Text paraphrasieren – d. h. durch ihren eigenen ersetzen. 13 Freud (1914), 126–136. 14 Wegener (2017), 151.

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Lesen, Schreiben, Deuten

verhältnis. »Offenbar versteht und interpretiert man nur Dinge, die schon da sind.« 15 Das gilt für das Verhältnis zur je eigenen Vergangenheit in der Psychoanalyse ebenso wie für literarische, juristische oder theologische Traditionen und das Verhältnis zur kollektiven Vergangenheit in den Geschichtswissenschaften. Ein Symptom, ein Text, ein Traum, ein Gesetz, ein Ereignis müssen schon da, schon eingetreten sein, damit Deutung möglich und nötig wird, auch oder gerade wenn die Deutung nicht auf Vergangenes als solches, sondern auf seine Relevanz für die Gegenwart oder für eine mögliche Zukunft zielt. Deuten ist also (zumindest insofern hatte Wilhelm Dilthey recht) eine eminent historische Tätigkeit, Deutungswissenschaften sind – quer durch die Fakultäten – historische Wissenschaften. Die hermeneutische Differenz, die Differenz der Sprachen, die die Deutung ›bewohnt‹ oder inszeniert, ist immer auch eine Differenz der Zeiten. Überlieferung und Traditionsbildung vollziehen sich wesentlich als Deutung vergangener Schriftzeugnisse, sei es der Bibel, Homers, der Goldenen Bulle oder des Corpus Iuris Civilis. Dabei geht es offenkundig nicht um die ›objektive‹ Erfassung des Vergangenen als solchen, sondern um die Positionsbestimmung der Gegenwart im Bezug auf eine durch Deutung zu beerbende frühere Zeit (›Griechenland‹ oder ›Rom‹ als vorbildhafte Epochen, kulturelle translatio oder renovatio). Schon Nietzsche sah in dieser Aneignung der Vergangenheit durch die Gegenwart die wesentliche gesellschaftliche (und didaktische!) Funktion der deutungsgebundenen Disziplinen. Er ließ aber auch keinen Zweifel daran, dass Deutung in diesem Sinn weder neutral noch unschuldig ist, sondern Ausdruck eines kulturellen Willens zur Macht, wie er sich zum Beispiel in der altkirchlichen Präfigurationslehre manifestierte, aber auch im ›Philhellenismus‹ der deutschen Klassik, in Bildungseinrichtungen wie dem humanistischen Gymnasium oder im BGB als deutender Aneignung des Römischen Rechts. Man mag sich bessere oder andere Institutionen wünschen oder die bestehenden verändern wollen und auch tatsächlich verändern – auch das Abtragen von Vergangenheiten, ihr Abbau oder – sit venia verbo – ihre Dekonstruktion bedarf der Deutung oder vollzieht sich sogar wesentlich als solche (und Derrida hätte dem sicher als erster zugestimmt). In dieser Perspektive ließe sich Dekonstruktion sogar mit Odo Marquardt als Extremfall distanzierender Hermeneutik ver15

Marquardt (1981), 119.

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stehen, als eine Praxis des Lesens, »die die Unmöglichkeit der Herkunftsvernichtung durch die Möglichkeit der Herkunftsdistanzierung kompensiert« 16 (gegenübergestellt bei Marquardt der sogenannten adaptierenden Hermeneutik, der es um »die Rettung der Verständlichkeit von Dingen und Texten in neuen Situationen – in sekundären Kontexten« 17 – geht, an die sie sie anpaßt.) Es ist in letzter Instanz dieses Geschäft der Überlieferung, der Distanzierung und Adaptierung, oder, mit Freud zu reden, der »Durcharbeitung« von Vergangenheiten, die immer auch eine Relektüre von Gründungsreferenzen, mit einem Ausdruck von Aby Warburg ein »Schieben der Gestelle« ist, in dem die deutenden Disziplinen auch jenseits traditioneller hermeneutischer Modelle tätig sind. Es ist dieser größere oder weitere Rahmen der Überlieferung, der den einzelnen Deutungsakten (von Gedichten, Gesetzen, Ereignissen oder Symptomen) Grund, Halt und Orientierung verleiht, und der es nicht als beliebig erscheinen lässt, wie, worauf und mit welchem Ziel man deutet. Methodengeschichte ist immer zugleich Institutionengeschichte (und das heißt sie ist niemals neutral oder objektiv, sondern immer in Machtverhältnisse involviert). Es spricht allerdings vieles dafür, dass dieser Rahmen der Überlieferung selbst heute erschüttert ist. 18 Bei näherem Hinsehen erweist er sich nämlich – zumindest was die Philologien betrifft – als das Gefüge einer nationalstaatlich verfassten Textarchitektur, die durch die gegenwärtig sich vollziehenden Prozesse der Globalisierung grundsätzlich in Frage gestellt ist. Damit steht nicht nur zur Disposition, an welche (religiösen, rechtlichen, kulturellen) ›Materialien‹ wir überhaupt noch gebunden sind, sondern auch, wer im Zweifelsfall befugt ist, sie zu deuten, und mit welchen Methoden. Der literaturwissenschaftliche Methodenstreit der 1980er Jahre – um mich hier nur auf die Philologien zu beschränken –, von manchen als »antihermeneutische Wende« verbucht, brach nicht zufällig in dem Augenblick aus, in dem deutsche Germanisten begannen, Marquardt (1981), 124. Marquardt (1981), 126. 18 Fohrmann diagnostiziert an den Nationalphilologien und Rechtswissenschaften gleichermaßen eine »Krise«, die aber nicht primär die »Gegenstände des Fachs«, sondern die »Bezugsrahmen« betrifft, »die sich mit den Gegenständen des Fachs eröffnen lassen. Geht es nicht eigentlich um die krisenhafte Erfahrung – und die Reaktionen darauf – von nationalen Gegenstandsfeldern in weltgesellschaftlichen Bezügen?« (Vgl. Fohrmann [2013],7). 16 17

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französische und amerikanische Theoriemodelle zu importieren. Die von Gerhard Neumann so genannte »poststrukturalistische Herausforderung« 19 wurde jedoch von der deutschen Nationalphilologie bis heute nicht wirklich angenommen (d. h. sie wurde entweder ignoriert oder zu einer postmodernen Ideologie der ›Beliebigkeit des Sinns‹ verwässert). Methodisch führte das zu einem Zustand von beziehungslosem Hyperpluralismus, in dem Komplexität sich nur noch durch Ignoranz und Arroganz 20 (Einschließung in lokale Fachkulturen oder esoterische Theoriezirkel, also in lokaler und personaler Kanonbildung) reduzieren lässt, die aber ihrerseits Legitimationsprobleme aufwirft, weil der Wert (ggf. Mehrwert) des eigenen Ansatzes gegenüber anderen Ansätzen aus Unkenntnis oder Desinteresse nicht mehr dargestellt werden kann oder soll. Mit anderen Worten: Jeder Streit darüber, wie (am besten) zu lesen (oder zu hören) sei, unterbleibt – zum Nachteil der Sache, und letztendlich sogar zum Nachteil von Textualität überhaupt. Die sich beispielsweise im juristischen Abwägungsdenken, aber auch in der Transformation von Literatur- in Kulturwissenschaften und in den Digital Humanities abzeichnende Abwendung vom Text als einem zu lesenden/deutenden ist das, was an der gegenwärtigen Entwicklung der Humanities am meisten Anlass zur Sorge bietet: Ihre Einspeisung in den Verbalismus einer gewaltigen wissenschafts-technischen Objektivation, die es erlaubt, die je eigene Geschichtlichkeit und den je eigenen Tod zu vergessen. Deutung bleibt dennoch selbst wiederholendes Rezitieren oder computergestütztes Durchsuchen von Texten noch darin, dass es Gesagtes – und zwar dieses Gesagte eher als jenes – (erneut) vorzeigt und sich darin ihm ›zuneigt‹. Dass Sprache »Zuneigung« sei, Philologie, entsprechend, »Zuneigung der Sprache zu einer Sprache, die ihrerseits Zuneigung zu ihr oder einer anderen« ist, Philophilie mithin, im »Neigungs-Winkel sprachlicher Existenz« 21 , wie Werner Hamacher definiert hat, mag als späte existenzphilologische Replik auf existenzphilosophische Hermeneutiken anmuten. (»Philologie

Vgl. dazu Neumann (1997). In dieser Hinsicht kaum zu überbieten Reemtsma (2018), 269: »Mögliche Interpretationen, die geschmacklich danebengreifen, auszugrenzen ist keine Frage philologischer Beweisführung, sondern eine sozialer Exklusion. Man steht gleichsam auf und setzt sich an den Nebentisch. Oder druckt sowas nicht.« 21 Hamacher (2010), 26. 19 20

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ist die Passion derer, die sprechen. Sie bezeichnet den Neigungs-Winkel sprachlicher Existenz.« 22 ). Der in dieser Deutung von Philologie enthaltene Verweis auf die Subjekt-, Affekt- und Situationsgebundenheit oder auch schlicht die historische Perspektivität deutenden Sprechens und Schreibens markiert jedoch, trotz aller Differenzen 23 , eine Gemeinsamkeit der Humanwissenschaften als Konjekturalwissenschaften. Lapidar ließe sich diese Gemeinsamkeit so formulieren, dass es nicht ›egal‹ ist (weil es jeweils einen Unterschied macht), wer was wie in welchem Zusammenhang und zu welchem ›Zweck‹ deutet. (Die Unterscheidung zwischen Deutungs- und Entscheidungswissenschaften ist insofern nichtig, als Deutungen Entscheidungen und Entscheidungen Deutungen sind. Darin ruht der unhintergehbar politische, das heißt der unhintergehbar rhetorische Charakter von Sprache.) Die »Anlassgebundenheit rhetorischer Texte überhaupt«, die Michael Auer am Beispiel Hamacher (2010), 22. Denis Thouard sieht die »Antinomie von Recht und Philologie« vor allem in der verschiedenen Temporalität ihrer Deutungen begründet. »Der Richter interpretiert ein Gesetz, um zu einem Urteil zu kommen. Er weiß, dass er sich zu einem gewissen Zeitpunkt entscheiden muss.« Er »verfährt innerhalb einer normativen Ordnung, die ihn befugt, aber auch zwingt, eine Lösung zu finden. Der Rechtsspruch beendet den Streit, indem er die Priorität der normativen Ordnung vor dem besonderen Fall bestätigt. […] Die Philologie dagegen kann sich Zeit nehmen. […] Sie geht bis zum Verstehen der Texte, das eine unendliche Aufgabe ist. Sie schreitet durch Kontroversen, Auseinandersetzungen, die die Gemeinschaft ihres wissenschaftlichen Feldes bezeugen. Sie kann sich auf die grammatischen Normen einer Sprache stützen, was aber nicht reicht, um die Einzigartigkeit eines Werkes zu ergründen. Deswegen wird der Philologe, der sich zur Hermeneutik aufschwingt, versuchen, die Eigengesetzlichkeit eines Kunstwerks oder eines Textes nur aus sich selbst zu entwickeln. Wenn er keinen direkten, intuitiven oder divinatorischen Zugang zu dieser Gesetzmäßigkeit des Werkes in Anspruch nehmen kann, muss er mit bloßen Vermutungen verfahren. Die Philologie ist folglich eine Konjekturalwissenschaft.« (Thouard [2014], 92–93.) Das heißt im Grunde nicht nur, dass es Einzelfallgerechtigkeit im Recht nicht gibt, sondern dass sie im Recht auch gar nicht angestrebt werden kann, insofern sie das Recht in einen unendlichen Prozess verstricken würde. Das richterliche Urteil ›heilt‹ nicht den besonderen Fall, sondern im Urteil heilt die normative Ordnung sich selbst, indem sie ihre Anwendbarkeit sub specie mortalitatis demonstriert. Die Psychoanalyse nimmt insofern zwischen Recht und Philologie eine Mittelstellung ein, als sie nach der Einsicht Freuds zwar ebenso unendlich ist wie der Prozess des Verstehens, ihr jedoch zugleich eine spezifische Zeitlichkeit des Begreifens eignet. Lacan definiert diese als eine intersubjektive Zeitlichkeit, die es von der Reaktion der anderen abhängig macht, wann einer sich davonmacht. Ob die Tür, durch die er zu entkommen hofft, dann auch offen ist, kann er vorher nicht wissen. (Vgl. Lacan, Jacques, [1994], 101– 121.) 22 23

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von Paul de Mans Deutung epideiktischer Lyrik aufgezeigt hat 24 , verweist damit jenseits oder diesseits der besonderen Situationen von Gerichtssaal, Universität, Kirche oder psychoanalytischem Kabinett, diesseits oder jenseits auch von Mündlichkeit und Schriftlichkeit, auf die Tatsache der ›pragmatischen‹ Gebundenheit von Deutung überhaupt. Man könnte sie auch ›Einzelfallgebundenheit‹ nennen, da nur der einzelne Anlass den Riss zwischen Setzung und Bedeutung aufreißt, der das Verlangen nach Deutung überhaupt erst in Gang setzt: Gemessen am Anlass kommt die Deutung immer zu spät oder zu früh, und die Inkompatibilität zwischen Setzung und Bedeutung kann sie schon insofern nicht heilen, als es nicht möglich ist, eine Erklärung für eine Aussage zu geben, die eindeutiger wäre als diese Aussage selbst. Der Bindung an den Anlass korrespondiert so die Beweglichkeit seiner (Be-)Deutung, der »Aufdringlichkeit« einer Sache oder eines Textes ihre »Unzugänglichkeit« 25 . Das führt nun zuletzt auf die Frage nach dem Verhältnis von Deutung und Überlieferung zurück, die oben schon angesprochen wurde, aber anders. Es zeigt sich so nämlich, dass Methodenpluralismus und ›lebensweltlicher‹ Hyperpluralismus weder in Indifferenz noch in eine ›unendliche Dissemination des Sinns‹ führen müssen. Gerade die Unhintergehbarkeit von Pluralismen ruft in die Verantwortung je eigenen Deutens, Unterscheidens und Urteilens, sei es als Richter, als Historiker oder als Literaturwissenschaftler: Verantwortung im und gegenüber dem Einzelfall, hier und jetzt. Das Verhältnis von Deutung und Theorie mag dabei zuletzt allerdings eher topisch als systematisch genannt werden 26 , da es sich in keinem Fall auf das ›Anwenden von Methoden‹ reduzieren lässt: Dies vor allem, weil es für die Anwendung von Regeln selbst wiederum keine Regeln gibt. 27 Dieser ebenso banale wie selten bedachte Sachverhalt bekommt eine heuristische Dimension, wenn man berücksichtigt, dass Gesichtspunkte (Topoi), unter denen ein Fall, ein Ereignis oder ein Text gedeutet werden, etwas anderes sind als Begriffe, unter die sie sich subsumieren lassen. Eher als von der ›Wahrheit‹ oder ›Falschheit‹ einer Deutung kann dann von ihrer ›Angemessenheit‹ oder ›Unangemes-

Vgl. Auer (2017), 189–208. Hamacher (2009), 16. 26 Vgl. Viehweg (1974). 27 Und auch wenn es welche gibt, wie z. B. im Recht, verschieben sie nur das Problem, denn für die Anwendung von Anwendungsregeln gilt dasselbe. 24 25

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senheit‹ die Rede sein, die sich so zwar selbst als ein rhetorisch-hermeneutischer (Meta-)Topos erweist. 28 Er führt nicht aus der Argumentation heraus, indem er sie durch einen Syllogismus beendet, sondern in sie zurück, indem er auch für die Wahl der Gesichtspunkte (und damit für das je eigene Urteil, die je eigene Deutung) eine Begründung verlangt. Wie Lothar Bornscheuer in einer bereits älteren Arbeit 29 gezeigt hat, erschöpft sich topisches Denken und Deuten so keinesfalls im leeren Wiederholen herrschender Meinungen oder überkommener Klischees, sondern bildet als Inventionskunst (Vico) ein wesentliches Relais zwischen Tradition und Innovation, Bindung und Freiheit. Gerade vor dem Hintergrund des gegenwärtigen (Hyper-)Pluralismus der Methoden würde es sich vielleicht lohnen, den Anschluss an die ältere Topik-Diskussion zu suchen und damit vielleicht auch die spezifische Wissenschaftlichkeit der Deutungswissenschaften erneut zu überdenken. Es könnte dann etwa darum gehen, ein offenes, aber nicht grenzenloses Spiel der Anschlussmöglichkeiten zu akzeptieren, das an die Stelle der Vorstellung der Regelanwendung tritt und die Gewissheitsverluste, die mit dem neuen Selbstverständnis des Deutens einhergehen, durch eine Reflexion und Begründung des Einsatzes seiner »Topoi« ersetzt. Nicht um einen ›objektiven Textsinn‹ kann es gehen – dagegen steht schon alleine die konstitutive Ambiguität (nicht nur) poetischer Sprache –, sondern nur um die kritische Aneignung eines Erbes. »Eines ist es, Meinungen der Philosophen festzustellen und zu beschreiben. Ein ganz anderes ist es, das, was sie sagen, und das heißt das, wovon sie sagen, mit ihnen durchzusprechen«, schreibt Martin Heidegger in Was ist das – die Philosophie? 30 Das ›Durchsprechen‹ – das auch ein ›Durchschreiben‹ oder ein ›Durcharbeiten‹ im Sinne Freuds sein kann – ist, gemäß einer Einsicht Jacques Derridas, eine Form des Erbens, das heißt eine Form der Aneignung und Weitergabe von Überliefertem, und zwar nicht nur auf dem Gebiet der Philosophie (in dieser Hinsicht gibt es erstaunliche Konvergenzen zwischen Derrida und Gadamer). Seinem Ruf als ›Nihilist‹ und ›Traditionszerstörer‹ zum Trotz hat niemand so of wie Derrida betont, dass wir Erben sind, Erben einer philosophischen und politischen Tradition, 28 29 30

Limpinsel (2013). Bornscheuer (1976). Heidegger (1956), 31.

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für die wir die Verantwortung zu übernehmen haben. Dieses Erbe ist jedoch niemals einfach lesbar, es ist heterogen, in sich widersprüchlich und zerklüftet. »Ein Erbe versammelt sich niemals«, heißt es in Marx’ Gespenster, es ist niemals eins mit sich selbst. Seine vorgebliche Einheit, wenn es sie gibt, kann nur in der Verfügung bestehen, zu reaffirmieren, indem man wählt. Man muß, das heißt: Man muß filtern, sieben, kritisieren, man muß aussuchen unter den verschiedenen Möglichkeiten, die derselben Verfügung innewohnen. […] Wenn die Lesbarkeit eines Vermächtnisses einfach gegeben wäre, natürlich, transparent, eindeutig, wenn sie nicht nach Interpretation verlangen und diese gleichzeitig herausfordern würde, dann gäbe es niemals etwas zu erben. [Hervorhebung S. L.] Man würde vom Erbe affiziert wie von einer Ursache – natürlich oder genetisch. Man erbt immer ein Geheimnis – »Lies mich!« sagt es, »Wirst du jemals dazu imstande sein?« 31

Würden wir »vom Erbe affiziert wie von einer Ursache«, gäbe es nichts mehr zu interpretieren, nichts zu verstehen und nichts zu kritisieren. Die Geschichte – die Literaturgeschichte ebenso wie die Philosophiegeschichte, die politische Geschichte und die der Geisteswissenschaften – machte sich von selbst, es käme auf das Urteilen und Handeln von Menschen schlicht nicht mehr an. Filtern, Sieben, Kritisieren, Aussuchen unter den verschiedenen Möglichkeiten, die derselben Verfügung innewohnen – kurz und gut: Lesen, Schreiben, Deuten, in diesem Sinne, ist Handeln. Die interpretierende Aktivität, das Finden von Gesichtspunkten, unter denen sinnvollerweise heute zu lesen sei, ist unsere Aufgabe, die sich auch im 21. Jahrhundert nicht erledigt hat.

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Derrida, (1995), 36.

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Über den Wert der exakten Geisteswissenschaften 1 Gerhard Lauer

Auf ein Gemälde mit einem Fisch einzuschlagen, ist kein sozial akzeptiertes Verhalten, weder in Museen noch in Universitäten und auch sonst nicht. Den Vergleich des Einschlagens auf ein Gemälde mit einem Fisch hat die Schriftstellerin AL Kennedy in einem Interview der Zeitung The Guardian gewählt (Lea, 2016), um zu beschreiben, wie sinnvoll es sei, mit dem Computer etwas zu Fragestellungen in den Geisteswissenschaften und Künsten beizutragen. Computergestützte Verfahren können uns nichts Neues über Literatur sagen, im Gegenteil sei das Verarbeiten von Zahlen nicht mehr als eine fehlgeleitete Suche einer orientierungslos gewordenen Geisteswissenschaft. Deutlicher kann eine Kritik kaum ausfallen. Mit dem Einsatz des Computers verliere die Forschungskultur ihr, wie AL Kennedy sagt, »gesundes Verhältnis«, etwas über Literatur und Kunst sagen zu können. Glaubt man Kennedy, dann haben die neuen, computerversessenen Analytiker der Kultur geradezu bizarre Wertungsmaßstäbe, die nichts über Literatur auszusagen vermögen, stattdessen Geschichten in kleine bedeutungslose Einheiten herunterbrechen würden, Verfahren, die bestenfalls geeignet sind, das Schreiben marktgängiger Literatur zu unterstützen, sonst aber keine Einsichten über Literatur und Kunst erbringen können. Die feinen Unterschiede der Subjektivität gehen in den Big Data-Ansätzen des ›Computerpowered Literary Criticism‹ unter. Diese Entwicklung sei, kurz gesagt, schlicht krank, so Kennedy. Schärfer, weil pathologisierend, lässt sich das Unbehagen in der digitalen Wissenschaftskultur kaum formulieren. AL Kennedy ist mit ihrer so entschiedenen Kritik nicht allein. Stanley Fish (2012), der große alte Mann der rezeptionstheoretisch informierten Anglistik, ist nicht weniger harsch in seinem Urteil über Der Beitrag ist die überarbeitete Fassung meiner Antrittsvorlesung in der Aula der Universität Basel am 22. Mai 2018.

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die Digital Humanities, das er ebenfalls publikumswirksam in der New York Times veröffentlicht hat. Die computer-orientierten Geisteswissenschaften seien ein verkapptes Versprechen auf die Unsterblichkeit, und sie kultivieren einen naiven Glauben an die politische Macht von Computer und Internet. Andere wie Adam Kirsch (2014) beklagen eine Banalisierung der humanistischen Gelehrsamkeit, seit der Computer auch in den Geisteswissenschaften eine Rolle spielt. Wieder andere wie Daniel Allington, Sarah Brouillette und David Golumbia (2016) befürchten, mit den Zahlen und Computern käme ein weiterer Akteur der neoliberalen, disruptiven Technikgläubigkeit des Silicon Valley auch in die Geisteswissenschaften. Und wieder andere wie Michael Hagner und Caspar Hirschi (2013) kritisieren den überzogenen Anspruch der Digital Humanities auf eine Neuorganisation des gesellschaftlichen Wissens. 2018 hat die Frankfurter Allgemeine Zeitung (2018) gleich zwei ganze Seiten den neuen Entwicklungen in den Geisteswissenschaften unter dem Titel »Digitale Geisteswissenschaften – Bilanz einer Gründerzeit« gewidmet, unsicher, ob das ein eben gründerzeitlicher Aufbruch sei oder doch nicht positivistische Stoffhuberei, die der etablierten Hermeneutik die Deutungshoheit über die Kultur streitig mache. Die Zahl solcher und ähnlicher Kritiken lässt sich leicht erhöhen. 2019 ist gar die Rede von »Digital Humanities Wars«, als 2019 mit Artikeln im Critical Inquiry und in der Chronicle Review of Higher Education gleich eine Reihe von Literaturwissenschaftlern darum gestritten haben, ob sich der Aufwand computer-gestützter Methoden für das Fach überhaupt lohne und nicht nur banale Ergebnisse schlechter Literaturwissenschaft hervorbringe (Da, 2019a und b). Es braucht keinen Scharfsinn, um zu erkennen, dass hier je über ganz unterschiedliche Dinge gesprochen wird. AL Kennedy hat die kreativen Schreibkurse im Blick, Stanley Fish die digitalen Publikationswege, Adam Kirsch die ideologische Konstruktion, Allington et al. den Neoliberalismus, Hagner und Hirschi das Lob der gelehrten Tugenden, die Autoren der Frankfurter Allgemeinen Zeitung und des Critical Inquiry bzw. der Chronicle Review of Higher Education die Verteidigung ihrer hergebrachten Disziplinen gegen mögliche Veränderungen. Gemeinsam ist der Kritik die rhetorische Konventionalität der Argumente, die mal Krankheit, mal Neoliberalismus oder mal Positivismus sagt und damit in Bahnen des topischen Gegensatzes von warmer, verstehender Kultur gegen kalte, rationale Zivilisation verläuft, deren problematische Logik schon Georg Bollenbeck 153 https://doi.org/10.5771/9783495820377 .

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(1994) in seinem Buch Bildung und Kultur. Glanz und Elend eines deutschen Deutungsmusters so erhellend aufgeschlüsselt hat. Das Unbehagen in der digitalen Kultur nutzt die Gemeinplätze der Kulturkritik, um die Frage abzuwehren, ob die Geisteswissenschaften auch andere sein können, mehr Möglichkeiten haben oder haben sollten, als sie in ihrer etablierten Form sich selbst zutrauen. Bei aller Entschiedenheit im Ton und Gewissheit in der Sache, bei aller verzopften Topik der Modernisierungskritik und Lust an der kulturkritischen Selbstvernichtung der Geisteswissenschaften, die sich in solchen und ähnlichen Kritiken der Digital Humanities findet, lohnt es sich, doch deren Argumente ernst zu nehmen. Sie sagen uns etwas über den Stand und die Möglichkeiten der Geisteswissenschaften. Die Debatte berührt gleich mehrere Aspekte im Selbstverständnis der Geisteswissenschaften. Ich greife einen, wenn nicht den zentralen Aspekt in dieser Debatte heraus, das schwierige Verhältnis der exakten und der inexakten Wissenschaften zueinander.

I.

Grimms Wörter: »genau« und »ungenau«

Die Stunde der gefühlten Maschinenstürmerei ist nicht unbedingt geeignet, Argumente sorgfältig abzuwägen. Tatsächlich ist der Streit um die exakten und inexakten Geisteswissenschaften viel älter und kaum ein Argument so neu, wie es auftritt. Auf dem Frankfurter Germanistentag 1846, einer damals höchst politischen Veranstaltung im Vorfeld der 48er Revolution, sprach Jacob Grimm Über den Werth der ungenauen Wissenschaften. Die Begriffe »ungenaue« und »genaue« Wissenschaften sind bei Grimm Übersetzungen der französischen Termini »science inexacte« bzw. »science exacte« und gruppieren die Wissenschaften schon damals, 1846, in etwa so, wie wir das auch heute tun. In den Worten Jacob Grimms: Zu den genauen werden bekanntlich die gerechnet, welche alle Sätze haarscharf beweisen: Mathematik, Chemie, Physik, alle deren Versuche ohne solche Schärfe gar nicht fruchten. Zu den ungenauen Wissenschaften hingegen gehören gerade die, denen wir uns hingegeben haben und die sich in ihrer Praxis so versteigen dürfen, daß ihre Fehler und Schwächen möglicherweise lange Zeit gelitten werden bis sie in einem steten Fortschritt aus Fehlern und Mängeln immer reiner hervorgehen: Geschichte, Sprachforschung, selbst Poesie ist eine allerdings ungenaue Wissenschaft. Ebensowenig Anspruch auf volle Genauigkeit hat das der Geschichte anheim ge-

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fallene Recht und ein Urteil der Jury ist kein Rechenexempel, sondern nur schlichter Menschenverstand, dem auch ein Irrtum mit unterläuft. (Grimm 1884)

Jacob Grimm fügt noch hinzu: »Im Krieg hat den exakten Grundsatz die Artillerie zu vertreten, wogegen von der Kavallerie nicht verlangt wird, es mit dem Einhauen, wenn sie dazu kommt, genau zu nehmen.« Man sieht: Für Jacob Grimm haben beide Wissenschaften, die genauen und die ungenauen, ihren Wert, einen freilich verschiedenen Wert. Die Sprachwissenschaft, Grimms eigenes Fach, gewinnt ihren Wert aus dem Umstand, dass »alle Erfindungen, die das Menschengeschlecht entzücken und beseligen, […] von der schöpferischen Kraft einer darstellenden Rede ausgegangen« sind. Die ungenauen Wissenschaften seien daher näher am Herzen des Menschen. Die genauen Wissenschaften sind dagegen wertvoll, denn sie vermögen aufgrund ihrer Präzision die Stoffe der Natur zu trennen und neu zusammen zu fügen. »Alle Hebel und Erfindungen«, schreibt Jacob Grimm, »die das Menschengeschlecht erstaunen und erschrecken, sind von ihnen allein ausgegangen.« Anders gesagt: Die genauen Wissenschaften bauen die Welt um. Sie können das, weil sie »haarscharf beweisen«. ›Genau‹ meint bei Grimm das präzise durchgeführte Experiment etwa in der Chemie, die streng logische Taxonomie der botanischen Klassifikation in der Nachfolge Linnés, Entdeckung neuer Arten von Polythalamien und Bacillarien, also die Entdeckung der Kopffüßler und Kieselalgen, oder die Stringenz der Mathematik. ›Ungenau‹ umschreibt nach Grimm hingegen die Gruppe von Wissenschaften, die unserem Herzen näherstünden, weil ein neuaufgefundenes Wort, ein Lied oder historischer Zusammenhang uns mehr berühre, obgleich diese Gruppe Ungenauigkeiten, Fehler und Mängel länger duldet. Sie trägt daher mehr zur Bildung der Nation bei als die genauen Wissenschaften und sind daher bis heute in den Feuilletons Teil öffentlicher Debatte. Man sieht, dass Grimm die Wörter ›genau‹ und ›ungenau‹ sowohl zum Beschreiben der Unterschiede in der Methode wie zum Erfassen der Unterschiede in der Wirkung und damit der gesellschaftlichen Stellung der beiden Wissenschaftsgruppen nutzt. Grimms Rede von 1846 ist freilich schon anzumerken, dass ihm der Siegeszug der Naturforscher Unbehagen bereitet. Er nennt ihre Fähigkeiten »erschreckend« und glaubt, dass die Masse der Jugend das seltene Wort weit weniger schätzen würde als die Experimente 155 https://doi.org/10.5771/9783495820377 .

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der Chemiker und Physiker und deren Anwendungsmöglichkeiten. Der große Haufen renne nach der Physik, behauptet Grimm. Was Grimm schon 1846 wahrnimmt, das ist eine Art Gefälle hin zu den exakten Wissenschaften. Schon vor mehr als 150 Jahren schien es so, als habe die Entwicklung der Wissenschaften eine Richtung, die Richtung hin zu den genauen Wissenschaften. Grimm selbst spricht von »stetem Fortschritt«, spricht davon, dass auch die ungenauen Wissenschaften im Lauf der Zeit »ihre Fehler und Schwächen möglicherweise lange Zeit gelitten werden bis sie in einem steten Fortschritt aus Fehlern und Mängeln immer reiner hervorgehen«. Genauigkeit und Reinheit sind hier austauschbare Vokabeln. Dieses Gefälle hin zu den genauen Wissenschaften scheint auch Jacob Grimm eine historische Notwendigkeit zu sein, als wäre es nur eine Frage der Zeit, bis sich auch sein Fach, die Sprachwissenschaft, unter die exakten Wissenschaften zählen werde. Das wäre Jacob Grimm freilich nicht ungelegen gekommen. Denn er selbst wie sein Bruder Wilhelm haben mit ihren Editionen und lexikographischen Projekten wesentlich dazu beigetragen, die Philologie als eine exakte Disziplin zu betreiben. Wilhelm Grimm spricht mit Blick auf das gemeinsame Wörterbuch-Vorhaben der Brüder davon, es sei ihre Absicht eine »Naturgeschichte der einzelnen Wörter« zu verfassen (Grimm 1881, 513). Und Jacob Grimm wendet sich gegen die ideelle und ästhetisch vorgehende Literaturwissenschaft seiner Zeit, wenn er die Literaturgeschichte von der sprachlichen Verfasstheit der Werke her aufzubauen verlangt, wenn auch mit der Folge, dass im 19. Jahrhundert und noch lange darüber hinaus, das Studium der Sprache und Literatur getrennt betrieben wurde (Rosenberg 1986). Die Brüder haben, wenn auch mit Unterschieden zwischen dem eher spekulativen Jacob Grimm und dem vorsichtiger arbeitenden Wilhelm Grimm, mit ihren ›Deutschen Studien‹ Maßstäbe für das genaue Arbeiten in den Philologien gesetzt (Bluhm 2005). ›Strenge‹ als Variante von ›Exaktheit‹ ist nicht zufällig einer ihrer Leitbegriffe. Zusammen mit Karl Lachmann und Georg Friedrich Benecke haben sie die Professionalisierung der Philologie vorangetrieben und das noch erkennbar vormoderne Sammeln in eine strenge und eben exakte Philologie überführt. Genauigkeit ist daher gerade auch für die Grimms ein methodisches Ideal, das sie nicht zuletzt in Abgrenzung zu der kulturnationalen und volkspädagogischen Ausrichtung der Philologie eines Friedrich von der Hagens und Gustav Büschings kritisch in Stellung 156 https://doi.org/10.5771/9783495820377 .

Über den Wert der exakten Geisteswissenschaften

gebracht haben. Bei genauerer Betrachtung sind die Brüder Grimm nicht die Vertreter einer ungenauen, eher gemütvollen Philologie, im Gegenteil. Fehler und Schwächen ihrer Konkurrenten wie Hagen und Büsching haben sie in nur zu oft ungewöhnlich scharfer Form kritisiert und keineswegs toleriert. Haarscharf zu beweisen, war ihre philologische Praxis. Der Gegensatz zwischen den exakten und inexakten Wissenschaften ist also schon bei den Brüdern Grimm kein wirklicher Gegensatz und die Rede von den warmen Geisteswissenschaften und den kalten Naturwissenschaften eher eine Strategie nach außen, dem eigenen, strengen Wissenschaftsverständnis Legitimität zu verschaffen. Die Grimms werden daher mit Recht gerade wegen ihres strengen Methodenideals unter die Gründungsfiguren gezählt, die die Philologie in eine Disziplin transformiert haben, in ein wissenschaftliches Feld, das einen gemeinsamen Gegenstand hat, ein Grundwissen seinen Mitglieder abfordert, Problemstellungen definiert, die abzuarbeiten legitim sind, Verfahren ausweist, die zu verwenden sind und nicht zuletzt auch Karrierestrukturen etabliert, die festlegen, wer als Philologe zählen darf, von der Hagen nicht, auch nicht Büsching, die exakten Grimms mit ihrem grammatisch grundierten Verständnis der Philologie dagegen schon. In dieser Traditionslinie kann dann 1921 Ulrich Wilamowitz-Moellendorff eine Geschichte der Philologie schreiben, in deren Mittelpunkt ein exaktes Ideal einer an der Erforschung der Grammatik orientierten Disziplin der Philologie steht (Wilamowitz-Moellendorff 1921). Dieser philologischen Exaktheit steht auch nicht entgegen, dass bei den Grimms wie bei Wilamowitz-Moellendorff noch die strengste Textkritik der Wiedergewinnung einer historisch vergangenen Größe dient. Die Brüder Grimm verstanden ihre Arbeit als exakte Wissenschaft, nicht weniger, so romantisch die Kontexte dieser Strenge bei den Grimms auch sein mögen. Das war Mitte des 19. Jahrhunderts. Seitdem ist das Verhältnis zwischen den beiden Wissenschaftsgruppen nicht besser geworden und die Diskussionslage so widersprüchlich wie schon bei Jacob und Wilhelm Grimm. Redeweisen von den zwei Kulturen (Snow 1959) sind in verschiedenen Variationen bis heute gängig, wenn auch die Wertungen zumeist diametral auseinandertreten, wie AL Kennedys polemischer Vergleich zwischen computergestützten Methoden und Vandalismus anzeigt. Für die einen sind die inexakten Wissenschaften keine Wissenschaften, für die anderen sind die exakten Wissenschaften unreflektierte Technokratie. Das ist die topische Aufteilung 157 https://doi.org/10.5771/9783495820377 .

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der Diskussion von Jacob Grimm bis AL Kennedy. Und dabei läuft nur am Rande besprochen mit, dass die exakten Wissenschaften am Ende auch die Regeln für die Geisteswissenschaften bestimmen werden. Exakte Geisteswissenschaften gelten als Drohung den einen oder als Versprechen den anderen, je nachdem wo man steht und welche argumentative Strategie man verfolgt. Jacob Grimm wollte sein philologisches Genauigkeitsideal legitimieren, das bei näherem Hinsehen gar nicht in die Opposition von exakt und inexakt passt. AL Kennedy und andere Kritiker der computergestützten Philologie verteidigen ihre Disziplinen und damit ihre Interessen, ohne dass sie sich deshalb als ungenaue Wissenschaften verstehen würden. Ungenau noch inexakt will eigentlich niemand in den Wissenschaften sein. Man muss diese widersprüchliche Rhetorik gegen die exakten Geisteswissenschaften oder gegen die humanités numériques, wie sie im Französischen nicht zufällig genannt werden, ihrer kulturkritischen Konventionalität entkleiden, um besser zu sehen, dass die Differenz in der Gegenstandsbestimmung und Methode, hier inexakt, dort exakt, mit einer unterschiedlichen Reichweite der wissenschaftlichen Aussagefähigkeit verknüpft ist. Wer die Naturgeschichte der Wörter untersucht wie die Grimms, beansprucht für seine sprachgeschichtliche Forschung eine hohe Generalisierbarkeit der Befunde, ja sogar den Anspruch, Gesetze, etwa solche des Sprachwandels, aufgedeckt zu haben. Wer dagegen die Besonderheit des einzelnen Kunstwerks und die subjektive Kunstfertigkeit der Reflexion über Literatur intendiert, betont gerade die Individualität der ästhetischen Erfahrung und der literarischen Hermeneutik. Beide akzentuieren dabei die Komplexität ihres Gegenstandes, wenn auch unterschiedlich, und leiten daraus den Anspruch ab, nur gerade mit dieser, ihrer Methode angemessen exakt zu sein. Anders gesagt: Abhängig von der jeweiligen Auffassung über die Komplexität des Gegenstandsfeldes werden Aussagen in den Geisteswissenschaften stärker oder schwächer generalisiert. Diltheys These, die verstehenden Geisteswissenschaften seien als Disziplinengruppe innerhalb der Wissenschaften den nomothetischen entgegenzusetzen, ist daher systematisch wie fachgeschichtlich ungenau. Eher trifft zu, dass es in Abhängigkeit von der Konzeption des Gegenstandes verschiedene Begriffe der exakten Wissenschaften gibt. Auch die Interpretation eines einzelnen Gedichts versteht sich als exakt, weil ihrem Gegenstand allein angemessen und daher bewusst nicht generalisierbar in ihrem Ergebnis. Umgekehrt versteht sich die Formulierung eines Gesetzes für den 158 https://doi.org/10.5771/9783495820377 .

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Lautwandel als exakt, weil ihrem Gegenstand der Sprache in ihrer Vielfalt angemessen und daher gerade generalisierbar in einem Lautgesetz. Man sieht, dass der Streit um die Exaktheit in den Geisteswissenschaften nicht erst mit dem Aufkommen von Computer und Internet geführt wird, und das zumeist argumentativ schief. Der Streit hat nur aber dann Sinn, wenn es eine regulative Idee der Exaktheit gibt, an der sich die Parteien abarbeiten. Zunächst lohnt sich festzuhalten, dass die Grimms nur ein, wenn auch prominentes Beispiel dafür sind, dass ›exakte Geisteswissenschaften‹ kein Oxymoron ist, ja für die Brüder Grimm sogar mehr als eine regulative Idee war. Es war ihnen ein Ideal.

II.

Die Geburt der exakten Methode aus dem Geist des Heiligen

Dieses Ideal hat eine Geschichte und ist weit älter als die Brüder Grimm. Es war zu keiner Zeit eine Erfindung der Philologen des 19. Jahrhunderts (Turner 2014). Vielmehr steht die Idee am Anfang der neuzeitlichen Wissenschaften, wenn sie nicht noch älter ist. Wie wir bei den Grimms und in den gegenwärtigen Debatten um die Legitimität exakter Geisteswissenschaften schon gesehen haben, setzt die gängige Rhetorik voraus, dass die Genauigkeit allein bei den Natur-, Lebens- und Technikwissenschaften zu finden sei und zu den Geisteswissenschaften nicht passe. Exakte Geisteswissenschaften sei ein Oxymoron. Zur Begründung dieser These verweist man auf die wissenschaftsgeschichtlichen Zusammenhänge, als im 16. und 17. Jahrhundert die durch Beobachtung und Messung erlangte, objektivierende Naturerkenntnis aufkam und um die Mitte des 19. Jahrhunderts bestimmend wurde (Daston/Galison, 2007). Instrumente wie Teleskop oder Mikroskop und vor allem die Mathematisierung der Erkenntnis hatten damals zweifellos zur Durchsetzung eines neuen, eben an der genauen Beobachtung und formalen Beschreibung von Naturphänomenen orientierten Wissenschaftsideals beigetragen. Theorien, Modelle und systematisch angelegte Experimente gehören seitdem zu dem Begriff und Phänomen der exakten Wissenschaften, etwas, was den Geisteswissenschaften auf den ersten Blick zu fehlen scheint. Ihre Erkenntnisse haben nicht denselben Objektivitätsanspruch wie in den Naturwissenschaften. 159 https://doi.org/10.5771/9783495820377 .

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Die typisierte, wenn nicht stereotypische Aufteilung in exakte Naturwissenschaften und inexakte Geisteswissenschaften ist aber schon wissenschaftsgeschichtlich kaum haltbar, wie der Wissenschaftshistoriker Stephen Gaukroger in seinen magistralen Studien zum Aufstieg der modernen wissenschaftlichen Kultur gezeigt hat. Ihm war aufgefallen, wie eng der Aufstieg der modernen, präzise beobachtenden Wissenschaften mit dem konfessionellen Zeitalter zusammenfällt, jenem Zeitalter, in dem die Religion eine dominierende und zugleich verheerende Rolle gespielt hat (Gaukroger 2006, 2010, 2016). Gaukrogers Verweis ist aufschlussreich, weil er die Ausrichtung der Wissenschaften am Ideal der Exaktheit gerade auch für die Fächer belegen kann, die sich heute gerne als ungenaue verstehen. Denn eng mit der Konfessionalisierung, der Durchdringung der Gesellschaft mit mehr Religion, hängt die Entstehung gleich einer Reihe sich als exakt verstehender Wissenschaften zusammen, die heute unter die historisch-hermeneutischen Fächer gezählt werden, die Diplomatik, also Urkundenkunde etwa, die Sphragistik, die Siegelkunde oder auch die Paläographie als Wissenschaft von den alten Schriften. Sie entstehen in einem religiös aufgeladenen Umfeld, bei dem sich die verschiedenen Bekenntnisse und Orden darin überboten haben, nachzuweisen, dass sie jeweils Recht haben und die anderen irrgläubigen Meinungen anhängen (Sawilla 2009). 1675 erschien Daniel Papebrochs Propylaeum antiquarium circa veri et falsi discrimen in vetustis membranis, eine bis dahin unerhört präzise Unterscheidung echter von falschen Manuskripten. 1681 folgte Jean Mabillon mit seiner bahnbrechende Studie De re diplomatica. Damit war die neue Wissenschaft der exakten Bestimmung von Urkunden begründet. Nicht Vorurteil, sondern die objektivierende Untersuchung bis in die Materialität der Objekte sollte die wissenschaftliche Arbeit anleiten, in der Absicht, haarscharf zu beweisen, dass etwa die Karmeliter Unrecht hätten, wenn sie ihre Ordenstradition auf den Propheten Elias zurückführten, oder nachzuweisen, dass die Knochen in den Katakomben von Rom nicht die Gebeine von Heiligen seien. Man überbot sich gegenseitig in der wissenschaftlichen Genauigkeit, mit der der jeweils anderen Seite nachgewiesen wurde, falschen Evidenzen aufzusitzen. Das fügt sich in eine Zeit ein, in der Exaktheit der Beobachtung ein den Wissenschaften gemeinsames Ideal war. Emblem der ersten wissenschaftlichen Akademie, der 1603 gegründeten Accademia dei Lincei, war nicht zufällig der Luchs, dem traditionell eine besonders scharfe Sehfähigkeit zugeschrieben (Freedberg 2002). Zu 160 https://doi.org/10.5771/9783495820377 .

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deren Mitglieder zählten der Physiker Galileo Galilei ebenso wie der Dramatiker Giambattista della Porta. Der neue Geist der exakten Wissenschaften wird vielleicht nirgends so deutlich wie in dem größten Editionsvorhaben, das seit Menschengedenken unternommen wurde. Ich meine die Acta Sanctorum, die Akten der Taten der Heiligen. Wenn es um das Heilige geht, dann geht es gleich um fast alles, und Exaktheit ist der methodische Weg, das Heilige vom Unheiligen zu scheiden. Weil das Unterscheiden aber eine schwierige Aufgabe ist, erstreckt sich die Erarbeitungsgeschichte dieser Edition über mehr als 300 Jahren. Genauer konnte eine wissenschaftlich fundierte Übersicht über das Leben und die Taten der Heiligen kaum angelegt sein. Ein solches Unternehmen brauchte Methoden der Objektivierung, die es bislang so nicht gab, eben Diplomatik, Sphragistik oder Paläographie. Man war auf peinlich genaue Untersuchung der Manuskripte angewiesen, wenn man die falschen von den richtigen Heiligen unterscheiden wollte. Exaktheit und möglichst vorurteilsfreie Objektivität waren und sind eine Forderung auch an die Geisteswissenschaften, und das seit mehr als 400 Jahren. Die systematisierte und objektivierende Beobachtung kultureller Artefakte wie Handschriften gleicht in ihrem Methodenideal der systematisierenden Untersuchung der Naturphänomene und war schon seinerzeit nicht weniger rigoros. Es ist daher kein Zufall, dass die erste computergestützte Edition eine zum Werk des Hl. Thomas und sein Editor ein Jesuitenpater ist, Pater Roberto Busa. Im Jahr 1949 konnte Pater Busa Thomas J. Watson, den Begründer von IBM, davon überzeugen, dass Computer geeignet wären, eine kritische Edition des Aquinaten zu ermöglichen, basierend auf der genauesten Konkordanz, die damals denkbar war und alle Wörter, insgesamt 11 Millionen Lemmata, einschließen sollte. Busas Edition steht in der konfessionellen Tradition der exakten Geisteswissenschaften und wurde so zu der ersten Anwendung eines Computers auf Texte (Jones 2016). In derselben konfessionell geprägten Traditionslinie der exakten Wissenschaften erschien 1965 die erste Doktorarbeit in den gerade entstanden Computerwissenschaften, geschrieben in CDC FORTRAN 63 von einer Frau und Nonne, Schwester Mary Kenneth Keller (Keller 1965; Gürer 2002), eine der Entwicklerinnen der Programmiersprache BASIC. Hier, bei Pater Busa und Schwester Mary, kam keiner auf die Idee, exakte Methodik mit dem Einschlagen auf Gemälde zu vergleichen. Geisteswissenschaften konnten exakt sein und waren das selbstverständlich, 161 https://doi.org/10.5771/9783495820377 .

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nicht zuletzt aus Gründen der konfessionellen Tradition der exakten Wissenschaften. Man lernt aus alledem, dass die Geschichte der exakten Wissenschaften komplizierter ist, als es selbst Jacob Grimm angenommen hat, und Ideale der Exaktheit und Objektivität keineswegs auf die Naturwissenschaften beschränkt sind. Rens Bods New History of the Humanities von 2016 hat diese andere Geschichte der Geisteswissenschaften aufgeschlüsselt und gezeigt, wie sehr die Suche nach Mustern und Prinzipien in der Kultur die Geschichte der Geisteswissenschaften bestimmt hat, und dass somit exakte Methoden nicht erst mit dem Computer aufgekommen sind. Sich von Vorurteilen, gerade auch religiösen, aus Gründen der Religion frei zu machen, zwischen konkurrierenden Behauptungen unterscheiden zu können und die Zusammenhänge so genau wie möglich darzustellen, sind wissenschaftliche Ideale vor der Unterscheidung in Geistes- und Naturwissenschaften. ›Exakte Geisteswissenschaft‹ ist also schon seit den Tagen Papenbrochs und Mabillons eine in der Geschichte der modernen Wissenschaften begründete Zusammenstellung und kein Vandalismus. Gegen den Befund, dass eine exakte Methodik auch in den Geisteswissenschaften sinnvoll sei und darum auch immer wieder in den Geisteswissenschaften Anwendung gefunden hat, wenden AL Kennedy oder auch zuletzt Nan Z. Da (2019b) ein, dass diese Exaktheit das je Besondere und historisch Einmalige reduziere, weil sich die individuelle Komplexität nicht formal erfassen lasse und nicht durch Algorithmen verstanden werden könne. Nur eine ganzheitliche Methodik der Interpretation könne dem Besonderen eines literarischen Werks näherungsweise gerecht werden, so sagen sie. Literatur sei so komplex, dass alles Rechnen bestenfalls Trivialitäten zu Tage fördern könne. Mit dieser Annahme über den Gegenstand der Geisteswissenschaften kommen sie freilich in eine argumentative Begründungspflicht, die ihre Kritik nicht einzuholen vermag. Denn Kennedy oder auch Da begründen nirgends, warum Literatur von einer so anderen Komplexität sei, dass etwa die Untersuchung des Gehirns oder die Untersuchung der Gesellschaft damit überhaupt nicht verglichen werden könne. Während sie zugestehen, dass Prozesse im Gehirn oder in der Gesellschaft mit exakten, computergestützten Methoden untersucht werden können, solle dies nicht für die Literatur oder die Geschichte gelten. Warum die Literaturwissenschaft oder Geschichtswissenschaft mit einer so ganz anderen Komplexität ihres Gegenstan162 https://doi.org/10.5771/9783495820377 .

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des zu tun hat als etwa die Lebenswissenschaft oder die Sozialwissenschaften, sagen Kennedy und die ihr zustimmen nicht. Ihre These von der singulären Komplexität gerade auch der Literatur ist schlicht eine Behauptung ohne Begründung, wie die Kritiker dieser Behauptung mit Recht eingewandt haben (Herrmann u. a. 2019; Jannidis 2019). Tatsächlich übernehmen Kennedy, Da und andere in den gegenwärtigen Debatten um die Möglichkeiten der Digital Humanities für ihre Behauptungen nur ältere Thesen vor allem von Wilhelm Dilthey, der große Teile der Geisteswissenschaften aus seiner Theorie definitorisch ausgeschlossen hat, etwa die Stemmatologie, die im 19. Jahrhundert vielfach genutzt wurde, um Abhängigkeiten und Verwandtschaften von Texten oder Sprachen so präzise wie möglich darzustellen, Verfahren, die gerade wegen ihrer Exaktheit Einfluss genommen haben auf die Genetik und Kladistik im 20. Jahrhundert, namentlich auf Francis Crick, James Watson und Rosalind Franklin und ihr Modell der DNA-Doppelhelix. Ausgeschlossen waren bei Dilthey auch die erheblichen Bemühungen um eine Verwissenschaftlichung gerade auch der Literaturwissenschaft. Denn schon der Begriff der Literaturwissenschaft geht auf Ernst Elsters 1897 erschienenen ersten Band Prinzipien der Literatturwissenschaft zurück (Elster 1897/1911), der an zwei exakten Wissenschaften seiner Zeit Maß genommen hat, um statt von Literaturgeschichte von Literaturwissenschaft sprechen zu können. Die zwei Disziplinen, an denen Elster die Literaturwissenschaft programmatisch orientiert hat, waren die empirische Psychologie seines Lehrers Wilhelm Wundt (Barner 1995) und die Schule der Junggrammatiker, besonders Hermann Pauls Prinzipien der Sprachgeschichte und die quantitativen Linguistik Eduard Sievers (Best 2009). Bei Dilthey wie bei seinen gegenwärtigen Nachfolgern fehlt auch der Verweis auf Mathematiker wie August de Morgan, der die Autorschaft der Paulus-Briefe anhand von relativen Silbenlängen und Satzlängen zu bestimmen versucht hat oder die verwandten Ansätze von Thomas Corwin Mendenhall, um die umstrittene Autorschaft zu klären, wer Shakespeares Werke geschrieben hat, noch finden die Bemühungen des Altphilologen Wincenty Lutosławski, mit quantifizierenden Ansätzen die Ordnung der platonischen Dialoge zu ermitteln, bei Dilthey und seinen Nachfolgern Beachtung, oder gar die berühmte, weil bis heute für die Geschichte der Stochastik bahnbrechende Arbeit von Andrej Markov von 1913, die die Übergangswahrscheinlichkeiten von einem gegebenen Buchstaben zum nächsten und jedem weiteren Buchstaben zu 163 https://doi.org/10.5771/9783495820377 .

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berechnen versucht hat und das anhand von Alexander Puschkins Versroman Eugen Onegin. Die Markov-Ketten haben dann bekanntlich Claude Shannon 1948 inspiriert, aleatorische Literatur aufgrund von Berechnungen der Entropie im Übergang von gegebenen Worten zu nachfolgenden, unbekannten Worten zu errechnen (Grzybek 2006). Die These von der singulären Komplexität des geisteswissenschaftlichen Gegenstandsfeldes ist also weder historisch noch systematisch zu halten, sondern nur die Fortschreibung der historischen Verkürzungen durch Wilhelm Dilthey.

III. Das Lob der formalen Exaktheit Das Unbehagen an den exakten Geisteswissenschaften, das zu den aufgezeigten historischen wie systematischen Unstimmigkeiten in der Argumentation gegen die exakten Geisteswissenschaften und gegenwärtig vor allem mit Blick auf die Digital Humanities führt, hat wesentlich mit einer Eigenheit dieser Ansätze zu tun, ihrem Formalismus. Tatsächlich arbeiten die Digital Humanities etwas anders als die eher hermeneutischen Geisteswissenschaften. Sie modellieren Fragestellungen (Flanders/Jannidis, 2019). Modellierung meint das Formalisieren von Fragestellungen, das es erst erlaubt, mit maschinengestützten Methoden und statistischen Verfahren zu arbeiten. Schon vor mehr als einem halben Jahrhundert hatte Pater Busa die Fragestellung seiner Forschung, was der Doctor angelicus mit der Präsenz Gottes in der Welt meint, in das Verfahren der Erstellung von Wortlisten zerlegt, man kann auch sagen: reduziert. Von der Präsenz Gottes zur Konkordanz ist ein methodisch weiter Weg der Modellierung einer Fragestellung zu gehen, den so hermeneutische Ansätze nicht gehen würden. Doch Busa hatte gute Gründe gerade diesen Weg einzuschlagen. Als genauer Philologe war ihm aufgefallen, dass die Bedeutung der großen, bedeutungstragenden Worte an den kleinen, den Funktionsworten hängt, etwa in Zusammenstellungen wie »in praesentia« statt nur das Nomen »praesentia«. Er hat deshalb in seiner Werkkonkordanz des Hl. Thomas den kleinen Worten ebenso viel Aufmerksamkeit geschenkt wie den großen, bedeutungstragenden, und hat versucht alle Wörter im Werk des Hl. Thomas zu zählen. Weil das sehr viele Wörter sind, die ein Mensch nicht überblicken kann, hat er begonnen den Computer zu verwenden. Die Lochkarten haben ihm geholfen, die Wörter in ihrem 164 https://doi.org/10.5771/9783495820377 .

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jeweiligen Zusammenstehen exakt zu zählen. Damit hat Busa sein Forschungsproblem in die für die exakten Wissenschaften so typischen kleinen, formal genau unterschiedenen Arbeitsschritte zerlegt, bevor er nach der Auszählung seine Befunde Schritt für Schritt wieder zusammengeführt hat. Denn auch das Zählen braucht das Interpretieren. Beides gehört zusammen, zumindest für die exakten Geisteswissenschaften. Ein anderes Beispiel für die Ergänzung von formaler Modellierung und Interpretation ist die sogenannte Morellische Methode. Damit bezeichnet man die von dem italienischen Kunstkritiker, Arzt und Politiker Giovanni Morelli erfundene Methode, die Werke der italienischen Kunst nicht anhand eher unscharfer Größen wie Tizians Komposition oder Raffaels Ausdruck zu erfassen, sondern anhand kleiner Details (Lermolieff 1880). Auf die Frage, was den Stil Tizians oder Raffaels ausmache, gebe die Malweise der Hände oder der Ohren verlässlicher Auskunft, so Morelli, als es die damals herkömmlichen Verfahren der Kennerschaft vermocht haben, die das Bild als Ganzes interpretiert. Die Untersuchung der Malweisen brauche die kleinschrittige Zerlegung des Konzepts Stil in einzelne, genau beobachtbare und damit auch messbare Größen. So vorzugehen setzt voraus, dass Kunstwerke wie die Bilder Tizians oder Raffaels nicht kategorial unerreichbar komplex sind. Im Gegenteil nimmt Morelli an, dass Komplexität modelliert werden kann, in dem man sich formalisierbaren Details zuwendet, nicht viel anders als es die Bollandisten schon im 17. Jahrhundert getan haben, wenn sie Manuskripte unterschieden haben oder Roberto Busa, wenn er die Philosophie des Aquinaten in zählbare Wörter zerlegt hat. Mehr als hundert Jahre nach Morelli und etwa ein halbes Jahrhundert nach Busa hat der Anglist John Burrows in seinen bahnbrechenden Studien zu Jane Austens Romanen, beginnend mit seinem Buch Computation into Criticism von 1987, methodisch ähnlich wie Morelli oder Busa das komplexe Phänomen des literarischen Stils so modelliert, dass er eine formalisierbare Eigenschaft von literarischen Texten herausgehoben hat, die in der literaturwissenschaftlichen Arbeit nur selten Aufmerksamkeit gewinnt, – die Verteilung von Worthäufigkeiten (Burrows 1987). In einer Reihe von weiteren Arbeiten zu Autoren verschiedener Jahrhunderte hat Burrows dann gezeigt, dass unscheinbare, formale Merkmale, wie der Befund, welche Worte ein Autor wie häufig gebraucht und wie sich diese Gebrauchshäufigkeit verteilt, geeignet sind, so etwas wie einen Fingerabdruck des Stils 165 https://doi.org/10.5771/9783495820377 .

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zu gewinnen und Autoren darnach zu unterscheiden (Burrows 1999). Nicht die Worte in ihrer syntaktischen Ordnung, nicht die bedeutungstragenden, großen Worte, sondern die so häufig von uns gebrauchten Artikel und Konjunktionen sind geeignet, Textgattungen und Autoren zu unterscheiden. Burrows war auch einer der ersten, der Dendrogramme, also stemmatologisch angelegte Visualisierungen von hierarchisch gegliederten, distanzbasierten Datenmengen, wieder aus der Biologie in die Philologie zurückgebracht hat. Nebenbei hat er damit fast die gerade in den Kulturwissenschaften kurrente These widerlegt, dass der Autor eines Textes nur ein soziales Konstrukt sei. Wer genau hinsieht und mit Hilfe des Computers zu zählen versteht, ist in der Lage stilistische Eigenheiten von Autoren zu unterscheiden zu lernen. Burrows Modellierung des Stilproblems sind wir 2014 gefolgt, als wir verschiedene literaturhistorische Fragestellungen der Autorzuschreibung mit einer z-normalisierten Messung der von Autoren am häufigsten gebrauchten Worte aufgegriffen haben, um zu zeigen, dass sich mit dieser Modellierung der Literatur historische Epochen des Schreibens ebenso unterscheiden lassen wie etwa auch das unterschiedliche Schreiben von weiblichen und männlichen Autoren im 19. Jahrhundert präziser als bisher erfassen lässt (Jannidis/Lauer 2014) oder auch schwer zu lösende Probleme wie das der Zuschreibung von anonymen Zeitschriftenartikel an Robert Musil, die dieser möglicherweise als Presseoffizier im Ersten Weltkrieg verfasst hat (Rebora u. a. 2018). Die Erweiterung der Methoden um formal exakt modellierende Ansätze erlaubt sehr wohl, Grundfragen der Literaturwissenschaft zu beantworten, Fragen nach der Autorschaft, nach den historischen Unterschieden im Schreiben von Frauen und Männern, nach der Konstruktion von Epochen, aber auch nach individuellen Besonderheiten von Autoren. Modellierung von Problemen durch Worthäufigkeiten, Vektorisierung von Wortverteilungen, durch Distributionen von Sentimentworten oder thematischen Verteilungen, alle diese exakten Methoden sind geeignet, die Komplexität von Literatur gerade auch in ihrer historischen oder individuellen Besonderheit zu erfassen. Kennedy und andere haben nicht recht. Literatur ist nicht singulär komplex, sondern so komplex wie viele Phänomene in der Natur und Kultur. Das stellvertretend genannte Bedenken von Kennedy gegenüber computergestützten Methoden trifft daher einen wunden Punkt, nur nicht so, wie Kennedy behauptet. Computer können sehr 166 https://doi.org/10.5771/9783495820377 .

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wohl etwas zu Grundbegriffen eines Fachs wie der Literaturwissenschaft beitragen, wenn auch die Methoden kein Zaubermittel sind. Gerade die formale Modellierung von literaturwissenschaftlichen Problemstellungen macht deutlich, dass wir genau genommen von Wahrscheinlichkeiten und Plausibilitäten auch in einem Fach wie der Literaturwissenschaft reden beziehungsweise reden müssten. Das macht Wissenschaft aus, nicht abschließende Wahrheiten zu präsentieren, sondern nur näherungsweise plausiblere Antworten auf Fragen zu geben. Spätestens seit Karl Popper kann gar nicht oft genug wiederholt werden, dass Wissenschaften keine Gewissheiten präsentieren und genau genommen nichts beweisen, sondern die Wahrscheinlichkeit ermitteln, der zufolge die Nullhypothese als Erklärung eines möglichen Zusammenhangs zurückgewiesen werden kann. Es wird also nicht die eigentliche Hypothese, die sog. Alternativhypothese bewiesen, sondern herausgefunden, mit welcher Wahrscheinlichkeit die Alternativhypothese der Nullhypothese vorgezogen werden kann. Das eben meint Falsifikation im Unterschied zu Verifikation im strengen methodenkritischen Sinn, der für die exakten Geisteswissenschaften ebenso gilt wie für die exakten Naturwissenschaften. Man sieht, Digital Humanities lösen Philologie und Geschichte nicht auf, sondern erweitern deren Methoden um kritische Verfahren der quantifizierenden Methodik. Sie zwingen zur Genauigkeit, etwa bei der Frage, mit welcher Emotionstheorie ein Sentimentwörterbuch seine Einträge klassifizieren soll. An dieser Modellierung des Problems der Emotionalität hängt entscheidend, wie gut oder schlecht Sentimentanalysen geeignet sind, die affektive Struktur von Literatur zu erfassen, Gattungen aufgrund ihrer vorherrschenden Emotionen zu unterscheiden oder Erzählmuster aus großen literarischen Korpora zu extrahieren (Gao u. a. 2016; Archer/Jockers 2016; Kim/ Klinger 2018). AL Kennedy hat also Recht und Unrecht zugleich. Sie hat Recht, dass Verfahren wie Sentimentanalyse tatsächlich komplexe Romanstrukturen herunterbrechen. Aber sie hat Unrecht darin, dass solche Verfahren nichts über Literatur zu sagen vermögen. Wir sehen: Computergestützte Verfahren basieren auf Modellierungen von geisteswissenschaftlichen Fragestellungen. Ihre Eigenheit ist, dass solche Verfahren dazu zwingen, implizites Wissen explizit auszuweisen, und das so genau, wie es maschinengestützte Verfahren brauchen, um arbeiten zu können. So vorzugehen ist kleinschrittiger als wir das in den ungenauen Geisteswissenschaften gewohnt sind. Oft sind die exakten Geisteswissenschaften daher umständlicher und 167 https://doi.org/10.5771/9783495820377 .

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aufwändiger. Schnelle Ergebnisse wird man mit solchen Methoden nicht erreichen können, gerade auch, wenn man nicht nur Texte, sondern auch Kontexte zu modellieren hat, etwa die veränderten Umwelten des Schreibens von Literatur heute. Wenn man messen möchte, wie Jugendliche auf sozialen Plattformen wie Wattpad Literatur schreiben, welche Stoffe und Genres sie präferieren und wie sie Literatur bewerten, dann muss ein so komplexes Problem in eine Vielzahl von Schritten zerlegt werden von der Datenextraktion bis zur Machine-Learning-basierten Sentiment-Analyse von Kommentaren (Pianzola/Rebora/Lauer im Druck). Keiner dieser Schritte besteht in der bloßen Anwendung von Algorithmen. Im Gegenteil sind besonders Machine-Learning-Ansätze abhängig von Expertenwissen, damit von Theorien und Konzepten, die nichts mit Computern und Internet zu tun haben, sondern mit dem Wissen über Literatur und deren Leser. Fächer wie Literaturwissenschaft werden damit nicht einfacher. Eben das erzeugt ein erhebliches Unbehagen an den Digital Humanities, denn als exakte Geisteswissenschaft braucht ein Fach wie die Literaturwissenschaft das historisch-hermeneutische wie das formal-statistische Wissen.

IV. Geisteswissenschaften des 21. Jahrhunderts Ausdifferenzierungen gerade auch in der Methodik sind in der Wissenschaftsgeschichte normal. Die Geschichte der Philologie macht da keine Ausnahme, und die philologischen und verwandte, geisteswissenschaftliche Fächer müssten daher computergestützte Methoden als Erweiterung akzeptieren, wie sie schon früher gesteigerte Anforderungen an ihre Methodik in sich aufgenommen hat. Das ist aber nicht der Fall. Wie AL Kennedys Kritik und die vieler anderer an den Digital Humanities belegen, provozieren die andere Methodik und andere Konzeptualisierung des Gegenstandesfeldes in den exakten Geisteswissenschaften eine scharfe Kritik, die nicht selten argumentative Sachlichkeit vermissen lässt. Das kann man als Symptom nehmen und die Gründe dafür sind vielfältig. Da ist die idealistische Verengung der Geisteswissenschaften seit Dilthey, da sind die Anforderungen an die Mitglieder der Scientific Community, sich neues Grundwissen in erheblichem Umfang aneignen zu müssen, da sind andere Problemstellungen zu definieren, die abzuarbeiten legitim sind, da sind neue Verfahren zu erproben und für die geisteswissen168 https://doi.org/10.5771/9783495820377 .

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schaftlichen Fächer auszuweisen, und da sind schließlich andere Karrierestrukturen zu etablieren, wer zum Fach zählt. In den Digital Humanities kommt das alles zusammen, und die neuen Begründungsverhältnisse scheinen in der Gestalt der Digital Humanities mit einmal auf die Geisteswissenschaften zuzukommen. Die Digital Humanities sind daher das Schibboleth für die Debatten um Aufgaben und Funktion der Geisteswissenschaften im 21. Jahrhundert, und das Unbehagen in ihnen ist verständlich, denn Fächer sind Disziplinen, gerade weil sie systemisch stabil sind und nicht auf allen konstitutiven Ebenen zugleich herausgefordert und umgebaut werden können. Noch ein weiterer Grund ist für die Schärfe der Kritik an den Digital Humanities anzuführen. Es gibt wenig Gründe, eine so weitreichende Transformation einer Disziplinengruppe einzuleiten, deren inner- wie außerakademische Funktionen gut erfüllt werden, wie jener Anspruch an die Geisteswissenschaften, der Ort zu sein, »an dem sich moderne Gesellschaften ein Wissen von sich selbst in Wissenschaftsform verschaffen« (Frühwald u. a. 1991, 51). Die aufwändige Methodik exakter Geisteswissenschaften, wie sie die Digital Humanities repräsentieren, ist in der Reichweite ihrer Aussagen begrenzt, denn ihre Methodenlehre ist auf lange Versuchsreihen, aufwändige Statistiken und Gruppenforschung angewiesen. Ihre Publikationsform ist eher der Fachartikel als das Buch. Das alles braucht Zeit, ist teuer und liefert am Ende nicht Ergebnisse so ab, dass die Ergebnisse im System der Gesellschaft verarbeitet werden können. Mit statistischen Verfahren herauszufinden, wie Beethoven den Möglichkeitsraum harmonischer Verbindungen erweitert hat oder nach welchen Gesetzmäßigkeiten Verbformen des Englischen sich über Jahrhunderte entwickelt haben, ist keine Antwort, die die Gesellschaft so abfragt (Lieberman u. a. 2007; Moss u. a. 2019). Etablierte Formen der Musikwissenschaft können das passgenauer beantworten und Musikkritik publikumsnäher formulieren. Evolutionäre Modelle der Sprachentwicklung finden in Fächern wie der Biologie ihre Leser. Evolution ist keine Kategorie gesellschaftlicher Selbstverständigung. Daher erscheinen solche und ähnliche Ergebnisse in Zeitschriften wie Nature oder PLoSONE, deren Ergebnisse nur selten die gesellschaftlichen Debatten bestimmen. Während die etablierten Geisteswissenschaften daher kaum Grund haben, ihr Selbstverständnis so grundlegend zu ändern, wie es die Digitalisierung der Geisteswissenschaften nahezulegen scheint, läuft dem eine andere Tendenz entgegen, die einer rasch anwachsen169 https://doi.org/10.5771/9783495820377 .

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den Menge kultureller Daten. Editionen und Portale, Korpora und in den letzten Jahren eine rasant wachsende Menge von Echtzeitdaten über Musikdownloads, Leseverhalten oder Museumsbesuche erheben Daten und erstellen Informationen über Kultur in einem bis dahin unbekannten Umfang und einer noch nie dagewesenen Tiefe (Brügger 2016). Geisteswissenschaften, die diese Daten und Informationen nur wenigen Internetfirmen überlassen, hören auf, sich ein Wissen von der Gesellschaft in Wissenschaftsform zu verschaffen. Datenintensive Wissenschaft (Hey/Tansley/Tolle 2009) ist kein Schicksal, aber die Entwicklungen auszublenden, die mit der neuen Datenflut kommt, wäre für die Geisteswissenschaften folgenreich. Andere Faktoren kommen hinzu, etwa die Entwicklung der Studierendenzahlen, die ein stilles Sterben der Geisteswissenschaften schon vielerorts eingeleitet haben (Tworek 2013; Cartwright/Chinn/Stanley 2018), die uns auffordern, den Streit der geisteswissenschaftlichen Fakultäten über die Exaktheit ihres Tuns auf eine andere, historisch und systematisch überlegtere Grundlage zu stellen. Meine Absicht war bescheiden. Es galt zu belegen und zu argumentieren, warum eine bessere Grundlage für die Geisteswissenschaften möglich ist und die Fächer ihre Zukunft noch vor sich haben. Denn die exakten Geisteswissenschaften haben einen Wert, sie haben Geschichte und gehören zur Systematik der Wissenschaften, das war hier zu zeigen. Ob die exakten Geisteswissenschaften in der Zukunft eine größere Rolle spielen werden, hängt an der schlichten Einsicht, dass es kein Vandalismus ist, neue, vielleicht auch exaktere Wege in den Geisteswissenschaften zu gehen, gerade wenn diese Wege gar nicht immer so neu sind, wie es in den Debatten erscheint. In diesem Sinne haben exakte Geisteswissenschaften einen Wert für die Weiterentwicklung unserer Fächer. Auf Bilder einschlagen, tun andere.

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Geschichtswissenschaft zwischen echten und falschen Fragen Annette Vowinckel

Die akademische Geschichtswissenschaft hat ihren Ursprung im 19. Jahrhundert. An den Universitäten – nicht nur im deutschsprachigen Raum – etablierte sie sich als staatstragende Wissenschaft in dem Sinn, dass sie den jeweiligen Nationalstaaten Narrative zur Legitimation von Herrschaftsansprüchen lieferte. Etwa zeitgleich entwickelten sich die Kulturgeschichtsschreibung eines Jacob Burckhardt oder die Geschichtstheorie eines Johann Gustav Droysen, das Kerngeschäft aber blieb die Ausstattung der Nationalstaaten mit narrativer Munition. Heute ist die Geschichtswissenschaft die größte unter den Geisteswissenschaften, sie ist die zweitmännlichste (nach der Philosophie), und sie ist die, die die meisten Drittmittel einwirbt. Der alle zwei Jahre stattfindende deutsche Historikertag ist mit mehr als 3000 Teilnehmerinnen und Teilnehmern eine der größten geisteswissenschaftlichen Fachtagungen in Europa. Die Staatsnähe des Fachs ist an konservativen Fachbereichen bis heute gegeben, wenngleich sich durch die Reformansätze der 1970er Jahre auch kritischere Narrative entwickelten (und tendenziell durchgesetzt haben). Jüngere Beispiele für nationalgeschichtliche Narrative sind eine von Karl Dietrich Bracher herausgegebene sechsbändige Geschichte der Bundesrepublik oder Heinrich August Winklers Langer Weg nach Westen. Auch Hans Ulrich Wehlers Deutsche Gesellschaftsgeschichte in fünf Bänden und Ulrich Herberts Geschichte Deutschlands im 20. Jahrhundert verlassen nicht den Rahmen des Nationalstaats, auch wenn sie diesen kritisch beleuchten. 1 Etwa seit der Jahrtausendwende hat zudem die transnationale Geschichtsschreibung an Raum und Einfluss gewonnen. Sie behanBracher (1981–2006) mit Monografien von Hans-Peter Schwarz, Theodor Eschenburg, Klaus Hildebrand, Karl Dietrich Bracher, Wolfgang Jäger und Andreas Wirsching; Winkler (2000); Wehler (1987); Herbert (2014).

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Geschichtswissenschaft zwischen echten und falschen Fragen

delt Themen, die sich sinnvoll überhaupt nur grenzüberschreitend bearbeiten lassen, wie beispielsweise die Entstehung moderner Mediengesellschaften, die Ursachen und Folgen von Migration, die Geschichte des Massentourismus oder jüngst die Digitalisierung des Alltags. Transnationale Geschichte grenzt sich ab von einer älteren Vergleichsgeschichte, die zwar den Blick über den Tellerrand der jeweils eigenen Nation hinaus richtete, dabei aber eher nach Unterschieden und Gemeinsamkeiten zwischen zwei oder mehr Nationen suchte als nach Verflechtungen, Transfers und kulturellen Rückkopplungseffekten. Eine Sonderstellung hat dabei die Geistesgeschichte, die zwar grundsätzlich immer schon transnational unterwegs war, die aber innerhalb der Geschichtswissenschaft heute eine marginale Rolle spielt. Wer nur mit publizierten Quellen arbeitet, kann in der Zunft gerade keinen Blumentopf gewinnen. So betrachtet ist die Geschichte gerade keine Geisteswissenschaft, sondern eher eine quellengesättigte Erzähl- und/oder Erklärungsdisziplin. Ebenfalls keinen Blumentopf gewinnen kann man heute auf dem Feld der Geschichtstheorie und -philosophie, die an deutschen Universitäten kaum mehr einen Platz hat. Selbst in Bielefeld, wo einst Reinhart Koselleck und in seiner Nachfolge Jörn Rüsen lehrten, gibt es keinen Lehrstuhl für Geschichtstheorie mehr. Verändert hat sich indes auch der Umgang mit den Quellen. Zum einen ist ein langanhaltender Prozess der Erweiterung von Quellenbeständen dahingehend zu beobachten, dass auch Fotografien, Karten, Gebrauchsgegenstände, Töne und sogar Gerüche als Quellen erschlossen werden. Daraus ergeben sich ganz andere Deutungsprobleme als in der textbasierten Geschichte. Zum anderen finden sich unter den verbleibenden Textquellen mehrheitlich solche, die zwar Evidenz liefern, aber anderer als einer hermeneutischen Interpretation bedürfen. Die Fahrpläne der Reichsbahn, die Raul Hilberg in seiner bahnbrechenden Studie über die Vernichtung der europäischen Juden analysierte, wären dafür ein wunderbares Beispiel. 2 Hatte sich die Geschichtswissenschaft in den siebziger Jahren noch mit der Frage herumgeschlagen, ob sie ihr Augenmerk eher auf Strukturen oder auf Ereignisse richten sollte, geht es also in jüngster Zeit um die Erweiterung des Quellenkanons einer traditionell auf Texte aus dem Bereich der Staats- und Verwaltungshandlungen fi2

Hilberg (1961), dt.: Hilberg (1982).

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Annette Vowinckel

xierten Disziplin – und damit auch um eine Annäherung der Geschichtswissenschaft an benachbarte Disziplinen wie die Kunstgeschichte, die Literatur- und die Kulturwissenschaft. Den gravierendsten Einschnitt in der Geschichte der Geschichtsschreibung des 20. Jahrhunderts brachte indes keine Debatte um Methoden oder Quellenbestände, sondern der Nationalsozialismus als ein Explanandum von so gigantischem Ausmaß, dass es die gesamte Disziplin in eine Art Ausnahmezustand versetzte – nicht nur in der Bundesrepublik, sondern in weiten Teilen der westlichen Welt, vor allem in den USA und in Israel. Ich selbst habe mein Studium 1987 aufgenommen, als gerade der Historikerstreit – und damit die letzte ganz große öffentliche Debatte, die von der Geschichtswissenschaft ausging – in vollem Gange war. Für uns Studierende war dieser Streit weit mehr als ein öffentlicher Disput über die Vergangenheit. Er war eine Art Initiationserlebnis, das uns mit dem Bewusstsein ausstattete, dass das Geschichtsstudium uns für die Suche nach Antworten auf ganz große Fragen vorbereitete. Als ich mein erstes Semester in Köln verbrachte, vertrat dort noch Andreas Hillgruber die These, der deutsche Angriff auf die Sowjetunion sei eine Art Präventivkrieg gewesen, mit dem Hitler die von Osten drohende bolschewistische Bedrohung habe bekämpfen wollen. Im zweiten Semester zog ich – nicht nur, aber auch wegen Hillgruber – zurück in meine Heimatstadt Bielefeld, wo ich mich in ganz anderer Gesellschaft wiederfand. Vor allem war es ein Seminar zu Hannah Arendts Schriften zum Nationalsozialismus bei Gisela Bock, das meine eigene Auseinandersetzung mit dem Nationalsozialismus nachhaltig prägte. Es war dies eines der Seminare, für die man deutlich mehr las als verlangt, freiwillig Arbeitsgruppen bildete und nach Feierabend an WG-Tischen weiter diskutierte. In meiner Arbeitsgruppe lasen wir Faschismustheorien, die den Nationalsozialismus mit anderen Diktaturen verglichen, und Totalitarismustheorien, die auf einen Vergleich des Nationalsozialismus mit der Sowjetunion setzten. Wir beschäftigten uns mit funktionalistischen und intentionalistischen Erklärungsmodellen, die sich entweder auf gesellschaftliche Entwicklungen oder auf das absichtsvolle Handeln einer kleinen Gruppe zentraler Figuren konzentrierten. 3 3

Friedländer (1987) und Friedländer (1984).

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Geschichtswissenschaft zwischen echten und falschen Fragen

Letztlich versuchten wir zu verstehen, wie die Generation unserer Großeltern auf die Idee gekommen war, sechs Millionen Juden umzubringen und einen ganzen Kontinent in Schutt und Asche zu legen. »Verstehen« bezeichnet hier natürlich weder das Verstehen eines Textes noch die Entwicklung von einfühlendem Verständnis, sondern das Verstehen eines hochkomplexen dynamischen Systems, das die zehn Gebote als Geschäftsgrundlage menschlichen Zusammenlebens außer Kraft setzte. Ein Verstehen, das in manchen Bereichen auch ohne sinnhaften Text auskam (die von Raul Hilberg analysierten Fahrpläne der Reichsbahn wären hier wieder ein gutes Beispiel). Die intrinsische Energie, die dieser Versuch des Verstehens freisetzte, war enorm. Am Ende ist keine von uns NS-Historikerin geworden, aber Zweifel an der Legitimität unseres Studiums, an der Geschichtswissenschaft als Disziplin oder an ihrer Bedeutsamkeit hatten wir nicht. Anders als für einige Kommilitonen, die wir abfällig als Karrieristen bezeichneten, war für uns der Weg das Ziel. Wir wollten etwas verstehen, wohl wissend, dass wir an der Aufgabe wahrscheinlich scheitern würden. Wir betrachteten uns, mit anderen Worten, nicht als Wissenschaftler, wir wollten Intellektuelle sein, und deshalb erschien uns das Scheitern durchaus als attraktive Option. Vielleicht waren wir eher Möchtegernintellektuelle, aber das war ein kalkuliertes Risiko. Wenn ich mich heute in meiner wissenschaftlichen Community umsehe, fällt mir auf, dass die Intellektuellen fast vollständig von der Bildfläche verschwunden sind. Stattdessen begegnen mir viele Menschen, die ihre Themen und Bücher strategisch geschickt platzieren, Menschen, die mehr oder weniger erfolgreiche Drittmittelanträge schreiben und die nach einem Reiz-Reaktionsschema massenhaft angefragte Texte für Zeitschriften und Sammelbände produzieren (ich selbst nehme mich davon nicht aus). Die großen Fragen aber, die einem nachts den Schlaf rauben, scheint es nicht mehr zu geben – auch nicht nach dem Fall der Mauer, der uns eine weitere zu historisierende Diktatur vor die Füße gespült hat. Damit will ich nicht sagen, dass die DDR nicht ernsthaften Erklärungsbedarf generiert hat, aber die Debatten verliefen entlang ganz anderer Grenzen. Die Frage, wie es überhaupt zur Gründung der DDR kommen konnte, war im Kontext des beginnenden Kalten Kriegs relativ leicht zu beantworten. Die Geschichtswissenschaft ist also in gewisser Weise abgekühlt, 177 https://doi.org/10.5771/9783495820377 .

Annette Vowinckel

was nicht heißt, dass sie weniger Raum in der Öffentlichkeit einnimmt. Ganz im Gegenteil: Etwa seit der Jahrtausendwende erleben wir einen regelrechten Geschichtsboom. Es werden mehr historische Museen geöffnet als geschlossen, Geschichtsvereine gibt es allerorten, historische Schlachten werden in authentischen Kostümen am historischen Ort nachgestellt, Unternehmen lassen ihre Geschichte aufzeichnen, der Markt für historische Publikationen floriert, vom Erfolg des Geschichtsfernsehens à la Guido Knopp ganz zu schweigen. Absolventen des an der FU Berlin angesiedelten Studiengangs Public History sind auf dem Arbeitsmarkt gut vermittelbar, weil sie in Zeiten des Geschichtsbooms gebraucht werden. Dass aber jemand ein historisches Buch schreibt oder ein Projekt beantragt, weil ihm oder ihr wirklich eine Frage unter den Nägeln brennt, ist selten geworden, und das hat weniger individuelle als vielmehr strukturelle Gründe. Außer in den Universitäten organisiert sich die Geschichtswissenschaft, wie andere Wissenschaften auch, in einigen wenigen außeruniversitären Forschungsinstituten, in Exzellenzclustern, Graduiertenkollegs und Sonderforschungsbereichen. All diese Organisationsformen setzen auf Synergieeffekte: Sie definieren Themen, die so groß sind, dass sich damit zwischen zehn und mehreren Dutzend Personen gleichzeitig oder nacheinander über Zeiträume von bis zu zwölf Jahren beschäftigen können. Sinnvoll ist das sicher in den Lebenswissenschaften, wenn Felder bearbeitet werden, die für einen Lehrstuhl viel zu groß sind, wenn Strahlungsringe gebaut werden oder wenn verschiedene Disziplinen zusammenarbeiten müssen, um zu einem sinnvollen Ergebnis zu kommen. Sinnvoll ist das auch in den Geisteswissenschaften, wenn große unbearbeitete Felder identifiziert und besetzt werden können, wie beispielsweise im Bielefelder Sonderforschungsbereich zur Sozialgeschichte des neuzeitlichen Bürgertums, der in den Jahren 1986 bis 1997 – also zur Zeit meines eigenen Studiums – bestand. Das ist eine Art von Grundlagenforschung, die Einzelne nicht leisten können. Inzwischen hat die Geschichtswissenschaft indes einen Zustand erreicht, in dem der Bedarf an Grundlagenforschung deutlich gesunken ist. Das ist vor allem darauf zurückzuführen, dass das Fach nach dem Zweiten Weltkrieg enorm expandiert ist und dabei einen intensiven Prozess der Ausdifferenzierung durchlaufen hat. Wir wissen recht gut Bescheid über die großen Themen und Epochen, und wir haben eine Reihe von methodischen Wenden und Neuerungen hinter uns, 178 https://doi.org/10.5771/9783495820377 .

Geschichtswissenschaft zwischen echten und falschen Fragen

wie bspw. die Wende von der Politikgeschichte zur Sozial- und zur Kulturgeschichte, das Aufkommen der Frauen-, Alltags- und Umweltgeschichte und die Entstehung der Public History. Auf einer Karte der ausdifferenzierten Geschichtswissenschaft sind jüngst noch Felder wie die Visual History, die Körpergeschichte und die HumanAnimal-Studies aufgetaucht. Ganz große Lücken gibt es aber kaum mehr. Die Folge ist, dass an die Stelle der »echten« Fragen konstruierte Fragen getreten sind, die nach unterschiedlichen Schemata generiert werden: Man kann ein bekanntes Thema kulturalistisch wenden oder für ein anderes Land oder eine andere Region durchspielen. Man kann auf die Mikroebene gehen (wie es Carlo Ginzburg mit seinem Buch über den Käse und die Würmer in brillanter Weise getan hat) oder man kann ein Thema auf der Zeitschiene nach vorn oder nach hinten schieben. Dagegen ist nicht grundsätzlich etwas einzuwenden, aber die Ergebnisse bleiben an Originalität oft deutlich hinter solchen Texten zurück, die auf eine echte Frage antworten. Originellere Bücher würden wahrscheinlich geschrieben, wenn man den einen oder die andere einfach für ein paar Jahre freistellen und darauf vertrauen würde, dass er oder sie in dieser Zeit wirklich neue Fragen stellt, statt Antworten zu finden auf Fragen, die keiner gestellt hat oder die schon beantwortet sind. Der inzwischen zum Standardtext des Projektantrags gehörende Hinweis, dass das Thema erforscht werden müsse, weil es noch nicht erforscht sei, könnte entfallen, denn unzählige Dinge sind unerforscht und können es getrost auch bleiben. Es besteht zum Beispiel keine Notwendigkeit, etwas über die Sommerfeste des Turnvereins von Neubrandenburg im Kaiserreich zu schreiben, auch wenn es im Rahmen des Möglichen liegt, dass dabei ein gutes Buch herauskommt. Hans Blumenberg hat einmal geschrieben, er könne nicht erkennen, warum es »objektiv wichtiger und weniger begründungsbedürftig sein sollte, die Temperaturen auf einem Millionen Lichtjahre entfernten Stern zu messen, als die Wäscherechnungen der alten Ägypter in einer kritischen Edition zu sammeln«. Blumenberg mag recht haben, setzt aber voraus, dass sich jemand brennend und aus gutem Grund für die alten Wäscherechnungen interessiert. Das scheint mir bei vielen Themen, die heute erforscht werden, nicht der Fall zu sein, und der Befund, dass angeblich jeder zweite wissenschaftliche Aufsatz nie von irgendjemandem gelesen wird, lässt 179 https://doi.org/10.5771/9783495820377 .

Annette Vowinckel

ahnen, dass der Funken auch auf die potenziellen Leser solcher Texte nicht überspringt. Doch zurück zur Frage der Forschungsförderung in Zeiten des Exzellenzclusters. Einiges einzuwenden ist gegen diese Art der Großprojektförderung in den Geisteswissenschaften aus der Perspektive des Arbeitsmarkts. Wenn auf dem Namensindex des Exzellenzclusters Topoi. The Formation and Transformation of Knowledge in Ancient Civilizations mehrere hundert Personen auftauchen 4 , ist die Frage berechtigt, wie selbst eine als global gedachte wissenschaftliche Community auch nur einen Bruchteil dieser Personen dauerhaft in Lohn und Brot bringen soll, die ihre akademische Karriere auf die Erforschung antiker Raumkonzepte gründen. Ebenso problematisch scheint mir, dass die Community den wissenschaftlichen Nachwuchs gern dazu anhält, Antworten zu suchen auf Fragen, die nicht individuelle Personen selbst gestellt haben, sondern für die im Rahmen eines Großantrags gerade Stellen zur Verfügung stehen. Wer eine eigene Frage mitbringt, womöglich eine, die außerhalb des Mainstreams liegt, ist auf die Förderung durch Stipendien angewiesen, die deutlich weniger attraktiv ist als eine sozial- und rentenversicherungspflichtige Stelle. Derweil läuft das Hamsterrad des Antragswesens munter weiter. Zu den letzten Großausschreibungen im Feld der Geschichtswissenschaft gehörte ein von der Bundesbeauftragten für Kultur und Medien getragener Call zum Großkomplex der Behördenforschung, genauer: Zur Erforschung der NS-Vergangenheit politischer Institutionen in der Bundesrepublik und in der DDR. Ich selbst habe, zusammen mit einigen Kollegen, einen Antrag eingereicht und auch bewilligt bekommen. Seither stellen wir fest, dass sich die Ausgangslage in diesem Feld dramatisch verändert hat. Vor nicht allzu langer Zeit war es noch so, dass die zu erforschenden Behörden sich dagegen sträubten, ihre Akten freizugeben, sich mit den Ergebnissen der Forschung auseinanderzusetzen und sich dann noch einer kritischen Öffentlichkeit zu stellen. Inzwischen hat sich das Blatt gewendet: Kolportiert werden Gespräche unter Behördenleitern nach dem Schema: »Seid ihr auch schon erforscht? Nicht? Dann drücken wir die Daumen dass es bald klappt!«, soll heißen: Dass ihr für wichtig genug befunden werdet, Gegenstand eines Aufarbeitungsprojekts zu werden. NS-Forschung richtet sich, 70 Jahre nach dem Ende des 4

Vgl. https://www.topoi.org/ und https://www.topoi.org/people/.

180 https://doi.org/10.5771/9783495820377 .

Geschichtswissenschaft zwischen echten und falschen Fragen

Zweiten Weltkriegs, nicht mehr gegen das »Establishment«, sie wird zum Zweck der Selbstdarstellung genutzt. Zusammenfassend kann man vielleicht sagen, dass der Prozess der Transformation der Geschichtswissenschaft von einer staatstragenden zu einer kritischen Wissenschaft in weiten Teilen erfolgreich abgeschlossen wurde – allerdings um den Preis, dass eine gleichzeitig erfolgende Ausdifferenzierung auch zu einer Nivellierung der Fragen und zu einem Rückzug der Disziplin aus den großen, öffentlich ausgetragenen gesellschaftlichen Debatten geführt hat. Der Anspruch auf Originalität ist in weiten Teilen einem Anspruch auf Vollständigkeit gewichen, die weder erreicht werden kann noch sollte. Abschließend möchte ich noch eine ganz andere, sehr aktuelle Entwicklung ansprechen, die die Genese von Forschungsfragen betrifft. Ähnlich wie in vielen Nachbardisziplinen geht es in der Geschichtswissenschaft des 21. Jahrhunderts darum, wie Digitalität den Charakter, die Heuristik und die Selbstdarstellung der Disziplin verändert. Darüber, dass die Digitalisierung einschneidende Veränderungen mit sich gebracht hat und noch einige mehr nach sich ziehen wird, herrscht weitgehend Einigkeit. Viele Quellen sind im Netz verfügbar oder werden bereits digital produziert, was unter anderem den Takt unserer Arbeit verändert. Wo früher noch wochen- oder monatelange Archivreisen notwendig waren, reichen heute zuweilen ein paar Klicks, und das gesuchte Dokument liegt auf dem Schreibtisch. Große Textmengen können digital durchsucht werden, sodass gleichzeitig das Lesepensum eher sinkt. Vor allem aber steht die Frage im Raum, welche neuen Forschungsfragen digitale Quellen generieren. Nutzen wir den leichten Zugriff auf digitalisierte Quellen zum Beispiel für eine hermeneutische Textanalyse im Feld der Geistesgeschichte, dann macht die Digitalisierung zunächst vor allem einen arbeitspraktischen Unterschied. Der Zugriff wird einfacher, die Wege kürzer, alles andere bleibt aber im Prinzip gleich. Die interessantere Frage wird sein, welche historischen Veränderungen aus der Digitalität selbst heraus entstehen. Das erfordert eine Selbsthistorisierung des Fachs am Übergang vom analogen zum digitalen Zeitalter – nicht zuletzt deshalb, weil es bisher kaum sinnvolle Lösungen für die Langzeitarchivierung digitaler Daten gibt und ein großer Teil der massenhaft vorhandenen digitalen Quellen bald den sicheren Datentod sterben wird. Es gibt Unternehmen, die Emails ausdrucken, abfotografieren und auf Zelluloidfilmen in unterirdi181 https://doi.org/10.5771/9783495820377 .

Annette Vowinckel

schen Stollen in der Arktis einlagern, wo sie – im Unterschied zu manchem digitalen Dokument – sicher die nächsten hundert Jahre überleben werden. 5 Da die meisten digitalen Daten nicht auf solch analoge Weise gesichert werden, könnte unsere Zeit am Ende weniger beständige Quellen hinterlassen als das 19. Jahrhundert. Wie dem auch sei: Die Geschichtswissenschaft hat sich nach dem Zweiten Weltkrieg stark verändert. War es in Zeiten der Expansion nach dem Zweiten Weltkrieg noch ihre wichtigste Aufgabe, den Zivilisationsbruch Auschwitz zu erklären und sich selbst von einer staatstragenden zu einer kritischen Wissenschaft zu transformieren, so ist es heute ihre wichtigste Aufgabe, den Beginn des digitalen Zeitalters als Epochenwandel nicht nur in der Geschichte, sondern auch für das eigene Tun zu begreifen. Nicht alle Historiker müssen sich deshalb mit großen Datenmengen befassen, digitale Visualisierungen entwickeln oder gar selbst programmieren lernen. Das Fach als Ganzes sollte aber seine Forschungsfragen entsprechend anpassen und adäquate Antworten auf die Frage suchen, wie es in Zukunft mit digitalen und digitalisierten Quellen umzugehen gedenkt. Und es sollte versuchen, sich auf die »echten« Fragen zu konzentrieren, statt alte zu recyceln.

Literaturverzeichnis Bracher, Karl Dietrich (Hg.) (1981–2006): Geschichte der Bundesrepublik, 6 Bände, Stuttgart. Friedländer, Saul (1984): »From Antisemitism to Extermination«, in: Yad Vashem Studies 16 (1), 1–50. – (1987): »Überlegungen zur Historisierung des Nationalsozialismus«, in: Ist der Nationalsozialismus Geschichte?, hg. v. Dan Diner, Frankfurt/M., 34–50. Herbert, Ulrich (2014): Geschichte Deutschlands im 20. Jahrhundert, München. Hilberg, Raul (1961): The Destruction of the European Jews, Chicago. – (1982): Die Vernichtung der europäischen Juden, Berlin. Wehler, Hans-Ulrich (1987): Deutsche Gesellschaftsgeschichte, 5 Bände, München. Winkler, Heinrich August (2000): Der lange Weg nach Westen, 2 Bände, München.

5

Vgl. https://www.piql.com/arctic-world-archive/.

182 https://doi.org/10.5771/9783495820377 .

Über Historik im Digitalen Malte Rehbein

1.

Einleitung

Die in diesem Band aufgeworfene Frage nach Rolle und Zukunft der Geisteswissenschaften in der Wissenschaftslandschaft bettet sich ein in eine lange Tradition ähnlich gelagerter Diskurse, die seit der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts, oft aus einem kritischen Selbstverständnis der Geisteswissenschaften heraus und unter Bemühung einer emanzipatorischen Gegenüberstellung zu anderen Wissenschaftsfeldern, geführt werden. Dabei geht es sowohl um die definitorischen Abgrenzungen als auch um das Herausarbeiten von Gemeinsamkeiten und Unterscheidungsmerkmalen. Als Sparringspartner für die Geisteswissenschaften werden gelegentlich der Begriff der Kulturwissenschaften, oft aber das weite Feld der Naturwissenschaften herangezogen. 1 Dieser Essay 2 betrachtet Geisteswissenschaften als »digitale Geisteswissenschaften«, die, unter dem Sammelbegriff der Digital Humanities, einer gegenwärtigen Transformation in den drei zentralen Bereichen des Was?, also dem Untersuchungsgegenstand der jeweiligen Forschung und dem epistemologischen Status der daraus gewonnenen Erkenntnis, des Wie? der Methodik sowie zunehmend auch des Wer? der forschenden Akteure unterliegen. 3 In alle drei Bereiche greift die (Computer)-Technologie scheinbar mit brachialer Urgewalt ein. Dabei entstehen vor allem im Umfeld der Methodik neue Ansätze, die vordergründig an andere Wissenschaftszweige erinnern, oft diesen auch entlehnt sind. Als zentral erscheint hierzu die Informatik, die durch das Attribut »digital« in den Digital HumaniExemplarisch und als Überblick sei genannt: Oexle/Daston (2000). Für Durchsichten und Kommentierungen des Manuskripts danke ich Anne Deremetz, Stefan Jordan, Linda von Keyserlingk-Rehbein und Andrea Schilz herzlich. 3 Es wird durchgehend das generische Maskulinum verwendet. 1 2

183 https://doi.org/10.5771/9783495820377 .

Malte Rehbein

ties als, je nach Sichtweise, Partnerin oder Werkzeuglieferantin an die Geisteswissenschaften gebunden wird und deren Technologien der automatisierten Informationsverarbeitung, wie in nahezu allen Bereichen des menschlichen Lebens und Zusammenlebens, so auch in den Geisteswissenschaften eine durchdringende, ubiquitäre Rolle spielen. Dass die Informatik selbst aber keine Naturwissenschaft, sondern eher Ingenieurswissenschaft ist, 4 zeigt, dass das Gefüge der wissenschaftlichen Disziplinen deutlich komplexer als in der eher binär begründeten Tradition betrachtet werden muss und eine einfache Gegenüberstellung von Geistes- und Naturwissenschaften nicht (mehr) ausreicht. Die Durchdringung der Gesellschaft durch Technologie zeigt dann auch umgekehrt, dass die Technologie zwangsläufig durch die gesellschaftlichen Belange wie Kulturalität, Historizität, Recht, Ethik und Ästhetik beeinflusst ist und wird, sowie aus den Grundfesten des Menschseins und seiner Kultur heraus überhaupt erst entsteht. Beispielsweise ist Technologiekritik damit immer auch Gesellschaftskritik. 5 Der Essay soll zeigen, dass eine digital geführte Geschichtswissenschaft kein Hybrid aus Geistes- und Naturwissenschaft ist, sondern auf einer anderen Ebene zwischen den beiden Polen des nichtempirischen Apriori und den Aposteriori eines rein als Empirie getriebenen Datenparadigmas zu verorten ist. Unterschwellig gilt dabei noch ein anderer Aspekt: Während die Geisteswissenschaften in den drei oben genannten Bereichen des Was?, Wie? und Wer? einer digitalen Transformation unterliegen, wird dabei die entscheidende vierte Ebene des funktionalen Warum? nicht in Frage gestellt. Wichtiges Erkenntnisziel der Geisteswissenschaften war und bleibt das Gewinnen von verstehender Einsicht und die Schaffung von Deutungs- und Sinnangeboten.

Vor allem gilt dies für die angewandte Informatik, als welche die Digital Humanities aufgefasst werden können. Die theoretische Informatik steht der nicht-empirischen Mathematik und Logik nahe und hat ebenfalls nicht die Erforschung der Naturgesetze zum Ziel. 5 Die umgekehrte Sichtweise scheint nicht so einfach zu sein. Dass technologischer Fortschritt einem gesellschaftlichen Fortschritt folgt, muss in Frage gestellt werden. Vielmehr scheinen sich eher gesellschaftliche Prozesse an Technologien anzupassen, häufig mit einer zeitlichen Verzögerung, der »kulturellen Phasenverschiebung« (cultural lag) in der Theorie William Ogburns (Ogburn [1922]). 4

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Über Historik im Digitalen

2.

Prämissen

Der Beitrag steht unter den Vorzeichen der Digitalität und der Digital Humanities. Der schwer zu greifende Begriff »Digitalität« sei hier im Verständnis des Historikers Wolfgang Schmale als die »Rolle und Funktion digitaler Medien, digitaler Techniken und von Digitalisaten« eher generisch verwendet. 6 Digital Humanities wird als ein Forschungsparadigma 7 verstanden, in dessen Kern eine graduelle Formalisierung und Explizierung der Gegenstände, Methoden und Prozesse der geisteswissenschaftlichen Forschung steht, deren Ausgestaltung zwischen der Verdatung 8 der Forschung bzw. der Vermessung von Kultur 9 für ein vor allem quantitativ geprägtes Calculus einerseits und der abstrakten Modellbildung im Hinblick auf qualitative Ansätze bis hin zum formallogischen Kalkül andererseits oszilliert. Dabei tritt neben das traditionelle hermeneutisch geprägte Herangehen an die Forschungsgegenstände, je nach Sichtweise konkurrierend, unterstützend oder ersetzend, ein durch die Digitalität geprägtes »computational thinking«. Eine im weiteren Verlauf dieses Beitrags zu erörternde These wird dabei sein, dass sich dieses computational thinking für den Bereich der Geschichtswissenschaft mit dem traditionellen historical thinking eng verwebt. Gegenwärtig sind die Digital Humanities nur schwer von der Diskussion um die mit hohen Erwartungen (wie auch Befürchtungen) eilig zum neuen heilsbringenden Paradigma und zur Selling Proposition erhobenen »Big Data« bzw. die sogenannte Künstliche Intelligenz zu lösen. 10 Daten-zentrierte oder Daten-motivierte ForSchmale (2013), 94. Medienkulturtheoretisch wird eine Definition u. a. von Felix Stalder vorgenommen. Digitalität sei »jenes Set von Relationen, das heute auf Basis der Infrastruktur digitaler Netzwerke in Produktion, Nutzung und Transformation materieller und immaterieller Güter sowie in der Konstitution und Koordination persönlichen und kollektiven Handelns realisiert wird.« Stalder verweist dabei auf die »historisch neuen Möglichkeiten der Konstitution und Verknüpfung der unterschiedlichsten menschlichen und nichtmenschlichen Akteure«, wie sie in diesem Essay auch thematisiert werden (Stalder [2017], 18). 7 Auch die Bezeichnung als digital oder computational turn im Sinne einer Hinwendung der Geisteswissenschaften zu digitalen Daten und digitalen Verfahren ihrer Erschließung und Verarbeitung wird in der Literatur verwendet. 8 Vgl. Oertzen (2017). 9 Lauer (2013). 10 Zum Paradigmatischen siehe Hey u. a. (2009) und Anderson (2008) sowie die extensive Diskussion darum (z. B. Dyson u. a. [2008]). Zur Diskussion des Begriffs »Big 6

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Malte Rehbein

schung ist zwar auch in den Geschichtswissenschaften nicht neu, 11 sie gewinnt aber durch die zunehmende Digitalisierung auch der historischen Quellen eine um ein Vielfaches steigerbare quantitative Ausdehnung und weckt die Erwartung auch einer neuen Forschungsqualität, die sich dann in durchaus produktiven, zumindest aber sehr diskutablen makroanalytischen Ansätzen unter Schlagwörtern wie Culturomics oder Distant Reading manifestieren und Konzepte wie das makroskopische Labor mit seinen Instrumentarien hervorbringen. 12 Im Gesamtkontext der Diskussion um die Geisteswissenschaften wird in diesem Beitrag eine ausdrücklich geschichtswissenschaftliche Perspektive eingenommen, in der Texte (oder andere Medien) zwar Objekt einer wissenschaftlichen (hermeneutischen) Untersuchung sind, sie aber nicht der Zweck dieser Untersuchung selbst, sondern Mittel zum Zweck des historischen Verständnisses, der Konstruktion von Geschichte sind. Texte sind als Quellen zu betrachten, sie sind entsprechend zu historisieren und nicht als dogmatisch im Sinne eines immanenten Gegenwartsbezugs anzusehen. 13 Historizität wird dabei im Verständnis von François Hartog als das Verhältnis aufgefasst, das eine Gesellschaft zur Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft hat. 14

3.

Digitale Quellen: Kontinuität und Wandel

Mit dem Phänomen der Digitalität wird sich innerhalb der historischen Wissenschaften zunächst vor allem die Zeitgeschichte aus-

Data« in den Geisteswissenschaften u. a. Schöch (2013), Borgman (2015) und Borck (2017). Versteht man die Größe der Daten nicht rein auf ihre Menge bezogen, sondern fasst sie als ein Produkt von Menge und Komplexität auf, so kann auch und gar vor allem in den Geistes- und Kulturwissenschaften ohne Scheu von »Big Data« gesprochen werden. 11 Pars pro toto seien hier nur die vor allem in der Wirtschafts- und Sozialgeschichte bekannten Ansätze der Kliometrie genannt. 12 Der Begriff »Makroskop« wurde von Joël de Rosnay geprägt als »symbolic instrument made of a number of methods and techniques borrowed from very different disciplines« für das »infinitely complex« (Rosnay [1979]). Im Kontext historischer Forschung wurde der Begriff jüngst verwendet bei: Graham u. a. (2016). 13 Vgl. Szondi (1970), 11. 14 Hartog (2003).

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einanderzusetzen haben. 15 Andreas Wirsching schreibt der Zeitgeschichte zu Recht eine öffentliche Relevanz zwischen den Polen Pluralität und Wahrheit zu und weist die Rollenzuschreibung »des gegenwartslosen Antiquarismus und die der gegenwartsverfälschenden Lügenwissenschaft« entschieden zurück. 16 Gerade in der Zeitgeschichte werden daher die Prämissen der Digitalität künftig immer stärker zu beachten sein, sowohl was die Form des Untersuchungsgegenstandes (z. B. Social Media als Quellen), die Modi der Wissenskommunikation als auch die Methode und ihre Arbeitsinstrumente (z. B. in Richtung einer computational history) betrifft. Letztere sind im Sinne von Marc Bloch zwar nicht das Konstituierende der Wissenschaft an sich, ihnen ist aber auch nicht gleichgültig gegenüberzustehen. 17 Bislang reagiert die Geschichtsforschung auf diesen transformativen Druck eher zögerlich. Kiran Klaus Patel stellte 2011 fest, dass »technologische Innovationen und veränderte Kulturpraktiken die Beschaffenheit des Quellenmaterials für die Zeitgeschichtsschreibung im 21. Jahrhundert neu bestimmen, ohne dass in der Forschung darüber bislang eine angemessene Debatte geführt würde«. 18 Es herrsche ein »kollektiver Quietismus«, 19 insbesondere ignoriere die Zeitgeschichte »in eklatanter Weise die Veränderungen im Archivwesen«. 20 Die Problematik wurde seitdem eher am Rand denn im Kern der Geschichtswissenschaft aufgegriffen. 21 Andreas Fickers fragt nach einem »new digital historicism« und verortet ihn »by collaboration between archivists, computer scientists, historians and the public, with the aim of developing tools for a new digital source criticism«. 22 Eine ähnliche These wird auch hier vertreten. Dem Beitrag unterliegt dabei implizit die Frage, was Geistes- bzw. Geschichtswissenschaften in der Zukunft unter der Prämisse der Digitalität auszeichnen mag. Das betrifft ihre Gegenstände wie auch ihre kritischen Nicht bedacht sind in diesem Essay die wirklich modellhaft-mathematischen Zugänge zu Geschichte, wie sie etwa unter dem Schlagwort »cliodynamics« u. a. von Peter Turchin propagiert werden (Turchin [2008]). 16 Wirsching (2017). 17 Bloch (2008), 80. 18 Patel (2011), 332. 19 Patel (2011), 350. 20 Patel (2011), 342. 21 Exemplarisch zu nennen: Haber (2011), Zaagsma (2013b), Noiret Serge (2013), Schmale (2015) und Winters und Anderson (2019). 22 Fickers (2012). 15

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Methoden. Auf letztere wird in diesem Beitrag vor allem eingegangen.

3.1. Fallbeispiele: Medienwandel in der politischen Provokation Die Thesen dieses Beitrages sollen im Folgenden anhand dreier Fallstudien dargestellt werden. Die kurz skizzierten Beispiele sollen auf Kontinuität und Wandel der historischen Forschung, insbesondere der Quellenkritik hinweisen. Es besteht kein unmittelbarer historischer Zusammenhang zwischen ihnen, aber alle drei Beispiele stehen für politische Inszenierungen und Provokationen in der Machtausübung in einem Wechselspiel mit der Öffentlichkeit. Kontinuität besteht dabei in der bewussten Nutzung der jeweils zur Verfügung stehenden (Massen-)medialen Technologien; Wandel entsteht durch die Entwicklung dieser Technologien selbst: Presse, Rundfunk, Internet. Die Beispiele spiegeln damit den jeweiligen medialen Zeitgeist ebenso wider wie die Geschwindigkeit der dadurch ermöglichten Kommunikation. 3.1.1. Boten und Presse: »Emser Depesche« Das erste Beispiel rückt die sogenannte Emser Depesche in den Kontext einer diplomatischen Inszenierung und Provokation. Die Konkurrenz um die Vorherrschaft in Europa zwischen Frankreich und Preußen nach Gründung des Norddeutschen Bundes 1867 bildet den historischen Hintergrund der folgenden Aktionen, die den Streit um den Verzicht des Hauses Hohenzollern auf die spanische Thronfolge nach der Absetzung Isabellas II. 1868 zum Anlass nahmen. Grundlage der zwei Jahre später stattgefundenen öffentlichen Aufregung ist die Audienz des französischen Gesandten Vincent Benedetti beim preußischen König Wilhelm am 13. Juli 1870, über deren Verlauf der Bismarck-Vertraute Heinrich Abeken nach Berlin telegraphierte. Bismarck redigierte dieses ursprünglich interne und in einem sachlich-diplomatischen Ton verfasste Protokoll derart, dass sich der Tenor des Gesprächs nicht mehr konziliant, sondern schroff bis beleidigend darstellte. Über Bismarck wurde es sodann an die Presse lanciert, wodurch das umformulierte Protokoll der Audienz des Gesandten an die französische Öffentlichkeit gelangte und für die wohl erhoffte Empörung sorgte. 188 https://doi.org/10.5771/9783495820377 .

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Historiker bewerten die Aktion als eine bewusste Provokation Bismarcks, die Frankreich nur noch die Wahl zwischen Krieg und politischer Niederlage ließ. Am 19. Juli erfolgte die französische Kriegserklärung, in der raschen Folge die Niederlage Frankreichs und die Gründung des Deutschen Kaiserreichs. 3.1.2. Massenmedien: »Sportpalastrede« Als zweites Beispiel dient die sogenannte Sportpalastrede; jener Auftritt, bei dem Joseph Goebbels sich am 18. Februar 1943 im Berliner Sportpalast mit den berüchtigten rhetorischen Fragen wie »Wollt Ihr den totalen Krieg?« usw. für machtpolitische Zwecke öffentlich inszenierte. Diese Rede gilt nicht nur »als besonders perfides Musterbeispiel nationalsozialistischer Propaganda und Rhetorik«, sondern mit der Rede inszenierte sich Goebbels selbst als »Aufpeitscher einer kriegsbegeisterten deutschen ›Volksgemeinschaft‹«. 23 Die Rede soll als Beispiel für eine politisch motivierte Massenkommunikation dienen, denn Goebbels hielt sie nicht nur vor 15.000 sorgfältig ausgewählten und choreographisch instruierten Claqueuren vor Ort, sondern sie wurde über das inzwischen zum Massenmedium gewordene Radio übertragen, für die Wochenschau aufgezeichnet und auch international wahrgenommen. So wurde die Rede selbstverständlicher Gegenstand historischer Untersuchungen. Beispiele für kontroverse Deutungsversuche umfassen die Frage, ob die Sportpalastrede als eine Reaktion des NSRegimes auf die Konferenz der Alliierten in Casablanca am 24. Januar 1943 zu verstehen ist, sie also auf die Formulierung der bedingungslosen Kapitulation Deutschlands als Kriegsziel der Alliierten Bezug nahm oder eher als Reaktion auf die verheerende Niederlage der deutschen Truppen bei Stalingrad wenige Wochen zuvor zu interpretieren ist. In diesem Zusammenhang ist von einem Streben nach stärkerer Profilierung durch Goebbels auszugehen – nach Peter Longerich ein »Versuch, durch eine Radikalisierung des Regimes selbst die innenpolitische Führung zu übernehmen«. 24

23 24

Longerich (2011). Longerich (2011).

189 https://doi.org/10.5771/9783495820377 .

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3.1.3. Social Media: Trump Es ist nicht die Absicht, diese beiden Beispiele inhaltlich miteinander in Verbindung zu bringen, geschweige denn, die Akteure zu vergleichen. Beide Beispiele verbinden jedoch Zweck und Zeitgeist der Mediennutzung. Ihnen beiden sei gemeinsam unterstellt, dass sie eine die Öffentlichkeit nutzende, diese gar instrumentalisierende politische bzw. diplomatische Provokation darstellen. 25 Den Akteuren ist dabei weiterhin gemein, dass sie die ihnen zur Verfügung stehenden Medien, Presse bzw. Radio und Kino, für ihre jeweiligen Zwecke gezielt und, zumindest im Fall der Emser Depesche, ausgesprochen effektiv einsetzten; sie folgten der ihrer jeweiligen Zeit innewohnenden »Logik öffentlich-symbolhafter Kommunikation«, 26 indem sie sich innerhalb der entsprechenden medientechnischen Gepflogenheiten und Möglichkeiten bewegten. 27 Als vergangenes Geschehen sind die genannten Beispiele Gegenstand heutiger historischer Forschung. Wenden wir uns nun der Gegenwart zu, die für künftige Historiker die Vergangenheit und somit deren Untersuchungsgegenstand sein wird. Die Erfindung der e-Mail als neuer Modus und System der Kommunikation liegt heute nahezu ein halbes Jahrhundert zurück. Seit den 1980er Jahren gewinnt sie zunehmend an Bedeutung und verdrängt, freilich mit einer Qualitätsverschiebung, den Brief, was sie schon heute zum Medium und ihre Inhalte zur Quelle der jetzigen Zeitgeschichte macht. 28 An dieser Stelle sei aber einen Schritt weitergegangen und auf eine andere, ebenfalls internetbasierte Kommunikationsform eingegangen, wie sie von manchen Politikern der Gegenwart gewählt wird. Donald Trump kann insofern in die obige Reihe historischer Beispiele aufgenommen werden, als dass auch er die ihm zeitgemäß zur Verfügung stehende Kommunikationsmedien und -kanäle gezielt für politische Zwecke einsetzt. Dass er dies umfänglich und provozierend Vergleiche hierzu die Rolle des technischen Fortschritts zur Monopolisierung der Massenkommunikationsmittel im Aufbau von totalitären Systemen bei Friedrich (1957). 26 Patel (2011), 348. Patel verwendet den Ausdruck allgemein, nicht auf die hier dargestellten Fallstudien. 27 Vergleichbar ist dies mit den von Christopher Clark manchem politischen Akteur attestierten »intuitiven Gespür […] für die Struktur der erlebten Zeit« (Clark [2018], 14). Das Gespür für den medialen Zeitgeist bildet eine verbindende Klammer der hier hervorgehobenen Akteure. 28 Sturm (2016). 25

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tut, ist hinlänglich bekannt; ein Beispiel sind seine Äußerungen über das Atomwaffenprogramm des nordkoreanischen Diktators Kim Jong-un vom 2. Januar 2018: »[…] I too have a Nuclear Button, but it is a much bigger & more powerful one than his, and my Button works!«. 29 In Kommentaren zu Trumps Kommunikation wird das Medium »Twitter« metaphorisch gar zum physischen Raum. Dabei wird süffisant bemerkt, es »beendete der US-Präsident gegen 10 Uhr Ortszeit seinen morgendlichen Aufenthalt auf Twitter und begann mutmaßlich seinen Arbeitstag«. 30 Trump selbst bewertet die Kommunikationsmöglichkeiten über Twitter als entscheidend für seinen Erfolg bei den Präsidentschaftswahlen 2016. 31 Bismarck gelang seine Provokation vor allem auch durch die Kürze seines überarbeiteten Textes; Trump reichen gar die 140 bzw. 280 Zeichen von Twitter bequem aus. 32 Zu deren Wirkmächtigkeit https://twitter.com/realDonaldTrump/status/948355557022420992 (8. 12. 2018). Der vollständige Tweet lautet: »North Korean Leader Kim Jong Un just stated that the ›Nuclear Button is on his desk at all times.‹ Will someone from this depleted and food starved regime please inform him that I too have a Nuclear Button, but it is a much bigger & more powerful one than his, and my Button works!« 30 Donald Trump schreibt rekordverdächtig viele Tweets 2018. Vgl. hierzu Friedrich Kittlers These, dass unterschiedliche mediale Wirkungen erst dann erkennbar geworden seien, nachdem eine technische Ausdifferenzierung durch verschiedene »neue« Medien (für Kittler symbolisch Grammophon, Film und Schreibmaschine) erfolgte. »Schrift« war für Kittler »Medium überhaupt« und sei als solches nicht mehr wahrgenommen worden (Kittler [1986], 13). Es klingt an, dass Trumps »Aufenthalt« auf Twitter in ähnlicher Weise zu einem »Medium überhaupt« geworden ist. Die Beziehung zwischen Trump und Twitter wirkt dabei wie die eines Aktanten im Sinne der Theorien Bruno Latours. 31 Baynes (2017). Zur Rolle der Social Media in der US-amerikanischen (Macht-)Politik siehe bereits: Gainous/Wagner (2014). Noch deutlicher erscheint die Einflussnahme im Falle der Wahl von Jair Bolsonaro zum Präsidenten Brasiliens im Oktober 2018, bei der, Untersuchungen von David Nemer zu Folge, der Nachrichtendienst WhatsApp und die darüber erfolgte Ansprache von sogenannten »Influencern« sowie das systematische Verbreiten von »Fake News« eine entscheidende Rolle gespielt haben sollen (Nemer 2018). Zu allgemeinen Überlegungen zu dieser Problematik siehe: Lobe (2016). 32 Betrachtet man den Computer als mediales Schreib- und Kommunikationswerkzeug, so steht ein augenscheinlicher Widerspruch zur Diskussion: Einerseits wird durch den Computer ein nahezu grenzenloses Schreiben möglich, da physische Limitierungen wie Blattgröße praktisch nicht existieren. Gleichzeitig wird durch ein Werkzeug wie Twitter jede Nachricht auf 140 Zeichen beschränkt. Solche paradigmatischen Einschränkungen beeinflussen das Schreiben, und damit das Denken, möglicherweise in einer ähnlichen Art und Weise wie es bei älteren Technologien der Fall war. Bedenkt man die Kürze der Tweets, erscheint der Vergleich mit Steininschriften 29

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bemerkt beispielsweise Hillary Clinton, dass sie zwar die meisten Tweets des Präsidenten ignoriere, fügt aber die Provokationen als solche wertend hinzu: »The most dangerous thing he does is conduct diplomacy on Twitter. He is trading insults with Kim Jong-un, which is just like catnip for Kim Jong-un«. 33 Welche politische Wirkung Trump mit diesen Provokationen tatsächlich erreicht und wie seine Kommunikation und Handlungen zu deuten sind, sei dahingestellt und künftigen Historikern überlassen. Diese werden sich dann, so ist zu vermuten, Trumps Tweets als historischen Quellen nähern; unter welchen Rahmenbedingungen dies geschehen kann, soll im Folgenden weiter erörtert werden.

3.2. Kontinuität und Wandel historischer Forschung Die drei vorgestellten Beispiele sollen der historischen Kontextualisierung von digitalen Quellen dienen. Sie stellen Kommunikationsformen dar, in denen typische traditionelle Merkmale einzelner Formen (z. B. Mündlichkeit und Schriftlichkeit) teilweise konvergieren, teilweise durch Neuartiges ersetzt bzw. ergänzt werden. Hierzu zählen v. a. Social Media, die zwar möglicherweise in ihren einzelnen Ausprägungen selbst einem raschen Technologiewandel und der Mode unterliegen, pars pro toto aber für den Übergang vom »Monopol der Schrift« zum »Universalmedium Computer« stehen. Menschliche Äußerungen in Social Media wie Tweets sind von Grund auf technologisch, digital born, und damit Medien sui generis. Sie sind damit anders zu bewerten und zu benutzen als nachträglich nicht abwegig. In beiden Fällen bestimmt das Medium potentiell den Inhalt und den Schreibstil (mit). In beiden Fällen sollte der Inhalt der Nachricht wohl durchdacht sein, denn er kann (zumindest nach dem Absenden) nicht rückgängig gemacht werden: im Falle der Steininschriften, weil ansonsten die mühsame Arbeit umsonst gewesen wäre; im Falle von Twitter, weil die Nachricht potentiell ein Millionenpublikum innerhalb von Sekunden erreicht. Letztgenanntes ist ein besonderes Merkmal der sogenannten Social Media: Ein Broadcast kann potentiell durch jeden und jederzeit initiiert werden, seine Rezeption ist praktisch unkontrollierbar. Im wissenschaftlichen Kontext ist durch diesen neuen Modus das Phänomen der Instant-Kommunikation erwachsen. So werden Konferenzvorträge ohne Zeitverzug kommentiert und über Social Media diskutiert. Dies wird die Modi der wissenschaftlichen Kommunikation erweitern, wenn nicht nachhaltig verändern. Twitter und andere Social Media sind damit zu Akteuren der Wissensproduktion geworden. 33 Baynes (2017).

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digitalisierte Quellen, die durch die Anstrengungen von Bibliotheken, Archiven, Museen und Privatleuten heutigen Historikern für die Forschung zur Verfügung stehen. Letztere existierten ursprünglich in anderer Form, wie das Papier der Emser Depesche, und wurden durch Retrodigitalisierung in ein digitales Surrogat überführt. Digitalisierte Quellen werden heute selbstverständlich schon rein aus Gründen der Arbeitseffizienz von Historikern herangezogen. Für die praktische Anwendung computergestützter Verfahren der Digital History bzw. der Digital Humanities sind sie zudem eine conditio sine qua non. Als digital born sind Social Media jedoch kein digitalisiertes Surrogat; sie stehen zwar sinnbildlich für den gesamten digitalen Transformationsprozess, die Daten selbst sind aber, anders als bei der sogenannten Retrodigitalisierung nicht-digitaler Quellen nicht durch Transformation aus einem anderen Medium entstanden. Anders als für Sozial- und Politikwissenschaften, deren starker Gegenwartsbezug Social Media heute zum Ort der Forschung macht, sind digital-born-Daten für Historiker noch relativ ungewohnt, was an der gewissen zeitlichen Distanz liegen mag, die Historiker gewöhnlich von ihrem Untersuchungsgegenstand trennt. 34 Mit diesem zeitlichen Verzug werden digital-born-Quellen nun zunehmend zu Quellen für die Zeitgeschichte. 35 Heute gilt dies schon für die e-Mail ebenso wie für elektronische Akten, deren Einzug in die Behörden vor über 30 Jahren begann. In naher Zukunft werden gleichermaßen auch die jüngeren Social Media wie Twitter (eingeführt 2006) relevant: Als digital-born-Quellen werden künftige Historiker Trumps Tweets untersuchen, 36 so wie wir es heute mit der Emser Depesche oder der Sportpalastrede tun; sie stehen in dieser Tradition.

Freilich ist zwischen dem Untersuchungsgegenstand und dem Medium der Äußerung über diesen Gegenstand zu unterscheiden. Sehr wohl könnte beispielsweise eine autobiographische Erinnerung an ein lange zurückliegendes Ereignis über Social Media publiziert und somit zur Quelle werden für einen Untersuchungsgegenstand, der zeitlich vor der Einführung von Social Media liegt. 35 Siehe hierzu auch Haber (2012). 36 Selbstverständlich nicht ausschließlich, sondern als Teil eines Quellen-Mixes. 34

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4.

Historik im Digitalen

4.1. Über die historische Methode Wenn digital-born-Daten künftige Quellen von Historikern sind, so lohnt es sich, Gedanken über ihre Rolle im Forschungs- und Erkenntnisprozess der Historiker zu machen. Die folgenden Überlegungen fußen auf der möglicherweise recht traditionell anmutenden Sichtweise des Dreiklangs einer historischen Methode, wie sie bereits in der Göttinger Schule des 18. Jahrhunderts angelegt war, dann aber vor allem in Droysens »Historik« von 1857 fest verankert ist. Das »forschende Verstehen« Droysens kann in drei idealtypischen Bestandteilen näher beschrieben werden als erstens das Suchen (Heuristik), zweitens die Kritik und drittens das Beurteilen, Verstehen und Interpretieren von Quellen (Hermeneutik). Dieses vereinfachende Modell soll auf Grund seiner Einfachheit und Klarheit für die weiteren Überlegungen herangezogen werden. Die Quellenkritik selbst unterteilte Droysen in die Kritik der Echtheit, die Frage nach der Richtigkeit und die Kritik des Früheren und Späteren. Die in der Folge dann vor allem von Ernst Bernheim vorgenommene Unterscheidung zwischen innerer und äußerer Quellenkritik sowie dessen recht pragmatische Leitfragen zur Durchführung einer Quellenkritik, die er in acht Hauptaufgaben zur Beantwortung der zentralen Fragen nach Authentizität, Integrität, Intention, Kontext und Tradition untergliederte, 37 sollen nun exemplarisch und experimentell auf ein weiteres Fallbeispiel moderner online-Kommunikation angewendet und damit ein Szenario entworfen werden, wie es künftigen Historikern begegnen könnte. Hierfür sei das folgende Beispiel bemüht.

4.2. Ein Fallbeispiel Unmittelbar im Moment des Scheiterns der Verhandlungen zur Bildung einer Koalition für eine neue Bundesregierung zwischen den politischen Parteien CDU/CSU, Bündnis 90/Die Grünen und FDP am 19. November 2017 veröffentlichte die Führung der FDP den grafisch aufbereiteten Tweet »LIEBER NICHT REGIEREN ALS 37

Bernheim (1907).

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FALSCH.« 38 Dies markierte den Endpunkt einer wochenlangen Diskussion, in der die Möglichkeit inszenierter politischer Kommunikation durch die Protagonisten immer wieder im Raum der öffentlichen Beobachtung und Diskussion stand. Versetzen wir uns in die Rolle eines zukünftigen Historikers, der diesen Tweet in einem digitalen Archiv gefunden haben mag und zur politischen Situation im Deutschland des Jahres 2017 forscht, und arbeiten einige der von Bernheim vorgeschlagenen Leitfragen zur äußeren Quellenkritik wie folgt ab. In Bernheims acht Punkten zur Quellenkritik umfasst der erste die »Sichtung der Quellen«, die zunächst erfordere, »daß wir uns […] vergewissern, ob Sie wirklich das sind, wofür sie sich ausgeben […]« – die Frage nach der Echtheit der Quelle, für die nach Bernheim vier Hauptfragen zu beantworten sind: 1. »Entspricht die äußere Form der Quelle, welche in Rede steht, der Form, die den als echt bekannten sonstigen Quellen derselben Art […]?«; 2. »Entspricht der Inhalt der Quelle dem, was uns sonst aus sicher echten Quellen der Zeit und des Ortes bekannt ist […]?«; 3. »Entsprechen Form und Inhalt dem Charakter und ganzen Milieu der Entwicklung, innerhalb derer die Quelle angeblich steht […]?«; 4. »Finden sich in oder an der Quelle Spuren künstlicher, fälschender Mache, wie etwa unglaubwürdige, seltsame Art der Auffindung und Übermittelung […]?« 39 Aus der Bejahung dieser Leitfragen ergibt sich nach Bernheim die Echtheit, aus ihrer Verneinung die Unechtheit der fraglichen Quelle. Obschon Bernheims Ansatz stark mediävistisch geprägt ist, scheinen seine Leitfragen hilfreich, um auch die prospektiv zeitgeschichtliche Fallstudie künftiger Historiker zu betrachten. Vorausgesetzt, das entsprechende Vergleichsmaterial ist archivalisch oder anderweitig in die Zukunft überliefert, lassen sich die ersten drei Fragen leicht und scheinbar zuverlässig, im Sinne Bernheims durch Vergleich mit bereits wissenschaftlich gesicherter Erkenntnis, beantworten: 1. Bildhafte Tweets sahen im Erscheinungsbild durchaus im Jahre 2017 so aus; 2. Inhaltlich entspricht die im Tweet getätigte Aussage etwa der Presserklärung oder Auftritten im Fernsehen; 3. Form und Inhalt entsprechen dem Milieu des Wahlkampfes, wie ihn die fragliche Partei führte, vergleichend zu sehen etwa an Wahlkampfplakaten. 38 39

https://twitter.com/fdp/status/932386302414262272 (28. 09. 2018). Bernheim (1907), 114–118.

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Auch bei der vierten Frage, mit der Fälschungen ausgeschlossen werden sollen, sind auf den ersten Blick keine Auffälligkeiten, keine »Spuren künstlicher, fälschender Mache«, nichts Textimmanentes, das unglaubwürdig erscheint, zu erkennen. Aber hinter der Oberfläche verbirgt sich dann doch etwas, das mit der zweiten von Bernheims acht übergeordneten Aufgaben der Quellenkritik verknüpft ist: »die möglichst genaue Feststellung der Entstehungszeit und des Entstehungsortes der Quellen«. 40 Das bei Twitter archivierte Veröffentlichungsdatum dieses Tweets ist der 19. 11. 2017, doch die Entstehungszeit einer Quelle kann von deren Veröffentlichung abweichen. 41 In diesem Falle ist die Bilddatei, die Grundlage für den fraglichen Tweet bildete, im öffentlichen Bereich der FDP eines anderen sozialen Netzwerks, Google+, ebenfalls aufzufinden. 42 Dort wiederum sind weitere Informationen zu finden, die beim Upload der Datei am 20. 11. 2017 hinterlegt und archiviert wurden, nämlich, und dies ist für die Fallstudie besonders interessant, der Dateiname »171116_Sondierung_FB_IG_800x800px9.png« – ein Metadatum, das als Indiz für die tatsächliche Entstehungszeit am 16. 11. 2017 gewertet werden kann. 43 Das Ergebnis der Quellenkritik könnte also lauten: Das Bild wurde bereits drei Tage vor dessen Veröffentlichung erstellt; zu einem Zeitpunkt also, an dem die Verhandlungen eigentlich noch ergebnisoffen hätten geführt werden sollen. Eine Interpretation könnte dann lauten: Das Scheitern der Koalitionsverhandlungen war eine vorbereitete, bewusste Inszenierung. Trotz wohl richtiger Quellenkritik zum Entstehungsdatum wäre diese Interpretation jedoch voreilig. Hier ist allein schon die Befundlage nicht ausreichend. Nach öffentlicher Empörung reagiert die FDP selbst mit einem weiteren Tweet, 44 der neben der veröffentlichten zwei weitere, inhaltlich divergierende Bernheim (1907), 119. Ähnlich wie im Falle der Emser Depesche, bei der die Lancierung an die Presse einige Tage nach dem Verfassen der ursprünglichen Depesche erfolgte: Tage, die von Bismarck genutzt wurden, um den Text in der gewünschten Weise zu modifizieren. 42 https://plus.google.com/+FDP/posts/eaQRYh17mxf (28. 09. 2018). 43 In der für Computertechnologen vertrauten Notation Jahr-Monat-Tag, die v. a. ein chronologisches Sortieren erlaubt. Dass dieses Datum dem Dateinamen vorangestellt wurde, ist jedoch dem Verfasser dieser Datei geschuldet, keine Norm und daher eine Zufälligkeit. Sehr viel tiefgründigere, forensische Suchen nach in Daten verborgener Metainformation zeigt Torsten Ries am Beispiel von Schreibprozessen mittels maschineller Textverarbeitungen auf: Ries (2018). 44 https://twitter.com/fdp/status/932669493809205248 (28. 09. 2018). 40 41

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Aussagen synoptisch darstellt, die alle mit dem Metadatum 16. 11. 2017 versehen sind. 45 Eine valide Interpretation durch unseren Historiker der Zukunft müsste daher wohl lauten: Um eine schnelle Öffentlichkeitsarbeit zu ermöglichen, wurden verschiedene denkbare Ausgangsszenarien der Koalitionsverhandlungen von längerer Hand vorbereitet und nur die zum erzielten Ergebnis passende veröffentlicht.

4.3. Digitale Quellenkritik Die Zwischenbilanz und damit Ausgangssituation für die folgenden theoretischen Überlegungen kann hier lauten: Ebenso wie traditionelle Geschichtsquellen können und müssen auch digital-born-Quellen mit quellenkritischer Methodik und Gründlichkeit beäugt werden. Die Anmerkung von Klaus Arnold, Quellenkritik dürfe »in keinem Fall eine solche Interpretation immanent, d. h. allein aus dem Text heraus, und ohne eine vorherige möglichst weitgehende Recherche über die faktischen Hintergründe und die Umstände seiner Entstehung verfolgen«, 46 ist auch im Digitalen zutreffend. Nur wird diese Quellenkritik selbst zunehmend technisch-digital. Das Ermitteln etwa von Metadaten, die, wie am Fallbeispiel gesehen, eher Paratext denn Text an sich sind, funktioniert nur mit technisch-digitalen Werkzeugen und entsprechendem Sachverstand. Die digitale Quelle ist schließlich, nachdem sie überhaupt erst mit Hilfe von technisierten Heuristiken aufgefunden werden konnte, häufig nur in ihrem und aus ihrem digitalen Kontext heraus verstehbar, 47 und die »möglichst weitgehende Recherche« des für die Interpretation notwendigen Quellenmaterials erscheint im Angesicht von Massendaten mit Millionen Tweets zunächst mindestens so mühselig und schwierig wie die herkömmliche Archivarbeit. Auch dieser Prozess ist nur mit Unterstützung durch technologische Werkzeuge denkbar, für den Patel den Begriff »Datenarchäologie« verwendet. 48 Für die Historiker der Zukunft, die dann mit den aus ihrer Perspektive »alten« Daten

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»EIN ANFANG IST GEMACHT.« sowie »VERÄNDERUNG BRAUCHT MUT.« Arnold (2002), 256. Vgl. Milligan (2018) und Zaagsma (2013a), 26. Patel (2011), 338.

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umgehen können müssen, könnte sich damit eine neue Historische Hilfswissenschaft etablieren. 49 Der letzte Gedanke zu Massendaten, sowohl ihre Quantität aber auch ihre Qualität betreffend, 50 bedarf zunächst weiterer Vorüberlegung. Schon immer unterlag die Geschichtswissenschaft in ihrer Suche nach historischem Verständnis verschiedenen, teils antithetisch aufeinander wirkenden Grundannahmen, deren oftmals modisches Aufeinanderfolgen auch als Paradigmenwechsel oder Turns bezeichnet wird. 51 Solche, vielleicht dem Historismus sowohl methodisch als auch in der Frage des Geschichtsverständnisses entgegengestellten, Antithesen sind möglicherweise dadurch begünstigt, dass die deutsche Geschichtsschreibung lange Zeit idiographisch geprägt war, also versuchte, das Besondere, das Herausragende, zu untersuchen und zu beschreiben. Als Gegenpole wären dann insbesondere die nomothetischen Ansätze zu nennen, 52 also einerseits die Fragen nach den Gesetzmäßigkeiten der Geschichte, wie sie prägend sind für Geschichtsphilosophien, wie den Historischen Materialismus, und wie sie sich in den Typisierungen Max Webers wiederfinden, andererseits aber auch die »thesenorientierte Untersuchung längerer Untersuchungszeiträume« mit Berücksichtigung von »Prozess- und Strukturfaktoren«, 53 die allesamt die Betrachtungen vom entscheidenden Individuum und der kausal-orientierten Ereigniszentrierung hinweg zu lösen versuchen. Im Gegensatz zu den Naturwissenschaften geht es dabei nicht um die Suche nach Naturgesetzen und die Begründung und Erklärung mit Hilfe derartiger unumstößlicher Prämissen. 54

Hierfür sei in Analogie zur Fähigkeit des Lesens und Einordnens alter Schriften, der Paläographie, der Begriff »Paläotechm(a)erologie« vorgeschlagen. 50 Gemeint ist hier eine neue Qualität insofern, als dass diese Daten nun in anderer Weise Einblicke z. B. in das Alltagsleben geben könnten. Persönliche Begebenheiten und Beobachtungen, Belanglosigkeiten aus heutiger Sicht, für künftige Historiker aber möglicherweise von Interesse, bis hin zu den automatisch generierten Daten des Internet of Things, könnten für historische Forschung zur Verfügung stehen. In einem späteren Abschnitt wird dies weiter thematisiert. 51 Kuhn (1962) bzw. Bachmann-Medick (2006). 52 Die Unterscheidung idiographisch-nomothetisch nach Wilhelm Windelband (Windelband [1894]). 53 Patel (2011), 347. 54 In diese Richtung tendieren jedoch die geschichtswissenschaftlichen Ansätze der behavioristischen »cliodynamics«, wie sie unter anderem von Peter Turchin vertreten werden (Turchin [2008]). 49

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Zu denken ist ferner an die Erweiterung des historischen Gegenstands, weg von der Reduktion der Geschichtswissenschaft auf Staat und Politik, die für den deutschen Historismus prägend war, zu beispielsweise »transnational-beziehungsgeschichtlichen und komparativen Problemen« 55 oder der Ausgestaltung von New History, Nouvelle Histoire oder der neuen Kulturgeschichte. Auch letztere kann wiederum Veränderungen unter den Prämissen der Verdatung und der Digitalität erfahren, die zumindest die Möglichkeit einer erweiterten Quellenlage künftiger Historiker etwa im Bereich privater Aufzeichnungen mit sich bringt und damit durchaus neue Fragestellungen und eine andere Qualität in den Untersuchungsgegenständen der Forschung verspricht. Hierauf soll später noch eingegangen werden. Antithetisch wirken dabei auch die zur Zeit stark propagierten quantitativen Ansätze in den Geistes- und Kulturwissenschaften, die unter Begriffen wie Distant Reading (als Methode), Culturomics (als Forschungsansatz) oder Big Data (als allgemeines Leitmotiv) nach Gesetzmäßigkeiten suchen und in ihrem methodischen Ansatz darauf verzichten, die menschlichen Äußerungen im Einzelnen lesen geschweige denn verstehen zu wollen. Aber auch ohne paradigmatische Festlegung der historischen Arbeitsweise sind die digitalen Zugänge zu den Geschichtswissenschaften zu diskutieren. Denn gleichermaßen wie für die eher nomothetischen Big-Data-Ansätze wäre auch für eine idiographische Geschichtsschreibung im Digitalen die heuristische Frage zu beantworten, wie relevante Daten überhaupt noch gefunden werden können. Für das Aufsuchen von Tweets der Staatenlenker bedarf es dabei einer digitalen Infrastruktur und passender und zuverlässiger Suchsowie Filteralgorithmen des maschinellen Information Retrievals. Zudem spielt nicht nur in der Makrogeschichte, sondern auch im idiographischen Ansatz die Analyse von Massendaten eine Rolle. Denn wenn es beispielsweise darum geht, die »Viralität« eines diplomatisch provozierenden Tweets zu analysieren, also etwa die räumliche, zeitliche und soziale Diffusion von 184.000 Retweets des oben genannten Beispiels in den Blickpunkt zu nehmen (weiterhin sei hier an zukünftige historische Forschung gedacht), 56 so geht es dabei insbesondere um die Erfassung der Struktur von Daten und Metadaten,

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Patel (2011), 347. Siehe exemplarisch Kwak u. a. (2010).

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die ein makroskopisches Instrumentarium erfordern: 57 »Angesicht der von Menschen und Maschinen generierten riesigen Datenmengen wären wir ohne Algorithmen blind«. 58 Benötigt werden daher quantitativ, ggf. probabilistisch operierende Verfahren und vor allem belastbare Daten. Daten wird der künftige Historiker womöglich sogar im quantitativen Überfluss haben, wenn sie archiviert, kontextualisiert und dann auch gefunden werden können. 59 Die hierzu herangezogenen Analysemethoden müssen computergestützt sein, und Arbeitstechniken, die sie operationalisieren, werden vermutlich Ähnlichkeiten mit sozial- und ggf. naturwissenschaftlichen Arbeitstechniken aufweisen und von einem »computational thinking« mit geprägt sein. 60 Dessen zentraler Bestandteil ist das algorithmische Denken, das durch Abstraktion, Generalisierung und Dekomposition geprägt ist und in dessen Kern »ideas of logical thinking, pattern matching and choosing good representations of data for the problem at hand« liegen. 61 Gerade der letzte Aspekt ist wichtig, denn eine entscheidende methodische Frage in diesen datenzentrierten Ansätzen wird sein, ob die Daten qualitativ »good«, d. h. für die jeweilige Fragestellung relevant und belastbar sind 62 und wie man einer Selbstentmündigung des Wissenschaftlers durch den Einsatz von Algorithmen, die er nicht versteht, vorbeugt. Denn dass sich auch mit falschen Daten exakt rechnen lässt, ist nicht nur ein Problem der digitalen Geisteswissenschaften. Ebenso wenig ist die Gefahr einer Pseudo-Exaktheit der Ergebnisse von der Hand zu weisen. Auswahl, Erfassung, Modellierung der Daten und das Setzen von zentralen Parametern der maschinellen Verfahren und deren Dokumentation müssen folglich Teil des geisteswissenschaftlichen Forschungsprozesses sein und dürfen keine unbewussten Black-Box-Dienstleistungen darstellen. Zwar wären wir Vgl. als weiteres Beispiel »rund 250.000 Depeschen aus dem Afghanistan- und dem Irak-Krieg, die durch WikiLeaks […] veröffentlicht wurden«, das Peter Haber anführt und im Kontext maschineller Verarbeitung von Daten zur Darstellung und Analyse von Strukturen diskutiert: Haber (2012). Siehe auch das von Kiran Klaus Patel herangezogene Beispiel von Wikileaks-Veröffentlichungen: Patel (2011). 58 Stalder (2017), 13. 59 Vgl. Patel 2011, 337: »Die Arbeit in den Archiven selbst wird künftig noch mehr als bisher zur Suche nach der Nadel im Heuhaufen«. Siehe auch Rosenzweig (2003). 60 Der Begriff wurde von Seymour Papert (1980) geprägt. Siehe Papert (1982) und ausführlicher Papert (1996). 61 Curzon und McOwan (2017), 195 f. 62 Vgl. Rehbein (2018). 57

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ohne algorithmische und allgemein maschinengestützte Zugänge zu den Daten »blind«, aber ohne Verständnis dieser Algorithmen als Wissenschaftler entmündigt. Die Vermeidung von Pseudo-Exaktheit und einer daraus resultierenden Fehlinterpretation wiederum ist eine Frage der fachwissenschaftlichen Quellenkritik, die im Sinne von Jörn Rüsen in einem »hermeneutischen Duktus von Interpretation« systematisch anzuwenden ist. 63 Sucht der Historiker nach den strukturellen Merkmalen der Diffusion eines einzelnen Tweets, ist die Quellenkritik auf die Retweets etc., also 184.000-mal, anzuwenden. Folglich müssen auch hier die entsprechenden computergestützten Verfahren kritisch zum Einsatz kommen. Unter kritisch sei hier zu verstehen, dass das »computational thinking« der datenzentrierten Wissenschaft nicht isoliert steht, sondern mit der historischen Methode, dem »historical thinking« der Quellenkritik, 64 abgestimmt werden muss: Denken und Rechnen müssen in Einklang gebracht werden. 65 Dabei ermöglichen das Makroskop und »Big Data« es den Historikern beispielsweise, sowohl große Zeit- als auch geographische Räume zu überblicken. Oberflächlich betrachtet erfolgt dies mit verhältnismäßig einfachen Mitteln der Datenanalyse; es erfordert aber zugleich die historischen Kenntnisse über diese Zeiten und Räume, um die mit dem Makroskop gewonnenen Informationen deuten zu können, möchte man nicht bei einer rein deskriptiven Darstellung des Beobachteten bleiben. 66 Dabei ist das Deutungsangebot, das dem Befund zu folgen hat, die Kernaufgabe der Geisteswissenschaften, Vgl. Rüsen (1976), 31 f. Gemeint ist hier das Denken als Teil des spezifischen kognitiven, wissenschaftlichen bzw. Wissen schaffenden Prozesses der Historiker, nicht das generellere historische Gedächtnis oder Bewusstsein, die ebenfalls mit »historical thinking« konnotiert werden, so etwa in Rüsen (2002). 65 Siehe für ähnliche Überlegungen Haber (2012), Zaagsma (2013a), 19 und Clavert (2012). Lincoln Mullen schlägt den Begriff »computational historical thinking« vor (http://lincolnmullen.com/projects/dh-r [8. 12. 2018]). 66 Der hier anvisierte Prozess könnte als eine Art hermeneutischer Zirkel verstanden werden, denn die durch maschinelle Verfahren typischerweise vorgenommenen Klassifizierungen erfordern Modelle, die nicht a priori feststehen, sondern durch stete Sichtung und Interpretation der Daten weiterentwickelt werden. Big Data hat damit eben keinen rein induktiven Charakter; die wissenschaftliche Hypothesenbildung erledigt sich durch die riesige, vorhandene Datenmenge gerade nicht von selbst, anders als unter dem Schlagwort »end of theory« gelegentlich postuliert. Freilich kann »Big Data« in einem generativen Modell maßgeblich zu einer Hypothesenbildung beitragen. 63 64

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denn Wissenschaft bedeutet nicht die bloße Ansammlung von Fakten, die als solche bedeutungslos bliebe, sondern auch das Gewinnen von Einsicht. An Hand der globalen Rezeption des Tweets eines USPräsidenten wird dies besonders deutlich, der Sachverhalt trifft aber ebenso auf alle makroskopischen Ansätze zu, die zunehmend auch auf die ältere Geschichte angewandt werden und die keine digitalborn-Quellen kennen, sondern mit digitalisierten Quellen arbeiten. Etwas plakativer könnte man für das Vorherige formulieren: Big Historical Data erfordert Big Quellenkritik. Dies wiederum zieht nach sich, dass die Quellenkritik selbst automatisierbar sein muss. Solange eine derartige Automation auf einer Algorithmik (und nicht auf Verfahren maschinellen Lernens) beruht, ist sie zugleich systematisch und sozusagen unbestechlich: Das Einzelne entzieht sich einer idiosynkratischen Betrachtung und einer potentiellen Voreingenommenheit. Der »hermeneutische Duktus von Interpretation«, dem die Quellenkritik nach Rüsen zu unterwerfen sei, wäre somit auf das Quellenkorpus als Ganzes anzuwenden, wofür entsprechende Ansätze noch zu entwickeln wären. Auf das Beispiel des Tweets angewendet bedeutet dies, dass die »Annahmen über die allgemeine Beschaffenheit der in den Quellen gegebenen Tatsachen und ihrer Zusammenhänge« 67 folglich als Apriori so zu formulieren sind, dass sie 184.000 Mal in gleicher Weise anwendbar sind und bei exakt gleichen Voraussetzungen zu exakt gleichen Kategorisierungen führen. 68 Synchron zu einer zu automatisierenden Quellenkritik entspringt daraus jedoch auch die Gefahr von systematischen bewussten Manipulationen oder unbewussten Fehlern, wie sie ebenso in den Sozial- und Naturwissenschaften vorzufinden sind. In einer derart gedachten Vereinigung von »historical thinking« und »computational thinking« kann ein Auflösen des Widerspruchs von idiographischer und nomothetischer Methode entstehen; eine Synthese, in der die in einer langen Tradition erörterte Einbettung Rüsen (1976), 31 f. Auch hier erinnern gegenwärtige Verfahren an die Forderungen, die an die historische Quellenkritik gestellt werden. Zu denken wäre etwa an die Versuche von Anbietern von Aggregaten von Nachrichten und Mikronachrichten wie Google, Twitter, Facebook oder andere zum Erkennen (und Herausfiltern) von Fake News, rassistischen oder gesetzeswidrigen Äußerungen (positiv gedacht) bzw. zur bewussten Manipulation (negativ gedacht, vgl. Lanier [2018]; zu technischen Verfahren siehe Fisher [2018]). 68 Bzw. sollten bei statistischen Verfahren die Abweichungen unterhalb einer statistischen Signifikanz-Schwelle liegen. 67

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der Geisteswissenschaften in die Forschungslandschaft im Kontext der Digital Humanities und unter den Prämissen von Digitalität und Verdatung neu zu denken ist. Unter Rückgriff auf Droysen, der Geistes- und Naturwissenschaften primär nach dem Wie? der Methodik unterschied, werden Geisteswissenschaften um naturwissenschaftlich anmutende Methoden ergänzt, so dass das hermeneutische Prinzip nicht (mehr) konstituierend für die Geisteswissenschaften ist. Sie werden dabei jedoch nicht zu Naturwissenschaften und verlieren ebenso wenig ihren aus der menschlichen Erfahrung heraus geborenen interpretativen Charakter wie ihre Funktion zur Schaffung von Deutungs- und Sinnangeboten. Unter Rückgriff auf Dilthey, der eher nach dem Was? des Studiengegenstands unterscheidet, wäre durch die Digitalität zunächst wenig an Veränderung in den Geisteswissenschaften zu beobachten, 69 auch wenn sich der menschliche Geist zunehmend im Digitalen verortet fühlt und die menschlichen Äußerungen sich selbst technisieren.

4.4. Digitale Quellen und Heuristik 4.4.1. Über Fälschungen Die Gedankenspiele zu den Geschichtswissenschaften unter den Vorzeichen der Digitalität seien an vier weiteren Einzelfragen fortgeführt, die Historizität als Verflechtung von Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft weiter zu reflektieren versuchen. Verschiedene Elemente der Quellenkritik sind auf digitale Quellen zu übertragen. Dies gilt gleichermaßen und insbesondere für die Kritik der Echtheit der Quelle. Allein die gegenwärtige Omnipräsenz des Begriffs »Fake News« belegt deren aktuelle Bedeutung. Dabei sind Fälschungen keine Erfindungen der heutigen Zeit. 70 Viel Erkenntnis über die Vergangenheit können wir gerade aus solchen Fälschungen gewinnen, nicht nur über den Fälscher, sondern über dessen Intentionen und letztlich über typische historische Gegenstände wie Politik und Herrschaft. Hierzu muss die Fälschung als solche erkannt und von der Nicht-Fälschung unterschieden werden – das discrimen veri ac falsi ist damit zentrales Element der Quellenkritik. Ähnlich auch Graham u. a. (2016). Zahlreiche Historiker haben sich etwa mit Fälschungen im Mittelalter beschäftigt, deren bekanntestes Beispiel vielleicht die sogenannte Konstantinische Schenkung ist.

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In der Geschichte schien bislang jedes Medium anfällig für Fälschungen; mit der Erfindung der Technik zur Beschriftung oder Bemalung eines Text- oder Bildträgers wurden auch Techniken zu dessen Manipulation geschaffen und Fälschungen für machtpolitische oder andere Zwecke verwendet. So wurden im 20. Jahrhundert fototechnische Retuschen zum politischen Instrumentarium, und entsprechende Manipulationstechniken für das Bewegtbild ließen nicht lange auf sich warten. Auch digitale Daten sind dergestalt anfällig für Manipulation, dass die Frage nach ihrer Authentizität und Integrität zentral für das Vertrauen innerhalb der globalen Kommunikationsund vor allem wirtschaftlichen Transaktionsströme geworden ist. Schon immer waren (gute) Fälschungen technisch aufwendig und erforderten gewisse Versiertheit in ihrer Anfertigung; wenn sie aber gut gemacht waren, erforderte die Aufklärung ebenfalls versierte Kenntnisse und Fertigkeiten. Häufig wird hierzu forensisch-multidisziplinär vorgegangen: Die Kritik der Echtheit lässt sich nicht ausschließlich mit einer textimmanenten Herangehensweise leisten, sondern wird durch die materielle Untersuchung ergänzt. Während zum Beispiel Spuren der Rasur auf Pergament unter Umständen noch augenscheinlich erkannt und bewertet werden können, sind bei elaborierteren Fälschungen oftmals hilfswissenschaftliche Methoden heranzuziehen, die über das übliche Spektrum der hermeneutischen Geisteswissenschaften hinausgehen. 71 Im Digitalen verlagert sich die Frage dieser materiellen Quellenkritik, 72 da neben der Quelle selbst die Fälschung immateriell geworden ist und ein haptisches und gegebenenfalls auratisches Trägermaterial im klassischen Sinne für die forensische Prüfung auf Echtheit fehlt. 73 Gleichzeitig scheinen Fälschungen einfacher geworden zu sein, vor allem scheinen sie schneller und einfacher in Umlauf zu geraten. 74 Die Schwierigkeit, damit umzugehen, wird in der Zukunft Zu denken ist hier u. a. an die Materialforschung, die beispielsweise zur Enttarnung der vermeintlichen Hitler-Tagebücher beigetragen hat. 72 Schon für den Nutzer digitalisierter Quellen geht das Materielle verloren. Es könnte aber am Original überprüft werden, während es bei digital-born von vornherein fehlt. 73 Zur Aura des Digitalen vgl. Betancourt (2018). 74 Aktuell kommen unter dem Begriff »deep fake« Fälschungen von Bewegtbildern in Mode. Siehe Weber (2018), wo zugleich gefragt wird: »Wie können Deep Fakes entdeckt werden?« und »Wie können Deep Fakes verifiziert werden?«. Siehe dazu auch Supasorn Suwajanakorn, »Fake videos of real people – and how to spot them«, TED 71

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erhalten bleiben, ebenso wird die Chance bestehen bleiben, dass auch künftige Historiker aus der Fälschung als Phänomen historische Kenntnisse gewinnen können. 4.4.2. Menschliche und maschinelle Äußerungen Im Digitalen – Web-Publikationen wie Social Media – geht es nicht mehr nur um Fälschungen und ein discrimen veri ac falsi im klassischen Sinne. Es geht zunehmend auch um das Trennen der menschlichen Äußerung von der maschinellen. Bekannt ist heute, dass ein nicht unerheblicher Anteil von Internetkommunikation bestenfalls mittelbar menschlichen Ursprungs ist und Texte und andere Inhalte automatisiert erstellt und verbreitet werden (z. B. durch social bots). Durch sich selbst verbessernde Systeme könnte eine texterzeugende oder gesprächsführende Maschine nun zum kommunizierenden Subjekt werden. Dass dies zu Einflussnahmen (Nudging) oder Zwecken der Propaganda genutzt wird, scheint inzwischen gesichert. 75 So ist die Möglichkeit der politischen Inszenierung oder Provokation in einer Art Traditionslinie der eingangs skizzierten Fallstudien durch Maschinen (Bots) denkbar, wie aktuelle Untersuchungen des Oxforder »Computational Propaganda Research Projects« 76 zu den »Kremlbots« der russischen »Internet Research Agency« und ihren Aktivitäten im Kontext der US-Wahlkämpfe nahelegen. 77 Das traditionelle Verständnis von Hermeneutik als eine Hermeneutik der menschlichen Äußerung, wie es etwa Dilthey oder Schleiermacher formulieren konnten, stünde möglicherweise in Frage. Auch hier zeigt sich, dass die binäre Klassifikation von Geistes- und (oder: versus) Naturwissenschaften zu kurz greift. Gerade durch Algorithmen produzierte Äußerungen sind das Gegenteil von Natur; 2018 (https://www.ted.com/talks/supasorn_suwajanakorn_fake_videos_of_real_ people_and_how_to_spot_them) (5. 1. 2019). 75 Siehe z. B. Lepenies und Małecka (2015). Zum Konzept des »nudging« siehe Thaler und Sunstein (2009). 76 Unter Leitung von Philip N. Howard am Oxford Internet Institute: »The Computational Propaganda Research Project (COMPROP) investigates the interaction of algorithms, automation and politics. This work includes analysis of how tools like social media bots are used to manipulate public opinion by amplifying or repressing political content, disinformation, hate speech, and junk news« (https://comprop.oii.ox.ac.uk/) (11. 1. 2019). 77 »A sustained effort to manipulate the US public and undermine democracy« (Howard u. a. [2018], 39).

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sie sind mittelbare Produkte menschlichen Geistes. Zu bedenken ist an dieser Stelle, wie nicht durch Algorithmik, sondern durch Prozeduren des maschinellen Lernens entstandene Äußerungen einzuordnen sind. 78 Zwar ist der Mensch noch immer Schöpfer der Algorithmen oder der Künstlichen Intelligenz. Die daraus entstandenen »selbständigen« Äußerungen sind aber schwerlich etwa auf den Programmierer eines Algorithmus zurückzuführen, 79 wodurch deren Distanz zum Menschen größer wird. 80 Sie werden zunehmend unkontrollierbar. Drei Stoßrichtungen wären hier künftig zu diskutieren: 1. das Herausfiltern der menschlichen Äußerungen (einschließlich menschlicher Reaktionen auf maschinelle Kommunikation) aus der Gesamtheit aller Äußerungen, sozusagen ein Turing-Test als discrimen humani ac artificiosi; 2. das Verständnis maschineller Äußerung als mittelbarer menschlicher Äußerung; 3. die Betrachtung von Maschinen als Akteure und die Entwicklung einer Hermeneutik maschineller Äußerung. 81

Durch Verschmelzung von IT-Technologie und Biotechnologie entstehende, teleologische transhumanistische Gedankenspiele, wie sie bei Historikern prominent von Yuval Noah Harari diskutiert werden, seien bei diesen Überlegungen ausgeblendet. Siehe zu Letzterem: Harari (2017). Für einen breiteren Kontext einer »posthumanist history« siehe auch: Domanska/LaCapra (2019). 79 Vgl. zu diesem Gedanken: Dyson (2019). 80 Dies ist aber nicht grundsätzlich so und stellt Entwicklungen auf dem Gebiet der Künstlichen Intelligenz vor Probleme. So wurde in einer Studie gezeigt, wie maschinelle Äußerungen auf Grund ihrer Trainingsdaten (eben menschlicher Äußerungen) beispielsweise rassistische und sexistische Stereotype reproduzieren (Caliskan u. a. [2017]). Derartige Systeme können daher zu einer Voreingenommenheit oder zu einem statistischen Bias neigen, da sie auf Daten trainiert werden, die in der Vergangenheit und unter bestimmten historischen, kulturellen und konstruktivistischen Bedingungen erzeugt wurden. Eine Künstliche Intelligenz ist von daher aufgrund des historischen Charakters ihrer Trainingsdaten selbst zu historisieren. 81 Dies wäre ein anderes Konzept einer »digitalen Hermeneutik« als das von Rafael Capurro vorgeschlagene. Es widerspricht möglicherweise auch der gängigen Vorstellung, dass Hermeneutik, also das Verstehen, nur auf der Basis von Lebenserfahrung möglich ist, also verkürzt: Nur Menschen können Menschen verstehen, und analog: Nur Maschinen können Maschinen verstehen. Zur Konzeption der »digitalen Hermeneutik« vgl. Capurro (2010). Zu berücksichtigen ist dies auch in den Bereichen der »dogmatischen Hermeneutik«, Literatur, Malerei, Musik, da es zunehmend zu gelingen scheint, Künstliche Intelligenz zur Schaffung von Kunst einzusetzen (Landwehr [2018]). Die oben skizzierten verschiedenen Stoßrichtungen bewegen sich dabei auch um die Frage eines (Post-)Anthropozentrismus. 78

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All dies kann und wird im Zusammenhang mit sogenannter Künstlicher Intelligenz bzw. selbstlernenden Systemen zunehmend komplex werden. Auch hier schaffen neue technische Möglichkeiten neue methodische Probleme für künftige Historiker. Die Bearbeitung dieser Probleme mit Hilfe von Technologie ist Aufgabe der Digital Humanities; sie spielen hier die Rolle einer Hilfswissenschaft, vielleicht tatsächlich vergleichbar mit einer Kodikologie oder Materialwissenschaft im Traditionellen. 4.4.3. Das Webarchiv Die Emser Depesche und ihr kontextuelles Schriftgut blieben über das obrigkeitliche Archivwesen auf traditionelle Weise erhalten. Allgemein gilt: Schriftliche Kommunikation wie Briefe waren und sind direkt archivierbar; mündliche Kommunikation bestenfalls indirekt durch verschriftlichte Gesprächsprotokolle, seit dem 20. Jahrhundert auch über Tonaufnahmen. Dies gilt etwa für den Auftritt Goebbels im Sportpalast: Rede und Geräuschkulisse im Saal können über entsprechende Aufnahmetechniken dauerhaft gespeichert werden, was aber schon für die Reaktionen der am Radio Hörenden nicht mehr gilt. Insbesondere über Social Media wird zurzeit augenscheinlich in einer hybriden Weise kommuniziert. Hier verschmelzen Eigenschaften wie die Geschwindigkeit und Unmittelbarkeit des Austauschs, unter Umständen auch die Herausbildung eines spezifischen Sprachstils, die man traditionell einer mündlichen Kommunikation zugeschrieben hatte, mit der Reichweite von Massenmedien und der Möglichkeit der auf lange Zeit ausgelegten Dokumentation dieser Äußerungen, die wiederum ein traditionelles Merkmal schriftlicher Kommunikation ist. Voraussetzung dafür, dass digitale Daten zu Quellen künftiger Historiker werden können, ist die Überlieferung dieser Daten. Erst ihre potentielle Archivierbarkeit kann diese zu historischen Quellen werden lassen, zugleich werden sie aber – wie die nicht-digitale Information und die Archive der Vergangenheit – auch zu einem Instrumentarium der Machtausübung. Dabei ist das Internet selbst kein Archiv, sondern vernetzte Technologie zum Austausch von Information, deren Funktionieren sich auf allgemeine Akzeptanz eines Regelwerks (Protokoll) gründet. Archivierung hingegen bedarf bewusster und gesteuerter organisatorischer Maßnahmen, zumindest solange,

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bis die Grundlagen für eine Selbstarchivierung von Internetkommunikation geschaffen wurden. Dies ist bislang nicht der Fall. 82 Für Ansätze, eine Archivierung der aus der Internetkommunikation entspringenden Daten systematisch umzusetzen, wird häufig der Begriff »Webarchiv« verwendet. 83 Dabei scheint jedoch noch Manches im Unklaren zu liegen, was nicht zuletzt an den typischen Eigenschaften digitaler Daten liegt: Sie sind leicht veränderlich, immateriell 84 sowie ausgesprochen disparat in Bezug sowohl auf ihre Provenienz als auch auf die Spannbreite, die vom electronic Government über private multimediale Internet-Veröffentlichungen bis hin zum Social Media reicht. Vor allem ist aber neben den Fragen über Archivwürdigkeit und Archivfähigkeit die Zuständigkeit für die Webarchivierung noch immer nicht in allen Fällen geklärt. Zwar existieren auf der einen Seite Ansätze für die Archivierung behördlicher elektronischer Aktenführung, die auch in den entsprechenden Archivgesetzen berücksichtigt sind. Hier ist die Hoheit über und Kontrolle der Daten durch die Behörde gegeben. 85 Für den Tweet eines Politikers, bei dem ein kommerzieller Dienstleister in Anspruch genommen, wird, ohne dass der Tweet archivierbare Spuren in der Behörde hinterlassen würde, ist dies auf der anderen Seite jedoch oft ungeklärt. Hierauf hat bereits Peter Haber hingewiesen und angesichts einer »immer dominanter werdenden Netzkultur« einen »Gedächtnissturz« befürchtet. 86 So ist der Erhalt von Websites aus der Frühzeit des World Wide Webs heute eher Zufallsüberlieferung und so dünn gesät, dass gerne von den »Internet Dark Ages« gesprochen

Aus Sicht der Archivwissenschaft werden diese und die folgenden Fragen jüngst und ausführlich thematisiert in Keitel (2018). 83 Brügger/Schroeder (2017). 84 Neben ihrer rein ontologischen Existenz besitzen digitale Daten einen physikalischen Träger (Speicher), ohne den sie nicht existieren können. Im Unterschied zu einem genuin materiellen Informationsträger lassen sich digitale Daten aber in sehr schneller Zeit und mit geringem Aufwand identisch kopieren. 85 Vgl. hierzu auch den Exkurs zu Informationsfreiheitsgesetzen sowie die Vertretung wissenschaftlicher Interessen in den Archiven: Patel (2011), 336. 86 Haber (2012). Ähnliches befürchtet Patel bereits durch die fehlende systematische Archivierung von Fernsehsendungen in der Bundesrepublik Deutschland (»dass zum Beispiel in der Bundesrepublik Fernsehsendungen nicht systematisch archiviert und für die Forschung aufbereitet werden, ist ein skandalöser Gedächtnissturz«: Patel [2011], 340). 82

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wird. Zufallsüberlieferungen sind aber nicht im Sinne der Kulturbewahrung durch Archive der Moderne. 87 Für ein zentralistisch kontrolliertes Kommunikationssystem wie Twitter ist die Möglichkeit der Archivierung aller jemals produzierten Daten durch die Technologie systemimmanent gegeben. Theoretisch bedarf es hierbei, im Gegensatz zu dezentralistisch gehosteten Websites, keiner bewussten Archivierung, sondern lediglich der Bereitstellung von gesichertem Speicherplatz in ausreichendem Umfang. Diese Archivierung ist zunächst aber reine Grundlage des Geschäftsmodells des privatwirtschaftlich agierenden Unternehmens Twitter. Bei tweetenden Politikern handelt es sich hingegen um Träger öffentlicher Ämter, deren Äußerungen von gesellschaftlichem Interesse sind. Ansätze, diesen Konflikt zu lösen, erscheinen eher punktuell. So verweist Haber zwar auf eine Vereinbarung der Library of Congress mit Twitter zur Archivierung von Tweets, 88 zugleich aber darauf, dass dies für andere »Social Network Services« wie etwa Facebook nicht gelte. 89 Zudem ist fraglich, wie sich das Verhältnis zwischen privatwirtschaftlichen, zumeist in den USA ansässigen, Dienstleistern und behördlichen Archiven verschiedener Länder gestalten wird. Die Frage ist also durchaus noch offen, ob wir in 50 oder 100 Jahren noch auf Social-Media-Daten des Jahres 2018 werden zugreifen können oder ob wir dann nicht doch lediglich über andere archivierte Quellen indirekt von ihnen und ihren Inhalten erfahren, so dass Social Media basierte Kommunikation in Zukunft doch als ephemere, der Mündlichkeit näherstehende Kommunikationsform bewertet werden wird. 90 Für Archivare ist folglich die Frage zu beantworVerstärkend zum Konflikt zwischen staatlicher Archivierung und privatwirtschaftlichen Interessen sind durch Social Media Kommunikationsräume geschaffen, in denen in derzeit noch nicht klar definierter Weise die Kategorien privat und öffentlich neu ausgehandelt werden. 88 Twitter. Inc. und The Library of Congress 2010 (14. 1. 2019). 89 Patel (2011) und Haber (2012). Inzwischen (Dezember 2017) führt die Library of Congress die Twitter-Archivierung nur noch selektiv durch (Osterberg [2017]). 90 Zu den Kommunikationsformen siehe Patel (2011), 340. Hierzu auch Roy Rosenzweig, der bereits vor fünfzehn Jahren das Spannungsfeld zwischen einer auf künftige Historiker zukommenden »unheard-of historical abundance« und der drohenden »future of record scarcity« polarisiert. An beiden Polen veränderten sich die Praktiken der Historiker. Erfolgreich sei dies nur in einem interdisziplinären Zusammenspiel mit Archivaren und Computerwissenschaftlern (Rosenzweig [2003], 736). Zur Frage der Archivierung von Social Media siehe auch Kiechle (2017). 87

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ten, ob wir uns mit unseren Kommunikationsformen in die Abhängigkeit weniger privater Unternehmen wie Twitter oder Facebook nicht nur gegenwärtig begeben, 91 sondern wie die Gefahr gebannt wird, bereits jetzt künftige Historikergenerationen von ihnen abhängig zu machen. 92 Schon jetzt scheint in der Forschung eine Schieflage durch die Präsenz digitalisierter als auch digital-born-Daten dadurch entstanden zu sein, dass bevorzugt das erforscht wird, was digital vorliegt, während alles andere vernachlässigt wird. 93 Was aber passiert, wenn die genannten Unternehmen zukünftig nicht mehr existieren sollten, sie ihre Produkte einstellten, 94 andere Geschäftsmodelle einführten oder ihr Geschäftsmodell dann gerade darin bestünde, historische Daten profitträchtig zu verkaufen? Derartige potentiell disruptive Veränderungen für die Wissenschaften und damit verbundene ethische Implikationen zu bewerten, ist die herausfordernde Aufgabe für die nächste Zeit: »Wahrscheinlich wird es noch sehr lange Zeit dauern, bis sich die Archivarinnen und Archivare auf Eine derartige Abhängigkeit ist in der zitierten Studie von Howard u. a. zur potentiellen russischen Einflussnahme auf politische Diskurse in den USA besonders deutlich. Die Studie erfolgte im Auftrag des US-Kongressausschusses SSCI (Senate Select Committee on Intelligence); die Daten wurden jedoch von den »social media firms« vorselektiert und bereitgestellt, teilweise mit mangelnden Metadaten. Siehe v. a. Howard u. a. (2018), 6–8; 17. 92 Im Gegensatz zum hier geführten Argument setzte Andreas Fickers (2012) in Rückgriff auf Mike Featherstone noch das Versprechen eines demokratischen, hierarchielosen Internets und einer »new culture of memory« an, »in which the hierarchical control over access to cultural heritage would disappear«. Das Gegenteil scheint jedoch mehr und mehr der Fall zu sein. Die beschriebene Zugangskontrolle bleibt bestehen und verschärft sich durch ihre Verlagerung in eine privatwirtschaftliche Domäne. Auch die Befürchtung Fickers, dass ein »unmediated access [to historical sources] would lead to a decline of the intellectual and academic power of historians, who no longer stand between people and their past«, sollte neu bewertet werden. Schließlich sollte auch in Zukunft Geschichte ein Konstrukt sein, das aus der jeweiligen zeitgenössischen Perspektive bewertet wird. Ob dann ohne historischen Fachverstand diese »unmediated« Daten wirklich historisiert werden können, muss bezweifelt werden. Denn erst die richtige Fragestellung und eine historische Methode macht Zeugnisse der Vergangenheit zu Quellen, die ansonsten nur kontextlose Datenpunkte blieben und nicht zu Information geschweige denn zu Wissen und Erkenntnis verarbeitet werden könnten. Die Gefahr, der historischen Wissenschaften ihre Legitimität mit dem Verweis auf die offene und transparente Zugänglichkeit der Daten der Vergangenheit abzusprechen, besteht jedoch zweifelsohne. Vgl. Fickers (2012). 93 Hierzu u. a. Patel (2011), Haber (2011) und Rehbein (2018). 94 Im Falle des in obiger Fallstudie referenzierten Dienstes »Google+« geschieht dies gerade. Was mit den (historischen) Daten geschieht, ist ungewiss (Google+ wird nach Datenleck 2018 geschlossen). 91

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angemessene Antworten zu diesen Fragen verständigen können. Erst ganz allmählich deuten sich die Komplexität und die Dimension der Aufgaben an, die auf uns warten. Schritt für Schritt sammeln wir die Fragen, die sich uns in der neuen digitalen Welt stellen«. 95 4.4.4. Das perfekte Archiv Auch in der vor-digitalen Zeit haben Menschen auf Medienäußerungen reagiert. Sicherlich gilt dies auch für die Presseberichte über Bad Ems bzw. die Rundfunkübertragung der Sportpalastrede. Was sie aber nicht konnten (oder nur sehr aufwendig und eingeschränkt), war, mittels genau dieser Medien (d. h. Presse, Radio) gleichrangig zu reagieren, 96 geschweige denn innerhalb dieser Medien zu interagieren. Dies ist eine neue Komponente bei den Social Media. Während Bad Ems also zunächst mit nur wenigen Akteuren der Kommunikation Dialogcharakter besaß, handelt es sich bei der Rede Goebbels’ um eine unidirektionale Broadcast-Kommunikation: Es gibt einen Sender und viele Empfänger. Die Zuhörer im Palast selbst sind inszeniert, sie sind ein Programm, keine eigenständigen Akteure, eher Aktant im Sinne Latours, 97 instrumentalisiert und somit Teil des Broadcasts. Im Fallbeispiel zum Kommunikationsverhalten Trumps kann zwar der ursprüngliche Tweet als eine Art von Broadcast verstanden werden. Der Austausch von Nachrichten über Twitter insgesamt ist aber weder bidirektional noch unidirektional, auch nicht sternförmig, sondern es findet eine zunächst unkontrolliert erscheinende, netzartige, rhizomatische, interaktive Kommunikation, bestehend aus Tweet, Retweet, der Kommentierung, Likes, Memes usw. statt. 98 Diese Art der Kommunikation erfolgt wiederum nicht Keitel (2016), 148. Vgl. auch Graham u. a. (2016), 29. Diese scheinbare Gleichrangigkeit ist dadurch gegeben, dass in einem System wie Twitter alle Tweets technisch gleich aussehen. Die Reichweite und Wirkmacht einer Äußerung über Twitter bzw. die Satisfaktionsfähigkeit der Akteure untereinander ist aber von deren Status abhängig, die wiederum an traditionelle soziale, wirtschaftliche und politische Rollen gebunden sind, durch die online-Kommunikation neue Dynamiken entfalten können (z. B. bei sogenannten »Influencern«). 97 Unter anderem: Latour (2008). 98 Trump selbst ist hierbei sehr wohl Broadcaster, der Interesse an einer großen Reichweite seiner Tweets hat, aber wenig an einem Diskurs. Natürlich sind in diesem Netz nicht alle Akteure gleich zu bewerten. Aufgabe einer Quellenkritik wird es sein müssen, die Reichweite und potentiellen Einflussmöglichkeiten der einzelnen Akteure in der Analyse zu berücksichtigen. Genauso wenig sind Social Media Kommunikationen 95 96

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rein im Privaten, sondern kann weitreichende Konsequenzen haben, auch für die »große Politik«, wie etwa der arabischen Frühling 2011 gezeigt hat. 99 So wird künftig nicht nur wie bislang die politische Elite Spuren in den Archiven hinterlassen können, sondern prospektiv jeder. 100 Betrachtet man den Gegenstand der politischen Geschichte, so zeigen diese Beispiele, wie über Social Media Politik »gemacht« wird. Hier scheint derzeit nicht vorhersehbar, ob diese Medienformen bzw. die Internettechnologie im Allgemeinen zukünftig ihr ursprüngliches Versprechen einhalten, deliberative Prozesse zu fördern, oder ganz gegenteilig zu Kontrolle und Repression führen werden. So sind die Möglichkeiten der Beeinflussung von Informations- und Kommunikationsdiffusionen über Social Media hinlänglich bekannt. Seien sie systemimmanente Filterblasen und Echokammer-Effekte oder konzipiert als »Personalisierung« im Sinne zielgerichteter Angebote bis hin zur böswilligen Manipulation. Künftige Historiker werden diesen Kontext mit zu berücksichtigen haben. 101 Auch die massiven Datensammlungen über das Internet of Things könnten mit dem »perfekten Archiv« im obigen Sinne zukünftig unter entsprechenden Voraussetzungen möglicherweise historisch erforscht werden. Potentiell sind dabei nicht nur menschliche Äußerungen minutiös erfassbar, sondern auch umfassende weitere Parameter menschlichen Lebens, Zusammenlebens und der Umwelt. James Gleick fasst den Wandel wie folgt zusammen: »The information produced and consumed by humankind used to vanish – that was

grundsätzlich unkontrolliert rhizomatisch. Das Beispiel der gezielten Einflussnahme auf das Wählerverhalten im brasilianischen Wahlkampf 2018 über WhatsApp zeigt, wie Social Media zielgerichtet und kontrolliert eingesetzt werden (Arnaudo [2018]). Die Forschergruppe zur »computational propaganda« um Howard (siehe oben) stellen fest: »Social media are particularly effective at directly reaching large numbers of people, while simultaneously microtargeting individuals with personalized messages« (Howard u. a. [2018], 39). 99 Howard/Hussain (2013). 100 Vgl. Strasser (2017). 101 Patel sieht einen Wandel in der zeitgeschichtlichen Quellenlage im 21. Jahrhundert ähnlich gelagert, beschränkt sich aber auf behördliche Akteure: »Das zeitgenössisch als geheim Geltende wird noch geheimer als bisher. Dagegen wird vieles, was in Entscheidungsprozessen eher nachrangig ist, künftig leichter und früher verfügbar sein […] Das Spannungsverhältnis zwischen Liberalisierung und verschärftem Verschluss wird die Forschung künftig wesentlich prägen.« Patel (2011), 337.

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the norm, the default. The sights, the sounds, the songs, the spoken word just melted away. Marks on stone, parchment, and paper were the special case. It did not occur to Sophocles’ audiences that it would be sad for his plays to be lost; they enjoyed the show. Now expectations have inverted. Everything may be recorded and preserved, at least potentially«. 102 Geschaffen werden könnte sozusagen das perfekte Archiv. Werden diese Erwartungen an die »archives of everything and everyone« umgesetzt, 103 könnte dies zu ungeahnten neuen Möglichkeiten des Verstehens der menschlichen Kultur führen, die derzeit verschiedentlich diskutiert werden. 104 Generative Modelle könnten zu gänzlich neuen Fragestellungen führen und insbesondere die alten Richtungsstreite über Deutungshoheiten zwischen Hermeneutik, Positivismus und Behaviorismus wieder hervorrufen. Auch die dystopische Seite existiert in diesem Szenario, das aus einer Gegenwart heraus gedacht wird, 105 die Lorraine Daston als »moment of archival anxiety, compounded of hope and fear« bezeichnet. 106 Denn mit der ubiquitären und allumfassenden Datenerhebung und ihrer Nutzung zur Steuerung des menschlichen Zusammenlebens könnte ab einem Zeitpunkt X eine neue Form einer »final form of human government«, die umstrittene Konzeption von Francis Fukuyama aufgreifend, 107 erreicht sein, nach der sich Geschichte für alles Geschehen nach diesem Zeitpunkt von selbst erledigt hätte. Nicht zwangsläufig jedoch wäre diese Form des menschlichen Miteinanders eine liberale Demokratie im Sinne Fukuyamas, 108 sondern könnte eine digitale 102 Gleick (2011), 28. Ein Beispiel hierfür wäre die Datensammlung von Facebook, die zumindest in einer Momentaufnahme ein umfassendes demographisches Archiv eines signifikanten Teils der Menschheit abbildet. 103 Dies gilt gleichermaßen für die (Retro-)Digitalisierung von Archivbeständen und die m. E. überzogene Aussicht auf Schaffung universaler und allumfassender virtueller Archive, die hier nicht weiter diskutiert werden kann. Vgl. z. B. Manning (2013) und Kaplan (2015). Bereits die Anhänger der »New History« im frühen 20. Jahrhundert entwickelten die Idee, dass »history includes every trace and vestige of everything that man has done or thought since first he appeared on the earth.« (Robinson [1912] zitiert nach Burke [2019]). 104 Vgl. die Beiträge in Daston (2017a) sowie Luciano Floridis Konzeption der »hyperhistory« (Floridi 2014). 105 Zum Gegenwartsbezug der derzeitigen Gesellschaft siehe auch: Rushkoff (2013). 106 Daston (2017c), 332. 107 Fukuyama (1992). 108 Zu technologischen Bedrohungen siehe auch Fukuyama (2002).

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Diktatur darstellen, 109 für die ein solches Archiv das zentrale Machtinstrumentarium sein würde. 110 In Bezug auf das kollektive Gedächtnis könnte ein »irretrievable loss of what we once knew« 111 gerade durch die perfekte Archivierung eingetreten sein. Dieses »perfekte Archiv« wäre ermöglicht durch die Gleichschaltung von Allem und Jedem im Digitalen, in dem das Alltagsleben minutiös verzeichnet und zugleich Sinnbild der »Bedeutungslosigkeit der Massen« in einer digitalen Diktatur geworden ist. »Big Data« könnte die finale Folge des Anthropozäns bedeuten, dem parallel zur Arten- und natürlichen Vielfalt neben dem kulturellen Gedächtnis auch die kulturelle Vielfalt und der »Plural der Geschichten« 112 zum Opfer fielen. 113 Historisches Gedächtnis wäre nur noch durch die Anhäufung von Daten und Fakten und die Chronologie einer Abfolge unumkehrbarer Ereignisse geprägt. Historisches Handeln verlöre durch Verschmelzung von Historizität und Temporalität, von Erfahrungsraum und Erwartungshorizont 114 an Bedeutung. Historische Forschung beinhaltete nicht mehr die raumund zeitgebundene Deutung und den Anspruch auf das Verstehen von Vergangenheit. Historische Einsicht würde damit aber durch fehlende Narrationen unmöglich gemacht. 115 Z. B. Harari (2018), Hofstetter (2016), Spiekermann (2018). Der Verweis auf die aktuellen Entwicklungen in China liegt auf der Hand. Siehe zu Kommentierungen z. B. Assheuer (2017) und Yang (2019) bzw. für die Regierungspläne zur Implementierung eines »social credit systems«: Creemers (2014), update: 2015. 111 Daston (2017c), 332. Ein Szenario, das an das Schicksal der Eloi in H. G. Wells dystopischem Roman The Time Machine (1895) erinnert. 112 Patel (2011), 349. Siehe hierzu auch Wirsching (2017). 113 Der hier formulierte Gedanke überträgt die Überlegungen Bruno Latours. Latour argumentiert, dass beispielsweise das (biologische) Artensterben kein Phänomen allein der Natur, sondern zumindest mittelbar durch Menschen und ihren (gesellschaftlich bedingten) Lebensstil verursacht ist. Hieraus folgert er die Aufhebung der Trennung von Natur- und Gesellschaftswissenschaften zur Beschreibung der Phänomene und zur Lösung der damit verursachten Probleme. 114 Im Verständnis von Reinhart Koselleck (Koselleck [1979]). Vor allem unter der Prämisse der Digitalität zu beobachtenden Phänomene wie gesteuerte Massenkommunikation sowie der fortschreitenden Übertragung menschlicher Handlungs- und Entscheidungsautonomie auf selbstlernende Systeme künstlicher Intelligenz wären zudem die Koselleck’schen Begriffskategorien Kontingenz und Zufall einer Rezension wert. 115 Diese Vermutung folgt dem Gedanken François Hartogs zum »régime d’historicité«, das sich derzeit durch einen Gegenwartsbezug kennzeichne, der die bloße Erinnerung gegenüber der Geschichte begünstige (Hartog [2003]). 109 110

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5.

Digitale Hermeneutik

Die in diesem Essay geführte Diskussion und die Gedankenspiele beruhen vor allem auf der Perspektive künftiger Historiker und ihrer Arbeit mit digital-born-Quellen. Das oben Gesagte kann aber auch auf die historische Arbeit mit digitalisierten Quellen bezogen werden und damit nicht nur die gegenwärtige historische Forschung, sondern über die Zeitgeschichte hinaus auch die älteren Epochen umfassen. Unter den Vorzeichen der Digitalität unterliegen damit die zentralen definitorischen Fragen des Wie? Was?, Wer? und Warum? der Geschichtswissenschaften insgesamt einer Transformation. So werden die Geisteswissenschaften durch verschiedene neue methodische Ansätze und Werkzeuge nicht nur gegenwärtig komplementär bereichert, sondern sie werden sich dieser bedienen müssen, um menschliches Sein und Handeln künftig weiter erforschen zu können, (nicht nur) weil sich menschliches Handeln immer weniger von Technologie trennen lassen wird und so stets der Aktant als Mensch-Technik-Hybrid und nicht der reine menschliche Akteur in den Fokus rückt. 116 Dies ist zwar keine grundsätzliche Neuerung durch die digitale Transformation. In ihr ist aber dieses Was? der geisteswissenschaftlichen Forschung zu präzisieren. Auch werden die Geisteswissenschaften die Frage adressieren müssen, wie die zunehmende Automation in der Wissenschaft und die Rolle, die selbstlernende Systeme (Künstliche Intelligenz) dabei einnehmen, welche das Selbstverständnis des Wer? in den Wissenschaften verändert. Hier erscheint es künftig gerade zu konstituierend für die Geisteswissenschaften, den Menschen und die conditio humana im Wissen schaffenden Prozess zu stärken, sinnstiftend und orientierend zu wirken, 117 Ethik und Ästhetik zu betonen und zur Gewinnung von Ein116 Offensichtlicher und schon länger diskutiert ist dieses Wechselspiel im Bereich der Umweltgeschichte (Radkau [2012]; Quenet/Sörlin [2019]). 117 Dies durchaus auch im oben skizzierten Wechselspiel zwischen Mensch und Maschine. Ivan Callus und Stefan Herbrechter betrachten dies im Kontext einer Debatte um einen »Posthumanismus«: »an interdisciplinary conceptual platform that draws together perspectives and investigations from the arts, the humanities and the sciences in the face of a radical and accelerated questioning of what it means to be human and what the re-imagined end(s) of the human might be«. Ohne den Begriff des Posthumanismus überzustrapazieren, wird eine ähnliche Position auch in diesem Essay vertreten. Vgl. Callus/Herbrechter (2012), zitiert nach Domanska/LaCapra (2019). Zum Verhältnis von Posthumanities und speziell Digital Humanities siehe auch: Adema/Hall (2016).

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sicht und Verständnis beizutragen. Die dabei anzubietenden Narrationen der Geschichte können nicht von Algorithmen, sondern nur von Menschen geschrieben werden. Zum Umstand, dass Geisteswissenschaften Instrumentarien nutzen werden, die bislang eher an andere Wissenschaftszweige erinnern, wäre abschließend umgekehrt zu wünschen, dass auch Naturwissenschaften und Ingenieurswissenschaften wieder geisteswissenschaftlicher werden, in dem sie mehr dem Diktum der »third culture« von John Brockman folgen: »rendering visible the deeper meanings of our lives, redefining who and what we are«. 118 Im Sinne von Michel Serres und Bruno Latour erscheint die Trennung zwischen Natur und Kultur, zwischen Naturwissenschaft und Geisteswissenschaften ohnehin überholt und trägt gewiss nicht zur Lösung der drängenden Probleme der Welt bei. Hierzu ist »Big Science«, »Großwissenschaft«, 119 das interdisziplinäre Zusammenspiel der verschiedenen Wissenschaftszweige als sozialer Prozess, notwendig. Denn auch wenn Wissenschaft häufig hochspezielle und spezialisierte, sehr kleinteilig wirkende Grundlagenforschung betreibt, so ist Wissenschaft als Ganzes eben nicht partikular, sondern als gemeinschaftliche Anstrengung zu sehen, die Herausforderungen unserer Zeit zu meistern und die Zukunft der Menschheit mit zu gestalten. Dass dabei Gesellschaft und Umwelt, Mensch und Technik nicht voneinander zu trennen sind, zeigen viele aktuelle Wissenschaftsthemen, auch die in diesem Essay skizzierten. Jeder Wissenschaftszweig liefert dabei seine eigenen Perspektiven, aber erst in der Zusammenarbeit lassen sich die großen Herausforderungen unserer Zeit angehen. Im Anthropozän mit seinen durch Menschen und Gesellschaften verursachten Problemen, die »härtesten Prüfungen, vor denen sie [die Menschheit] je stand«, 120 ist das möglicherweise eine Überlebensfrage. 121 Brockman (1991). Der Begriff wurde bereits von Theodor Mommsen verwendet. Daston beschreibt die Tradition »großwissenschaftlicher« Projekte des ausgehenden 19. Jahrhunderts am Beispiel von CIL und Carte du Ciel: »This was the first wave of Big Science, and the human sciences were very much in the van.« (Daston [2017b], 160). Siehe auch: Mommsen (1905). 120 Harari (2018), 41. 121 Einer der Vordenker einer kritischen Wissenschaft, Joseph Weizenbaum, liegt mit seinen Überlegungen, alle Probleme zunächst rein gesellschaftlich zu lösen, an einem vielleicht nicht realisierbaren extremen Pol der Diskussion, an dessen anderem Ende sich die Technologiegläubigen befinden, die beispielsweise auf Geoengineering setzen, 118 119

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Was bedeutet ›Geist‹? Eine etwas andere ›Philosophie des Geistes‹ mit Seitenblick auf die digitalen Geisteswissenschaften 1 Sybille Krämer

1. Die Bedeutungsfülle des deutschen Wortes ›Geist‹ ist bemerkenswert. Wir sprechen mit Montesquieu vom ›Geist der Gesetze‹, mit Max Weber vom ›Geist des Kapitalismus‹, es gibt den ›Körper-Geist Dualismus‹, aber auch Geisterfahrer sowie Geisteswissenschaften; spirituell-religiöser geht es zu beim ›Geistlichen‹ und beim ›Heiligen Geist‹, und diese Reihe kann nahezu unbegrenzt fortgesetzt werden. Das semantische Feld des deutschen Wortes ›Geist‹ ist ziemlich überfüllt, wenn nicht gar ausgeufert zur Beliebigkeit. Und doch sind in der Mannigfaltigkeit der Wortverwendungen drei Gravitationszentren auszumachen: (i) Die Gesamtheit der kognitiven, zumeist – aber nicht immer – mit Bewusstsein verbundenen mentalen, zerebral verankerten und zugleich erlebten Zustände und Tätigkeiten, die zu unserem Selbstverständnis als menschliche Wesen gehören. (ii) Der mit Hegel verbundene Begriff ›Weltgeist‹, 2 historisch sich entäußernd in sozialen Institutionen wie in den Mannigfaltigkeiten der politischen, religiösen und kulturellen Handlungen. (iii) Abgeleitet vom indogermanischen ›gheis‹ – ›erschaudern‹ geht es um Heiliges, Spirituelles, um das Phantom und das Gespensterhafte. Die Gegenwartsphilosophie – mit ihrer Speerspitze einer ›Philosophie des Geistes‹ – setzt daher das Rasiermesser an. Sie versteht unter ›Geist‹ die mentalen, mithin inneren Zustände einer Person, die kausale Rollen für das äußere Verhalten einnehmen können, in dieser Dieser Aufsatz folgt Gedanken meiner Abschiedsvorlesung am 7. Juni 2018 an der Freien Universität Berlin und wahrt eine ›essayistische Form‹. 2 Außer bei Hegel in einem eher subjektiven Sinne auch bei Herder und Goethe. 1

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Was bedeutet ›Geist‹?

ihrer Rolle aber nicht einfach von neurophysiologischen Impulsen, sondern von Bedeutungen gelenkt werden, die ihrerseits an interne oder externe Repräsentationen gebunden sind. Weder der sich in der Außenwelt humaner Geschichte, Dokumente und Institutionen verkörpernde Weltgeist noch die Phantomhaftigkeit von Gespenstern spielen im zeitgenössischen philosophischen Konzept von ›Geist‹ eine nennenswerte Rolle. 3 Derridas Rückgang auf Marx’ Gespenster 4 bildet dabei eine – philosophisch kaum beachtete – Ausnahme. Kurzum: ›Geist‹ in der Philosophie ist kondensiert, oder sollten wir eher sagen: ist geschrumpft zum mentalen Ereignis. An diesem Punkt möchten wir eine Frage stellen: Ist es denkbar – oder ist das völlig vermessen – davon auszugehen, dass es in allen drei (i)–(iii) semantischen Gravitationsfeldern so etwas wie einen Bedeutungskern gibt, der – wenn auch in ziemlich verschiedenartiger Gestalt – auf jedem dieser Felder eine Rolle spielt? Wohlgemerkt: Gefragt wird explizit nach etwas, von dem auch das Geisterhafte gespenstischer Erscheinungen nicht ausgeschlossen ist. Eine Vermutung motiviert zu dieser Frage: Auf den ersten Blick ist alles, was traditionell mit Geist zu tun hat, verbunden mit einem Spannungsverhältnis zwischen dem, was einerseits als unsichtbar, immateriell, entzogen oder ephemer erscheint und dem, was andererseits an das gebunden und mit dem assoziiert ist, was sichtbar, materiell, zugänglich und auch dauerhaft ist. Exemplarisch begegnet dieses Spannungsverhältnis im Umgang mit dem Phänomen der Schrift: Wenn etwa vom ›Geist der Buchstaben‹ gesprochen wird, ist anerkannt, dass Buchstaben bzw. Textoberflächen materialiter zugänglich und wahrnehmbar sind, doch zugleich wird vorausgesetzt, dass Texten Sinn und Bedeutung zukommt, welche – anders als die Buchstaben des Schriftbildes – nicht wahrnehmbar, sondern nur durch Interpretation erschließbar und verstehbar sind. Es ist das repräsentationale Phänomen des Zeichen- und Symbolgebrauches in seinen vielfältigen kulturellen Varianten, das dem Spannungsverhältnis zwischen Materialität und Immaterialität, in dem unser Geist-Verständnis sich oftmals bewegt, Pate steht.

3 4

Jedoch: Andriopoulos (2018). Derrida (2005).

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Sybille Krämer

2. Doch diese vertraute, hermeneutische Einstellung im Umgang mit Schriftgut, die darin besteht eine sichtbare Textoberfläche zugunsten eines dahinterliegenden oder darin verborgenen Sinns zu durchdringen, ist nicht die ganze Geschichte. Denn es sind gerade konkrete Praktiken geistiger Arbeit, die die reinliche Scheidung zwischen Textoberfläche und bedeutungsvoller Tiefenstruktur unterwandern und relativieren. Um beim Beispiel der Schrift zu bleiben: Das Lesen bildet eine zentrale Form geistiger Tätigkeit. Doch die typisch geisteswissenschaftliche Lektüreform ist ein ›Lesen mit dem Schreibwerkzeug‹. Forschend zu lesen, heißt eben nicht nur zu lesen, sondern in der Lektüre mit Unterstreichungen, Notaten und Kommentaren auf das Gelesene zu reagieren, heißt auch Paraphrasen, Exzerpte und abstracts herzustellen, bedeutet einen Fließtext in zitierfähige Passagen zu zerlegen oder Zitate unterschiedlicher Werke synoptisch zusammen zu stellen. Forschende Lektüre stellt Überschreibungen, aber auch Umschriften der gelesenen Texte her 5 , die das Ergebnis einer buchstäblichen Textverarbeitung seitens des Rezipienten sind. Interpretieren und Verstehen als Formen geistiger Tätigkeit vollziehen sich nicht als bild-und sprachloser Vorgang ›im Kopf‹ von Lesenden, sondern resultieren zumeist in neuen Formen von Notizen und Texten. Was im Ausgangstext als Sinngehalt latent angelegt ist, wird dann in Lektüre-Umschriften und Annotationen manifest gemacht: Etwas dem Text Implizites wird in der Leserperspektive expliziert. Auf diese Figur der perspektivisch gebundenen Explikation von Implizitem kommt es uns an. Könnte dieser Gestus, hier gewonnen am Beispiel des wissenschaftlichen Umganges mit Texten, verallgemeinert werden? Zeigt sich hier ein charakteristisches Muster für Aktivitätsformen, die im breiten Spektrum divergierender Phänomene des Geistigen sich durchhalten? Genau das ist unsere Vermutung. Robert Brandom verbindet in seiner Sprachphilosophie begriffliche Gehalte mit Formen sprachlicher Praktiken und führt Semantik auf Pragmatik in der Weise zurück, dass das, was wir praktisch tun, zu etwas wird, das als Bedeutung und Sinn sprachlich explizit gemacht werden kann. 6 ›Bedeutung‹ wird zur Fähigkeit der sprachlichen Explikation dessen, was unserem Tun praktisch implizit ist. Allerdings 5 6

Ramsey (2011). Brandom (2000) und (2001); dazu: Deines/Liptow (2007).

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Was bedeutet ›Geist‹?

zehrt sein Projekt von einer Zentrierung auf den propositionalen Sprachgebrauch, auf die Funktionsweise eines logischen Vokabulars und das inferentielle Schlussfolgern als Basisoperation. 7 Brandoms grundständige Idee des Explizitmachens von Implizitem als Merkmal geistiger Praktiken wird von ihm enggeführt auf einen sprachphilosophischen Ansatz in wissensgeleiteter Perspektive, bei der ›Explizit-machen‹ heißt, ein Knowing how in ein Knowing-that, mithin prozedurales in propositionales Wissen überführen zu können. 8 Wir dagegen wollen dem von Brandom identifizierten Muster eine weitreichendere, Sprache und Wissen gerade überschreitende Rolle zusprechen. Wir vermuten – und das ist der leitende Gedanke dieses Essays – dass das Explizit-machen von Implizitem eine, wenn nicht gar: die Elementarform des Geistigen bildet. Mehr als diese Vermutung zu artikulieren und das mithilfe einer ersten Idee dazu auch plausibel zu machen, kann dieser Essay – absichtsvoll verfasst mit der programmatischen Geste eine Denkperspektive zu eröffnen – nicht leisten.

3. Beginnen wir mit einem Blick auf die historische Philosophie. Das in der Idee vom Geistigen kursorisch bereits diagnostizierte Spannungsverhältnis zwischen Materialität und Immaterialität, Sinnlichkeit und Sinn begegnet auch als Hiatus zwischen einer konstatierendtheoretischen und einer performativ-praktischen Dimension im Tun von Philosophen. Platon und Descartes sind zwei kanonische Denker einer Ontologie des Geistigen. Für deren ›Seinslehre des Geistes‹ ist – wenn auch auf je unterschiedliche Weise – die Verbindung von Geistigem mit dem Immateriellen, mit dem, was raum-zeitlich nicht zu verorten und also unsichtbar ist, grundlegend. Und doch macht ein Blick auf die Erkenntnispraktiken von Platon wie Descartes spürbar, wie stark deren Denkarbeit geprägt und konturiert ist von Formen des Erkennens, um nicht zu sagen: von Erkenntnistechniken, die sinnlich wahrnehmbare Bilder, Schemata und also Verkörperungen von Geistigem als Erkenntnismittel einsetzen. Eine Gegenläufigkeit ist zu diagnostizieren zwischen dem, was beide Philosophen episte7 8

Brandom (2001), 29 f. Brandom (2001), 18 f.

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mologisch-propositional aussagen, und dem, was sie in ihrer praktischen intellektuellen Tätigkeit tatsächlich tun. Setzen wir ein mit Platon: Platons ›Ideen‹ gelten in einer zum philosophischen Gemeinplatz kondensierten Sicht als rein noetische, nicht empirische, ontologische Entitäten, und Platon wird nicht selten zugleich auch als Bildskeptiker, wenn nicht gar als Bilderfeind interpretiert. Gleichwohl finden sich immer wieder in den Platonischen Dialogen Diagramme und Bilder als originäre Mittel des Erkennens eingesetzt. 9 Und dies keineswegs nur in dem Sinne, dass Platon mit seinen Gleichnissen im Text sprachlich evozierte Bilder anstelle von Argumenten entfaltet, sondern so, dass graphisch-bildhafte Verfahren originäre Formen zur Evokation intellektueller Einsichten bilden. 10 Das Liniengleichnis in der Politeia 509d-511e entfaltet nach präziser sokratischer Konstruktionsanweisung ein im Verhältnis von Original und Abbild stufenweise gegliedertes Schichtenmodell der platonischen Ontologie entlang einer in verschiedene Abschnitte zu unterteilenden Linie. Den sichtbaren Bereich bildet das unterste Level der Schatten und Spiegelreflexe sowie – darauf folgend – die Schicht körperlicher Dinge. Der sich daran anschließende unsichtbare Bereich gliedert sich in die wissenschaftlichen Begriffe und Gegenstände, auf den der oberste Bereich der unsichtbaren Ideen folgt. Der Längenerstreckung dieser Schichten entsprechen ihre jeweiligen Realitätsgehalte: Die Abbilder und Schatten ›verkörpern‹ den kleinsten, die Ideen den größten Linienabschnitt, stehend für das, was am meisten real ist. Zugleich empfiehlt Platon sein Liniengleichnis als eine Anleitung für den angemessenen Weg des Erkennens zu verstehen. 11 Die Linie fungiert als ein ›epistemisches Navigationsinstrument‹, welches anzeigt, dass jede der drei ersten beim Erkennen zu erreichenden Stufen jeweils unzulänglich und in Richtung der nächstfolgenden zu überschreiten ist, um erst auf der letzten zum Wahren gelangen zu können. Dieses graphische Gleichnis – und das ist wesentlich für unsere Überlegungen – ist nicht nur als Text überliefert.

Ueding (1992); Giaquinto (1993). Krämer (2016), 145–174. Gegen die Entsinnlichung der Platonischen Erkenntnislehre haben früh schon argumentiert: Bedu-Addo (1983); Notopoulos (1936); Stenzel (1961); Zovko (2008). 11 Notopoullos (1936). 9

10

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Was bedeutet ›Geist‹?

Vielmehr ist im ältesten auf uns gekommenen Manuskript der Politeia tatsächlich eine Realzeichnung des Liniengleichnisses enthalten, 12 die letztmalig 1938 in einem Scholion auftauchte, 13 doch in den philosophischen Editionen der Politeia nicht mehr gedruckt wird. Das dann im Anschluss von Platon entfaltete Höhlengleichnis verleiht dem Liniengleichnis als kartographisch-schematisch skizziertem Erkenntnisweg eine Übertragung in die verbal aufgerufene Dreidimensionalität des Höhlenausganges. Das Liniengleichnis bleibt in seiner graphischen Methode keineswegs ein Solitär. Bekannt aus vielen Platonischen Dialoge ist das graphische Verfahren der Begriffszergliederung, der Dihairesis: 14 Wird die Definition eines Begriffes gesucht, so ist durch schrittweise binäre Zerlegung eines Allgemeinbegriffes in Unterbegriffe im buchstäblichen Sinne ein Wortfeld zu entwerfen, durch welches der gesuchte Begriffsinhalt schrittweise verständlich gemacht wird mit Hilfe des Ausschlusses seines begrifflichen Gegenteils, und dies in einer Kette binärer Begriffszerlegungen, bis der infrage stehende Begriff schlussendlich spezifiziert ist. Definieren wird zu einer mit dualen Aufspaltungen arbeitenden graphischen Aktion bzw. zum Auffinden des richtigen Weges durch das verzweigte Begriffsfeld. Platon gilt als Begründer dieses Verfahren, und er wendet es in seinen Dialogen häufig an. Wie wir heute wissen, ist die Dihairesis eine in der platonischen Akademie mit realen Tafeln eingeübte und ausgeübte Praktik gewesen. 15 Eingerückt in eine Perspektive, die den ursprünglich von John L. Austin entwickelten Unterschied zwischen dem Konstatierenden und dem Performativen aufnimmt, 16 können wir sagen: Während Platon in einer konstatierenden Lesart als Proponent einer Immaterialität und Unsichtbarkeit des Geistigen gilt, ist in einer performativen Hinsicht seine Denkpraxis vertraut mit und durchdrungen von Einsätzen schematisierender, visueller Verfahren. Nicht zu vergessen ist dabei der für die Genese der Philosophie grundlegende Tatbestand, dass Platons Philosophieren – anders als bei Sokrates – zum Gutteil, wenn auch nicht zur Gänze, im Schreiben von Texten besteht. Halten wir

12 13 14 15 16

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somit fest: Mit Platon wird Erkenntnis zu einer Bewegung, die des Durchgangs durch ein ›Außen‹ bedarf, welches nicht nur in schriftlichen Zeichen besteht, sondern auch Schemata und Graphismen einsetzt. Eine nicht minder augenfällige Kluft zwischen der Ontologie des Geistes und der Praxis geistiger Arbeit, zeigt sich bei Descartes. Dessen Skepsis gegenüber der sinnlichen Wahrnehmung, sein KöperGeist Dualismus sind sprichwörtlich geworden für die ›abendländische Erbsünde‹ einer Entmaterialisierung, Entkörperung und Mentalisierung von Geist. Und doch sind alle seine Schriften – und das gilt für seine naturwissenschaftlichen, mathematischen wie auch für seine philosophischen Texte – durchzogen vom vielfältigen Einsatz graphischer Schemata und Zeichnungen. 17 Die Linienkonfigurationen, mit denen Descartes seine Texte visuell begleitet – und die in philosophischen Editionen zumeist weggelassen sind – lassen ihn geradezu als Denker einer Erkenntniskraft der Linie erscheinen. Nur an vier Teilbereichen des Cartesischen Werkes sei die Rolle von Visualisierungen als grundständige Erkenntnismittel angedeutet: 18 (i) Descartes’ erstes 1618 veröffentlichtes Buch, das musiktheoretische Werk Compendium Musicae überführt hörbare musikalische Relationen mit Hilfe einer Vielzahl von Diagrammen in anschauliche Konfigurationen. 19 Er will anhand der sich im Visuellen zeigenden und im Visuellen auch analysierbaren Strukturen die Unterschiede im ästhetischen Hörerleben musikalischer Klangereignisse erklärbar machen. (ii) In seinem mathematischen Werk La Géomètrie, publiziert als Anhang an seine Methodenschrift ›Discours‹ mit dem Ziel, die Fruchtbarkeit seiner Methode zu demonstrieren, 20 gelingt es Descartes, geometrische Figuren in arithmetische Gleichungen zu transformieren, indem er Linien als ein allgemeines Bezugssystem einsetzt und damit – wenn auch noch nicht senkrecht aufeinander stehend – das Koordinatensystem als ein mathematisches Übersetzungsmanual erfindet, welches Figuren in Formeln und vice versa transformiert. 21 Die seit der griechischen Entdeckung der Inkommensurabilität prak-

Zur Rolle von Zeichnungen und Diagrammen bei Descartes: Reichert (2013), 73– 155; Krämer (2016), 179–233; Sepper (1996); Sepper (2000), Zittel 2009. 18 Ausführlicher zu diesen Bereichen: Krämer (2016), 179–234. 19 Descartes (1992). 20 Descartes (1981). 21 Krämer (1989). 17

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tizierte Spaltung zwischen dem figürlich-messbar Geometrischen und dem symbolisch-berechenbaren Arithmetischen ist damit überwunden. Figur und Formel partizipieren beide an der Welt sichtbarer mathematischer Zeichenkonfigurationen. (iii) In Les Météores 22 entfaltet Descartes anhand mannigfaltiger Zeichnungen eine vollkommen neue naturwissenschaftliche Bildsprache, die überhaupt erst seiner Alternative zu Aristoteles’ Metereologie ihre Suggestivkraft verliehen hat und dazu dient, seine Hypothesen ›durchzuspielen‹ und plausibel zu machen. (iv) In seiner unvollendeten, erkenntnistheoretischen Frühschrift Regulae ad directionem Ingenii schließlich entwickelt er Konzepte von ›Imagination‹, ›Intuition‹ und ›Deduktion‹ als Formen geistiger Akte, welche in ihrer Ausübung mit figürlich-graphischen Konstellationen arbeiten, da diese überhaupt erst ein sinnlich aufzufassendes Einsehen und Anschauen eröffnen würden 23 . Wenn wir also Descartes als Denker der Erkenntniskraft der Linie charakterisieren, 24 so folgt dies aus dieser Einsicht: Der Cartesische Geist, soweit er als sich betätigende Denkkraft praxeologisch rekonstruierbar ist, arbeitet beständig mit visuellen Linienkonfigurationen in Form von Schemata, Figuren, Diagrammen und Zeichnungen. So skizzenhaft dieser historische Rekurs auf Platon und Descartes auch bleibt, leitet dieser doch hin zu einer zentralen Frage: Was bedeutet es, dass der Geist dann, wenn er sich in realen Erkenntnisprozessen dynamisch betätigt, also prozessual aufgefasst wird als sich betätigende Geisteskraft, auf Medien der Verkörperung, Versinnlichung und Verräumlichung angewiesen ist? Um dieser Frage nachzugehen wenden wir uns nun einem Sachverhalt zu, der so selbstverständlich ist, dass er gewöhnlich unserer Aufmerksamkeit entgeht. Er besteht darin, dass Medien geistiger Arbeit signifikant häufig als flächige Repräsentationen organisiert sind und – in Schriften, Graphen, Diagrammen und Karten – auf einer Interaktion von Punkt, Linie und Fläche beruhen.

Descartes (2006). Descartes (2011), 15 ff. 24 Bredekamp (2002) diagnostiziert bei Galilei, Hobbes und Hook den Einsatz der ›Linie als Erkenntniskraft‹. 22 23

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4. Wir leben in einer dreidimensionalen Welt, doch wir sind umgeben von beschrifteten, bebilderten, von beweglichen und animierten Flächen. So selbstverständlich ist dieser Sachverhalt, dass kaum mehr auffällt, welche Sonderform von Räumlichkeit das Zweidimensionale verkörpert. In einen weiteren, anthropologischen Rahmen gestellt können wir sagen: Von der Höhlenmalerei, über Hauttätowierungen bis zur Erfindung von Bildern, Schriften, Diagrammen und Karten, den Kinoleinwänden, Computerscreens und Anzeigetafeln zieht sich das Band einer ›Kulturtechnik der Verflachung‹, welches im ubiquitären Smartphone-Gebrauch einen Gipfelpunkt erreicht. Empirisch gibt es zwar keine Flächen, doch wir nutzen Oberflächen so, als ob sie eine Ebene bildeten, die kein Darunter und Dahinter, keine Tiefendimension mehr kennt. Und dies gilt insbesondere für den kognitiven Gebrauch dieser artifiziellen Flächigkeit. Während in Bildwerken der Kunst reales Volumen eines Pinselauftrags von Belang und für die ästhetische Erfahrung bedeutsam ist, bleibt der schematische Graphismus von Linienkonfigurationen indifferent gegenüber jedweder Dimension der Tiefe. Was zählt ist das, was der Oberfläche eingeschrieben, auf ihr abgebildet ist, und dies schließt die Links und Apps auf den elektronischen Interfaces mit ein. Viele Künste – denken wir an Musiknotationen, Choreographien, Skripte, Drehbücher –, nahezu alle technische Entwurfspraktiken und komplexe Bauvorhaben und erst recht wissenschaftliche Tätigkeiten zehren von dem Darstellungspotenzial zweidimensionaler Projektionen. Alles was ist, was noch nicht ist – und sogar was niemals sein kann, wie etwa die unmöglichen Figuren Eschers 25 und Reutersvärds 26 – ist als Darstellung in der Ebene zur Erscheinung zu bringen. Worin wurzelt das epistemische Potenzial, die geistige Anregungskraft der artifiziellen Flächigkeit, welche in Form von Schriften und Notationen, Tabellen, Graphen, Diagrammen und Karten geradezu die Bedingung der Möglichkeit wissenschaftlicher Erkenntnis angibt? Worin besteht der Kunstgriff flächigen Visualisierens? Unsere Orientierung im Umgebungsraum ist geleitet durch die drei senkrecht aufeinander stehenden Achsen unserer Körperlichkeit, die ein Rechts-links, Oben-unten, Vorne-hinten elementar unter25 26

Escher (1959). Reutersvärd (1990).

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scheidbar machen. Die hinter uns liegende Region bleibt zumeist unsichtbar und unkontrollierbar. Nun werden die Ordnungsregister von rechts/links sowie von oben/unten auf die Fläche projiziert, doch das vorne/hinten annulliert. Eine mediale Situation ist damit geschaffen, die Leser und Betrachter in jene Vogelflugperspektive gegenüber den Flächen versetzt, die uns lebensweltlich gerade verwehrt ist. Mit der handlichen Zweidimensionalität bebilderter und inskribierter Flächen ist ein Sonderraum von Überblick und Kontrolle geschaffen, und das umso mehr, wenn diese Flächen, wie etwa Papiere handlich, einfach kombinierbar und transportierbar sind. In medialer Hinsicht bilden formatierte Flächen ein ›Drittes‹ zwischen der Eindimensionalität der Zeit und der Dreidimensionalität des (Lebens) Raumes. So können zeitliche Sequenzen in räumliche Konfigurationen und vice versa transformiert werden. Wir sehen also: Die artifizielle Flächigkeit eröffnet die Möglichkeit unsichtbare oder unüberschaubare Entitäten simultan und synoptisch zu visualisieren: Nicht in Raum und Zeit situierte, theoretische Sachverhalte und Wissensgegenstände können auf der Fläche dargestellt und dort auch bearbeitet werden. Dieses Bearbeitungsmoment, die damit errungene Operativität ist entscheidend: So, wie wir mit Hilfe der Selbst-Indexikalisierung auf Karten uns in unbekanntem Terrain gleichwohl zielgerichtet bewegen können, so kann dieser kartographische Impuls übertragen werden auf die Orientierung in Wissenslandschaften, in denen wir mit Hilfe schriftlicher und diagrammatischer Medien uns gleichwohl ›bewegen‹ und operieren können. Topologische Relationen können als Erkenntnisinstrumente auch für nichträumliche Sachverhalte und Problemlagen eingesetzt werden.

5. Zu diesen die inskribierten Flächen produktiv einsetzenden geistigen Tätigkeiten zählt etwas, das exemplarisch an der Verschriftung des Rechnens zutage tritt. Mit römischen Ziffern kann schriftlich kaum gerechnet werden – daher sind zusätzliche Rechenwerkzeuge wie Abakus oder Rechenbrett nötig. Mit der Nutzung des Dezimalsystems ändert sich die Sachlage: 8076 mit 7395 zu addieren ist eine komplexe Denktätigkeit; beide Zahlen in Dezimaldarstellung in der gehörigen Ordnung untereinander zu schreiben und durch die An233 https://doi.org/10.5771/9783495820377 .

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wendung des Kleinen Einsundeins spaltenweise mit Übertrag zusammen zu rechnen, ist – sofern man die Additionsregel beherrscht – zu einer kinderleichten, in der Grundschule erlernbaren Rechenkompetenz geworden. Signifikant für diese Art des schriftlichen Rechnens ist, dass es unabhängig vom Zahlenwissen ausführbar ist. Weder ist eine Interpretation des Zeichens ›0‹ vonnöten, noch ein Wissen, warum die Regeln dezimaler Arithmetik überhaupt aufgehen und funktionieren. Lägen das kleine Einsundeins, Einmaleins, Einsminuseins, Einsdurcheins als schriftliche Tabellen vor, so wäre es möglich elementare Arithmetik als eine Art von ›Mustertransformation‹ zu betreiben, ohne überhaupt etwas über die Zahlennatur dieser Operationen zu wissen. Es wundert nicht, dass die Mechanisierung von Rechenoperationen zur ersten Domäne wird, in welcher Apparate für geistige Arbeit, die Rechenmaschinen, zum Einsatz kamen. Worum es hier geht – und das hat Leibniz scharfsichtig erahnt – ist, dass immer dann, wenn die Elemente eines Bereiches von Wissensgegenständen ein-eindeutig abbildbar sind auf ein System von formalen, schriftlichen Zeichen einschließlich entsprechender Regeln zur Formation und Transformation der Zeichenreihen, es möglich wird, Zeichenkonfigurationen nach Regeln zu bearbeiten, die keinen Bezug (mehr) nehmen auf Sinn und Bedeutung der Zeichen. 27 Jede Kalkülisierung für welche sich Modelle finden lassen im Sinne der Zuordnung von Zeichenausdrücken und Gegenstandsrelationen, zielt darauf, etwas ausführen zu können, ohne zugleich verstehen zu müssen. ›Formalisierung‹ ist jener Prozess, in dem Teilbereiche intellektueller Tätigkeiten in Gestalt interpretationsfreien Zeichengebrauches so strukturiert werden, dass dieser – im Prinzip – auch von einer Maschine realisierbar wird. 28 Mit der Formalisierung kommt eine Produktivkraft zum Einsatz, die zu erfinden und zu entwickeln hohen Scharfsinn erfordert; doch einmal als lehr- und lernbare Kulturtechnik etabliert, führt diese zu einer signifikanten Verbreitung und Veralltäglichung komplexer geistiger Arbeit. Eine Elementarform des Technischen, die darauf beruht, ein Knowing how vom Knowing that abzuspalten, also etwas ausführen zu können, ohne dabei wissen und verstehen zu müssen, warum eben Zu Leibniz als Pionier der Kalkülisierung: Mittelstraß/Schroeder-Heister (1986); Krämer (1991), 220–279. 28 Krämer (1988). 27

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dies funktioniert, bekommt ein Heimatrecht in der Domäne des Geistes. Eine ›intendierte Sinnentleerung‹ als Denkzeug und Erkenntnismittel wird eingesetzt. Lange vor dem Computer als physikalische Maschine, entwickelten wir den Computer in uns. Es erscheint geradezu widersinnig, wenn nicht paradox: Eine hochentfaltete Stufe unserer Geistigkeit zeigt sich just darin, dass in entscheidenden Teilbereichen kognitive Tätigkeiten auf eine Weise zu organisieren sind, die – ein Stück weit – auf dem Ausschalten von Bewusstsein, Verständnis und Interpretation beruhen. Es war wiederum Leibniz, der diesen Zusammenhang von interpretationsfreiem Zeichengebrauch und Algorithmen in der Automatisierung geistiger Tätigkeiten durch Maschinen nicht nur erkannte, sondern in Keimformen auch entwickelte. Dieser ›Leibniz’sche Geist‹ zeigt sich in seinem Ringen um eine universelle ›ars combinatoria‹ 29 , in seiner Entwicklung funktionierender Kalkülisierungen in Teilbereichen von Logik und Mathematik, in seiner Erfindung des Binäralphabets 30 , im Entwurf einer funktionsfähigen Vier-Spezies-Rechenmaschine. Seine Idee einer universellen ars characteristica, die in einem Gedankenalphabet und dessen formaler Operabilität zu gründen sei, erweist sich letztlich als unmöglich, insofern im 20. Jahrhundert Kurt Gödel die konstitutive Unvollständigkeit jedes formalen Systems nachwies. Doch Leibniz hat erstmals das Wort ›Algorithmus‹, das aus der Latinisierung des Eigennamens des arabischen Gelehrten Al Hwarizmi 31 hervorging, welcher das von indischen Mathematikern erfundene dezimale Ziffernrechnen in Europa bekannt machte, als einen Begriff für Regeln mechanischer Zeichenmanipulation in die Epistemologie und Philosophie des Geistes eingeführt.

6. Wie stehen die Geisteswissenschaften zu dieser strategisch einsetzbaren ›Geistlosigkeit‹ und Sinnentleerung? Versicherte nicht die Geburtsurkunde der Geisteswissenschaften, Wilhelm Diltheys Einleitung in die Geisteswissenschaften nachgerade, dass das Verstehen sinnhafter menschlicher Lebensäußerungen ihren originären Gegen29 30 31

Leibniz (1960/61), 184–189. Leibniz (1966). Al-Chwarizmi (1963).

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stand ausmache? 32 Zielen nicht alle Versionen hermeneutischer Methodik darauf anzuerkennen, dass Interpretatieren den Kristallisationskern allen Textumganges bildet? Nicht wenige Geisteswissenschaftler*innen fühlen sich daher als Hort einer Denkweise, die ihren anti-numerischen und anti-technischen Affekt kaum verleugnen kann. Sinn- und Bedeutungsverstehen erscheint als die geisteswissenschaftliche Schlüsselkompetenz und Elementaroperation. Doch dieses interpretationszentrierte, um nicht zu sagen: interpretationhypotasierende Selbstbild der Geisteswissenschaften ist relativierbar, sobald in einer praxeologischen Perspektive in den Blick genommen wird, wie geisteswissenschaftliche Forschungsarbeit sich realiter vollzieht. In zwei Hinsichten sei zumindest angedeutet, wie solche Relativierung zu verstehen ist. (1) Kulturalistische Materialität: Auch Geisteswissenschaften haben mit Dingen zu tun: Mit Schriftstücken und Dokumenten aller Art, mit Bildern, Skizzen, Filmen und Videos, mit Artefakten, Monumenten, Bauwerken einschließlich des Sammelsuriums überlieferter Alltagsgegenstände. Wenn dies zutrifft, dann ist es eine problematische Engführung, wenn als auszeichnendes Wesensmerkmal der Geisteswissenschaften ihr nicht-empirischer Charakter hervorgehoben wird 33 – auch wenn diese Empirie der Schriftstücke, Bilder und Artefakte zweifellos nur einen, allerdings unabdingbaren Teilaspekt verkörpert. Geisteswissenschaftler*innen haben mit raumzeitlichen, also immer auch empirisch situierten Gegebenheiten zu tun, ohne deren Verankerungspunkt noch jede Interpretation leerläuft. Kann von einem Werk gesprochen werden – sei dies literarisch, musikalisch, tänzerisch –, ohne seine Notation und ohne seine variierenden historisch konkreten Aufführungen und Rezeptionsweisen? Gibt es Geschichte ohne Zeugnisse und mannigfach rekonstruierte Spuren? Was wäre eine Linguistik ohne ihre Korpora? Diese vom menschlichen Geist zeugende, durch menschliche Hände und kollektive Arbeit hervorgebrachte Phänomen- und Dingwelt gilt es zu entbergen, zu sammeln, zu ordnen, zu annotieren, zu vergleichen, zu rekonstruieren, zu modellieren, zu erklären und zu theoretisieren. Das trägt nicht nur bei zur Konturierung und zum Verständnis des kulturellen Gedächtnisses, sondern hilft, die eigene gesellschaftliche Dilthey (1883). »Geisteswissenschaften sind keine empirischen Wissenschaften«, Gethmann u. a. (2005), 9.

32 33

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Lebensform, wie die Andersartigkeit fremder Kulturen ein Stück weit zu begreifen. Bei all dem ist Deutung und Interpretation unabdingbar und stets im Spiel, doch gilt dies für die naturwissenschaftliche Behandlung empirischer Gegenstände tatsächlich so viel weniger? (2) Alphanumerik der Textualität: Die Geisteswissenschaften, nicht anders als die Naturwissenschaften, bewegen sich in einem alphanumerischen Textraum, in welchem Schrift und Zahl bzw. Ziffer zutiefst miteinander verwoben sind. 34 Alle Wissenschaften gründen in Praktiken alphanumerischer Textualität, aufgespannt im Methodenquartett von begrifflich-explizierend, empirisch-explorierend, normativ-gegenstandskonstituierend oder historisch-erzählend. Ohne Zahlenangaben sind auch geisteswissenschaftliche Untersuchungsgegenstände nicht zu haben, denken wir an Werkverzeichnisse, an Seitennummerierung und Schlagwortregister bei Texten, an bibliographische Individuierung durch die Metadaten von Erscheinungsjahr und -ort, an die Datierung historischer Epochen und Ereignisse etc. Hat das ›Datum‹ – lange ehe es zum Rohmaterial der Digitalisierung avanciert – nicht Briefe individuiert und somit den Briefverkehr wissenschaftlich erforschbar gemacht? Die Alphanumerik arbeitet selbst da, wo auf der Oberfläche sprachlicher Texte nur das Alphabetische gesehen wird: Zum Beispiel in der Anordnung der Lemmata in Enzyklopädien und Wörterbüchern, denn die streng alphabetische Reihenfolge der Suchbegriffe wird durch Rechenverfahren gewährleistet, die auf der Zuordnung von Buchstaben und Zahl beruhen. Ungeachtet dieser Überlegungen steht außer Frage, dass die Materialität von Schriftstücken, Bildern und Artefakten nur einen, wenn auch notwendigen, jedoch nicht hinreichenden Aspekt geisteswissenschaftlicher Arbeit bildet. Das, was über diese empirisch fundierte Dinghaftigkeit hinausgeht – und damit kommen wir zu einem Kernanliegen unserer Überlegungen – besteht darin, eben das, was diesem sicht- und hörbaren Material implizit und in ihm latent angelegt ist, was also nicht aufgeht in seinem konkret-materialen Dasein und Gegebensein, manifest und explizit zu machen.

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Krämer (2017).

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7. Damit kommen wir zurück auf unseren Grundgedanken der Manifestation einer Latenz, dem Explizitmachen von Implizitem als eine Grundverfassung humanen Geistes. Doch drängt sich hier eine Frage auf: Warum eigentlich soll gerade dieses Phänomen zum Nukleus dessen, was ›Geist‹ bedeutet, geadelt werden? Dazu zwei Überlegungen: (1) Zum einen findet sich hier eine Brücke geschlagen zu jenem Phänomen, das sich am nachhaltigsten einer kognitiv-epistemischen Deutung zu widersetzen scheint: Der ›Geist‹ als erscheinendes Gespenst in seiner Phantomhaftigkeit. Erinnert sei an Karl Marx. Er leitet das Kommunistische Manifest mit den Worten ein: »Ein Gespenst geht um in Europa – das Gespenst des Kommunismus.« 35 Dieser Diagnose folgt auf dem Fuße sein Programm, »dem Märchen vom Gespenst des Kommunismus ein Manifest der Partei selbst entgegenstellen.« Oder um von der politischen Programmschrift ins ästhetische Sujet zu wechseln: Das Erscheinen des Vater-Geistes in Shakespears Hamlet kann in dieses Licht gerückt werden, ruft doch der Geist des toten Vaters zur Rache an seiner Ermordung auf, von der wiederum Hamlet bis dato noch gar nichts wusste. Wir treffen im Hamlet auf eine zweifache Art von Manifestation: Der Geist einmal als Projektion von Hamlets Unbewusstem, als Entäußerung einer in ihm angelegten imperativen, aber auch vorbewussten, verdrängten Stimme. Zum andern der Geist als verkörpernde Darstellung eines Wissens, das jedenfalls für Hamlet neu ist. Kurzum im ›Gespenst des Kommunismus‹ ebenso wie im ›Geist von Hamlets Vater‹ begegnet eine Konstellation, die anzeigt, dass die Überblendung von ›Geist als Gespenst‹ und ›Geist als Manifestmachen einer Latenz‹ jedenfalls nicht völlig abwegig erscheint. (2) Doch es gibt noch einen weiteren Grund, warum die Manifestation einer Latenz zum inspirierenden Ansatzpunkt für eine Philosophie des Geistes werden kann. Denn epistemisch ist aufschlussreich, dass Akte des Explizitmachens zugleich das, was dabei expliziert wird, (mit)konstituieren. Nicht einfach wird ein Innerliches, das bereits vorhanden ist und seiner Entäußerung entgegen schlummert, in die Äußerlichkeit einer überindividuellen Wahr-

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Marx (1972), 461.

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nehmbarkeit gerückt. Vielmehr bildet dieser ›Übersetzungsvorgang‹ einen Vollzug, der das, was übersetzt wird, auch konturiert, wenn nicht gar konstituiert. Nur ein Beispiel – wieder aus dem Funktionskreis der Schrift – mag dies erläutern: Empirisch scheint es außer Frage, dass die gesprochene Sprache ihrer Verschriftung vorausgeht, und zwar sowohl angesichts der (wenigen) Kulturen, die Schriftsysteme hervorbrachten, wie auch hinsichtlich der individuellen Sozialisation, in welcher das Sprechen vor dem Schreiben erlernt wird. Doch es gibt auch eine andere Perspektive auf das Verhältnis von Sprache und Schrift: Die antiken Griechen ergänzten das hebräische Schriftzeichensystem um Vokale und erschufen das uns wohlvertraute Alphabet als eine Art phonetischer Schrift, die den Anspruch hat, visuell das Gesprochene mehr oder weniger vollständig darzustellen. Was mit der Verschriftung des Sprechens allerdings geschieht, ist: Aus der kommunikativen Verständigung, die gewöhnlich eine Mixtur und ein ›Gesamtkunstwerk‹ aus Mimik, Gestik, Prosodie, Deixis und Verbalität bildet, wird nun ein singulärer Kommunikationskanal herausgebrochen und als ›Sprache‹ vereinzelt. Ist es Zufall, dass dem Übergang zur Literalität im antiken Griechenland die dreifache semantische und terminologische Unterscheidung zwischen Sprachlaut, musikalischem Ton und Geräusch korrespondiert? 36 Ist die Idee, dass die Sprache einen systemisch verfassten Wissensgegenstand abgebe, der linguistisch unabhängig von Stimme und Gestik untersucht werden könne und anthropologisch zugleich den Nukleus menschlicher Verständigung bilde, tatsächlich unabhängig zu sehen von der medientechnischen Innovation der Verschriftung mündlicher Sprache? Die alphabetische Schrift kann als Transzendental, als Bedingung der Möglichkeit eines universellen Konzeptes von Sprache ausgewiesen werden. Sie ist nicht einfach eine Aufzeichnung von mündlicher Sprache, sondern entwirft deren Kartographie. Die phonetische Schrift ermöglicht erst die Beobachtung, Bearbeitung und Normierung von Sprache, verstanden als ein wissenschaftlicher Allgemeinbegriff. Erst im Schriftbild konsolidiert sich das Sprechen zum Gegenstand linguistischer und philosophischer Reflexion.

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Riethmüller (1988), 56.

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8. An dieser Stelle nun treten die digitalen Geisteswissenschaften auf. 37 Denn ein Implizites explizit zu machen, in unüberschaubar großen Datenmengen verborgene Muster manifest zu machen, etwas als Spur rekonstruieren und mit anderen Spuren vergleichen zu können und all dies unter Bedingungen, die dem menschlichen Auge verborgen bleiben (müssen), bildet eine wichtige Dimension nicht nur in den forensischen Einsätzen des Computers, sondern auch in den maschinenbasierten Forschungsmethoden der Digital Humanities. Und nicht nur das: Tätigkeitsprofile, die für das Forschungshandeln der digitalen Geisteswissenschaften charakteristisch sind, machen ihrerseits Annahmen explizit, die als unausgesprochene Voraussetzungen im gewöhnlichen geisteswissenschaftlichen Tun wirksam werden. 38 Bevor allerdings das ›Data-mining‹, also die automatische Mustersuche nach Signifikantenkonstellationen in großen Datenbeständen als etwas vollkommen Neues hypostasiert wird, gilt es daran zu erinnern, dass das Digitale keimformenhaft im alphanumerischen Textraum bereits angelegt ist. Denn zu digitalisieren heißt, ein Kontinuum in codierbare Einzelelemente zu zerteilen, die ihrerseits arbiträr zugänglich und kombinierbar sind. In dieser Perspektive kommt das Digitale nicht erst mit dem Computer als physischem Gerät auf die Welt. Gerade das Alphabet bildet den Prototypus eines digitalen Systems. In diesen Horizont alphabetischer Praktiken gerückt erweist sich zum Beispiel die Datenbank als eine symbolische Form, 39 welche einen originären Bestandteil europäischer Gelehrtenkultur bildet: Auf dem Prinzip, große Wissenssammlungen auf eine nicht-hierarchische Weise so darzustellen, dass auf deren Elemente unabhängig voneinander zugegriffen und mit diesen operiert werden kann, beruhten bereits die Enzyklopädien, die Hand- und Wörterbücher, welche die neuzeitlichen Wissenschaften begleiten. Und auch die Zettelkästen der Gelehrten, wie die Kataloge der Bibliotheken zehrten und zehren bis heute noch von solchem Prinzip einer DatenzugänglichZur Hinführung auf die digitalen Geisteswissenschaften empfohlen: Schreibman/ Siemens/Unsworth (2016). 38 Dudek (2012), 197, konstatiert dies schon für die basale Transformation eines Drucktextes in eine maschinenlesbare Auszeichnungssprache (Markup): Denn die Markup-Version muss explizit markieren, was im Druckmedium als Strukturierung eines Textes implizit bleibt. 39 Manovich (1999). 37

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keit. Das Potenzial des Alphabets besteht auch darin, ein Register der Anordnung großer Datenbestände zu sein. Oder denken wir an die Stilometrie: 40 Ihre Methode Sprachstile und Wortgebräuche mit statistischen Mitteln zu untersuchen, indem Worthäufigkeiten ausgezählt und Kontexte, in denen ein Wort vorkommt, identifiziert und numerisch mit Hilfe von Wahrscheinlichkeiten quantifiziert werden, ist ein wohletabliertes sprachwissenschaftliches Verfahren, eingesetzt zur Identifikation der Stile von Autoren, Genres und Epochen. Stilometrie ist digitale Geisteswissenschaft avant la lettre. Hier ist nicht einzusteigen in die heftig geführten Debatten 41 darum, was ›Digital Humanities‹ bedeutet im Spannungsfeld zwischen einer informatisch durchdrungenen geisteswissenschaftlichen Teildisziplin (vergleichbar der Bio- oder Wirtschaftsinformatik) und einem großen Dach (›big tent‹), unter dem sich alles versammelt, was sowohl als Quantifizierung geisteswissenschaftlicher Tätigkeiten wie auch als kulturkritische Reflexion von Digitalität gelten kann. Doch eine terminologische Begrenzung ist sinnvoll und auch möglich und betrifft erst einmal die Unterscheidung zwischen der Digitalität, verstanden als eine Kulturtechnik, und den Digital Humanities, begriffen als geisteswissenschaftliche Teildisziplinen. Nicht schon die digitale Literalität per se, also die Nutzung digitaler Ressourcen sowie die Arbeit am vernetzten Computer reichen hin, um von ›Digitalen Geisteswissenschaften‹ zu sprechen. Denn nahezu alle Geisteswissenschaftler*innen sitzen heute schreibend und lesend vor Bildschirmen, nutzen digitalisierte Textkorpora und Materialien, kommunizieren über Email, kollaborieren mithilfe von Filehosting-Diensten. Doch das sind gerade nicht diejenigen Phänomene, die charakteristisch sind für die Digital Humanities als Formen von Geisteswissenschaft. Wir wollen von ›Digital Humanities‹ erst dann sprechen, wenn ein Zusammenspiel der folgenden vier Attribute im Forschungshandeln vorliegt – in welchen Variationen und Proportionen auch immer. 42 (i) ›Verdatung‹ : Die Gegenstände bzw. Materialien müssen vollständig digitalisiert vorliegen, entweder als maschinenlesbare Umschriften von ›analog‹ überlieferten Texten, Bildern und ArZu quantitativen sprachwissenschaftlichen Verfahren vgl.: Köhler/Altmann/ Piotrowski (2005). 41 Sahle (2015). 42 Dies erstmals entwickelt in: Krämer/Huber (2018). 40

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tefakten oder als ›digital geborene‹ Materialien, die überhaupt nur in elektronischer Form existieren (webpages, tweets, Wikipedia etc.). Bezüglich der Digitalisierung von Texten genügt nicht der Scan. Vielmehr muss die visuelle Information, die ein gedruckter Text als Medium bereit hält wie Wortabstände, Kapitelanfänge und –enden, Beginn und Ende von Überschriften etc. durch zusätzliche Zeichen (›tags‹) markiert und ausgezeichnet werden. Der für Menschenaugen intuitiv lesbare Text wird damit verwandelt in ein Datenkonvolut, in ein ›Dokument‹ mit Hilfe einer Markup-Language wie HTLM. Erst dann liegt ein Text in maschinenlesbarer und –bearbeitbarer Gestalt vor. Die Daten im Zusammenhang von Datenverarbeitung sind daher stets gemäß Modellen und Formaten operationalisiert; die Datenbestände werden in den kulturellen Speichern humaner Werke und Artefakte nicht einfach vorgefunden, sondern werden intentional erzeugt, um maschinenrezipierbar zu werden. Kurzum: es gibt keine ›rohen Daten‹. (ii) ›Datengetriebene Verfahren‹ : Die Verfahren der Datenbearbeitung beruhen auf Algorithmen und stehen in enger Verbindung zu stochastischen und statistischen, also quantifizierenden Methoden. Ihr Einsatz ist auf zwei Arten möglich: Entweder indem deduktiv Hypothesen, die unabhängig von digitalisierten Korpora gewonnen sind, am Datenmaterial überprüft werden; oder indem induktiv aus unüberschaubar großen Datenmengen Hypothesen erst gewonnen, Analysekriterien abgeleitet und zuvor unbekannte Muster extrahiert werden. In jedem Falle gilt: diese Art von Forschungsarbeiten sind durch gelehrte, eigenhändige Arbeit mit dem Material nicht mehr zu realisieren. (iii) ›Visualisierung‹ : Die Resultate datengetriebener Wissenschaften sind nicht les- und interpretierbar von Menschenaugen. Daher sind Verfahren der graphischen und diagrammatischen Visualisierung unabdingbar, denn anders können die computergenerierten Resultate nicht mehr rezipiert werden. Visualisieren wird zum Inkrement computergestützter Forschungsmethodik. Welche Visualisierungsformen genutzt werden, beruht auf Entscheidungen. Das was in der Visualisierung entsteht, ist nicht nur die graphische Darstellung von etwas, das auch anders zuhanden und zu haben wäre, sondern ist die Herstellung einer Darstellung von Wissen, das anders für Menschen nicht zugänglich ist. Wie visualisiert wird, bleibt eine Entscheidungsfrage; dass visuali242 https://doi.org/10.5771/9783495820377 .

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siert werden muss, steht nicht zur Entscheidung. Visualisierung wird ein grundständiger Bestandteil des Forschungshandelns. (iv) ›Neuigkeitswert‹ : Die Forschungsresultate sollten gegenüber dem, was mit traditionellen Methoden zu gewinnen ist, überraschend bzw. innovativ sein. Alter Wein in neuen Schläuchen ist wenig hilfreich. Allerdings gilt zu bedenken: die Entwicklung neuartiger Instrumente, Werkzeuge und Medien in den Wissenschaften – das zeigt die Wissenschaftsgeschichte – benötigt Zeit. Und es spricht nicht gegen die digitale Wissenschaft, wenn es zu einer Koinzidenz in den Ergebnissen etwa des ›close‹ und des ›distant readings‹ kommt. Um ein überraschendes Beispiel zu erwähnen: Carlo Ginzburg gelangt mit seinem ›close reading‹ dazu, die Methode der Spurensicherung beim Kriminalinspektor Sherlock Holmes als Indikator einer Wende zu interpretieren hin zu einem ›Indizienparadigma‹ als einer neu entstehenden Methodik geisteswissenschaftlicher Forschung. 43 Franco Moretti, der Frontmann digitaler Literaturwissenschaft wiederum kommt aufgrund seines ›distant readings‹ aller Kriminalromane zu dieser Zeit zu dem Ergebnis, dass Sherlock Holmes deshalb zum meistgelesenen Kriminalroman wird, weil er durch seine sukzessive Spurenauswertung die Leser ins Geschehen mit einbezieht und zu detektivisch arbeitenden Teilnehmern macht. 44 Sowohl die nichtdigitale wie die digitale Geisteswissenschaft entdecken mit ihren scheinbar gegenläufigen Methoden des ›close‹ und ›distant readings‹ das ›Spurenlesen‹ als jene Auszeichnung, die den Romanen von Arthur C. Doyle weltweiten Erfolg bescherte. Wenn die vier Anforderungen Verdatung, Algorithmisierung, Visualisierung, Neuigkeitswert in einer geisteswissenschaftlichen Forschungspraxis erfüllt sind, dann können Algorithmen in kanonüberschreitenden großen Datenvolumina Muster und Strukturen auffinden, die ohne computerphilologische Verfahren des ›Data Mining‹ nicht wahrnehmbar wären und erst recht nicht gewusst werden. Damit zeichnet sich ab, dass die Arbeitsfelder der Digital Humanities viel weiter ausgreifen als ›nur‹ zu einer Digitalisierung des kulturellen Erbes in Kooperation mit Museen, Bibliotheken, Archiven. Viel43 44

Ginzburg (1995), 15 ff. Moretti (2016), 69 ff.

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mehr entstehen informatik-kooperative fachwissenschaftliche Einzelforschungen, sofern für deren Forschungsfragen umfangreiche Datensätze von Belang sind wie etwa bei Vergleichen zwischen großen Textkonvoluten, bei der Forensik anonymer Autorschaft etc.

9. An dieser Stelle ist eine historische Betrachtung aufschlussreich. Die Philosophie ist nicht gerade Avantgarde der Digitalisierung in den Wissenschaften. Doch just ein philosophisches Forschungsprojekt wurde zu Beginn der 50er Jahre zum Pionier der Digital Humanities. 45 Der Jesuitenpater Roberto Busa (1913 – 2011) untersuchte in seiner Doktorarbeit die Rolle des Begriffs ›praesentia‹ im Werk Thomas von Aquin. Sein Anliegen ist ein genuin philosophisches: zu prüfen, ob sich Widersprüche in Aquins Schriften aufdecken lassen zwischen dem, was Aquin absichtsvoll als philosophische Position artikuliert, und dem, was er – gleichsam zwischen den Zeilen – durch den konkreten Wortgebrauch seiner Argumentation signalisiert. »In the works of every philosopher there are two philosophies: the one which he consciously intends to express and the one he actually uses to express it. The structure of each sentence implies in itself some philosophical assumptions and truths. In this light, one can legitimately criticize a philosopher only when these two philosophies are in contradiction«. 46 Busa überträgt alle Wortvorkommnisse von ›praesens‹ und ›praesentia‹ – und zwar einschließlich der verschiedenen Verwendungen der Präpositionen ›in‹ – auf 10 000 Karteikarten. Die Chronologie des ›Fließtextes‹ in Aquins Werk wird aufgebrochen, und die Karteikarten als elementare Ordnungsform einer Datenbank ermöglichen geradezu »spielerisch« – wie Busa selbst betont 47 –, durch Sortierung und Umsortierung Schlüsse über den Wortgebrauch zu ziehen. Im Zuge dieser ›händischen‹ Dissertationsarbeit entsteht dann bei ihm eine viel weitreichendere Idee: Die Herstellung einer Gesamtkonkordanz von Aquins Werk: Alle Wortvorkommnisse sollen 45 46 47

Röhle (2012); Winter (1999). Busa (1980), 83, zit. n. Röhle (2012), 81. Röhle (2012) zitiert mit seinem Titel (›Grand Games of Solitaire‹) Roberto Busa.

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Was bedeutet ›Geist‹?

indiziert und der Bearbeitung durch die Gelehrtenwelt zugänglich gemacht werden. Busa ist sich im Klaren, dass einen ›Index Thomisticus‹ eigenhändig zu verfassen, niemals durch ihn zu schaffen ist. Seine Idee, mit der er zum Vater und Pionier der digitalen Geisteswissenschaften avanciert, ist, diese stupende Indexikalisierungsarbeit von 10,6 Millionen Wörtern Maschinen zu überlassen. In IBM findet er schließlich einen Partner, der sein Projekt realisiert und ihm einen Maschinenpark riesigen Ausmaßes bereitstellt. Fortan sind über 60 zumeist weibliche Arbeitskräfte mit der Übertragung der Wörter anfangs auf Lochkarten, später auf Magnetbänder und rudimentäre Festplatten beschäftigt. Ende der 70er Jahre erscheint der Index nach und nach in gedruckter Form in 31 Bänden – eine dem ›Geist‹ von Busas Idee noch widersprechende, paradoxe Darstellungsform, da die Druckwerke gerade nicht die elektronische Bearbeitung des Korpus ermöglichen; doch ab 1992 sind die Bände als CD- Rom zu haben.

10. Die amerikanische Autorin Johanna Drucker macht 2012 eine aufschlussreiche Bemerkung zum Verhältnis von traditionellen und digitalen Geisteswissenschaften: »[…] the tasks of creating metadata, doing mark up, and making classification schemas or information architecture forced humanists to make explicit many assumptions often left implicit in our work.« 48 Wir wollen die Annahme Druckers zuspitzen und etwas radikaler fassen. In den Praktiken der digitalen Geisteswissenschaften – so unsere Hypothese – kann etwas hervortreten, was im Selbstbild der traditionellen Geisteswissenschaften als blinder Fleck nachgerade ausgeschlossen, wenn nicht gar verdrängt bleibt. 49 Das, was in der Selbstreflexion traditioneller Geisteswissenschaften infolge ihrer Präokkupation durch Sinn, Interpretation und das Hermeneutische überdeckt bleibt, sind eben die immer schon materialen, die technisch mediatisierten, die auf empirische Analysen von Texturen und Spuren orientierten Aspekte geisteswissenschaftlichen Forschens. Zweifellos ist es an der Zeit, eine geisteswissenschaftlich orientierte ›Kritik der digitalen Vernunft‹ zu entwerfen. Doch zu beachten 48 49

Drucker (2012). Krämer (2018).

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ist, dass ein solcher Anspruch – grammatikalisch beleuchtet – doppelsinnig ist. Denn dies bedeutet sowohl Kritik an der digitalen Vernunft (oder Unvernunft) als auch Kritik durch die digitale Vernunft! Diese zweite, eher unerwartete Lesart sei hier als Option hervorgehoben. Digitale Geisteswissenschaften können – im Prinzip – ein kritisches Potenzial entfalten, um den zumeist marginalisierten Materialitätskern der Geisteswissenschaften hervortreten zu lassen. Deuten wir kurz an, wie das zu verstehen ist: Die digitale, automatische Bearbeitung von Datensätzen erfordert einerseits als Voraussetzung – wir deuteten darauf schon hin – eine absichtsvolle Auszeichnung bzw. Markierung von dem, was in herkömmlichen textuellen oder bildlichen Oberflächen zwar vorhanden, aber ›stumm‹ und unentborgen bleibt: Etwa Wortkontexte zu diagnostizieren und auch auszuzählen oder die hierarchischen visuellen Strukturen (Überschriften, Kapitel, Fußnoten …), die sich auf Textoberflächen zeigen, explizit zu machen. Zum anderen fungiert die automatische Datenverarbeitung wie ein Mikroskop, welches an Bildern, Ornamenten und Bauwerken, aber auch an riesigen Textkorpora etwas zutage fördern kann, was das unbewaffnete menschliche Auge niemals zu sehen vermag. Allerdings ist eine solche Selbsterhellung geisteswissenschaftlicher Arbeit durch die Herausforderungen ihrer digitalen Abkömmlinge in Gestalt der Digital Humanities kein Automatismus. Naturwüchsig scheint sich eher die Apologie einer Ersetzung von Interpretation durch quantifizierende Datenbearbeitung, einer Verdrängung von Hermeneutik durch informatische Berechenbarkeit abzuzeichnen. Diese Fehlorientierungen zu vermeiden, setzt voraus, dass die Digital Humanities ihre eigenen Grundkategorien und Elementaroperationen kritisch – und also genuin geisteswissenschaftlich – zu reflektieren bereit sind. Denn geisteswissenschaftliche Reflexion und Kritik gehören zusammen, vorausgesetzt wir verstehen ›Kritik‹ als die Bereitschaft, die Maßstäbe der Beurteilung von Phänomenen und Äußerungen auch auf das eigene Denken und Tun anzuwenden Es geht also darum, dass die Digital Humanities sich tatsächlich als geisteswissenschaftliches Projekt und nicht nur als Teilbereich und konkreter Anwendungsfall informatischen Wissens begreifen.

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Was bedeutet ›Geist‹?

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Die Autorinnen und Autoren

Carl Friedrich Gethmann, geb. 1944; Studium der Philosophie in Bonn, Innsbruck und Bochum; 1968 lic. phil. (Institutum Philosophicum Oenipontanum); 1971 Promotion zum Dr. phil. (Ruhr-Universität Bochum); 1978 Habilitation für »Philosophie« (Universität Konstanz). 2003 Ehrenpromotion zum Dr. phil. h. c. an der HumboldtUniversität zu Berlin; seit 2010 Honorarprofessor an der Universität zu Köln. Seit 1979 Professor für Philosophie an der Universität Essen; 1996–2012 Direktor der Europäischen Akademie zur Erforschung von Folgen wissenschaftlich-technischer Entwicklungen in Bad Neuenahr-Ahrweiler GmbH; seit 03.2012 Professor für »Wissenschaftsethik« am Forschungskolleg »Zukunft menschlich gestalten« der Universität Siegen. Mitglied der Academia Europaea (London); o. Mitglied der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften; o. Mitglied der Deutschen Akademie der Naturforscher Leopoldina (Halle); o. Mitglied der Deutschen Akademie der Technikwissenschaften (acatech); Mitglied der Bio-Ethik Kommission des Landes Rheinland Pfalz; Präsident der Deutschen Gesellschaft für Philosophie e. V. (2006–2008); Mitglied des Deutschen Ethikrates (ab 2013; verlängert 2017–2021); Mitglied des Ethikrates der Max Planck-Gesellschaft. Forschungsschwerpunkte: Sprachphilosophie/ Philosophie der Logik; Phänomenologie; Angewandte Philosophie (Medizinische Ethik/Umweltethik/Technikfolgenabschätzung). Vittorio Hösle, geb. 1960 in Mailand, 1982 Promotion und 1986 Habilitation in Philosophie in Tübingen, ist seit 1999 Paul Kimball Professor of Arts and Letters in den Departments of German and Russian,of Philosophy and of Political Science an der University of Notre Dame und seit 2013 ordentliches Mitglied der Päpstlichen Akademie der Sozialwissenschaften. Hauptwerke: »Wahrheit und Geschichte«, 1984; »Hegels System«, 1987; »Moral und Politik«, 1997; »Der philosophische Dialog«, 2006; »Eine kurze Geschichte der deutschen Philosophie«, 2013; »Kritik der verstehenden Vernunft«, 2018; 251 https://doi.org/10.5771/9783495820377 .

Die Autorinnen und Autoren

»Globale Fliehkräfte«, 2019. Seine Bücher sind in zwanzig Sprachen erschienen. Hans Joas ist Ernst-Troeltsch-Honorarprofessor für Religionssoziologie an der Humboldt-Universität zu Berlin und Professor für Soziologie und Social Thought an der University of Chicago. Zu seinen wichtigsten neueren Veröffentlichungen gehören die Bücher »Die Macht des Heiligen. Eine Alternative zur Geschichte von der Entzauberung« (Berlin: Suhrkamp 2017), »Kirche als Moralagentur?« (München: Kösel 2016), »Sind die Menschenrechte westlich?« (München: Kösel 2015), »Glaube als Option. Zukunftsmöglichkeiten des Christentums« (Freiburg: Herder 2012) und »Die Sakralität der Person. Eine neue Genealogie der Menschenrechte« (Berlin: Suhrkamp 2011). Er ist Ehrendoktor der Universitäten Tübingen und Uppsala und Mitglied der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften. Im Jahr 2015 wurde er mit dem Max-Planck-Forschungspreis, im Jahr 2017 mit dem Prix Paul Ricœur ausgezeichnet. Sybille Krämer, bis April 2018 Professorin für Philosophie an der Freien Universität Berlin; seit März 2019 Seniorprofessorin an der Leuphana Universität Lüneburg, Institut für Ästhetik und Kultur digitaler Medien. Gastprofessuren an Universitäten in Tokyo, Yale, Wien, Graz, Zürich, Luzern. Ehrenpromotion der Universität Linköping/Schweden. Akademische Funktionen: Vormals Mitglied des Wissenschaftsrates sowie des Scientific Panel des European Research Council (Brüssel), Mitglied im Senat der Deutschen Forschungsgemeinschaft, permanent fellow am Wissenschaftskolleg zu Berlin sowie Sprecherin des DFG-Graduiertenkollegs ›Schriftbildlichkeit‹. Arbeitsgebiete: Theorie des Geistes, Erkenntnistheorie, Philosophie des Rationalismus, Philosophie der Sprache, der Schrift und des Bildes, Medienphilosophie und -theorie. Jüngste Monographie: »Figuration, Anschauung, Erkenntnis. Grundlinien einer Diagrammatologie«, Frankfurt (Suhrkamp) 2016. Schriften wurden ins Englische, Französische, Italienische, Ungarische, Tschechische, sowie ins Japanische und Chinesische übersetzt. Gerhard Lauer ist Professor für Digital Humanities an der Universität Basel. Er wurde mit einer Arbeit zur Wissenschaftsgeschichte des Exils promoviert und einer Arbeit zur aschkenasischen Kultur der Frühen Neuzeit habilitiert. Von 2002 bis 2017 lehrte er Deutsche 252 https://doi.org/10.5771/9783495820377 .

Die Autorinnen und Autoren

Philologie an der Universität Göttingen, bevor er an die Universität Basel wechselte. Hier leitet er das Digital Humanities Lab. Zuletzt erschienen sind »Johann Friedrich Blumenbach. Race and Natural History 1750–1850« (2019, zus. mit N. Rupke) und »Wilhelm von Humboldt. Schriften zur Bildung« (2017), in Vorbereitung »Lesen im digitalen Zeitalter«. Hans-Ulrich Lessing ist apl. Prof. für Philosophie (i. R.) an der Ruhr-Universität Bochum. Seine Forschungsinteressen sind Philosophie der Geisteswissenschaften, insbes. Dilthey, philosophische Anthropologie, insbes. Plessner und Gehlen, sowie Kulturphilosophie. Zahlreiche Monographien, Editionen, Aufsätze und Wörterbuchartikel. U. a.: »Die Idee einer Kritik der historischen Vernunft. Wilhelm Diltheys erkenntnistheoretisch-logisch-methodologische Grundlegung der Geisteswissenschaften« (1984), »Hermeneutik der Sinne. Eine Untersuchung zu Helmuth Plessners Projekt einer ›Ästhesiologie des Geistes‹ nebst einem Plessner-Ineditum« (1998), »Die Autonomie der Geisteswissenschaften. Studien zur Philosophie Wilhelm Diltheys«. 2 Bände (2015, 2016). Susanne Lüdemann (LMU München); Studium der Fächer Germanistik, Philosophie und Geschichte an den Universitäten Bonn und Freiburg im Breisgau 1992; Promotion im Fach Neuere deutsche Literaturwissenschaft an der Universität Freiburg; 2003 Habilitation an der Geisteswissenschaftlichen Sektion der Universität Konstanz: Erteilung der Lehrerlaubnis für Neuere deutsche Literatur und Allgemeine Literaturwissenschaft; 1993–1994 Lektorin für deutsche Sprache und Literatur an der Universität Aarhus/Dänemark; 1994– 2000 Hochschulassistentin am Soziologischen Institut der Freien Universität Berlin; 2000–2006 Wissenschaftliche Mitarbeiterin des Projekts »Poetologie der Körperschaften« am Zentrum für Literaturund Kulturforschung (Berlin); 2006–2008 Vertretungsprofessuren für Neuere deutsche Literatur und Kulturtheorie an der Universität Konstanz; 2009–2012 Professor of Germanic Studies an der University of Chicago; seit Juni 2012 Universitätsprofessorin für Neuere deutsche Literatur und Allgemeine Literaturwissenschaft an der LMU München. Derzeit arbeitet sie an einem Projekt über Hannah Arendt und das Problem der Urteilskraft in der Moderne.

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Die Autorinnen und Autoren

Jörg Noller (LMU München), geb. 1984, hat Philosophie, Geschichte, Literaturwissenschaft und Evangelische Theologie in Tübingen und München studiert. Er verbrachte Forschungsaufenthalte an den Universitäten Pittsburgh, Chicago und Notre Dame (USA). 2014 promovierte er mit einer Arbeit zum Freiheitsproblem im Ausgang von Kant. Seitdem arbeitet er an seiner Habilitationsschrift über personale Lebensformen, an einer Monographie über die Philosophie der Digitalität und an einer englischsprachigen Edition der nachkantischen Freiheitsdebatte. Zahlreiche Publikationen zur klassischen deutschen Philosophie, zum Problem des Unmoralischen und zur Didaktik der Philosophie. Malte Rehbein (Universität Passau) ist Inhaber des Lehrstuhls für Digital Humanities. Studium der Geschichte und Mathematik, Univ. Göttingen; Stud. Hilfskraft, Historische Fachinformatik, MaxPlanck-Institut für Geschichte, Göttingen; mehrjährige Tätigkeit als Software-Entwickler, Projektmanager und Unternehmensberater, u. a. Siemens AG; Promotion in Mittlerer und Neuerer Geschichte, Universität Göttingen; Marie-Curie Research Fellow, National University of Ireland, Galway; Wiss. Mitarbeiter am Lehrstuhl für Computerphilologie, Universität Würzburg; Postdoctoral Research Fellow, University of Victoria, Canada; Assistant Professor of History (tenure track) und Fellow am Center for Digital Research in the Humanities, University of Nebraska-Lincoln, USA; seit 2013: Inhaber des Lehrstuhls für Digital Humanities, Universität Passau. Dieter Thomä, geb. 1959, ist seit 2000 Professor für Philosophie an der Universität St. Gallen und leitet dort das Masterprogramm »Management-Organisation-Kultur«. Er war Fellow u. a. am Getty Research Institute, Los Angeles, am Wissenschaftskolleg zu Berlin und am Institute for Advanced Study in Princeton. Buchveröffentlichungen u. a.: »Warum Demokratien Helden brauchen« (Ullstein 2019), »Puer robustus. Eine Philosophie des Störenfrieds« (Suhrkamp 2016), »Der Einfall des Lebens. Theorie als geheime Autobiographie« (Hanser 2015), »Gibt es noch eine Universität« (Konstanz University Press (2012), »Totalität und Mitleid« (Suhrkamp 2006). Annette Vowinckel (Universität Potsdam) wurde 1999 mit einer Arbeit über »Geschichtsbegriff und Historisches Denken bei Hannah Arendt« in Essen promoviert und habilitierte sich 2006 mit einer Ar254 https://doi.org/10.5771/9783495820377 .

Die Autorinnen und Autoren

beit zur Kulturgeschichte der Renaissance am Institut für Kulturwissenschaft der Humboldt-Universität Berlin. Seit 2014 leitet sie die Abteilung »Zeitgeschichte der Medien- und Informationsgesellschaft« am Zentrum für Zeithistorische Forschung Potsdam. Wichtige Publikationen: »Agenten der Bilder. Fotografisches Handeln im 20. Jahrhundert«, Göttingen: Wallstein 2016; »Flugzeugentführungen. Eine Kulturgeschichte«, Göttingen: Wallstein 2011; »Grundwissen Philosophie: Hannah Arendt«, Stuttgart: Reclam 2015 (2. Auflage).

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