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German Pages [273] Year 2023
Wiener Galizien-Studien
Band 7
Herausgegeben von Christoph Augustynowicz, Kerstin S. Jobst, Andreas Kappeler, Andrea Komlosy, Annegret Pelz, Dieter Segert, Olaf Terpitz, Tatjana Thelen, Philipp Ther und Alois Woldan
Die Bände dieser Reihe sind peer-reviewed.
Dana Lushaj / Joanna Rozmus / Yuriy Remestwenski (Hg.)
Was bleibt von Galizien? Kontinuitäten – Brüche – Perspektiven What Remains of Galicia? Continuities – Ruptures – Perspectives
Mit einem Vorwort von Christoph Augustynowicz und Alois Woldan Mit 8 Abbildungen
V&R unipress Vienna University Press
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über https://dnb.de abrufbar. Veröffentlichungen der Vienna University Press erscheinen bei V&R unipress. Gedruckt mit freundlicher Unterstützung des Fonds zur Förderung der wissenschaftlichen Forschung (FWF), der Historisch-Kulturwissenschaftlichen Fakultät der Universität Wien und der Stadt Wien Kultur (MA 7). © 2023 Brill | V&R unipress, Robert-Bosch-Breite 10, D-37079 Göttingen, ein Imprint der Brill-Gruppe (Koninklijke Brill NV, Leiden, Niederlande; Brill USA Inc., Boston MA, USA; Brill Asia Pte Ltd, Singapore; Brill Deutschland GmbH, Paderborn, Deutschland; Brill Österreich GmbH, Wien, Österreich) Koninklijke Brill NV umfasst die Imprints Brill, Brill Nijhoff, Brill Schöningh, Brill Fink, Brill mentis, Brill Wageningen Academic, Vandenhoeck & Ruprecht, Böhlau und V&R unipress. Alle Rechte vorbehalten. Das Werk und seine Teile sind urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung in anderen als den gesetzlich zugelassenen Fällen bedarf der vorherigen schriftlichen Einwilligung des Verlages. Umschlagabbildung: © Dana Lushaj (Collage): Universität L’viv Vandenhoeck & Ruprecht Verlage | www.vandenhoeck-ruprecht-verlage.com ISSN 2626-272X ISBN 978-3-7370-1499-1
Inhalt
Danksagung
. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Vorwort . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Dana Lushaj / Yuriy Remestwenski / Joanna Rozmus Einführung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Patrice M. Dabrowski (Harvard Ukrainian Research Institute) Tangible Remains of Galicia . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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I. Multi- or Mononationalism in Galicia? Imagined and Implemented Concepts Jakob Mischke (Universität Wien) Rechtswissenschaft für die Nationsbildung: Stanislav Dnistrjans’kyjs Analysen und Konzepte zum ukrainischen Recht . . . . . . . . . . . . . .
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Martin Rohde (Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg) Galizische Erbschaften? Das ‚ukrainische Piemont‘ als transimperiales Projekt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Michaela Oberreiter (Universität Wien) Ostgalizien als „Schweiz des Ostens“: Das Verfassungsprojekt der westukrainischen Exilregierung von 1921 . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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II. Language Situation and Galicia Liudmyla Pidkuimukha (National University of Kyiv-Mohyla Academy) The Language Situation and Linguistic Diversity in L’viv during the Interwar Period . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Inhalt
III. Church and State in Galicia Dana Lushaj (Universität Wien) Josephs II. Konzept des Idealpriesters: Die josephinische „Disziplinierung“ der griechisch-katholischen Priester . . . . . . . . . . . 107 Alessandro Milani (French Research Center in Humanities and Social Sciences – Prague) The Polish management of Greek Catholics in East Galicia and Volhynia (1919–1929) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 129
IV. Who Cares for the Left Behind? Men, Children and the Elderly within the Context of Female (Labour) Migration from Western Ukraine Ilona Grabmaier (Universität Wien) Die Grenzen gegenseitiger Unterstützung: geschlechtsspezifische Konstruktionen von (un)deservingness in der ländlichen Ukraine . . . . . 145 Alexander Tymczuk (Telemark Research Institute Norway) Ambiguous Migration(s): Care at a Distance in Ukrainian Transnational Families . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 171
V. Galicia as a Literary Space of Memory Avi-ram Tzoreff (Ben-Gurion University of the Negev) Laughter, Empire and Transnationalism: Galicia as the Background for the Transnationalism Concept in R. Binyamin’s Thought . . . . . . . . . 191 Halyna Witoszynska (Universität Wien) Topographien der Kindheit. L’viv/Lwów der Zwischenkriegszeit als Erinnerungsraum in autobiographischen Texten . . . . . . . . . . . . . . 209
Excursus Camillo Breiling (Universität Wien) Die Lipovaner in der Bukowina des späten 18. Jahrhunderts im Vergleich mit den heutigen Lipovanern im Donaudelta . . . . . . . . . . . . . . . . 231 Frank Rochow (Max-Planck-Institut für ethnologische Forschung/ Martin-Luther-Universität Halle) Habsburgische Militärarchitektur als gesamtgalizisches Erbe . . . . . . . 255
Danksagung
Die Herausgeberinnen und der Herausgeber des vorliegenden Bandes der Wiener Galizienstudien „Was bleibt von Galizien? Kontinuitäten – Brüche – Perspektiven“ möchten sich an dieser Stelle für die finanzielle Unterstützung von dem Fonds für Wissenschaftliche Förderung, der MA 7 der Stadt Wien und der Historisch-Kulturwissenschaftlichen Fakultät der Universität Wien herzlichst bedanken. Ebenbürtig gilt unser Dank den Beiträgerinnen und Beiträgern, die eine Sammlung an Artikeln zu aktuellen Fragestellungen über Galizien überhaupt erst möglich gemacht haben, und den Reviewerinnen und Reviewern, die mit ihrer Expertise bei der Gestaltung des Bandes unentbehrlich waren. Unser spezieller Dank gebührt auch dem Sprecher der vierten Generation des Doktoratskollegs Galizien und sein multikulturelles Erbe, Univ.-Prof. Christoph Augustynowicz, für die Mitwirkung an der Entstehung dieser Publikation.
Vorwort
Mit „What Remains of Galicia? Continuities – Ruptures – Perspectives“ liegt ein vierter Sammelband der Kollegiatinnen und Kollegiaten des Doktoratskollegs „Galizien und sein multikulturelles Erbe“ vor, der ebenso wie die drei vorhergehenden („Galizien – Fragmente eines diskursiven Raums“ 2009; „Galizien – Peripherie der Moderne – Moderne der Peripherie“ 2013; „Galizien in Bewegung. Wahrnehmungen – Begegnungen – Verflechtungen“ 2017) auf eine Konferenz zurückgeht, die von den Kollegiatinnen und Kollegiaten 2018 veranstaltet und durchgeführt wurde. Dieser Band bringt also einmal mehr einen Überblick über die Themen, zu denen in der vierten Laufzeit des Kollegs, mit der dieses auch zu Ende geht, geforscht wird; er präsentiert auch Bereiche der Galizien-Forschung, in denen das Nachleben Galiziens in der Gegenwart der Nachfolgestaaten deutlich wird. Mit gutem Recht steht die Frage nach dem, was vom alten Kronland Galizien bleibt bzw. geblieben ist, im Mittelpunkt des Titels eines Bandes, der deutlich heterogene Gebiete zusammenbringt. Die Frage nach dem, was geblieben ist, ist nicht nur typisch für die Forschungsinteressen der Kollegiatinnen und Kollegiaten in der letzten Laufzeit des Kollegs, sie ist auch in der heutigen Galizien-Forschung weltweit nicht zu überhören. Ein Beweis dafür ist die Erweiterung der Zahl der Beiträgerinnen und Beiträger in diesem Band um junge Forscherinnen und Forscher, die zu ähnlichen Themen wie die Kollegiatinnen und Kollegiaten arbeiten. Bewusst haben die Kollegiatinnen und Kollegiaten auf dem internationalen Parkett nach Kolleginnen und Kollegen gesucht, die ähnliche Forschungen betreiben und diese zunächst zur Konferenz, dann auch zur Publikation in diesem Band eingeladen. Der dadurch zweifellos bereicherte Band dokumentiert somit nicht nur die Beiträge einer Konferenz, sondern auch die Verzahnung von heterogenen Gebieten der Galizien-Forschung. Um es mit einem Vergleich aus der Musik zu sagen: Die Verdoppelung der Stimmen in diesem Konzert durch auswärtige Interpretinnen und Interpreten verleiht einer jeden Stimmgruppe mehr an Gewicht. Wie die Heranführung der langjährigen und hochverdienten Mitarbeiterin des DK Galizien, Patrice Dabrowski, deutlich macht, zeigen die Themenbereiche, die
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Vorwort
in diesem Sammelband angeschnitten, behandelt und in die Diskussion eingebracht werden, die große Bandbreite der zeitgenössischen Galizienforschung, die über die sozusagen klassischen Disziplinen dieser Forschung, Geschichte einerseits und Sprach- und Literaturwissenschaft andererseits, hinausgehen und damit auch neue Akzente im Vergleich zu den bisherigen Sammelbänden setzen. Die Beiträge aus der Rechtswissenschaft (Michaela Oberreiter, Jakob Mischke), aber auch die aus dem Bereich der Ethnographie (Ilona Grabmaier, Alexander Tymczuk) sind dafür eindrucksvolle Beispiele. Wichtiger vielleicht noch als das breite Spektrum der für die Galizien-Forschung relevanten Disziplinen ist der transdisziplinäre Zugang, der für viele der hier vertretenen Beiträge charakteristisch ist und zeigt, wie sehr kulturwissenschaftliches Arbeiten die traditionellen Grenzen von historischen und philologischen wissenschaftlichen Disziplinen überschreitet. Neu in der Tradition der Galizien-Forschung im Kolleg sind auch empirisch gestützte sozialwissenschaftliche Arbeiten wie die von Ilona Grabmaier, die wesentlich auf Feldforschungen beruhen. Die Zusammenführung von Arbeiten der Kollegiatinnen und Kollegiaten mit solchen junger Forscherinnen und Forscher von außerhalb des DK lässt auch die im Titel angesprochene Kontinuität von Phänomen bzw. Problemstellungen deutlich werden. Dana Lushaj untersucht Besonderheiten der Griechisch-Katholischen Kirche im späten 18. Jahrhundert, Alessandro Milani geht auf ähnliche Fragen im frühen 20. Jahrhundert ein. Liudmyla Pidkuimukha geht auf das Nebeneinander mehrerer Sprachen in der Stadt Lemberg in der Zwischenkriegszeit ein. Berührungspunkte anderer Art lassen sich auch bei anderen Themenbereichen feststellen, etwa zwischen Jakob Mischkes Beitrag über den multinationalen Ansatz eines galizisch-ukrainischen Rechtsgelehrten und Avi-ram Tzoreffs Überlegungen zum transnationalen Hintergrund im Denken eines galizischen Rabbiners. Diese beiden Beiträge lassen auch einen transdisziplinären Zugang deutlich erkennen. Schließlich ist auch die Literaturwissenschaft in diesem Band vertreten, wenn auch weniger stark als in früheren Bänden, aber doch ausreichend, um ihre Unverzichtbarkeit in der Galizien-Forschung zu zeigen. Die von Halyna Witoszynska untersuchten Kindheitserinnerungen im mehrsprachigen Stadttext von Lemberg korrespondieren mit Topoi des Bildungs- und Entwicklungsromans. Martin Rohdes Beitrag über die SˇevcˇenkoGesellschaft, eine Art ukrainischer Akademie der Wissenschaften in einer Zeit, da es noch keine Ukraine im Sinne moderner Staatlichkeit gab, schlägt zeitliche Brücken vom späten 19. Jahrhundert bis in die Gegenwart und knüpft räumliche Bande zwischen Mitteleuropa und den USA. Betrachtungen von Frank Rochow zur Militärarchitektur in Galizien und von Camillo Breiling zu den Lipovanern im Donaudelta akzentuieren abschließend noch einmal die beziehungsreiche Spannung zwischen Geschichtswissenschaft und Philologie. Es muss nicht besonders angeführt werden, dass es bei all den angedeuteten Konvergenzen auch
Vorwort
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Divergenzen zwischen den einzelnen Beiträgen gibt, wobei eine Deckungsgleichheit, was Gegenstand und Methode der jeweiligen Untersuchung betrifft, auch nicht angestrebt wurde. Ungeachtet dessen möchte der Band als ein Ganzes wahrgenommen werden, das auch im Sinn der galizischen Synthese mehr als nur die Summe seiner Teile ist. Christoph Augustynowicz Alois Woldan Sprecher des DK Galizien, Oktober 2018
Dana Lushaj / Yuriy Remestwenski / Joanna Rozmus
Einführung
Vor über 100 Jahren verschwand die habsburgische Verwaltungseinheit Galizien von der Landkarte Europas. Das Gebiet des historischen Galiziens war infolge der zwei Weltkriege wie auch des Systemwechsels vom Sozialismus zum Kapitalismus wiederholt einem radikalen Wandel unterworfen, der alle Lebensbereiche seiner multikulturellen Gesellschaft durchdrungen und diese selbst tiefgreifend verändert hat. Nach dem Untergang des ehemaligen habsburgischen Kronlandes stellt sich die Frage: Was bleibt von Galizien? Was bleibt von der knapp 150 Jahre bestehenden staatsrechtlichen und administrativen Einheit und ihrer multikulturellen Lebenswelt? Was ist durch historische Wandlungsprozesse verloren gegangen? Welche neuen Perspektiven können in der Forschung zu Galizien eingeschlagen werden? Dieser Frage sind Jungwissenschaftlerinnen und Jungwissenschaftler der Geschichtswissenschaften, Kultur- und Sozialanthropologie, Literaturwissenschaften, Sprachwissenschaften und Rechtswissenschaften aus Europa, Israel, Südkorea und den USA im Frühjahr 2018 an der Universität Wien in einem interdisziplinären Dialog nachgegangen. Der vorliegende Sammelband ist eine Auswahl an interdisziplinären Artikeln der von der vierten und letzten Generation des Doktoratskollegs „Das österreichische Galizien und sein multikulturelles Erbe“ organisierten gleichnamigen Konferenz. Die Autorinnen und Autoren führen anhand ihrer Beiträge auf den Spuren des galizischen Erbes durch den heutigen Raum der Westukraine und Südpolens vom 18. Jahrhundert bis in die Gegenwart und geben einen Einblick in ihre laufenden oder in naher Vergangenheit abgeschlossenen Dissertationsprojekte. Die Artikel sind in fünf Themenbereiche unterteilt: Nationsbildung und Rechtsgeschichte, Sprachenpolitik, Kirchenpolitik, Arbeitsmigration und Pflege und literarische Erinnerungsorte. Ergänzend finden sich im Anschluss an die genannten Themenblöcke zwei weitere Beiträge: zu der in der Ukraine lebenden russischsprachigen Minderheit der Lipovaner und der Militärarchitektur in Galizien. Im Folgenden wird ein Überblick über die Beitragenden und eine Zusammenfassung der einzelnen Beiträge gegeben.
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Patrice Dabrowski ist Assoziierte des Harvard Ukrainian Research Institute. Die Historikerin war als Postdoc im Doktoratskolleg Galizien tätig und unterstütze langjährig durch intensives professionelles Mentoring die Kollegiatinnen und Kollegiaten der dritten und vierten Kadenz. Die Eröffnungsrede der Konferenz beendete Dabrowski mit der Perspektive auf zukünftige Forschungsfelder und -fragen zu Galizien. In dem einleitenden Artikel des Sammelbandes setzt sich die Autorin intensiv mit der Bedeutung der Karpaten auseinander, die sie als das größtes und am meisten erkennbares physisches Merkmal des habsburgischen Galiziens beschreibt – ein Hochgebirge, das Forscherinnen und Forscher Galiziens vergleichsweise marginal untersucht haben. Ihr Beitrag ist sowohl eine Synopsis der Forschungstätigkeit der Autorin aus der Zeit im Doktoratskolleg, als auch eine Auseinandersetzung mit der Frage, was von Galizien im Sinne einer greifbaren physischen Dimension geblieben ist. Ihre Untersuchung dieser Bergwelt führt die Autorin anhand von drei Aspekten durch: die Karpaten als multiethnischer Grenzraum, touristisches Reiseziel im 19. Jahrhundert und von den zwei Weltkriegen geprägte Schattenseite Europas. Jakob Mischke, Kollegiat am Doktoratskolleg Galizien in der vierten Kadenz, teilt in seinem Beitrag einen Ausschnitt aus seinem Promotionsthema, dem Werk Stanislav Dnistrjans’kyjs, eines ukrainischen Rechtswissenschaftlers zu Beginn des 20. Jahrhunderts. Dnistrjans’kyj entwarf eines der Konzepte des ukrainischen Nationalstaats, auf dem nach dem Untergang der Habsburgermonarchie die Ukrainer Galiziens Anspruch erhoben. Im Beitrag fokussiert Mischke die nationalen Aspekte von Dnistrjans’kyjs Konzept, weil eben diese nach dem Autor infolge des ukrainisch-polnischen Kampfs die politische Wirklichkeit in Galizien nach 1918 weitgehend bestimmten. Martin Rohde promovierte in Geschichte an der Universität Innsbruck. In seinem Beitrag thematisiert er materielle und immaterielle „Erbschaften“ des Kronlandes Galizien für die ukrainische Sˇevcˇenko-Gesellschaft der Wissenschaften. Dabei diskutiert er einerseits wandelbare Loyalitäten durch das Prisma von wechselseitigem Vertrauen im transimperialen Dialog mit Mäzenen, andererseits die Haltung des Vereins gegenüber dem österreichischen Staat, der um die Jahrhundertwende großzügige Subventionen zahlte. Rohde kommt zu dem Schluss, dass die ukrainische Kulturentwicklung als Ergebnis des Zusammenspiels von galizischen Verhältnissen und Kulturförderung aus der russländischen Ukraine zu betrachten ist, das allerdings Vermittlungsarbeit an allen „Fronten“ erforderte und nicht als selbstverständlich abgetan werden kann. Michaela Oberreiter, Kollegiatin am Doktoratskolleg Galizien in der vierten Kadenz, hat Rechtswissenschaften und Slawistik studiert. Oberreiter erforscht in ihrem Promotionsprojekt die Entwicklung von Ideen der ukrainischen Eigenstaatlichkeit unter den galizischen Vorfahren der heutigen Ukrainerinnen und Ukrainer sowie die Anfänge des Staatsaufbaus in der Westukrainischen Volks-
Einführung
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republik. In ihrem Beitrag gibt die Autorin einen Einblick in ihr Promotionsprojekt. Sie skizziert anhand des Verfassungsprojekts vom 30. April 1921 die Bestrebungen der westukrainischen Exilregierung, die Staatsunabhängigkeit für die aus gegenwärtiger Perspektive ukrainischen Territorien der ehemaligen Habsburgermonarchie zu erlangen. Liudmyla Pidkuimukha ist eine promovierte Linguistin der Nationalen KyjivMohyla-Akademie. Ihren Beitrag widmet sie der Stadt L’viv zwischen den beiden Weltkriegen, im Speziellen der Lexik dieser Zeit. Die Basis für ihre Untersuchung liefern literarische Werke lokaler Autoren. Die Autorin stellt zwei zentrale Thesen vor. Sie argumentiert, dass das Ukrainische der heute größten westukrainischen Stadt schon in der Zwischenkriegszeit in allen sozialen Domänen Gebrauch fand und dass die lokale Variante dieser Sprache zu diesem Zeitpunkt über eine Reihe an strukturellen, u. a. lexikalischen Eigentümlichkeiten verfügte. Der Kirchenhistoriker Alessandro Milani ist an der Groupe Sociétés, Religions, Laïcités/CNRS-EPHE (Paris) tätig. In seinem Beitrag untersucht er die Folgen der Wiedererrichtung des polnischen Staates bzw. Gründung der Zweiten Polnischen Republik für die griechisch-katholische Kirchengemeinde in Ostgalizien und Wolhynien. Durch die Heranziehung umfangreicher Sekundärliteratur und insbesondere bisher unbekannter Akten aus dem Vatikanischen Apostolischen Geheimarchiv ist es dem Autor gelungen, die Komplexität der Interaktionen zwischen der polnischen Regierung, dem Heilige Stuhl, dem Würdenträger der griechisch-katholischen und römisch-katholischen Kirche in der ersten Dekade der Zwischenkriegszeit darzustellen. Dana Lushaj ist Historikerin und Kollegiatin am Doktoratskolleg Galizien in der vierten Kadenz. In ihrem Artikel geht sie der Frage über die Form der Koexistenz staatlicher Landesbehörden und kirchlicher Strukturen der griechischkatholischen Kirche in Galizien nach. Anhand ausgewählter und zugänglicher Quellen aus dem Österreichischen Staatsarchiv und dem Staatsarchiv in Przemys´l untersucht Lushaj die Auswirkungen der josephinischen Priesterausbildungs-Reformen auf den beruflichen Werdegang der griechisch-katholischen Geistlichen. Den Erfolg der Implementierung von josephinischen Reformmaßnahmen erschließt die Autorin aus der komparativen Analyse darüber, inwieweit der griechisch-katholische Priester dem josephinischen Priesterbild entsprach. Ilona Grabmaier ist Kultur- und Sozialanthropologin. Die Kollegiatin der vierten Generation des Doktoratskollegs Galizien beschäftigt sich in ihrem Beitrag mit der Frage, inwiefern im Kontext der weiblichen Arbeitsmigration aus der Westukraine eine Person Anspruch auf Unterstützung, Hilfe und Pflege hat. Die Autorin argumentiert, dass der Zugang zu bestimmten Ressourcen nicht vorrangig von formellen Kriterien, sondern von moralischen Ansichten und Überzeugungen abhängt. Grabmaier kommt zu dem Schluss, dass Reziprozität, Verwandtschaft, Gender und Persönlichkeit eine essentielle Rolle bei der Einord-
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nung spielen, ob und in welchem Maße eine Person im Alter Unterstützung „verdient“. Die Autorin beschreibt einen individuellen Fall aus ihrem einjährigen Forschnugsaufenthalt in der Westukraine, anhand dessen sie die These einer genderspezifischen Konstruktion von Pflege verteidigt. Der Kultur- und Sozialanthropologe Alexander Tymczuk ist Forscher am Telemark Research Institute in Norwegen. In seinem Beitrag untersucht er, wie Kinder von ihren Eltern in Arbeitsmigration aus der Ferne betreut werden. In drei Fallbeispielen von ukrainischen Paaren in Spanien, die sich aus der Ferne um ihre Kinder in der Ukraine kümmern, zeichnet Tymczuk nach, wie diese für den moralischen Diskurs über Kinderbetreuung in ukrainischen transnationalen Familien richtungsweisend sind. Der Autor unterscheidet zwischen zwei miteinander unvereinbaren Modellen einer angemessenen Kinderbetreuung: Betreuung, die physische Nähe erfordert, und Betreuung im Sinne der Erfüllung von materiellen Bedürfnissen. Tymczuk argumentiert in seinem Artikel, dass die erweiterte transnationale Familie ein Kollektiv ist, in dem die Betreuung multidirektional zwischen Mitgliedern mit komplementären und wechselnden Rollen als Betreuende und Betreuungsempfänger zirkuliert. Der Historiker Avi-ram Tzoreff unterrichtet an der Ben-Gurion-Universität des Negev sowie an dem Schechter Institut für Jüdische Studien. In seinem Beitrag analysiert Tzoreff die Rolle und Bedeutung des habsburgischen Kronlands Galizien und Lodomerien und seines multi-/interkulturellen, -nationalen und -ethnischen Raumes für Yehoschuha Radler-Feldman (1880–1957), einen jüdischen Journalisten und Essayisten. Radler-Feldman vertrat die Idee eines binationalen Staates in Palästina, indem er eine jüdisch-arabische Koexistenz befürwortete, die auf kulturelle und religiöse Affinitäten zwischen Judentum und Islam stützte. Mit einem interdisziplinären Ansatz liefert Tzoreff einen Beweis für seine These, dass Radler-Feldmans Konzept eines binationalen Zionismus auf seine galizische Herkunft zurückzuführen sei, die die Formierung seiner Ansichten über Multikulturalismus beeinflusste und prägte. Halyna Witoszynska, Kollegiatin am Doktoratskolleg Galizien in der vierten Kadenz, ist Literaturwissenschaftlerin und beschäftigt sich in ihrem Artikel ebenfalls mit L’viv der Zwischenkriegszeit. Ihren Zugang zu diesem Ort und dieser Periode findet sie durch das Genre der Autobiographie. Witoszynska untersucht damit gleich mehrere Aspekte des gesellschaftlichen Lebens in L’viv im Spiegel der Narrative, die sich über diesen Ort und diese Zeit in späteren Erinnerungen finden. Die Studie basiert auf einem interdisziplinären geisteswissenschaftlichen Gerüst. Camillo Breiling promovierte an der Universität Wien mit einer interdisziplinären Arbeit zum Alltag der Lipovaner. Er liefert mit seinem Beitrag einen interdisziplinären Exkurs in die Kultur der Lipovaner – eine Gruppe Altgläubiger ursprünglich russischer Herkunft – die seit langer Zeit einige Orte im Donau-
Einführung
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Delta bevölkern. Zwar weisen die Lipovaner keinen expliziten Galizien-Bezug auf, aber sie stellen in vielerlei Hinsicht eine interessante Fallstudie aus postimperialer Perspektive dar. Mit seinem Artikel trägt Breiling nicht nur zu der Erforschung von einer älteren Quelle über diese ethnokonfesionelle Gruppe bei, sondern vergleicht dieses ältere Zeugnis mit dem Status quo, den er selbst im Donaudelta dokumentierte. Breiling trägt mit seiner komparativen Perspektive wesentlich zu der Erforschung der gesamten über den Globus verteilten Altgläubigengemeinschaft bei. Frank Rochow ist Historiker am Max-Planck-Institut für ethnologische Forschung. Er erörtert in seinem Artikel die Bedeutung des architektonischen Erbes des ehemaligen habsburgischen Kronlandes, im Speziellen militärarchitektonische Bauten. Fokussierend auf die Verbindung der Bauprojekte der Festung in Krakau und der Zitadelle in Lemberg legt der Autor ein besonderes Augenmerk auf das hochmobile Personal der militärischen Einheiten, das an verschiedenen Bauprojekten in der Habsburger Monarchie ausgebildet wurde und beteiligt war. Rochow beschreibt Bauprojekte als landes- oder gar europaweite Dialoge von Festungs-, Ingenieur- und Architekturexperten. Er vertritt die These, dass ein umfassendes Verständnis der Bedeutung militärischer Bauten nur erreicht werden kann, wenn die in höheren Militärbehörden entstandenen Diskurse einbezogen und die Verbindungen und gegenseitigen Abhängigkeiten zwischen verschiedenen Bauorten erkannt werden.
Patrice M. Dabrowski (Harvard Ukrainian Research Institute)
Tangible Remains of Galicia
In the present volume, there will be much discussion of intangible remains of Galicia – of continuities, ruptures, and perspectives in laws and the land, in languages and literatures. By contrast, I have decided – perhaps somewhat provocatively – to focus on a certain constant tangible physical dimension associated with the old Habsburg Galicia. After all, physical manifestations – remnants of the old Galicia – are doubtless what many visitors from the socalled “postmemory generation,” have had in mind: they have sought, and continue to seek, what remains of that 146-year-long experience of imperial rule in its inimitable Habsburg idiom as experienced by their forefathers.1 Places would include parts of the built landscape without the “Galician” label (today a clever way of branding hotels, restaurants, and a motley assortment of products and events) but clearly with its imprint, as well as that of the Habsburgs’ “civilizing mission.”2 Take, for example, the repertory of railway stations and other buildings of an administrative, educational, or cultural nature, sharing similarities across the imperial space.3 A greater yet more personalized diversity is represented by the palaces, townhouses, and cottages where Galicians of all stripes dwelled. Consider also the churches and temples where they worshipped, some since repurposed and/or made nearly invisible.4 The actual corporeal remains of Galicians afford us further relics of the past to which present generations may pay their respects. These range from stately tombs and bas relief monuments in churches and cemeteries to long abandoned and forgotten matzevot to uniformly-designed Habsburg military cemeteries. Such are some of the more concrete remains of Galicia and the Habsburg period, destinations of pilgrimages to the past. But is that all that is left? What also remains are its natural features, no less important in shaping the life of the 1 2 3 4
For the concept of postmemory, see the work of Marianne Hirsch. On this, see, for example, Wolff 2010. Blau 1999. For the fate of synagogues, see Bartov 2007.
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Patrice M. Dabrowski
province. Consider Galicia’s waterways and salt deposits, its black oil and black earth. Or, another undeniable element of the Galician landscape, the province’s mountains. These would be part of the Carpathian Mountain system, the vast mountain system that is East Central Europe’s counterpart to, and continuation of, the Alps of West Central Europe. The northern slopes of the Carpathians, too, are Galician – one might argue, even quintessentially so. How, you might ask, can an inert, seemingly immutable physical feature like a mountain range be especially identified with Galicia – or, for that matter, with any other relatively ephemeral state or regime? Although the mountains are of relatively young geological age, they long predated Galicia and will likely long outlast the province and any other political entity yet to come. And don’t the Carpathian Mountains belong to more than just Galicia? The main arc of the Carpathians extends beyond the old Habsburg Galician borders, in the west nearly to Vienna, in the east through Bukovina (which, to be sure, for a time was part of Galicia), Transylvania, and beyond (at a minimum, to the Iron Gates). The highest Carpathian massif – the Tatra Mountains – thrusts upward from historic Hungarian as well as Galician ground.5 Today’s Slovaks sing “Nad Tatrou sa blýska” in their national anthem, suggesting how important mountains are for that predominately highland nation.6 The Carpathians, thus, are a shared feature. Nonetheless, the Carpathian Mountains are undoubtedly the greatest as well as the most recognizable physical feature of Habsburg Galicia. The mountains figured prominently (no pun intended!) from the very outset – even prior to 1772, the year much of the soon-to-be-labeled Kingdom of Galicia and Lodomeria came into Habsburg possession. Empress Maria Theresa helped precipitate the partitions by first opportunistically annexing several towns in the Carpathian vicinity of Spisz/Spisˇ/Zips/Szepes that Hungary had pawned to the Crown of Poland over three centuries earlier, then by even more opportunistically occupying the crown lands of Nowy Targ, Czorstyn and Sa˛cz. The empress may not have known much about Galicia; but she surely knew something about the Carpathian frontier region – enough to send her troops there in already in 1769 and 1770.7 One can also say that the discovery of Galicia came courtesy of the Carpathians. As the French scientist Balthasar Hacquet admitted, “I finally thought about the Carpathians, and so I went to Galicia.”8 Hacquet traversed the province, at the request of the Habsburgs, to study its mineral wealth; for, if nothing else, Galicia was valued as a potential source of natural resources. Hacquet’s detailed 5 Yet Hungarians no longer associate their nation with the Carpathians, which they did still in the first half of the nineteenth century. On this, see Maxwell 2006, pp. 53–77. 6 For more on the Slovaks, see Hoenig 2018. 7 Noted, for example, by Nowak 1993, pp. 47–49. See also Bron´ski 2012, p. 6. 8 From Hacquet 1790, I: XI.
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scientific account of his journeys in 1788 and 1789 through the “Sarmatian or Northern Carpathians” of Galicia is considered the first scholarly treatment of our Carpathians. Jump to the final years of the empire, and the Carpathians figured no less prominently. In his 1913 guidebook, What to Visit in Galicia? (with a second, expanded edition appearing in 1914), Mieczysław Orłowicz – later to become the doyen of Polish tourism – began with the Carpathians.9 So, we can definitely speak of a continued interest in the mountains, if – as is already evident – the interest lay in different aspects of them. The Carpathians were Galicia’s calling card. The mountains serve as a wonderful metaphor for Galicia. They are Galicia writ small – or (dare I say?) writ tall. Among other things, the mountains have been identified as wild, primeval, not easily accessible, a terrain that contrasts greatly with the flatlands below. They are an untamed and undisciplined territory ruled by the elements, a realm famed and feared for its bears and bandits. The high uplands are seen as un- or underdeveloped (ergo, backwards), yet at the same time praised for being authentically primordial. While there are multiple ways of treating the mountains (and here I am thinking especially of the literary point of view), this article presents a historian’s perspective on segments of the Carpathians’ diverse northern slopes: from the Tatras in the west to Chornohora/Czarnohora in the east.10 While one might assume that all in the mountains was unchanging – barring the weather – that was hardly the case. During the Habsburg period, the mountains of Galicia assumed several new characteristics and began to figure in utterly novel ways in the life of the province and beyond. Let us consider three characteristics that brought the Galician mountains into greater relief during the Habsburg period.
The Carpathians as a frontier or borderland While the Carpathians themselves are not a historical actor, human responses to them have shaped history – Galician history in particular. To wit: the very existence of the mountains clearly informed the Habsburgs’ approach to their newly acquired province. From the vantage point of Vienna, Galicia lay beyond the Carpathians, the only natural defensive barrier in this part of Europe. The mountains served to separate Galicia from the rest of the empire, making it seem more appendage than integral part. There were good reasons why the Habsburgs treated the province as a military glacis – a military buffer that was to keep 9 Orłowicz 1913; 1914. 10 As regards literature, note in particular Jacek Kolbuszewski’s decades of work on the Tatras as well as Jan A. Choroszy and Alois Woldan’s on the Hutsul region.
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Hungary, and by extension the rest of the empire, safe from Russian designs.11 It also explains the official rationale for building certain secondary railway lines in Galicia: not designed with the province’s economic development in mind, they were built so as to transport Austro-Hungarian troops from the Hungarian heartland to fight in Galicia, were war to break out.12 These strategic concerns underscore that the Carpathians formed a special kind of border – an intrastate border, if one more palpable and meaningful than many. Yet the mountain realm was also a frontier or borderland – terms that I will treat here as loosely synonymous.13 If Galicia can be thought of as the quintessential multiethnic borderland or marginal periphery, then the Carpathians are even more so. Certain aspects of the borderland nature of the Carpathians represent a continuity to this day, although the frontiers have firmed up somewhat since 1918. While prior to that date, the Carpathians formed the intrastate border between Cisleithania and Transleithania, that is, the soft internal border between the Austrian and Hungarian halves of the empire, today the Carpathians comprise the frontier of a number of Central and East European states – with cross-border contacts assuming the form of highland Euroregions, tourism, or smuggling. What does it mean for the Carpathians to be a borderland? Such a designation works on various levels. While frontiers demarcate and define (political entities, for example), they can also be places of transit, areas where one passes from one state to another, literally as well as figuratively. Lying on the margin, borderlands are places where people sometimes go to gain new identities, identities which are forged in these liminal spaces. For borderlands or “frontiers are also geographic zones of interaction between two or more distinctive cultures…, places where cultures contend with one another and with their physical environment to produce a dynamic that is unique to time and place.”14 This – as you will see – was utterly true of the Carpathians. Here we have not only a physical environment in the form of a strikingly beautiful primordial wilderness, geological features, and an unforgiving climate that shape conditions for life; we have life itself. This life came not only in the form of the aforementioned bears, or of marmots and chamois and other fauna native to the region. Inhabiting this terrain were seemingly isolated and primitive mountain peoples, each molded by its own corner of the Carpathians. Far from an uninhabited land (albeit sparsely settled), the mountains boasted what came to be 11 Maner 2005. 12 An example of this, the Stanislau-Körösmezö line, will be discussed later. See also Bron´ski 2012, pp.15–16. 13 Depending on the context, these terms can carry different meanings. There is an enormous literature on both. 14 Hebe Clementi, introduction to Weber and Rausch 1994, p. xiv.
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seen as little distinctive pockets of historically transhumant highlanders tending their sheep on the high uplands the length and breadth of the vast mountain system. For centuries, the highlanders in the remotest uplands, such as the Górale of the Tatras and Hutsuls of the Eastern Carpathians, together with their neighbors (for there was some blending of populations in these regions), lived along the frontier seemingly undisturbed. That is, until times began to change. Among other things, the borderland nature of the Carpathians was magnified by the discovery of the wealth of raw materials to be found there. Already in earlier times some primitive mining of minerals had been done in the mountains; and the piedmont boasted extensive salt mines. During the Habsburg period, the oozing of ozokerite and especially oil turned parts of the foothills into a booming industrial region. It attracted a motley multiethnic – even international – mass of industrialists, workers, and landowners who jostled to profit from the discovery. New possibilities were imagined and new identities forged, in the process creating a brittle capitalist veneer atop a burgeoning proletariat – certainly as close as the province would come to such modern developments. The idiosyncracies of the Galician oil industry were such that, instead of government control over this precious resource, “the principle of the vertical indivisibility of property” prevailed – a situation that created veritable “forests of oil rigs” in the Carpathian foothills.15 But enough pristine territory remained in this heterogeneous mountain system, with its numerous ranges: the Tatras, the various Beskids, Bieszczady, Gorgony and Chornohora. Both the diverse mountain peaks and colorful mountain people would soon prove to be great attractions for nearby lowland populations.
The Carpathians as a Tourist Destination There had been a time when mountains were seen as utterly remote, forbidding, dangerous – in a word, unattractive. By the last third of the nineteenth century, the period designated by John Ruskin as “Mountain Gloom” had long since passed.16 The Alps of west-central Europe had already been discovered, explored, even overcrowded. Ultimately some west Europeans – here, particularly Britons – made their way further east, exhorting others (for example) as early as 1872 to
15 Frank 2005, p. 17; the reference to a “forest of hundreds of oil rigs” comes from Badeni 1894, p. 11, cited in Choroszy 1991, p. 101. 16 John Ruskin’s designations were featured in the title of Nicholson 1997.
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“Try Cracow and the Carpathians” and crisscrossing the soft internal border of the mountains at will.17 Yet there were other, gentler ways of experiencing the mountains. Highland areas in West and Central Europe featured numerous popular spas and resorts that availed themselves of highland springs and invigorating Alpine air, places where well-to-do Galicians – among others – vacationed and/or took the waters.18 With the advent of Habsburg rule came an interest in various curative springs on the territory of the new province, although certain localities had already been frequented in earlier times. Take, for example, the highland destination of Krynica. It was recognized as a spa by the Habsburg authorities as early as 1807, although its development over the next decades was spotty.19 While physicians such as Cracow’s Józef Dietl tried to encourage the exploitation of Galicia’s sources of spring water in the mid-nineteenth century, the construction of the Galician transversal railway and the spur to Muszyna in the 1870s made the Krynica spa (now a mere 10 km from the railway) more accessible to guests.20 The nineteenth century also witnessed the emergence of the air cure. In the 1860s, Cracovians themselves had begun to summer in the Tatra highland village known as Zakopane, to be followed in the 1870s by increasingly large masses of Poles from the other partitioned lands, in particular from the Russian Empire. The earliest summer vacationers were drawn by the health-giving properties of a stay in the highlands, although there were those who came for the views, the challenge of the climb, as well as to be closer to God (priests were among the earliest climbers).21 Several guidebooks to the region were penned as well as legislation introduced to protect endangered fauna and flora.22 Impetus for the founding of the alpine club known as the Tatra Society (originally, the Galician Tatra Society) in 1873 came from a handful of Galician notables and landowners.23 Members of these different communities lobbied the Galician authorities to turn what had been a sleepy alpine village into an officially recognized high-altitude resort (1885) as well as improve the means of transport into the 17 Hutchinson 1872. On the Alps being overcrowded, and for more on the British travelers, see Ford 2002, pp. 50–78. 18 See, for example, Zadoff 2012; Steward 2000, pp. 87–125; Steward 2012, pp. 72–89. 19 Rysiewicz and Z˙ak 2002, pp. 26–28. 20 Ibid., 29–30. 21 The first Pole to investigate the Tatras was the Enlightenment-age priest Stanislaw Staszic; in later decades he would be followed by other mountain-climbing priests such as Eugeniusz Janota, Wojciech Roszek, Je˛drzej Pleszewski, and Zakopane’s own parish priest, Father Józef Stolarczyk. 22 Janota 1860 and especially Eljasz 1870. The Galician provincial diet passed a law on the preservation of the endangered chamois and marmot in 1868, – one of the first such pieces of legislation in the world. 23 Reyman 1984; 1995, p. 948; 1876, pp. 9–19.
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remote region by fixing roads and building a railway, first to Chabówka (1884), and then by the end of the century to Zakopane itself (1899).24 Masses of tourists penetrated the high uplands of the Carpathians and turned them into an attractive vacation destination, a place to hike, ski, or recreate – something they remain today. This newfangled tourism helped to activate the borderland nature of the region, elevating it from a simple frontier to a full-fledged contact zone. In the era of Galician autonomy, it became a place where Poles from all over the partitioned lands could freely mingle as well as a place of encounter with the attractive highland peasants that were the Górale. In the rarefied air of the Carpathians, members of the Polish intelligentsia interacted with these primitive yet promising borderlanders, assuming they were encountering genuine primeval Poles – people who retained the old language and old ways that had since died out or been pushed out in the lowlands, where imperial civilization held sway. Part of this story, thus, is one of the construction of a modern Polish nation in which there was room for peasant as well as upper-class Pole, accompanied by the transformation of Zakopane into first summer then winter capital of “Poland” – Poland in the imagination of an otherwise stateless nation.25 But there is a more “Galician” story to be told in the Carpathians as well. Not only the Tatra Mountains were being “discovered” during this period.26 Attention – imperial as well as provincial – was turned toward the far eastern corner of Galicia, the part of the Eastern Carpathians that would come to be known as the Hutsul region. Members of a regional branch of the Tatra Society based in Kolomea/Kołomyja/Kolomyia organized an ethnographic exhibition there in 1880. The colorful East Slavic highlanders that were the Hutsuls proved to be “the great attraction” for the crowds and, in particular, for Emperor Franz Joseph, who graced the opening of the exhibition with his presence. In the course of the event, Polish Galician officialdom made use of the emperor’s presence in two ways: they demonstrated their loyalty to the Habsburg ruler and, in associating closely with him, tried to impress the Hutsuls and others present – including the Ruthenes of the region, who had organized a competing exhibition – that they governed Galicia with the emperor’s blessing.27 Here, thus, the contact zone that was the Eastern Carpathians functioned as a sounding board for Galician/Habsburg patriotism as well as a realm of Galician Polish domination.
24 Homola, 1991, p. 191. 25 For more on this, see Dabrowski 2008, pp. 45–65. Ukrainians also had a similar reaction to the Hutsuls of the Eastern Carpathians, as seen in eadem 2021. 26 A term popularized by Polish artist, writer, and activist Stanisław Witkiewicz, who wrote that a certain Warsaw doctor had “discovered the Tatras for us” in Witkiewicz 1891, p. 38, 122. 27 For more on all this, see Dabrowski 2005, pp. 380–402.
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Development in the same vein would come to the Hutsul highlands with the advent of the railway. While it had been built to serve to connect Galicia to Hungary in case of war in the east, the construction of the Stanislau/Stanisławów/ Stanislaviv-Körösmezö railway in the picturesque Prut River Valley, completed in 1894, excited into existence what has oft been considered an oxymoron: Galician entrepreneurship.28 Entrepreneurs of varying ethnic background – Poles, Jews, and Germans, Ruthenes/Ukrainians and Hutsuls, reflecting the demographics of Eastern Galicia – all contributed to the creation of a number of high-altitude resorts along the railway line. The largest and most famous of these was Jaremcze/Yaremche, with its arch-modern claim to fame: an enormous stone railway bridge spanning the Prut, a technical feat that was also a sight to behold. While the wildness of the region and its inhabitants served as an attraction, these entrepreneurs were more focused on creating oases of civilization – with not only bridges but countless villas and pensions/boardinghouses, restaurants, shops, and boardwalks – in the strikingly beautiful wilderness. Not interested in nationbuilding amidst the Hutsuls (in contrast to developments in the Tatras), they were out to make a nice profit from the now more easily accessible highland environment. Here one can speak, as has Alison Frank, of the commodification of air (not for nothing did the Hutsuls come to call the summer guests, in their German-Hutsul neologism, “liuftnyky” – Luft being the German word for air).29 A sign of Jaremcze’s popularity: it was visited by the Habsburg grand duke Karl, later to be the last emperor of Austria-Hungary, in 1912.30 Reportedly he and his wife were charmed by the resort, which was a quintessentially Galician, provincial, one – if one with broader European aspirations (some labeled it the “Interlaken of the Eastern Carpathians”).31
The Carpathians as the Dark Side of Europe This rise of tourism, of an international/imperial as well as domestic/provincial ilk, put a bright face on the cold and gloomy northern slopes of the Carpathians, their peaks now more appealing than appalling – a phenomenon dating precisely from the Habsburg period. Yet the brightness was subsequently tempered by what one must consider major ruptures. For a third major characteristic of the 28 There was more of this than has generally been credited, as seen from the oil boom. The city of Stanislau is known today as Ivano-Frankivsk, in Ukraine. 29 Frank 2012, pp. 185–207. On “liuftnyky,” Fischer 1932, p. 126. 30 There is a great tale of how a Hutsul thumbed a ride with the grandducal pair in their car from Jaremcze to Mikuliczyn/Mykulychyn, not realizing with whom he was traveling. See, for example, Tagespost, nr. 2855 (13 June 1912). 31 Pelczar 1911, p. 15.
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Carpathians has been their equation with what has been called “the dark side of Europe.”32 One can speak of the dark side both literally and figuratively. Here I would like to give the term a little twist. For, before the Habsburg period came to an end, the Carpathians would come to be associated with war, conflict, violence and destruction. The aforementioned strategic nature of the Carpathians resulted in the mountainous terrain becoming a particularly challenging battlefield after the debacle that was the initial campaign of the Great War.33 The belligerents – comprised of many people who had never been in the Carpathian highlands before – moved back and forth with each new onslaught, built military roads and dug trenches; many soldiers froze to death in the merciless snow. The mountains seemed no less foe than the enemy did. Even the definition of who was “the enemy” seemed to have blurred in the Carpathians. The Austro-Hungarian Army unhelpfully suspected the local Slavic populations of being pro-Russian. Yet during the first winter of the war, the Polish Legions – which were fighting on the side of Austria-Hungary in the remote mountains of the Eastern Carpathians – saw their ranks swell with Hutsul volunteers. This is a much less well known story. The Legionnaires trained the Hutsuls, who subsequently fought as a separate Hutsul company of the Polish Legions – that is, until Ukrainian national activists and parliamentary deputies got word of this development and insisted to the Austrian authorities that the Hutsuls be transferred to the jurisdiction of the Ukrainian Sich Sharpshooters.34 These were the first inklings of what would characterize the so-called “interwar” period in the region: a battle [albeit uneven] between Poles and Ukrainians, a battle for control over the region as well as for the hearts and minds of the highland folk. While most of the fighting during World War I took place further west in the Carpathians, situating places such as Przemys´l, Gorlice, and various mountain passes on the mental maps of all the belligerents, the Eastern Carpathians were also devastated. Prewar destinations like beautiful little Jaremcze, with its plethora of elegant wooden villas where so many had once vacationed, would not survive the war intact. During the retreat of Russian forces in 1915 the lovely highaltitude resort was burned to the ground.35 And in the summer of 1917, Russian forces, once again retreating from the Carpathians, blew up the Jaremcze bridge. While both resort and bridge would be rebuilt after the war, neither would 32 This is taken from the title of a book: Wischenbart 1992. 33 On the war in the Carpathians, see Tunstall 2010; see also the numerous works reviewed by Best 2011, pp. 249–259. 34 A recent publication on this topic is Wielocha 2009, pp. 63–78. In English, see Dabrowski 2018, pp. 19–34. 35 The news was noted as far away as Budapest: Kaufmann 1915, pp. 8–9.
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achieve the luster of the prewar period, although in the late 1930s a modern balneological institute was finally constructed in Jaremcze – something that had been in the works in the prewar period.36 Jaremcze and its bridge would be destroyed once more in World War II, neither to rise again in form similar to their prewar or interwar shape. An era had come to an end. Indeed: it would take the serial occupations of the highland region during World War II as well as the heavy hand of the two foreign regimes to unmix the highlands, a historic mixing place of peoples. This was the biggest rupture in the history of the Carpathian region, although one foreshadowed already during the First World War and its aftermath, when antagonisms among the multiethnic population had become deadly. The Nazis and their accomplices annihilated the region’s Jews. Other segments of the population fled, were murdered, or were expelled. Only the autochthonous highlanders were to remain in the mountains – and even they not everywhere. (Consider the fate of another highland folk, the Lemkos of the central Carpathians: they were either “repatriated” to Soviet Ukraine or dispersed in the north and west of the Polish People’s Republic.) Those highlanders who remained would get a bad rap: witness the Górale, a number of whom had opted for a wartime identity as pro-Nazi Goralenvolk. Would they ever be viewed through rose-colored glasses again? Nor did the Hutsuls emerge unscathed: they would long be suspect in the eyes of the Soviet authorities, with some seen as collaborators with the interwar Polish regime, others with the Nazi German regime, yet others as fervent Ukrainian nationalists, some of whom had been eager to settle scores with their neighbors… The primitive or backwards nature of the region had been felt. Perhaps it should come as no surprise that the traditional highland way of life was discouraged by the new postwar regimes that had no respect for what little remained of these pockets of difference. The dark side of Europe could be felt in the ineptness of the attempted industrialization, the systemic shock of collectivization, the undesirable byproduct of pollution, the limited prospects for the region’s inhabitants, as well as the continued isolation near a border that was not to be crossed. Much of the Carpathians was an isolated, backwards, neglected if still fascinating periphery. Plus ça change, plus la même chose. As with Galicia itself, the fascination persists. The very word “Carpathians” summons up all manner of wild fantasies from those gazing upon them from afar. From the point of view of Vienna, they are near and yet seem so far away, so far removed from “civilization.”37 From the point of view of area residents, however, the Carpathians have had other connotations that harken back to the period before World War I. Are they not, in the words of Polish writer Andrzej 36 Nicieja 2013, p. 102, 112. Jaremcze’s preeminence would be assumed by nearby Worochta. 37 Wischenbart 1992.
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Stasiuk, the “spine of Central Europe” – a symbol of a region that has sought to emphasize the Habsburg Central European past? The mountains have also proven a haven for outsiders and artists: in the Polish case, social misfits as well as unconventional artists and counterculture figures disappeared into the wilder parts of the Carpathians of southeastern Poland, happy to be further removed from the eyes of the regime. In the Ukrainian case, the writers and poets of IvanoFrankivsk make pilgrimages to the Carpathian Mountains, where they have found not only respite from the Soviet or post-Soviet reality but also inspiration for their work.38 The Carpathians, thus, advanced to become the calling card not only of Galicia but also of a Habsburg “Central Europe” – which was rightly considered to be part of Europe as a whole (Schengen or no Schengen).39 So much for this brief look at a certain tangible remnant of Habsburg Galicia and its legacy. We have seen how the seemingly immutable physical feature that was the Carpathians was essentially branded in Galician times. Over the last century and a half it has figured importantly in a number of ways: as a borderland par excellence; as a tourist destination and site of the national as well as the supranational imaginary; and as a place of violence, death, and expulsions. While the Carpathians may be the “dark side of Europe,” they are nonetheless Europe – even if still infinitely less well known than the Alps. It remains to be seen what will happen to the current Schengen border and to the transborder Euroregions that center on the Carpathians: regardless of developments, the mountains that came into their own during the Galician period will stand sentinel, enticing and fascinating future generations.
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38 See, for example, Rewakowicz 2018, especially ch. 2. 39 See the emphasis on Galicia as a “European land” in Hann and Magocsi 2005. (The publication date of the book notwithstanding, most chapters had been presented in 1998 at a conference in Denmark – itself a sign of how Galicia was becoming a topic of broader interest even in Europe’s “West.”) Of course, the concept of Central Europe (that is, a former Habsburg Europe) was on the ascendant already in the 1970s and 1980s.
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I. Multi- or Mononationalism in Galicia? Imagined and Implemented Concepts
Jakob Mischke (Universität Wien)
Rechtswissenschaft für die Nationsbildung: Stanislav Dnistrjans’kyjs Analysen und Konzepte zum ukrainischen Recht
Abstract In most historiographies of national movements legal scientists play a somewhat minor role. However, they also took part in nation and state building activities as I want to present on the example of the Western Ukrainian legal scientist Stanislav Dnistrjans’kyj (1870– 1935). This paper presents three realms, in which he tried to apply his knowledge to the cause of the Ukrainian national movement. The first realm is the contribution to distinct a Ukrainian culture on the field of law, the second realm – legal argumentation in political debate and the third involves legal conceptions to build up a Ukrainian state. In his concept of a Western Ukrainian constitution, traces of the experiences he went through during the Galician nationality conflict with the Polish national movement as well as of his studies in Ukrainian legal culture can be identified. Keywords: History of Law, Identity, Nation-Building, Stanislav Dnistrjans’kyj, Ukraine.
1.
Einleitung
In der Forschung zu osteuropäischen Nationalbewegungen wurden Aktivitäten im Bereich der Rechtswissenschaften bisher weitgehend vernachlässigt.1 Im Fokus des Interesses standen vor allem die Schaffung von Nationalnarrativen2, die Auseinandersetzungen über Fragen von Nationalsprachen3 oder das Abstecken eines nationalen Territoriums.4 Jedoch gibt es durchaus Beziehungen zwischen den beiden Konzepten Recht und Nation. Das bekannteste Beispiel im Bereich der Rechtswissenschaften ist sicherlich der germanistische Zweig der Historischen Rechtsschule, der ab Anfang des 19. Jahrhunderts eine zentrale Rolle für die Entwicklung des deutschen Nationskonzeptes spielte.5 Auch Ernest 1 2 3 4 5
Eine Ausnahme bildet Rückert 2018. Überblick Krzoska/Maner 2005; zur Ukraine e. g. Plokhy 2005. Judson 2006. Hausmann 2011; Judson 2013; e. g. Seegel 2012. Siehe etwa Dilcher/Kern 1984.
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Jakob Mischke
Gellner6 und Antony Smith7 beschreiben in ihren Abhandlungen den geeinten Rechtsraum als eines der Elemente, über die sich eine Gruppe als Nation definieren und integrieren kann. Der gemeinsame Rechtsraum wird auch von Eric Hobsbawn erwähnt, jedoch als eines der zentralen Elemente des modernen Staates, das ultimative Ziel einer Nationalbewegung.8 Auf welche Weise können sich Rechtswissenschaftlerinnen und Rechtswissenschaftler nun für die Nationsbildung einbringen? In diesem Beitrag möchte ich drei Wege vorstellen, auf denen der ostgalizische Rechtswissenschaftler Stanislav Dnistrjans’kyj (1870–1935) dies für die ukrainische Nationalbewegung versuchte. Dies ist erstens die Identitätsdefinition über ein kulturelles Rechtserbe – also Rechtsnormen, mittels derer er eine distinkte Identität definieren und die ukrainische Gesellschaft so von Nachbargesellschaften abgrenzen wollte. Zweitens konnten sich Rechtswissenschaftler darum bemühen, innerhalb einer existierenden staatlichen Rechtsordnung die nötigen Ressourcen für die Aktivitäten ihrer Nationalbewegung zu beschaffen, um sich gegen konkurrierende Nationsprojekte durchzusetzen. Drittens wird die Beschäftigung mit Recht und Rechtsordnungen dann besonders relevant, wenn es um die Schaffung und Verwaltung eines eigenen Nationalstaates geht. Im Folgenden sollen nach einem kurzen Überblick über die ukrainische Nations- und Wissenschaftsgeschichte und die Biographie Stanislav Dnistrjans’kyjs die drei oben genannten Bereiche anhand von Beispielen behandelt werden.
2.
Wissenschaft und ukrainische Nationalbewegung
Vor 1918 wirkten ukrainische Wissenschaftler in zwei unterschiedlichen imperialen Rechtsordnungen: Während sie im österreichisch beherrschten Galizien relativ frei eine nationale Agenda verfolgen konnten, mussten Anhänger der Nationalbewegung im Russländischen Reich die teils sehr einschränkende staatliche Politik umgehen.9 Dennoch konnten ab der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts an der Universität Kyjiv erste Forschungen in Bezug auf regionale Besonderheiten der ukrainischen Rechtsgeschichte durchgeführt werden, wobei diese jedoch nicht auf Ukrainisch publiziert werden durften und in denen der Name „Ukraine“ nicht genannt werden durfte. So untersuchten etwa Rechtshistoriker wie Oleksandr Kistjakovs’kyj und Orest Levyc’kyj das Rechts-
6 7 8 9
Gellner 1983, S. 7. Smith 1991, S. 69. Hobsbawm 1962, S. 88. Siehe Kappeler 1992, S. 187.
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wesen im Kosakenhetmanat als „kleinrussisches“ Rechtsphänomen, das dann später in eine ukrainische Rechtsgeschichte integriert werden konnte.10 In Galizien hingegen wurde seit 1849 an zwei Lehrstühlen der Universität L’viv Recht in ukrainischer Sprache unterrichtet. Während sich Forscher anfangs damit befassten, die österreichische Rechtsordnung für die ukrainischsprachige Bevölkerung auf Ukrainisch zu erläutern und so im Alltag anwendbar zu machen, setzte mit der Jahrhundertwende eine systematische Erforschung regionaler bzw. nationaler Besonderheiten der ukrainischen Rechtsgeschichte und -kultur ein. Große Bedeutung erlangte die 1873 gegründete „Ukrainischen Sˇevcˇenkogesellschaft der Wissenschaften“ (Naukove tovarystvo imeni Tarasa Sˇevcˇenko, NTSˇ) unter der Leitung des Historikers Mychajlo Hrusˇevs’kyj. Hier konnten auch mit staatlicher Förderung Studien zum Thema Geschichte, Geographie, Ethnographie, Literatur und Sprache der Ukraine durchgeführt und veröffentlicht werden. In der Gesellschaft arbeitete eine Rechtskommission, die sich mit der Erforschung der ukrainischen Rechtsgeschichte und allgemein rechtlichen Fragen beschäftigte.11 Während sich die ukrainische Nationalbewegung in der Ostukraine vor allem gegen den russländischen Staat durchsetzen musste, sahen deren Mitstreitende in Galizien in der polnisch dominierten Landesverwaltung ihren Hauptgegner. Diese hatte von der Wiener Zentralregierung im Austausch für politische Unterstützung eine weitgehende kulturelle Autonomie zugestanden bekommen, die sie für eine Polonisierung der Verwaltung und vor allem des Schul- und Hochschulwesens einsetzte. Die ukrainische Nationalbewegung versuchte ihrerseits, mehr ukrainische Bildungseinrichtungen zu erkämpfen, vor allem an der Universität in L’viv. Einer der Hauptakteure, der mit diesem Anliegen befasst war, war der Rechtswissenschaftler Stanislav Dnistrjans’kyj. Dnistrjans’kyj wurde 1870 im ostgalizischen Ternopil’ geboren und studierte Rechtswissenschaften in Wien sowie während zwei Auslandsaufenthalten in Berlin und Leipzig, wo er begann, sich auf dem Gebiet des Privatrechts auch mit soziologischen Ansätzen zu befassen.12 Nach seiner Habilitation 1899 wurde er zuerst als Privatdozent, später als Professor für österreichisches Zivilrecht an die Universität L’viv berufen, auf einen der beiden rechtswissenschaftlichen Lehrstühle, an denen auf ukrainischer Sprache unterrichtet wurde. Neben seiner Lehrtätigkeit war er auch in der Rechtskommission der Sˇevcˇenkogesellschaft ˇ asopys pravnycˇa i ekonoaktiv, wo er das „Rechts- und Wirtschaftsjournal (C micˇna)“ herausgab und in diesem auch selbst neben Aufsätzen über allgemeine praktische Rechtsfragen theoretische Beiträge über Rechtssoziologie und staats10 Kistjakovskij 1879; Levyc’kyj 1930. 11 Zur NTSˇ siehe Zajceva 2006. 12 Mel’nyk 1923.
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rechtliche Fragen veröffentlichte. Zweimal, 1907 und 1911, wurde er zudem für die Ukrainische Nationaldemokratische Partei in das Abgeordnetenhaus, die untere Kammer des österreichischen Reichsrats, gewählt, wo er sich vor allem für Nationalitätenrechte der ukrainischen Volksgruppe in Galizien und besonders für die Gründung einer ukrainischen Universität in L’viv einsetzte. Als am Ende des 1. Weltkriegs die Neuordnung der politischen Landkarte in Mitteleuropa anstand, wandte sich Dnistrjans’kyj staatsrechtlichen Fragen zu und entwarf etwa mehrere Verfassungsentwürfe für die im November 1918 in L’viv ausgerufene Westukrainische Volksrepublik. Da dieser Staatsbildungsversuch jedoch scheiterte und ukrainische Wissenschaftler von der polnischen Landesverwaltung aus der L’viver Universität gedrängt wurden, entschlossen sich Dnistrjans’kyj und einige Kollegen, die sich im Wiener Exil befanden, dort eine Ukrainische Freie Universität zu gründen, die später nach Prag umzog, wo er bis kurz vor seinem Tod 1935 wirkte.
3.
Recht als Teil der Nationalkultur
Stanislav Dnistrjans’kyjs Rechtstheorie steht im Geist der entstehenden Rechtssoziologie, in der Recht als soziales Phänomen betrachtet wird. In diesem Ansatz, für den vor allem der Czernowitzer Rechtswissenschaftler Eugen Ehrlich steht,13 wird Recht als Kernbestand eines evolutionär gewachsenen Normensatzes eines gesellschaftlichen Verbandes definiert, der von dessen Mitgliedern oder Leitung als nötig für seinen Fortbestand angesehen und – wenn erforderlich – durchgesetzt wird.14 Ein solcher Normensatz kann sich in allen Verbänden oder Organisationen – von der Familie über den Volksstamm bis hin zu Wirtschaftsunternehmen und religiösen Gemeinschaften – entwickeln und wird als Gewohnheitsrecht bezeichnet. Jedoch habe sich der Staat im Laufe der Neuzeit immer mehr Kompetenzen im Bereich der Rechtssetzung angeeignet und somit ein Gesetzesrecht geschaffen.15 Das dezentrale und evolutionäre Gewohnheitsrecht könne nach Dnistrjans’kyj die gesellschaftlichen Beziehungen sehr viel besser als das Gesetzesrecht abbilden und sei letzterem vorzuziehen, womit er in der Tradition der historischen Rechtsschule des 19. Jahrhunderts steht. Ein solcher Träger des Gewohnheitsrechts sind die Nationen oder Völker (Dnistrjans’kyj verwendet die beiden Begriffe synonym), die im Laufe der Zeit ein eigenes charakteristisches Volksrecht entwickeln. Die Entstehung dieser Verbände datiert Dnistrjans’kyj auf den Beginn der frühen Neuzeit, und zwar in 13 Ehrlich 1913. 14 Dnistrjans’kyj 1923, S. 47. 15 Dnistrjans’kyj 1923, S. 49.
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Regionen, wo die Grenzen zwischen bestehenden Staaten bzw. Imperien (auch diese Begriffe sind für ihn synonym) nicht mit den Grenzen der Siedlungsgebiete von durch eine gemeinsame Kultur und Sprache zusammengehaltenen Volksgruppen übereinstimmten. Nationale Bewegungen finden sich daher als Oppositionsbewegung zu den Imperien mit dem Ziel zusammen, einen eigenen Staat zu gründen.16 Als eines der ersten Beispiele hierfür führt er die Ukraine des 17. Jahrhunderts an, wo ruthenischsprachige orthodoxe Kosaken gegen den katholischen polnischen Staat rebellierten. Die Rechtsordnung, die sich in Nationen herausbildet, ist das sogenannte Volksrecht.17 An dieses Konzept der historischen Schule der deutschen Rechtswissenschaft des 19. Jahrhunderts, nach dem ein „Volksgeist“, ein gemeinsames Rechtsempfinden eines Volkes hervorbringe18, schließt Dnistrjanskyj an, begründet es jedoch soziologisch als Satz von Normen und Regeln, der sich im täglichen Umgang einer Gemeinschaft herausbilde. Dadurch war es ihm möglich, nicht nur Gesetze zum Zusammenstellen einer Rechtsgeschichte heranzuziehen, sondern auch in Traditionen überlieferte Normen als einen Rechtsbestand zu betrachten, der einen Teil des kulturellen Erbes der Nation darstellt – das Gewohnheitsrecht. Durch die Konstruktion eines ukrainischen Volksrechts auf Grundalge des Gewohnheitsrechts konnte die ukrainische Rechtsgeschichte vom Mittelalter bis zur jüngeren Gegenwart durchgehend und nicht nur auf einzelne staatliche Phasen beschränkt erzählt werden. Für die Unterscheidung eines „ukrainischen“ Rechts von den Rechtsordnungen der Nachbarvölker treten – nicht nur bei Dnistrjans’kyj – zwei Themen besonders hervor: die Stellung von Frauen im Familienrecht und das Verhältnis von Volk und politischer Führung im Staatsrecht. Um die Besonderheit der ukrainischen Rechtskultur zu belegen, führt er in einer englischsprachigen Denkschrift, die 1919 unter den Mitgliedern der Pariser Friedenskonferenz verteilt wurde, als Beispiel das Familienrecht der mittelalterlichen Kyjiver Rus’ an, die er, gemäß dem ukrainischen Geschichtsnarrativ, als ersten ukrainischen Staat betrachtet. Über die rechtliche Stellung von Frauen damals heißt es bei ihm: In civil law the wife enjoyed almost the same rights as her husband, after whose death she by rights took the guardianship of her children.19
Diese Regelung, die auch in der aktuellen Forschung bestätigt wird,20 nimmt er als Ausgangspunkt für sein Narrativ zum Familienrecht in der Ukraine und
16 17 18 19 20
Dnistrjans’kyj 1923, S. 29. Dnistrjanskyj 1930, S. 260. Schröder 2012, S. 194. Dnistrjanskyj 1919, S. 27. Küpper 2005, S. 97.
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benutzt sie zur Abgrenzung vor allem gegenüber der als russisch markierten Tradition: The peculiarity of the Ukrainian people shows itself already in their family-life. The head of the family exercises no absolute power over the other members of the family. Likewise the position of women is considerably higher with the Ukrainian people than with the Russians or Poles. With the Ukrainians a daughter is never married off against her will. […] With the Russians the father has to decide about the marriage of his daughter, he is the head of the collective family, over which he exercises his absolute authority. This is impossible with the Ukrainians.21
Die Abgrenzung geschieht hier also nicht nur gegenüber der russischen, sondern auch gegenüber der polnischen Kultur, wobei er auch den Zeitgeist – die Einführung des Frauenwahlrechts fand in vielen europäischen Ländern zeitgleich statt – geschickt aufgreift. Neben dem Familienrecht war das Staatsrecht ein zweiter Bereich, in dem ukrainische Juristen wie Dnistrjans’kyj eine besondere ukrainische Rechtstradition auszumachen glaubten. In Bezug auf die politische Entscheidungsfindung griff er den Diskurs über eine demokratische Kultur bei den ukrainischen Kosaken im 17. und 18. Jahrhundert auf.22 Für die Zuschreibung eines Regimes als demokratisch oder undemokratisch waren seinem Verständnis nach jedoch nicht Regeln zum Entscheidungsablauf bestimmend, sondern vielmehr der Inhalt bzw. das Ergebnis der Entscheidungsfindung: Demokratie definiert er in Anlehnung an Rousseau als Übereinstimmung der Regierungspolitik mit einem imaginären Volkswillen.23 Die Umsetzung dieses Prinzips im ukrainischen Kosakenstaat der frühen Neuzeit beschreibt er in einer Abhandlung über Verfassungsordnungen auf die folgende Weise: Нарід вибірав гетьмана, нарід вибірав військових старшин і цивільних урядників. Запоручено свободу кожного громадянина, але він мусів підпорядкуватися волі загалу. Коли вибраний гетьман [мав] „сильну руку“, то радо слухав нього нарід, але коли ця „рука“ почала слабкувати, нарід зголошувався зараз по свої права і на вічах старався доповнити це, чого влада не була в силі перевести.24 Das Volk wählte eine Het’man, das Volk wählte die militärische Führung und die zivilen Beamten. Die Freiheit jedes Bürgers war gesichert, er musste sich aber dem Willen der Mehrheit unterwerfen. Wenn ein gewählter Het’man eine „starke Hand“ bewies, so folgte ihm das Volk bereitwillig, aber wenn diese „Hand“ schwach wurde, berief sich das Volk auf seine Rechte und machte sich daran auf Volksversammlungen das durchzuführen, wozu seine Führung nicht in der Lage wahr.25 21 22 23 24 25
Dnistrjanskyj 1919, S. 33f. Ähnlich wie Hrusˇevs’kyj in seiner Konzeption, siehe Plokhy 2005, S. 90. Dnistrjans’kyj 1999, S. 223. Dnistrjans’kyj 1920, S. 235. Diese und die weiteren Übersetzungen aus dem Ukrainischen stammen vom Autor.
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Anstelle eines definierten Prozedere für demokratische Entscheidungsfindung, wie es in modernen Verfassungen festgelegt ist, ist der Het’man in dieser Vorstellung in seiner Regierungsführung und in seinen Amtshandlungen frei und muss nur für allgemeine Unterstützung durch die Bevölkerung sorgen. Dass somit auch autoritäre Regime möglich sind, ergibt sich aus einer späteren Einschätzung Dnistrjans’kyjs, in der er das Regime Mussolinis als eine Umsetzung der Demokratie beschreibt, da auch der Duce den Willen des Volks umsetze.26
4.
Rechtswissen als politisches Mittel
Neben dem Beitrag zur ukrainischen Identitätskonstruktion versuchte Dnistrjans’kyjs auch, sein rechtswissenschaftliches Wissen für politische Zwecke einzusetzen. Dies tat er vor allem in den Auseinandersetzungen zwischen der ukrainischen und polnischen Nationalbewegung um die Ausgestaltung des Zusammenlebens in Ostgalizien, sowohl während der Habsburgerzeit als auch nach dem Ersten Weltkrieg. Noch zu Zeiten des Kronlandes Galizien und Lodomerien wurde dabei vor allem um den Gebrauch der Sprache in öffentlichen Angelegenheiten – vor allem im Bildungsbereich – gestritten. Hier konnten die Verfechter der Polonisierung der Reichsregierung seit den 1860er Jahren Konzessionen abringen, weil sie nicht nur die galizische Landesverwaltung und den Landtag dominierten, sondern auch für die österreichische Reichsregierung als Mehrheitsbeschaffer im Wiener Abgeordnetenhaus des Reichsrats dienten.27 So wurde 1867 eine weitgehende Polonisierung der Landesverwaltung in Gang gesetzt, und ab 1871 war es der Universität L’viv überlassen, die Universitätssprache selbst festzulegen, wodurch eine Polonisierung des Lehrbetriebs in Gang gesetzt wurde.28 Die Verfechter einer Ukrainisierung gerieten dadurch ins Hintertreffen. Ihre Anliegen waren vor allem, mehr Entfaltungsmöglichkeiten für die ukrainische Sprache zu schaffen, an erster Stelle im Bereich der Bildung aber auch im Parteienverkehr mit Behörden und bei Gerichtsverhandlungen. Rechtliche Argumentation können in einem solchen Fall benutzt werden, wenn sich eine Nationalbewegung auf eine übergeordnete Rechtsordnung stützen kann, die ihr subjektive Rechte zugesteht. Eine solche bot in der österreichischen Hälfte der Doppelmonarchie das Staatsgrundgesetz von 1867, in dem Angehörigen der anerkannten Volksgruppen kulturelle Rechte zugesprochen wurden. Im ersten Absatz des Artikels 19 wurde festgelegt: 26 Dnistrjans’kyj 1999, S. 227. 27 Binder 2006, S. 257. 28 Binder 2006, S. 246ff.
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Alle Volksstämme des Staates sind gleichberechtigt, und jeder Volksstamm hat ein unverletzliches Recht auf Wahrung und Pflege seiner Nationalität und Sprache.
Der zweite Absatz sollte den ersten konkretisieren, war jedoch uneindeutig formuliert:29 Die Gleichberechtigung aller landesüblichen Sprachen in Schule, Amt und öffentlichem Leben wird vom Staate anerkannt.
Vor allem die Wortwahl „wird anerkannt“ führte zu Diskussionen darüber, inwieweit sich aus diesem Paragraphen einklagbare Rechte ergeben. Lediglich zur Schulbildung wurden im dritten Absatz des Artikels genauere Bestimmungen gemacht: In den Ländern, in welchen mehrere Volksstämme wohnen, sollen die öffentlichen Unterrichtsanstalten derart eingerichtet sein, daß ohne Anwendung eines Zwanges zur Erlernung einer zweiten Landessprache jeder dieser Volksstämme die erforderlichen Mittel zur Ausbildung in seiner Sprache erhält.
Vor zwei Gerichten konnte gegen diese Bestimmungen geklagt werden – dem Reichsgericht und dem Verwaltungsgerichtshof. Das Reichsgericht, welches 1869 für die Entscheidung von Kompetenzfragen und zum Schutz der politischen Rechte der Bürgerinnen und Bürger geschaffen wurde, konnte jedoch Rechtsbrüche nur feststellen, unrechtmäßige Verwaltungsentscheidungen konnte es jedoch nicht aufheben. Am Verwaltungsgerichtshof wiederum konnte allein gegen staatliche Verwaltungsentscheidungen vorgegangen werden, diese konnten jedoch aufgehoben werden.30 Diese Bestimmungen versuchte Dnistrjans’kyj auf die Frage des Sprachgebrauchs an der Universität L’viv anzuwenden, worum damals heftig gestritten wurde.31 1879 war durch einen kaiserlichen Erlass Polnisch als vorherrschende Unterrichtssprache an der Universität festgelegt worden, nur an fünf – später sechs – Lehrstühlen sollte der Unterricht auf Ukrainisch stattfinden. In der Folge gab es nicht nur um deren Besetzung regelmäßig heftige Auseinandersetzungen zwischen polnischen und ukrainischen Professoren, sondern auch in Bezug auf die Frage, in welcher Sprache Verwaltungsvorgänge an der Universität erfolgen sollten und welche Sprachen für das Ablegen der Prüfungen zugelassen sein sollten.32 1902 verfasste Dnistrjans’kyj einen Aufsatz über die „Rechte der ruthenischen Sprache an der Universität L’viv“, der in der von ihm herausgegebenen „Juristischen und volkswirtschaftlichen Zeitschrift“ erschien. In diesem argumentierte 29 30 31 32
Stourzh 1980, S. 1015. Stourzh 1980, S. 1021f. Auch Bachmann 2001; Binder 2003; Mitter 2015. Binder 2003, S. 186f.
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er, dass die damals praktizierte Bevorzugung des Polnischen an der Universität nicht aus dem Staatsgrundgesetz hergeleitet werden könne und dass der österreichische Staat verpflichtet sei, eine Gleichbehandlung der Volksgruppen an seinen Institutionen zu gewährleisten.33 Somit müsse die Reichsregierung für einen äquivalenten Status der ukrainischen Sprache sorgen und so die ukrainische Nationalbewegung gegen die polnisch dominierte galizische Landesregierung unterstützen. Eine der sich daraus ableitenden Forderungen war, dass der Parteienverkehr zwischen Studierenden und der Verwaltung an der Universität L’viv auf Ukrainisch möglich sein müsse. Dabei beruft er sich auf einen Erlass des Unterrichtsministers aus dem Jahre 1871,34 in dem festgelegt wurde, dass Eingaben sowohl in Ukrainisch als auch in Polnisch beantwortet werden müssen. Zudem hatte das Unterrichtsministerium 1902 noch einmal bestätigt, dass an der Universität L’viv schriftliche Antworten in der Sprache erfolgen sollten, in der sie eingereicht wurden.35 Dass Polnisch durch einen Erlass aus dem Jahr 1879 als Geschäftssprache der Universität festgelegt wurde,36 würde laut Dnistrjans’kyj hierauf keinen Einfluss haben, da es sich dabei lediglich um die „innere Dienstsprache“ handle, Studierende und Professoren jedoch als Parteien von außen an die Universität heranträten.37 Das Reichsgericht entschied in dieser Frage jedoch, dass diese Universitätsangehörige seien und es somit gerechtfertigt wäre, wenn etwa die Immatrikulation ausschließlich auf Polnisch stattfindet oder Legitimationskarten auf Polnisch ausgestellt werden.38 Das Scheitern an der juristischen Front führte dazu, dass sich Dnistrjans’kyj und seine Kollegen nun auf die Forderung nach der Schaffung einer unabhängigen ukrainischen Universität konzentrierten. Im Parlament versuchten sie ihr Anliegen mit einer Obstruktionstaktik durchzusetzen und waren insoweit erfolgreich, als 1912 tatsächlich die Zusage der Regierung erreicht wurde, dass eine eigenständige ukrainische Universität in Galizien gegründet werden sollte, was jedoch durch den Beginn des Ersten Weltkriegs hinfällig wurde.39 Die Nationalitätenauseinandersetzungen in Galizien traten in eine neue Phase, als am Ende des Weltkriegs die Donaumonarchie zusammenbrach. Die ukrainische Nationalbewegung konnte sich nun nicht mehr auf die österreichische Rechtsordnung und Verfassung berufen, sondern musste neue Mittel finden, ihre Politik durchzusetzen. Am 1. November 1918 wurde in L’viv die 33 34 35 36 37 38 39
Dnistrjans’kyj 1902. Beck von Mannagetta/Kelle 1906, S. 17. Beck von Mannagetta/Kelle 1906, S. 20. Beck von Mannagetta/Kelle 1906, S. 19. Dnistrjans’kyj 1902, S. 25. Gluneck/Hugelmann 1907, S. 262. Binder 2003, S. 201; Mitter 2015, S. 74.
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Westukrainische Volksrepublik ausgerufen, die dem neu entstandenen Polnischen Staat militärisch unterlegen war und ab 1919 nur noch vom Exil aus operieren konnte. In dieser Situation suchte man Rettung im damals viel besprochenen „Selbstbestimmungsrecht der Völker“, das zwar ein Jahr zuvor durch den amerikanischen Präsidenten Wilson als eines der grundlegenden Prinzipien der Pariser Friedensverhandlungen proklamiert worden war, das aber – der Einschätzung von Jörg Fisch nach – als eher stumpfe „Waffe der Schwächeren und der Verlierer“40 angesehen werden muss. Zu diesem Prinzip verfasste Dnistrjans’kyj mehrere Artikel, in denen er für den ukrainischen Anspruch auf Ostgalizien argumentierte. Nicht ganz klar war damals allerdings, was das „Selbstbestimmungsrecht der Völker“ genau bedeuten sollte: Aus den Reden Woodrow Wilsons lässt sich ableiten, dass er damit das Recht der (Gesamt-) Bevölkerung eines Landes meinte, ihre Regierung selbst zu wählen,41 also die Abschaffung der Monarchie, was mit dem inklusiven westeuropäischen Volksbzw. Nationsbegriff 42 übereinstimmt. Dnistrjans’kyj interpretierte das Selbstbestimmungsrecht dagegen auf Grundlage des in der deutschen Tradition stehenden ethnischen-kulturellen Volksbegriffes in der Weise, dass damit das Recht einer Volksgruppe auf das Territorium gemeint sei, in dem sie die Mehrheit stellt.43 In einer Denkschrift, in der er für ein westliches Publikum eine Einführung in die Geschichte, Wirtschaft und Kultur der Ukraine gibt, argumentierte er daher, dass Staatsgrenzen durch das „ethnographische Prinzip“ definiert werden sollten, sie also das kompakte Siedlungsgebiet einer vorher definierten und auf Grundlage von Volkszählungen identifizierten Volksgruppe umfassen sollten.44 Angewandt auf Ostgalizien tritt dabei jedoch das Problem auf, dass sich auf diese Weise nur schlecht eindeutige Grenzen bestimmen lassen. Nicht nur siedeln in vielen Gebieten Vertreter einzelner Volksgruppen nicht in klar voneinander abgrenzbaren Gebieten, auch dominieren zumeist in Städten andere Ethnien als in den umgebenden ländlichen Gegenden. In Ostgalizien waren Städte zumeist von polnischen und/oder jüdischen Mehrheiten besiedelt, während die ukrainische Bevölkerung vor allem auf dem Land lebte. Für dieses Problem schlug Dnistrjans’kyj eine kreative Lösung vor. Städte galten für ihn als: ex-territorial as regards nationality by the incessant influx of foreigners and penniless persons. Owing to modern commercial intercourse even landed-proprietors in towns cannot be compared to landed-proprietors in the country, estates in towns very often changing hands and seldom involving the residency of the proprietors.45 40 41 42 43 44 45
Fisch 2010, S. 145. Etwa in Wilson 1990. Koselleck 2004, S. 397. Dnistrjans’kyj 1923, S. 24. Dnistrjanskyj 1919, S. 12. Dnistrjanskyj 1919, S. 11.
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Durch diese Argumentation konnte er begründen, dass auch die polnisch dominierten Städte zum ukrainischen Territorium gehören sollten. Auffällig ist, dass er in seinem Vorschlag keine aktive Willensäußerung der Bevölkerung über die Grenzziehung vorsah, wie es anderswo praktiziert wurde, sondern die Grenzen des ukrainischen Territoriums durch vermeintlich objektive Kriterien festlegen wollte, um den „Volkswillen“ der Bewohner umzusetzen. Vermutlich bewog ihn hierzu die Sorge, dass sich auch ein Großteil der ukrainisch definierten Bevölkerung dem größeren und möglicherweise politisch stabileren Polen anschließen wollen könnte. Letztendlich überging die Friedenskonferenz jedoch seine Argumentation insgesamt und stellte das Gebiet Ende 1919 unter polnische Verwaltung.46 Wie sich hier zeigt – ganz wie im Falle der vorher erwähnten Berufungen auf die österreichische Nationalitätengesetzgebung –, ließ sich mit rechtlicher Argumentation in politischen Auseinandersetzungen letztendlich doch wenig erreichen, wenn dieser die Machtverhältnisse entgegenstanden. Ausschlaggebend waren vielmehr politische Einflussfaktoren wie die bessere Organisation der polnischen Eliten im österreichischen Kronland Galiziens oder deren militärische Überlegenheit im Nachgang des Ersten Weltkriegs. Wären die Versuche ukrainischer Staatsbildungen erfolgreich gewesen, hätten sich für Juristen wie Dnistrjans’kyj weitere Möglichkeiten ergeben, ihr Wissen für die Nationsbildung einzusetzen.
5.
Recht als Grundlage der Staatsverwaltung
Als er noch Hoffnungen auf ein Fortbestehen der Westukrainischen Volksrepublik hatte, beteiligte sich Dnistrjans’kyj mit mehreren Artikeln und zwei Verfassungsentwürfen an der Diskussion um eine mögliche Staatsordnung für Galizien. Wie im Folgenden zu sehen sein wird, lassen sich in diesen Entwürfen Verweise sowohl auf seine Beschäftigung mit der ukrainischen Rechtskultur sowie auch auf seine Erfahrungen aus den Auseinandersetzungen mit der polnischen Volksgruppe in Ostgalizien finden. Bereits bei der Ausrufung der Westukrainischen Volksrepublik Anfang November 1918 hatte Dnistrjans’kyj einen Entwurf für eine „Grundordnung des Galizischen Staates“47 verfasst. Diesen hat er auf Anfrage der Exilregierung der Westukrainischen Volksrepublik 1920 in einen Verfassungsentwurf umgearbei-
46 Milow 2002, S. 353f. 47 Dnistrjans’kyj 1999.
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tet, mit dem man bei den Siegermächten den Anspruch auf eine ukrainische Verwaltung von Ostgalizien untermauern wollte.48 Wie er in mehreren Artikeln zum Thema Staats- und Verfassungsrecht49 darlegt, muss eine Verfassung seiner Meinung nach einerseits auf lokalen Traditionen beruhen, andererseits sollten internationale Erfahrungen mit Verfassungen miteinbezogen werden.50 Grundlegendes Prinzip einer demokratischen Ordnung müsse aber der Volkswille sein. Aufgrund der zwei möglichen Bedeutungen des Begriffes „Volk“ wurde dafür eine terminologische Trennung nötig: Neben dem „Staatsvolk“ als Gesamtheit der Staatsbürgerinnen und Staatsbürger führte er die Kategorie Volksgruppe als „im Staate lebende Völker“ ein (§ 39). Die „nationale Macht auf seinem Nationalterritorium“ sollte dabei allein die ukrainische Volksgruppe ausüben (§ 41), die gemäß dem Selbstbestimmungsrecht der Völker ein Recht auf das ostgalizische Territorium besitze, während den anderen Volksgruppen nach dem Prinzip der Personalautonomie nur eine nationale Verwaltung in bestimmten Bereichen zustünde. Mit dieser Regelung wählt Dnistrjans’kyj einen Zwischenweg zwischen den beiden damals diskutierten Konzepten von Nationalitätenpolitik, dem von Aurel Popovici vorgeschlagenen Territorialprinzip und dem Personalprinzip von Karl Renner und Otto Bauer. In ersterem sollten kulturelle Sonderrechte auf ein Territorium gewährt werden, in zweiterem abhängig von der Nationalität einer Person und unabhängig vom Wohnort.51 Um der ukrainischen Volksgruppe nach dem Territorialprinzip eine Vormachtstellung in Ostgalizien zu sichern, wollte er für die obersten Staatsorgane einen Nationalitätenschlüssel von 4:1:1 festlegen, nach dem auf vier ukrainische Vertreter ein polnischer sowie ein Vertreter der jüdischen und aller anderen Volksgruppen kommen sollte. Somit wäre in allen Abstimmungen eine Mehrheit der Ukrainer gesichert. Zudem schrieb er fest, dass der Staatspräsident, der Vorsitzende des Parlaments und der Regierung, ukrainischer Nationalität sein solle (§ 126). Auf der anderen Seite sollten aber nach dem Personalprinzip für Angehörige nationaler Minderheiten besondere Schutzrechte gelten: In österreichischer Tradition sollte nach § 14 „jeder Staatsbürger […] das Recht auf Wahrung und Pflege seiner Nationalität und Sprache“ haben. Dies sollte vor allem in der Schulbildung gelten (§ 41), aber auch bei Gerichtsverfahren sollte nach Möglichkeit ein Richter aus der eigenen Volksgruppe die Verhandlung führen (§ 128).
48 49 50 51
Mel’nyk 1923. Dnistrjans’kyj 1919; 1920. Dnistrjans’kyj 1920, S. 233. Dnistrjans’kyj 1923, S. 27; zur Personalautonomie siehe auch Kuzmany 2016.
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Neben den gruppenbezogenen Volksrechten waren auf individueller Ebene auch die Menschen- und Bürgerrechte nach dem europäischen Wertekanon in die Bereiche Freiheit, Gleichheit und Fürsorge festgeschrieben, weitgehend gemäß den heute üblichen Bestimmungen eines liberalen Verfassungsstaates. So werden etwa im Bereich Freiheitsrechte Versammlungsfreiheit, Pressefreiheit, Wissenschaftsfreiheit, Briefgeheimnis oder Unverletzlichkeit der Wohnung aufgezählt (§§ 6–24). Zu den Gleichheitsrechten werden neben der Gleichstellung von Mann und Frau auch die Abschaffung aller Stände gezählt (§§ 25–27). Die „Schutz- und Fürsorgerechte“ sichern gewerkschaftliche Teilhabe an der Lohnaushandlung, eine Sozialversicherung und Arbeitsschutzbestimmungen (§§ 28– 38). Aber auch Dnistrjans’kyjs Beschäftigung mit der ukrainischen Demokratiegeschichte hinterließen Spuren in seinem Verfassungsentwurf: Um der Bevölkerung nicht nur eine Repräsentation im Parlament – dem „Volkshaus“ – zu ermöglichen, sondern ihr auch ein direktes Mitwirkungsrecht wie im Kosakenstaat einzuräumen, führte Dnistrjans’kyj die Institution der „Volkstage“ ein. Diese sollten Versammlungen aller Wahlberechtigten „zur unmittelbaren Äußerung des Volkswillens“ sein, die regelmäßig einmal pro Jahr – bei Bedarf auch häufiger – einberufen würden. Sie sollten die Möglichkeit haben, die Regierungspolitik zu kritisieren, aber auch Gesetzgebungsprozesse anzustoßen und sogar unabhängig vom Parlament Gesetzesentwürfe zu erarbeiten (§ 80). Somit spiegelt dieser Entwurf Dnistrjans’kyjs Skepsis gegenüber dem Recht in Form von parlamentarisch erlassenen Gesetzen wider: Nicht nur möchte er festlegen, dass die Volkstage „verlangen können, dass bestehende Gesetze von der Regierung genau eingehalten werden“ (§ 81). Wenn Gesetze „veraltet“ sind und die den „neuen Verhältnissen gar nicht angepasste Norm nach den Grundsätzen der Gerechtigkeit durch eine andere ersetzt werden muss“, sollen zudem Verwaltungsverordnungen auch dann gültig sein, wenn sie nicht auf Gesetzen beruhen, falls sie allgemeinen Rechtssätzen entsprechen und das Volkshaus sie nicht binnen 60 Tagen für ungültig erklärt (§§ 57, 93). Hiermit versucht er nicht nur, den „Volkswillen“ zur Geltung kommen zu lassen, der Gedankengang hat auch Ähnlichkeiten zu der aus der historischen Schule der Rechtswissenschaft stammenden Skepsis gegenüber staatlicher Rechtssetzung.
6.
Zusammenfassung
Wie diese drei Beispiele zeigen, versuchte Stanislav Dnistrjans’kyj sein juristisches Wissen auf verschiedene Weise für die ukrainische Nationalbewegung einzusetzen. Dabei stellten sicherlich seine Betrachtungen zur Rechtskultur, mit denen eine Abgrenzung der ukrainischen Kultur von den Nachbarnationen
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untermauert werden sollte, den weitreichendsten Beitrag dar. Seine juristischen Argumentationen in der politischen Debatte hatten letztendlich wenig Erfolg, da in den Nationalitätenauseinandersetzungen im Endeffekt doch die politischen Machtverhältnisse zwischen den Volksgruppen entscheidend waren. Dnistrjans’kyjs Verfassungsentwurf wiederum zeugt vom Bemühen, die von ihm erforschte ukrainische Rechtskultur auch in die Rechtspraxis einfließen zu lassen. Seine Überlegungen zur Staatsordnung blieben allerdings aus historischen Gründen weitgehend ohne Folgen, da die ukrainische Unabhängigkeit in Ostgalizien nur kurz weilte. Auch wenn sein Werk letztendlich so gut wie keinen Einfluss auf die Rechtsentwicklung der Ukraine hatte, stellt es ein wichtiges Zeugnis des ukrainischen rechtswissenschaftlichen Denkens am Anfang des 20. Jahrhunderts dar.
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Martin Rohde (Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg)
Galizische Erbschaften? Das ‚ukrainische Piemont‘ als transimperiales Projekt1
Abstract Shevchenko Scientific Society in East-Galician Lemberg served as a nucleus for the development of Ukrainian science since its reorganization in 1892. This paper tries to go beyond usual scheme of outlining the society’s internal development by considering Austrian state support and patrons from Russian Ukraine as major agents of support and even change. The connection to the Austrian Empire is furthermore interpreted as a key to the German-speaking academic space, influencing Shevchenko Scientific Society as well as individual scholars and scientists. Based on these prerequisites, the functions of the society’s localization in Galicia are discussed and the heritage of this period is balanced at the beginning of the interwar period. Without suggesting economic determinism or overemphasizing this position, the relevance of the Austrian state’s support and its educational system is pointed out for this period. Keywords: History of Science, Mychajlo Hrushevskyi, Lemberg, Shevchenko Scientific Society, Ukraine.
1.
Einleitung
Die Historiographie zur ukrainischen Nationalbewegung des 19. und frühen 20. Jahrhundert ist geprägt von der Dichothomie eines repressiven russischen Imperiums im Kontrast zum liberaleren cisleithanischen Möglichkeitsraum.2 Angesichts des Vorhabens, das „Erbe“ des historischen Galiziens zu bilanzieren, 1 Dieser Aufsatz entstand im Rahmen der Forschungen zu meiner Dissertation, mittlerweile veröffentlicht als Rohde 2022. Einige Punkte aus diesem Aufsatz greife ich in den Kapiteln 3 und 4 auf. Mein herzlicher Dank gilt dem Center for Urban History of East Central Europe in L’viv für ein einmonatiges Residence Grant, während dem die Quellen für diesen Aufsatz erarbeitet wurden, sowie Kurt Scharr, Phillip Schroeder und dem/der anonymen Gutachter/in für ihre Kommentare zu früheren Varianten des Texts. 2 Noch immer relevant für Aspekte der Zensurpolitik des Zarenreichs: Savcˇenko 1970. Aktuell zum habsburgischen Galizien als Möglichkeitsraum für das „ukrainische Projekt“ Lytvyn (Hg.) 2016.
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scheint es angezeigt, diesen Möglichkeitsraum nicht nur zu postulieren, sondern ihn anhand eines konkreten Beispiels in seiner historischen Entwicklung und dem „Nachleben“ einer Episode galizischer Geschichte zu untersuchen. Die Sˇevcˇenko-Gesellschaft der Wissenschaften wird als integraler Bestandteil der ukrainischen Nationalbewegung betrachtet, ihr langjähriger Präsident Mychajlo Hrusˇevs’kyj (1866–1934) selbst hat die einflussreiche Metapher von Galizien als „ukrainisches Piemont“3 geprägt. Gerade die dieser Idee inhärente Unterordnung der Bedürfnisse der ukrainischen Bevölkerung (Ost-) Galiziens4 unter Ziele der Nationalbewegung repräsentierte allenfalls die Haltung der zahlenmäßig noch vergleichsweise wenigen Anhänger einer gesamtukrainischen nationalen Idee, die u. a. innerhalb der Sˇevcˇenko-Gesellschaft ausgearbeitet wurde. Doch war es nur diese relative Freiheit im Vergleich zum Zarenreich, die Galizien aus national-ukrainischer Perspektive diese Funktion eines metaphorischen Piemonts verliehen hat? Angesichts des dominanten Narrativs eines durch erstarkende Nationalismen zerfallenden Staates ist die Anlehnung der Sˇevcˇenko-Gesellschaft an das habsburgische Imperium bisher kaum in den Blick der Forschung geraten. Der vorliegende Beitrag wird diesen Aspekt in Verbindung mit den Motivationen relevanter Mäzene aus der russländischen Ukraine zur Unterstützung der Organisation diskutieren. Dabei wird herausgestellt, welche materiellen Konsequenzen sich aus der galizischen Situierung des Vereins ergaben. Dadurch soll kein ökonomischer Determinismus wissenschaftlicher Aktivität suggeriert werden.5 Gerade für die zugrundeliegenden organisatorischen und öffentlichkeitswirksamen Vereinsaktivitäten war die Schaffung einer materiellen Basis jedoch zentral – und nicht zuletzt ein elementarer Gegenstand der Aktivität leitender Mitglieder. Zu den bedeutendsten Kostenpunkten gehörten die Unterbringung der Vereinsinstitutionen, Unterstützung junger Wissenschaftler und der Druck sowie Beiträge wissenschaftlicher Periodika. Deshalb erscheint es lohnend, insbesondere die Abdeckung einmaliger gegenüber dauerhaften Kosten abzuwägen. Die Verflechtungsgeschichte der zu behandelnden ukrainischen Akteure kann durch Narrative nationaler oder imperialer Geschichtsschreibung kaum gefasst werden. Ich werde in diesem Beitrag argumentieren, dass einerseits die transimperiale Kooperation mit der ukrainischen Bewegung des Zarenreichs6 und andererseits die Anlehnung an den habsburgischen Staat die wesentlichen Koordinaten für die dynamische Entwicklung des ukrainischen Projekts darstellten. 3 Hrusˇevs’kyj 2002; ideengeschichtlich sind zahlreiche weitere Akteure und Bedeutungszusammenhänge zu bedenken; Hrusˇevs’kyj selbst hebt besonders seinen akademischen Lehrer Volodymyr Antonovycˇ hervor. Hrusˇevs’kyj 1908; zur Übersicht vgl. Vivsjana 2009. 4 So die Interpretation Hrusˇevs’kyjs, die er u. a. in Hrusˇevs’kyj 2003 ausführlich darlegt. 5 Bourdieu 1998, S. 18–19. 6 Surman 2019, S. 12; zur Vermessung des Begriffs vgl. Hedinger/Neé.
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Dabei wird aufgezeigt, dass vor allem die Kombination dieser Aspekte kritisch für die Sˇevcˇenko-Gesellschaft der Wissenschaften und andere zentrale Aspekte galizisch-ukrainischer Wissenschafts- und Kulturgeschichte war. Ich untersuche das Vertrauen unterschiedlicher Akteure in Personen oder Institutionen, um mich den damit einhergehenden Herausforderungen transimperialer Kommunikation anzunähern. Mit ‚Vertrauen‘ ist keine bloße Floskel gemeint, sondern eine Kategorie menschlicher Beziehungen, die zu Handlungen motivieren oder davon abhalten kann, allerdings auch ein Risikobewusstsein impliziert.7 Im Fall ukrainischer Mäzene aus dem Zarenreich motivierte Vertrauen Gruppen und Einzelpersonen dazu, materielle, symbolische und organisatorische Unterstützung für die Sˇevcˇenko-Gesellschaft der Wissenschaften zu erbringen. Sie vertrauten auf die widmungsgemäße Verwendung von Finanzmitteln, ihren fruchtbaren Einsatz für die Ziele der ukrainischen Nationalbewegung und die Förderung des Zusammenhalts der ukrainischen Länder, vor allem durch Druckwerke, die der Verein bewerkstelligen und Forschungsprojekte, die er initiieren sollte. Dabei ist hervorzuheben, dass aufgrund der physischen und politischen Distanz zunächst keine direkte Kontrolle über diese Finanzmittel ausgeübt werden konnte. Die staatliche Subventionierung des Vereins, die während der frühen 1890er Jahre einsetzte, basierte auf einem Vertrauen in die politische ‚Unbedenklichkeit‘ des Vereins beziehungsweise in seine Loyalität gegenüber dem Staat. Die glaubhafte Artikulation dieser Haltung war dementsprechend ein zentraler Faktor, wie im dritten Kapitel gezeigt werden wird. Das Vertrauen des Vereins auf die Regierung in Wien wiederum erschien als Vertrauen auf die entgegenkommende Interpretation gültiger Rechtsnormen, zumal Vereine als Träger der gesetzlich garantierten Nationalitätenrechte agieren und auf dieser Grundlage um Subventionen ansuchen konnten.8
2.
Die Sˇevcˇenko-Gesellschaft zwischen den Imperien
Die Sˇevcˇenko-Gesellschaft wurde am 11. Dezember 1873 in Lemberg als literarischer Verein gegründet, der die Förderung der ukrainischen Sprache zu seinem primären Ziel erklärte. Die Initiative dazu ergriffen russländische Intellektuelle, die infolge der Sprachpolitik des Zarenreichs günstigere Bedingungen für dieses Projekt in Galizien sahen: der Historiker Volodymyr Antonovycˇ (1834–1908), der (multiprofessionelle) politische Theoretiker Mychajlo Drahomanov (1841–1895) und der Literat Oleksandr Konys’kyj (1836–1900).9 7 Frevert 2003. 8 Österreichisches Staatswörterbuch, Bd. 4, S. 720. 9 Hyrycˇ 2012.
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Die Einschränkungen für ukrainische Druckwerke durch das Valuev-Zirkular waren zentral für die Idee, die ukrainischsprachige Literaturproduktion nach Galizien auszulagern. Die Mäzenin Jelizaveta Myloradovycˇ brachte den Löwenanteil des Geldes auf, das den Kauf einer Druckerei ermöglichen sollte. Sie knüpfte daran jedoch die Bedingung, einen wissenschaftlich-kulturellen Verein zu gründen, der diese Druckerei verwalten sollte. In ihrem Auftrag sollte Drahomanov schon im Vorfeld Kontakt zur ruthenisch-ukrainischen Intelligenz aufnehmen und die Möglichkeiten zur Gründung eines solchen Vereins ausloten. Die galizischen Klerikalen, allen voran der erste Präsident Stepan Kacˇala und der Advokat Kornylij Susˇkevycˇ, mit denen Konys’kyj kooperierte und mit ihnen erste Unterstützerinnen und Unterstützer für die Einrichtung der Gesellschaft suchte, schienen dem Sozialisten Drahomanov keineswegs geeignet, diese Vorgaben zu erfüllen. Einerseits äußerten sie keinerlei Interesse an wissenschaftlicher Forschung, andererseits führten ideologische Barrieren zu nachhaltigen Anfeindungen, so dass er später selbst Unterschriften gegen das Projekt bei der Kiewer Intelligenz sammelte. Dennoch brachten Mäzeninnen und Mäzene aus der russländischen Ukraine das nötige Startkapital auf, mit dem der Verein 1874 seine Druckerei erwarb und einrichtete.11 Die Sˇevcˇenko-Gesellschaft war damit von Beginn an ein transimperiales Projekt, ein Bindeglied zwischen den ukrainischen Ländern. Dies verdeutlicht schon die Wahl des ukrainischen Nationaldichters Taras Sˇevcˇenko als Namenspatron. Trotz der Ausweitung der polnischen Sprachrechte im Rahmen der sog. „galizischen Autonomie“12, deren Folgen zur Ausprägung eines galizischen „Mikrokolonialismus“13 beigetrugen, genügten die Grundrechte der ruthenischen Bevölkerung (bzw. österreichischen Staatsbürgerinnen und Staatsbürger im Allgemeinen), um bei Mäzeninnen und Mäzenen aus der russländischen Ukraine Vertrauen in die Realisierbarkeit des Projektes zu erwecken. Damit lässt sich auch von einem Vertrauensvorschuss angesichts günstiger politischer Bedingungen sprechen, denn Akteure aus der russländischen Ukraine konnten keinerlei Kontrolle über die widmungsgemäße Verwendung der Spende ausüben. Dieses Vertrauen wurde in den Folgejahren schwer enttäuscht, da auch nach nachdrücklicher Aufforderung keine Statuten vorgelegt wurden, die den Vorstellungen Myloradovycˇs entsprachen: die lokalen Akteure berücksichtigten weder eine wissenschaftliche Agenda noch ein Mitspracherecht der russländischen ukrainischen Intelligenz.14 Weiterhin mangelte es dem Verein für die fol10
10 Zu Einschränkungen der ukrainischen Sprache im Zarenreich durch das Valuev-Zirkular 1863 und den Emser Ukaz 1876 vgl. Miller 2003. 11 Drahomanov 1970, T. 2, S. 197–200; Zajceva 2006, S. 32; Hyrycˇ 2012, S. 69. 12 Zur Problematik des Begriffs Binder 2006. 13 Begriff geprägt in Feichtinger/Prutsch/Csáky 2003. 14 Hnatjuk 1984, S. 40.
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genden Jahre aufgrund der ideologischen Vorherrschaft der klerikalen Volkstümler an produktiven Mitarbeitern. Junge Intellektuelle aus dem Umfeld der Radikalen15 wie Ivan Franko (1856–1916) und Mychajlo Pavlyk (1853–1915) durften zunächst nicht beitreten. Aufgrund der hohen Beitrittsgebühren,16 die als bewusstes Ausschlusskriterium verstanden werden dürfen, blieben die Mitglieder auf eine quantitativ geringe und politisch konservative Mittelschicht ukrainophiler Intellektueller Lembergs beschränkt. Dies sollte sich erst durch Reorganisationen der Sˇevcˇenko-Gesellschaft in den 1890er Jahren ändern, die mit dem Namen eines leitenden ukrainischen Politikers dieser Zeit einhergehen: Oleksandr Barvins’kyj (1847–1926). In enger Abstimmung mit Antonovycˇ und Konys’kyj initiierte er seit 1890 eine neue Politik des Kompromisses mit polnischen Politikern, die Nova era (dt. Neue Ära). 1892/ 93 folgte eine Reform des literarischen Vereins in die Sˇevcˇenko-Gesellschaft der Wissenschaften (Naukove Tovarystvo im. Sˇevcˇenka).17 Die Nova era kann beispielhaft für eine staatsloyale Politik gelten. In diesem Sinne war der ukrainische Nationalismus, den Barvins’kyjs Politik geprägt hatte, ein durchaus kooperativer und in der Lage, die Möglichkeiten des „kooperativen Imperiums“18 auszunutzen, das jene Nationalbewegungen förderte, die zu seiner Erhaltung beitrugen. Barvins’kyjs Politik war zwar in ihrer wohlwollenden Haltung zur polnischen Elite Galiziens nur kurze Zeit mehrheitsfähig,19 doch die Selbstgebahrung gegenüber dem Staat hatte eine bedeutend längere Konjunktur, wie am Beispiel der Finanzierungsanträge der Sˇevcˇenko-Gesellschaft der Wissenschaften noch gezeigt werden wird. Die Reformdiskussion initiierte Barvins’kyj bereits 1889 in enger Abstimmung mit Konys’kyj. Grundlage seines Gedankengangs war die Krakauer Wissenschaftliche Gesellschaft, die im Rahmen der „galizischen Autonomie“ zur Akademie der Wissenschaften erhoben wurde. Eine reformierte Sˇevcˇenko-Gesellschaft, organisiert in wissenschaftlichen Sektionen und mit einer regelmäßig erscheinenden Zeitschrift, sollte den Reformern gemäß ebenso als Grundlage für eine künftige ‚Ukrainisch-Ruthenische Akademie der Wissenschaften‘ dienen.20 Die Statutenreform begann 1892, im Folgejahr wählte die Vollversammlung Barvins’kyj zum neuen Präsidenten. Während dieser Abschnitt aus wissenschaftsgeschichtlicher Sicht oft geringgeschätzt wird, ist seine Arbeit aus anderer Perspektive höchst relevant für die weitere Entwicklung der Gesellschaft: aus 15 Sozialisten, die sich vornehmlich an Drahomanov als zentralem Theoretiker orientierten. Jobst 1996, S. 43. 16 Vereinsstatut 1874, CDIAL fond 309, op. 1, spr. 2. 17 Zajceva 2006. 18 Osterkamp 2016. ˇ ornovol 2000. 19 Ausführlich zur galizischen Politik der Jahre 1890 bis 1894 vgl. C 20 Voznjak 1929, S. 339.
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einer ökonomisch-konsolidierenden.21 1892 übergab die Statthalterei der Druckerei dauerhaft die Produktion ukrainischsprachiger Schulbücher, wodurch diese entscheidend stabilisiert werden konnte.22 Zwar hatte die Sˇevcˇenko-Gesellschaft schon zuvor eine Mehrheit der Bücher gedruckt, zumal viele der Autoren zu den Vereinsmitgliedern gehörten, mit der Ausweitung des ukrainischen Schulwesens in den beiden folgenden Dezennien gewann dieser Auftrag jedoch stets an Bedeutung – und das Budget durch die Regelmäßigkeit dieser Einkünfte planbarer. Darüber hinaus bildeten regelmäßige Subventionen, die der galizische Landtag (seit 1894) und das Ministerium für Cultus und Unterricht (seit 1895) zahlten, die Grundlage für die Entfaltung wissenschaftlicher Periodika.23 Die Einrichtung eines Lehrstuhls für ‚Allgemeine Geschichte unter besonderer Berücksichtigung Osteuropas‘ an der Universität Lemberg geht ebenfalls auf Barvins’kyjs politische Initiative und die Nova era zurück. Der hierfür angedachte Kandidat Antonovycˇ lehnte ab und schlug stattdessen seinen Schüler Mychajlo Hrusˇevs’kyj vor, der diese Position 1894 übernahm und als Lehrstuhl für ukrainische Geschichte interpretierte. Seit 1895 redigierte er die Mitteilungen (Zapysky Naukovoho Tovarystva im. Sˇevcˇenka) der Gesellschaft, ihre wichtigste Zeitschrift. In dieser Funktion konnte er ihre Erscheinungsrate sowie ihre wissenschaftliche Qualität in den Augen der Zeitgenossen deutlich erhöhen. Überdies setzte er sich seit 1894 für die Mitgliedschaft Ivan Frankos im Verein ein, der rasch zu einem der produktivsten Forscher und Herausgeber avancierte. Als Präsident der Gesellschaft (1897–1913) trug Hrusˇevs’kyj durch sein Organisationstalent zur Vervielfachung der wissenschaftlichen Veröffentlichungen bei, insbesondere fachspezifischer Journale, darunter solcher zur Ethnographie, Ethnologie und Anthropologie sowie zur Geschichte. Wichtige Funktionen nahmen dabei auch Franko – dem der Beitritt nicht nur erlaubt wurde, sondern der auch rasch zum Vorstandsmitglied avancierte – und der Sekretär Volodymyr Hnatjuk (1871–1926) ein, die mehrere Zeitschriften redigierten, selbst zahlreiche Beiträge verfassten und die Alltagsgeschäfte des Vereins regelten.24 Hrusˇevs’kyj agierte als ‚bevollmächtigter Vertreter‘ der Vereinsmitglieder aus der russländischen Ukraine, die an den üblichen Sitzungen und Generalversammlungen durch ihre Distanz nicht teilnehmen konnten, aber den Verein durch finanzielle, wissenschaftliche oder organisatorische Arbeiten unterstüt21 Zur Diskussion dessen vgl. Zajceva 2006; Romaniv 2001. 22 Schreiben der Statthalterei an den Ausschuss der Sˇevcˇenko-Gesellschaft, Oktober 1892, LNNB VR, fond Barv., spr. 3674; Denkschrift an die Reichsratsabgeordneten in Sachen der Sicherung der Sˇevcˇenko-Gesellschaft der Wissenschaften, 1907, CDIAL, fond 309, op. 1, spr. 51, ark. 1–10. 23 Zum ukrainischsprachigen Schulwesen vgl. Pacholkiv 2002; zum Schulbuchdruck zwischen 1874 und 1892 vgl. Hofeneder 2009, S. 44–45. 24 Zajceva 2006, S. 129–180.
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zen.25 Ihr Vertrauen hatte damit einen klaren individuellen Bezugspunkt, der vor allem ab 1905 auch regelmäßig in Kiew weilte und den sie brieflich adressieren konnten. Durch diese erfolgreiche Transformation überzeugte der junge Vereinspräsident wiederum zuvor noch skeptische Anhänger der ukrainischen Nationalbewegung,26 so dass die Periodika an Beitragenden und die Gesellschaft an Spendern sowie Mitarbeitern gewann. Sie galten als Beleg für die positive Entwicklung des Vereins – entsprechend der ursprünglich angedachten Mission. Davon war besonders Konys’kyj überzeugt, der der Gesellschaft seine Bibliothek vererbte, die vornehmlich aus ukrainischen Raritäten bestand.27 In der russländischen Ukraine war dieses Prestige und das damit einhergehende Vertrauen ganz besonders an die Person Hrusˇevs’kyjs gebunden,28 was vor allem in der älteren Generation auch durch die Netzwerke Konys’kyjs und Antonovycˇs bedingt war.
3.
Vereinssubventionen
Auch wenn Hrusˇevs’kyj zur Berufung an die Lemberger Universität als politisch unbedenklich gegolten haben muss, interpretierte er seine Tätigkeit – und seine Anwesenheit überhaupt – als eine nationale Mission.29 Dies ist als wesentlicher Unterschied zu dem aus Überzeugung staatsloyalen Barvins’kyj zu sehen. Hrusˇevs’kyj wusste sich allerdings geschickt zu gebaren, wenn es darum ging, Vereinsförderungen zu beantragen. Das betrifft einerseits die Selbstinszenierung als politisch unbedenkliche Wissenschaftsorganisation – auch dies ist als eine Form von Vertrauen (in die Loyalität des Vereins) seitens des Staats und des Landtags zu deuten – in Zeiten zunehmender Proteste um die Lemberger Universität.30 Anderseits ist die staatsloyale Selbstbeschreibung in den deutschsprachigen Förderanträgen, die das Ministerium für Cultus und Unterricht erhielt, kaum zu übersehen. Diese ‚Antragslyrik‘ manifestierte sich nicht nur durch die nominelle Abstinenz von politisch heiklen Themen, sondern auch durch die sprachliche Gestaltung der Förderungsanträge. Als Beispiel hierfür darf ein gedrucktes Memorandum gelten, das der Verein 1907 in zweisprachiger Ausfertigung vorlegte.31 25 26 27 28 29 30 31
ˇ ykalenko 2011, S. 299. C Voznjak 1929. Pan’kova 2011. Vgl. Vynar 2003 und die Zusatzmaterialien in Hrusˇevs’kyj (Hg.) 2003. Hrusˇevs’kyj 1926, S. 7–8. Rohde 2019b. Denkschrift an die Reichsratsabgeordneten in Sachen der Sicherung der Sˇevcˇenko-Gesellschaft der Wissenschaften in Lemberg, CDIAL fond 309, op. 1, spr. 51. Nachweise nachfolgend in Klammern.
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Laut ukrainischer Fassung kam die Gründung des Vereins „durch die Initiative russländischer Ukrainer“ (Za injicijatyvoju rosijs’kych Ukrajincjiv, ark. 1zv.) zustande, während die deutsche Variante eine „privat[e] Initiative einiger Patrioten“ (ark. 2) apostrophierte, deren geographische Verortung ungenannt blieb. Der ukrainische Text unterstrich mit Selbstverständlichkeit die Relevanz der Organisation „für das ukrainische Volk“ (dlja ukrajins’koho naroda, ark. 2zv), der deutsche hingegen berief sich ausschließlich auf „Ruthenen“ (ark. 2), obgleich die später aufgelisteten Zeitschriften des Vereins bereits ‚Ukraine‘ und ‚ukrainisch‘ oder ‚ukrainisch-ruthenisch‘ (ark. 4) im Titel nutzten. Die scheinbare Parallelausgabe bezeugt damit Abweichungen von strategischer Relevanz. Russländisch-ukrainische Mäzene hätten angesichts einer Rückkehr zum älteren Ethnonym ‚rus’kyj‘ (ruthenisch) oder ihrer Abstinenz in der Gründungsgeschichte des Vereins sicherlich befremdet reagiert. Politische Akteure in der Habsburgermonarchie hätten die staatsloyale Haltung hingegen kaum als solche interpretiert, wenn der Verein die im Staat übliche Bezeichnung ‚ruthenisch‘ abgelehnt hätte. Politische Ambitionen zur Änderung des Ethnonyms für den offiziellen Gebrauch in der Habsburgermonarchie sind erst während des Ersten Weltkriegs aufgetaucht, als die ukrainische Nationalbewegung aufgrund ihrer strategischen Relevanz an entscheidendem Momentum gewonnen hatte.32 Insgesamt belegen die folgenden Zahlen den Erfolg der Bemühungen um die Subventionen: Jahr 1895 1899
Galizischer Landtag 2.000 K 8.000 K
1911 17.000 K Tabelle 1: Vereinssubventionen33
Subventionen in Kronen Ministerium für Cultus und Unterricht 2.000 K 6.000 K 20.000 K
Vor allem der drastische Anstieg der Subventionen des Ministeriums, die zwischen 1899 und 1907 dauerhaft bei einer Förderungssumme in Höhe von 6.000 Kronen mit gelegentlichen Sonderzahlungen verharrten, ist auf das oben beschriebene Memorandum zurückzuführen. Die Statthalterei hatte üblicherweise ihre Meinung zu vorgelegten Förderanträgen zu bekunden, die sich in der Regel mit der Sinnhaftigkeit der beantragten Summen sowie Förderzwecke und der 32 Bihl 1966. 33 Denkschrift an die Reichsratsabgeordneten in Sachen der Sicherung der Sˇevcˇenko-Gesellschaft der Wissenschaften, 1907, CDIAL, fond 309, op. 1, spr. 51, ark. 6; Chronika Nr. 49 (1912), S. 2; Schreiben der Statthalterei vom 13. Januar 1911, CDIAL, fond 309, op. 1, spr. 61, ark. 1; Schreiben der Statthalterei vom 13. Juli 1911, CDIAL, fond 309, op. 1, spr. 61, ark. 5.
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politischen Unbedenklichkeit des jeweiligen Vereins und seiner Vorhaben zu befassen hatten.34 Die Statthalterei legte dem Ministerium lediglich Empfehlungen vor, das Ministerium war aber wiederum seinerseits von den Informationen der Statthalterei über lokale Verhältnisse abhängig, dementsprechend kam der Statthalterei eine Schlüsselfunktion zu. Zumal keine Hinweise darauf vorliegen, dass das Ministerium sonstige Erkundigungen verlangt hätte, schloss es sich den Einschätzungen der Regionalverwaltung zumeist an. Subventionen machten üblicherweise nur rund ein knappes Drittel des üblichen Jahresbudgets aus.35 Die Druckerei, insbesondere gefördert durch den Schulbuchdruck, stellte neben unregelmäßigen Zuwendungen von Mäzenen das zweite Standbein des Vereins dar. Die regelmäßige staatliche Unterstützung darf jedoch nicht geringgeschätzt werden, zumal sie erlaubte, die Publikationen zu verstetigen, die dadurch eine feste Institution der nationalen und internationalen Forschung und Forschungskommunikation werden konnten. Jahre Zweck Publikationen Administration
1899 28.000 K 3.620 K
1911 54.100 K 27.000 K
wiss. Reisen Stipendien
600 K 600 K
2.800 K 3.000 K
gesamt 32.820 K Tabelle 2: Vereinsausgaben im Vergleich36
86.900 K
Die Finanzierung der zahlreichen Aktivitäten blieb ein konstantes Problem der Gesellschaft, auch wenn sich die Subventionen zwischen 1899 und 1911 mehr als verdreifachten. Die wachsende Anzahl von Projekten, die durch sie getragen werden sollten, fielen besonders ins Gewicht. Dazu gehörten auch der Ausbau der Vereinsbibliothek und das Museum, die oben unter Administrationskosten aufgeführt sind. Im beliebten Vergleich mit der Krakauer Akademie bewertete Zenon Kuzelja (1882–1952) die verfügbaren Gelder als „lächerlich klein“37, zumal die Subventionen der Krakauer Akademie im Jahr 1903 mehr als drei Mal so hoch ausgefallen wären. Dieser selbstgewählte Maßstab diente als politisches Argument, angelehnt an die Intention, den Verein selbst in eine Akademie auszubauen. So beantragte der Ausschuss wiederholt beim Unterrichtsministerium 34 Vgl. exemplarisch Statthalter für Galizien an das Ministerium, Eingang am 25. Mai 1909, AVA Unterricht UM allgemein, Zahl 21.923, 1909. Siehe auch Fn. 53. 35 Denkschrift an die Reichsratsabgeordneten in Sachen der Sicherung der Sˇevcˇenko-Gesellschaft der Wissenschaften, 1907, CDIAL, fond 309, op. 1, spr. 51, ark. 6. 36 Hnatjuk 1984, S. 78. 37 Kuziela 1906, S. 59.
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nicht nur die Erhöhung, sondern auch die Verstetigung ihrer Subventionen im Staatsbudget, um größere Stabilität zu gewährleisten.38 Während diesem Vorgehen nie zugestimmt wurde, flossen die Subventionen mit wenigen Ausnahmen dennoch kontinuierlich, wobei die Beträge sich nicht verringerten, sondern in Abständen weniger Jahre erhöhten. Durch seinen maßgeblichen Einfluss auf Verwendung dieser Gelder werden letztlich Hrusˇevs’kyjs Befugnisse bei der Steuerung der Aktivitäten der Sˇevcˇenko-Gesellschaft augenscheinlich, zumal er Vorhaben und Personen, die nicht in sein Konzept ukrainischer Wissenschaft passten, marginalisieren konnte. Gleichsam bedeutete diese Verwendung von Staatsgeldern auch Kritik seitens ukrainischer politischer Akteure.39 Die Verwendung privater Zuwendungen war allerdings ein bisweilen noch heikleres Thema, wie im Folgenden gezeigt wird.
4.
Gebäude und Mäzene
Der St. Petersburger Chirurg Pavlo Pelechin (1842–1917) vermachte der Sˇevcˇenko-Gesellschaft im Jahr 1897 eine Summe von rund 90.000 Kronen. Dieses von seinem Vater geerbte Vermögen sollte der Errichtung einer eigenständigen, ausschließlich ukrainischen Universität zukommen; die Verwendung für eine „gemischte“ polnisch- oder russisch-ukrainische Institution wurde explizit untersagt. Ein Teil des Geldes sollte dabei der Einrichtung einer philologischen Fakultät, ein anderer eines Lehrstuhls für Chirurgie – benannt nach dem Spender – zufließen. Im Postskriptum betonte der Spender nochmal eindeutig, das Geld dürfe „ausschließlich“ der umschriebenen und „keiner anderen Angelegenheit“ zufließen.40 Er sah sich persönlich nicht in der Lage, das Geld diesem Ziel anderweitig zuzuführen und erachtete die reformierte Sˇevcˇenko-Gesellschaft als bestmögliche Grundlage dafür; ein klarer Beleg für das Vertrauen, das die ukrainisch-nationale community des Zarenreiches in den jungen Vereinspräsidenten setzte. Der Verein sollte die Gelder zunächst anlegen und Stipendien an junge Wissenschaftler aus den sich ergebenden Spenden vergeben. Der Vereinsausschuss verwendete das Geld jedoch für den Kauf eines Gebäudes, das zu ihrem Hauptsitz werden sollte. Dies begründete sie in einem im Vereinsorgan 38 Denkschrift an die Reichsratsabgeordneten in Sachen der Sicherung der Sˇevcˇenko-Gesellschaft der Wissenschaften, 1907, CDIAL, fond 309, op. 1, spr. 51, ark. 1–10. Dieses Dokument ist im Kontext der Finanzkrise zu sehen, die der Neubau des akademicˇnyj dim verursachte (s. u.). 39 Vgl. die Polemiken mit Journalisten, die u. a. zur Ukrainischen National-Demokratischen Partei gehörten. Franko 1905; Zubryc’kyj 1905. 40 Brief von Pelechin u. a. an Mychajlo Hrusˇevs’kyj, 17. 10. 1897, CDIAL fond 309, op. 1, spr. 541, ark. 2–3, Zitat ark 3.
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abgedruckten Rechenschaftsbericht damit, dass die Universität nicht ad hoc zu realisieren wäre und bekundete die Hoffnung, die angelegten Gelder mögen „schnellstmöglich diesem edelmütigen Ziel“41 dienen.
ˇ arnec’kyj-Straße 26 (heute: Vul. VynAbb. 1: Zentrum des Vereinslebens – das Haus in der C nycˇenka 26)42
Pelechin – und später, auch seinem Rechtsanwalt Serhij Sˇeluchin (1864–1938) – wurde über diese Umwidmung sowie den sonstigen Stand des Vermögens kaum Bericht erstattet. Sˇeluchin publizierte über die Problematik sogar in einer Tageszeitung mit der Absicht, um an Informationen zu kommen, die ihm seitens der Opposition Hrusˇevs’kyjs auch zugespielt wurden. Bei einer darauffolgenden Visite stellte er fest, dass aus dem Vermögen neben dem Gebäude auch einige wissenschaftliche Werke finanziert wurden.43 Sˇeluchin verfolgte diese Angelegenheit auch nach dem Tod Pelechins, denn durch die Widmung der Spende sei daraus „eine Sache nicht allein Pelechins, sondern eine gesellschaftliche“44 Angelegenheit geworden. Pelechin hatte der Sˇevcˇenko-Gesellschaft testamentarisch eine noch beträchtlichere Spende aus seiner Erbschaft in Aussicht gestellt. Die bisherigen Vorgänge hatten aber offenbar noch zu Lebzeiten Misstrauen geweckt, so dass Pelechin Sˇeluchin beauftragte, das Geld zu verwalten und vorher ge41 Hrusˇevs’kyj 1899, S. 4. 42 Chronik der Sˇevcˇenko-Gesellschaft derWissenschaften I (1900), S. 16. Herbert Justnik sei für das Digitalisat dieses Bildes herzlich gedankt! 43 Brief von S. P. Sˇeluchin, 15. 07. 1933, CDIAL fond 309, op. 1, spr. 541, ark. 55–63, hier 56–57. 44 Ebd., ark. 59.
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nauere Erkundigungen über den Verbleib der bisherigen Spenden einzuholen.45 Zumal Sˇeluchin eine nicht-widmungsgemäße Nutzung der Gelder feststellte, versagte er dem Verein die weitere finanzielle Zuwendung. Ein Teil der Problematik ist sicher auf mangelhafte Kommunikation und Personalwechsel innerhalb der Sˇevcˇenko-Gesellschaft zurückzuführen; Stipendien wurden entgegen eines der Vorwürfe zumindest zwischen 1898 und 1900 ausbezahlt.46 Die physische Distanz zwischen dem Mäzenen und dem Verein sowie die Kommunikation durch Dritte waren für den entstandenen Konflikt mitverantwortlich. Statt eines offenen Austauschs über die Vereinsfinanzen aber musste sich der Anwalt letztlich selbst Informationen aus der publizierten Chronik der Gesellschaft suchen, die diese Daten jedoch nur selektiv preisgab.47 Der Vertrauensmissbrauch hatte gewichtige Folgen, einerseits hinsichtlich weiterer Förderungen, andererseits hinsichtlich gewünschter Unterstützung der Freien Ukrainischen Universität in Prag in der Zwischenkriegszeit, denn Sˇeluchin, der selbst anfangs zu ihrem Lehrkörper gehörte,48 verlangte, dass ihr die zum Fond gehörenden Gelder zukommen sollten.49 Der Ausschuss der SˇevcˇenkoGesellschaft lehnte dies ab und verwies darauf, dass dies nicht aus den Dokumenten Pelechins hervorginge. Damit endet die (erhaltene) Korrespondenz, das Geld schien keine der beiden Organisationen erhalten zu haben.50 Auf einer späteren Versammlung der Sˇevcˇenko-Gesellschaft beantragten einzelne Personen einen Fond zur Förderung der akademischen Jugend im Namen der wichˇ ykalenkos – zu gründen, oftigsten Vereinsmäzene – Pelechins und Jevhen C fenbar setzte der Verein diesen Plan jedoch nicht um.51 Ob die Problematik auch unter weiteren potentiellen Mäzenen bekannt wurde, kann aus den vorliegenden Quellen nicht ermittelt werden. Fest steht allerdings, dass die Gesellschaft auf einer Sitzung 1907 bemängelte, dass seit längerem keine neuen Spendenfonds mehr angelegt würden, was sie allerdings auf die mangelnde Popularität wissenschaftlicher Arbeit unter Ukrainerinnen und Ukrainer zurückführte.52 Durch die dichte Kommunikation der quantitativ kleinen ukrainischen Netzwerke kann durchaus davon ausgegangen werden, dass andere potentielle Mäzene von der Geschichte um Pelechin erfuhren.
45 46 47 48 49 50 51 52
Ebd., ark. 58. Rechnungsbuch des Pelechin-Fonds, CDIAL fond 309, op. 1, spr. 542. Abschriften aus der Chronik, CDIAL fond 309, op. 1, spr. 541, ark. 80. Kopie des Schreibens an die Polizei-Direktion in Wien [1921], CDAVO, fond 3859c, op. 1, spr. 139, ark. 14. Brief von S. P. Sˇeluchin, 15. 07. 1933, CDIAL fond 309, op. 1, spr. 541, ark. 55–63, hier ark. 61– 63. Brief an S. P. Sˇeluchin, 12. 01. 1935, CDIAL fond 309, op. 1, spr. 541, ark. 79. Chronika Nr. 73 (1937), S. 9. Chronika Nr. 37 (1909), S. 7.
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Das zweite Gebäude der Gesellschaft, den akademicˇnyj dim („akademisches Haus“), ließ diese mithilfe von Spendengeldern errichten, die sie seit Ende des Jahres 1902 sammelte. Das Bauprojekt sollte die Unterbringungen diverser Vereinsinstitutionen ermöglichen, aber primär ein Wohnheim für mittellose Studierende darstellen. Das Komitee des Projekts bestand neben Ivan Franko ˇ ykalenko, einem Mäzen aus Kiew, der regelmäßig und Hrusˇevs’kyj aus Jevhen C weitere Projekte des Vorsitzenden finanziell und organisatorisch unterstützte.53 Er brachte selbst die größte Einzelspende auf und nutzte seine persönlichen Kontakte, um weitere Summen einzuwerben. Daran knüpfte er die Bedingung, dass auch russländische ukrainische Studierende im zu errichtenden Haus aufgenommen werden sollten. Die Spendengelder genügten jedoch nicht. Für die ˇ ykalenkos Position ausschlaggedennoch rasche Umsetzung des Projekts war C bend, der argumentierte, weitere Gelder würden schon fließen, sobald man mit dem Bau begonnen hätte.54 Insgesamt ist der größte Teil des eingegangenen Geldes von russländischen Ukrainerinnen und Ukrainern gespendet worden,55 die darauf vertrauten, Emigranten dürften während des Studiums hier wohnen. In Galizien erweckte das Haus offenbar weniger Interesse, zumal hier die für Spenden ausreichend wohlhabenden Personen ohnehin weniger Schwierigkeiten hatten, ihren Kindern eine Unterkunft für das Studium zu finanzieren. Der Neubau stürzte die Sˇevcˇenko-Gesellschaft damit in eine größere Finanzkrise, die sie nicht überwinden konnte. Weitere lokale Spendenaufrufe konnten kleinere Beträge einwerben, aber nicht einmal die laufenden Kosten decken, während der gemeinnützige Zweck des Wohnheims nicht erlaubte, Einnahmen zu generieren.56 Bestrebungen, den akademicˇnyj dim als gemeinnützig von Steuern befreien zu lassen oder Förderung vom Unterrichtsministerium zu erhalten, blieben erfolglos, so dass der Ausschuss keinen anderen Ausweg sah, als das Haus zeitweise als Lokalität für die Bibliothek und das Museum zu nutzen.57 Das Haus fungierte primär als Wohnheim, die ersten Einwohner zogen Ende des Jahres 1906 ein,58 darunter auch politische Emigranten aus dem Zarenreich. Es unterstützte die Herausbildung einer scientific community, zumal viele dieser Emigranten sich der Sˇevcˇenko-Gesellschaft an-
53 54 55 56 57
Starovojtenko 2009. Lystuvannja Mychajla Hrusˇevs’koho 2010, S. 44–58. Ausschreibung zum akademicˇnyj dim 1904, DALO, fond 292, op. 1 spr. 5. Dilo 1906, Nr. 199, S. 3; Nr. 200, S. 3. Siehe dazu unten, zum Anbau des neuen Gebäudes. Die Motivation des Ministeriums, ein Gebäude zu finanzieren, das vorherige jedoch nicht, kann aufgrund zahlreicher Skartierung relevanten Materials nicht nachvollzogen werden. 58 Einwohnerlisten des akademicˇnyj dim 1906, DALO, fond 292, op. 1 spr. 8.
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schlossen und beispielsweise in der Verwaltung des Museums oder der Bibliothek zu arbeiten begannen.59 Um die Ausgliederung der eigenen Institutionen aus dem akademicˇnyj dim zu ermöglichen, forcierte die Vereinsleitung den Kauf des Nebengebäudes ihres Hauptsitzes, zu dem sie schon seit einigen Jahren Gespräche mit der Eigentümerin führte, die sich zunächst jedoch weigerte, an Ukrainer zu verkaufen. Zu diesem Zweck beantragte die Sˇevcˇenko-Gesellschaft 1911 Gelder beim Unterrichtsministerium,60 wobei sie die ausdrückliche Befürwortung des galizischen Statthalters erhielt, der einige andere Förderungswünsche ablehnte. Gerade angesichts der Höhe der Summe wird deutlich, dass das Vertrauen der Regierung vor allem der Statthalterei und ihrer Einschätzung galt, weniger dem Verein selbst. Im Folgejahr ist der Sˇevcˇenko-Gesellschaft die Summe von 150.000 Kronen auch zugesprochen worden, die restlichen 250.000 Kronen, die zum Kauf und Umbau benötigt wurden, brachte der Mäzen Vasyl’ Symyrenko (1835–1915) als Leihgabe auf.61 Offenbar musste das Geld nach dessen Tod nicht zurückgezahlt werden. Den Umbau hatte die Gesellschaft durch einen weiteren Bankkredit zu finanzieren.62 Diese drei Gebäude bildeten die Grundlage für verschiedene Aspekte der Vereinstätigkeit, sowohl in der galizischen Periode als auch in der Zwischenkriegszeit. Die wissenschaftliche Publikationstätigkeit wäre nicht parallel zu diesen Bauprojekten möglich gewesen, hätten die staatlichen Subventionen und Druckaufträge nicht die finanzielle Kontinuität gewährleistet. Gleichzeitig trugen die Einnahmen aus der Vermietung von Räumlichkeiten an Privatpersonen zum Vereinsbudget bei.63
5.
Erster Weltkrieg und frühe Zwischenkriegszeit
Große Teile der Vereinsleitung flüchteten vor der russischen Invasion Lembergs nach Wien und organisierten von dort aus ihre Tätigkeit. Nach dem Abzug der Armee kehrten einige von ihnen zurück und konnten sich nur um die Eindämmung der Schäden bemühen. Besonders der akademicˇnyj dim war schwer in Mitleidenschaft gezogen. Nicht nur die österreichische Armee errichtete darin einen Stützpunkt, vor allem die russländische Besatzungsmacht beschädigte die Innenräume. Ein Kostenvoranschlag schätzte die Reparaturkosten auf knapp 59 Beskyd 1962. 60 Statthalterei Galizien an das Ministerium, 16. 11. 1911, AVA Unterricht UM allgemein, Zahl 49533, 1911. 61 Chronika Nr. 57 (1914), S. 3; Kupcˇyns’kyj 2014. 62 Dazu die Finanzberichte, Fn. 61. 63 Vgl. die entsprechenden Bücher, CDIAL, fond 309, op. 1, spr. 562.
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40.000 K, wobei die Bibliothek offenbar am schwersten betroffen war.64 Der Verein konnte die Summe angesichts weiterer Schäden und ausgefallener Einkünfte in den Kriegsjahren nicht leisten. Das Frauengymnasium des Basilianerinnenordens durfte nach Kriegsende diverse Räume für einige Jahre nutzen und übernahm dafür die Renovierungskosten,65 ansonsten fungierte das Haus weiterhin als Wohnheim. Einige Vereinseinrichtungen wurden noch 1914 in die Hauptgebäude verlegt, doch befanden sich die Sammlungen des Museums, der Bibliothek und der Kanzlei des Vereins noch teilweise in der Supins’kyj-Gasse. Bei den Verwüstungen sind deshalb neben wichtigen Unterlagen der Vereinskanzlei auch seltene Objekte aus der ethnographischen und Dokumente aus der Folkloresammlung verloren gegangen.66 Die Hauptgebäude wurden zwar durch den Krieg nicht in Mitleidenschaft gezogen, konnten währenddessen aber auch nicht gepflegt werden und hatten deutlichen Renovierungsbedarf.67 Die Tätigkeit der Gesellschaft beschränkte sich damit in diesem Zeitraum primär auf die Eindämmung von Schäden, während viele ihrer Mitglieder im Kriegsdienst, in Gefangenschaft oder in anderen Institutionen tätig waren. Im polnischen Staat erhielt die Sˇevcˇenko-Gesellschaft geringere und unregelmäßigere Subventionen, aus Warschau sowie von der Stadt Lwów, hatte aber weiterhin Kredite aus der Vorkriegszeit zu bedienen. Nicht nur durch die Kriegsschäden, sondern vor allem durch das Ausbleiben der kontinuierlichen Staatssubventionen, mit denen die Vereinsleitung bis dahin fest kalkulierte, wurde die Erhaltung bestehender Gebäude zur materiellen Herausforderung. Kleinere, regelmäßigere Spenden von Privatpersonen und ukrainische Institutionen waren deshalb zunehmend relevant für die Sicherung der Gesellschaft. Zu erklären sind diese wiederum nur durch das Prestige und das Vertrauen, das sich der Verein – nun ohne den langjährigen Präsidenten, der seinen Posten nach einem Zerwürfnis im Jahr 1913 aufgab – in den vergangenen Dezennien erarbeitet hatte. Kleinere Einnahmen durch die nunmehr zwei Museen, die Bibliothek und die Vermietung von Räumlichkeiten in den existierenden Gebäuden trugen dazu bei, dass sich die Gesellschaft überhaupt erhalten konnte. Das bedeutete gleichsam, dass ihre Publikationstätigkeit verglichen mit der Vorkriegszeit stark abnahm. Das geht wiederum auch mit der Verlagerung einiger Akzente der Vereinstätigkeit einher, insbesondere dem Ausbau der beiden Museen und ihrer Nutzung durch die ukrainische Öffentlichkeit wurde große 64 Kostenvoranschlag zur Reparatur des akademicˇnyj dim, 07. Februar 1917, CDIAL, fond 309, op. 1, spr. 490, ark. 1–8zv, hier 7–7zv, 8zv. 65 Chronika Nr. 60–62 (1918), S. 5. 66 Volodymyr Hnatjuk an Mychajlo Hrusˇevs’kyj, Dezember 1925, Nacional’na biblioteka Ukrajiny imeni V. I. Vernads’koho, Instytut rukopysu – IR NBUV, fond X, spr. 17175, ark. 6–9. 67 Ebd., S. 4.
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Aufmerksamkeit gewidmet.68 Kulturelles sowie das in Immobilien angelegte Kapitel, beides zurückzuführen auf Hrusˇevs’kyjs Präsidentschaft sowie die weiteren diskutierten Subventionen und Rahmenbedingungen, die seine Tätigkeit im Habsburgerreich förderten, ermöglichten dem Verein seinen Fortbestand in einer ihm deutlich weniger wohlgesonnen Umgebung.
6.
Résumé
Vertrauen war für diverse Aspekte vor allem finanzieller Unterstützung ausschlaggebend und wurde nach einer ersten wissenschaftlich produktiven Phase durch erarbeitetes Prestige gestützt. Gerade aus Perspektive russländischer Mäzene bedeutete das, dass das Vertrauen nicht mehr nur auf einer räumlichpolitischen Komponente und dem Einfluss Konys’kyjs beruhte, sondern dem Präsidenten der Gesellschaft, Hrusˇevs’kyj, galt. Nicht zuletzt deshalb ist seine Sicht auf Galizien als ‚ukrainisches Piemont‘ einflussreich gewesen und in der Historiographie auch bis heute geblieben. Transimperiale Kooperation und die Vermittlungsarbeit, die Antonovycˇ, Barvins’kyj und Konys’kyj leisteten, waren für die Vereinsreform, die Einrichtung von Hrusˇevs’kyjs späterem Lehrstuhl und die beginnenden Subventionen verantwortlich. Die wissenschaftlich besonders fruchtbare Phase der Vereinsgeschichte im frühen 20. Jahrhundert im Speziellen, aber auch die Entfaltung und Diversifizierung der ukrainischen Nationalbewegung in Galizien im Allgemeinen bauten auf diesem Fundament. Nachdrücklich ist auf das Zusammenspiel der umrissenen Faktoren für die erfolgreiche Tätigkeit der Sˇevcˇenko-Gesellschaft in vielen Bereichen hinzuweisen. In diesem Sinne sind Klassifizierungen als „kulturell-politisches Projekt M. Hrusˇevs’kyjs“69, als (ausschließlich) galizisches Erbe oder die Überbetonung der Rolle der russländischen Initiatoren zu einseitig. In diesem Rahmen konnte ich nicht auf die breite Masse der Mitglieder und Unterstützer eingehen, zu denen nicht zuletzt aktive Amateurwissenschaftler zählten. Die unbezahlte Tätigkeit von Freiwilligen, die aus altruistischen Motiven zur Agenda der SˇevcˇenkoGesellschaft beitrugen, sind als zentraler Faktor der frühen Vereinsgeschichte hervorzuheben. Auch wechselseitige Ergänzungen durch Kooperationen mit ukrainischen Vereinen in der Habsburgermonarchie sind in weiteren Forschungen zu berücksichtigen.70 Konflikte zwischen unterschiedlichen Fraktionen wurden hier nur gestreift und fordern weitere, systematische Analysen, mit denen letztlich das nationale Narrativ einhelliger Erfolgsgeschichten in diversen 68 Chronika Nr. 65–66 (1922), S. 92–113; Nr. 69–70 (1930), S. 49–64; Nr. 74 (1939), S. 27–29. 69 Hyrycˇ 2016. 70 Vgl. Rohde 2019a; Rohde 2019b.
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Kontexten zu relativieren wäre.71 Der Fortbestand des Vereins und das Ausmaß seiner Produktivität in der Zwischenkriegszeit waren in gegebener Form nur durch die in der galizischen Periode erarbeiteten Grundlagen möglich. Insofern ist sowohl diese Folgeperiode als auch das mit Hilfe der Staatsfinanzen institutionalisierte und disseminierte Wissen als galizische Erbschaft zu betrachten.
Literatur Archive Österreichisches Staatsarchiv, Allgemeines Verwaltungsarchiv, Ministerium für Cultus und Unterricht (AVA CUM). Central’nyj derzˇavnyj istorycˇnyj archiv Ukrajiny u m. L’vovi (CDIAL). Derzˇavnyj archiv l’vivs’koji oblasti (= DALO). L’vivs’ka nacional’na naukova biblioteka im. V. Stefanyka, Viddil rukopysiv (LNNB VR). Nacional’na biblioteka Ukrajiny imeni V. I. Vernads’koho, Instytut rukopysu, Kyjiv (IR NBUV).
Periodika Chronika Naukovoho tovarystva im. Sˇevcˇenka. L’viv. (= Chronika). Chronik der Sˇevcˇenko-Gesellschaft der Wissenschaften. Lemberg. Dilo. L’viv.
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71 Diese beginnen bei den zeitgenössischen Chronisten und setzen sich bis in die heutige wissenschaftliche Literatur nahtlos fort, vgl. exemplarisch Zajceva (2006), Voznjak (1929). Zajceva hat dies aus Perspektive der russländischen Initiation und der Vereinsleitung gegenüber ihrer Opposition geleistet. Letztere war jedoch nicht homogen und in unterschiedliche andere Verbände eingebunden; in diesem Zusammenhang sind ganz besonders auch Politiker zu berücksichtigen, die nicht oder nur marginal zum Verein gehörten.
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Galizische Erbschaften? Das ‚ukrainische Piemont‘ als transimperiales Projekt
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Michaela Oberreiter (Universität Wien)
Ostgalizien als „Schweiz des Ostens“: Das Verfassungsprojekt der westukrainischen Exilregierung von 1921
Abstract The subject of this article is the constitutional project submitted in April 1921 by the West Ukrainian government-in-exile, the Allied powers and the League of Nations. Firstly, I discuss the background and the history of the development of this legislative project. Then, I focus on the content of the individual provisions. In connection with the question of possible influences and models, there is also the question of the extent to which Switzerland was used as a concrete model for the future order in the so-called „Galician Republic“. At the end, I briefly outline the concept of „Switzerland of the East“ within the discourse of the successor states of Austria-Hungary in general and attempt to situate the concept of the West Ukrainian government-in-exile in this discourse. The focus here will not be on the overall Ukrainian perspective, but on the context of the disintegration of the Danube Monarchy and the West Ukrainian People’s Republic as one of its successor states. Keywords: Constitutional History, Government-in-Exile, League of Nations, Switzerland, Ukraine.
1.
Einleitung
Als im Herbst 1918 der Vielvölkerstaat Österreich-Ungarn zerfiel und auf seinem Gebiet verschiedene Nationalstaaten entstanden, erfasste dieser Prozess auch die Ukrainerinnen und Ukrainer Österreich-Ungarns: Einer dieser Nachfolgestaaten, wenn auch ein relativ kurzlebiger, war die Westukrainische Volksrepublik, die als ukrainischer Nationalstaat auf den ethnographisch ukrainischen Territorien der ehemaligen Habsburgermonarchie (Ostgalizien, Nordbukowina und Transkarpatien) ausgerufen wurde. Ihre Unabhängigkeit erlangte sie faktisch mit der ukrainischen Machtübernahme in Ostgalizien am 1. November 1918. Praktisch von Beginn seiner Existenz an hatte der neugeschaffene westukrainische Staat mit dem Problem zu kämpfen, dass auf die von ihm als Staatsterritorium beanspruchten Gebiete auch andere Staaten Anspruch erhoben. Über Transkarpatien konnte die Westukrainische Volksrepublik nie die faktische Kontrolle
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Michaela Oberreiter
erlangen. Auch der ukrainisch besiedelte Teil der Bukowina blieb nur kurz unter ukrainischer Herrschaft – bereits am 11. November besetzte Rumänien die gesamte Bukowina. Über Ostgalizien hingegen konnten die Ukrainer zunächst die effektive Kontrolle erlangen und mit dem Aufbau eines eigenen Staatsapparats beginnen. Zwischen November 1918 und April 1919 fand die Einrichtung einer provisorischen westukrainischen Staatsgewalt mit ihren obersten Staatsorganen und einer eigenen Verwaltungsstruktur statt, außerdem wurden erste Schritte zur Etablierung einer definitiven Verfassungsordnung gesetzt. Zudem wurde im Dezember 1918 und Januar 1919 der Prozess eines Zusammenschlusses mit der Ukrainischen Volksrepublik, die auf den vormals zum Russländischen Reich gehörenden ukrainischen Territorien entstanden war, begonnen.1 Jedoch erhob auch Polen Ansprüche auf Ostgalizien als künftigen Teil des wieder auferstandenen polnischen Staates, was in der Folge zum Ausbruch des Polnisch-Ukrainischen Krieges führte. Dieser dauerte von November 1918 bis Juli 1919 und endete mit einer Niederlage der Westukrainischen Volksrepublik.2 Der ukrainisch-polnische Konflikt und die Frage des zukünftigen staatsrechtlichen Status von Ostgalizien beschäftigten auch die Pariser Vorortekonferenz. Die Westukrainische Volksrepublik entsandte daher Delegierte auf die Friedenskonferenz, die dort ihre Interessen vertreten sollten. Zunächst waren die westukrainischen Delegierten zumindest formal in eine gesamtukrainische Delegation eingebunden, später formierte sich eine eigene westukrainische Delegation. Nach der Niederlage im Polnisch-Ukrainischen Krieg formierte sich eine westukrainische Exilregierung mit Sitz in Wien, die eine rege diplomatische Tätigkeit entfaltete und so den Kampf um die westukrainische Staatlichkeit auf diplomatischer Ebene fortsetzte.3 1 Zur Entstehung und Geschichte der Westukrainischen Volksrepublik siehe: Lytvyn/Naumenko 1995; Makarcˇuk 1997; Wehrhahn 2004; Rasevycˇ 2011, S. 181–200. In diesem Zusammenhang ist auch auf folgende Werke von Zeitgenossen zu verweisen: Levyc’kyj 1926; Lozyns’kyj 1922. Im Besonderen mit der Rechts- und Verfassungsgeschichte der WUVR beschäftigt sich: Tysˇcˇyk 2005. Näheres zum aufgrund substanzieller ideologischer und außenpolitischer Differenzen nicht spannungsfreien Verhältnis der beiden ukrainischen Republiken findet man z. B. in den Memoiren von Zeitgenossen: Mazepa 1942; Nazaruk 1920. 2 Zum polnisch-ukrainischen Krieg siehe z. B.: Kuchabsky 2009; Lytvyn/Naumenko 1995; Makarcˇuk 1997. Von der polnischen Literatur zu diesem Thema sei hier exemplarisch genannt: Klimecki 2014. 3 Die diplomatische Tätigkeit der WUVR wird behandelt bei: Dackiv 2010; Milow 2002. Die Verhandlungen über die Ostgalizienfrage bei der Pariser Friedenskonferenz fanden z. B. Eingang in: Lundgreen-Nielsen 1979. Anzuführen ist in diesem Zusammenhang auch dieses Werk eines Zeitgenossen, der selbst als westukrainischer Delegierter nach Paris entsandt wurde: Lozyns’kyj 1922. Als ein sehr umfangreiches mehrbändiges Werk, das sich mit verschiedenen Aspekten der WUVR auseinandersetzt (auch. Entstehung, staatsrechtlicher Aufbau etc.), den größten Raum aber der internationalen Problematik und damit der diplomatischen Tätigkeit dieses Staates einräumt, ist hier auch zu nennen: Stachiv 1958–1961.
Ostgalizien als „Schweiz des Ostens“
2.
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Hintergründe und Entstehungsgeschichte des Verfassungsprojekts
Der erste Schritt hin zu einem tiefgreifenden Umbau des Gefüges der westukrainischen Staatsorgane, der entscheidend für die Form der späteren Exilregierung sein sollte, wurde am 9. Juni 1919 mit der Einrichtung der sogenannten „Diktatur“ durchgeführt. Hierbei übertrugen der als kollektives Staatsoberhaupt fungierende „Ausschuss des Ukrainischen Nationalrates“ und die unter der Bezeichnung „Staatssekretariat“ firmierende Regierung ihre jeweiligen Kompetenzen auf Jevhen Petrusˇevycˇ4 als „bevollmächtigten Diktator“. Er vereinigte in diesem, wenn auch nur als temporär geplanten, System die gesamte zivile und militärische Macht in seinen Händen, die zuvor die Regierung und das Staatsoberhaupt ausgeübt hatten.5 Ihre endgültige Gestalt erlangte die westukrainische Exilregierung mit der Verordnung des Diktators vom 25. Juli 1920, mit der die Zahl der Regierungsmitglieder festgelegt und ihre Kompetenzen abgegrenzt wurden. Art. III §2 der VO legte vier Ressorts fest: 1) Auswärtige Angelegenheiten, 2) Finanzen, Handel und Industrie, 3) Presse- und Propagandawesen, 4) Innere Angelegenheiten, Justiz, Bildung, Kultusangelegenheiten, Landwirtschaft, Post- und Telegrafenwesen, Straßen und Öffentliche Arbeiten. Gemäß Art. III § 5 waren diese Ressorts durch den Diktator mit Bevollmächtigten zu besetzen, die in seinem Namen ihr Amt ausübten, in Einklang mit den bestehenden gesetzlichen Bestimmungen und den Instruktionen des Diktators. Im Gegensatz zu den vorigen Ministern („Staatssekretären“) hatten die Bevollmächtigten nicht das Recht, selbst Verordnungen oder allgemein gültige Beschlüsse zu erlassen. Dieses Recht hatte nur der Diktator selbst. Zur Regierung des Diktators gehörten außerdem nach Art. III §§ 2, 3 noch die Präsidialkanzlei und die Militärische Kanzlei, wobei letztere die Aufgaben eines Kriegsministeriums ausübte.6 Mit VO vom 1. August 1920 ernannte Petrusˇevycˇ folgende Bevollmächtigte: für Äußere Angelegenheiten Stepan Vytvyc’kyj, für Finanzen etc. Volodymyr Singalevycˇ, für Presse- und Propagandawesen Kost’ Levyc’kyj und für Innere Angelegenheiten etc. Osyp Hanincˇak. Leiter der Präsidialkanzlei
4 Jevhen Petrusˇevycˇ war eine der führenden Persönlichkeiten der Ukrainischen Nationaldemokratischen Partei, der er schon in deren Gründungsjahr 1899 beigetreten war. Bereits zu Zeiten der Habsburgermonarchie wurde er zu einer der politischen Leitfiguren der ostgalizischen Ukrainer. 1907 wurde er erstmals in den österreichischen Reichsrat gewählt, wo er ab 1916 Vorsitzender der Ukrainischen Parlamentarischen Vertretung wurde. In der Westukrainischen Volksrepublik war er Präsident des provisorischen Parlaments (des „Ukrainischen Nationalrats“). Zum Leben Jevhen Petrusˇevycˇs siehe: Lytvyn/Naumenko 2013, S. 244– 258. 5 CDAVOV Fond 2192, Opys 1, Sprava 1, ark. 13. 6 CDAVOV Fond 2192, Opys 2, Sprava 7, ark. 2f.
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Michaela Oberreiter
wurde Lev Petrusˇevycˇ, Leiter der Militärischen Kanzlei Jaroslav Selezinka. 1921 kam es zu einigen Veränderungen in der Zusammensetzung der Regierung: Kost’ Levyc’kyj wurde Bevollmächtigter für Äußere Angelegenheiten, für die Presseund Propagandaangelegenheiten war nun Osyp Nazaruk zuständig. Neuer Bevollmächtigter für Innere Angelegenheiten wurde Roman Perfec’kyj. Bis auf O. Nazaruk (Mitglied der Radikalen Partei) gehörten alle Bevollmächtigten der Ukrainischen Nationaldemokratischen Partei an.7 Die Ressortverteilung veranschaulicht deutlich die Rücksichtnahme auf die besondere Funktion einer Exilregierung, die die Kontrolle über das beanspruchte Territorium verloren hatte und sich nun darauf konzentrierte, auf internationaler Ebene die Anerkennung und Wiederherstellung der westukrainischen Staatlichkeit zu erreichen: der Schwerpunkt lag auf der Außenpolitik, Propaganda und Presse. Die Idee eines Verfassungsprojektes, das man den Alliierten vorlegen wollte, um diese für die eigene Sache günstig zu stimmen, wurde erstmals während der Sitzung der Exilregierung am 26. April 1921 diskutiert. Diktator Petrusˇevycˇ berichtete, erfahren zu haben, dass die Ostgalizienfrage kurz vor ihrer Lösung stehe. Vor diesem Hintergrund sei es notwendig, die Grundlagen einer provisorischen Verfassung auszuarbeiten, die allen Nationalitäten des Landes Teilhabe an der Staatsgewalt sichere. Kost’ Levyc’kyj gab an, dass man, um den polnischen diplomatischen Maßnahmen entgegenzuwirken, von westukrainischer Seite nun die Neutralisierung Ostgaliziens anstrebte. Das geplante Verfassungsprojekt hatte folgende Punkte zu regeln: 1) die Frage der Souveränität, 2) das Territorium, 3) die Nationalitätenfrage, 4) die republikanische Regierungsform, 5) das Parlament bzw. ob es ein Oberhaus geben solle (gemeint war wohl die Frage nach einem Ein- oder Zweikammersystem), 6) Präsident und Regierung, 7) Streitkräfte, 8) Übergangsbestimmungen. Auf der Grundlage dreier von verschiedenen Personen ausgearbeiteter Verfassungsprojekte wurden danach konkrete Bestimmungen des vorzulegenden Projekts diskutiert. Zu den Diskussionspunkten zählte auch der Staatsname, da der bisherige Name „Westukrainische Republik“ für den angestrebten neutralen Staat nicht beibehalten werden konnte. Man einigte sich schlussendlich auf „Galizische Republik“. Weitere Diskussionen entbrannten um die verfassungsrechtliche Stellung der unterschiedlichen Nationen im Staat sowie auch um das Staatsgebiet. So wurde darüber debattiert, ob die „Galizische Republik“ weiterhin alle ethnographisch ukrainischen Gebiete der ehemaligen Habsburgermonarchie für sich beanspruchen sollte, wie dies einer der Sitzungsteilnehmer befürwortete. Dagegen wurde argumentiert, dass auf internationaler Ebene von einem Verzicht der Westukrainer auf die Nordbukowina und Transkarpatien ausgegangen wurde. Bezüglich der verschiedenen
7 Lozyns’kyj 1922, S. 212, FN 1.
Ostgalizien als „Schweiz des Ostens“
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Völker des Staates wurde eine Differenzierung zwischen „Hauptnationalitäten“ und nationalen Minderheiten diskutiert und schließlich angenommen.8
3.
Die Schweiz als Vorbild für die zukünftige Ordnung
Im Zusammenhang mit der geplanten Neutralisierung Ostgaliziens ist es interessant darauf hinzuweisen, dass einer der Ersten, der diese Idee im öffentlichen Diskurs vertrat, ein Pole war: Ernest Theodor Breiter.9 E. T. Breiter (1865–1935) hatte jüdische Vorfahren10 und wurde in Dawidów (heute: Davydiv) bei Lemberg geboren. Nach philosophisch-historischen Studien an den Universitäten Lemberg, Krakau, Breslau, Leipzig, Berlin und Wien war er als Publizist und Redakteur tätig. Zunächst verfasste er historische Artikel und Broschüren, ab 1895 gab er die Wochenschrift „Monitor“ heraus, in der er sich als Verteidiger derjenigen darstellte, denen Unrecht geschehen war, und er prangerte Fehlverhalten von Behörden und Privatpersonen an. Seine Pressetätigkeit trug ihm, auch noch während seiner Politikerlaufbahn, zahlreiche gerichtliche Klagen und Verfahren ein. Gleichzeitig verschafften ihm seine scharfen Angriffe auf einflussreiche weltliche und geistliche Personen große Beliebtheit unter einem Teil der Bevölkerung. Von 1900 bis zum Ende der Habsburgermonarchie war er Mitglied des Abgeordnetenhauses des österreichischen Reichsrats, wohin er als Kandidat eines der Lemberger Wahlkreise gewählt wurde. Dort kritisierte er die Zustände in Galizien und das Verhalten der Landesbehörden. Breiter gehörte keiner Partei an und bezeichnete sich als „selbstständiger Sozialist“.11 Nach der Ausrufung der Westukrainischen Volksrepublik saß er als polnischer Abgeordneter im Ukrainischen Nationalrat und war damit der einzige Vertreter einer nationalen Minderheit.12 Nach der Besetzung Ostgaliziens durch Polen arbeitete er in Wien mit der Exilregierung Petrusˇevycˇs zusammen.13 Im April 1921 veröffentlichte Breiter den Aufruf „Do rodaków Wschodniej Galicji“ („An meine Landsleute in Ostgalizien“), dessen ukrainische Übersetzung am 23. April, also noch vor der bereits erwähnten Regierungssitzung, in der offiziellen Zeitung der westukrainischen Exilregierung „Ukraïns’kyj Prapor“ 8 CDIAL Fond 359, Opys 1, Sprava 16, ark. 75ff. 9 Vgl. die Ausführungen von Wehrhahn zu Ostgalizien als „Schweiz des Osten“, siehe: Wehrhahn 2004, S. 294ff. 10 Siehe seine Todesanzeige: Głos Narodu, 4. 12. 1935. Das biographische Handbuch des österreichischen Abgeordnetenhauses listet ihn als römisch-katholisch: Freund 1907, S. 505; Freund 1911, S. 435. 11 Lasocki 1936, S. 425; Freund 1911, S. 435. 12 Pavlysˇyn 2001, S. 41f., 127. 13 Lasocki 1936, S. 426. Er war z. B. Teil einer Delegation der westukrainischen Exilregierung an den Völkerbund. Siehe: Ukraïns’kyj Prapor, 4.12. 1920.
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unter dem Titel „Pol’s’kyj holos v spravi Schidnoï Halycˇyny“ („Eine polnische Stimme in der Angelegenheit Ostgaliziens“) publiziert wurde.14 Breiter forderte darin die Neutralisierung Ostgaliziens und führte dafür zwei Hauptargumente an. Erstens argumentierte er, dass ein unabhängiges, neutrales Ostgalizien auch im Interesse Polens sei, denn eines der größten Probleme Polens, das auch zu seinem zwischenzeitlichen Untergang geführt habe, sei sein Expansionsdrang nach Osten gewesen. Die daraus resultierenden ständigen Kämpfe hätten es verhindert, dass Polen sich in seinem Inneren zu einem starken staatlichen Organismus konsolidieren konnte. Ein weiteres Resultat sei eine feindliche Einstellung gegenüber Polen, die unter den im Zuge dieser Eroberungsfeldzüge unterworfenen Völkern, namentlich Litauern, Weißrussen und Ukrainern, verbreitet sei. Würde nun Ostgalizien, statt Teil des polnischen Staates zu werden, zu einem unabhängigen, neutralen Staat erklärt, könne Polen sich auf seine innere Konsolidierung und die Regelung der administrativen und wirtschaftlichen Verhältnisse im Staat konzentrieren. Auch das negative Bild Polens unter den Nachbarvölkern könnte so ein Ende finden und Polen mit diesen freundschaftliche diplomatische und wirtschaftliche Beziehungen aufbauen. Das zweite Argument Breiters war, dass eine Neutralisierung Ostgaliziens verhindern würde, dass das Gebiet weiterhin einen Zankapfel zwischen Polen und Russland darstellen würde, wie dies bisher der Fall gewesen war. Ein Ende der dauerhaften Konflikte aber sei notwendig, um der Bevölkerung, die in dem vom Krieg zerstörten Landstrich und unter der Willkürherrschaft der polnischen Besatzung schreckliche Not leide, endlich Frieden und die Möglichkeit zum wirtschaftlichen Wiederaufbau zu verschaffen. Als Lösung schlug Breiter die Einrichtung eines unabhängigen ostgalizischen Staates unter dem Protektorat des Völkerbundes vor, in dem allen Nationalitäten gleiche politische, kulturelle und religiöse Rechte eingeräumt wurden. Er wies darauf hin, dass Ostgalizien mit seinen natürlichen Reichtümern alle Voraussetzungen aufweise, um als selbstständiger Staat überleben zu können.15 Die Veröffentlichung dieses Aufrufs hatte für Breiter die Konsequenz, dass das Lemberger Kreisgericht in Strafsachen ihn wegen Störung der öffentlichen Ruhe steckbrieflich suchen ließ.16 In Breiters Aufruf findet sich auch bereits ein erster Verweis auf die Schweiz: „Denn dieses Stück Erde, das von seinen Ausmaßen die Schweiz übertrifft, besitzt alle nötigen Voraussetzungen für eine selbstständige staatliche Existenz und die
14 Ukraïns’kyj Prapor, 23. 4. 1921. 15 CDAVOV Fond 4440, Opys 1, Sprava 1, ark. 595ff. 16 Kurjer Lwowski, 13.1. 1922; in einem Antwortbrief Breiters war auch von einer Anklage wegen Landesverrat die Rede, siehe: Ukraïns’kyj Prapor, 4. 2. 1922.
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Sicherung des größtmöglichen Wohlstands für seine Bevölkerung.“17 Im Begleitartikel zur ukrainischen Publikation von Breiters Aufruf hieß es, eine Neutralisierung Ostgaliziens „[…] gibt schlussendlich nach langen Qualen und Misshandlungen die Grundlagen für alle Nationalitäten, die dieses Land bewohnen, für ein intensives Wirtschafts- und Kulturleben, mit einem Wort – schafft auf dem ostgalizischen Gebiet eine vollständige Schweiz.“18 Einige Monate, nachdem die westukrainische Exilregierung ihr Verfassungsprojekt den internationalen Akteuren vorgelegt hatte, erschien am 14. Januar 1922 im „Ukraïns’kyj Prapor“ ein Artikel mit dem Titel „Die politisch-geographischen Gemeinsamkeiten zwischen Ostgalizien und der Schweiz“ („Politycˇno-geograficˇni anal’ogiï mizˇ Halycˇynoju i Sˇvajcarijeju“), in dem die Schweiz ausdrücklich als Vorbild für die Ordnung im erhofften unabhängigen Ostgalizien bezeichnet wird. Darin wird zunächst ein kurzer Abriss der Geschichte der Schweiz und ihrer internationalen Bedeutung gegeben, bevor in mehreren Punkten Gemeinsamkeiten zwischen Ostgalizien und der Schweiz aufgezählt werden. Diese betreffen vor allem die geographische Lage: So wie die Schweiz an der Grenze zwischen Mittel- und Westeuropa liegt, liegt Ostgalizien an der Grenze zwischen Mittelund Osteuropa. Wie die Schweiz zur Aufrechterhaltung des politischen Gleichgewichts zwischen Deutschland einerseits und Frankreich und Italien andererseits beiträgt, könnte Ostgalizien dies bezüglich Polen und Rumänien auf der einen Seite sowie Russland und der Dnjepr-Ukraine auf der anderen Seite tun. Ihre geographische Lage macht sowohl die Schweiz als auch Ostgalizien zu natürlichen Vermittlern im internationalen Handel. Als Parallelen bezüglich der Bevölkerung werden einerseits die hauptsächlich bäuerliche Bevölkerung in beiden Ländern, andererseits deren multiethnische Zusammensetzung angeführt. In jedem der zwei Länder gibt es drei Hauptnationalitäten: in der Schweiz Deutsche, Franzosen und Italiener, in Ostgalizien Ukrainer, Polen und Juden. Der Unterschied, so der Artikel, liege vor allem darin, dass jede der drei Nationalitäten in der Schweiz ihr eigenes zusammenhängendes Siedlungsgebiet habe, während dies in Ostgalizien nur auf die Ukrainer zutreffe, während die Polen und Juden über das Land verstreut leben würden. Als letzte Gemeinsamkeit wurde angeführt, dass sowohl Ostgalizien als auch die Schweiz, obwohl kleine Länder, doch fähig seien, starke Armeen aufzustellen.19
17 Szmat tej ziemi bowiem, przechodza˛cy rozmiarami Szwajcarje˛, posiada wszelkie potrzebne warunki do samoistnego bytu pan´stwowego i zabezpieczenia ludnos´ci moz˙liwej sumy dobrobytu. CDAVOV Fond 4440, Opys 1, Sprava 1, ark. 597. 18 […] naresˇti pislja dovhych muk ta znusˇcˇannja dast’ osnovu dlja vsich narodnostej, jaki zamesˇkujut’ cej kraj, do intenzyvnoho ekonomicˇnoho i kul’turnoho zˇyttja, odnym slovom – vytvoryt’ na sch.– halyc’kij oblasty povnu Sˇvajcariju. Ukraïns’kyj Prapor, 23. 4. 1921. 19 Ukraïns’kyj Prapor, 14. 1. 1921.
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Ein weiterer Artikel im „Ukraïns’kyj Prapor“ vom selben Tag beschäftigte sich mit den staatsrechtlichen Grundlagen für die Konstituierung Ostgaliziens als „Galizischer Republik“ („Derzˇavno-pravna osnova Schidnoï Halycˇyny jak Halyc’koï Republyky“ – „Die staatsrechtlichen Grundlagen Ostgaliziens als Galizischer Republik“). Zu den hier aufgezählten internationalen Beschlüssen und Verträgen zählen: der Beschluss des Obersten Rates der Pariser Friedenskonferenz vom 25. Juni 1919, der Polen zwar zur Besatzung Ostgaliziens bevollmächtigte, jedoch eine endgültige Entscheidung über die staatsrechtliche Stellung des Gebietes entsprechend dem Willen der Bevölkerung in Aussicht stellte; der Vertrag von St. Germain, mit dem Österreich seine Souveränität über Ostgalizien an die alliierten Mächte abtrat, die daher als Einzige zur Festlegung der staatsrechtlichen Stellung des Gebietes berechtigt waren; der Beschluss der Alliierten über die Curzon-Linie als provisorische Ostgrenze Polens, gemäß der Ostgalizien nicht zu Polen gehörte; der Vertrag von Sèvres, der Ostgalizien ebenfalls als nicht zu Polen gehörig vorsah; sowie Beschlüsse des Völkerbundes in der Ostgalizienfrage. Auf das von der westukrainischen Exilregierung den alliierten Mächten vorgelegte Verfassungsprojekt wurde ebenfalls verwiesen. In diesem Artikel wird auch die Kontinuität zwischen der Westukrainischen Volksrepublik und der geplanten „Galizischen Republik“ ausdrücklich betont: die Ausrufung der Westukrainischen Volksrepublik, gestützt auf das Selbstbestimmungsrecht der Völker, wird auch als eine der staatsrechtlichen Grundlagen für die Galizische Republik genannt.20 Diese Kontinuität wurde bereits in einem früheren Artikel der Zeitung vom 4. Juni 1921 unterstrichen („Dolja Schidnoï Halycˇyny“ – „Das Schicksal Ostgaliziens“), wo als Grundlagen des vorgelegten Verfassungsprojekts Beschlüsse und Gesetze aus der Westukrainischen Volksrepublik aufgezählt werden: der Beschluss des Ukrainischen Nationalrats als westukrainische Konstituante vom Oktober 1918, die provisorische Verfassung der Westukrainischen Volksrepublik sowie ihr Wahlgesetz.21 Es erschienen Broschüren in mehreren Sprachen, die die westukrainischen Argumente für eine Neutralisierung Ostgaliziens näher ausführten. Die angeführte deutschsprachige Broschüre versuchte neben ethnographischen Argumenten auch den Nachweis der wirtschaftlichen Lebensfähigkeit des erhofften ostgalizischen Staates zu erbringen.22 Das Verfassungsprojekt wurde in einer dieser Broschüren als Anhang publiziert.23 Ein Exemplar mit vertauschten Artikeln 12 und 13 befindet sich im Zentralen Staatlichen Historischen Archiv in Lemberg.24 20 21 22 23 24
Ebd. Ukraïns’kyj Prapor, 4. 6. 1921. Lozyns’kyj 1921; Ostgalizien, ein selbstständiger Freistaat 1920. Lozyns’kyj 1921, S. 43ff., Anhang extra nummeriert. CDIAL Fond 462, Opys 1, spr. 216.
Ostgalizien als „Schweiz des Ostens“
4.
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Inhalt der einzelnen Bestimmungen des Verfassungsprojekts
Folglich sollen die wichtigsten Bestimmungen des Verfassungsprojektes, das u. a. dem Obersten Rat der Alliierten vorgelegt wurde, kurz vorgestellt werden: Das Projekt trägt den Titel „Osnovy derzˇavnoho ustroju Halyc’koï Republyky“ („Grundlagen des staatlichen Aufbaus der Galizischen Republik“). Die ersten Artikel legen die Galizische Republik als unabhängigen Staat mit Volkssouveränität und republikanischer Staatsform fest (Art. 1) bzw. umschreiben ihr Staatsgebiet (Art. 2).25 Die Diskussion über das Staatsgebiet war so gelöst worden, dass die Galizische Republik unstrittig nur Ostgalizien umfasste, sowie „jene ethnographisch ukrainischen Gebiete der ehemaligen österreichisch-ungarischen Monarchie, die ihr die Großmächte der Entente zuteilen“. Die restlichen Bestimmungen lassen sich nach ihrem Regelungsgebiet in drei große Gruppen einteilen: Staatsorgane, Grundrechte und Nationalitätenrechte. Als Legislativorgan war ein Parlament mit dem Namen „Staatsrat“ („Derzˇavna Rada“) vorgesehen. In Art. 6–10 sind Kompetenzen und Organisation des Staatsrats sowie die entsprechenden Wahlen geregelt. Der Staatsrat wird von den Staatsbürgern auf der Basis des allgemeinen, gleichen, unmittelbaren, geheimen Verhältniswahlrechts für eine Legislaturperiode von fünf Jahren gewählt. Zu seinen Kompetenzen als Legislativorgan gehören alle Angelegenheiten, die den Staat als solchen betreffen, das Staatsterritorium, die Staatsbürger sowie der Abschluss von Verträgen mit anderen Staaten. Der Staatsrat ratifiziert außerdem Beschlüsse über Krieg und Frieden. Weiters übt er die Kontrolle über die staatliche Verwaltung aus.26 Die Artikel 11–17 regeln das Amt des Staatspräsidenten. Dieser wird direkt vom Volk für sechs Jahre gewählt. Zu den Kompetenzen des Staatspräsidenten gehören die Ernennung und Entlassung der Minister sowie die Ernennung der Leiter der Verwaltungsbehörden, außerdem ist er Oberbefehlshaber der Armee und ernennt als solcher die Armeekommandanten und Offiziere. Er schließt im Einvernehmen mit dem Staatsrat im Namen der Galizischen Republik völkerrechtliche Verträge und fasst Beschlüsse über Krieg und Frieden. Der Staatspräsident beruft den Staatsrat ein, vertagt ihn und kann ihn bei Notwendigkeit auch auflösen. Vom Staatsrat erlassene Gesetze bedürfen der Sanktion des Staatspräsidenten, wird diese Sanktion verweigert, hat dasselbe Gesetz unverändert mit 2/3-Mehrheit erneut im Staatsrat beschlossen zu werden, um Gültigkeit zu erlangen.27 Die provisorische Rechtsordnung der Westukrainischen Volksrepublik hatte noch kein Präsidentenamt gekannt. Die Funktionen eines 25 Lozyns’kyj 1921, Anhang S. 3. 26 Ebd., Anhang S. 5. 27 Ebd., Anhang S. 6.
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Staatsoberhauptes hatte ein Parlamentsausschuss inne, dessen Kompetenzen und Zusammensetzung in einem eigenen Gesetz geregelt waren.28 An der Spitze der staatlichen Verwaltung der Galizischen Republik steht das Staatsministerium (Art. 18–21). Dieses setzt sich aus dem Ministerpräsidenten und den Ressortministern zusammen, über die Anzahl letzterer entscheidet der Staatsrat. Die Minister sind für ihre Amtshandlungen sowie Verletzungen ihrer Amtspflichten vor dem Staat verantwortlich, in solchen Fällen hat der Staatsrat über die Einsetzung eines eigenen Tribunals zu entscheiden.29 Art. 30–33 regeln die Gerichtsbarkeit. Die Richter sind in ihrer Amtsausübung unabhängig. Gerichte haben keine Kompetenz, über die Gültigkeit ordnungsgemäß kundgemachter Gesetze zu entscheiden, jedoch können sie über die Gültigkeit von Verordnungen entscheiden.30 Dieses Recht der Gerichte zur Verordnungsprüfung wurde aus dem alten österreichischen System übernommen (vgl. § 7 des Staatsgrundgesetzes von 1867 über die richterliche Gewalt).31 Die Grundrechte der Staatsbürger werden im sehr umfangreichen Art. 5 in zwölf Unterpunkten geregelt. Zu ihnen gehören: die Regelung der Staatsbürgerschaft, die Gleichheit aller Staatsbürger vor dem Gesetz, die Zugänglichkeit öffentlicher Ämter für alle Staatsbürger, das Recht auf freie Berufswahl, das Recht auf persönliche Freiheit, das Hausrecht, das Briefgeheimnis, die Versammlungsund Vereinsfreiheit, die Meinungsfreiheit, die Glaubensfreiheit und die Freiheit der Wissenschaft.32 Der Grundrechtekatalog des Verfassungsprojekts entspricht im Wesentlichen jenem der österreichischen Dezemberverfassung (Staatsgrundgesetz über die allgemeinen Rechte der Staatsbürger von 1867), teilweise ist sogar die Reihenfolge die gleiche.33 Den Rechten der Nationalitäten ist ein eigener Abschnitt gewidmet (Art. 22– 29), allerdings finden sich Bestimmungen zum Nationalitätenrecht auch in anderen Abschnitten des Gesetzesprojekts. Von besonderer Bedeutung ist in diesem Zusammenhang Art. 3, der zwischen drei „Hauptnationalitäten“, nämlich Ukrainern, Polen und Juden, und nationalen Minderheiten (alle andern in Ostgalizien vertretenen Nationalitäten) differenziert. Die Hauptnationalitäten, nach Möglichkeit auch die nationalen Minderheiten, haben ein Recht auf ihre eigenen Volks- und Mittelschulen mit Unterricht in ihrer jeweiligen Mutter28 Zakon z dnja 4 sicˇnja 1919 pro Vydil Ukraïns’koï Nacional’noï Rady. Vistnyk derzˇavnych zakoniv i rozporjadkiv Zachidnoï Oblasti Ukraïns’koï Narodnoï Respublyky 1919, Vyp. 1, Nr. 4, S. 2f. 29 Lozyns’kyj 1921, Anhang S. 7. 30 Ebd., Anhang S. 8f. 31 Staatsgrundgesetz vom 21. December 1867 über die richterliche Gewalt. RGBl. 1867, Nr. 144, S. 399. 32 Lozyns’kyj 1921, Anhang S. 3ff. 33 Staatsgrundgesetz vom 21. December 1867 über die allgemeinen Rechte der Staatsbürger in den im Reichsrathe vertretenen Königreichen und Ländern. RGBl. 1867, Nr. 142, S. 394ff.
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sprache. Während die innere Verwaltungssprache der staatlichen Behörden das Ukrainische ist, werden als äußere Behördensprachen Ukrainisch, Polnisch und Hebräisch oder Jiddisch (im Projekt ist von der „jüdischen Sprache“ die Rede) festgelegt. Gesetze, Verordnungen und Verlautbarungen haben in den Sprachen der drei Hauptnationalitäten veröffentlicht zu werden. Beamte der Galizischen Republik haben mindestens zwei der drei genannten Sprachen zu beherrschen. Bei der Ernennung der Minister und Beamten hat ein nationaler Schlüssel Anwendung zu finden, der sich auf die zahlenmäßige Stärke der jeweiligen Volksgruppe bezieht. Nationalitätenrechtliche Bestimmungen befinden sich auch im Abschnitt über den Staatsrat (Art. 9, 10): Jede der drei Hauptnationalitäten wählt ihre eigenen Vertreter in das Legislativorgan, wobei die Mandatszahlen auf einem nationalen Schlüssel beruhen, der das zahlenmäßige Verhältnis der jeweiligen Volksgruppe zur Gesamtbevölkerung abbildet. Der Staatsrat wählt aus seiner Mitte ein Präsidium, bestehend aus dem Präsidenten des Staatsrats, einem Ukrainer, und vier Vizepräsidenten, unter denen sich mindestens ein Pole und ein Jude befinden müssen.34 Ein Vergleich mit der damals gültigen Bundesverfassung der Schweiz vom 29. Mai 1874 lässt den Schluss zu, dass diese kein direktes Vorbild für das Projekt der westukrainischen Exilregierung war. Einzig Art. 116, der Deutsch, Französisch und Italienisch als die drei Hauptsprachen der Schweiz festlegt, könnte als inhaltlicher Anstoß für die Regelung bezüglich der „Hauptnationalitäten“ gedient haben.35 Anzumerken ist, dass die Idee einer „Schweiz des Ostens“ unter den Nachfolgestaaten Österreich-Ungarns nichts Neues war. Bereits Ende 1918 befürwortete der ungarische Nationalitätenminister Oskár Jászi eine Umgestaltung Ungarns nach Schweizer Vorbild: Ungarn innerhalb der Grenzen von 1914 sollte in 14 Kantone nach nationalen Kriterien unterteilt werden. Jászi bezeichnete dies als Schaffung einer „östlichen Schweiz“.36 Im Januar 1919 nahm Edvard Benesˇ gegenüber den Alliierten ausdrücklich Bezug auf die Schweiz als Vorbild für die Nationalitätenpolitik der Tschechoslowakei.37
34 Lozyns’kyj 1921, Anhang, S. 3, 5, 7ff. 35 Vgl. Bundesverfassung der Schweizer Eidgenossenschaft vom 29. Mai 1874; http://www.verfas sungen.ch/verf 74-i.htm. 36 Baziur 2015, S. 57f. 37 Kucˇera 1999, S. 29.
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5.
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Zusammenfassung
Schlussfolgernd lässt sich sagen, dass sich das Verfassungsprojekt, das die westukrainische Exilregierung den alliierten Mächten vorlegte, um deren Entscheidung in der Ostgalizienfrage in ihrem Sinne zu beeinflussen, vor allem durch seine sehr weit gefassten Nationalitätenrechte auszeichnete, die eine so gut wie vollständige Gleichberechtigung von Ukrainern, Polen und Juden im öffentlichen Leben anstrebten. Anzumerken ist, dass sich die Verweise auf die Schweiz als Vorbild für die „Galizische Republik“ in der Praxis auf das Konzept eines neutralen, multiethnischen Staates beschränkten, da sich das Verfassungsprojekt für letztere nicht an der Schweizer Verfassung orientierte, vielmehr lassen sich einzelne Versatzstücke aus der alten österreichischen Ordnung erkennen.
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II. Language Situation and Galicia
Liudmyla Pidkuimukha (National University of Kyiv-Mohyla Academy)
The Language Situation and Linguistic Diversity in L’viv during the Interwar Period
Abstract The article dwells on the language situation and linguistic diversity in L’viv during the interwar period, particularly from 1934–1939. The author has described the ethnical situation in the city that had caused linguistic variability. Coexistence of different nations in the urban space has affected not only cultural development, but also the language itself. The research has been carried out based on the literary texts of the literary group “Dvanadcjatka” (“Twelve”), which existed in L’viv from 1934–1939. The lexico-semantic groups of L’viv koine have been analyzed. The author has pointed out the concepts of such spheres as public life, urban space, household activities, etc. The research has also shown that Ukrainian authentic vocabulary was very dominant in the process of the lexical formation. Keywords: City Koine, Interwar L’viv, Lexico-Semantic Groups, Literary Group “Twelve”, Ukraine.
1.
Introduction
Since its existence, L’viv has belonged to different states and the dominant national structure has changed in accordance with it. During the interwar period, in addition to the Polish, Ukrainian, German and Jewish population, an Armenian minority existed and small numbers of Czechs, Russians, Belarusians, and Tatars were also represented. The coexistence of different nations in the urban space affected not only the cultural development but also the language itself. The purpose of this paper is to study the language situation and language formations in L’viv during the interwar period. The specific objectives are to: 1. analyze the phenomenon of koine and L’viv koine in particular; 2. describe the ethnic and language situation in L’viv during the interwar period; 3. discover the language contact processes in the L’viv koine lexical system; 4. distinguish the main lexical groups in the L’viv koine vocabulary.
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2.
Liudmyla Pidkuimukha
Theoretical aspects of the research
The term “koine” comes from the Greek koine ‘common’. It originally referred to a particular variety of the Greek language but has been applied to other languages as well. Einar Haugen points out that the Greek language was a group of distinct local varieties: “While these ‘dialects’ bore the names of various Greek regions, they were not spoken but written varieties of Greek, each one specialized for a certain literary uses, e. g., Ionic for history, Doric for the choral lyric, and Attic for tragedy. In this period, the language called “Greek” was therefore a group of distinct but related written norms known as ‘dialects’”.1 Moreover, Einar Haugen emphasizes that “the Greek situation has provided the model for all later usages of the two terms “language” and “dialect””2. Later, Athenian Greek, the koine – or ‘common’ language – became the norm for the spoken language as the various spoken languages and the various spoken varieties converged to the dialect of the major cultural and administrative center.3 George Thomson has analyzed the development of “the koine” during the Athenian empire period as follows: “The Attic dialect spread rapidly as an official language throughout the Aegean, and it was spoken generally by educated Greeks, though they still used their local dialect among themselves. Among the common people, one of the main centers for the growth of a mixed vernacular was the Peiraieus, the seaport of Athens, inhabited by Greeks from all parts of the Mediterranean. We hear complaints about the “impurity” of spoken Attic as early as the fifth century B.C. In this way the conditions were created for the formation of the Hellenistic koine, which was mainly Attic but included many elements drawn from Ionic and some from other dialects”.4 In addition, George Thomson has pointed out that koine later became the official language of the Macedonian Empire. It was spoken mostly as a second language, but in some cities it did replace the native language.5 Jeff Siegel has proposed various stages in the developmental continuum of koines: “The first is called prekoine stage which is the unstabilized stage at the beginning of koineization. […] The next one is the result of stabilization – the development of a stabilized koine. Use of a stabilized koine may be extended to other areas besides intergroup communication. For example, it may become a literary language or the standard language of a country. […] The third stage of development is called expanded koine. Finally, a koine may become the first
1 2 3 4 5
Haugen 1966, p. 923. Ibidem, p. 923. Wardhaugh 2011, p. 25. Thomson 1960, p. 34. Ibidem, p. 35.
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language for a group of speakers, or a nativized koine”.6 Charles A. Ferguson has described a circular historical development which is characterized by “a succession of periods of focus with standardization and periods of diffusion with dialect differentiation”.7 In other words, a relatively uniform language develops into several dialects, which then form, at a later stage, the basis for a common, uniform standard language or koine.8 According to Jeff Siegel, the original koine comprised features of several regional varieties, although it was based primarily on one of them. However, it was reduced and simplified in comparison. Functionally, the original koine was a regional lingua franca9 which became a regional standard. It was spoken mostly as a second language but did become the first language of some.10
3.
The ethnic and language situation in L’viv during the interwar period
Ukrainian historian Jaroslav Hrycak writes that Galicia, and especially its eastern part11, could be compared with the Babylonian tower.12 This means that the population was very heterogeneous in a number of aspects, such as ethnical, religious, language etc. The territory of Eastern Galicia and L’viv had been ethnically mixed for a long time; Ukrainians, Poles, Germans, Jews, Armenians and representatives of other national minorities lived in the city. For example, in 1900 approximately 160,00 people lived in L’viv. Of these inhabitants, 82,500 were members of the Roman Catholic Church, almost 30,000 belonged to the Greek Uniate Churches, and a little bit more that 44,000 were Jews. As their language of communication, 120,634 used Polish, 20,409 German or Yiddish, and 15,159 Ukrainian.13 6 7 8 9
10 11
12 13
Siegel 1985, pp. 373–374. Ferguson 1988, p. 121. Deumert / Vandenbussche 2003, p. 10. The Encyclopedia Britannica defines the term lingua franca as follows: Language used as a means of communication between populations speaking vernaculars that are not mutually intelligible. The term was first used during the Middle Ages to describe a French – and Italian – based jargon, or pidgin, that was developed by Crusaders and traders in the eastern Mediterranean and characterized by the invariant forms of its nouns, verbs, and adjectives (Encyclopaedia Britannica) Siegel 1985, p. 373–374. Eastern Galicia is a geographical region in Western Ukraine. Now it includes all of the L’viv and Ivano-Frankivs’k Oblasts (regions) of Ukraine as well as Ternopil’ Oblast, with its northern strip bordering the Raions of Kremenec’, Sˇums’k and Lanivci and the northern part of Zbarazˇ Raion. Hrycak, 2013, p. 38. Meyers Konversations-Lexicon, p. 397–398.
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Due to the census (1919), 58.9% of Eastern Galicia spoke Ukrainian, 39.8% used Polish, while 1.2% preferred German. In contrast, 85.8% of L’viv citizens used to communicate in Polish, 10.8% in Ukrainian, and 3% in German. According to the Polish researchers Jerzy Habela and Zofia Kurzova, a high percentage of Polish-speaking citizens can be explained by the fact that in 1910 most local Jews recognized Polish as their language.14 Meanwhile, after the Riga peace treaty in 1921, approximately 5 million ethnic Ukrainians lived in Poland in the interwar period, making up to 15% of the country’s population. However, in the southeastern provinces of Poland, Ukrainians not only constituted an overwhelming majority, but also refused to accept the status of a “national minority”. In general, Ukrainians lived on the countryside, while Poles and Jews dominated in the cities. In contrast, the census of 1931 revealed that 63% of the population of L’viv spoke Polish, 11.3% Ukrainian, 0.8% German and 24.1% Yiddish.15 In spite of being a national minority in L’viv during the interwar period, Ukrainians demonstrated language and ethnic stability. Factors such as a strong linguistic nationalism and an attitude toward language were instrumental in creating the sociolinguistic conditions which supported language stability. For those people, the Ukrainian language was not only a means of communication but also a tool of resistance. For instance, George J. Shevelov (ukr. Jurij Sˇevel’ov) mentioned memories of S. Sˇax how first-graders, he and his classmates undertook a trip by rail from Lviv.16 Each of them went to the ticket counter at the main station in Lviv and asked for his ticket in Ukrainian. Each boy was met with abuse and insult by the Polish cashiers, but the tickets were purchased and the ride took place. In his opinion, this minor episode reflects the status of the Ukrainian language under Polish domination and the experience of Ukrainian speakers in the interwar period.17 Because of language stability, Ukrainians managed to oppose the process of linguistic and cultural assimilation in the first half of the twentieth century.18 In his book of memoirs Literaturnyj L’viv 1939–1944: Spomyny [Literary L’viv 1939–1944: Memories] Ostap Tarnavs’kyj writes, “at that time in L’viv there lived about 350 thousand people – by a national criterion half of them were Poles. Jews represented one third of the population, and only about 50 thousand were Uk-
14 Habela / Kurzowa, 1989 p. 12. 15 Habela / Kurzowa 1989, p. 12. 16 The scientific transliteration for the word L’viv was used when sentences were translated from Ukrainian into English. However, we retain the original spelling Lviv from the English written texts. 17 Shevelov 1989, p. 185. 18 For more details see: Pidkujmucha 2018.
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rainians. Despite the fact that a considerably small number of Ukrainians lived in L’viv, L’viv was the center of Ukrainian life”.19 Moreover, following Warsaw, L’viv was the second most important cultural and academic center of interwar Poland, where various scientific, cultural, educational, and public associations were located. Jan Kazimierz University, Polytechnic University, Veterinary Academy, and the higher educational establishment of Foreign Trade operated in the city as well. For example, in the academic year of 1937–1938, there were 9,100 students attending five institutions of higher education, including L’viv University as well as Polytechnic.20 Although Polish authorities obliged themselves internationally to provide Eastern Galicia with autonomy (including the creation of a separate Ukrainian university in L’viv) and even though in September 1922 the adequate Polish Sejm’s Bill was enacted21, it was not fulfilled. The Polish government discontinued many Ukrainian schools, which operated during the Austrian rule,22 and closed down all Ukrainian departments at the University of L’viv except one.23 Andrij Portnov, having analyzed the works of Ivanyc’kyj and Moversberg, gives the following statistics: In 1918, there were 3,600 Ukrainian-language schools in Poland, in 1921–3,000 educational institutions, and in 1939 – only 450 schools.24 Unlike in Austrian times, when the size and amount of public parades or other cultural expressions corresponded to each cultural group’s relative population, the Polish government emphasized the Polish nature of the city and limited public displays of the Jewish and Ukrainian cultures.25 The numerical growth of intellectuals as a social class was the other characteristic feature of the interwar time. It included officials, teachers, writers, artists and other people connected with mental work or creativity. As for L’viv, it was 19 20 21 22 23 24 25
Tarnavs’kyj 1995, s. 13–14. Internet Encyclopedia of Ukraine. TEXT of the 1922 Bill. Magocsi 1996. Subtelnyj 1988. Portnov 2008, s. 37–38. The Second Polish Republic (1918–1939) pursued discriminatory policies against Ukrainians. As a response, in 1929 the Organization of Ukrainian Nationalists (OUN) was formed. This Organization sought to fight against the Polish government. The OUN carried out hundreds of acts of sabotage in Galicia and Volhynia, boycotts of state schools and Polish tobacco and liquor monopolies, dozens of expropriation attacks on government institutions in order to obtain funds for its activities and acts of violence. The Polish government responded to the revolutionary sabotage of the UVO-OUN and Ukrainian opposition to the regime with the military and police Pacification of Galicia in the fall of 1930 – the destruction of Ukrainian institutional property, brutalization of Ukrainian leaders and activists, and mass arrests (For detailed information see: Internet Encyclopedia of Ukraine). Since in this paper I characterize the language situation and language formations in L’viv during the interwar period, I have decided to dwell on the linguistic and cultural development of Eastern Galicia and pay more attention to the government’s cultural limitations.
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comprised of the Polish, Jewish and Ukrainian intelligentsia who came mainly from families of priests, teachers, and wealthy peasants. Consequently, we believe that the aforementioned factors have had a visible effect on all levels of the Ukrainian language system.
4.
Research material and methods
In order to enable effective research of the Western variety of standard Ukrainian and L’viv koine as well, a number of methods were involved. To start with, the method of collecting linguistic data was applied to define the corpus of relevant texts and linguistic materials for further analysis. I focused on analyzing the texts written by the young authors of the literary group “Twelve”.26 Formed in L’viv in the 1930s, the aforementioned group united Bohdan Nyzˇankivs’kyj, Zenon ˇ ernjava, Vasyl’ Tarnavs’kyj, Anatol’ and Jaroslav Kurdydyk, Vasyl’ Hirnyj, Ivan C Tkacˇuk, Volodyslav Koval’cˇuk, Roman Antonovycˇ, Karlo Mul’kevycˇ, Hannussja Pavenc’ka, and Bohdan Cisyk. Those young writers met for the first time in 1934; ˇ ervona in 1935, they published the first joint edition – a separate issue of The C Kalyna Annals (The Red Cranberry Annals). At that time, “Twelve” did not belong to the literary mainstream, benefiting mainly from its members’ youth and creativity. Due to certain financial and historical reasons, none of the authors introduced separate publications; yet, on every occasion, “Twelve” was associated with meetings in cafes, the tango, poetry, discussions of literary topics, and comic nicknames used in publications, etc. Many participants of “Twelve” had been working in L’viv, but during the war and postwar periods they emigrated to the USA and Canada. Thus, nostalgia for their native land encouraged them “to depict a great love for their city and poeticize it to a mystical apotheosis”.27 Stories by authors of “Twelve” showed the biologism, descriptive naturalism, blended with empathy, and the search for behavioral patterns of the working classes. The protagonists of Bohdan Nyzˇankivs’kyj or Zenon Tarnavs’kyj were 26 Despite the fact that research has been carried out based on the literary texts, I would like to emphasize that these novels are indeed representative for L’viv koine and depict the actual spoken language during the interwar period. To prove this statement, I would like to provide you with the following paper: Pidkujmucha 2016a. In this article, interviews with women, who were originally from Eastern Galicia, have been analyzed. The research demonstrates that respondents use the same L’viv koine vocabulary as in the texts of the “Twelve” literary group. Moreover, the analysis of interwar marriage announcements, which are the multifaceted phenomenon of the social and linguistic reality, shows that people spoke the same language as was presented in the aforementioned literary texts. For detailed information please see: Pidkuimukha 2016b. 27 Gabor 2006, p. 13.
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simple workers, residents of Lycˇakiv, sometimes L’viv demimonde. The main theme, common for all the members of the group, was their love for L’viv and a realistic description of urban life. These writers paid particular attention to the lower middle class, peasants, workers, which resulted in the use of jargon, slang and argot in their texts. On the other hand, Ivan Kernyc’kyj described intelligentsia, professors, students, and priests who used lexical units of L’viv koine in their daily communication. Since the texts of the “Twelve” literary group are a good source for analysis of the interwar L’viv vocabulary and Western region variety of the standard Ukrainian language, I have chosen the novels Rozhubleni Syly ta Insˇi Tvory by Vasyl’ Hirnyj (2008, 2nd edition)28 and Heroj Peredmistja by Ivan Kernyc’kyj (2003, 2nd edition),29 the short stories collection Pereletni ptachy: dovsˇi ta korotsˇi, mensˇe i bil’sˇe veseli istoriji, v kraju, na skylal’sˇcˇyni i na hostynnij zemli Vashingtona, napysani (1942–1952) by Ivan Kernyc’kyj (1952), the novella Viter nad Janivs’koju, the story Doroha na Vysokyj Zamok by Zenon Tarnavs’kyj (2006, 2nd edition),30 and the short stories collections Vulycja by Bohdan Nyzˇankivs’kyj (2006, 3rd edition).31 These texts had not been an object of linguistic researches before. In addition to this, I addressed some traditional methods of linguistic analysis, one of which is semantic analysis to examine the meaning of vocabulary items and explain sense relations between them. For this purpose, lexicographical sources such as Leksykon l’vivs’kyj: povazˇno i na zˇart [L’viv Vocabulary: Respectfully and Jokingly], Argo v Ukrajini [Argot in Ukraine], Ukrajins’ka mova na Bukovyni v kinci XIX – na pocˇatku XX st. Materialy do slovnyka [Ukrainian Literary Language in Bukovyna at the end of the XIXth and early XXth centuries. Materials to the dictionary] as well as citations from the texts of the literary group “Twelve” were useful to examine the meaning of lexical items.
5.
The western region variety of the standard Ukrainian language and L’viv koine as object of investigations
In the late 19th – early 20th century, Ukrainian lands were separated between the Russian and Austro-Hungarian empires. Such socio-political conditions caused the Ukrainian language to form in two varieties – Western and Eastern-Ukrai-
28 The first edition is as follows: Hirnyj, Vasyl’. Rozhubleni syly. Krakiv – L’viv: Ukrvydav 1943. 29 The first edition is as follows: Kernyc’kyj, Ivan. Heroj Peredmistja. New York 1958. 30 The first edition is as follows: Tarnav’kyj, Zenon. Doroha na Vysokyj Zamok: novely, opovidannja, narysy. Toronto: Homin Ukrajiny 1964. 31 The first edition is as follows: Nyzˇankivs’kyj, Bohdan. Vulycja. L’viv 1936. The second one: Nyzˇankivs’kyj, Bohdan. Novely. Kyjiv 1941.
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nian. The Eastern variety was influenced by the Russian language, and the Western one by Polish and German. According to the Soviet language policy, the fact of Western region variety existence was not accepted by Bolsheviks. Consequently, during this period, only a few linguists, in particular Olha Muromceva and Mychajlo Zˇovtobrjuch, covered the topic of the formation of the lexical system in the Western Ukrainian lands. The situation was different with regard to emigration, where Western region variety was analyzed. We should mention the book Halycˇyna v formuvanni novoji ukrajins’koji literaturnoji movy [Galicia in the Formation of the Modern Ukrainian Literary Language] (first edition – 1949, fourth – 2003) by George J. Shevelov, that was the first comprehensive study of the role of the Western region variety in the formation of the standard Ukrainian language. Moreover, the study Argo v Ukrajini [Argot in Ukraine] (2006) by Oleksa Horbacˇ32, on which the author worked in Germany, became an important source for the fixation of the urban jargon’s vocabulary. In particular, the author analyzed the lexicon which was used by certain social strata, for example, by batjars and criminals in the Western Ukrainian regions. In modern linguistics, the problem of the variability of the Ukrainian language has been updated to an objective scientific level. George J. Shevelov’s ideas were developed in the monograph Ukrajins’ka mova na Bukovyni v kinci XIX – na pocˇatku XX st. [Ukrainian Literary Language in Bukovyna at the end of the XIXth and early XXth centuries] (Chapter 1 – 2000, Chapter 2 – 2007, Chapter 3 – 2007) by Ljudmyla Tkacˇ. The results of her study are three parts of the fundamental research: vocabulary materials, analysis of sources and socio-cultural factors that have influenced the development of the Western region variety of the standard Ukrainian language as well as the Bukovynian phraseology in the all-Ukrainian context. Moreover, researchers have revealed the problems of standardization of the Ukrainian language in the background and in relation to socio-political, communicative and sociocultural processes. These studies include works of the Ukrainian scholars Mykola Lesjuk, Ivan Matvijias, Olha Tuluzakova, etc., and Austrian researchers Michael Moser and Herman Bieder. In the context of L’viv koine studies, the dictionary Leksykon l’vivs’kyj: povazˇno i na zˇart [L’viv Vocabulary: Respectfully and Jokingly] (first edition – 2009, second – 2012, third – 2015) is worth being mentioned. It presents the lexicon of the 20th century L’vivites, the so-called L’viv language, viewed as a representation, to a certain extent, of the whole Galician city koine rather than the local dialect of L’viv. The L’viv Vocabulary is so far the first and only large dictionary of the city speech; in addition, it is based on the innovative lexicographic principles: A word 32 This is a publication of the dissertation that Oleksa Horbacˇ defended in February 1951 at the Ukrainian Free University in Munich.
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is interpreted not only as a linguistic phenomenon, but also as a phenomenon of culture, in this case, of L’viv (or Galician, if we take a broader view of the subject) city culture.33 Moreover, this lexicographic work provides a wide range of lexical and phraseological features of argot speech and slang.
6.
Language contact processes in L’viv koine lexical system
To start with, koine is variety of intergroup communication that functions primarily in cities in order to help people with different regional backgrounds understand each other. It is the result of a convergence of different dialects spoken by people in one community. L’viv koine is considered to be the local inhabitants’ specific language variety based on the Southwestern dialect. According to George J. Shevelov, at the end of the nineteenth and in the early twentieth century, in the Galician, Bukovynian and Transcarpathian lands, which belonged to the Austro-Hungarian Empire, an Ukrainian koine that was strongly influenced by the local dialects – dialectal forms, words, and constructions – was forming.34 To characterize the morphosyntactic constructions of this koine, George J. Shevelov used various terms, for instance, intellectuals’ koine,35 Galician or Galician-Bukovinian.36 Ukrainian linguist Ljudmyla Tkacˇ believes that usage of the term “koine” to characterize the development of the Ukrainian literary language in the Galician-Bukovinian environment seems to be quite adequate. On the one hand, the territorial rootedness of this type of speech (and language) and its connection with certain groups of the Southwestern dialects are emphasized. On the other hand, the “superdialectal” character of koine is also underlined. It was spoken not only by rural inhabitants, but also in the centers of Ukrainian cultural and political-economic life, in cities in Galicia, Bukovina and Transcarpathia by artisans, businessmen, lawyers, professors of grammar schools and universities, officials, etc.37 Since L’viv used to be a multiethnic, multicultural, and multilingual city during the interwar period, its koine was “vulnerable to borrowings and patterning from the co-territorial languages”.38 George J. Shevelov has mentioned that the periodical press, though making some effort to use “a common Ukrainian standard language, at best cultivated a Galician koine which was actively taking shape primarily on the basis of the L’viv region dialects. Because of its 33 34 35 36 37 38
Gresˇcˇuk 2014, p. 111. Shevelov 1989, p. 23. Sˇevel’ov 2003, p. 22. Shevelov 1989, p. 19. Tkacˇ 2007, p. 366. Ibidem, p. 23.
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deficiencies and underdevelopment, the Ukrainian culture and language were supplemented by borrowings from the more fully developed cultures and languages of the area: virtually all intellectuals were bilingual (Ukrainian and Polish) or trilingual (Ukrainian, Polish, German)”.39 According to Olesya Palinska and Oleh Kaczala, koine was a “cultured” form of natural language, the basis of which consisted of the Western Ukrainian variant of literary Ukrainian and also Polish, some German, Jewish and other elements (first of all in terms of syntax).40 Moreover, the authors have distinguished such language formations, which traditionally existed in L’viv: literary languages (Ukrainian literary language (Western Ukrainian variant), Polish, German, Yiddish), elements of a dialect (Dnistrian dialect of Ukrainian, EastGalician dialects of Polish), other formations (like) “balak” and “koine”). Balak is a manner of speaking, formed on the basis of Polish and dialects with the active use of Ukrainian phonetics and vocabulary, borrowings from German, Yiddish, Romanian and other languages, and also the considerable use of asocial argots – thieves, vagabonds, etc.41 In the texts of the “Twelve” literary group, balak is mainly used by batjars.42 Batjar was the name of lower-class L’viv citizens who were mainly the residents of the suburbs. The attitude towards batjars was dramatically different at various times and in social spheres. It ranged from a negative assessment to complete admiration. Relying on the publications of Ukrainian writers I. Kernyc’kyj and E. Zagacˇevs’kyj, it is considered that from the 1920s to the 1930s, the social composition of batjars was changing. It became more noble, intellectual or even elite. In the meantime, it became even fashionable to use balak. The active usage of “balak” (but already a bit stylized) was observed until the 1930s of the 20th century on the pages of humorous papers, in films and in broadcastings.43 George J. Shevelov has described the language situation during the interwar period as follows: “Lviv did not have its own Ukrainian dialect because the cultivated class (inteligentna verstva) spoke a more or less common literary (pys’menna) Galician, whereas the burglars, who were being Polonized in the language melting pot of L’viv, spoke the dialect of their village contaminated with
39 40 41 42
Shevelov 1989, p. 22–23. Palinska / Kaczala 2013, p. 67. Ibidem, p. 67. Balak or batjar jargon, which is one of the variants of colloquial speech in interwar L’viv, has become an object of my investigations. Particular attention has been paid to the jargon of this social group as the linguistic and psychological characteristics of the characters. Furthermore, the semantic composition and functional features of lexical borrowings in the batjar jargon vocabulary have been analyzed. For more details see Pidkujmucha 2013a., Pidkujmukha 2013b. 43 Palinska / Kaczala 2013, p. 67.
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Polish”44. So, the Polish language had the greatest influence on the development of the L’viv koine, starting with the emphasis on and forms of social etiquette and ending with technical terms. At the same time, dialect elements were also actively used in the L’viv inhabitants’ speech. Having analyzed thief slang and argot in the territory of Ukraine, Oleksa Horbacˇ has pointed out its connection with related Slavic languages, especially Polish. The close contact with Warsaw and Krakow had led to the creation of a similar vocabulary in (the territory of) Western Ukraine.45 In the Polish linguistics, the authors of the book Lwowskie Piosenki Uliczne, Kabaretowe i Okolicznos´ciowe do 1939 roku [The Songs of the Streets, Cabarets and outskirts of L’viv before 1939] claimed that foreign-language elements in the lexical system of the L’viv speech amounted to about 50%, 21% of these elements were borrowed from German, 18% belonged to slang items, 7.9% were Ukrainian, and 2.6% were Yiddish.46 Such calculations mean that the other 50% were Polish tokens, since they were native for these linguists. Currently the terms L’viv koine, L’viv speech (sometimes even L’viv thought) and L’viv regiolect are used to refer to the specific speech of the urban population that preserves elements of the Galician or Galician-Bukovynian koine. In the Encyklopedija L’vova [Encyclopedia of Lviv] the definition of the term L’viv koine is as follows: “It is a specific language formation of the Ukrainian speaking inhabitants of L’viv, based on the Southwestern dialects and influenced by Polish, German, and Yiddish etc. L’viv proved to be a unique center for the creation of the city koine.”47 In the texts of the “Twelve” literary group, the Ukrainian authentic vocabulary (bozˇnycja ‘a church’, strij ‘clothes’, zachoronka ‘a kindergarten’, еtc.), together with numerous borrowings from the languages of the same territory48 (from Polish dvirec’ ‘a railway station’, vyklad ‘a lecture at the university’, akademik ‘a student at the university’, etc.; from German knajpa ‘some café, not fashionable restaurant’, forcug ‘an excellent student’, frojnd ‘printed shortened text of the compulsory school program’, etc.), comprised the basis for L’viv koine. Having analyzed the texts of the “Twelve” literary group, I found out that the vocabulary of L’viv koine denoted the concepts of such spheres as: 1) public life (каварня ‘a coffee house’, касарня ‘a barrack’, колектура ‘a lottery ticket sales place’, лічниця ‘a hospital’, etc). Уздовж Янівської вулиці, 44 45 46 47 48
Shevelov 1989, p. 19. Horbacˇ 2006, p. 171–172. Habela / Kurzowa 1989, p. 55. Encyklopedija L’vova. Vol. 2. 2008, p. 378. The following dictionaries serve as a lexicographical base for determining the origin of the vocabulary: Horbacˇ 2006., Tkacˇ 2000, Kurzowa 1985, Rudnyc´kyj 1982, Etymolohicˇnyj slovnyk.
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починаючи від костела св. Анни, попри артилерійські касарні і шинок на розі Бема, віяв вітер. Along the Yanivska Street, starting from the church of St. Anne, next to the artillery barracks and pub on the corner of the Bem Street, blew a wind.4950 Мій неоцінений пан інструктор пробував роз ’яснити їй, що неможлива річ “вифасувати” гроші, бо всі колектури Державної льотереї замикаються о 5-ій годині пополудні, а відчиняються з 9-ї ранку. My invaluable Mr. Instructor tried to explain to her that it was impossible to “cash” money, because all the State lottery ticket sales places are closed at 5 p.m., and open at 9 a.m.51 urban space (город ‘a park, garden’, корзо ‘a central street of the city’, хідник ‘a sidewalk’, etc.). З городу побіг наш отець парох просто на кухню, де в клубах запашних домів увихались пані варилихи, приготовляючи обід. Right from the garden, our pastor rushed to the kitchen where women were cooking lunch.52 Справді, ще того самого вечора стали творитись дивні містерії на вулицях Львова, зокрема в сусідстві так званого студентського корза. Indeed, that evening strange mysteries began to occur on the streets of Lviv; in particular, in the neighborhood of the so-called student korzo [a central street of the city]….53 На хідниках безперервними струйками хлюпотів дощ. The trickles of rain have been sloshing on the sidewalks.54 household activities (гальба ‘a pint’, зольнеґлі ‘nails’, коц ‘a woolen blanket’, обрус ‘a tablecloth’, etc.). Словом, протягом одного дня пан Матуляк став славною людиною на Богданівці, а його популярність найбільш переконливо можна було зміряти тими гальбами пива… In a word, within one day, Mr. Matuljak became a glorious man in Bogdanivka, and his popularity could be most convincingly measured by those beer pints….55 administration (аванс ‘servicing promotion’, амбасада ‘an embassy’, візитація ‘an inspection’, леґітимація ‘an identity card’, маґістрат ‘a city council’, урядник ‘a civil servant’, резиґнація ‘rejection’, etc.). Тепер то я міг вже бути секретарем абісинської амбасади при Ватикані. And now, I could already be the secretary of the Abyssinian embassy of the Vatican.56 А ви, солтис, коли не годні витримати, то внесіть резиґнацію на руки пана
49 Since analysed texts had not been translated into English, Liudmyla Pidkujmucha translated all quotations from the Ukrainian original text. 50 Tarnavs’kyj 2006, p. 163. 51 Kernyc’kyj 2003, p. 108–109. 52 Ibidem, p. 84. 53 Ibidem, p. 193. 54 Nyzˇankivs’kyj 2006, p. 67. 55 Kernyc’kyj 2003, p. 132. 56 Hirnyj 2008, p. 75.
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старости! And you the mayor of a village, if you cannot stand it, hand in your rejection to the village elder!57 art, culture, leisure (вдовілля ‘pleasure’, урльоп ‘holiday’, фестин ‘festival’, фотос ‘movie’, часопис ‘periodicals’, штука ‘art’, etc.). В гостинній – на столі часописи. There were periodicals on the desk in the living room.58 science, education, training (академік ‘student of the university’, вакації ‘vacation’, виклад ‘lecture, training course’, зільник ‘a notebook for a herbarium’, лектура ‘books, literature’, студіювати ‘to study, learn’, утраквізм ‘bilingual teaching in the gymnasiums’, etc.). Бачиш, сину, тут справа проста, як обруч: треба трохи студіювати людську психологію. You see, son, it is as simple as a hoop [as easy as a pie]. You have to study human psychology a bit.59 medicine (атака серцева ‘heart attack’, живчик ‘pulse’, жиляки ‘veins; varicose veins’, флюксія ‘inflammation of the lungs’, etc.). Соха у своїй практиці ще подібного випадку не мав. Але пізнав, що то була серцева атака. In his practice, Soha has not had such a case yet. However, he knew that it had been a heart attack.60 Пані Катерина малює і розказує їй про свою сестрінку Філю, що вмерла від флюксії ще перед Світовою війною. Ms. Kateryna is painting and talking about her sister Phyla, who died from inflammation of the lungs before World War II.61 military (залога ‘a military unit’, фльоберт ‘a kind of rifle’, чота ‘a platoon’, чотовий ‘a platoon commander’, шаржа ‘officers’, etc.). Окремі залоги стояли в кооперативі, в читальні… Some military units were located in the housing cooperative and in the reading rooms….62 jurisprudence (деліквент ‘an offender’, писківка ‘a court case about insulting the honor and dignity’, посідання ‘property, possession’, посідач ‘an owner’, реґулямін ‘statute, regulations’, etc.). Дядьки судилися за образу чести. Були процеси за дрібні крадежі, писківки, за аліменти, але політичні – того ніхто не знав. These men were sued for insulting the honor [of someone]. There were proceedings for petty thefts, court cases about insulting the honor and dignity for alimony, but nobody knew anything about any political ones.63 Реґулямін ніби наказує закувати вам руки, – сказав Коґут, розпускаючи парасолю, але я гадаю, що ви не зробите мені і собі збитка та й не звієте по дорозі? It seems that regulations order you to Kernyc’kyj 1952, p. 22. Nyzˇankivs’kyj 2006, p. 66. Hirnyj 2008, p. 75. Nyzˇankivs’kyj 2006, p. 100. Tarnavs’kyj 2006, p. 194. Kernyc’kyj 2003, p. 205. Tarnavs’kyj 2006, p. 197.
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be handcuffed, said Kogut, opening his umbrella. However, I think that you will not get me and yourself in this mess and will not run away.64 10) industrial and financial-economic relations (виплата ‘salary’, інтерес ‘business’, інтересант ‘interested person’, льос ‘a lottery ticket’, чинш ‘rent charge’, чиншовий ‘rented’, перепачковувати ‘to transport across (the) borders illegally’, etc.). Це було так: того дня була субота, й ми всі дістали виплату. It was Saturday and we received our salary.65 До “Центрального банку” увійшов свобідно як інтересант, що знає всі бюра й всіх урядовців. He entered the “Central Bank” as an interested person who knows all the bureaus and all government officials.66 Коло чиншової камениці, в якій господар сам не живе, а сторож чесний, роботи завжди знайдеться багато. There is always a lot of work to do near the rented stone building where the owner does not live and the guard is honest.67 In this article, more than 50 lexical tokens of L’viv koine, which indicated the concepts of different spheres that were the core of the Western region variety of the standard Ukrainian language, have been investigated. The whole list of vocabulary includes approximately 1,000 lexical units that were explored in the PhD thesis.68
7.
Conclusion
During the interwar period, L’viv was a multi-ethnic city where Ukrainians, Poles, Germans and Jews coexisted. A special L’viv regional dialect has been created by the language situation in the city, which was formed in the atmosphere of a close contact between more or less relating languages. Therefore, Polish, German and Yiddish had a significant impact on the development of L’viv koine and social dialects. In the L’viv speech, particularly in the speech of the native residents, a certain group of contact linguistic processes was noticed. In spite of being a national minority in L’viv during the interwar period, Ukrainians managed to create a city koine as well as sociolects based on the Ukrainian language. My research, based on the texts of the “Twelve” literary group, demonstrates that Ukrainians managed to create a city koine during the interwar period. Meanwhile, a full-structured Ukrainian language functioned in the social and cultural space of L’viv. Its vocabulary included the words that denoted the 64 65 66 67 68
Kernyc’kyj 2003, p. 176. Nyzˇankivs’kyj 2006, p. 60. Ibidem, p. 80. Tarnavs’kyj 2006, p. 169–170. For detailed information see Pidkujmucha 2016.
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concepts of various areas, such as public life, urban space, household activities, art, culture, medicine, jurisprudence, etc. The Ukrainian authentic vocabulary, together with a significant number of borrowings from the languages of the same territory, served as the basis for L’viv koine.
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Dana Lushaj (Universität Wien)
Josephs II. Konzept des Idealpriesters: Die josephinische „Disziplinierung“ der griechisch-katholischen Priester
Abstract Joseph II was convinced that the success of his reform policy depended greatly on the committed participation of the clergy, especially the lower clergy. For this purpose, the clergy needed to be „disciplined“, i. e. educated accordingly. In Joseph’s view, however, the desired qualification of the clergy could only be acquired in state-controlled and managed education centers – General Seminaries. Based on Joseph’s concept of an ideal education and formation for seminarians as priests and simultaneously as civil servants, the article analyses the changes in the framework for the formation of Greek Catholic priests. Nevertheless, the Josephine reform measures were hardly recognized by the Greek Catholic trainees. Neither the opened possibility to get a sound education, which would correspond to their status, nor the liberation from the diocesan authority of the bishops could convince the seminarians. Despite many smart ideas, Joseph’s efforts to establish a new educational system in the Habsburg hereditary lands failed, but the only general seminar which remained after the abolition in 1790 was the Greek Catholic General Seminary in Lemberg. Keywords: Clergy Education in the Late 18. Century, „Disciplinisation“ of Clergy, General Seminary, Greek Catholic Church History, Religious Policy of Joseph II.
1.
Einleitung
Um sämtliche Maßnahmen Josephs II. zu bezeichnen, wobei vornehmlich dessen innerpolitische Reformen gemeint sind, verwendete man den kurz nach dem Tod des Kaisers geprägten Begriff „Josephinismus“.1 Ob „Josephinismus“ als ein Oberbegriff für sämtliche Reformen in allen Bereichen, die seit den späten vierziger Jahren bis Ende des 18. Jahrhunderts in der Habsburgermonarchie eingeführten worden waren, verwendet werden kann, oder ob lediglich die josephinische Kirchenpolitik hierunter verstanden werden sollte, ist nach wie vor umstritten. Doch die Historiker sind sich einig, dass der Kern des Josephinismus
1 Vgl. Kova´cs 1980, 24ff.
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in der auf die katholische Kirche fokussierten Politik liegt.2 Dennoch bestand das vorrangige Ziel der josephinischen Politik gegenüber der Kirche in der Reformierung des Staates und nicht der Kirche selbst. Joseph II. sah sich nicht nur als einen aufgeklärten Herrscher, sondern weiterhin als einen absoluten Monarchen. Daher sah er im Aufbau eines zentralisierten, bürokratischen Staatsapparates eine Grundbedingung für sein erfolgreiches Regieren.3 In seinen Bestrebungen zur Bürokratisierung des Staates ließ Kaiser Joseph II. keine gesellschaftliche Institution außer Acht. Die einzige Organisation, die am Ende des 18. Jahrhunderts in engem Kontakt zu den breiten Bevölkerungsschichten stand und der Staatsverwaltung nicht untergeordnet war, war die katholische Kirche.4 Da aber die Kirche auch im 18. Jahrhundert die Herrschaft des Kaisers begründete und legitimierte und der Religion zudem eine entscheidende Rolle für die Konsolidierung der Gesellschaft zugeschrieben wurde,5 gewann die Kirche im josephinischen Konzept des Staatsaufbaus an politischer Bedeutung.6 Überzeugt, dem Allgemeinwohl zu dienen und mit dem Ziel, „das Beste der heiligen Religion und Kirche, fürnämlich in der Seelsorge und Leitung des Volkes“7 zu erreichen, hielt Joseph II. es für notwendig, das Verhältnis zwischen dem Staat und der Kirche einer neuen Regelung zu unterziehen. Konkret bedeutete dies, die kirchlichen Institutionen der staatlichen Aufsicht unterzuordnen. Die rechtlichen Grundlagen zur Unterwerfung von Religion und Kirche unter die oberste Gewalt des Herrschers wurden bereits in den späten sechziger Jahren von den Vertrauten und Beratern des Kaisers geschaffen. Dem Staatsoberhaupt, das für das Wohl des Staates sorge, wurde das „Recht der Ober-Einsicht und folglich die Gewalt der Mitwürkung in allen Geschäften der Kirche und Geistlichkeit, die an sich selbst oder auch nur zufälliger Weise einen Einfluß in das Weltliche mit sich bringen oder zur Folge haben“8 eingeräumt. Infolge der josephinischen Kirchenreform sollte eine vom Heiligen Stuhl unabhängige österreichische Staatskirche entstehen. Zugleich sollte der Geistlichkeit ihr besonderer Status in der Gesellschaft entzogen und sie in die Sozialstruktur eingeordnet werden. Die Rechte und Pflichten derselben sollten an jene der übrigen Untertanen in der ständischen Gesellschaft angeglichen werden, da vom Kaiser alle Bürger des Staates, ohne Ausnahme, vor allem als Untertanen 2 Maass 1956, Bd. 3; Vocelka 1981, Bd. 26 Heft JG, S. 107; Klueting 1996, S. 169–171; Vocelka 2001, S. 368. 3 Vgl. Reinalter 2011, S. 23–24. 4 Unter anderen: Kovács 1980, S. 24ff.; Klueting 1995, S. 1–16. 5 „Wir Joseph der Zweite, von Gottes Gnaden erwählter römischer Kaiser…“ im Toleranzpatent vom 13. Oktober 1781; Promemoria des Staatkanzlers Wenzel Anton Fürst Kaunitz-Rietberg vom 25. Januar 1768 in: Klueting 1995, S. 252; 113. 6 Vgl. Reinhard 1983, S. 257–277. 7 Maass 1956, Bd. 3, S. 251. 8 Klueting 1995, S. 133.
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betrachtet wurden und sich demzufolge der Staatsobrigkeit unterordnen mussten.9 Unter anderem verloren kirchliche Institutionen ihre Befugnis zur richterlichen Beurteilung.10 Fortan waren sie ausschließlich für die Regelung von rein religiösen Angelegenheiten zuständig. Einerseits sah der Wiener Hof seine Pflicht und Aufgabe darin, „dem Religionswesen seine ächte und ursprüngliche Gestalt wieder zu geben“,11 andererseits war er von der Wichtigkeit des religiösen Aspektes der Reformen überzeugt, denn „tugendhafte und christliche Unterthanen erfüllen in vollkommener Maaß ihre Pflichten gegen ihren Landesfürsten“12. Eine wichtige Voraussetzung für eine gelungene Vermittlung christlicher Werte sah Joseph II. in erster Linie in der Kontrolle und Überwachung der aktiven Priester, aber nicht zuletzt in der entsprechenden Ausbildung der neuen Priestergeneration. Dabei sollte die Bildung als Mittel zur Disziplinierung der werdenden Kleriker verwendet werden. Da die Priester zu „Diener[n] des Staates“13 werden sollten, musste entsprechend dem josephinischen Reformkonzept auch die Priesterausbildung bis ins Detail vom Staat reguliert und zentralisiert werden. Demzufolge wurden die bestehenden Erziehungs- und Bildungseinrichtungen entweder unter staatliche Kontrolle gebracht (Pfarrschulen und Gymnasien) oder aufgelöst (Kloster- und Stiftsschulen, bischöfliche Priesterseminare). Anstelle der aufgehobenen bischöflichen Priesterseminare und päpstlichen Kollegs14 wurden Generalseminare gegründet. Neben den institutionellen Reformen wurden auch die Studienpläne geändert bzw. den staatspolitischen Interessen angepasst. Die konzeptuellen und methodologischen Grundlagen für die Erziehung der künftigen Priester schuf Franz Stephan Rautenstrauch,15 der diese in seinem „Entwurf zur Einrichtung der Generalseminarien in den k.k. Erbländern“ (1784) formulierte. Dabei stellten sich folgende Fragen: Wie wurden die Reformen von den kirchlichen Kreisen aufgenommen? Welche besonderen Änderungen des Erziehungs- und Ausbildungsprozesses griechisch-katholischer Priester wurden vorgenommen – welche Fächer wurden in das Studienprogramm aufgenommen? Wie wirksam waren die vorgenommenen Änderungen?
9 Klueting 1995, S. 85–87, 119–121; Patent „Die Einrichtung und Verfassung der galizischen Stände“ vom 13. Juni 1775, in: Sammlung aller k. k. Verordnungen und Gesetze… 1786, S. 220–232. 10 Unter anderem wurde z. B. das Konsistorialgericht als kirchliches Rechtssprechungsorgan für Zivilsachen durch die Hofentschließung vom 27. September 1783 aufgehoben. In: Handbuch aller unter der Regierung des Kaisers Joseph des II… Bd. 4 (1785), S. 422. 11 Maass 1956, Bd. 3, S. 251. 12 Klueting 1995, S. 85–87, 113. 13 Maass 1956, Bd. 3, S. 285. 14 In Lemberg: das Lemberger päpstliche Kolleg der Theatiner. 15 Allgemeine Deutsche Biographie 1888, Bd. 27, S. 459–460.
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Und schließlich: Könnte man von den Auswirkungen des neu eingeführten Bildungsprogramms auf den griechisch-katholischen Klerus sprechen?
2.
Methodologische Überlegungen
Einen methodologischen Ansatz zur Beantwortung dieser Fragen lieferte Gerhard Oestreich, indem er den gemeinsamen Ausgangspunkt sämtlicher inländischer Reformmaßnahmen Josephs II., deren Hauptziel es war gehorsame und tüchtige Untertanen zu erziehen,16 als „Sozialdisziplinierung“ bezeichnete.17 In einem breiteren Kontext wurde mit diesem Begriff ein vom absoluten Monarchen angeleiteter säkularer Prozess definiert, der sowohl der allgemeinen Disziplinierung als auch derjenigen des einzelnen Individuums dient. Auf diese Weise trägt die genannte Disziplinierung dazu bei, nicht nur die bestehende Gesellschaftsordnung zu garantieren, sondern auch die politische Ordnung eines absolutistischen Staates zu herstellen und zu stabilisieren. Allerdings ging Oestreich davon aus, dass die Sozialdisziplinierung nicht als ein Erziehungsvorgang, sondern lediglich als ein Umerziehungsprozess gesehen werden könne.18 Entsprechend lag in den Aufforderungen zur Entwicklung keine Regulierung im Interesse der Gesellschaft; hinter dem Prinzip von Befehl und Gehorsam sei in Grunde der Versuch zu erkennen, einen neuen absolutistischen Staat aufzubauen.19 Wird das Konzept der Sozialdisziplinierung als ein theoretischer Zugang zur Untersuchung der (Macht-)Verhältnisse zwischen dem absolutistischen Staat und der katholischen Kirche im ausgehenden 18. Jahrhundert eingesetzt, so wird das Ausmaß des staatlichen Einflusses auf die griechisch-katholische Kirche und ihre Institutionen unter der Alleinherrschaft Josephs II. deutlich. Dies erschließt sich nicht zuletzt aus einer Untersuchung der Intensität der Eingriffe des Wiener Hofes in das Erziehungs- und Bildungssystem der griechisch-katholischen Geistlichen. Geht man davon aus, dass die vom Wiener Hof geplante Neugestaltung der Priesterausbildung als Mittel zur Disziplinierung dienen sollte, stellt sich die Frage, ob sich die Kleriker tatsächlich durch den Staat disziplinieren bzw. infolge der Bürokratisierung zu Staatsbeamten erziehen ließen. Die Geistlichen wurden vom Wiener Hof eher als Objekte der Disziplinierung betrachtet. Oestreich betonte den entscheidenden Einfluss der zentralen Regierungs- und Verwaltungsbehörden und somit auch den säkularen Charakter des gesamten Disziplinierungsprozesses. Zwar fungierte die Kirche als ein 16 17 18 19
Nach Rautenstrauch 1784, S. 11–12. Siehe Oestreich 1968, S. 345. Oestreich 1969, 168f.; Behrens in: Historische Mitteilungen 12/1999, S. 35–68. Vgl. Tilgner 2000, S. 28, 40; Oestreich 1968, S. 338–339.
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wichtiges Disziplinierungsorgan, d. h. als Subjekt der Disziplinierung, doch diente der religiöse Aspekt lediglich zur Verstärkung und war nicht entscheidend.20 Johannes Kritzl stellt die Frage bezüglich der Rollenaufteilung in der Kirchengemeinde (als Objekt): Wer ist Regierung und wer ist Untergebener?21 Dem Rektor des Generalseminars, der je nach dem Inhalt der Angelegenheit der Geistlichen Hofkommission oder dem Lemberger Statthalter unterstand, ordneten sich alle zugelassenen Seminaristen unter. Dadurch, dass die Seminaristen ihre Beschwerden gegen das Handeln ihres Rektors bei der Landesstelle einlegen konnten, besaßen jedoch auch sie ein Mittel der Einflussnahme gegenüber ihrem Leiter. Eine andere Perspektive auf die Frage über die Koexistenz zwischen dem Staat und den kirchlichen Strukturen eröffnet das Konzept der Gouvernementalität. Mit diesem Begriff bezeichnete Michel Foucault in einer Studie über die Konstituierung von Persönlichkeiten die „Art und Weise, mit der man das Verhalten der Menschen steuert“.22 Foucault ging davon aus, dass die Untertanen nur zum Teil durch Anwendung von Druck, Zwang oder Gewalt seitens der staatlichen Aufsichtsbehörden, umso mehr aber durch eine Selbstdisziplinierung der Subjekte zum Gehorsam sowie zur Erfüllung ihrer Verpflichtungen gegenüber dem Herrscher gebracht wurden bzw. sich selber brachten.23 Daran schließt sich die Frage an, inwieweit das josephinische Erziehungs- und Ausbildungsprogramm von den Seminaristen angenommen und befolgt wurde.
3.
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Zwei der vom Wiener Hof verfolgten Ziele lassen sich anhand der kaiserlichen Erlasse im kirchlichen Bereich erkennen: Erstens jeden Lebensbereich der Untertanen der staatlichen Kontrolle zu unterstellen und zweitens einen engen Kontakt mit der Bevölkerung aufzubauen, um der Landbevölkerung die kaiserlichen Verordnungen zu übermitteln. Die Ausführung dieser Vorhaben wurde dabei, neben dem staatlichen Verwaltungsapparat, auch der Kirche zugewiesen. Somit hing der Fortschritt bei der Durchsetzung des vom Kaiser geplanten Reformprogramms unmittelbar vom Einsatz vor allem des niederen Klerus ab. Dabei war die Erziehung und Formation der Priester, die dem josephinischen Idealtypus entsprechen würden, nur einer der Punkte des josephinischen Re20 Vgl. Oestreich 1969, 168f.; Behrens in: Historische Mitteilungen 12/1999, S. 35–68.; Schulze 1987, S. 265–302. 21 Kritzl 2011, S. 16. 22 Foucault 2009, S. 261. 23 Vlg. Grosse Kracht 2006, H. 2, S. 273–276. 24 Nach dem Konzept von Idealtyp von Günter Birtsch, in: Birtsch 1987, S. 9–10.
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formprogramms zur Unterordnung der Kirche unter den Staat. Es war für den Wiener Hof wichtig, eine neue Priestergeneration zu erziehen und die notwendige Zahl der Pfarreien mit den entsprechend (staatlich) ausgebildeten Geistlichen zu besetzen. Eine schlüssige Argumentation für Josephs Vorhaben lieferten unter anderen Hofrat Franz Stephan Rautenstrauch und sein Nachfolger im Amt des Direktors der damaligen Theologischen Fakultät Hofrat Augustin Zippe. Nach Rautenstrauch hat der Seelsorger als Lehrer und Diener der Religion zwei Pflichten zu erfüllen: zum einen das Volk in der Glaubens- und Sittenlehre zu unterrichten und zum anderen, die Mentalität, Denkweise und das Verständnisvermögen einzelner Personen berücksichtigend, jeden Einzelnen zu erreichen.25 Augustin Zippe war überzeugt, „der Seelsorger kann – wenn er Kenntnisse und Aufklärung hat […] – durch Belehrung, Beispiel, Handleitung und Mitwirkung, im Staate Arbeitsamkeit, Sparsamkeit und Industrie befördern; […] durch seine Beredsamkeit bereitwilligen Gehorsam gegen die öffentlichen Gesetze, und Ehrfurcht und Liebe gegenüber dem Landesfürsten und seinen Stellvertreter bewirken, […] durch Wachsamkeit, Aufsicht und Klugheit zur Erhaltung und Handhabung der öffentlichen Ordnung und Sicherheit beitragen, […] durch Sorgfalt für die Armen und Kranken, dem Staate unzählige Glieder erhalten und […] durch zweckmäßige Leitung der Jugend brauchbare künftige Bürger bereiten […]. Er kann, da er den Zugang zum Herzen seiner Mitbürger hat, Vorurtheile ausrotten, und nicht selten Aufstand verhüten“26. Daher sah Rautenstrauch den angestrebten Endzweck des Unterrichts „in der Ermunterung [der Studierenden] zur Tugend […] für die Kirche, und den Staat“27. Vor diesem Hintergrund ist es nachvollziehbar, dass es für den Wiener Hof von Bedeutung war „über die Bildung des angehenden Klerus die Aufsicht zu haben“28. Die Notwendigkeit dieser staatlichen Aufsicht begründete die Vereinigte Hofkanzlei damit, dass da „[der griechisch-katholische] Clero, der aus dem rohen Bauernvolke genommen wird, und der […] in Wissenschaften nach sehr weit zurücke, und vielmehr als ganz roh anzusehen kämmt“29, es für den Bischof unmöglich sei, alle seine zahlreichen Pfarreien mit Geistlichen zu besetzen. Sah die Vereinigte Hofkanzlei (1783) das Hauptproblem im Mangel an ausgebildeten Priestern, so machte die Geistliche Hofkommission (1786) die Bischöfe für den niedrigen Bildungshintergrund des Klerus verantwortlich. Basierend auf den Berichten der Landesstelle beschuldigte die Geistliche Hofkommission die Bischöfe, sie wären daran interessiert, „die Kandidaten des geistlichen Standes in ihren Händen zu 25 26 27 28
Rautenstrauch 1782, S. 5–6, 11–12. Zippe 1784, S. 73–74. Rautenstrauch 1782, S. 35. Vortrag der Geistlichen Hofkommission vom 1. 12.1786 – ÖStA, AVA/Kultus AK Katholisch 564. 29 Vortrag der Vereinigten Hofkanzlei vom 2. 09. 1783 – ÖStA, AVA/Kultus AK Katholisch 587.
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haben, und sie, wie es […] immer geschehen ist, zu ihren Diensten gebrauchen zu können, [und] eher für ihre (eigene) beständige Aufrechthaltung und Fortdauer besorgt seyn, [denn im Diözesanseminar sind die] Jünglinge mehr mit der Bedienung des Bischofs in geistlichen und weltlichen Verhältnissen als mit den Lehrgegenständen beschäftiget“.30 Zwar sollte die genaue Anzahl der erforderlichen Seelsorger erst infolge der vom Wiener Hof veranlassten Pfarrregulierung festgestellt werden,31 doch die Vorberechnungen wiesen bereits einen Mangel an römisch-katholischen Priestern auf. Diese Tatsache stellte Joseph II. vor ein Dilemma: Entweder den angeblichen Mangel an Seelsorgern schnellstmöglich zu bekämpfen oder aber die Endergebnisse der Pfarreiregulierung abzuwarten und inzwischen die Priesteramtskandidaten entsprechend auszubilden. Zwar bestand der Wiener Hof weiterhin darauf, dass die angehenden Priester ihre Ausbildung vollenden, dennoch stimmte er einer Lockerung bei den Priesterweihen zu. Bereits zwei Monate nach der Verschärfung und Unifizierung der Vorschriften über die Priesterausbildung erlaubte Joseph II. dem Przemys´ler griechisch-katholischen Bischof „die zur Seelsorge unumgänglich nöthige Anzahl [der] Priester [zu] weihen“32. Dabei wurde den Bischöfen vorerst freie Hand bei der Erteilung von Priesterweihen gelassen.33 Die für die Zulassung zur Weihe erforderlichen Mindestkenntnisse wurden erst Ende Mai 1784 bestimmt.34 Somit gelang es den griechisch-katholischen Bischöfen, die Anzahl der Priester wenn nicht zu erhöhen, so doch zumindest beizubehalten.
4.
Der griechisch-katholische Klerus im ausgehenden 18. Jahrhundert
In der Habsburgermonarchie war der römische Katholizismus als Staatsreligion anerkannt. Neben der römisch- und armenisch-katholischen wurde auch die griechisch-katholische Kirche im Kronland Galizien als „katholisch“ bezeichnet und der römisch-katholischen Kirche rechtlich angeglichen.35 Die Mehrheit der 30 Vortrag der Geistlichen Hofkommission vom 1. 12.1786 – ÖStA, AVA/Kultus AK Katholisch 564. 31 Die Pfarrregulierung wurde bis Anfang August 1790 immer noch nicht abgeschlossen, in: ÖStA, AVA/Kultus AK Katholisch 564. 32 Bericht des galizischen Guberniums von 5. 04. 1784 – ÖStA, AVA/Kultus AK Katholisch 587. 33 Bereits im Frühjahr 1784 meldete der Lemberger Bischof Bielanski 148 vakante Pfarrämter in seiner Diözese: Bericht des galizischen Guberniums vom 13. 04. 1784 – ÖStA, AVA/Kultus AK Katholisch 587. 34 Vortrag der Geistlichen Hofkommission vom 1. 12. 1786 – ÖStA, AVA/Kultus AK Katholisch 564. 35 Harasiewicz 1862, S. 599–600.
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galizischen Bevölkerung bekannte sich zu den beiden letzteren Kirchen. Die griechisch-katholische Gemeinde, die viel zahlreicher war, bestand fast ausschließlich aus den ruthenisch-sprachigen Bauern, die kaum politischen oder ökonomischen Einfluss im Kronland hatten. Eine steigende Zahl der wenigen Angehörigen der griechisch-katholischen bürgerlichen und Adelsfamilien konvertierte zum römischen Katholizismus, um ihre Aussichten auf eine erfolgreiche Zukunft zu verbessern, denn der größte Teil der politischen und ökonomischen Elite Galiziens bekannte sich zum Katholizismus des lateinischen Ritus. Die Gläubigen dieser Kirche stammten aus den Mittel- und Oberschichten der Gesellschaft und sprachen im Alltag überwiegend Polnisch.36 Wie die Mitglieder der griechisch-katholischen Kirche eine größere Zahl umfasste, so war auch deren Klerus entsprechend zahlreicher als derjenige der römisch-katholischen Kirche; der letztere aber verfügte über einen wesentlichen Anteil des gesamten Geld- und Gütervermögens Galiziens. Aus diesen Umständen ergibt sich der Grund, weswegen die griechisch-katholische Kirche für den Erfolg der Integration des Kronlands selbst, wie auch für die von Joseph II. geplanten Reformen in Galizien von großer Bedeutung war. Wie sich herausstellte, gewann der Wiener Hof überdies durch die veranlassten Reformen zur Verbesserung der materiellen Lage und des sozialen Status der griechisch-katholischen Geistlichkeit deren Loyalität. Über das Alltagsleben der griechisch-katholischen Geistlichkeit liegen kaum ausgewogene Informationen vor. Die bis jetzt bekannten kurzen Erwähnungen sind lediglich in den amtlichen Rapporten37 und Reiseberichten zu finden. Sie geben nur Einblicke in die einzelnen Lebensbereiche der Pfarrer. Bei den zwei Reiseberichten aus dem 18. Jahrhundert handelt es sich um den früheren, eher unbekannten Bericht von Joseph Franz Ratschky aus dem Jahr 1783 und die spätere, allgemein bekannte Schrift von Franz Kratter (1786). In der deutschsprachigen Reiseliteratur38 des 18. Jahrhunderts über Galizien wurden die Geistlichen und vor allem die griechisch-katholischen Priester meistens beiläufig erwähnt und dabei durch ein ihrem sozialen Status unwürdiges Verhalten charakterisiert. Es liegt die Vermutung nahe, dass überzeugte Anhänger des Josephinismus dem Klerus im Allgemeinen gegenüber feindselig gesinnt und vor-
36 Glassl 1975, 14–15. Diese Aufteilung der galizischen Gesellschaft ist zwar sehr schematisch, doch die genauere Untersuchung der „sprachlichen“ Grenzen innerhalb der galizischen Bevölkerung, oder der räumlichen Abgrenzungen innerhalb der sprachlich homogenen Gruppen liegen nicht vor. 37 Akten des Hofrats Johann Wenzel von Margelik in: ÖStA, AVA/Hofkanzlei, Ktn. 231; Akten des Statthalters Johann Anton von Pergen in: Schembor 2015, S. 403–450. 38 Ausführlich definiert diese Begriffe Eloïse Julie Alemann in: Allimann 2016 (Masterarbeit).
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eingenommen waren und nur diejenigen Geistlichen lobten, die sich für die Ausbildung der Landesbevölkerung einsetzten.39 In seinem Reisebericht stellt Franz Kratter sehr anschaulich und lebendig die alltäglichen Gewohnheiten und Pflichten eines Dorfpfarrers40 dar: „Der Geistliche auf dem Lande unterscheidet sich an körperlicher Bildung, und Sitte wenig vom Bauern. Er wohnt in einer elenden Hütte, wie dieser, pflügt, sauft, darbt, wie dieser. Die bestimmten Einkünfte von den griechischen Pfarreien belaufen sich oft nur auf 15 oder 20 polnische Gulden [Zloty] des Jahres. Der Pfarr muß also, um leben zu können, das Feld selbst bauen. Es ist nichts Ungewöhnliches auf dem Lande, den Priester in einem zerlumpten Rocke, den Priesterkragen um den Hals, die Tobakspfeife im Munde, die Peitsche in der Hand neben seinen Pferden oder Ochsen herwaten zu sehen. Die meisten saufen Brandtwein wie Wasser, sind beinahe alle Tage besoffen, und treiben dann allen nur Trunkenbolden eigenen, unflätigen Unfug“.41 Jedoch lässt die starke Verallgemeinerung und Verspottung, oder sogar Stereotypisierung42 an der Repräsentativität und vor allem an der Glaubwürdigkeit des von Kratter geschildeten Gesamtporträts des Landpfarrers für den gesamten griechisch-katholischen Klerus zweifeln. Es ist allerdings schwierig (und im Rahmen dieses Artikels nicht möglich), die Authentizität des Berichtes von Kratter zu beurteilen. In diesem Zusammenhang soll eine der jüngsten Studien von Friedrich Wilhelm Schembor erwähnt werden. Schembor stellt eine Hypothese über die Quelle der Informationen, die Kratter in seine Texte einfließen ließ, indem er auf die zahlreichen Ähnlichkeiten bzw. Übereinstimmungen in den Kratters’ Erzählungen mit dem unveröffentlichten und lediglich für den internen Amtsgebrauch bestimmten Bericht des Landesgouverneurs Grafen Anton Pergen aus dem Jahr 1773 hinweist.43 Auch Landesgouverneur Pergen wies im besagten Bericht darauf hin, dass die griechisch-katholische Geistlichkeit wenig diszipliniert, sogar nachlässig bei der Erfüllung ihrer Amtspflichten war „[und sollte] von den Pflichten ihres Standes hinlänglich unterrichtet seyen […], denn sie glauben ihre Schuldigkeit gethan zu haben, wenn sie Sonn- und Feyertage die Messe singen, eine abgeschmakte Predigt [!], alle Monate einmal eine unverständliche Christenlehre halten, und einem Kranken […] die heiligen Sacramenta reichen. Die Griechischunirten […] predigen und katechisieren ungemein selten“.44 Zur all39 Zit. nach Allimann 2016 (Masterarbeit), S. 56. 40 Kratter gibt keinen eindeutigen Hinweis zu welchem der katholischen Riten sein Geistlicher gehört, doch es erschließt sich aus dem Gesamtkontext, dass es sich um einen griechischkatholischen Priester handelt. 41 Kratter 1990, Bd. 2, S. 1–2. 42 Vgl. Röskau-Rydel 1999, S. 384; siehe Genette 2010, S. 103–135. 43 Schembor 2015, S. 33–57. Der besagte Bericht in: Schembor 2015, S. 403–450. 44 Schembor 2015, S. 424.
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gemein schlechten Disziplin des Klerus trug nicht zuletzt der Umstand bei, dass die Bischöfe zu wenig Einfluss und Macht hatten, um strafwürdige Kleriker bestrafen zu können.45 Die finanzielle Situation der griechisch-katholischen Pfarrer war recht angespannt. Die absolute Mehrheit von ihnen war verheiratet und hatte eine Familie zu ernähren, bezogen jedoch von ihren Benefizien sehr geringe Einkünfte. Darüber hinaus waren die Pfarrer verpflichtet, eine jährliche Gebühr an ihren Bischof zu entrichten. Deren Höhe wurde auf der Basis des jährlichen Gesamteinkommens berechnet, der Grundbetrag betrug 12 Zloty. Jedoch mussten sie keine öffentlichen Abgaben von ihren Privatgrundstücken entrichten und waren mitsamt ihren Kindern auch von den Frondiensten befreit.46 In Anbetracht der geringen Einkünfte und hohen Ausgaben sahen sie einen Ausweg in einer (starken) Erhöhung der Stolgebühren für ihre Dienste (wie Taufe, Trauung und Bestattung), die von den Pfarreimitgliedern zu leisten waren.47 Auch die Trunksucht stufte der Landesgouverneur Pergen als Massenproblem der gesamten Landesbevölkerung, sowohl der Bauern als auch der Geistlichen, ein.48 Dabei betonte er, dass „die Aufführung besonders der griechischunirten Pfarrer höchst ärgerlich und von der Lebensart der Bauern wenig unterschieden“49 gewesen sei. Über die Ausbildung der zukünftigen Priester ist aus dem Bericht Pergens wenig bekannt. Zwar wurde das Theatiner-Kollegium in Lemberg als eine der wichtigsten Bildungsanstalten in Galizien erwähnt, doch beschränkt sich Pergen in seinem Bericht auf die Anmerkung, dass die Zahl der Studienplätze sehr gering war. Aus dem Bericht lässt sich nicht erschließen, ob und wie viele griechischkatholische Studenten unter den Alumnen dieses Kollegiums waren. Nebenbei enthüllte Pergen die für den Wiener Hof entscheidenden Fähigkeiten eines tauglichen Seelsorgers, nämlich „eine gute Art zu kathechisiren und eine populäre Beredsamkeit“,50 die im Theatiner-Kollegium nicht erlernt werden konnten, da der angebotene Studienplan größtenteils aus den Kursen in Theologie und kanonischem Recht bestand. Der allgemein niedrige Bildungsstand des Säkularklerus wurde von Hofrat Heinke in knapper Form erwähnt; er behauptete 45 Schembor 2015, S. 422. 46 Schembor 2015, S. 422–425. 47 als Beispiel wurde ein griechisch-katholischer Pfarrer angezeigt, der von einem Bauer für die Bestattung seines Kindes ein Kalb verlangte in: Schembor 2015, S. 424. 48 Durch die Verordnung vom 31. Oktober 1786 wurde das Brennen von Branntwein in einigen Distrikten allen, ausgenommen den Edelleuten, vorübergehend verboten. Diese Entscheidung wurde unter anderem durch die Sorge um das Wohl des Volkes gerechtfertigt, denn „das Berauschen und Besaufen unter dem gemeinen Manne sehr überhand genommen“. In: Handbuch aller unter der Regierung des Kaisers Joseph des II… 1788, Bd. 10, S. 293. 49 Schembor 2015, S. 424–425. 50 Schembor 2015, S. 425.
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zudem, die Basilianermönche seien daran interessiert, denn „der unwießende clerus sich desto mehr in blindem Gehorsam […] leiten […] laße“51. Diese Anschuldigung wurde aber nicht mit einem Beispiel oder einer ausführlichen Erklärung belegt. Wie Franz Kratter stellt auch Joseph Ratschky in seinem Reisebericht den griechisch-katholischen Pfarrer als lächerlich, „auf eine groteske Weise“52 dar: „Der Pope oder Dorfpfarrer, der seinen Schäfchen Bildung, und Anleitung geben sollte, kann mit genauer Noth lesen, und es ist nichts Seltenes, ihn in der Judenschenke anzutreffen, wo er mit seiner Gemeinde sich mit Brandwein volltrinkt, und gelegenheitlich wacker herumbalgt. Wie ein solcher Seelenhirte seine Herde weiden mag, ist leicht zu erachten“.53 Auch dem Ort und der Situation unangemessenes, abwegiges Benehmen eines griechisch-katholischen Priesters in Lemberg ist Ratschky nicht entgangen: „der sich unter der Messe während des Gesangs […] mitten in der Kirch, wie ein ächtes Kind der Natur die Nase mit den Fingern butzte“.54 Die zeitgenössischen offiziellen Berichte und Schriften enthalten nur sporadische beiläufige Erwähnungen über die gewöhnlichen Tätigkeiten der griechisch-katholischen Landpfarrer. Je nach Verfasser teilen sich die Berichte in kirchliche und staatliche. Der bis dato einzige bekannte kirchliche Bericht über den „Zustand der Diözesen Lemberg, Halicz und Kamenec in Podolien“ des Lemberger Bischofs Leo Szeptycki von 1761 ist an den Heiligen Stuhl adressiert. Der Autor wies in seinem Schreiben lediglich auf die unzureichende Dotierung der meisten Pfarreien hin, was dazu führte, dass die Pfarrer eigenhändig die zur Pfarrei gehörigen Grundstücke bebauen mussten. Wegen dieser prekären finanziellen Lage war für die meisten Pfarrer eine angemessene Ausbildung unerschwinglich. Nur wenige von ihnen hatten einen Gymnasialabschluss, die meisten Kandidaten zum Priestertum wurden unmittelbar vor ihrer Weihe vor Ort in ihrer Muttersprache in der Moraltheologie unterrichtet.55 Der Ausbildungsstand der Priester änderte sich kaum während der folgenden 20 Jahre. Dies ist aus den 1783 vorgelegten Berichten des Jaworówer Dekanats ersichtlich. Als sein Studienfach gab jeder Zweite „Ruthenisch“ und jeder Fünfte „Rhetorik“ an. Weitere Lehrfächer waren: Theologie, Moraltheologie, Philosophie, Grammatik, Logik und Poesie. Fast die Hälfte aller Pfarrer dieses Dekanats absolvierten ihr Studium in ihrem Geburtsort, hingegen nur jeder Fünfte in Lemberg oder Przemys´l. Zieht man in Betracht, dass zu diesem Zeitpunkt Priesterseminare nur
51 52 53 54 55
Maass 1956, Bd. 3, S. 281. Allimann 2016 (Masterarbeit), S. 56. Zit. nach Allimann 2016 (Masterarbeit), S. 99. Zit. nach Allimann 2016 (Masterarbeit), S. 89. Pelesz 1880, Bd. 2, S. 602–603.
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in Lemberg und Przemys´l existierten, so dürfte höchstens jeder Fünfte sein Studium im Priesterseminar abgeschlossen haben.56
5.
Ausbildung der Geistlichen
Eine wichtige Grundvoraussetzung für die Weihe in den Priesterstand war für die Geistlichen der griechisch-katholischen Kirche in Galizien eine vollständige Erfüllung aller in den Beschlüssen der Synode von Zamos´c´ (1720)57 festgelegten Vorschriften. Demgemäß sollte der Kandidat mindestens 25 Jahre alt und, wenn nicht aus einer Priesterfamilie stammend, so zumindest frei (kein Knecht) sein. In Ausnahmefällen durfte sich der Sohn eines halbfreien oder unfreien Bauern bewerben, falls der Grundherr seiner Familie die völlige Freiheit schenkte. Der Bewerber sollte nachweisen können, dass er lesen und schreiben konnte, ausreichende Seelsorgekompetenzen erworben sowie eine Prüfung in Theologie erfolgreich bestanden hatte. Die Erteilung der Priesterweihe erfolgte erst, wenn der zuständige Pfarrer oder Dechant infolge seiner Ermittlungen über die Person des Kandidaten dem Bischof eine positive Bewertung vorlegen konnte.58 In den Beschlüssen wurde den Themen der Ausbildungseinrichtungen oder der Ausbildung der Priesteramtskandidaten kaum Aufmerksamkeit gewidmet. Es wurde lediglich empfohlen, in den Klöstern mit mehr als zwanzig Mönchen theologische Studien anzubieten und gegebenenfalls auch die Weltpriesterkandidaten aufzunehmen. Außerdem wurden die Bischöfe aufgefordert, in ihren Diözesen Priesterseminare zu gründen oder zumindest den tauglichsten unter den Priestersöhnen ein Studium im Lemberger Theatiner-Kolleg zu ermöglichen; sie sollten überdies ihre Pfarrer und Dechanten beauftragen, in den Pfarrschulen einen ordentlichen Schulbetrieb aufrechtzuerhalten.59 Die bekannten Quellenmaterialien aus der Zeit vor1772 geben keinen Aufschluss über den eigentlichen Ausbildungsstand der griechisch-katholischen Kleriker in Galizien. Doch in einem seiner Berichte an den apostolischen Nuntius Giuseppe Garampi erwähnte der Przemys´ler Bischof Athanasius Szeptycki das dortige Priesterseminar. Diese Bildungseinrichtung war bereits 1712 vom Bischof Georg Winnicki gegründet worden und war finanziell abgesichert. Um den Nachwuchs an ausgebildeten Priestern zu ermöglichen, veranlasste sein Nach56 AP Przemys´l: Archiwum Greckokatolickiego Biskupstwa w Przemys´lu, zesp. 142/Sygn. 212 Regulacje parafii i dekanatów (1725–1785), S. 39–42. 57 Synodus provincialis Ruthenorum … 1724. 58 Synodus provincialis Ruthenorum … 1724, 3 Artikel „De sacramentis, eorumque administratione“; 7 Unterkapitel „De sacris ordinationibus“, S. 81–88. 59 Synodus provincialis Ruthenorum … 1724, 15 Artikel „De studiis instaurandis et seminariis“, S. 116–118.
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folger auf dem Bischofsstuhl Hieronim Ustrycki 1727 die Versetzung der drei Przemys´ler Seminaristen ins Lemberger Theatiner-Kolleg. Angaben über die genaue Anzahl der Diözesanpriester mit einem Studienabschluss fehlen, doch diese muss sehr gering gewesen sein.60 Auch in den sechziger Jahren hatten laut Bericht des Lemberger Bischofs Leo Szeptycki von 1761 nur wenige der Pfarrer das Gymnasium abgeschlossen. Die meisten Priesteramtskandidaten genossen, wie bereits oben erwähnt, vor Ort einen kurzen Moraltheologiekurs in ihrer Muttersprache unmittelbar vor der Weihe. Auch die zwölf weiteren Studienplätze, die nach der 1774 erfolgten Gründung des griechisch-katholischen Priesterseminars an der Barbarakirche (Barbareum) in Wien geschaffen worden sind, konnten das allgemeine Bildungsniveau der Priester nicht anheben.61 Das Barbareum existierte bis zur Errichtung eines griechsich-katholischen Generalseminars 1783 in Lemberg; dessen Gründung erfolgte im Zuge der mit dem Hofdekret vom 30. März 1783 verkündeten Unifizierung und Zentralisierung der Priesterausbildung.62 Durch die besagte Verordnung wurde die allgemeine Studienpflicht für Welt- und Ordensgeistliche eingeführt und die Ausbildungsdauer im Priesterseminar auf sechs Jahre festgesetzt. Mit den Dekreten vom 20. und 21. August 1783 wurden sowohl sämtliche inländische philosophische und theologische Kloster- und Stiftsschulen als auch alle Diözesanseminarien geschlossen.63 Da das Verbot, Priesteramtskandidaten für das Studium nach Rom64 zu schicken, bereits zwei Jahre zuvor erlassen worden war,65 wurde das Lemberger Generalseminar mit vorerst 6166 und später 5667 Stiftungsplätzen für die griechisch-katholischen Seminaristen der beiden Diözesen zur einzigen Ausbildungseinrichtung für künftige Priester. Den Bischöfen wurde lediglich die praktische Vorbereitung auf die Seelsorge als die letzte Phase der Priesterausbildung anvertraut. Durch das Hofdekret vom 21. August 1783 wurde jeder Bischof angewiesen, in seinem Bistum ein Priesterhaus für die Absolventen des Generalseminariums zu stiften, wo die Qualifikationen und Fähigkeiten der
60 Pelesz 1880, Bd. 2, S. 608, 610–612. 61 Pelesz 1880, Bd. 2, S. 639–641. 62 Die Gründung von Generalseminarien wurde durch das Hofdekret vom 30. März 1783 kundgemacht im: Handbuch aller unter der Regierung des Kaisers Joseph des II… 1785, Bd. 2, S. 15–18. 63 Handbuch aller unter der Regierung des Kaisers Joseph des II… 1785, Bd. 2, S. 18–22. 64 Es handelt sich vor allem um das päpstliche Kolleg Pontificum Collegium Germanicum et Hungaricum. Mehr über das Kolleg unter: https://www.cgu.it/about/our-story/, letzter Zugriff am 17. Jänner 2019). 65 Handbuch aller unter der Regierung des Kaisers Joseph des II… 1785, Bd. 2, S. 24. 66 Vortrag der Geistlichen Hofkommission vom 17. 02.1784 – ÖStA, AVA/Kultus AK Katholisch 587. 67 Vortrag der Geistlichen Hofkommission vom 1. 12. 1786 – ÖstA, AVA/Kultus AK Katholisch 564.
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Priesterkandidaten ein bis zwei Jahre geprüft wurden.68 Der theoretische Teil der Priesterausbildung sollte von nun an in den öffentlichen, vom Staat kontrollierten Schulen bzw. Universitäten stattfinden. Mit der Gründung des Generalseminars galt ein erfolgreicher Abschluss desselben für die künftigen Priesteramtskandidaten als eine notwendige Voraussetzung für die Zulassung zur Priesterweihe.69 Doch von nun an verpflichtete die Aufnahme ins Generalseminar selbst nicht zum Empfang der Priesterweihe. Mit dem Hofdekret vom 26. Oktober 1783 wurde das Verbot erteilt, den Seminaristen einen Eid hierüber abzunehmen oder im Falle ihres Berufswechsels von den Absolventen die Rückerstattung der während des Studiums entstandenen Unterhaltungskosten zu verlangen.70 Allerdings war das Studium im Generalseminar nur eine Phase der gesamten Priesterausbildung, denn für die Zulassung zum Studium waren lateinische Sprachkenntnisse ebenso wie das vollendete Philosophiestudium unabdingbar.71 Da die meisten griechisch-katholischen Gemeindemitglieder sich für ihre Söhne keine Gymnasialausbildung leisten konnten, waren nur wenige der Bewerber im Generalseminar der lateinischen Sprache mächtig. Es folgte das zweijährige Philosophiestudium, das aus Rhetorik-, Logik-, Metaphysik-, Mathematik- und Physikkursen bestand und in den (vormaligen) Diözesanseminarien absolviert wurde. Die von der galizischen Landesstelle durchgeführte Überprüfung hatte ergeben, dass lediglich drei Seminaristen alle Voraussetzungen erfüllten und ab dem 1. November 1783 ihre Ausbildung im Generalseminar fortsetzen durften.72 Der Bericht der Geistlichen Hofkommission vom 26. August 1783 über die mangelnde Ausbildung der meisten griechisch-katholischen Priester bewegte den Kaiser zur Milderung eigener Gesetze. Auf Anraten der Geistlichen Hofkommission genehmigte der Kaiser drei Toleranzjahre, während deren die Aufnahme ins Generalseminar auch ohne Abschluss des Philosophiestudiums erfolgen konnte.73 Mit einem weiteren Dekret vom 30. Mai 1784 wurden die beiden griechisch-katholischen Diözesanseminare in Galizien (in Lemberg und Przemys´l) bestätigt bzw. „allein nur provisorisch, und auf eine kürzere Zeit […] beibelassen, und […] mit dem in Lemberg bestehenden ruthenischen General-
68 Hofdekret vom 21. August 1783 in: Handbuch aller unter der Regierung des Kaisers Joseph des II… 1785, Bd. 2, S. 19–22. 69 Harasiewicz 1862, S. 617. 70 Harasiewicz 1862, S. 617. 71 Handbuch aller unter der Regierung des Kaisers Joseph des II… 1785, Bd. 2, S. 19–20. 72 Neben den griechisch-katholischen Seminaristen aus der Lemberger und Przemys´ler Diözese wurden ins Generalseminar sowohl die Seminaristen aus Siebenbürgen und Ungarn als auch die armenisch-katholischen Seminaristen aus der Lemberger Diözese versetzt. ÖStA, AVA/ Kultus AK Katholisch 587. 73 ÖStA, AVA/Kultus AK Katholisch 587.
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seminario“74 vereint. Zwar wurden die Vorschriften für die Zulassung zum Studium vorerst vereinfacht, doch der Ausbildungsplan und die Lehrfächer sollten für alle Priesteramtskandidaten im Generalseminar gleich sein; lediglich diejenigen Seminaristen, die der lateinischen Sprache nicht mächtig waren, sollten auf Ruthenisch unterrichtet werden. Diese vorübergehende Kompromisslösung entsprach den Grundintentionen des Kaisers „für den griechisch-katholischen Klerus in Galizien so wie für den angehenden Klerus aller übrigen Erbländer und Provinzen, ein eigenes allgemeines Seminarium zu haben […, denn] so stünden sie doch gleichfalls unter der öffentlichen Aufsicht des Staates, und der Studiendirektion, und erhielten unter der Leitung der Generalseminariumsrektoren eine gemeinschaftliche moralische Bildung, und gleichförmige Grundsätze“.75 Die um drei Jahre verschobene Zentralisierung und Vereinheitlichung von Bildungseinrichtungen wurde mit dem Hofdekret vom 22. März 1787 wiederaufgenommen und durch das darauf folgende Schreiben der Vereinigten Hofkanzlei die Diözesanseminare endgültig aufgehoben. Der Seminarabschluss sollte nicht nur als eine notwendige Voraussetzung zur Erteilung der Priesterweihe betrachtet werden, sondern wurde als ein Vorteil für die Karriere bezeichnet. Fortan durften sich nur die Absolventen des Generalseminars um die Konsistorial-, Domkapitel- oder Dekan-Stellen bewerben. Ferner durfte kein Priesterkandidat ohne Lateinkenntnisse zum Philosophiestudium zugelassen oder ins Generalseminar aufgenommen werden.76 Zu diesem Zeitpunkt bestimmte der Wiener Hof nicht nur allgemein die Richtlinien der Priestererziehung, sondern versuchte auch, den Ausbildungsablauf vorzuschreiben. Im Dekret vom 12. April 1787 wurde den Rektoren aller Generalseminare aufgetragen, „daß sie wenigstens eine Stunde, nämlich von 11 bis 12 Uhr den Alumnen besondere öffentliche Vorlesungen halten“77; es wurde zudem eine Auflistung der erwünschten Vortragsthemen beigefügt. Es gab aber auch ein paar Änderungen und Adaptionen früherer Gesetze wie die Neubestimmung der Anwendung von Unterrichtssprachen. Die Seminaristen im Lemberger Generalseminar sollten weiterhin die meisten Fächer auf Lateinisch hören, doch ab dem Schuljahr 1787 sollten sie in den theologischen Fächern (Dogmatik, Pastoral- und Moral-Theologie) in ihrer Muttersprache unterrichtet werden.78 Zwar war das Studium im Generalseminar durch gewisse Regeln und 74 Vortrag der Geistlichen Hofkommission vom 1. 12. 1786 – ÖStA, AVA/Kultus AK Katholisch 564. 75 Vortrag der Geistlichen Hofkommission vom 1. 12. 1786 – ÖStA, AVA/Kultus AK Katholisch 564. 76 Hofdekret vom 22. März 1787 im: Handbuch aller unter der Regierung des Kaisers Joseph des II… 1789, Bd. 13, S. 556–557; ÖStA, AVA/Kultus AK Katholisch 587. 77 Handbuch aller unter der Regierung des Kaisers Joseph des II… 1789, Bd. 13, S. 559. 78 Vortrag der Hofkommission vom 15. 06. 1787 ÖStA, AVA/Kultus AK Katholisch 587.
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Vorschriften bestimmt (wie etwa das Verbot, während der Ferien zu verreisen79 oder die Verordnung, dass die Seminarleitung ihre Mahlzeiten mit den Studenten gemeinsam an einem Tisch zu sich zu nehmen80 hat), es ermöglichte den künftigen Priestern aber eine ausreichende und ihrem Amt angemessene Ausbildung; es befreite die Seminaristen während ihrer gesamten Studienzeit zudem von Diensten für den Bischof.81 Der Unterhalt der Seminaristen aus den ärmsten Familien wurde durch Stipendien aus dem Religionsfond finanziert; auf Antrag des Rektors wurde den Absolventen ein einmaliger Zuschuss für Reisekosten und Bücher genehmigt.82 Aus den Berichten des Landesguberniums ist ersichtlich, dass die Seminaristen in den Diözesanseminaren „zu willkührlichen Dienstleistungen [ihren Bischöfen gegenüber, Anm. von B.P.] verwendet werden, Mangel, und Noth zu leiden haben“83 und diejenigen von ihnen, die sich ein Studium nicht finanzieren konnten, verpflichtet waren „ihren Beytrag durch persönliche Dienstleistungen ab[zu]zahlen“84 hatten. Deswegen hoffte die Geistliche Hofkommission, dass die Seminaristen gerne ins Generalseminar eintreten bzw. übertreten würden. Dennoch brachten die Seminaristen der Przemys´ler Diözese ihren Einwand gegen die Versetzung ins Lemberger Generalseminar bei der Landesstelle vor, nachdem die endgültige Aufhebung der Diözesanseminare kundgemacht worden war.85 Die eigentlichen Gründe dieser Verweigerung lassen sich aus den vorhandenen Dokumenten nicht herauslesen. Unklar bleibt auch, ob man den Bittstellern nicht doch eine Ausnahme gestattete. Alleine das Stellen eines solchen Antrags widersprach den Vorstellungen und Erwartungen der Geistlichen Hofkommission über die Annahme und Akzeptanz der josephinischen Reformen des Bildungswesens für Priesteramtskandidaten. Das josephinische Konzept der einheitlichen staatlich geregelten Priesterausbildung fand bei den meisten Beteiligten wenig Anerkennung. Sämtliche Generalseminare des lateinischen Ritus wurden kurz nach dem Tod Josephs durch das Hofreskript vom 4. Juli 1790 aufgehoben. Die einzige Ausbildungsinstitution ihrer Art, die „auf Verlangen der griechisch-katholischen Bischöfe Galiziens“86 erhalten blieb, war das Lemberger griechisch-katholische Generalseminar. Etwas unerwartet, sogar schwer nachvollziehbar erscheint ihr Engagement für das Bestehen dieser Bildungseinrichtung, wenn man die von den Bi79 80 81 82 83
ÖStA, AVA/Kultus AK Katholisch 587. Handbuch aller unter der Regierung des Kaisers Joseph des II… 1787, Bd. 8, S. 563. ÖStA, AVA/Kultus AK Katholisch 587. Antrag auf Zuschuss vom 5. August 1786 – ÖStA, AVA/Kultus AK Katholisch 587. Vortrag der Geistlichen Hofkommission vom 1. 12. 1786 – ÖStA, AVA/Kultus AK Katholisch 564. 84 Vortrag der Geistlichen Hofkommission vom 1. 12. 1786 – ÖStA, AVA/Kultus AK Katholisch 564. 85 ÖStA, AVA/Kultus AK Katholisch 587. 86 Sammlung der Leopoldischen Gesetze…1791, Bd. 1, S. 348.
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schöfen unternommenen Versuche, den Aufbau des Generalseminars zu verhindern oder zumindest zu verzögern, in Betracht zieht.
6.
Zusammenfassung
Unter der Alleinherrschaft Kaiser Josephs II. verlor die Kirche in der Habsburgermonarchie ihren besonderen Status. Durch den zunehmenden Einfluss des Staates auf jeden Bereich der Kirche versuchte der Wiener Hof, die Kirche für seine politischen Ziele zu instrumentalisieren. Doch im Vordergrund der josephinischen Kirchenreformen stand die Zentralisierung des Staates. Die Geistlichen wurden in erster Linie als Untertanen betrachtet; um dem Wohl des Staates zu dienen, sollten sie eine entsprechende staatlich kontrollierte Ausbildung erhalten. Die Unterstellung der Priesterausbildung unter staatliche Aufsicht sollte dem Wiener Hof einen unmittelbaren Einfluss auf die Organisation des Erziehungs- und Bildungswesens sowie auf die Inhalte der Lehrmaterialien ermöglichen. Allerdings scheiterte dieses Vorhaben nicht zuletzt an der mangelnden Unterstützung der Beteiligten. Die Zahl der Auszubildenden, vor allem in den beiden Lemberger Generalseminaren, blieb aus mehreren Gründen über Jahre sehr gering und bereits wenige Monate nach dem Tod des Kaisers wurden sämtliche Generalseminare mit Ausnahme des griechisch-katholischen in Lemberg geschlossen. Somit waren viele der Reformen Josephs im Bereich der Priesterausbildung weder allgemein verbindlich noch nachhaltig und die meisten der von ihm gesetzten Ziele blieben unerreicht. Mit Blick auf die vorgebrachten Dokumente lässt sich vermuten, dass die griechisch-katholischen Geistlichen, ähnlich wie der Klerus des lateinischen Ritus, für politische Ziele instrumentalisiert werden sollten. Die durchgeführten Reformen gingen nicht mit spezifischen Begünstigungen für die griechisch-katholischen Geistlichen einher, denn die meisten Neuerungsmaßnahmen, vornehmlich die Reformen der Priesterausbildung, betrafen auch die lateinische Geistlichkeit. Die griechisch-katholischen Priesteramtskandidaten dürften nur deswegen einen Sonderfall darstellen, da die meisten von ihnen eine mangelhafte, unzureichende Ausbildung erhielten, da sie zur (formalen) institutionalisierten Bildung nicht zugelassen wurden. Sollte das Ausbildungs- und Erziehungssystem der lateinischen Kirche unter staatliche Aufsicht gestellt werden, so sollte das Bildungssystem der griechisch-katholischen Kirche zunächst ausgebaut bzw. aufgebaut werden. Die Übernahme der Kontrolle über die Ausbildung und Erziehung von griechisch-katholischen Priesterkandidaten durch die staatlichen Behörden lässt sich weder für die Auszubildenden noch für die Kirche als Gemeinde und Institution als Nachteil betrachten. Keine der vom Wiener Hof erlassenen Verordnungen bezüglich der priesterlichen Erziehung und Ausbil-
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dung kollidierte mit den Zamos´c´er Beschlüssen, vielmehr ergänzten und erweiterten sie diese. Die vom Staat unternommene Unifizierung und Zentralisierung der Priesterausbildung sicherte allen begabten griechisch-katholischen Seminaristen die Möglichkeit, eine vollumfängliche und dem Priesterstand angemessene Ausbildung zu erhalten. Die Seminaristen wurden zudem von der Willkür der Bischöfe befreit und waren diesen nicht mehr persönlich verpflichtet. Paradoxerweise stießen die josephinischen Neuerungen des Bildungssystems auf einen (latenten) Widerstand des griechisch-katholischen Klerus. Zu diesem Schluss gelangt man angesichts der Tatsache, dass ein Teil der Seminaristen nach der dreijährigen Aufschiebung der Versetzung ins Generalseminar um weitere Behaltung im Diözesanseminar bat.
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Alessandro Milani (French Research Center in Humanities and Social Sciences – Prague)
The Polish management of Greek Catholics in East Galicia and Volhynia (1919–1929)
Abstract Largely based on the sources of the Vatican archives, this article centers on the ecclesiastical policy of interwar Poland toward(s) Ukrainian Greek Catholics of East Galicia in the frame of the recomposition of the statehood. The region was mixed. Two thirds of the population were ethically Ukrainians and preponderantly Greek-Catholics and one fifth Poles and quintessentially Roman Catholics. However, percentages were reversed in the main cities. Membership was coessential in moulding identity. The newly reunited Poland considered the activities of the Greek Catholic Church a potential threat to territorial integrity. Therefore, it tried to curtail the activities of the Church and to avoid its proselitism toward other Eastern regions with sizable East Slavic minorities. The article dwells on the following issues: the reunification of Poland, the role of the Roman, Greek Catholic episcopates and of the Holy See. Keywords: Catholic Rites, East Galicia, Nationalism, Poland, Ukraine.
1.
Introduction
The management ethno-ritual minorities adopted from the newly-reunited Polish state plays a great role in the history of interwar East Galicia, even though the region was not immediately assigned to Warsaw. Its juridical structure had been pending until 1923 when Poland could fully assert its sovereignty. Based on the crosscheck between secondary sources in English, Polish German and Ukrainian, as well as on primary sources from the Vatican Secret archives, this article aims to understand whether Warsaw’s ethno-religious policy of polonization succeded or not. In such a frame, East Galicia, whose inhabitants were mainly Ukrainians whose identity was nurtured by Greek Catholicism, can be seen not only as an anti-Polish stronghold, but as a pattern for other Eastern Slavics living in the provinces of Volhynia and Pidlasia. Since 1848, East Galicia has been a multi-cultured region and thus a playground par excellence for modern nationalisms, as it has seen a tireless com-
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petition between its major ethnical groups – Ukrainians and Poles – from the last decades of the 19th century onwards. The official denomination of the region was coined by the Entente (1919). It is due to the fact that it was the eastern part of a wider Kingdom of Galicia and Lodomeria1, or the Habsburgs’ portion of Poland (1772–1918), that included the duchies of Cracow and Auschwitz, which were supposed to be West Galicia. The latter two entities, however, had no historical connections with the medieval Principality, the Kingdom of Galicia and Lodomeria, and the pre-partition administrative entity of the Kingdom of Poland, whose spatial extent broadly corresponded to contemporary East Galicia, with the exception of Lodomeria (Volhnynia) that was annexed by the Russian empire after the third partition of Poland. As for Church-State relations, the founding decade (1919–1929) of the Second Polish Republic was marked by inter-ritual tensions between Roman Catholic Poles and Greek Catholic Ukrainians, as the identification between ritual membership had long become absolute and exclusionary. Many people of mixed blood were forced to choose between their national belief and their creed. Such tensions also affected the relations between their respective episcopates. Greek Catholic hierarchs did not take part at meetings of Polish bishops until 1923. Besides that, the period is characterized by concordatory negotiations, the promulgation and adoption of the concordat (1925). Furthermore, Catholicism saw a significant succession between Benedict 15th and Pius 11th, whereby the latter was the first nuncio to Poland after the state’s reunification (1918–1921) and initiator of the State-Church negotiations. Thus the decade between 1919 and 1929 allows an accurate evaluation of diplomatic negotiations between the governments, the episcopates, papal nuncios and Congregations, the ratification of the agreements and their immediate aftermaths and enables researchers to consider further political (OUN) and ecclesiastical turmoils that occurred from 1929 onwards, which are not yet documentable through the sources available at the Vatican Archives2.
2.
The Shaping of the Second Polish Republic
The Second Polish Republic was a newly reborn state. It is so named as Poles consider the elective monarchy, that existed from the late Middle Ages to the Three Partitions of the country (1772, 1793, 1795), as their first republican 1 Or Volhynia which, moreover, was not a part of the Habsburg empire. This completion of the title was meant to claim a historical legacy on these possessions. The region was briefly occupied by the Magyars in the mid-13th century and the Habsburgs bore the title of Kings of Hungary, N/A. 2 Hrytsak 2005 pp. 190–192.
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statehood. The word “Rzeczpospolita” has indeed the double meaning of “republic” and “commonwealth”. The country found its unity again after having endured divisions under the occupation of three foreign powers, i. e. Austria (lately Austro-Hungary), Russia and Prussia (lately German Empire)3, for more than a century. The state’s re-composition was the main concern of the government. From an administrative perspective, this implied the (re-)building of infrastructures that could link together the different parts of the country and the striving for the harmonization of juridical systems. From a more philosophical perspective, political leaders sought to identify and eventually implement some shareable values of togetherness, beyond what were thought to be the only two unshakable landmarks of Polishness: the language and the membership in the Roman Catholic Church4. Two major theories have existed since the last decades of the 19th century and both have somewhat affected the development of the statehood. Absolute nationalism implied that concurrent or plural identities were not acknowledged, or worse, were considered an inner threat to the safety of the nation state. The most successful interpreter of this line of thought was the endecja, an acronym that stands for “national democracy”, a conservative rassemblement led by Roman Dmowski. Instead, Piłsudski and his socialist party launched, or somewhat revived, the idea of a confederation with Lithuania, Belarus and Ukraine after having supported their independence from Russia5. Contrary to the majority of his fellow politicians, including his closest deputies, Dmowski’s approach to nationalism was rather pragmatic than expansionistic. Irredentism had to be seen as an opportunistic leverage to foster consensus on a more ambitious political platform, largely inspired by English conservative liberalism in its approach to individual freedom and the role of the state. Dmowski’s idea of statehood was, as much as possible, an all-Polish nation that left sizable minorities out of its borders, as a means of exerting pressure on neighboring countries6. Piłsudski’s geopolitical project was called Prometheism, after Prometheus, to symbolize the strength of enlightenment against despotism. It was largely attributed to the reflections of prince Czartoryski on Russian rulership and confederationalism, as exposed in his Essai sur la diplomatie (1830). The state could eventually function as a founding nucleus of a political union of nations caught between Germany and Russia, from the Baltic to the Black and Adriatic Sea. 3 4 5 6
Davies 1981, pp. 393–395; Kukiel 1993, pp. 45–46. Hahn 2005, pp. 5–8. Kawalec 2002 , pp. 234–235; Dziewanowski 1969, p. 174. Dmowski 1925, p. 208.
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Called Mie˛dzymorze or Intermarium, this project supplemented the previous and looked at the issue of filling the geostrategic gap caused by the implosion of the Austro-Hungarian empire. It was somehow echoed in Clemenceau’s Cordon sanitaire after 19187. Whereas Piłsudski considered Russia as the main threat to Central Europe, Dmowski was more concerned about Germany. He argued that the Reich’s economic efficiency and its resolute leadership would enable it to take over the region with little effort. In fact, he claimed that Russia’s portion of Poland should take profit out of the Tsardom’s inefficiencies in order to carve out a growing autonomy in economic matters, which would gradually lead to self-determination. These opposing stances led the leaders to support, respectively, the Central Empire or the Entente. Piłsudski led his legionaries who were drafted in the Austrian army8. However, after the First World War and the conflicts with the majority of its neighbors, Warsaw exercised its sovereignty on a territory slightly smaller than that of the last Commonwealth before partitions. Contrary to its historical legacy of tolerance (and to Wilson’s provisions), endecja’s governements put into practice an assertive stance toward(s) national minorities, that often attracted criticism from the Entente. These policies sought to respond to eventual or real threats. National minorities were mostly scattered along the borders and sometimes represented a consistent demographic majority in their original areas of settlement. Their respective homelands entered into war with Poland or were going to in the near future9.
3.
The Three Portions of Poland and Greek Catholicism and Galicia
The case of Galicia was enlightening. Nearly 66% of its population was Ukrainian and the remaining 34% were equally divided between Poles and Jews, even though the latter were largely Polonized. That strategic region shared borders with Czechoslovakia, the Soviet Union and Romania. Warsaw had a short border conflict with Prague between 1918 and 1919 and fought a harsher three years’ war with Moscow (1918–1921) on similar grounds. Bucharest has instead been a natural ally of Poland since 1918, and an official one since 1921, for it harbored similar claims on Western Ukraine (i. e. Bukovina) and shared an extended border with the Soviet Union. Ukrainian Galicians also fought Poland between 7 Krawczyk, pp. 231–244. 8 Chojnowski 1979, pp. 79–80. 9 Davies 1981, pp. 186–188.
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1918–1919 to escape their annexation and, ideally, to achieve their own national unity as 80% of their territory (and 65% of the ethnicity) was controlled by the Russian Empire. However, such a goal was never achieved. Between 1918 and 1921, the prevalently Ukrainian provinces of the Austro-Hungarian and Russian empires formed two distinct republics, the West Ukrainian People’s Republic and the Ukrainian National Republic, respectively, with different and sometimes opposing priorities. Ostensibly, the main priotity was to avoid annexation rather than pursuing national unity. Western Ukrainians defended themselves from Poles and Romanians, the latter being interested in Bukovina. Their eastern countrymen tried their best to withstand repeated Soviet invasions, even to the point of signing a defensive and, from their perspective, useless alliance with Poland in 192010. The following year, the Peace of Riga put an end to the Bolshevik RussianPolish war, with the victory of the latter, and it ratified the partition of Ukraine and Belarus between the two states. As a result, Galicia, Volhynia and Pidlasia were assigned to Poland. By that time, however, the Entente did not acknowledge Bolshevik Russia and the Treaty of St.Germain-en-Laye (1919) had only mandated Polish provisional administration over Galicia in view of a referendum on self-determination. This stance gave cause for hope to Ukrainian Galicians, who deserted en masse the following national survey and legislative elections of Poland (1922)11. Labelled by many authors as a “Polish and/or Ukrainian Piedmont”, Galicia was, rather than the political and military heart of their respective unifications, an effective political laboratory for national identities between 1772 and 1918, when it belonged to the Habsburgs. Faithful to the practice of divide et impera, Vienna enhanced Ukrainian identity in order to counterbalance Poles and their penchant for insubordination. Both communities were represented at the local diet and at parliament, their languages were taught at school. Thus, the two ethnicities enjoyed a relative tolerance, if compared to the harshness that their respective countrymen underwent in other occupied zones, and the region became a second homeland for many Polish and Ukrainian thinkers, most of which were exilés12. In Prussia, the lands of Polish nobility were confiscated and given to junckers (i. e. Prussian landowners) and German peasants were resettled in Posnania and Kujawa. As for Russia, a distinction must be made between Poles living in the Kingdom of Poland, a quasi-state corresponding roughly to the historical 10 Yekelchyk 2007, pp. 74–75. 11 Subtelny 1988, pp. 404–410. 12 Buszko 2002, pp. 153–155.
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duchies of Warsaw and Lublin where cultural and administrative autonomy was generally granted, and those scattered in the neighboring governorates of the empire, who often underwent cultural (but not religious!) restrictions, even though some Polish schools of grammar survived in the main towns. Ukrainians and Belarusians were instead conceived only as local variants of Russian – they were indeed called “Little Russians” – and all attempts to revive their traditions were brutally repressed13. Religious policies reflected secular trends. The Catholic Church suffered severe restrictions at the time of partitions, with the sole exception of the territories subjected to the Habsburgs. Prussia, and later the German empire, sought to Germanize Polish Catholics through juridical instruments. The 1821 concordat with Prussia granted the right of electing bishops to the clerics of the cathedral chapters, whose appointments were negotiated between bishops and the state. As a result, many German or Germanized canons were designated to the cathedrals of Posnania, namely those the archbishopric of Gniezno (united with that of Poznan´ in 1821) – the ancient capital and primatial see of all Poland as well as those of its suffragan dioceses of Kujawa and Chełmno14. A consistent part of the Church lands were allotted to the junckers as a consequence of laws on ecclesiastical mortmain. Moreover, the Kulturkampf in Posnania and Kujawa merged the features of a political and philosophical antiCatholic campaign with those of an ethnic discrimination. Many Polish confessional schools and associations were forcedly secularized or closed under pretext of instilling anti- German attitudes. Laymen and priests were arbitrarily arrested under suspicion of irredentism. After repeated protests, archbishop Ledóchowski of Gniezno was jailed in 1874. In the next few years, the primate was elevated to cardinal, transferred to a top curial position and replaced by a German prelate. Since the Russian empire was not able to impose Orthodoxy, it long entertained the idea of Russifying Roman Catholicism, seen as the confession par excellence of unruly minorities such as Poles, Lithuanians and, to a lesser extent, Volga’s Germans. However, two distinct ecclesiastical provinces were created: one for the Kingdom of Poland, divided into five dioceses subjected to the Archdiocese of Warsaw, whose clergy was mainly Polish, and the rest of the empire was placed under the metropolitan authority of the archbishop of Mogilev, who resided in Saint Petersburg. Unlike in the Kingdom of Poland, the latter dioceses had cross-cultural clergies and flocks15.
13 Davies 1981, pp. 90–101. 14 Lill 1985, pp. 48–50. 15 Jedin/Dolan 1981, pp. 169–171.
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Despite the government’s attempts of assimilation, parishes functioned as unofficial ethnic chaplaincies and coreligionist relations were generally marked by mutual solidarity whatever their origin. Russian authorities limited the access to seminaries or novitiates and the erection of new churches, expropriated ecclesiastical benefits as well as religious houses and procrastinated the appointment of bishops to a point where the vacancy of an episcopal see could last ten years. Clerics were requested to take an oath of allegiance to the tsar before assuming their duties, whatever the government of a parish or a diocese16. However, such vicissitudes were incomparable to the sufferings of Greek Catholics. Most of the nowadays territories of Ukraine and Belarus (then Western Ruthenia, N/A) belonged to the Polish Commonwealth before its partitions. After the fall of Constantinople and the concomitant rise of Moscow as a political and religious power and a potential pan-Ruthenian magnet, the synod of the Kievian metropolitanate voted an oath of allegiance, i. e. the Union of Brest (1596), with the Holy See. Thus, the bishops and their flocks passed from Orthodoxy to Catholicism while maintaining their previous Slavo-Byzantine liturgical tradition (whence “Greek Catholicism”, N/A)17. Countless rebellions shook Ruthenian lands, the most serious of which was the Khmel’nytskyi’s uprising, that led to the definitive loss of what is nowadays Eastern and Southern Ukraine, by the mid-17th century. Such events caused frequent – though temporary – reversals to Orthodoxy and Greek Catholicism has become the prevailing cult in the Ruthenian lands of the Rzeczpospolita, starting from the early 18th century until the three Partitions of the Polish Commonwealth, through which the Russian empire absorbed most of Ruthenia. Considered heretical and confusing, Greek Catholics had been decimated by tsarist repression and congregations were compelled to join Orthodoxy or Roman Catholicism, thus determining their Russification or Polonization. The last eparchy in communion with the Holy See, that of Chełm/Kholm, was liquidated in 187518. As Catholic sovereigns par anthonomase, the Habsburgs benefited from both rites, especially the Slavic-Byzantine one. Since the very beginning of their rule, Greek Catholicism was essential in reviving the then tarnished Ruthenian identity, largely subordinated to that of the former rulers, even from a linguistic viewpoint. After four centuries of domination, local Ruthenian was so hybridized with Polish that it appeared to be a vernacular variant of the latter. With the exception of the low clergy, Ruthenians did not express a proper élite because their aristocracy tended to Polonize in order to ensure or increase their pos16 Theiss 2006, pp. 94–95. 17 Gudzjak 1998, pp. 304–308. 18 Lewandowski 1966, pp. 228–234.
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sessions and influence, and so did merchants. Generally, urbanization rhymed with Polonization, which often implied a rite change19. Vienna entrusted the re-shaping of that ethnicity to Greek Catholic monks (chiefly Basilians) who worked meticulously and aimed at detaching a clear Eastern Slavic identity proud of its ancestral past and faithful to the Habsburgs. At the same time, Josephinian laws and negotiations with the Holy See led to the creation of an ecclesiastical province sui ritus, in order to avoid Polish influence in this Eastern Church’s life. Lastly, Vienna supported the endeavors for restoring liturgical orientalism. Through Josephinian laws, however, the Habsburgs carved out an important role in the appointment of bishops. Candidates to the episcopate were to be approved by the state as well as the canons and communications between the bishops and the Holy See or their flock were subjected to public scrutiny20.
4.
Concordatory Negotiations and Opposing Endeavors
As a successor state of three empires, Poland aimed at maintaining the prerogatives granted by the Holy See in the appointments of bishops. From the endecja perspective, Josephinian laws seemed the best way of insuring the spread of its values. Had the Church been cooperative, the government would have declared Catholicism the state confession. Besides the official recognition of the historical merits of Catholicism toward(s) the nation, this status granted some privileges to the clergy in terms of wages and visibility. Though flattered, the Church was mostly interested in re-obtaining some freedoms denied hitherto. Thus, the Church attached a great importance to the maintenance or restitution of its properties in order to preserve its financial and spiritual autonomy and paid a price for it. Neither the Small (1919) nor the March (1921) constitution declared Catholicism the state confession21. Both, the Holy See and Poland, yearned to stabilize the role of Poland as a Catholic stronghold in Central Europe, between protestant Germany and (formerly) Orthodox Russia, that was already bound to become an antireligious state. Those two actors, however, pursued two opposing goals. The Holy See and a tiny majority of the local episcopate aimed at preserving the independence of the Church from the state. The government wanted to exploit the country’s catholic
19 Ibid., p. 236. 20 Dickson 1993, pp. 105–109. 21 Pease 2009, pp. 55–59.
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legacy as a mere instrumentum regni: a capillary net that could aptly convey the equation between God and homeland22. The Polish Church had already played a capital role in keeping awake interest in the national cause as the only credible depositary of ancient legacies. The Szlachta, or Polish aristocracy, lost its reputation for its passivity, corruption and the ineradicable penchant for intrigue with occupying powers in order to ensure or increase their possessions and influence, often to the detriment of rival households. Gentries and bourgeois were deeply involved in irredentist riots but they did not find a way to influence masses until the rise of nationalism. However, the Church conveyed a transfigured idea of nationhood, a sort of celestial Jerusalem that cannot be attained in this world, thus instilling peaceful resignation and passivity23. Concerned by the criticism of the Entente, the endecja sought to assimilate the country’s many minorities – whereby one citizen in five had non-Polish origins – through the pulpit. In this light, catholic priests were regarded as instrumental in fostering Catholicism and assertive Polishness. The endecja estimated that this workaround would be a viable solution for both, dissolving international criticism and assimilating national minorities. These plans were supported by many bishops, who believed to serve their homeland and their spiritual cause, thinking that their service would entail benefits to the greater glory of the Church24. However, the government’s ambitions were fiercely resisted by some top and low clerics who themselves belonged to ethnic minorities, such as the bishop of Breslau Bertram, whose seat was in Germany but oversaw East Silesia until 1925, or the Lithuanian bishop of Wilno/Vilnius Matulaitis, not to mention the Greek Catholic archbishop of L’viv, Sheptyts’kyi. Furthermore, national democrats tried to use the Church and its sizable national minorities to influence policies of its eastern neighbors, namely Lithuania, Ukraine and, to some extent, Russia. Warsaw sought to maintain some cross-border dioceses such as those of Wilno and Grodno, whose seats fell on the Polish side of the border and made Baltic, Belarusian and Russian dioceses subject to the authority of Polish archbishoprics. The subsequent concordat (1925) was a point of compromise between the two opposing stances. Non-Polish Roman Catholic bishops were removed but ecclesiastical circumscriptions were tailored on national borders, so that no Polish diocese had territorial pertinences abroad and no prelate of Polish citizenship could influence Church life in the neighboring countries. The Church secured its
22 Hosicki 2018, pp. 31–35. 23 Ramet 2017, pp. 88–91. 24 Gründberg/Sprengler 2005, pp. 305–310.
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freedom in appointing and communicating with bishops and the State committed to paying a stipend to the clergy, whatever the rite. However, despite the efforts of the nuncios Ratti and Lauri, and the pressure of the former in guise of Pius XI after 1922, the Concordat did not lay down rules on ecclesiastical possessions. Accordingly, the Church’s lands as well as the revenues of bishops, chapters, seminaries as well as those of religious orders were called into question by a comprehensive land reform that Polish Parliament (henceforth the “Sejm” N/A) approved several months after the signing of the concordat. Ostensibly, the Holy See did not greet the bill with utter delight. Formally, the concordat equaled Greek Catholics to other rites, even though their representatives only took part in negotiations after 1924. However, this community of was curtailed into a regional (Galician) dimension. This implied the immediate termination of the missionary program conceived by Msgr Sheptyts’kyi toward Ukrainians and Belarusians living outside its metropolitan borders, which had some implications on pastoral life and, as we will see, an indirect impact on the appointment of Eastern bishops. From Warsaw’s perspective, Greek Catholicism was a sprinkle of Ukrainian nationalism that hindered governmental strategies of assimilation25. The Polish government initially petitioned for the abolition tout court of the Greek Catholic Church and the immediate re-incardination of its clergy into Latin dioceses. The five years long visit from Msgr Sheptyts’kyi to the emigrants (1918–1923) seemed too good an opportunity to let pass. As a chief rite, the archbishop of L’viv was required to visit his flock of the diaspora. Due to the duration of the First World War, that duty had long been postponed. During that time, the prelate advocated the cause of his homeland before diplomats, opinion leaders and heads of state. Rumors of statements and meetings were reported by the press26. Polish and Ukrainian newspapers had little interest in the true course of the events. What really mattered was whether the prelate was considered a credible interlocutor by the foreign powers, whether such meetings could influence the destiny of Galicia and whether such an issue was still at the top of the international agenda. From this perspective, the figure of the Greek Catholic archbishop of L’viv was a symbol that had to be demolished by the Poles or exalted by the Ukrainians in order to foster opposing nationalisms, support their respective positions before the international community and influence the decisions of the Holy See27.
25 Ibid. 26 Hentosh 2012, pp. 178–184. 27 Ibid. p. 189.
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4.
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Ukrainians Outside Galicia
Polish requests were promptly rejected. Pope Benedict XV had high expectations of Greek Catholicism as a bridge between Rome and the Russian Orthodox who were suffering from a spiritual disarray after the rise of communism. The Roman pontiff and his prefect of the Congregation for Oriental Church, cardinal Marini, were among the staunchest supporters of Msgr Sheptyts’kyi. The Greek Catholic metropolitan of L’viv theorized a dialogue on equal basis with his Orthodox counterpart in order to pave the way toward(s) Church Unity. Besides that, Msgr Sheptyts’kyi claimed that Pius X entrusted him with special powers over the Greek Catholic flock within the Russian Empire after Nicholas II’s edict of tolerance (1905)28. According to the Greek Catholic archbishop, the pope granted him the power of ordaining bishops for Russia (1907) without any formal authorization from the Holy See in order to revive Greek Catholicism in the Tsardom. The edict of tolerance left a loophole for a cautious re-establishment of pastoral activities. Hence, Sheptyts’kyi sent priests to make converts or, phrased more adequately, to reconvert Ukrainians and Belarusians to Greek Catholicism. Missionary activities had begun quietly in the first decade of the 20th century and became more intense in the last years of the First World War, when many western territories of the Russian Empire were controlled by Central Empires. So in early 1918, Sheptyts’kyi decided to reactivate the eparchy of Lutsk, selected the then rector of the archieparchial seminary of L’viv, Fr. Botsyan, as the new eparch and ordained him together with two suffragan bishops serving as co-consecrators. However, this act was seen as a provocation by Poles who sought to promote the Polishness of eastern territories. For example, Lustk has been the see of a Roman Catholic bishopric since the Middle Ages and has continuously been pastored by prelates of Polish origin. A Greek Catholic eparch was seen as a concurrent power in an area where national identities were much more tenuous than in Galicia. From the government’s perspective, the region lent itself to a fast Polonization. As a result of the Polish- Bolshevik war, Warsaw took control over the city of Lutsk and Volhynia. Shortly thereafter, the government did not acknowledge the authority of the Greek Catholic eparch, questioned the legitimacy of his episcopal ordination and asked the Holy See to recall him as a prerequisite for signing the concordat. After a jurisprudential shilly-shally between Warsaw and the Holy See for three years, the latter transferred Msgr Botsyan to L’viv as an auxiliary bishop
28 Ibid.
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of metropolitan Sheptyts’kyi (1924) and gave him a titular see, thus recognizing the validity of his episcopal ordination but not his residential rights and duties29. Volhynia, like many other eastern territories, were now ready to be Polonized. At the request of the Holy See, however, Polish episcopate had already begun to experiment with a new methodology for converting the Orthodox to Catholicism, called “neo-union”. Converts were subjected to the authority of the local Roman Catholic ordinary who granted them the right of performing their Slavic Byzantine liturgical traditions. Thus, Eastern Polish dioceses were meant to become bi-ritual. Had clerics attempted to Latinize new converts, they would have likely been suspended a divinis. Although this instrument was not completely new – bi-ritual ordinariates have been attested in Southern Italy, in what is now Slovakia, and Eastern Hungary since the Middle Ages – it represented a remarkable change in the otherwise merely assimilatory approach of the Polish episcopate. This evolution was inspired by Fr. d’Herbigny SI, a Slavist and ecclesiologist who largely inspired the attitude of Pius XI toward(s) East Slavic Churches in the first years of his pontificate. With regard to the previous, i. e. that of Brest, the advantage of the new union was that the process of catholization was completely controlled by Latin hierarchy, which should have reduced the risk of incurring doctrinal errors or abuse. The latter aspect was considered a diriment asset by Pius XI, who, as a nuncio to Poland, had long questioned Msgr Sheptyt’skyi himself and the Roman curia on his alleged powers “over Russia”. However, the “neo-union” did not result in success. Converts were few and often self-absorbed. In fact, the majority of them suddenly reverted to Orthodoxy after realizing that being an Eastern Catholic did not entail any benefits in terms of social advancement. Firstly, Roman Catholic bishops accepted the neo-union reluctantly, and took little effort to implement it. It was at first thought to create a missionary seminary but it was suddenly closed for dearth of vocations. Secondly, Latin priests regarded their new brothers in faith with suspicion. Lastly and chiefly, the governments regarded the neo-union as contrary to Poland’s interests30.
5.
Conclusion
As a conclusion, the first years of the Second Polish Republic saw an escalation in tensions between the two rites. The pain caused by the (West)Ukrainian-Polish war was increased by the stances of the endecja that focused on confessionalism, 29 Pollard 2014, pp. 225–228. 30 Wilk 1992, pp. 65–68.
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or better, on ritualism in order to foster an unprecedented nationalism that was bound to provoke Ukrainian terrorism in the next few years, despite Piłsudski’s efforts to decentralize the country. As for Church matters, Sheptyts’kyi’s long pastoral (and diplomatic) tour left its people without a credible leadership and his misunderstandings with Achille Ratti left a trace on the outputs of the Concordat and contributed to the isolation of Ukrainian Galicians not only toward(s) Poles but also toward their own ethnicity.
Archival Sources ASV Arch Nunz. Varsavia B.210 pos. 7, Lauri a Gasparri “Propositum delimitationis iam existentium in Republica Poloniae provinciarum ecclesiastica rum dioecesiumque necnon erigedae novae provinciae ecclesiasticae novaeque dioeceses”, pp. 5–9 in Varsavia, 3 maggio 1923. ASV AES Polonia, pos. 77, fasc.51, f. 34 r e v, ambasciatore polacco a Gasparri, prot.4845 (23790); AAN/ZAP-L classificazione n.855, p.75, una lettera dalla Legazione Polacca alla Sede Apostolica (3.XII.1921). ASV Arch. Nunz. Varsavia B 225 posiz 1ff. 78r–80v Ratti a Marini circa gli asseriti poteri dell’Arcivescovo di Leopoli de’ Greci sulle Russie, Varsavia, 15 giugno 1920. ASV AES Polonia pos. 77, fasc.50, f.70 r, telegramma A 65 prot.177 Grabski a Gasparri, Varsavia, giugno 1920; ASV Arch Nunz Varsavia B223 pos. 5, ff.78 r-90r Lauri a Gasparri, Varsavia, settembre-ottobre 1923. ASV Arch Nunz Varsavia B 217 posiz. 5ff. 124r–126r, Gasparri a Lauri Circa l’ordinazione episcopale del padre Bocian [sic], Vaticano, maggio 1923.
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IV. Who Cares for the Left Behind? Men, Children and the Elderly within the Context of Female (Labour) Migration from Western Ukraine
Ilona Grabmaier (Universität Wien)
Die Grenzen gegenseitiger Unterstützung: geschlechtsspezifische Konstruktionen von (un)deservingness in der ländlichen Ukraine1
Abstract This article is concerned with the question of how it is negotiated whether a person is – or not – eligible for help, support and care within the specific context of female labor migration from Western Ukraine. As will be shown, access to specific resources depends less on formal entitlements and criteria, than on moral views and beliefs about who actually deserves different forms of care. Decisions about the (un)deservingness of a person are established based on concurrently existing logics of legitimization, in which normative notions of reciprocity, kinship, gender, and personality/life course do play a crucial role. These factors determine decisively whether people in Western Ukraine live in secure or insecure environments, especially in old age. Taking as an example the case of Vasyl’, a man in his late sixties who himself claims to be needy, but is classified as undeserving by others, I suggest that not only negative reciprocity within different relationships of mutual support, but especially gendered constructions of care and need contribute significantly to the exclusion of (particularly single) men from these relationships. Thereby, the boundaries between kinship and the state, as well as according (moral) obligations are situationally reworked and (re)negotiated. Fatalism is evoked as a trope to justify the exclusion of some, so that disregard for the neediness of others can be portrayed as the individual failure of those that are excluded. This, in return, serves as a means for claiming inclusion to the „moral center“ of the local community by those denying others care and support which, somehow surprisingly, helps elderly women in considerably gaining power and authority within their communities. Keywords: Care, (Gendered) Need, Kinship, Kinship-State-Relation, Labor Migration, Reciprocity, (Un)deservingness, Poverty, Western Ukraine.
1 Ich möchte mich herzlich bei meinen KollegInnen der Schreibwerkstatt Ethnographie am Institut für Kultur- und Sozialanthropologie der Universität Wien, meinen KollegInnen im DK Galizien, bei den TeilnehmerInnen des Institutsseminars am Max-Planck-Institut für Ethnologische Forschung in Halle/Saale sowie bei der Gutachterin für ihre äußerst hilfreichen und konstruktiven Kommentare und Anregungen zu diesem Beitrag bedanken.
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1.
Ilona Grabmaier
Einleitung – Ein proklamiertes Bedürfnis wird abgelehnt
Es ist ein schöner Frühlingstag im Mai 2018. Gemeinsam mit meiner Hausdame Halyna, deren Tante und einer ihrer Freundinnen sind wir in Halynas Küche in Horischnjak, einem Dorf an den nördlichen Ausläufern der ukrainischen Karpaten, und bereiten das Mittagessen zu.2 Irgendwann öffnet sich die Haustüre. Vasyl’ kommt herein, er ist Halynas Cousin mütterlicherseits. Langsam und gebückt schleppt er sich den Hausflur entlang. Mit zusammengekniffenen Augen und leiser Stimme erzählt er uns, noch bevor er auf der Küchenbank Platz nimmt, dass es ihm sehr schlecht gehe. Er habe gesundheitliche Probleme und kein Geld für Brot und Medikamente, von seinen Töchtern habe er schon länger nichts mehr gehört und Schulden bei Nachbarn und im naheliegenden Geschäft habe er noch dazu. Vasyl’ war gerade auf dem Gemeindeamt um nachzufragen, was mit dem Zuschlag zu seiner Pension3 passiert sei, die habe er schon seit zwei Monaten nicht mehr ausgezahlt bekommen. Die Gemeindesekretärin habe ihn angeblich vertröstet, dass das Geld bald kommen würde, und ihm auch von einer Möglichkeit erzählt, zusätzliche Sozialhilfe für Behandlungskosten und Ausgaben für Medikamente zu beantragen. Da er quasi alleinstehend sei, bräuchte er lediglich eine ärztliche Bestätigung, dass er krank und hilfsbedürftig ist. Halyna meint, das sei doch lächerlich, und etwas theatralisch fügt sie hinzu, Vasyl’ sei die Schande (позор) von ganz Europa. Er habe schließlich zwei Töchter und eine Frau, die in den USA leben und sei keineswegs alleinstehend, warum solle also ausgerechnet er um Sozialhilfe ansuchen?! Außerdem meint sie, dass sie selbst, obwohl ihr Mann vor etlichen Jahren gestorben ist und sie keine Kinder hat, niemals staatliche Sozialhilfe beantragen würde, ihr wäre das peinlich. Anschließend fragt ihn eine andere Frau, was er denn schon wieder mit seiner Pension gemacht habe. Vasyl’ schnaubt darauf hin und zuckt mit den Schultern. Halyna lenkt ein, dass sie zwar wisse, dass man mit einer ukrainischen Pension kaum auskomme, aber sie arbeite halt noch nebenbei, und mit dem Besticken von Hemden und Blusen verdiene sie sich etwas zu ihrer Pension dazu. Die Anwesenden beginnen sich dann über ihre Krankheiten und körperlichen Gebrechen zu unterhalten, und mit der Zeit entspinnt sich förmlich ein Wettkampf darüber, wer kränker und gleichzeitig leidensfähiger ist. Halyna geht in ihr Schlafzimmer, um ärztliche Befunde zu holen. Stolz zeigt sie einen Papierstapel in die Runde und meint, dass sie zwar alle möglichen Diagnosen und Beschwerden habe, sie aber keine Medikamente nähme und sich auch nicht darüber beschwere, dass ihr etwas wehtue. Sie überreicht den Stapel mit den Befunden Vasyl’ und lässt 2 Sämtliche Personen- und Ortsnamen in diesem Beitrag wurden anonymisiert. 3 Bestimmten Personengruppen, etwa Invaliden, MindestpensionsbezieherInnen, Kriegsveteranen, etc. wird ein monatlich ausbezahlter Zuschlag zur Pension gewährt.
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ihn sich alles genau durchlesen. Irgendwann steht Vasyl’ auf und verabschiedet sich. Als er weg ist echauffieren sich die Frauen darüber, dass er sich immer so „arm“ gebärde. Sie sind der Ansicht, dass er eigentlich keinen Grund habe sich zu beschweren. Er müsse lediglich lernen, mit seinem Geld besser umzugehen, anstatt alles für Alkohol und Zigaretten auszugeben. *** Im Verlauf meiner Forschung wurde mir sowohl von zahlreichen DorfbewohnerInnen, als auch von Mitarbeiterinnen der lokalen Administration immer wieder erzählt, dass die Menschen in Horischnjak „niemanden im Stich lassen“ würden. Vor allem, wenn jemand krank ist, würden Verwandte, NachbarInnen und FreundInnen nicht zögern zu helfen, und zum Beispiel Geld für die Bezahlung von Behandlungskosten sammeln oder anderweitige Hilfe anbieten. Außerdem wurde in den meisten Fällen, die mir im Zuge meiner Forschung begegnet sind, vorrangig die ukrainische Regierung und der Staat dafür verantwortlich gemacht, dass Menschen in Armut und/oder Einsamkeit leben, und dass Familienangehörige die Ukraine aufgrund der schlechten wirtschaftlichen Situation des Landes verlassen müssen, um sich ihren Lebensunterhalt anderswo zu verdienen. Bei Vasyl’ sind die Dinge aber ein wenig anders. Durch sein Auftreten in dieser einleitenden Szene, seine gebückte Haltung, sein leises Sprechen und die zusammengekniffenen Augen suggeriert er Bedürftigkeit. Diese verstärkt er, indem er betont, dass er krank und verschuldet sei, kein Geld und seit längerem auch keinen Kontakt mehr zu seinen Töchtern habe. Zudem legt seine Aussage, dass der staatliche Pensionszuschlag erneut verspätet ausgezahlt wurde, nahe, dass er sich nicht nur von seiner Familie, sondern auch vom Staat/ der Regierung vernachlässigt und unzureichend versorgt fühlt. Seine Behauptung, er sei aufgrund von Armut, körperlicher Gebrechen und ausbleibender Unterstützung hilfsbedürftig, wird ihm allerdings abgesprochen, und die anwesenden Frauen machen sich sogar über ihn lustig. Vasyl’ wird, als er sein Bedürfnis anmeldet, entgegen des normativen lokalen Diskurses der gegenseitigen Hilfe und Unterstützung als faul, trinkend, unmännlich und problematisch klassifiziert, und schließlich auch als undeserving poor, weshalb er keine seiner Ansicht nach angemessene Sorge erhält. So wird am Ende er selbst dafür verantwortlich gemacht, dass er in Armut lebt und seine Familie ihn verlassen hat. Armut wird in diesem Fall moralisiert (Fassin 2011) und auf individuelles Scheitern, besonders von Männern, zurückgeführt. In nachfolgendem Beitrag geht es um die Frage, wie innerhalb eines spezifischen gesellschaftlichen Gefüges darüber entschieden wird, wem warum Hilfe, Unterstützung und Fürsorge zuteilwerden und wem nicht, oder anders formu-
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Ilona Grabmaier
liert: wie deservingness, bzw. undeservingness4 prozessual hergestellt werden, und welche Faktoren dazu beitragen, ob Menschen in der Ukraine in Sicherheit altern oder in Unsicherheit. Der Zugang zu bestimmten Ressourcen hängt dabei oftmals weniger von formalen Ansprüchen und Kriterien ab, als von moralischen Vorstellungen und Ansichten darüber, wer bestimmte Formen der Versorgung tatsächlich verdient. Am Beispiel von Vasyl’ zeige ich, dass Entscheidungen über das Verdienst von Sorgeleistungen anhand unterschiedlicher, einander teils überlappender Logiken verhandelt werden, bei denen sowohl Vorstellungen von Reziprozität, Verwandtschaft, Gender und Persönlichkeit/Lebensverlauf eine Rolle spielen. Gemäß dieser Logiken wird ein angemeldetes Bedürfnis entweder akzeptiert oder, wie im Fall von Vasyl’, abgelehnt. Unterschiedliche diskursive Strategien tragen zu seiner prozessualen Exklusion von bestimmten Versorgungsbeziehungen bei, wobei mittels seiner Exklusion andere Menschen ihre eigene Inklusion beanspruchen und bestätigen können. Gemeinhin als „privat“ wahrgenommene (Für)-Sorge und Unterstützung durch Verwandte und NachbarInnen sind dabei nicht losgelöst von staatlichen Formen der Unterstützung zu betrachten, sondern vielmehr unzertrennlich mit diesen verwoben. Die Beurteilung vermeintlich „privater“ Beziehungen und Eigenschaften einer Person durch lokale Staatsbeamte entscheidet nämlich auch maßgeblich über die Vergabe staatlicher Mittel und Zuwendungen, wodurch die Grenzen zwischen staatlich und nicht-staatlich verschwimmen. Auch wenn zahlreiche Berichte über die sozioökonomische Situation der Bevölkerung nahelegen, dass ältere Frauen in der Ukraine besonders von Armut und sozialer Ausgrenzung betroffen sind5, so zeigt sich am Beispiel von Vasyl’, der als Vertreter einer ganzen Reihe von vermeintlich „gescheiterten Männern“ betrachtet werden kann, dass Männer, insbesondere alleinstehende ältere Männer, bei Verhandlungen um den Zugang zu Sorge und anderen Ressourcen eher benachteiligt sind. Frauen in Horishnjak sind im Gegensatz dazu in der Regel gut in verschiedene Unterstützungsbeziehungen eingebunden. Geschlechtsspezifische Konstruktionen von Fürsorge und Bedürftigkeit, sowie damit einhergehende Verantwortlichkeiten, spielen vermutlich die wichtigste Rolle in der Beurteilung dessen, ob eine Person als (un)deserving klassifiziert wird oder nicht.6 4 Die Termini (un)deservingness beziehen sich auf die Verdientheit und (il)legitime Bedürftigkeit bestimmter Formen der Zuwendung und Unterstützung. In Folge verwende ich vorwiegend die englischsprachigen Begriffe, da sie sich schwer ins Deutsche übersetzen lassen. 5 Siehe zum Beispiel Libanova et al. 2014. 6 Die Ansicht, dass Konstruktionen von (Für)-Sorge und Bedürftigkeit eindeutig geschlechterspezifisch sein können, wird durch Keebet von Benda-Beckmanns (1988: 452) Studie über soziale Sicherung und Kleinunternehmen in Indonesien gestützt. Sie zeigt darin, dass Witwen unabhängig von ihrer tatsächlichen Bedürftigkeit als „typische“ Empfängerinnen verschiedener Formen sozialer Sicherung konstruiert werden.
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Einführung ins Forschungsfeld
Die Darlegungen in diesem Kapitel beziehen sich auf Daten, die ich im Zuge einer insgesamt 12-monatigen ethnologischen Feldforschung in Horischnjak, vorwiegend in teilnehmender Beobachtung, aber auch mittels informeller Gespräche und teilstrukturierter Interviews, erhoben habe. Horischnjak liegt an den nördlichen Ausläufern der Karpaten in der Westukraine und hat in etwa 4000 EinwohnerInnen. Obwohl keine offiziellen Daten verfügbar sind, wird davon ausgegangen, dass mindestens ein Viertel der Gesamtbevölkerung dauerhaft oder vorübergehend im Ausland lebt und arbeitet, vorwiegend in den USA, in Polen, der Tschechischen Republik, Italien, England und Belgien. In Horischnjak gibt es nur einige wenige Arbeitsplätze, so dass der Großteil der berufstätigen Bevölkerung zur Arbeit in umliegende Städte und Dörfer pendelt; aber auch dort ist das Arbeitsplatzangebot stark begrenzt und äußerst überschaubar. Einige Menschen betreiben bei sich zu Hause kleinere Unternehmen oder unterhalten eine Landwirtschaft, um ihren Lebensunterhalt zu bestreiten. Heutzutage beträgt das monatliche Durchschnittseinkommen etwa 3500 Hrivnja, was umgerechnet circa 120 Euro entspricht. Die Mindestrente beträgt etwas mehr als 1300 Hrivnja (etwa 45 Euro). MigrantInnen verdienen im Ausland oft an einem Tag das, was sie in der Ukraine in einem ganzen Monat verdienen würden. Die zunehmende (ökonomische) Ungleichheit und die (zumindest potentielle) Möglichkeit ins Ausland zu gehen und dort Geld zu verdienen, hat zur Folge, dass Menschen, die in ärmlichen Verhältnissen leben, oft als „faul“ bezeichnet werden, da gemäß dem vorherrschenden Diskurs „nur die/ derjenige arm ist, die/der faul und nicht arbeitswillig ist“. Armut wird in diesem Fall nicht primär als soziales, sondern als individuelles, bzw. auch moralisches Problem betrachtet, und vor allem auf die Unfähigkeit, den Tugenden des ländlichen Lebens zu huldigen, zurückgeführt. Ausdauer, gegenseitige Unterstützung/Zusammenhalt und harte Arbeit bilden demnach die Schlüsselfaktoren für Zugehörigkeit und Existenzsicherung im ländlichen Raum. Ähnlich wie in Ethnographien aus ehemals sozialistischen und post-industriellen, einkommensschwachen Gemeinschaften7, werden wirtschaftliche Not und die Zwänge des Arbeitsmarktes moralisiert und normalisiert, indem eine Hierarchie von Bedürftigkeit und deservingness geschaffen und die Bevölkerung in die „deserving Arbeitenden“ und die „undeserving Faulen“ unterteilt wird.8 Die drängenden Probleme der Unterbeschäftigung und Abwanderung bedingen und behindern maßgeblich die Verteilung von Sorge und anderen Ressourcen, welche ebenfalls auf verschiedene Weise moralisiert und normalisiert wird. 7 Siehe z. B. Kay 2011/ de Jong 2005/ Goodwin-Hawkins & Dawson 2018/ Gudeman & Hann 2014. 8 Howe 1998.
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3.
Ilona Grabmaier
Zwischen Bedürftigkeit und (un)deservingness – der Fall Vasyl’
Vasyl wurde 1949 als einziges Kind seiner Eltern in Horischnjak geboren. Er heiratete im Alter von 27 Jahren und hat zwei Töchter (geb. 1978 und 1983). Ende der 1990er Jahre erhielt seine ältere Tochter Ivana ein Stipendium und ging in die USA, von wo sie seitdem, mit Ausnahme eines kurzen Besuches vor etwa 8 Jahren, nicht mehr zurückkehrte. In den Folgejahren gingen auch seine Frau und seine jüngere Tochter in die USA und blieben ebenfalls dort. Das war vor ungefähr 14 Jahren, als Vasyl’ schließlich alleine im Dorf zurückblieb. Eine Zeit lang glaubte er noch daran, dass seine Familie eines Tages zurückkehren würde; in den ersten Jahren riefen seine Kinder auch regelmäßig an und besonders seine ältere Tochter schickte ihm immer wieder Geld, mindestens einmal im Jahr und zu Weihnachten und an seinem Geburtstag. Vasyl’ erhält eine Pension von 1800 Hrivnja (etwa 60 Euro) im Monat und hat bis vor einigen Jahren noch gearbeitet um sich etwas zu seiner Pension dazuzuverdienen. Damals ging es ihm, wie er meint, finanziell einigermaßen gut, auch fühlte er sich von seinen KollegInnen und NachbarInnen geschätzt und respektiert. Mittlerweile scheint er nicht mehr an eine Rückkehr seiner Familie zu glauben und begann sich mit der Zeit sehr einsam zu fühlen, so ganz alleine in seinem Haus. Er meint dazu: „Und du weißt ja, wie es hier in der Ukraine ist, wenn Männer von ihren Frauen verlassen werden: Sie beginnen zu trinken. Und dann gibt es keine Frauen, keine Arbeit, Männer […] trinken und sie sterben früh“. Die Einsamkeit sei für ihn schwer zu ertragen, sagt er, und Alkohol helfe ihm, das Schlimmste zu überstehen. Er falle immer wieder in Depressionen und habe seit geraumer Zeit wiederholt schwerwiegende gesundheitliche Probleme, wodurch er zur Bestreitung seines Lebensunterhalts auf die Hilfe und Unterstützung anderer angewiesen sei. Vasyl’s Haus liegt am äußersten Rande des Dorfes und ist das vorletzte in der Straße, dahinter gibt es nur noch Felder und Wald. Eine der Wände seines Hauses ist fast vollständig eingebrochen, so dass man ins Innere sehen kann. Im Inneren ist es feucht, kalt und dunkel, nur ein paar provisorisch am Kachelofen montierte Holzpfosten halten die Reste vom Dach davon ab, endgültig über ihm zusammenzubrechen. Seine schlechten Lebensbedingungen tragen innerhalb der Dorfgemeinschaft zunehmend zur Wahrnehmung von Vasyl’ als sonderbar und außenstehend bei. Oksana zum Beispiel, eine Beamtin, die das örtliche Postamt leitet, sagt mir eher beiläufig, als ich sie eines Tages auf ihrem Arbeitsplatz besuche, dass es eine Schande für ein so schönes und reiches Dorf sei, dass dort Menschen wie Vasyl’ leben. Mit sichtbarer Empörung meint sie: „Du hast ja selbst gesehen wie er lebt. Wie ist es möglich, dass Vasyl’ in so einem verfallenen Haus lebt? In einem Dorf, das so reich ist wie unseres. Das ist doch peinlich für alle! Und er hat Verwandte in Amerika!“ Sie fügt hinzu, dass er in der Vergangenheit
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ein gutaussehender, respektierter Mann gewesen sei. „Aber er ist sehr faul, weißt du, und von Zeit zu Zeit trinkt er auch!“ Während meiner Forschung bin ich immer wieder auf ähnliche Einschätzungen bezüglich Vasyl’s Situation gestoßen, der trotz seiner außenstehenden, marginalisierten Position wiederholt zum Thema verschiedener Gespräche wurde. Am häufigsten wird Vasyl’ dabei als arm, trinkend, faul und problematisch klassifiziert. Seine ärmlichen Wohnverhältnisse gelten als sichtbarer Beweis dafür, dass mit ihm etwas „falsch“ sein muss und suggerieren gleichzeitig Bedürftigkeit. Oksanas Zusatz, dass Vasyl’ „sehr faul“ ist, und dass er „von Zeit zu Zeit gerne trinkt“ legt aber auch nahe, dass er nicht als jemand eingeschätzt wird, der gut für sich selbst sorgen kann, weshalb er auch keine Hilfe und Unterstützung von anderen verdiene. Dies weist nicht nur auf die normative lokale Konstruktion hin, wie Menschen in einem vermeintlich schönen und reichen Dorf leben (bzw. nicht leben) sollen, um ihre Mitgliedschaft zu dieser Gemeinschaft unter Beweis zu stellen und um folglich Ansprüche auf Unterstützung geltend machen zu können. Es konstruiert auch DorfbewohnerInnen ideal als fleißige, hart arbeitende, „anständige“ BürgerInnen, die in der Lage sind, für sich selbst zu sorgen, oder die zumindest stabile soziale Beziehungen unterhalten, welche im Bedarfsfall Unterstützung und Hilfe anbieten und gewährleisten. Vasyl’ selbst betont, dass er stets ein anständiger Bürger war, der sich nie etwas zuschulden kommen ließ, der gearbeitet hat, sich gut um seine Kinder und bis zu ihrem Tod gut um seine Mutter gekümmert hat, nie Probleme mit der Polizei hatte und in der Gemeinschaft geschätzt wurde. In Einklang mit einem Ethos der Arbeit und der Sorge proklamiert er sich selbst als „gutes“ Mitglied der Gemeinschaft und macht somit nicht nur einen Anspruch nach der Hilfe anderer, sondern auch einen Anspruch nach sozialer Bürgerschaft geltend, welchen er auch für legitim hält. Dennoch wurden ihm zunehmend nicht nur von seinen Kindern, entfernteren Verwandten und Nachbarn, sondern auch vom lokalen Staat diverse Formen der Unterstützung verweigert. Vasyl’ gibt in erster Linie dem „unzivilisierten“ Staat die Schuld dafür, dass er in Armut und Einsamkeit lebt, und wirft ihm vor, dass dieser in seiner reziproken Verantwortung ihm gegenüber versagt habe, obwohl er zuvor für den Staat gearbeitet hat und somit (seiner Ansicht nach) immer den Anforderungen eines „guten Bürgers“ gerecht wurde. Damit bezieht er sich implizit auf universelle soziale Rechte, die in der Zeit des Staatssozialismus vermeintlich allen BürgerInnen garantiert wurden.9
9 Siehe auch Mataradze 2011 für Georgien.
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Reziprozität als kulturelles Ideal und diskursive Strategie
Vor allem, wenn es draußen kalt ist, verbringt Vasyl’ immer wieder einige Zeit im Krankenhaus in einem der benachbarten Dörfer. Um die Krankenhausaufenthalte bezahlen zu können, bat er seine Töchter wiederholt um finanzielle Unterstützung, die er eine Zeitlang auch bekam. Irgendwann brach der Geldfluss jedoch ab und seine Töchter riefen auch nicht mehr an. Als sich sein Gesundheitszustand vor ein paar Jahren verschlechterte, begann er engeren Kontakt zu seinen Cousinen zu knüpfen, die ihn anfänglich sehr unterstützt, immer wieder mit Essen versorgt und auch für eine Zeitlang bei sich aufgenommen haben. Auch NachbarInnen haben ihm gelegentlich etwas zu Essen und Medikamente vorbeigebracht oder Einkäufe für ihn erledigt, wofür er sich mit kleineren Geldbeträgen revanchiert hat. Einer Großnichte, die ihn regelmäßig besucht und zusätzlich versorgt hat, als er im Krankenhaus war, hat er außerdem sein Fahrrad überlassen. Als er kein Geld mehr von seinen Töchtern bekam und sich zunehmend bei NachbarInnen, Verwandten und im naheliegenden Geschäft verschuldete, nahmen diverse Hilfsleistungen graduierlich ab, und er konnte sich auf diese Unterstützung nicht dauerhaft verlassen. Er meint, dass NachbarInnen oder Verwandte höchstens eine Zeitlang helfen, „aber wenn du nichts mehr hast, mit dem du dich revanchieren kannst, […] dann wird dir jeder (irgendwann) sagen, dass er sich um sich selber kümmern muss, und dass bei ihm das Geld auch nicht vom Himmel fällt.“ Diese Aussage ist insofern interessant, als dass sie Vasyl’s Konzeption von Familie sowie seine Vorstellung von Unterstützung zwischen einander nahestehenden Personen widerspiegelt, wonach Menschen nur Unterstützung von anderen annehmen sollten, solange sie sich auch dafür revanchieren können – das schließt höchstwahrscheinlich auch seine Töchter mit ein.10 Er unterstreicht mit dieser Aussage auch, dass Verwandte und Freunde denselben wirtschaftlichen Regeln und Einschränkungen unterworfen sind und einander deshalb nur bis zu einem gewissen Grad gegenseitig unterstützen und helfen können. In Horishjnak wird allgemein betont, dass gute Altersvorsorge im Wesentlichen darin besteht, eine Familie zu gründen, sich um die eigenen Kinder zu kümmern und ein Haus zu bauen und Instand zu halten, um es zu einem späteren Zeitpunkt im Gegenzug gegen Versorgung im Alter eintauschen zu können. Ein Haus zusammen mit einem Stück Land ist oftmals die wichtigste materielle Ressource alter Menschen, und die Investition in die Ausbildung und Heirat der Kinder gilt als Grundvoraussetzung für soziale Sicherung im Alter. Eine gängige Form der Altersvorsorge in Horischnjak ist es, dem jüngste Kind, vorzugsweise der Tochter (oder wenn es keine Tochter gibt, dann dem jüngsten Sohn), das 10 de Jong 2005.
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Elternhaus zu überschreiben, von welcher dann im Gegenzug erwartet wird, dass sie sich um ihre pflegebedürftigen Eltern kümmert. Die Unterstützung von hilfsbedürftigen Eltern stellt dabei nicht nur eine moralische, sondern auch eine gesetzliche Verpflichtung dar, worüber die DorfbewohnerInnen sehr gut Bescheid wissen.11 Eigentlich sollte Vasyl’s jüngere Tochter Ljuba einmal das Elternhaus erben und sich im Gegenzug dafür um ihre Eltern kümmern, bislang hat aber kein formaler Transfer des Besitzes stattgefunden, und es ist außerdem sehr unwahrscheinlich, dass Ljuba jemals wieder dauerhaft in die Ukraine zurückkehren wird. Als ich Vasyl’s NachbarInnen dazu befragt habe, was ihrer Ansicht nach zum Kontaktabbruch seitens seiner Kinder geführt hat, meinten diese überwiegend, dass irgendetwas zwischen ihm und seinen Kindern vorgefallen sein muss, denn „in einer normalen, gut funktionierenden Familie wäre es nicht denkbar, dass Kinder ihre Eltern nicht unterstützen“, auch wenn diese schon länger im Ausland sind. Eine von Vasyl’s Nachbarinnen erzählt mir, dass seine Tochter Ivana, als sie vor acht Jahren in ihr Heimatdorf zurückkehrte, ursprünglich geplant hatte, in dem Haus zu wohnen, in dem sie aufgewachsen war. Das befand sich aber anscheinend damals schon in einem so schlechten Zustand, dass sie es vorzog bei der Nachbarin unterzukommen. Aufgrund der Tatsache, dass ihr Vater nicht dazu in der Lage war, das Haus in Ordnung zu halten, war Ivana, die ihm bis dahin noch regelmäßig Geld geschickt hatte, offenbar sehr verärgert. Dieser Vorfall trug vermeintlich maßgeblich zur Verschlechterung der Beziehung zwischen ihr und ihrem Vater bei, aber selbst danach schickten ihm seine Kinder immer noch für eine Zeitlang Geld. Als sie allerdings von NachbarInnen erfuhren, dass er regelmäßig (und manchmal auch sehr heftig) zu trinken begann, schickten sie das Geld nicht mehr direkt an ihn, sondern an Verwandte und NachbarInnen, die dann davon seine Behandlungskosten und von Bekannten durchgeführte Renovierungsarbeiten an seinem Haus bezahlten. Das weist darauf hin, dass Männer, im Gegensatz zu Frauen, oftmals nicht als fähig angesehen werden, mit Geld verantwortungsbewusst umzugehen – wie auch bereits aus den Anschuldigungen gegen Vasyl’ in der einleitenden Situation hervorgeht. Obwohl
11 Artikel 51 der Verfassung der Ukraine sieht vor, „[…] dass erwachsene Kinder gesetzlich verpflichtet sind, sich um ihre hilfsbedürftigen oder arbeitsunfähigen Eltern zu kümmern.“ Diese Sorge kann ihren Ausdruck in persönlicher Pflege finden, oder indem sie materielle Unterstützung für zusätzliche Behandlungskosten im Fall von Krankheit, Behinderung oder Gebrechlichkeit, Vertretung, Schutz der Rechte und Interessen der Eltern in verschiedenen Institutionen usw. bietet. Im Fall einer Nichteinhaltung durch Kinder kann diese von den Eltern gerichtlich eingeklagt werden. Siehe: http://www.desn.gov.ua/index.php?option=com content&view=article&id=3550%3A2013-02-26-13-13-47&catid=353%3A2012-03-22-14-3414&Itemid=3172&lang=ua.
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seine Kinder ihm weiterhin Geld schickten, begann sein Haus nach und nach einzustürzen. Zu Beginn des Prozesses, der schließlich zu Vasyl’s Exklusion von unterschiedlichen Sorgebeziehungen führte, beschuldigten seine Verwandten und NachbarInnen vorwiegend seine Töchter dafür, ihren Vater zu vernachlässigen. Die Tatsache, dass er in einem Haus mit einstürzendem Dach und Wänden lebt, und nach eigenen Angaben nicht einmal mehr genügend Geld für Brot und Medikamente hatte, wurde zunächst auf als „schlecht“ klassifizierte Verwandtschaftsbeziehungen seitens seiner Töchter zurückgeführt. Zunehmend jedoch beschuldigten viele DorfbewohnerInnen ihn selbst dafür, dass er in der Vergangenheit ein „schlechter“ Vater war, weshalb seine Töchter sich jetzt weigerten, ihn vom Ausland aus finanziell zu unterstützen. Aufgrund seiner wiederholten Krankenhausaufenthalte und des fortschreitenden Zerfalls seines Hauses, begann sich die Wahrnehmung von ihm als „faulen“ und hoffnungslosen Alkoholiker durchzusetzen, der weder in der Lage noch willens war, etwas zur Verbesserung seiner Lebensumstände beizutragen. Dadurch veränderte sich sein sozialer Status und er wurde nun nicht mehr als jemand angesehen, der Hilfe und Unterstützung von anderen auch verdiente. Die 78-jährige Paraska befindet sich in einer ähnlichen Situation wie Vasyl’. Sie lebt alleine in einer kleinen, bescheidenen Behausung, hat eine Ziege, die sie zweimal täglich melkt, und hinter ihrem Haus einen Gemüsegarten, in dem sie ihren Jahresbedarf an Kartoffeln und anderem Gemüse anbaut. Abgesehen von einer Enkelin, zwei Nichten und einem Neffen hat sie keine nahen Verwandten mehr im Dorf, da diese entweder bereits verstorben sind oder im Ausland leben. Obwohl sie physisch von ihrer Tochter, ihrem Sohn und ihren Enkelkindern getrennt ist, pflegt sie sehr enge Beziehungen zu diesen und telefoniert mindestens einmal täglich per Skype mit einem/r von ihnen. Paraska hat sich in der Vergangenheit, als ihre Tochter und deren Mann in die USA gingen, um ihre Enkeltochter gekümmert und lebte mit dieser etwa 14 Jahre lang zusammen. Auch heute noch kümmert sie sich um den Garten und das Haus ihrer Tochter, das am selben Grundstück steht. Sie pflegt zudem gute Beziehungen zu ihren NachbarInnen, die ihr gelegentlich bei Arbeiten rund ums Haus helfen und Einkäufe für sie erledigen, wofür sie sich mit kleineren Geldbeträgen revanchiert. Sie beklagt zwar häufig, dass sie sich sehr einsam fühle, aber materiell geht es ihr gut, denn ihre Tochter schickt ihr regelmäßig Geld und Waren und wenn sie zusätzlich etwas braucht, kann sie sich jederzeit an sie wenden. Vasyl’, dessen Haus sich in einem desaströsen Zustand befindet, der kein Geld und ein Alkoholproblem hat, verschuldet und immer wieder krank ist, hat im Gegensatz zu Paraska nichts mehr, was er als Ressource in unterschiedliche Versorgungsbeziehungen einbringen könnte und wurde folglich zunehmend marginalisiert. Trotz eines kulturellen Ideals der Reziprozität ist es, wie Wille-
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mijn de Jong am Beispiel von SeniorInnen in Indien zeigt, wichtig, dass eine ältere Person noch mit einem Minimum an Waren oder Dienstleistungen an Tausch-Interaktionen teilnehmen kann, um im Alter zumindest in einer halbwegs sicheren Umgebung zu leben und die minimalen Anforderungen für Essen, Kleidung und Unterkunft bereitgestellt zu bekommen.12 Es gibt also gute Gründe dafür, das Ideal von Reziprozität und bedingungsloser Unterstützung innerhalb von Familien zu hinterfragen, da Familien „niemals den Hort von Sicherheit und Reziprozität darstellen, für die […] einige AnthropologInnen sie halten.“13 Auch wenn tatsächliche Praktiken häufig auf das Gegenteil verweisen, so scheint es eine relativ hartnäckige Tendenz unter AnthropologInnen zu sein, „Verwandtschaft mit Solidarität und Reziprozität – und folglich auch mit Vertrauen – gleichzusetzen.“14 Am kulturellen Ideal der Reziprozität wird jedoch nicht nur von vielen AnthropologInnen, sondern auch von meinen GesprächspartnerInnen festgehalten. Nichtsdestotrotz kann die Familie auch einen Ort der Unsicherheit und der Vernachlässigung darstellen, sowohl aufgrund eines Mangels an ökonomischen Ressourcen, sowie aufgrund von Ambivalenzen in den familiären Beziehungen. Hausbesitz stellte lange Zeit nicht nur eine wichtige materielle Ressource für ältere Menschen dar, sondern ebenfalls auch ein wichtiges Mittel, um Autorität gegenüber ihrer Kinder geltend machen zu können. Aufgrund der hohen Abwanderung – speziell der jüngeren Generationen – ist der Wert von Grundstücken und Immobilien vor allem im ländlichen Raum in den vergangenen Jahren jedoch massiv gesunken.15 Das macht es zunehmend schwierig, am Tausch von Eigentum gegen Sorge teilzunehmen,16 und SeniorInnen heutzutage haben dadurch oft weniger Verhandlungsmacht in den Beziehungen mit ihren Kindern. Hinzu kommt, dass die Pensionen, die SeniorInnen beziehen, kaum 12 de Jong 2005. 13 Geschiere 2012: 77 (dieses und die nachfolgenden Zitate wurden von der Autorin aus dem Englischen ins Deutsche übersetzt). Im Gegensatz zu vorwiegend positiven Vorstellungen von „Familie“ geht Peter Geschiere (ebd.: 62f.) in Bezug auf seine Forschung zu Hexerei davon aus, dass intime Beziehungen zwischen Verwandten, FreundInnen und DorfbewohnerInnen inhärent gefährlich sind. Er steht besonders Marshall Sahlins eher positiv konnotierten Vorstellungen von Reziprozität kritisch gegenüber und geht davon aus, dass Sahlins, obwohl dieser behauptete, seine Vorstellungen über Reziprozität größtenteils von Marcel Mauss Überlegungen zur Gabe abgeleitet zu haben, dessen Beharren auf einer besonderen Aufmerksamkeit gegenüber der Gefahren der Gabe zu ignorieren (ebd.: 73f.). 14 Geschiere 2012: 73. 15 Obwohl viele MigrantInnen, die im Ausland arbeiten, ein beträchtliches Maß an Geld und Energie in den Bau von neuen Häusern in ihren Heimatdörfern investieren, stehen in Horischnjak gegenwärtig an die 100 Häuser zum Verkauf. Viele MigrantInnen ziehen es mittlerweile vor, sich Appartements in neu entstehenden Wohnsiedlungen in den größeren Städten (wie Ivano-Frankivsk und L’viv) im Umkreis zu kaufen, anstatt in den Bau von Häusern in den Dörfern zu investieren. 16 siehe auch Thelen 2015 für Rumänien.
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dazu ausreichen, um ihr Überleben zu sichern, weshalb sie oftmals auf zusätzliche (finanzielle) Unterstützung durch Kinder, Verwandte oder andere Personen angewiesen sind. Da Sorge von Verwandten nur eingeschränkt und unter bestimmten Voraussetzungen geleistet wird, kann es eine problematische Strategie sein, sich gänzlich auf die Unterstützung von Familienmitgliedern zu verlassen.17 Eine Unterstützung durch Freunde und die erweiterte Nachbarschaft ist für eine gute Versorgung im Alter – besonders was die Befriedigung alltäglicher Bedürfnisse angeht – ebenfalls von großer Bedeutung, auch wenn dies in öffentlichen Debatten kaum erwähnt wird. Diese Beziehungen mit NachbarInnen können jedoch nur aufrecht erhalten werden, wenn die erhaltene Unterstützung innerhalb eines angemessenen Zeitraumes und in angemessener Form kompensiert wird. Weder verwandtschaftliche Beziehungen, noch Bedürftigkeit stellen also eine zwingende Voraussetzung für die Inklusion in die Verteilung von Ressourcen dar. Vielmehr muss eine Person auch in verwandtschaftlichen und nachbarschaftlichen Beziehungen in der Lage sein, etwas im Gegenzug/Tausch gegen die Hilfe anzubieten.18 Die Grenzen gegenseitiger Unterstützung werden dabei durch verschiedene Investitionen in soziale Beziehungen situativ ausverhandelt und überarbeitet.19 Wenn jemand wie Vasyl’ nichts mehr hat, das er als Gegenleistung für Sorge und Unterstützung anbieten kann, dann kommt es zur prozessualen Auflösung von verwandtschaftlichen und anderen bedeutsamen Bindungen, was maßgeblich zu seiner Exklusion von unterschiedlichen Unterstützungsbeziehungen beiträgt. Um dennoch idealisierte Vorstellungen von Reziprozität unter einander nahestehenden Personen aufrechterhalten zu können, wird das Ausbleiben von Unterstützung damit begründet, dass eine Person in der Vergangenheit nicht genug in den generalisierten Tausch mit Verwandten und NachbarInnen investiert hat.
5.
„Gescheiterte“ Männlichkeit und ambivalente geschlechtsspezifische Konstruktionen von (Für)-Sorge und Bedürftigkeit
Anfänglich wurde Vasyl’ von seinen Verwandten und von NachbarInnen gemäß sozial etablierter Normen und Kategorien unterstützt, weil angenommen wurde, dass in einem marginalen, ländlichen Ort wie Horischjnak letztlich jede/r irgendwie „arm“ und „bedürftig“ sei und daher unterschiedliche Formen der Hilfe 17 de Jong 2005. 18 de Jong 2005; Dawson & Goodwin-Hawkins 2018. 19 de Jong 2005; Calkins 2016.
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benötigte. Als im Laufe meiner Forschung jedoch klar wurde, dass von Vasyl’s Kindern vorerst keine weitere finanzielle Hilfe mehr zu erwarten war und er sich bei Verwandten, NachbarInnen und FreundInnen nicht mehr für diverse Hilfsleistungen revanchieren konnte, änderte sich die Einschätzung bezüglich seiner Situation. Seine Verwandten und auch NachbarInnen befinden zwar lange Zeit, dass seine Kinder ihn eigentlich mehr unterstützten sollten, dass er seine Situation aber auch selbst verschuldet hat. Denn anstatt sich um seine Altersvorsorge zu kümmern und frühzeitig in die Renovierung des Hauses zu investieren als er noch jünger und bei besserer Gesundheit war, begann Vasyl’ zu trinken. Zunehmend wurde er selbst dafür verantwortlich gemacht, dass er in Armut und Einsamkeit lebt. Um dennoch an idealisierten Vorstellungen von Reziprozität und sozialem Zusammenhalt festhalten zu können, mussten von den DorfbewohnerInnen andere Begründungen und Rechtfertigungen dafür gefunden werden, warum Vasyl’ keine Sorge und Unterstützung mehr zuteil wurde und er immer mehr marginalisiert und ausgeschlossen wurde. Sorgearbeit wird in der Westukraine, wie in vielen anderen Orten auch, sowohl praktisch als auch diskursiv überwiegend mit Frauen und Weiblichkeit assoziiert. Dies betrifft sowohl vermeintlich „öffentliche“ Sorgearrangements für Männer durch staatliche Institutionen, als auch deren Beteiligung in vermeintlich „privaten“ Sorgebeziehungen. Die politischen Reformen nach Zusammenbruch des Staatssozialismus haben u. a. dazu geführt, dass die Familie zu einem (noch) zentraleren Ort der staatlichen Unterstützung wurde, wobei in Diskussionen rund um soziale Sicherung vor allem von Frauen und Kindern gesprochen wird; die Bedürfnisse von Männern werden in diesen Debatten kaum berücksichtigt. Infolgedessen werden Sorgepraktiken innerhalb von Familien immer noch überwiegend oder sogar ausschließlich als „weiblich“ angesehen. Obwohl Frauen in der Regel eher mit dem Geben und Männer eher mit dem Empfangen von Sorge assoziiert werden, sind letztere oftmals benachteiligt, wenn es um Entscheidungen darüber geht, wer Sorge verdient: im lokalen Diskurs etwa wird Männern diskursiv sowohl die Fähigkeit abgesprochen, gut für sich selbst, als auch gut für andere sorgen zu können. Wie Rebecca Kay20 zeigt, führten die sozio-ökonomischen Transformationen nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion zu vielfältigen und widersprüchlichen Belastungen für Männer. Im öffentlichen Diskurs wurden konservative Definitionen von Männlichkeit neu beansprucht, wonach Männer stark, selbstsicher und in der Lage sein sollten, ihre Familien vor den politischen und ökonomischen Umwälzungen zu beschützen und diese zu ernähren. Aufgrund eines geringen Arbeitsplatzangebotes und hoher Arbeitslosigkeit allerdings waren viele Männer nicht (mehr) in der Lage, ihre Familien ausreichend zu versorgen. 20 Kay 2007.
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Auch wenn es ein neuer Fokus auf rigide Geschlechterrollen einigen wenigen Männern ermöglichte, ökonomische, politische und persönliche Macht anzusammeln, so blieb ein Großteil der Männer, der mit den Anforderungen an sie als Versorger ihrer Familie nicht zurechtkam, „auf der Strecke“ und fand sich zunehmend in marginalisierten und ungeschützten Positionen wieder. Es wird angenommen, dass viele Männer als Reaktion darauf begannen zu trinken oder anderes selbstzerstörerisches Verhalten an den Tag zu legen, was wiederum andere (überwiegend negative) Diskurse befeuerte, die Männer als (willens)schwach, unzuverlässig, unnütz/entbehrlich und letztlich auch als gescheitert darstellen. Ich möchte hier nicht suggerieren, dass Alkoholismus, vor allem unter Männern, ein spezifisches Problem des Postsozialismus ist, obwohl dieser sicherlich für viele Familien ein großes Problem darstellt. Dennoch werden derartige Erklärungen neben geschlechtsspezifischen Konstruktionen von Bedürftigkeit und „angemessener“ Sorge von meinen GesprächspartnerInnen als diskursive Strategie verwendet, um die (potenzielle) Marginalisierung von Männern wie Vasyl’ in verschiedenen Sorgebeziehungen zu legitimieren und zu begründen, warum man Männern einfach nicht trauen könne. Zum Beispiel beklagen sich viele Frauen, vor allem diejenigen, die als Arbeitsmigrantinnen ins Ausland gegangen sind, über die Faulheit ihrer Männer und werfen ihnen vor, ausschließlich Probleme zu verursachen, weil sie weder für sich selbst noch für ihre Familien sorgen können. Im Einklang mit diesen Erklärungsansätzen wurde Vasyl’ letztlich selbst dafür verantwortlich gemacht, dass seine Frau und seine Kinder ihn verlassen haben und er in Armut und Einsamkeit lebt. Seitens der stellvertretenden Bürgermeisterin Svitlana wird beispielsweise darauf Bezug genommen, dass es seine eigene Schuld sei, dass er in ärmlichen Verhältnissen lebe. „Er hat sein ganzes Leben lang getrunken […], und seine Frau und seine Töchter haben ihn verlassen, weil er sich nicht richtig um sie gekümmert hat.“ Der Vorwurf richtet sich nun gegen Vasyl’, dass er ein „schlechter“ Ehemann und ein „schlechter“ Vater war, weshalb seiner Familie nichts anderes übrigblieb, als sich anderswo ein Leben aufzubauen. Auch Vasyl’s NachbarInnen teilen diesen Vorwurf weitgehend, in dem sie mit unverkennbarem Spott kommentieren, dass er auch in der Vergangenheit schon ein ziemliches „Muttersöhnchen“ gewesen sei. Demnach habe seine Mutter bis zu seiner Heirat im Alter von 27 Jahren alles für ihn getan, was mit ein Grund dafür sei, warum es ihm heute so schwerfalle, auf eigenen Beinen zu stehen und für sich selbst zu sorgen. Hier wird einerseits damit argumentiert, dass er sich nicht an die Regeln von Reziprozität im Familienverband gehalten hat; gleichzeitig wird Vasyl’ auch Unselbständigkeit vorgeworfen. Kurioserweise passiert dies in Verbindung mit einem ansonsten stets betonten und hoch bewerteten Ideal von Mutterschaft, wonach „gute“ Mütter sich dadurch auszeichnen, ihre Kinder solange sie können in allen Belangen des Lebens tat-
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kräftig zu unterstützen. Von Männern wird also einerseits erwartet, dass sie finanziell für ihre Familien sorgen, andererseits wird ihnen jedoch diskursiv die Fähigkeit abgesprochen, „gut“ für sich selbst und andere zu sorgen. Die Wahrnehmung, dass Frauen durch die Ausführung von Care-Arbeit im Ausland, zumindest in der Imagination der DorfbewohnerInnen, ökonomisch erfolgreich sind, trägt sicherlich zur zusätzlichen Schwächung der gesellschaftlichen Position der daheimgebliebenen Männer bei. „Schwache“ Männer wie Vasyl’, die von „starken“ Frauen abhängig sind, werden letztlich oftmals dafür verantwortlich gemacht, dass immer mehr Frauen die Ukraine verlassen müssen, um jene Aufgabe zu übernehmen, die eigentlich von Männern erfüllt werden sollte, nämlich für den Lebensunterhalt ihrer Familien so sorgen. So werden Männer auch in ihren Rollen als Väter und Ehemänner marginalisiert, und manchmal wird ihnen auch ihre Männlichkeit abgesprochen. In der einleitenden Szene etwa verkündet Halyna stolz, dass sie trotz zahlreicher Diagnosen und ärztlicher Befunde keine Medikamente nähme und immer noch arbeite, um ihren Lebensunterhalt zu sichern. Die Frage nach dem Verbleib seiner Pension suggeriert, dass Vasyl’ verschwenderisch ist und faul, weil er ja, ebenso wie Halyna und viele andere Frauen auch, arbeiten und sich etwas zur Pension dazu verdienen könne, anstatt in Selbstmitleid zu versinken, zu trinken und sein Geld für Alkohol und Zigaretten auszugeben. Damit wird Vasyl’ indirekt vorgeworfen, er sei kein „richtiger“ Mann, sondern ein „Jammerlappen“ und ein „Taugenichts“, auch wenn Rauchen und das (teils exzessive) Trinken von Alkohol in anderen Kontexten oft als ein Ausdruck von Männlichkeit gelten. Zudem werden das Bitten um Hilfe und die Zurschaustellung von Schwäche und Bedürftigkeit ebenfalls als „unmännlich“ bewertet und mittels Beschämung durch Lächerlich-Machen sanktioniert. Vasyl’ kann dabei als Stellvertreter für eine ganze Reihe an „gescheiterten“ Männern angesehen werden. Das Bild des „schwachen“ Mannes fördert, dass Halyna und auch andere Frauen sich als „starke“ Frauen positionieren können, die sich nicht nur um die Familie, die Alten, den Haushalt, die Gemeinschaft, sondern auch noch um ihre „schwachen“ Ehemänner kümmern,21 wodurch bestimmte Vorstellungen über „die Männer“ und „die Frauen“ stabilisiert werden. Ein weitverbreiteter Diskurs in der Ukraine, welcher laut Riabchuk22 bereits in den 1960er Jahren existierte, kontrastiert das Bild einer „gescheiterten Männlichkeit“ mit Idealvorstellungen von Autonomie und Selbstverantwortung, welche eher als „weibliche“ Qualitäten angesehen werden und vor allem mit der Fähigkeit und Bereitschaft zu harter Arbeit und einer sparsamen Lebensweise assoziiert werden. Wie in anderen einkommensschwachen Gemeinschaften wird 21 Siehe auch Kay 2007. 22 2014: 206f.
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auch in Horishnjak die Notwendigkeit, sich seinen Lebensunterhalt selbst zu verdienen, mittels der Moralisierung von Selbstverantwortlichkeit und der Stigmatisierung von Armut als Faulheit normalisiert23: gemäß dominanter Repräsentationen könnten Menschen, die im Dorf leben, nämlich gar nicht arm sein, außer sie sind „wirklich wirklich faul.“ Die Ansicht, dass Menschen wie Vasyl’, die in Armut leben, selbst für ihre missliche Lage verantwortlich sind und somit keine Hilfe von anderen verdienen wurde schließlich weitgehend akzeptiert, auch wenn einige von Vasyl’s NachbarInnen auch Kritik an seiner zunehmenden Marginalisierung äußerten und diese als ungerecht betrachteten. Lokale moralische Konzeptionen sind also keineswegs zwangsläufig hegemonial24, und unterschiedliche Wissensbestände bezüglich Vasyl’s materieller Verhältnisse nahmen maßgeblich auf die Beurteilung seiner Situation Einfluss, welche zu Solidarität seitens seiner Verwandten und anderer DorfbewohnerInnen hätten führen können. Es kam jedoch anders: während seine schwierigen Lebensumstände zu Solidarität einiger weniger NachbarInnen ihm gegenüber führten, fanden diese alternativen Wissensbestände letztlich keinen Eingang in den hegemonialen Diskurs. Das liegt meiner Einschätzung nach vor allem daran, dass sich jene NachbarInnen, die Vasyl’ nach wie vor ihren Möglichkeiten entsprechend unterstützten, sowohl sozio-ökonomisch als auch geographisch in einer ähnlich marginalen Position befinden, wie er selbst. Der Übergang von der sozialistischen Planwirtschaft zum Kapitalismus hat letztlich nicht dabei geholfen, das Problem der „Krise der Männlichkeit“ in der Ukraine zu lösen, sondern im Gegenteil, eher noch zu dessen Verschärfung beigetragen.25 Männer werden folglich als inhärent unselbständig und daher bedürftig dargestellt, aufgrund geschlechtsspezifischer Konstruktionen von (Für)Sorge und Bedürftigkeit werden ihnen Hilfe und Unterstützung jedoch vielfach abgesprochen. Frauen gelingt es im Gegensatz dazu besser, diskursiv Zugehörigkeit zum „moralischen Zentrum“26 zu beanspruchen, was ihnen mehr Macht und Einfluss verleiht und es für sie tendenziell einfacher macht als für Männer, auch im Alter noch Hilfe und Unterstützung von anderen zu mobilisieren. Das widerspricht den Annahmen in zahlreichen sozio-ökonomischen Analysen zur Situation von SeniorInnen in der Ukraine, welche annehmen, dass besonders ältere Frauen zur am meisten gefährdeten Bevölkerungsgruppe gehören.27 Wenn jemand wie Vasyl’ nicht (mehr) als jemand angesehen wird, der Hilfe und Unterstützung von anderen verdient, dann wird diese Person an die moralische Peripherie relegiert und selbst für ihr Schicksal verantwortlich gemacht. Die Missachtung ihrer Bedürftigkeit kann 23 24 25 26 27
Howe 1998. siehe auch Goodwin-Hawkins & Dawson 2018: 234. Riabchuk 2014: 206f. Kay 2011. Siehe z. B. Libanova et al. 2014.
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somit als moralisch „richtiges“ Verhalten dargestellt werden, was überraschenderweise besonders älteren Frauen dabei hilft, Macht und Autorität innerhalb ihrer Gemeinschaften zu gewinnen.
6.
Ambivalente lokale Selbstrepräsentation: persönliche Verbundenheit versus bürokratische Indifferenz
Nachdem Vasyl’s Verwandte und NachbarInnen zunehmend befanden, alles für Vasyl’ getan zu haben, was getan werden konnte, und dass die Grenzen ihrer verwandtschaftlichen und nachbarschaftlichen Unterstützungsverpflichtungen erreicht wären, wandte sich Halyna an die lokalen Autoritäten um nachzufragen, ob es etwas gäbe, das seitens der Gemeinde für ihn getan werden könnte. Ihr wurde damals angeblich gesagt, dass von der lokalen Verwaltung bald jemand bei Vasyl’ vorbeikommen und bei der Renovierung des Hauses helfen würde, so dass es zumindest im Winter nicht hineinschneien würde. Bislang ist offenbar aber niemand gekommen. Eine Unterstützung durch staatliche Institutionen wie die Gemeinde hängt dabei weniger von formalen Ansprüchen ab, als von moralischen Vorstellungen und Ansichten darüber, wer bestimmte Formen der Versorgung tatsächlich verdient. Ob sich eine Person dem Bezug staatlicher Sozialleistungen würdig erweist, hängt nämlich maßgeblich von der Beurteilung vermeintlich „privater“ Beziehungen und Eigenschaften einer Person durch lokale Staatsbeamte ab. Sorgebeziehungen und -praktiken innerhalb von Familien, ebenso wie die moralische Beurteilung einer Person sind folglich unmittelbar relevant für die Vergabe von Mitteln der sozialen Sicherung durch staatliche Institutionen, besonders weil lokale Staatsbedienstete einen relative großen Handlungsspielraum in der Interpretation des Sozialhilfegesetzes haben und wenn es um die Entscheidung geht, wer staatliche Unterstützung erhalten soll und wer nicht. Wie im vorherigen Abschnitt bereits gezeigt, befindet die stellvertretende Bürgermeisterin Svitlana, dass Vasyl’ seine missliche Lage selbst verschuldet habe, was impliziert, dass er keine Hilfe seitens der lokalen Regierung verdiene. Es gäbe, so erzählt sie mir, Leute im Dorf, die Hilfe von den lokalen Behörden verdienten, aber diese seien entweder krank/behindert oder hätten keine Kinder. Diese Personen würden vom Staat, also von den lokalen Behörden und der örtlichen Gemeinde versorgt, „weil wir hier niemanden im Stich lassen!“, versichert mir Svitlana. Im Fall von Ljudmyla etwa, einer Frau in ihren 40ern, die geistig behindert ist, keine nahen Angehörigen mehr im Dorf hat und alleine in einem kleinen Haus ziemlich am Ende des Dorfes lebt, half die Gemeinde vor etwa zwei Jahren dabei, ihr Haus nach einem Brand zu renovieren und neu zu
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streichen. Das Geld für die Renovierung ihres Hauses wurde dem globalen Sozialhilfetopf der Gemeinde entnommen, und NachbarInnen haben beim Wiederaufbau des Hauses geholfen. Das Budget für zusätzliche Sozialausgaben wird jährlich in Gemeindesitzungen festgelegt und kann nach Gutdünken der GemeindemitarbeiterInnen für Sozialhilfe und zusätzliche Unterstützung für Menschen in schwierigen Lebenssituationen eingesetzt werden.28 Nach dem Prinzip der „Gleichheit“ und des „Humanismus“ steht ein Zugang zu dieser Ressource grundsätzlich allen in der Ukraine gemeldeten Personen offen, die sich in einer „schwierigen Lebenssituation“ befinden. Was dabei als „schwierige Situation“ eingeschätzt wird und was nicht obliegt wiederum dem Ermessensspielraum lokaler Beamter.29 Auch wenn es, wie Svitlana vehement betont, als die primäre Verantwortung von Kindern angesehen wird, sich um pflegebedürftige Eltern zu kümmern und diese finanziell zu unterstützen, so könnte auch Vasyl’ Geld aus diesem Topf zugesprochen werden.30 Seitens der lokalen Regierung wird aber daran festgehalten, dass für ihn, auch wenn er krank ist und sich in einer „schwierigen Situation“ befindet, nichts getan werden könne. Das wird damit begründet, dass er Kinder hat, die gesetzlich dazu verpflichtet wären, sich um ihn zu kümmern. Dass er alleine und in Armut lebt wurde folglich als Beleg dafür herangezogen, dass er in der Erziehung und angemessenen Versorgung seiner Kinder gescheitert sei, 28 Siehe https://zakon.rada.gov.ua/laws/show/2017-14. 29 Laut dem Gesetz für „Staatliche Sozialleistungen“, das in seiner ersten Fassung im Jahr 2003 verabschiedet und zuletzt 2017 ergänzt wurde, werden unter „schwierigen Lebensumständen“ jene Umstände verstanden, die durch Behinderung, Alter, Gesundheit, sozialen Status, Lebensgewohnheiten und Lebensstil verursacht werden und dazu führen, dass die Person teilweise oder vollständig nicht mehr über die Fähigkeiten oder Möglichkeiten verfügt, sich selbstständig um ihr persönliches (Familien-)Leben zu kümmern und am öffentlichen Leben teilzunehmen. Anspruch auf zusätzliche staatliche Sozialdienstleistungen haben BürgerInnen, die im Zusammenhang mit Alter, Krankheit oder Behinderung nicht dazu in der Lage sind, sich selbst zu versorgen, und die keine Angehörigen haben, die sie pflegen und unterstützen sollten/könnten (siehe https://zakon.rada.gov.ua/laws/show/966-15). 30 Bevor im Jahr 2018 im Zuge der Dezentralisierungsreform vier benachbarte Gemeinden zusammengelegt wurden, betrug das jährliche Budget für zusätzliche Sozialausgaben in Horischnjak lediglich 15,000 UAH (etwa 500 Euro). Nach der Zusammenlegung der Gemeinden wurde am 21. Dezember 2018 bei einer Gemeindesitzung ein Gesetzesentwurf für zusätzliche soziale Unterstützung für Menschen in schwierigen Lebenssituationen präsentiert. Darin waren 407,000 UAH (etwa 13,600 Euro) an zusätzlicher Sozialhilfe für das Jahr 2019, 700,000 UAH (etwa 23,400 Euro) für das Jahr 2020 und 900,000 UAH (etwa 30.000 Euro) für das Jahr 2021 vorgesehen. Derselbe Gesetzesentwurf sah ebenfalls eine Bestimmung der konkreten Lebenssituation von Menschen mit Behinderung, Kriegsveteranen, Familien von gefallenen Soldaten und alleinstehenden SeniorInnen vor, um deren Bedürfnisse identifizieren und konkrete Hilfe anbieten zu können (siehe (https://delyatynska-gromada.gov.ua /pro-zatverdzhennya-programi-socialnogo-zahistu-naselennya-na-20192021-roki-16-38-2026-12-2018/). Im Zuge der Dezentralisierung wurde die Zuweisung von Sozialleistungen also noch stärker von lokalen Konzeptionen von deservingness abhängig als zuvor.
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weshalb die Verantwortung für seine Versorgung nun nicht einfach auf den Staat übertragen werden könne. Beide Rechtfertigungen sind unweigerlich mit Idealvorstellungen von Reziprozität und Maskulinität/Gender verwoben und verstärken die Ansicht, dass er keine zusätzliche soziale oder finanzielle Unterstützung durch den Staat verdient. Svitlana vermutet sogar, dass wenn Vasyl’ nicht so faul gewesen wäre und er seinen Kindern bewiesen hätte, dass er bereit sei zu arbeiten, diese ihn in die USA mitgenommen hätten. Aber anscheinend wollte er das nicht, denn „[e]s scheint ihm ganz gut zu gehen, mit seinem parasitären Lebensstil, […], auf Kosten anderer zu leben und darauf zu warten, dass jemand ihm etwas gibt“, beschließt sie ihre Einschätzung seiner Situation. Es lag vor allem an der Beurteilung von Vasyl’ als „fauler Alkoholiker“, welche sich zunehmend durchzusetzen begann, dass sich die Beziehungen zwischen ihm und den lokalen Autoritäten maßgeblich verschlechterten. Obwohl Svitlana argumentiert, dass es quasi die moralische Verantwortung einer/der Regierung sei, Menschen in Notsituationen zu unterstützen und niemanden „im Stich zu lassen“, trägt die Beurteilung von Vasyl’s vermeintlich „privaten“ verwandtschaftlichen Beziehungen im Zusammenhang mit seiner Persönlichkeit, maßgeblich zu seiner Klassifikation als undeserving poor bei. Durch seinen „moralisch fragwürdigen“ Lebensstil, seine „gescheiterte Männlichkeit“ und seine Unfähigkeit in der Vergangenheit, sich „gut“ um seine Ehefrau und seine Kinder zu kümmern, disqualifiziert er sich für den Erhalt zusätzlicher staatlicher Unterstützung. Die Vergabe staatlicher Zuwendungen ist dabei unweigerlich mit der moralischen Bewertung vermeintlich privater Beziehungen einer Person verwoben, was letztlich maßgeblich über die (un)deservingness derselben entscheidet. Die Klassifizierung von verwandtschaftlichen Praktiken als „schlecht“ kann so auch zur Exklusion von bestimmten staatsbürgerlichen Ansprüchen nach Unterstützung sowie zu einem Verschwimmen der Grenzen zwischen Verwandtschaft und dem Staat führen, da im Fall von Vasyl’ vor allem ein Mangel an verwandtschaftlicher Unterstützung zu seiner Exklusion von staatlicher Sorge führte. Das zeigt, dass „private“/verwandtschaftliche Sorge und institutionelle/staatliche Sorge, obwohl beide oftmals als getrennte Bereiche dargestellt werden, unweigerlich miteinander verwoben sind und sich in vorliegendem Fall sogar gegenseitig verstärken. Per Gesetz hätte Vasyl’ die Möglichkeit, seine Kinder auf finanzielle Unterstützung zu verklagen, was jedoch eher unwahrscheinlich ist. Wie mir Svitlana erklärt, ist es in Horishnjak bisher noch nie vorgekommen, dass Eltern ihre Kinder tatsächlich verklagt hätten. Vor ein paar Jahren gab es zwar den Fall eines Mannes, der das versucht hatte, jedoch konnten seine Kinder nachweisen, dass der Vater in der Vergangenheit seinen elterlichen Pflichten ihnen gegenüber nicht hinreichend nachgekommen war, weshalb die Klage abgewiesen wurde. Svitlanas Interpretation legt nahe, dass dies auf Vasyl’ ebenfalls zutreffen würde
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und dass die Menschen in Horischnjak in ihrer allgemeinen Einhaltung der gegenseitigen Verpflichtungen in verwandtschaftlichen Beziehungen noch „traditionell“ genug seien, um nicht das Gesetz zur Durchsetzung ihrer Rechte zu benötigen. Während vermeintlich starke familiäre Beziehungen die Beschwörung des „modernen“ Gesetzes weitgehend überflüssig machen, sind es im Fall von Vasyl’ seine als „zu schwach“ angesehenen verwandtschaftlichen Bindungen, welche eine strengere Interpretation des Gesetzes erforderlich machen. Die Beschwörung von „Tradition“ hinsichtlich der gegenseitigen Unterstützung zwischen Eltern und ihren Kindern stellt in diesem Fall einen wichtigen Aspekt dar, um Vasyl’s Ansinnen, aufgrund ausbleibender Unterstützung durch seine Kinder zusätzliche Sozialhilfe zu beantragen, als unmoralisch darzustellen und seinen Ausschluss von staatlichen Formen der Unterstützung zu legitimieren. Dabei wird das Sozialhilfegesetz, das eigentlich auf einen Schutz der am wenigsten gesicherten Bevölkerungsgruppen abzielt, und das zunächst neutral erscheint, mittels der Über-Implementierung31 desselben als ein Mechanismus der Exklusion eingesetzt. Das weist auf die Verhandelbarkeit des Sozialhilfegesetzes hin und unterstreicht den Handlungsspielraum, den lokale Staatsbeamte sowohl in der Implementierung des Gesetzes als auch in ihren Beurteilungen von unterschiedlichen BürgerInnen als (un)deserving haben. Außerdem zeigt sich dadurch, wie lokale Staatsbeamte in alltäglichen Interaktionen zur Formung und Gestaltung von Politik(en) beitragen.32 Weder Vorstellungen von „guten“ verwandtschaftlichen Praktiken noch bezüglich dessen, was eine/n „gute/n“ und deserving BürgerIn ausmacht sind unmissverständlich klar und unumstritten gegeben. Sowohl alltägliche bürokratische Handlungen, als auch Sorgepraktiken basieren überwiegend auf symbolischen Prozessen der Ziehung von moralischen Grenzen zwischen denen, die als dem Erhalt von Hilfe und Unterstützung würdig angesehen werden und jenen, die es nicht tun. In diesen Ausverhandlungsprozessen berufen sich lokale Staatsbeamte auf vermeintlich „neutrale“ Instrumente wie das Gesetz, während sie gleichzeitig lokale moralische Vorstellungen in ihre Beurteilungen miteinbeziehen. Das unterstreicht, dass Zugehörigkeiten weder in gänzlich „privaten“, noch in exklusiv „öffentlichen“ politischen Domänen verhandelt werden33, was vor allem auch daran liegt, dass BürokratInnen und ihre KlientInnen nicht jeweils einer grundlegend verschiedenen Kategorie von Personen zuzuordnen sind, die sich in „gut“ und „bösartig“ unterscheiden lassen.34 Vielmehr unterliegen beide denselben sozialen Konventionen und sind als NachbarInnen, 31 32 33 34
Thiemann 2018. Lipsky 1980: 13. Thelen & Alber 2017: 24. Herzfeld 1992: 5.
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Verwandte und FreundInnen auf vielfältige Weise miteinander verbunden und teilen oftmals dieselben Vorstellungen bezüglich Verantwortlichkeit, Charakter und sozialer Beziehungen. Um bürokratische Praktiken zu verstehen ist es also notwendig, BürokratInnen und lokale Staatsbeamte als soziale Akteure anzunehmen, die sowohl in den bürokratischen Apparat, als auch in die diesen umgebende Gesellschaft eingebunden sind.35 Im Fall von Vasyl’ übertrug Svitlana die Verantwortung für die Weigerung, ihm staatliche Zuwendungen zukommen zu lassen an eine höhere Autorität, nämlich das Gesetz, was maßgeblich dazu beitrug, dass sich der bürokratische Prozess für Vasyl’ und andere BürgerInnen als unvermeidlich darstellte.36 Die Bedingungen, unter denen die Bürokratie als notwendig erachtet wird, werden folglich nicht mehr hinterfragt, und Fatalismus wird als Trope eingesetzt, um nicht nur das bestehende System sowie die etablierte Verteilungslogik zu legitimieren, sondern diese auch zu reproduzieren.37 Auch wenn „zu viel Verwandtschaft“ in der Politik häufig als Korruption interpretiert wird,38 und davon ausgegangen wird, dass dies einigen Menschen zu unrechtmäßigen Vorteilen verhelfen würde, so bilden im Fall von Vasyl’ eben diese persönlichen Bindungen und ein Verwischen der Grenzen zwischen Staat und Verwandtschaft die Grundlage für Svitlanas „bürokratische Indifferenz“ gegenüber seiner Bedürftigkeit. Auch wenn die lokale Verteilungslogik Menschen mit vermeintlicher „moralischer Integrität“ bevorzugt und „moralisch fragwürdige“ Individuen wie Vasyl’ benachteiligt, so macht Vasyl’ vor allem den schwachen (Sozial)-Staat und globale Ungleichheiten für sein Dilemma verantwortlich. Eines Tages, als ich ihn besuche, zeigt er auf einen Stapel alter Zeitungen, die auf dem Boden neben seinem Kachelofen liegen. „Schau, im Ausland, da wo du lebst, ist alles ganz anders“, erklärt er mir. „Und hier? Was bekommst du hier? Alles, was die Regierung mir gibt, ist eine jährliche Unterstützung für Brennholz.39 Und schau, wie viel Geld die Menschen im Ausland verdienen, zum Beispiel in Polen“, fügt er hinzu. „Die hatten auch eine sozialistische Regierung, aber jetzt schau, wie die Menschen dort leben. Und unsere Frauen kümmern sich dort um ihre alten Leute, und hier können sie mit dem Geld, das sie dort verdienen, neue Häuser bauen und Autos für ihre Kinder kaufen. Aber hier in der Ukraine […] hilft dir absolut niemand. Unsere Regierung tut nichts!“ Trotz dieses Vorwurfes, dass die Regierung nichts tue, hat er dennoch Ansprüche an den (Sozial)-Staat und ist 35 36 37 38 39
von Benda-Beckmann 1988. Herzfeld 1992. Ebd. Herzfeld 2017. Dieser Zuschuss betrug zum Zeitpunkt meiner Forschung 3500 Hrivnja (etwa 120 Euro) pro Jahr.
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offenbar der Ansicht, dass sich der Staat eigentlich um Menschen wie ihn kümmern müsse/solle. Indem er vor allem den zentralen Staat hinsichtlich nicht erfüllter Care-Erwartungen kritisiert, wird das Bild eines vermeintlich distanzierten, gleichgültigen Staates aufrechterhalten und mit Vorstellungen von sozialem Zusammenhalt und Reziprozität – einer „fürsorglichen Gemeinschaft“ – kontrastiert, obwohl Vasyl’ von ebendieser zunehmend ausgeschlossen wird. Nichtsdestotrotz handelt es sich im Fall von Vasyl’ zunächst nicht um vollständige Vernachlässigung oder Exklusion. Eine letzte Möglichkeit für ihn wäre es nämlich, in ein seit 2003 vom Roten Kreuz in einem Nachbarort betriebenes Altersheim zu übersiedeln. Die fünf Männer, die dort zum Zeitpunkt meiner Forschung lebten (dass dort ausschließlich männliche Bewohner untergebracht sind legt erneut nahe, dass Frauen im Allgemeinen besser dazu in der Lage sind, im Alter Hilfe und Unterstützung von anderen zu mobilisieren) erhalten drei Mahlzeiten pro Tag, und einmal pro Woche kommt eine freiwillige Mitarbeiterin des Roten Kreuzes vorbei um zu putzen, die Wäsche zu waschen und bringt den Bewohnern Medikamente oder andere Waren. Offiziell wird nur alleinstehenden, kinderlosen Menschen einen Platz in diesem Heim beantragen, in Ausnahmefällen, etwa wenn Kinder nicht in der Lage oder unwillig sind, den Sorgeverpflichtungen gegenüber ihren Eltern nachzukommen, kann auch anderen Menschen ein Platz zugesprochen werden. Auch Vasyl’ könnte also einen Platz im Altersheim beantragen, bislang hat er sich aber geweigert, dort hinzugehen. Anscheinend vorwiegend deshalb, weil das Essen und der Service dort so schlecht seien; ein wenig später gestand er mir jedoch, dass er dort nicht hingehen wollte, weil das nicht nur ihn, sondern vor allem auch seine Töchter beschämen würde, und das wollte er um jeden Preis vermeiden. Darüber hinaus würde der physische Akt der Übersiedlung ins Altersheim der Öffentlichkeit als Beweis dafür dienen, dass seine Kinder ihn endgültig verlassen hätten, was schließlich vermutlich seine vollständige soziale Exklusion bedeutet hätte. Wie ich in einem Telefonat mit Vasyl’s Cousine Halyna Anfang 2020 erfahre, ist Vasyl’ letztendlich doch ins Altersheim gezogen.
7.
Zusammenfassung
Am Beispiel von Vasyl’ habe ich in vorliegendem Beitrag gezeigt, dass Fragen nach der Verdientheit von bestimmten Formen von Care geschlechtsspezifisch unterschiedlich zwischen Verwandten, NachbarInnen, BürgerInnen und dem Staat ausverhandelt werden. Diese spielen aufgrund der wirtschaftlichen Notlage und der hohen Arbeitslosigkeit für einen Großteil der Bevölkerung in ländlichen Gebieten eine wichtige Rolle und werden auf Grundlage verschiedener moralischer Bewertungen bezüglich dessen, was es heißt, ein „guter Mensch“ und ein
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„guter Bürger“ zu sein, verhandelt und überarbeitet; diesen Bewertungen liegen sowohl (Ideal)-Vorstellungen von Reziprozität, Verwandtschaft, Geschlechterrollen als auch Persönlichkeit zugrunde. Aufgrund seiner fortschreitenden Verarmung ist Vasyl’ zunehmend nicht mehr in der Lage, an unterschiedlichen Unterstützungsbeziehungen mit Verwandten und NachbarInnen teilzunehmen, was zumindest ein Minimum an Ressourceneinsatz erfordert hätte.40 Infolgedessen, und entgegen der Selbstrepräsentation der DorfbewohnerInnen als „fürsorgliche Gemeinschaft“ wird er aufgrund seines „moralisch fragwürdigen Lebensstils“ und der Einschätzung, dass er seine verwandtschaftlichen Verpflichtungen gegenüber seiner Töchter in der Vergangenheit nicht erfüllt habe, als unwürdig angesehen, unterschiedliche Formen staatlicher und nicht-staatlicher Unterstützung zu erhalten. Das stellt nicht nur das Ideal von Reziprozität und bedingungsloser Unterstützung innerhalb der Verwandtschaftsgruppe in Frage41, sondern führt auch zu einer prozessualen Auflösung von verwandtschaftlichen und anderen bedeutsamen Bindungen. Die negative Bewertung vermeintlich „privater“ Beziehungen einer Person ist in weiterer Folge auch zentral, wenn es darum geht, wem Hilfe und Unterstützung der lokalen Regierung zugesprochen wird und wem nicht, oder anders ausgedrückt, für die Herstellung einer Hierarchie von deservingness.42 Indem Vorstellungen davon überarbeitet werden, wer als deserving gilt und wer nicht wird es möglich, an idealisierten Vorstellungen von gegenseitiger Unterstützung festzuhalten, und gleichzeitig jene, die in Armut leben, als selbst für ihr Schicksal verantwortlich darzustellen. Armut und unsichere Lebensgrundlagen werden folglich eher individuellem Scheitern und der Unfähigkeit zugeschrieben, den Tugenden des ländlichen Lebens zu huldigen, und nicht als Konsequenzen weiter gefasster struktureller und sozialer Entwicklungen angesehen. Die Fähigkeit, solange wie möglich für sich selbst und andere zu sorgen, und Fleiß, „Anständigkeit“ und Tugendhaftigkeit sind Eigenschaften, die im lokalen Kontext hoch angesehen sind und es eher ermöglichen, auch im Alter noch Unterstützung zu mobilisieren. Die prozessuale Marginalisierung von Vasyl’ mittels unterschiedlicher diskursiver Strategien ermöglicht es anderen DorfbewohnerInnen, ihre Mitgliedschaft zur Dorfgemeinschaft durch die Behauptung vermeintlicher „moralischer Integrität“ immer wieder (neu) zu beanspruchen, was ihnen Vorteile in der Schaffung von Zugängen zu knappen Ressourcen verschafft. In vorliegendem Fall ist die Vergabe von Ressourcen der sozialen Unterstützung an die Repro40 de Jong 2005. 41 Geschiere 2012. 42 Howe 1998.
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duktion geschlechtsspezifischer Vorstellungen von Bedürftigkeit und (un)deservingness geknüpft – was sich besonders ungünstig auf (alleinstehende) Männer auswirkt. Vermeintlich „private“ Beziehungen und Eigenschaften werden von lokalen Staatsbeamten für Entscheidungen hinsichtlich der Vergabe von staatlichen Zuwendungen herangezogen, wodurch die Grenzen zwischen staatlich und nicht-staatlich temporär verschwimmen, welche letztlich jedoch mittels der Kontrastierung und Reproduktion von Vorstellungen einer „fürsorglichen Familie“ und eines „gleichgültigen Staates“ verhärtet werden. Menschliches Handeln und Care können nicht nur – wie gemeinhin angenommen – von idealisierten Vorstellungen von Reziprozität unter Verwandten oder von positiv konnotierten Überlegungen nach moralischer Verantwortung füreinander, sondern gleichzeitig sehr wohl auch von egoistischen Motiven43 und von Gleichgültigkeit und Missachtung geleitet sein.44 Dies betrifft sowohl die Unterstützung in vermeintlich „privaten“ Beziehungen gegenseitiger Versorgung, als auch staatliche Zuwendungen. Menschen müssen dabei aber jeweils Wege finden, ihr Handeln vor sich und anderen mittels unterschiedlicher diskursiver Strategien moralisch zu rechtfertigen. Somit stellt auch die Unterlassung von Hilfe und Unterstützung nicht zwangsläufig ein Hindernis für die Realisierung des (moralischen) Selbst dar. Um die Vorenthaltung von Unterstützungsleistungen zu legitimieren, wird eine fatalistische Haltung produktiv gemacht und Verantwortung an eine höhere Instanz relegiert. So halten etwa Verwandte oder NachbarInnen daran fest, alles für Vasyl’ getan zu haben, was getan werden konnte, und die lokale Staatsbeamte bezieht sich auf die Gesetzeslage, um ihre Gleichgültigkeit gegenüber seines Anliegens zu rechtfertigen und zu bekräftigen, dass in seinem Fall seitens des lokalen Staates einfach nichts getan werden könne.45 Interessanterweise akzeptiert Vasyl’, in dem er primär den „zentralen“ Staat für seine Misere verantwortlich macht, die (neu) etablierte Verteilungslogik und trägt somit zu dessen Reproduktion bei. Moralische Kategorien von (un)deservingness scheinen letztlich sowohl von den Marginalisierten, als auch von denen, die inkludiert sind, geteilt zu werden.46
43 44 45 46
Hann 2011: 34. Biehl 2012. Siehe Herzfeld 1992. Howe 1998; Kay 2011.
Die Grenzen gegenseitiger Unterstützung
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Alexander Tymczuk (Telemark Research Institute Norway)
Ambiguous Migration(s): Care at a Distance in Ukrainian Transnational Families1
Abstract In this article, I discuss how Ukrainian labor migrants in Spain rationalize about caring for children at a distance. More specifically, I show how my informants navigate the moral discourse on childcare in Ukrainian transnational families and two (incompatible) models of what constitutes proper childcare – care that necessitates physical proximity and care as the fulfillment of the child’s material needs. Through the story of three Ukrainian migrant couples in Spain, I argue that the extended transnational family is a collective in which care circulates multidirectionally between members with complementary and changing roles as caregivers and receivers of care. Keywords: Care, Childcare, Labor Migration, Transnational Families, Ukraine.
1.
Introduction
Parenthood is infused with cultural-specific norms and notions of caring for one’s offspring (see for instance Bornstein et al. 1991; Thelen and Haukanes 2010b:18). How parents care for their children is, thus, not only a private concern but it is also evaluated according to certain societal expectations and moral standards, whether these are based on culture-specific traditions, psychological development theories, national laws or international conventions (cf. Thelen and Haukanes 2010a:2). Faced with such diverse and often conflicting considerations of what constitutes proper childcare, parents must make short- and long-term choices related to different forms of caregiving, including the five types identified by Finch, i. e. economic support, accommodation, personal care, practical support and childcare, and emotional and moral support (Finch 1989, referred to in
1 This article is based on empirical data, which I have collected as a research fellow at the department of Social Anthropology, University of Oslo. My research was part of the research project “Informal Child Migration in Europe”, funded by the Norwegian Research Council.
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Baldassar and Merla 2014:12). Sometimes this entails making a choice between conflicting alternatives within a complex space of diverging moral evaluations. Here I will discuss notions and moralities of childcare in what has been labeled transnational families, i. e. families with members living in different nation states (Bryceson and Vuorela 2002; Mazzucato and Schans 2011). More specifically, I will focus on Ukrainian labor migrants in Spain and the Ukrainian discursive field on proper childcare, within which the act of leaving one’s children in order to work abroad is evaluated. This discursive field is composed of different influences and various historical and social contexts and reactions against them; Soviet ideology on state childcare, a Ukrainian nationalist revival, academic psychology development theories and international conventions, to name but a few. What could be termed “contemporary moralities of childcare” in Ukraine, thus, consists of a variety of voices of differently positioned actors who draw arguments from various contexts to argue what it means to properly bring up a child.
2.
Methods and Data
In this article, I explore empirical data which I have gathered in 2007–2008 during a total of two months of fieldwork among Ukrainian labor migrants in the Spanish cities of Madrid, Mostoles, Alcala de Henares, and Murcia. Through participant observation and open-ended interviews, I collected accounts of family and migration biographies and childcare practices (remittances, family reunions, return visits) from labor migrants in different life and family situations. The informants were recruited through a snowball approach, and my initial contact with the Ukrainian community in Spain was established through the Ukrainian organizations in the cities where I conducted fieldwork. The most fruitful sites of interaction with Ukrainian labor migrants were the Ukrainian Saturday schools, the weekly services of the Ukrainian Greek Catholic Church in Madrid and the informal meeting point at the Alluche square in Madrid every Sunday. I also went along on two pilgrimages with hundreds of Ukrainian labor migrants from Madrid to Lourdes in France and Fatima in Portugal, organized by the Ukrainian Greek Catholic Church and the Ukrainian organizations. In addition, I engaged a research assistant from the Ukrainian community in Madrid to carry out structured interviews with couples living in Madrid; first in 2008 and then in 2013. I developed interview guides for each of the rounds of interviews. In all, the research assistant recruited six couples living in Madrid, with or without their children; four couples were interviewed separately in 2008,
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and three of these were also interviewed in 2013.2 Two new couples were also interviewed in 2013. All the interviews were recorded. In this article, I illustrate some of my general observations on Ukrainian migrants’ transnational family life and care at a distance through the histories of three couples. A thorough analysis of the history of each family would be fruitful, since each transnational family is unique, in its organization, family culture and rationalization about their current situation. However, I only have room to describe a few of them here, in a manner that unfortunately compresses the richness of the narratives. Still, the empirical descriptions can serve as distinct examples within a reality of Ukrainian transnational familyhood that have many common denominators. Further, I analyze these histories within the larger context of my PhD-research on care at a distance in Ukrainian transnational families.3
3.
Labor Migration from Ukraine after the Independence
Since the break-up of the Soviet Union and the establishment of an independent Ukraine in 1991, the country has experienced a massive outbound migration. From the late 90s on, a huge wave of Ukrainian migrants went to Europe, especially the southern parts of Europe, mainly as clandestine labor migrants. Spain has been one of the most popular destination countries for Ukrainian labor migrants, and in contrast to for instance Italy, where the migration from Ukraine could be characterized as “feminized” (Vianello 2016), the distribution of male and female Ukrainian migrants to Spain is more even and often involves married couples. Most of the Ukrainian migrants I interacted with in Spain came there on a tourist visa or a visa for religious pilgrimage or sport events, often issued by other countries than Spain4, and then overstayed the visa and, thus, became irregular migrants (see Leifsen and Tymczuk 2012). A high demand for unskilled labor in construction and care work in Southern European countries made it 2 One couple had returned to Ukraine before the second interview and the husband only returned to Spain for shorter periods of time in order to work there. 3 The empirical data from Spain is one part of the data I gathered through a multi-methods approach (Morse 2003) in order to analyze care at a distance in Ukrainian transnational families. In addition, empirical data was collected during a two months’ fieldwork in the Western Ukrainian city of L’viv, where I conducted interviews with returned migrants, children left behind and academics and representatives of the local authorities. Further, I initiated a literary contest for Ukrainian children and we received 143 texts written about labor migration, transnational familyhood and separation. Taken together, the various analyses of these different data constitute a larger whole and a context in which the various analyses mutually reflect on each other (see Leifsen and Tymczuk 2012 and Tymczuk 2011, 2013 and 2015). 4 See Finotelli and Scortino (2013) for a discussion on short-term visa supply in the European Union.
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relatively easy to work in the shadow economy. Generally, my informants lived and worked in Spain for some time, and then legalized their status in one of the Spanish regularization programs for illegal immigrants (Sabater 2012). Gaining legal documents is essential, as they are a necessity for migrants to travel home for short periods. In the period of illegality, which could extend up to four years for many of my informants, most migrants do not revisit Ukraine. The migration process, as described by informants in Spain, varied from case to case, but in general, if we focus on families with children, one of the parents goes abroad first, and is then – in some cases – joined by the spouse in course of a family reunion, and sometimes also by children at a later stage. Many families decide not to bring their children to Spain, mainly because the parents plan to return to Ukraine after a short stay abroad, and do not think it is appropriate or practical to reunite with their children, for instance because they do not want to discontinue their children’s schooling in Ukraine (Leifsen and Tymczuk 2012). The Ukrainian labor migrants I interacted with in Spain told me that the initial plan was to stay and work for one year, to make enough money to buy an apartment in Ukraine or send their children to university. However, debts that needed to be paid, difficulties finding well-paid jobs and additional financial needs back home usually made it difficult for my informants to return to Ukraine. Instead, many were joined by their spouse to boost incomes. The Ukrainian migrants who did bring their children to Spain through family reunification argued that they did not wish to live in a transnational household, separated from their children for a longer period. They described their migration more often as a family migration, rather than a labor migration. As Ruslana, who lived with her husband and two teenage children in their own apartment in Mostoles, explained the difference to me: “If you come here to make money, then you cannot bring your children. As a labor migrant, you want to send as much money as possible back home, so you will work all day and share an apartment with several others to cut expenses. When you decide to bring your children, then you cannot work such long days and you need to get your own place to live”. Ruslana was a Ukrainian language teacher at the Ukrainian Saturday School in Mostoles. She told me that many of the migrant parents who had brought their children to Spain did not send them to the Ukrainian Saturday School, because they had already decided to stay in Spain and did not see the point of their children getting a Ukrainian diploma.5 Still, even children who are brought to the
5 Ukrainian children living abroad are able to graduate through the Ukrainian International School and are entitled to enrol in higher education in Ukraine.
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destination country live in a transnational household for a certain period of time, until the parents are able to apply for family reunification.6 When both parents live abroad, the children – as a rule – live with their grandparents or other close care persons in Ukraine. For a period of time, the family lives in a transnational household, maintaining relationships through various practices of care at a distance, such as sending remittances, communicating through various virtual communication technologies and going home for revisits (Leifsen and Tymczuk 2012).
4.
Discourses on Childcare at a Distance in Ukraine
Childcare in transnational households is a debated topic in Ukraine and closely connected to the more general discourse on labor migration.7 The children who are “left behind” in Ukraine are often called “social orphans” in popular and academic discourses, i. e. children living without parents, who are still alive (see Tymczuk 2011). The underlying premise of “social orphanhood” is that proper childcare and a healthy childhood depends on the physical proximity of the parents and the child, i. e. that the parents, preferably both parents, and the child live together and spend time in face-to-face interaction.8 The historical context for this emphasis on care through physical closeness is the ideological transition from the institutionalization of childhood during Soviet times with its socialist ideal of state childrearing (see Goldman 1993; Ispa 1994; Kirschenbaum 2001), to a post-Soviet neoliberalism and neofamilialism in independent Ukraine (Solari 2018:29), with its resurgence of traditional gender roles and a view of mothers as “guardians of home and hearth” (Wanner 1998:66). This ideological transition went in parallel with the introduction of globalized ideas of “childcare” and “parenthood” (Thelen and Haukanes 2010), as well as “parenting” as “an activity that is increasingly taken to require a specific skill-set […] often based on the latest research on child-development…” (Faircloth et al. 2013:1). Even though Soviet ideology of childrearing was not necessarily reflected or internalized in the private sphere during Soviet times (see Kharkhordin 1997; Haukanes 2001:11), it is indeed part of the contemporary discourse in Ukraine concerning what constitutes proper childcare. For instance, 6 During fieldwork in Spain, I was only told about two Ukrainian migrant families that brought their children illegally to Spain at the time the parents migrated. 7 For an analysis of the ambiguous status of the labour migrant see Keryk (2004), Fedyuk (2006), and Friesen (2007). 8 Similar discourse on children left behind by migrant parents can also be found in other Eastern European countries with a substantial outmigration, such as the discourse on “euro-orphans” in Poland (see for instance Lutz and Palenga-Möllenbeck 2012:26 and Matyjas 2011).
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Halyna Katolyk, a Ukrainian psychologist-practitioner, said the following in an interview with a Ukrainian newspaper on the consequences of transnational familyhood (Sim’ya i dim, 2008, my translation): My generation grew up in nurseries. Children were sent there from the age of two months. These were actually abandoned children. The [Soviet] state caused this through laws that made it impossible for mothers to spend enough time with the child, so that it could grow up healthy and so that a positive family model could be created. Thus, from the age of two months on, the little child was already traumatized by the mother abandoning it. This adheres on a subconscious level: “I did not perish under such circumstances, and this means that I can do the same towards my own child”. These were called nurseries and youth camps, but the child actually lived outside of the family, without love, in army-like conditions starting from the age of two months. Can that child adopt any basic form of love? Who knows? Moreover, this has implications for one’s conceptualization of setting up a future family and the shaping of the next generation. Parents who leave their children [to migrate abroad for work] cannot be blamed, because they operationalize previously acquired notions. Western globalized ideas on childhood and parenting have indeed reached Ukraine, and are mediated by academics and professionals, such as social workers, health care personnel, child psychologists, or “psycho-technocrats”, whose professional attitude is characterized by academic psychology (see Howell 2007:19; Rose 1999). The dominant psycho-technocratic discourse on Ukrainian children left-behind focuses on the negative consequences of long-term separation, in particular the separation of mother and child. At a round table conference for professionals working with children of labor migrants in L’viv in the summer of 2006, called “Children of labor migrants: the new social orphans”, all the contributors pointed out what they believed to be various negative consequences for children who are abandoned by their parents, such as discontinued schooling, alcohol and drug abuse, and forced prostitution. The organizers thus stated: Practitioners in education, psychology, and medicine experience that these children always have one or another distinctiveness. These distinctive qualities have evolved because children of labor migrants are raised under certain circumstances, that is, the family is not complete. According to Ukrainian law, these children cannot be categorized as social orphans, due to the fact that their parents are alive and have not been deprived of the parenting rights over their children, but in practice one or both parents stay abroad for a number of years in the period when the child develops and forms his or her personality (Justice and Peace Commission 2007, my translation). One essential part of the Ukrainian discourse on childcare thus emphasizes the importance of physical proximity and parents’ active participation in their
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children’s life. In addition, I have also identified another model of childcare in the Ukrainian discourse, i. e. care as the fulfillment of the child’s material needs (see Tymczuk 2011). As Ukrainian labor migrants in Madrid pointed out to me, these two aspects of childcare are irreconcilable, because of corruption, low wages, and high unemployment in Ukraine. A recurrent argument that was echoed in many of my informants’ statements on why they left their children behind was that if you want to pay for your children’s present basic needs or future education, you must be separated from them for a period of time. On the discursive level, the two models of care overlap to a certain degree with a breadwinner/homemaker-model, in which the husband and father is responsible for material providing and the wife and mother is responsible for domestic affairs. Ukrainians in general subscribe to the breadwinner/homemaker-model, but at the same time acknowledge that both partners should participate in all family functions, including domestic duties and childcare (Volodko 2015:192). My general impression from interacting with Ukrainian labor migrants in Spain is that many regarded both forms of childcare as a parental responsibility, regardless of gender. However, they made a distinction between the qualities of relational care, i. e. that the mother and father perform different, but complementary roles as caregivers. Mothers were seen to do more emotional care work, whereas fathers give protection and advice. As Olha, who we will meet again later, said: “Both parents must raise and care for the child. The mother gives love and affection, and the father teaches how to cope and make a life for oneself.”
5.
Migrant Parents’ Views on Childcare in Transnational Families
Migrants and their family members in Ukraine do not live in a discursive vacuum, and they do – to some degree – have to relate to the various discourses in Ukraine on labor migration and childcare at a distance. As Cinzia Solari found in her comparative study on migration of Ukrainian middle-aged female migrants to Italy and the United States, “motherhood discourses shaped the terrain of possible actions for those in both sending and receiving countries”, although in different ways in the two destination countries (Solari 2018:43). The two models of childcare, i. e. care in proximity and care as material providing, in many ways structured how migrant parents in Spain reasoned about their migration and separation from their children. Thus, care as material providing was as a rule given as the reason why migrant parents go abroad in the first place. Just like the middle-aged women in Italy (Solari 2018:42), my informants in Spain placed remittances and long-term investments into the children’s education and future adult lives at the center of their narratives of being a “good parent” and provider. The weekly or monthly remittances that many of my
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informants sent home with one of the many minibuses shuttling between Spain and Ukraine contained more than just alienable and unpersonal money (see Kopytoff 1986). Rather, the migrant parents made a great effort to buy clothes, foodstuff and other necessities or luxury items that they knew would appeal to their family members in Ukraine. These personal packages stuffed with carefully selected commodities were the most visible tokens of the parents’ care and affection through material providing. In such a context, remitting can be regarded as a “devotional rite” and medium of care (Miller 1998:9).9
Mariana and Ihor’s story Mariana10 went to Spain in 2002 on a 14-day Austrian tourist visa, when their children, a son and a daughter, were aged 15 and 12. She planned to work in Spain for one year in order to make money to pay for their children’s education in Ukraine. In 2007, Mariana was joined by her husband Ihor in Madrid, through family reunification. Mariana worked as a live-in housemaid, or interno, and she and Ihor lived in the household of Mariana’s employer. Ihor also worked for Mariana’s employer, as a carpenter in the employer’s firm. As she recalled the exhausting journey to Spain, Mariana explained: Everyone has a reason to go abroad, and everyone wants to make some money, and support their family materially. I left to give our children an education, because the so-called free education in Ukraine is by no means free. So, first and foremost, I went to help our children, because it is hard to make ends meet on state salaries in Ukraine. Mariana thus describes labor migration as an act of caring and providing materially for one’s family. Further, like all the migrant parents I interacted with in Spain, she expressed that the separation from her children is a heavy burden, depriving her of the opportunity to fulfil expectations of caring through physical closeness and face-to-face interaction. Being asked how her children will remember their childhood, Mariana replied: They have to some degree had their childhood stolen. I left them and perhaps gave them too little attention as they were growing up. Especially our daughter, who needs to get advice from her mother. In that age, they need their mother, because a father is a father, and a grandmother is a grandmother, but a mother is very much needed. I am really sorry about that. I have sometimes thought that me 9 Remittances flow in both directions between the home and destination country, carried to and from Madrid in small buses each week. Families back in Ukraine often send self-produced pickled tomatoes and cucumbers, as well as distinctive Ukrainian foodstuff not easily available in Spain. 10 Mariana and Ihor were interviewed by my research assistant in Madrid in 2008 and 2013.
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being here in Spain… that it has a high price. Yes, I can help them materially, I work, send them money, they can allow themselves to buy this or that. Most importantly, they can pay for their education, food, pay for the apartment. But when it comes to maternal love… they have lost out on that. I will probably never be able to make up for all those years. To speak on the phone is one thing… This is very difficult for me to come to terms with. Because I feel that a lot of things were never said, and a lot of things were said, but I wasn’t there to listen. I know I have taken my love, support and care away from them, but on the other hand, I made these sacrifices from them, our children. Mariana’s description of this dilemma of the two incompatible models of care was not unique, but rather a recurring paradox in how my Ukrainian informants in Spain reasoned about migration and leaving children behind; the parents expressed that they had to deprive their children of care (through physical closeness) in order to care for them (materially).
Yurii and Oksana’s story Yurii11 went to Spain in 2001 and was joined by his wife Oksana through family reunion in 2003. Yurii worked in construction and Oksana as an externo, or a housemaid who works daytime. Both had work and residence permits in Spain. When Oksana left Ukraine, their two children were 10 and 12 years old. Initially, Yurii planned to go to Spain for one year, to make money for their own house. At the time of his departure, they lived together with Oksana’s parents in a threeroom apartment. However, he was not able to earn and save the money needed in one year. He thus told me: “There is always one main reason why people leave abroad to work. But when you finally make enough money to pay for what you came for, then there are other reasons that make you stay. We have built our house, but now our oldest daughter is going to study at University.” Yurii was initially opposed to Oksana joining him in Spain. “I did not want my wife to come here to clean toilets”, he told me, “I rather wanted her to stay with our children.” According to Oksana, she had two reasons to join her husband. First, two salaries are better than one, whereas the expenditures for housing and food are not that much higher for two persons than for one. The most important reason, however, was to keep her marriage together. “Our neighbors and friends back home constantly warned me about what long-term separation does to a couple. I trust Yurii, but still… Time and distance can tear everything apart. So, when he got his documents, I decided to go to him”.
11 I interviewed Yurii and Oksana in Madrid in 2008.
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Like Mariana, Yurii justified their migration in terms of material caring. Further, he expressed the same dilemma of conflicting care obligations as Mariana did. As he told me, “I no longer know whether we win or lose from all of this. I haven’t been there to see my children grow up. I only see them once a year, when we go back home. On the other hand, we have built ourselves a house”. Likewise, his wife Oksana said: “We lose so many years here in Spain. We went for the sake of our children, but we have lost so much”. Even though Yurii and Oksana might agree with the point made by psychotechnocrats in Ukraine that a physical separation of parents and their child is “unnatural”, they would not necessarily agree that such a separation entails negative consequences for their children. They rather emphasized that other care persons in the extended family are able to partly replace the parents’ care. At the time of our interview, Yurii and Oksana’s children had lived for five years with Oksana’s parents in Ukraine while their parents worked in Spain. The grandparents were in their early 60s and Oksana pointed out that things would have been different if they had been in their 80s. When I asked her how she thought of herself as a mother, she replied: “I think I am a good mother. My cousin left her children alone. Her husband started drinking and the children were basically left to take care of themselves. Our children are taken good care of by my parents and us”.
Olha and Oleksandr’s story When Olha and Oleksandr were interviewed by my research assistant in 2008, they were both in their mid-thirties, and at the time neither of them had any legal residence or work permit in Spain. Olha came to Spain on a Hungarian tourist visa in 2006, six months before her husband Oleksandr joined her on a 30-days German working visa. Olha and Oleksandr originally wanted to stay in Spain for one or two years, in order to earn money for a better life in Ukraine and to be able to give their son an education. In Ukraine, they both worked within the service sector and wages did not pay for more than elementary things. In Madrid, Olha worked as a domestic worker, or externo, and was able to obtain a Spanish residence and work permit in 2009. At the time of the second interview in 2013, she was pregnant and not working. Oleksandr, on the other hand, has not had any permanent employment and therefore his application for a work permit was rejected. Their son, Maksym, who was eight years old when his parents went to Spain, lived with Olha’s mother in Western Ukraine. After she received a Spanish residence permit, Olha travelled to Ukraine once every year, whereas Oleksandr did not travel to Ukraine because he was afraid that he would not be able to return to Spain.
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According to Olha, their son, Maksym, has a very close relationship to his grandmother with whom he lives in Ukraine. After Olha received her legal documents in Spain, Maksym came to Spain during the summer holidays. Still, he did not want to live in Madrid because of his grandmother, who would have been left alone in Ukraine. Olha said: “Maksym likes it better here in Madrid, but he understands that he must go back to his grandmother, who needs him. He worries about her and loves her and misses her very much when he is here”. For Olha, the relationship that evolved between her mother and their son was an indication of the quality of care that flows between them. Thus, care circulates multidirectionally in transnational families, across generations.
6.
The Difficulty of “Doing” Transnational Family
It could be argued that these migrant parents’ notions of childcare at a distance both coincide with and differ from the ongoing discourse in Ukraine on children in transnational families. They would probably agree that their family situation deviates from a commonly held norm of the nuclear family living in proximity and they are also guilt-ridden about not being able to partake in their children’s life as much as they would like to. Some of them, at least implicitly, expressed that the relationship between parents and children that live separately differs qualitatively from what they perceive to be some kind of normality of family relatedness. Even though the migrant parents did not regard transnationality as an ideal organization of their family life, they still found it to be a way to overcome the dilemma of the two incompatible forms of childcare in a context of relative poverty. Labor migration was a successful strategy for fulfilling the care expectations of material providing, and the care relations which developed between their children and other significant care persons were regarded as an adequate substitute for the lack of day-to-day parental care. Thus, the various care obligations were distributed between and placed on several caregivers, connected through a family network that spans across national borders, and in which care circulates in a reciprocal, multidirectional and asymmetrical exchange over time (Baldassar and Merla 2014). Whereas Oksana’s parents were engaged in the dayto-day caring in physical proximity to their grandchildren, Oksana and Yurii took care of their children and parents’ material needs from Spain. Likewise, Olha and Oleksandr’s son and grandmother took care of each other, while they sent money and remittances from Spain each month. Still, transnational familyhood has an inherent disadvantage compared to proximate familyhood, as the distance that separates them makes it more demanding to be “doing” transnational relatedness, i. e. the creation and recreation
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of relations over distance and time (Leifsen and Tymczuk 2012:221; Baldassar and Merla 2014). Virtual communication technologies and remittances can create a sense of co-presence, but as Mariana said, phone calls cannot replace face-to-face communication.12 Not because of any deficiency in the communication technology as such, but because “a lot of things were never said, and a lot of things were said, but I wasn’t there to listen”. Mariana, like the other migrant parents we have met in this article, feels like she has missed out on daily interactions with her children. Many of my informants in Spain likewise complained that their relationship with their own children was weakened by their separation, especially during the first years until they were able to apply for a residence permit and legally visit their children back home (Leifsen and Tymczuk 2012). However, a reunion between migrant parents and their children is not necessary a quick fix of weakened relations. I met Lyuba at one of the Ukrainian Saturday schools in the Madrid area in 2008. She told me that she came to Spain on a family reunification visa with her daughter three years ago, together with her husband and their grandson, Mykola. When their daughter left Mykola with them eight years earlier, he was one and a half years old. Tears filled Lyuba’s eyes, as she told me about the difficult period after her daughter left. Mykola cried all the time and called out for his mother. “We cried in Ukraine, and my daughter cried here in Spain”, Lyuba recalled. When I asked about Mykola’s reunion with his mother when he arrived in Madrid, Lyuba explained that it was emotionally difficult for him and that he still did not have a very strong bond to his mother. “Didn’t he recognize her?”, I asked. “Well, yes, he recognized her”, Lyuba answered, “but it took a long time for him to get used to her. When we lived in Ukraine, we showed him pictures of his mother, and he spoke with her on the phone all the time. And she came home several times as well. But he is still closer to me than to his mother”. Lyuba told me that their situation was not unique, and that many of the children that attended the Saturday School had an emotional distance to their parents, and that it probably was a general problem for labor migrants and their children.
7.
Navigating the Moral Discourses on Childcare at a Distance
My data material shows that the migrant parents who live in transnational households are indeed engaged in caregiving, by sending remittances and participating in their children’s lives through virtual communication technologies, even if it is not necessarily equivalent to embodied forms of caregiving in 12 See Cuban (2017) for a critical discussion of virtual communication technologies and the mediation of intimacy.
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proximity. However, “doing” transnational relatedness is also a cultural practice, and how migrant parents and their children experience this relatedness depends on the cultural, political and historical context, both of the sending and receiving country (Baldassar and Merla 2014:22). The different perspectives in the Ukrainian discourse on childcare in transnational families are therefore highly relevant as a discursive field that migrant parents and their children in Ukraine are part of and must relate to. Childcare is a moral issue13, in the sense that it consists of a set of obligations that is constantly evaluated by parents themselves, educators, psychologists, etc., and categorized as good, bad, proper, adequate, etc. (see LeVine 2005:25). I would argue that there are various factors influencing notions and moralities of proper childcare on different levels and in different timespans, i. e. ideological, religious, scientific, individual, long-term, short-term, etc. These diverging systems of belief or knowledge provide input to different and parallel moral “systems” within a society. Different notions of what constitutes proper childcare can, in this view, be conflicting, concurrent, incomparable, etc., since there can be many “truths” of how to take care of a child in a “correct” manner, just as there are many ways to understand childhood and parenthood. As argued by De Boeck and Honwana (2005:4), childhood is a “relational concept situated in a dynamic context, a social landscape of power, knowledge, rights, and cultural notions of agency and personhood”. If we assume that morality is constantly constructed and deconstructed, and consequentially, in our case, that there is no natural or universal way of taking care of children, this opens the floor for social scientists to follow the threads of reasoning and motivation that make parents act as they do or why psychotechnocrats reason as they do. So, when couples like Mariana and Ihor, Yurii and Oksana, and Olha and Oleksandr decide to travel abroad for an extended period of time, leaving behind children and their own parents, this action is probably set in force on the basis of previous experiences, present options available to them, as well as future expectations, i. e. how they conceptualize the role of their own actions in shaping the future of their children. A fundamental part of this decision-making process is related to an evaluation of what is best for their children. Implicit in the statements of many of my informants in Spain when it comes to explaining why they chose to leave their children behind is, thus, an evaluation of what will be in the best interest of their children now and in the future; physical closeness with their parents in the presence or material security in a longer 13 I use Humphrey’s (1992:136) definition of morality as “a system within, and less inclusive than, ‘ethics’, which states commonly held ideas about obligation. If ethics is about how one should live, morality states one’s specific obligations, usually in terms of a general rule”.
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perspective – in a context where these two forms of care are mutually exclusive in the eyes of my informants. The migrant parents’ argument that the two models of care are irreconcilable for many parents in contemporary Ukraine is, thus, an important element of how these parents evaluate their own actions in moral terms. First, some of the migrant parents pointed to the fact that they did not have much time to spend with their children before they migrated to Spain. According to Olha, she thinks that she does not fulfill all of her obligations as a mother towards her son. However, she was not able to do that in Ukraine, either. She said: “In Ukraine, I worked from seven o’clock in the morning till eight or nine in o’clock in the evening. When I returned home from work, Maksym was already asleep”. Thus, Olha’s mother had basically taken care of Maksym since he was a toddler. Second, and more importantly, the reason why it is not possible to be both, a provider for the children’s material needs and at the same time a provider of relational and “hands on” care in physical proximity, was found in the inadequacy of the Ukrainian authorities of providing parents with jobs that pay enough to live in Ukraine. In 2013, Olha said: I do not regret that we came to Spain, even though we live separately as a family. The only thing that I am sorry for, is that we have the government that we have. I would never have been able to make as much money in Ukraine, as I have done here the last seven years, for my child and for my family. We pay for us living here, for my mother and Maksym, and we help out my husband’s parents as well. We pay for three households! We would never have been able to do that in Ukraine. Never. And I think that the government is responsible. They do not give people the opportunity to work in Ukraine, in our own country. The government could have done so much more for the labor migrants. Of course, they could, if they wanted to. If they had, I think there wouldn’t be any Ukrainian labor migrants. Her husband Oleksandr added: “The government doesn’t give us anything. They are probably satisfied that we went abroad to make money and send it home”. By placing the responsibility for their migration on the Ukrainian authorities, Olha and Oleksandr resolve a moral dilemma. Migrant parents leave their children behind and deprive them of care in proximity, but they are not to be blamed or morally condemned for that. Whereas the psychologist-practitioner Halyna Katolyk placed the blame for parents leaving their children on their “previously acquired notions” in Soviet nurseries, Ukrainian migrants I interviewed placed the blame for their actions on the contemporary Ukrainian authorities. Mariana’s husband, Ihor, reasoned along the same lines: Our government has created such circumstances that we had to leave. If it had been possible for us to work and earn enough for an honest living in Ukraine, we
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would never have left. The system in Ukraine forces you to steal and give bribes. If you won’t, the politicians tell you to go abroad, so that their banks can make money when we send our hard-earned Euros to our children. In Ihor’s eyes, the Ukrainian authorities are not only morally responsible for their migration and separation from their children. They even want to make money out of the hardships that migrant parents face.
8.
Conclusion
Ukrainian migrant parents expressed to me that they felt forced to leave their children and parents behind in their home country in order to fulfill their obligations of material providing. This act, which they often described as a selfsacrifice for the sake of their children, is, according to a present discourse in the Ukrainian society, contrastingly characterized as an act of “orphaning” their children. These opposite evaluations of labor migration and childcare in transnational families are comprehendible when we take a multi-layered perspective on morality, childhood and parenthood. Whereas migrant parents would probably agree that abandoning one’s child is in general morally unacceptable, they resolve the moral dilemma concerning their own family situation by placing the moral responsibility one someone other than themselves. They thus view themselves more as victims of their own government’s failing policies than economic entrepreneurs, even though they acknowledge the fact that navigating restrictive migration policies requires both ingenuity and vigor. Further, in contrast to the coinciding neoliberal and nationalist emphasis on the nuclear family as the proper environment to raise and care for a child, migrant parents regard the extended family as an appropriate and viable collective in which relational and material forms of care circulate among its members. Care at a distance, in both its relational and material aspects, is indeed central to “doing” transnational families. Care and attention flow bidirectionally across national borders, through mediums of ICT and buses carrying packages. Still, testaments of my informants suggest that the relational bonds between parents and their children can be weakened by time and distance. That does not imply, however, that children in transnational families are neglected or deprived of care. Rather, it indicates that relational care in proximity facilitates strong relationships between other care persons and children.
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V. Galicia as a Literary Space of Memory
Avi-ram Tzoreff (Ben-Gurion University of the Negev)
Laughter, Empire and Transnationalism: Galicia as the Background for the Transnationalism Concept in R. Binyamin’s Thought
Abstract This article focuses on the place that Galicia occupies in the writings of the Jewish author and essayist Yehoshua Radler-Feldman (Rebb Binyomin, 1880–1957), who was one of the main figures in the binational Zionist movements and advocated the rooting of JewishArab relations in Palestine in the cultural and religious affinity between Judaism and Islam. The central role that RB attributed to Galicia suggests that his Galician life experience influenced the crystallization of his approach to multinationalism. As opposed to the Jewish perceptions of binationalism that were developed by RB’s future companions in the binational movements in Palestine, who were members of the Prague circle, the Galician orientation of RB’s writing is an orientation toward a different Jewish perception of multinational coexistence: one of Habsburgian origin that is based not on existential inbetweenness but on a framework of coexisting centers of identification. This perception is also manifested in the resulting esthetic forms that are characterized by traditional and popular comic storytelling that challenges the image of a unified subject and questions the very concept of authenticity. Keywords: Binationalism, Galician Jews, Humor, Jewish-Arab Relations, Multinational Empires.
Galicia occupies a major place in the writings of the Jewish author and essayist Yehoshua Radler-Feldman. Radler-Feldman, also known under the pseudonym Rebb Binyomin (hereinafter: RB) was one of the main figures in the binational Zionist movements and advocated the rooting of Jewish-Arab relations in Palestine in the cultural and religious affinity between Judaism and Islam. The central role he attributes to Galicia in general, and particularly to his home city of Zborow (Zboriv), suggests that this Galician space had an important influence on his works. RB was born in Zborow in 1880, where he spent his childhood and youth. He left Galicia in 1900 and moved to Berlin, where he studied at the Royal Agricultural University of Berlin (Königlichen Landwirtschaftlichen Hochschule zu Berlin). In 1906, he moved to London, where he – together with the Hebrew writer
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Yosef Hayyim Brenner – co-edited the literary journal Ha-me’orer (lit. The awakener), which is still considered an important cornerstone in the history of modern Hebrew literature. In 1907, he left London and spent approximately six months in Luzhany, Bukovina, and afterwards he migrated to Palestine. Even though he left Galicia at the age of twenty, RB claimed that “as every place Yehoshua [RB himself, A.T] was exiled, Zborow went with him”; thus, referring to the well-known Jewish Tannaic phrase “As every place Yisrael were exiled, the Divine Presence went with them.”1 Zborow, according to him, served as the Divine Presence accompanying him in every stage of his life. On the following pages, I will describe the ways in which RB’s Galician background influenced the crystallization of his approach to multinationalism. Through his writings, I will explore his attitudes toward the political climate that emerged in Habsburg Galicia as the basis for the formation of different centers of identification that were not based exclusively on national or ethnic ones.
1.
Binationalism between Prague and Galicia
In his study on the members of the “Prague Circle”, who later became RB’s companions in the binational movements in Palestine, Dimitry Shumsky claimed that the daily experiences of Jews in the city of Prague, who were suspended in a dual identification with their German and Czech nationalities, played a major role in the construction of the multinational Zionist conception of the members of the circle. As Hillel Kieval had claimed, the Jews of Prague served as mediators (Vermittler) between Czech and German languages and cultures, as an expression of an attempt to create their own place of “Jewish Prague”. Their choice to act as a bridge between the two struggling groups was, according to him, an act of reconstruction of the city.2 This experience of staying in-between, according to Shumsky, led circle members such as Shmuel Hugo Bergman, Hans Kohn, Max Brod, and Robert Weltsch to participate in the binational political movements such as Brit Shalom (lit. “covenant of peace”) after their immigration to Palestine.3 As opposed to Shumsky, Zohar Maor argued that the Jews of Prague vacillated between an experience of ambivalence and in-betweenness and the need for an unambiguous determination for one cultural center of identification – usually the German one.4 In this context, Germanness was not considered as an ethnic or 1 2 3 4
R. Binyamin 1949, p. 120; Talmud Bavli Megillah 29a. Kieval 2005, pp. 22–23. Shumsky 2010; Shumsky 2004, pp. 45–80. Maor 2006, pp. 457–472; Maor 2010, pp. 154–209.
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national center of identification, but as a cultural one; and indeed, it was also considered in this manner by the Czechs themselves. Both Jews and Czechs shared the same tendency to translate German Volkisch theories and to adapt them to their own national and cultural frameworks. According to Maor, Jewish in-betweenness should not be understood as staying between the Czech and the German culture, but as a suspension between an identity that is rooted in a cultural German ground and the attempt to go beyond its boundaries and to discover aspects of what the circle members considered a natural vitality that was also connected to their artistic and literary orientations. Within this struggle, Czechness was perceived in the imaginations of the circle members as a manifestation of nature and vitality that contrasted with the German “Kultur”.5 Kieval showed that many of the Jewish “mediators” came from Czech-speaking Jewish families who migrated in the last decades of the nineteenth century from the villages on the countryside to Prague and other larger cities in Bohemia and Moravia. The act of mediation was thus considered by them as a turn toward an “unspoken […] family past”.6 As Shalom Ratzabi had claimed, the original experience of the members of the circle developed from the crystallizing polarization between the two national groups in Prague, and from the duality that was characterized by their deep identification with the German language and culture and simultaneously their alienation from it. This alienation was doubled due to the fact that the circle’s members, who were the children of the assimilated Jewish middle class, felt a similar alienation from the traditional Jewish society. Their Zionist perception, which was influenced by the cultural orientations of Neo-Romanticism, Expressionism, and Neo-Mysticism, that played a major role in the cultural climate of fin de-siècle Prague, actually served as a protest against the previous generation whom they identified as responsible for their experience of dual alienation.7 The case of Prague sheds light on the background of the Jewish perceptions that developed within the multinational sphere of the Habsburg Empire. However, it seems that the case of Galicia – which may be regarded as one of the imperial peripheries – offers a different perspective. As the culture of the authorities, German culture also certainly enjoyed a dominant status in Galicia. However, Poles, Ruthenians, and Jews coexisted within Galician space itself, having different relationships with the Austrian authorities and with each other. In Galicia, as distinct from Prague, German cultural orientations had no direct influence on the identification with one or the other of the various national 5 Maor 2006, pp. 461–463. 6 Kieval 2005, p. 22. 7 Ratzabi 2001, pp. 40–92.
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groups, highlighting the fact that German culture did not occupy the place of a distinct national group in this region. Furthermore, it is difficult to suggest that the Jews in Galicia shared the same position of staying in between two national identifications that Shumsky claims they occupied in Prague. Jews formed an integral part of the Galician multinational fabric and in this case one can speak, as John-Paul Himka suggested, of a Jewish-Polish-Ruthenian triangle.8 The different places that Germanness occupied within the Galician experience also manifested in the fact that Galician Jews were not as sharply acculturated and assimilated as in Prague, and did not experience a sharp departure from traditional Jewish existence. Therefore, I would argue that the Galician orientation of RB’s writing is an orientation toward a different Jewish perception of multinational coexistence: one of Habsburgian origin that is based not on existential inbetweenness but on a framework of coexisting centers of identification. This perception also manifests in the resulting esthetic forms. The artistic orientations of the members of the Prague Circle were characterized by a desire to transcend the boundaries of their own subjectivity, alongside the search for authenticity and intense expressionism. The Galician esthetic form that is described by RB, on the other hand, is characterized by traditional and popular comic storytelling that challenges the image of a unified subject and questions the very concept of authenticity. While dealing with the picture of Habsburg Galicia as a historical-political site that serves as a basis for the reconstruction of a multinational political structure, one should mention the character of Joseph Roth, another Galician Jewish author, whose turn to the picture of his Galician homeland served, in a similar way to that of RB, as a critical approach toward the model of the modern European nation-state. As Ilse Lazaroms had claimed, Roth’s literary construction of Habsburg Galicia should not be understood as nostalgic in this sense of a mere “move backwards into the closed vaults of history”, but rather as a “critical emotion”, through which interwar European society was examined. Like RB, he used the picture of his homeland as a model of a different structure of a multinational fabric.9 Like RB, Roth, as David Bronsen claimed, had a different cultural position than that of his Jewish Austrian colleagues such as Stefan Zweig and Arthur Schnitzler. As opposed to these assimilated Viennese middle-class Jews, Roth, who moved to Leopoldstadt in Vienna in 1914, where most Galician Jews lived, had stronger connections to the traditional Jewish communities. Thus, his turn toward the Habsburg empire, after its demise in 1918, did not focus on Vienna as the imperial capital but rather on the Slavic peripheries.10 8 Himka 1999, pp. 25–48. 9 Lazaroms 2013, p. 40. 10 Bronsen 1973, pp. 220–226; Rosenfeld 1986, pp. 454–464; Lazaroms 2013, pp. 48–52.
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However, although there were strong affinities between Roth’s and RB’s construction of their Galician homeland, they differed in some important aspects. Although Roth was considered as an outsider in Vienna, his literary portrayals of the East European Jews were characterized by deep exoticism that was part of the postwar rediscovery of the Ostjuden that took place among educated Western Jews, who saw their Eastern counterparts as authentic and vital manifestations of their own tradition.11 In a similar way to the protest of the members of the Prague circle against their fathers’ responsibility for their own alienation from Jewish traditional existence, Roth also turns to the character of the grandfather in his writings – either Slavic or Jew – as an expression of authenticity.12 That approach differs from that of RB, whose ties to Jewish tradition – as an observant Jew – remained unbroken, and the Galician Jewish figures in his writings did not serve as a manifestation of a lost and authentic identity. A more important aspect lies in the different approaches to multinationalism or cosmopolitanism the two had in mind while turning toward the picture of their Galician homeland. Roth based his vision on the image of the diasporic rootless and wandering Jew, the pariah. These images served as a basis for his criticism of the European fetish of the nation-state and the national soil. Thus, as Cathy Gelbin claimed, the characters of the inhabitants of the Habsburg borderlands served Roth as the prototypes of the cosmopolitan, while representing the disruption of the clear-cut affiliations between state, ethnicity, and soil.13 In his writings Roth created a literary manifestation of what Gelbin termed “nomadic cosmopolitanism”, which drew on an imagined “European community of intellectuals” that shared the same tradition of European humanism.14 For Roth, these were the cafés and hotels that were considered central images of his cosmopolitan vision.15 As opposed to Roth, RB based his critique of the model of the nation-state, and the adoption of its repertoire of perceptions and practices in the hegemonic Zionist discourse, on a different notion of indigenousness, that was influenced by 11 Lazaroms 2013, p. 26. 12 Ibid, 31–33. One could mention, for example, the description of Carl Joseph von Trotta in Roth’s The Radetzky march as one who “[…] felt he was his grandfather’s grandson, not his father’s son”, and the description of the Slavic peasants who manifested his own roots as ones who “Back home they lived in dwarf huts, making their wives fertile by night and their fields by day”. The grandfather of the Jewish regimental surgeon Max Diamant is pictured in a similar way, as authentic character: “His grandfather had been an orthodox Jewish tavern keeper […] His enormous beard of crinckly silver concealed his chest and reached down to his knees. The smell of dung and milk and hay and horses floated about him”. Roth 1995, pp. 61, 77–78. 13 Gelbin 2015, pp. 165–170. 14 Lazaroms 2013, p. 2. 15 Gelbin 2015, 166, 170.
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his own Habsburg-Galician experience. RB did not turn to the image of the wandering Jew, but rather tried to picture a different political horizon of Jewish existence in Palestine, that did not depend on the model of the European nationstate and was based upon a shared Jewish-Arab local center of identification. While Roth turned to the cafés and hotels as the sites of cosmopolitanism, RB turned to his mother’s textile shop as the site of her encounters with Ruthenian women. It was the Galician sense of a shared locality that laid the foundation for his picture of coexisting centers of identification.
2.
The Jews Who Grew from the “Slavic Plain”
In his memoir From Zborow to Kinneret, published in Israel/Palestine in 1950, RB described Zborow as a microcosm of the characteristic multinational fabric of Galician space. He portrayed it as a city that “was founded from the outset by Jews and for Jews,” and as a place that stood at the heart of the cultural and linguistic mixture of Galicia: Watch! In this Slavic plain of superior Poles and oppressed Ruthenians, all of whom adhere to Christianity in one of two colors, Roman-Catholic or Greek-Catholic, there appeared suddenly a city of Israelites from the land of Canaan. Not a ghetto, not a Jüdenstraße, not a neighborhood, not a suburb – but a community, a town, truly a town.16
Zborow was portrayed in RB’s words as a Jewish town that developed in the center of a Galician space characterized by the superior Polish gentry and the subjugated Ruthenian peasants. He described the Jewish existence in Galicia in terms of permanent residency. It is the Jews who occupy center stage in Zborow: they are not confined to the margins of the town, in a defined and limited area, but live in the streets adjacent to the center, close to the road that crosses the Habsburg Empire from Vienna to Podvolochiska.17 This description of Jewish space in Zborow contradicts the common representation of Jewish diasporic spaces in hegemonic Zionist discourse. These were usually described as closed, limited, dark, and dirty spaces that lacked any connections with their non-Jewish environment.18 RB’s Zborow, on the other hand, grows from the very heart of the Slavic plain and forms an integral part of the Galician landscape. Thus, it signs 16 R. Binyamin 1949, p. 30. 17 Ibid., pp. 26–30. 18 See for example the description of the Jewish spaces in Micha Yosef Berdichevsky’s Beyond the River (Heb. Me-ever La-nahar) or Haim Nachman Bialik’s Behind the Fence (Heb. Meahorei Ha-gader). http://benyehuda.org/berdi/meever.html; http://benyehuda.org/bialik/ha gader.html.
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the integration of the “Israelites from the land of Canaan” into the Galician multinational fabric. This picture emphasizes multinational coexistence as a key characteristic of the Galician space, while also highlighting the place of the Jews within this space and noting that none of the groups included in this framework could be considered a minority.19 However, even in this short and initial description, RB – who might have been expected to paint an idyllic picture of multinational Zborow – emphasized the power relations that manifested in Galicia in the hegemony of the Polish gentry and the oppression of the Ruthenian peasantry. This dialectic movement between multinational coexistence and the inherent power relations it embodied is crucial for an understanding of RB’s perception of Galicia as a multinational space, as well as the perception of the imperial center as an important basis for the subversion of Polish hegemony. RB then proceeded in his memoirs to describe Zborow as he experienced it as a child. These years, according to RB, were considered a time when “There is silence around, no rebellion and no revolution and no uprising. There is a permanent worldwide order and everyone is in his place.” RB concentrated on the multinational Galician kaleidoscope that ratified the various groups’ affiliation to the Habsburg imperial framework. In the autonomous Galicia of his time, he argued that the memory of the Polish rebellions of 1846 and 1848 had gradually been forgotten: The present is soft and calm. No controversy from within and no altercation outside. The Poles apparently accepted the situation. You don’t hear from them, God forbid, any words of shame and dishonor concerning the Emperor Franz Joseph, blessed be his majesty, that is a kingdom of grace. In a coronation day of the Poles they sing the kingdom’s poem and the rhymes of the Polish anthem as well. There is no division between these two poems. The Ruthenians are glad for their exodus, from subjugation to liberty […] and the Jews demand only a kingdom of grace and good health, livelihood, and good children, and live with neither shame nor disgrace.20
Thus, RB argues that Polish loyalty to the emperor, manifested in the adoption of local Galician identity and its preference to any aspiration to restore the Polish kingdom to its former glory, characterizes the calm Galicia of his childhood. The Poles, who had been those who threatened Galicia’s geographical unity in the upheavals of 1846 and 1848, now became those who raised the flag of the empire, while singing its anthem alongside the Polish one, feeling no contradiction between the two. Their national identity appeared not to be opposed to an imperial identity, but rather to be integrated therein. This affiliation to the empire, RB argued, formed the basis for the abolition of the feudal order that enabled the 19 See in this context: Kann 1964, pp. 29–33. 20 R. Binyamin 1949, p. 32.
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dominance of the Polish gentry, provided the Ruthenians with political representation, and protected the cultural and economic needs of the Jews. RB certainly painted an idyllic picture of Galicia, neglecting the cultural, political, and economic dominance acquired by the Poles during the years of autonomy, as well as the Ruthenian and Jewish attempts to challenge this hegemony. However, the picture of a peaceful space, based on the abandonment of the fulfillment of their national aspirations by the Poles in the form of a Polish kingdom that would have brought Galicia to its very end, reflects the tendencies of all three groups to defend the unity of Habsburg Galicia as a distinctive territory. The upheaval of the Polish national movement in 1846, that demanded the revival of the Polish kingdom and the declaration of an independent Polish government in Krakow (lasting just nine days), was the first sign of the threat that modern nationalism would pose to the existence of Galicia as a distinct political unit.21 However, the failure of this upheaval serves only to highlight the uniqueness of the case of Galicia as a place that enabled the fulfillment of national aspirations in different forms, other than the exclusive model of the nation-state, which actually caused the failure of the latter. The leaders of the Polish upheaval came from the Polish gentry and saw the Polish-speaking peasants who followed the Roman Catholic church as the pure and original manifestation of Polish existence, and thus, as their companions in their resistance against the empire. However, the peasants themselves did not wish to cooperate with the developing national movement. The thought of an independent Polish nation-state led by the Polish gentry, and the relinquishment of the improvements they had experienced under the Austrian imperial authority, frightened them and motivated them to express their loyalty to the empire by actively standing against the rebels.22 Following the failure of the upheaval, the Polish gentry halted their attempts to fulfill their aspirations to unite the Polish space that had been divided since 1772. As is mentioned in RB’s description, they emphasized their Galician local identification as one that was consistent with their Polish national identification, which they in turn saw as an integral part of the multinational fabric of the province. The demands that were voiced in the later upheaval of 1848 had a different character and focused on an attempt to acquire autonomy and other forms of national expressions within the imperial framework.23
21 Wolff 2010, pp. 141–149. 22 Struve 2008, pp. 75–78. 23 Wolff 2010, pp. 165–173, 183.
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3.
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Local Autonomy, Local Hegemony, and the Imperial Center
Rachel Manekin showed that the upheaval of 1848 had a major influence on the Galician Jewish experience, which began to be understood not only in terms of cultural identification but also in terms of national identification. Before the upheavals, there was a common distinction in Galicia between Jews characterized by their support for studying in the official schools and the acquisition of the German language – the “Deutschen” – and Jews who continued to adhere to Polish cultural characteristics. The upheaval led some of the former groups to loosen their cultural identification with German culture and to join the national demands of the Poles.24 This cooperation was based on a shared local Galician identification. Indeed, after the suppression of the rebellion the enthusiasm for joint political resistance faded, and Jews who enjoyed the cancellation of the kosher meat and candles taxes started to emphasize their identification with the Austrian imperial center.25 However, this development may be seen as a manifestation of the complicated skein of loyalties that characterized the Galician Jewish experience – the coexistence of imperial, local, ethnic, and religious loyalties. Following the signing of the treaty that led to the division of the empire and its transformation into Austro-Hungary in 1867, the new constitutional reforms were implemented mainly in the Austrian part, offering these various groups the possibility to politically and culturally express their collective centers of identification.26 It was a constitutive moment for Galicia that achieved a measure of autonomy, manifested mainly in the introduction of the Polish language into public education and administration. Therefore, while turning Galicia into an autonomous district, this step also reinforced Polish hegemony. For their part, the Poles continued to describe autonomous Galicia as a reflection of its various collectives as a whole. The overlapping of the Galician autonomy and the Habsburg law system was depicted as a fertile basis for the development of Galicia as a manifestation of its spatial multinational fabric.27 However, the implementation of the Habsburg constitutional reforms also encouraged the emergence of new perspectives that challenged the Polish hegemonic perception of Galicianness. Polish hegemony sometimes created a basis for cooperation between Jews and Ruthenians in an attempt to subvert the undisputed Polish
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Manekin 2003, pp. 224–229; Shanes 2012, pp. 31–32. Manekin 2003, pp. 254–262. Cohen 2007, pp. 241–278; Cohen 2013, pp. 103–121. Wolff 2010, pp. 214–221.
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dominance in Galicia.28 The crystallization of such cooperation suggests that the conceptualization of Galicianness was not undertaken exclusively by Poles, but also by Ruthenians and Jews. The duality that characterized Galicia’s emergence as an autonomy under the Habsburg constitution is reflected in RB’s description of the elections for the mayor of Zborow: We are living in Austria […] some decades after the implementation of [the] egalitarian constitution. The constitution equated the Jews’ status with that of the other people in the state […] The Jews form the majority in Zborow and why shouldn’t they use their right to elect a mayor of their own? There is no national terminology yet, no national organization, no connection with other city. People do not ask what the leaders in Lwow or Vienna are saying. Zborow is kind of a republic in itself, a slightly idyllic republic.29
Zborow, according to RB, was still a pre-national space in this period. Thus, the competition between a Polish Catholic nominee and a “detached” Jew, to use his own terminology, was not understood as an election between the representatives of two distinct national movements and, accordingly, was conducted calmly. In his subsequent passages, however, RB deconstructed the idyllic image of Zborow, claiming that the axiom that the constitution could actually allow the Jews – the majority of Zborow’s residents – to win the mayoral elections proved to be wrong. The Polish dominance among the Galician authorities guaranteed a Polish victory in the elections.30 On the other hand, RB also mentioned the crystallization of the Polish orientation among educated Jews in Zborow, as part of the general shift in orientation in Galician Jewry. The tendency toward German culture was replaced by a Polish orientation: “German […] is now considered a dessert, while the Polish is the meat and the bread.”31 These complex descriptions of RB reveal the tension between a developing national consciousness and the loyalty to the Habsburg Empire, while Polish culture marginalized German imperial culture. Alongside the description of the Polish hegemony as being responsible for narrowing the possibilities of political and cultural forms of expression of Jews and Ruthenians, RB also noted that the Poles understood that they could not crystallize a local Galician identity while ignoring the two peoples that lived alongside them:
28 An important example for such a cooperation is the Jewish and Ruthenian partnership through the elections for the Austrian Parliament took place in 1873. See: Manekin 1999, pp. 100–119; Shanes 2012, pp. 41–45. 29 R. Binyamin 1949, 86. 30 Ibid, 88. 31 Ibid, 85.
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There is no manifested hatred for Jews. The Pole cherishes them and speaks to them as one who speaks to each other. And what does he demand from them? Only that they will know Polish, speak Polish, and elect the Polish nominee […] his mission is to recruit this town – its Ruthenians and especially its Jews – to the Polish world.32
As mentioned above, it was the Polish gentry that promoted the crystallization of the Galician identity as a distinctive regional identity, while adhering to the geographical framework of the Habsburg Empire. A significant Galician identity that would not be considered as the Polish gentry’s exclusive estate had to provide the multinational fabric of Galicia with substantial manifestations. RB adopted a slightly ironic tone as he described the Polish attempts to encaptivate the Ruthenians and the Jews and to turn them into an integral part of the Polish world. He suggested that the Polish appeal to the Jews and the Ruthenians actually masked a covert demand that they assimilate to a national identity whose identifying features were distinctly Polish. This was manifested in the turning of the Polish language into the Galician vernacular and in the election of Polish nominees to parliament. Thus, this development formed part of the effort to preserve Polish political, cultural, and economic hegemony. The development of Jewish nationalism, as described in RB’s memoir through the words of Hayimke Katz, derived from the resistance against the Polish hegemony. The understanding that inclusion into the national framework actually meant relinquishing a distinct Jewish collective identity served as the basis for the crystallization of Jewish nationalism in Galicia.33 The changes in the status of Galicia and the admission of the Ruthenian and the Jews into the political sphere led the national movements to identify their political interests with the continuation of the Habsburg Empire’s existence, and not with its disintegration. In this context, loyalty to the Habsburg regime continued to play a major role in the loyalties and identifications of its subjects, who also considered themselves the empire’s citizens.34 RB saw the Habsburg rule as responsible for the multinational fabric that was created in Galicia. According to him, the policy led by Franz Joseph – granting autonomy to the various peoples in the empire – meant that these peoples aspired to fulfill their national aspirations within the boundaries of the Austro-Hungarian Empire.35 This can be understood from RB’s description of Franz Joseph as an exponent of “the art of peace –
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Ibid, 33. Ibid, pp. 103–106. Rachamimov 2002, pp. 116–128; King 2001, pp. 112–152. Wolff 2010, pp. 319–324. See also the description of Avraham Ja’acob Brawer: “The first holiday after the “Nachamu” Shabbat was the birthday of the emperor Franz Joseph, may his name be honored. I doubt there was any king that was so beloved and admired by Jews such as Austrian Jews admired him.” Brawer/Brawer 1966, pp. 348–349.
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a ruler that will put in any effort in order to keep his sword sheathed.”36 This willingness, he argued, led to the autonomy of the imperial districts and to the weakening of the centralizing force of the imperial center in Vienna. The emperor was considered, according to RB, as “a father for all: the superior Polish minority, the ordinary Ruthenian majority, and the Jews of the Mosaic religion.”37 The character of the emperor amalgamated all the nations of Galicia. Although the Poles maintained their hegemony, RB claimed that this was restricted by the emperor, who had to take the desires of the other nations into consideration.
4.
Humor and Multinationalism
While discussing the comedies of the Polish-Galician playwright Alexander Fredro, Larry Wolff emphasized the close affinities between the choice of comical and humorous types of writing and the complicated Galician skein of political loyalties. Wolff claimed that the use of the comical literary utterance manifested the ongoing oscillation between loyalty and disloyalty, the inconsistencies and uncertainties that characterized the matrix of loyalties in Habsburg Galicia.38 This connection between the comic and the Galician zone is also manifested in the writings of RB, who emphasized humor as one of the characteristics of the Galician-Jewish literary expression, as in the writings of Isaac (Itzi) Fernhof: He achieved his fame and glory between us, Galicians, mainly through these ‘books of entertainments’ [Heb. sifrei sha’ashu’im], that included neither Torah nor wisdom, but rather from this very ‘lower section of the cultural thought and feeling’ […] all he collected in his satchel was not […] from the ‘heavy artillery,’ terrifying, most serious, but from the light, from the leaping and whirling, from the ‘entertaining.’39
According to RB, Fernhof ’s literary arsenal did not include anything that demands serious consideration: the uniqueness of his writing lies in its lightheartedness. This is a playful and entertaining writing that should not be taken too seriously. RB ascribed the “tragicomic” features of Galician Jewish literature as an unsuccessful attempt to create an independent and unique expression. This attempt creates a liminal space where inside and outside are amalgamated: No Galician had ever done wonders; the first violin is far from them […] in all these attempts […] there is this tragicomedy, this Don-Quixoteness. People who supposedly have a certain spiritual essence of their own strive to create their own self-expression,
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R. Binyamin 1949, 99. Ibid, 34. Wolff 2008, pp. 291–293. R. Binyamin 1923, p. 290.
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and all their hard work was nothing but Sisyphean. The unique expression remained stuck in their throat, neither swallowed nor vomited.40
RB compared Galician-Jewish literary expression to a voice stuck in the throat: one that can neither be brought forth nor stay hidden. The Galician literature, he claimed, developed from this specific domain. It could not be translated into organized literary patterns and become one of the weapons of the “heavy artillery”. This ironic picture highlights the characteristic mixture of Galician political and cultural existence. This is a self-expression that cannot be fulfilled in its entirety, since other expressions are being mingled in the throat. The existence of various cultural centers of identification cannot form a basis for total loyalty and, thus, thwarts the attempt to create a consolidated identity. This is an experience that moves back and forth between various cultural spaces with which it maintains an affinity. This ongoing movement prevents the crystallization of the totally subjective self-expression and the development of a national literary language with its own characteristic features.41 The Jewish national language that was created in Galicia, he thus argued, was a blurred language with ill-defined boundaries, and as such it could not assume a leading role or “do wonders”. Accordingly, it does not adopt the pattern of organized, serious, and consolidated writing, but an entertaining and humorous one consistent with the image of self-expression stuck in the throat.42 As opposed to expressionism and the quest for authenticity, RB positioned Galician literature as a part of a public storytelling event: not a literature about the “self” and its unique literary expression, but that of ‘us Galicians’ ‘books of entertainment.’43 A similar description of the Jewish traditional storytelling is found in Roth’s description of the batlan or badchen, the Yiddish word for this kind of entertaining storytellers, in The Wandering Jews. Roth, who, according to Lazaroms, considered his profession as a journalist similar to that of the batlan, depicted the storytellers as “oral novelists, elaborating their stories beforehand, or else improvising them in the telling”.44 Both Roth and RB identified the storytelling as a Galician literary manifestation, and pointed out the ways in which the Habsburg multinational borderlands were interconnected with the humor and cleverness of these oral novelists against the political-poetical model of the novel. They differed in their patterns of adopting these characters – while Roth considered the 40 Idem. 41 Wolff 2008, p. 280. 42 The perception of humor and shyness as main characteristics of Galician Jews is very common in RB’s writing, such as in his description of the Galician Jewish author and rabbi Ozjasz Thon (1870–1936) and the Galician Jewish historian and rabbi Simon Bernfeld (1860–1940). See: R. Binyamin 1961, pp. 30–31; R. Binyamin 1940, pp. 427–429. 43 Regarding the term “storytelling event” see: Georges 1969, pp. 313–328. 44 Roth 2001, pp. 47–48; Lazaroms 2013, pp. 15–16.
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batlan as a kind of archetype of his own character of a nomad European Jewish intellectual, RB saw it as a basis for a different Jewish literary as well as political existence in Palestine – a different one from the one that was led by the Zionist institutions. Although he was himself part and parcel of the Zionist movement, he turned sharply against its total adoption of the political and cultural repertoire of the European nation-state and its settler-colonial policies.45
5.
Multinationalism between Galicia and Palestine
RB apparently regarded the role-playing game as something that characterized the Galician space as a suitable basis for reflection on Jewish-Arab relations in Palestine. One of his famous essays, Masa Arav (lit. “The Prophecy/Sermon on Arabia,”) which explores the cultural and religious affinities between Judaism and Islam, was written in Bukovina in 1907, a period when political collaboration was beginning to emerge between the various groups in the district of Bukovina – the most heterogeneous district in the Habsburg Empire.46 The six months he spent in Luzhany, Bukovina, and the way in which he depicted it in 1916, as “the only one to recognize the Jews as a separate nation”, can be seen as a continuation of his Galician experience of his first twenty years, to which he dedicated the lion’s share of the writings on his childhood.47 As opposed to the Zionist identification of Jewish exilic existence as non-political, RB turned to the characters of Rabbi Joseph Samuel Bloch (1850–1923) and Benno Straucher (1852–1941) – the Galician and Bukovinian Jewish representatives in the Austrian parliament, who struggled for the promotion of political rights and national autonomy for the Jews in the Habsburg Empire.48 The multinational political structure of Galicia and Bukovina, the creation of Galicia as a regional center of identification, and the attempt to maintain the complicated skein of nations of the Habsburg Empire evidently laid the foundation for the political thought manifested in Masa Arav.49 The perception of the political model of the Habsburg Empire as an alternative to that of European nation states arises from an article published by RB in 1938, which relates to the Anschluss: And now it passed away – forever. The last prayer for the welfare […] of Austria was not accepted. It died and nobody even sat in mourning after its death. It passed with 45 46 47 48
Tzoreff (in press). Rachamimov 1996, pp. 1–16; Rechter 2008/2009, pp. 59–89. Czernowitz 2. 7. 1916, p. 2. Ibid; R. Binyamin 1923, p. 11. On Bloch see: Shanes 2012, pp. 69–82. On Straucher see: Rechter 2008/2009, pp. 69–73. 49 RB insisted on mentioning Bukovina as the place where he wrote Masa Arav whenever he mentioned this essay. For instance: R. Binyamin 1949, p. 214.
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celebrations and parties, to the voice of rejoicings and to the voice of drums and planes. Once upon a time there was Austria […] a character in itself […] the end has come. Austria as a character in itself was too good to live in our new, agitated era, the era of Stalin-Mussolini-Hitler […] Nevertheless, will Austria be dropped in the ocean […] or may it will return and act without one’s knowledge, such as the exiles of Zion, such as the exiles of Athens, such as the Chinese digested their oppressors, a kind of digestion from inside, a sort of manuring from inside in order to bring to new growth, to new birth?50
Austria, RB claimed, could not have been integrated into the new political world order following the First World War, and therefore ceased to exist. Its disappearance from the map, accompanied by the rejoicing voices of the Allies that supported and led to its dismantling, was merely a symbol of the denunciation of its own “character in itself.” This essence, to which RB repeatedly alluded in his writings, is apparently the stubbornness to keep the sword sheathed. The attempt to protect the imperial framework, while keeping the political autonomy of the nations that assembled it, could not withstand the lust for power that characterized the modern political frameworks of the European nation-states following the Great War. RB’s essay, which was published approximately a year before the outbreak of the Second World War, is permeated by deep despair, although it ends with RB expressing his hope that Austria’s unique character, the political option that it represented, will not be swallowed in the oblivion of Germaneness. This perception became a clear political criticism after the end of the war, when he rejected with scorn the “Romanticism […] of sovereignty” that laid the foundation for the European nation-states and the Zionist movement.51 The disintegration of Austro-Hungary, which he considered the “Balkanization” of Europe, worsened after the First World War after the implementation of the principle of self-determination in Europe and the foundation of the new nationstates. This “Balkanization,” according to RB, exacerbated hostilities between the nations and turned the wars that derived from local patriotism into Europe’s routine existence. In these writings, RB utilized the portrait of the Habsburg Empire as a basis for a critical inquiry of the existing political world order. He negated the aspiration for total national sovereignty and saw autonomous national existence within a wider political framework as the appropriate political structure. Thus, RB translated and transposed the regional and national autonomy of Habsburg Galicia into the political existence of Europe and Palestine following the Second World War.
50 R. Binyamin 1938, pp. 111–113. 51 “The kingdom of Austro-Hungary might not have been the most successful kingdom in its days, but it was definitely better from the situation that was created afterwards.” R. Binyamin 1945, pp. 57–59.
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The Jewish-Galician experience of a complicated skein of loyalties appears to have served as a central foundation for RB’s political thought. This experience played a prominent role in his sharp criticism of a political world order based on the model of European nation-states and was also manifested in the Zionist appeal for sovereignty as well as in his activities to promote a joint Jewish-Arab political framework in Palestine.52 RB grew up in the Habsburg Empire, where national identities were emphasized along with local and imperial loyalties. Therefore, he was familiar with the local identity of “the children of the land” (Bnei Haaretz) that developed in Ottoman Palestine and that served as a center of identification for Jews and Arabs alike.
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Tzoreff, Avi-ram (2018): Jewish-Arab Coexistence against the Secular Discourse: Theology, Politics and Literature in the Writings of Yehoshua Radler-Feldman (R. Binyamin, 1880–1957) (Ph.D. dissertation, Hebrew). Be’er Sheva. Wolff, Larry (2008): ‘Kennst du das Land?’ The Uncertainty of Galicia in the Age of Metternich and Fredro. In: Slavic Review 67/2, pp. 277–300. Wolff, Larry (2010): The Idea of Galicia: History and Fantasy in Habsburg Political Culture. Stanford.
Halyna Witoszynska (Universität Wien)
Topographien der Kindheit. L’viv/Lwów der Zwischenkriegszeit als Erinnerungsraum in autobiographischen Texten
Abstract The specific spatial dimension of childhood memories on the interwar city of L’viv/Lwów in the memoirs written by former inhabitants are being investigated. Based on the theoretical concept of „trialectics of spatiality“, as proposed by Edward W. Soja, an attempt is made to determine typical childhood spaces as well as to trace the means of their construction in the memoir narratives on L’viv – along with first- and secondspace, which mark the real geographical places and create imagined spaces, respectively; it is the notion of thirdspace, which together with the concept of Heterotopia by Foucault and third space by Bhabha, that has been proven to be appropriate due to the multicultural character of interwar L’viv. Keywords: Childhood Memories, Firstspace, Heterotopia, Lemberg/L’viv/Lwów, Secondspace, Space of Memory, Thirdspace.
1.
Einleitung
Literaturwissenschaftlerinnen und Literaturwissenschaftler, die sich mit dem umfangreichen literarischen Erbe Galiziens beschäftigen, betrachten diese ehemalige österreichische Provinz in erster Linie als Raum der erzählten Erinnerung, dessen Merkmale, Formen und Funktionen es zu erkunden gilt.1 Eine besondere Bedeutung kommt dabei der Rekonstruktion von Erinnerungen an die Kindheit zu, die sich in autobiographischen Texten auf unterschiedliche Weise manifestieren. Trotz des anhaltenden Interesses an Autobiographien innerhalb der Galizienforschung2, ist die Welt der kindlichen Raumwahrnehmung in solchen Texten ein bislang marginales Forschungsfeld geblieben. Dabei kann der Fokus
1 Vgl. Cybenko 2008; Giersch 2012; Hanus 2015; Woldan 2015. 2 Zur Autobiographie in Galizien vgl. Klanska 1994; Strohmaier 2012. Zu jüdischen Autobiographien siehe: Mosely 2006.
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auf Topographien der Kindheit3, d. h. der räumlichen Dimension galizischer Kindheitserinnerungen, einerseits neue Blicke auf Gedächtnis- und Erinnerungsphänomene eröffnen, andererseits aber einen Beitrag zur Rekonstruktion des historischen und kulturellen Raumes Galizien leisten. Das Interesse an Phänomenen der Erinnerung und des Gedächtnisses steht auch in der Galizienforschung in Einklang mit den modernen Gedächtnis- und Erinnerungsdebatten, die ihren Anfang in den psychologischen, soziologischen und phänomenologischen Gedächtnistheorien des beginnenden 20. Jahrhunderts haben.4 Die politischen Umbrüche gegen Ende des 20. Jahrhunderts, die Veränderungen der europäischen Grenzen sowie die Prozesse der Einigung innerhalb der Europäischen Union trugen dazu bei, dass das Interesse an Phänomenen der Erinnerung und des Gedächtnisses sowie an Fragen der kollektiven Identität seit den 1990er Jahren wieder angestiegen ist.5 Gedächtnistheorien, die ein halbes Jahrhundert früher entstanden sind, wurden neu entdeckt und in die theoretischen Debatten einbezogen. Besonders produktiv erwies sich dabei die Kombination von Erinnerungs- und Gedächtnistheorien mit raumtheoretischen Ansätzen, die zum Leitdiskurs innerhalb der Kulturwissenschaften avanciert sind.6 Die Verbindung dieser beiden Paradigmen – Raum und Gedächtnis – hat ihren Ausdruck in der Idee einer verräumlichten Geschichte, wie sie der deutsche Historiker Karl Schlögel vertritt, gefunden. In seinem Buch Im Raume lesen wir die Zeit. Über Zivilisationsgeschichte und Geopolitik (2006) formuliert er ein neues Verständnis von Geschichte, das auf dem Raum als ein wichtiger „Bezugsrahmen“ beruht, der es ermöglicht, „eine ganze Epoche in ihrer ganzen Komplexität zu vergegenwärtigen“.7 Insbesondere die Stadt, in der die „geronnene und geschichtete Geschichte“8 kristallisiert ist, nimmt in Schlögels Geschichtsentwurf eine wichtige Stelle ein. Das Spannungverhältnis von Stadt, Geschichte und Erinnerung thematisiert auch Aleida Assmann in ihrem Essay „Geschichte findet Stadt“. Ihr Hauptaugenmerk liegt dabei auf jenen Städten, die sich durch einen multikulturellen Charakter auszeichnen. Die Kulturwissenschaftlerin verwendet die Metapher des Palimpsests, um eine Vielzahl europäischer Städte zu charakterisieren: In exemplarischen Palimpsest-Sta¨ dten wie Gdansk, Wrozłav, Riga oder Wilna, wo sich die Kulturen unterschiedlicher Bevölkerungen ablagerten und die den 3 Zu theoretischen und begrifflichen Aspekten von Kindheit und Topographie siehe Weigel 2002, S. 151–165 sowie Roedel 2014. 4 Assmann 2003; Erll/Nünning 2003. 5 Zu den begrifflichen und theoretischen Aspekten topographischen Erinnerns siehe Degen 2009. 6 Assmann 2009, S. 284–285. 7 Schlögel 2006, S. 10. 8 Assmann 2009, S. 18.
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rapiden Wechsel von politischen Systemen und Nationen erlebt haben, stellt sich nach Miłosz fu¨ r die Nachgeborenen die Frage: „Wie kann man dieses Erbe als das eigene anerkennen, wie fu¨ gt man sich in die Generationenkette dieser Stadt ein?“9 Die Frage, die Assmann nach dem polnischen Dichter Czesław Miłosz in dieser Passage formuliert, betrifft gleichermaßen auch die Stadt Lemberg/Lwów/ L’viv/L’vov10, denn auch diese Stadt war seit ihrer Gründung durch den ruthenischen Fürsten Danylo im Jahr 1265 von einer Vielfalt an Ethnien, Religionen, Sprachen und Kulturen geprägt. Von 1772 bis 1918 war L’viv die Hauptstadt der habsburgischen Provinz Galizien und Lodomerien und auch nach dem Zerfall der Donaumonarchie konnte sie ihren multikulturellen Charakter bewahren. Erst der Zweite Weltkrieg mit seinen verheerenden Verwüstungen und Völkermorden hat diese einzigartige multikulturelle Stadtlandschaft endgültig zerstört. Von diesem multikulturellen Erbe sind zum einen materielle Spuren der Vergangenheit, etwa in der Architektur, zum anderen fiktionale Repräsentationen geblieben, die zu einem erheblichen Teil aus Erinnerungstexten ehemaliger Stadtbewohner und Stadtbewohnerinnen verschiedener Nationalitäten bestehen.
2.
Räumliche Dimension von Kindheitserinnerungen
Auch wenn dieser Aufsatz „Kindheitserinnerungen“ an L’viv aus räumlicher Perspektive thematisiert, so scheint es wichtig zu betonen, dass die erzählende Instanz in solchen Texten immer Erwachsene sind, die aus dem zeitlichen Abstand die Erinnerungen (re-)konstruieren. Stanisław Lem (1921–2006), ein polnischer Philosoph, Essayist und Autor, der aus einer gutbürgerlichen assimilierten polnisch-jüdischen Familie stammte, war sich des Scheiterns bewusst, zu dem man unausweichlich verdammt ist, bei dem Versuch, die Erinnerungen an die Kindheit in einem Text festzuhalten. Sein Ich-Erzähler beklagt sich über diese Unmöglichkeit gleich zu Beginn des Essays: [A]ls hätte ich nicht von vornherein gewußt, geahnt, daß es anders nicht sein kann, daß alle Absichten, die dem Protokollieren von Erinnerungen vorstehen, leerer Schein und Trug sind, all jene strengen Vorsätze, von sich aus nichts hinzufügen zu wollen. Ich habe sogar zuviel gesagt, habe kommentiert, interpretiert, habe aus fremdem Geheimnissen 9 Ibid., S. 19. 10 Bedingt durch den multikulturellen und multiethnischen Charakter trägt die Stadt Namen in verschiedenen Sprachen und Schreibweisen. Diese Namen stehen nicht nur für unterschiedliche Epochen sondern haben auch nationale Konnotationen. Im Folgenden verwende ich daher für allgemeine Beschreibungen der Stadt die moderne Bezeichnung „L’viv“, wenn es sich jedoch um Darstellungen konkreter Autoren handelt, die Namensform, die dem jeweiligen Autor gebräuchlich war.
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und Spielen, […] diesem kleinen Jungen ein Grabmal errichtet, habe ihn darin eingeschlossen, aufmerksam besorgt und in aller Gelassenheit, sachlich, als hätte ich über einen Erdachten geschrieben, der nie gelebt hat, den man nach ästhetischen Gesetzen, nach eigenem Willen und nach einem Plan formen kann.11
In diesem Ausschnitt stellt Lem auf radikale Weise die Möglichkeit des Erinnerns in Frage. Er stellt fest, dass zwischen dem Jungen, der er einmal war, und dem Kind aus seinen Erinnerungen keine Ähnlichkeit besteht, ja die Niederschrift der Erinnerungen selbst haben das Kind von damals endgültig vernichtet. Im diesem Sinne soll bemerkt werden, dass es bei den Erinnerungen um eine fiktionale Konstruktion der kindlichen Wirklichkeit geht, aber niemals um die Wirklichkeit selbst. In Anlehnung an Alexandra Strohmaier, die Galizien als Erinnerungsraum im autobiographischen Diskurs untersuchte, wird die autobiographische (Re-)Konstruktion des Raumes L’vivs als „diskursive Praktik, […] die den vorgeblichen präexistenten Raum, den sie vermeintlich nur beschreibt, im Akt der Beschreibung (in seiner spezifischen Form) weniger ab- denn vielmehr ausbildet“12 betrachtet. In den Fokus dieser Untersuchung geraten Erinnerungstexte an L’viv, welche von Autoren verschiedener Nationalitäten verfasst wurden, die ihre Kinder- und/ oder Jugendjahre vorwiegend im L’viv der Zwischenkriegszeit verbracht haben: Stanisław Lem, Oleksandr Nadraha, Milo Anstadt, Roman Volcˇuk, Mykola Kolessa, Lew Kaltenbergh, Jan Parandowski, Witold Szolginia, Adam Hollanek. Alle diese Autoren stammen aus unterschiedlichen ethnischen, religiösen, sprachlichen, sozialen und kulturellen Verhältnissen. Manche von ihnen verfügen über eine stark ausgeprägte nationale Identität – wie die Ukrainer Stepan Sˇach, Roman Volcˇuk, Mykola Kolessa, Oleksandr Nadraha, oder die Polen Witold Szolginia, Adam Hollanek, Jan Parandowski. Bei den anderen Autoren, wie Stanisław Lem oder Milo Anstadt, ist die nationale Zuordnung nicht so eindeutig. Wie bei vielen Untersuchungen, die sich mit jüdischen Themen befassen, stellt sich auch in diesem Artikel die Frage, wer als jüdischer Autor bezeichnet werden kann. Ohne auf die diesbezüglichen Debatten näher einzugehen13, wird in diesem Artikel nach Katarzyna Kotyn´ska das Kriterium der offenen Deklaration der Autoren angewandt: als jüdischer Schriftsteller wird derjenige benannt, der sich 11 Lem 1976, S. 8–9; Lem 2013, S. 9–10 („jak gdybym od pocza˛tku nie wiedział, nie domys´lał sie˛, z˙e inaczej byc´ nie moz˙e, z˙e wszelkie zamierzenia patronuja˛ce protokołowaniu wspominków sa˛ ułuda˛, owe pows´cia˛gi srogie, aby od siebie nic nie mówic´. Mówiłem az˙ nadto wiele, komentowałem, interpretowałem, z cudzych sekretów i zabawek, […] zbudowałem temu malcowi nagrobek, zamkna˛łem go w nim, uwaz˙nie staranny, spokojny, rzeczowy, jakbym pisał o kims´ wymys´lonym, kto nigdy nie z˙ył, kogo moz˙na urobic´ wedle kanonów estetycznych, podług woli i planu.“). 12 Strohmaier 2009, S. 129. 13 Mit dieser Frage befasst sich beispielweise Katarzyna Kotyn´ska in ihrer Monographie: Lwów. O odczytywaniu miasta na nowo Kraków 2015.
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offen zu seiner jüdischen Identität bekennt und dies unabhängig von der Sprache, in der er schreibt.14 In diesem Sinne ist von den für diesen Text analysierten Autoren nur Milo Anstadt als jüdischer Autor anzusehen. Ein weiterer für diese Fragestellung wesentlicher Aspekt wurde von Kotyn´ska in ihrer Monographie angesprochen: Die Shoah wurde nur von einer sehr kleinen Zahl L’viver Juden und Jüdinnen überlebt, wobei vorwiegend die assimilierten Juden und Jüdinnen eine bessere Chance hatten, den Holocaust zu überleben. Die Kindheit wurde in der Regel in jüdischen Erinnerungen an L’viv auf Grund des alles überragenden Traumas des Holocausts kaum thematisiert.15 Das Ziel dieses Beitrages ist es, mit Hilfe der unter anderem von Edward Soja eingeführten Raum-Konzepte die Kindheitsräume in den Erinnerungen an das L’viv der Zwischenkriegszeit zu erforschen. Da Raum, Stadt und Gedächtnis in diesen Erinnerungstexten ein Spannungsfeld bilden, ist es gerade die Kategorie des Raumes, die eine Verknüpfung zwischen Gedächtnis und Stadt herstellen kann. Der Blick auf den räumlichen Charakter von Kindheitserinnerungen schafft ein neues Verständnis des Phänomens der „Stadt als Palimpsest“ und trägt zu dessen Entschlüsselung bei. Beschäftigt man sich mit Kindheitserinnerungen an das L’viv der Zwischenkriegszeit, so fällt auf, dass bereits die Titel vieler Texte das Augenmerk auf die räumliche Komponente der Erinnerung lenken. Häufig wird der Name der Stadt direkt genannt, wie z. B. in L’viv – misto mojeji molodosty. Spomyn, prysvjacˇenyj tinjam zabutych L’vovjan von Stepan Sˇach,16 Ułamki stłuczonego lustra. Dziecin´stwo na kresach. Tamten Lwów von Lew Kaltenbergh.17 Manchmal weisen die Buchtitel auch auf bestimmte Orte in der Topographie der Stadt hin, wie etwa Ja z Łyczakowa von Adam Hollanek18 oder Wysoki zamek von Stanisław Lem19, manchmal nehmen sie Bezug auf den Löwen, das Symbol der Stadt, wie Dom pod z˙elaznym lwem von Witold Szolginia20 oder Z knyhy lewa. Ukrajins’kyj L’viv dvadcjatych-sorokovych rokiv. Spomyny von Myroslav Semcˇysˇyn.21 Es ist dagegen bemerkenswert, dass Titel von Erinnerungstexten an L’viv relativ selten auf die Kategorie der Zeit zurückgreifen. Beispiele dafür sind Werke wie Zegar słone14 Kotyn´ska, 2017, S. 92. 15 Ibd., S. 105. 16 L’viv – Stadt meiner Jugend. Erinnerung gewidmet den Schatten vergessener L’viver. Sˇach 1955. 17 Scherben eines zerbrochenen Spiegels. Kindheit in den Kresy. Lwów von damals. Kaltenbergh 1991. 18 Ich bin aus Łyczaków. Hollanek 1991; Łyczaków ist ein Stadtteil von L’viv. 19 Das Hohe Schloss. Lem 1973; Wysoki zamek – das Hohe Schloss – ist der Name eines Hügels im Zentrum der Stadt, auf dem sich eine Burgruine befindet. 20 Das Haus unter dem eisernen Löwen. Szolginia 1989. 21 Aus dem Buch des Löwen. Das ukrainische L’viv in den Dreißiger und Vierziger Jahren. Semcˇysˇyn 1998.
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cznyj von Jan Parandowski22 oder Sto rokiv molodosty von Mykola Kolessa23. Die Bevorzugung der Kategorie des Raumes, die sich in den Titeln der genannten Texte niederschlägt, deutet darauf hin, dass Raum in diesen Erinnerungstexten nicht nur ein bloßer Ort der Handlung, sondern eine viel bedeutendere Komponente einer fiktionalen Wirklichkeitsdarstellung ist. Es handelt sich vielmehr um „menschlich erlebte Räume, in denen räumliche Gegebenheiten, kulturelle Bedeutungszuschreibungen und individuelle Erfahrungsweisen zusammenwirken.“24 Ein solches Verständnis von Raum entspringt dem sogenannten topographical turn, der „die Aufmerksamkeit auf die kulturgeschichtlich wechselnden Repräsentationspraktiken lenkt, die den jeweils kulturell vorherrschenden Raumkonzepten zugrunde liegen.“25 Die Vordenker der Raumtheorie Henri Lefebvre und Michel Foucault haben dem amerikanischen Stadtgeograph Edward Soja wichtige Impulse gegeben, um die Mechanismen, welche den sozialen Konstruktionen von Raum zugrunde liegen, zu erforschen. Besonderes produktiv für die Erkundung von Kindheitsräumen im Rahmen dieses Beitrages hat sich das triadische Modell der Raumrepräsentation von Edward Soja, das er in seinen Werken Postmodern Geographies. The Reassertion of Space in Critical Social Theorie (1989) sowie Thirdspace. Journeys to Los Angeles and Other Realand-Imagined Places (1996) entworfen hat, erwiesen. Sojas Raummodell, dem das Wechselverhältnis „Geschichtlichkeit – Sozialität – Spatialität“ zu Grunde liegt, besteht aus drei Raumbegriffen, die mit first-, second- und thirdspace bezeichnet werden. firstspace steht dem konventionellen Verständnis des Raumes am Nächsten, weil dieser Begriff reale Räume, „focused in the ‚real‘ material world“26, bezeichnet. Er verweist auf konkrete, kartographisch definierte Orte, die an die menschliche Wahrnehmung gebunden sind. Unter secondspace versteht Soja imaginäre Räume, welche mentaler Natur sind und mit der Phantasie zusammenhängen: „In its purest form, Secondspace is entirely ideational, made up of projections into the empirical world from conceived or imagined geographies.“27 Den Begriff von thirdspace, der dagegen nicht so einfach zu erfassen ist, definiert Soja als „a lived space of radical openness and unlimited scope, where all histories and geographies, all times and places are immanently presented and represented“.28 Der Begriff des thirdspace steht in Einklang mit den verwandten
22 23 24 25 26 27 28
Parandowski 1953 (Die Sonnenuhr). Kolessa 2014 (Hundert Jahre Jugend). Hallet /Neumann 2009, S. 11. Ibid., S. 12. Soja 1996, S. 6. Ibid., S. 79. Ibid., S. 311.
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Begriffen der Heterotopie von Michel Foucault,29 und der third space von Homi Bhabha30, welche im fünften Abschnitt dieses Artikels näher erläutert werden. Diese drei oben erwähnten Raumkonzepte machen es einerseits möglich, konkrete Orte in den Erinnerungstexten über L’viv zu benennen, und auf der anderen Seite die Verbindung von Gedächtnis und Raum herzustellen. Somit ist das Ziel dieses Beitrages zu zeigen, wie diese drei Räume auf unterschiedliche Weise an der narrativen Raumgestaltung in den Erinnerungen beteiligt sind, wobei es weniger um das Nebeneinander dieser Räume, sondern vielmehr um deren Zusammenspiel und Überlappung geht.
3.
Firstspace – Kartographie der Erinnerung an L’viv
Erinnerungstexte an das L’viv der Zwischenkriegszeit enthalten Orte mit realer topographischer Fixierung, firstspace im Sinne Sojas. Die Stadtbeschreibungen in allen Erinnerungstexten beziehen sich auf diese konkreten Orte – Stadtviertel, Straßen, Plätze, Gebäude, öffentliche Parks und private Gärten, Denkmäler, öffentliche Institutionen und private Wohnungen. Wahrgenommen werden diese topographischen Orte meistens aus der Perspektive eines Spaziergängers. Es handelt sich um einen zeitlich distanzierten erwachsenen Ich-Erzähler, der sein kindliches Ich zum Erzählobjekt hat. Den Zusammenhang zwischen der Praxis des Gehens als der Art der Fortbewegung eines Spaziergängers einerseits und dem Erzählen andererseits beschrieb Michel de Certeau: Der Akt des Gehens ist für das urbane System das, was die Äußerung (der Sprechakt) für die Sprache oder für formulierte Aussagen ist. […] Die Spiele der Schritte sind Gestaltungen von Räumen. Sie weben die Grundstruktur von Orten. In diesem Sinne erzeugt die Motorik der Fußgänger eines jener realen Systeme, deren Existenz eigentlich den Stadtkern ausmacht, die aber keinen Materialisierungspunkt haben. Sie können nicht lokalisiert werden, denn sie schaffen erst den Raum.31
Fast in allen für diesen Beitrag herangezogenen Erinnerungstexten berichten die Ich-Erzähler ausführlich über ihre Spaziergänge mit Eltern, Kindermädchen, Freunden oder auch alleine. Der urbane Raum, der in ihren Erinnerungen dabei entsteht, verfügt über eine eigene Topographie, die wie eine Karte gelesen werden kann. Es entsteht ein Geflecht von Beziehungen zwischen Straßen, Gebäuden, Wohnorten mit realen Namen, die auch heute noch rekonstruiert werden können. Zu diesem topographischen Aspekt der Raumbeschreibung kommt eine topologische Komponente, die sich auf Dichotomien stützt: nah und fern, oben 29 Foucault 2015. 30 Bhabha 2006. 31 Certeau 1988, S. 188–189.
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und unten, heimisch und fremd, sicher und gefährlich. Diese topologischen Eigenschaften dienen meistens zur Abgrenzung schon bekannter, angeeigneter Räume, deren geschütztes Zentrum meistens das Wohnhaus des Ich-Erzählers ist. Die Erkundung der peripheren Räume – d. h. der Welt außerhalb der Wohnung – ist meistens mit dem Gefühl einer Unsicherheit und Bedrohung verbunden, die es zu überwinden gilt. Für Stanisław Lem (1921–2006) bildet die elterliche Wohnung in der Brajerowska-Straße 4 diesen heimischen Raum. Präzise markiert Lem die topographischen Stationen seiner kindlichen Spaziergänge: den Jesuitengarten, die Mickiewicz-Allee, die Georgs-Kathedrale, die Marszałkowska-Straße, die Jan Kazimierz-Universität, den Smolka-Platz u. a. Auffallend ist aber, dass der Name der Stadt, Lwów, nie explizit genannt wird. Das erste Wohnhaus des polnischen Schriftstellers und Publizisten Adam Hollanek (1922–1998), des Autors der Erinnerungen „Ja z Łyczakowa“ (1991), befand sich in der Mikołaj Rej-Straße. Die erste Erkundung der Stadt durch das Kind Adam findet vom Balkon, einem Ort, an dem der private Raum in den öffentlichen übergeht, statt. Die räumliche Perspektive, die sich dem kindlichen Blick von dort öffnet, zeigt auf der linken Seite die Głowin´ski-Straße, die sich steil nach oben windet und bis zur Schule des Hl. Antonius führt. Rechts davon befand sich das Waisenhaus, das sich dem Jungen eingeprägt hatte, sowie die PiekarskaStraße. Die späteren Wohnadressen der Familie Hollanek befanden sich in der Tarnowski-Straße sowie auf dem Gosiewski-Platz. Die ersten Kindheitserinnerungen des ukrainischen Straßenbauingenieurs Roman Volcˇuk (geb.1922), der 1944 L’viv verließ und in die USA emigrierte, sind mit der Wohnung in der Chopin-Straße verbunden. Der Ich-Erzähler erinnert sich an Spaziergänge, die er in Begleitung seines Vaters bzw. seiner Kindermädchen in den nahe liegenden Jesuitengarten und am Universitätsgebäude vorbei zur Georgs-Kathedrale unternahm. Dabei passierte es ihm, dass er eines Tages verloren ging und von einer fremden Frau, der er den Weg zeigte, nach Hause gebracht wurde.32 Und obwohl er erwähnt, dass er dabei geweint hat, bleibt diese Episode für ihn nichts weiter als eine lustige Anekdote: trotz des ursprünglichen Schreckens wird dem kleinen Jungen geholfen und der Zwischenfall nimmt letztendlich ein gutes Ende. Die Straße als Außenraum im Kontrast zu dem vertrauten Innenraum, der die Wohnung des Protagonisten ist, stellt sich als nicht so gefährlich dar. Dies bedeutet, dass die topologische Grenze zwischen diesen zwei Räumen – Innen/Außen –, wenn nicht aufgehoben, dann doch fließend ist. Anders verhält es sich in den Erinnerungen „Kind in Polen“ des jüdischniederländischen Autors Milo Anstadt. Samuel Marek (Milo) Anstadt (1920– 32 Volcˇuk 2011, S. 20.
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1911) war ein jüdisch-niederländischer Schriftsteller und Publizist, der in den ersten zehn Jahre seines Lebens in Lwów wohnte, bevor er mit seiner Familie in die Niederlande emigrierte. Seine Erinnerungen an die Zeit der Lwówer Kindheit hat er im Buch „Kind in Polen“, das 1982 auf Niederländisch und in der polnischen Übersetzung als „Dziecko ze Lwowa“ im Jahre 2000 erschien, verarbeitet. Seine Kindheit verbrachte er im jüdischen Viertel von Lwów. Es fällt auf, dass im Unterschied zu den polnischen und ukrainischen Erinnerungen genauere topographische Angaben in seinem Text fehlen. Dies könnte unterschiedliche Gründe haben: Zum einen, schrieb der Autor seine Erinnerungen mehr als ein halbes Jahrhundert nachdem er mit seiner Familie die Stadt verlassen musste. Anders als seine polnischen und ukrainischen Zeitgenossen, die viel später und in einem reiferen Alter die Stadt verließen, haben sich eventuell die topographischen Bezeichnungen nicht in sein Gedächtnis eingeprägt. Zum anderen hatte die jüdische Bevölkerung von L’viv bereits das Pogrom von 191833 erlebt und war mit einem ständig wachsenden Antisemitismus konfrontiert. Das Gefühl von Bedrohung und Unsicherheit trug zu einer unterschiedlichen Wahrnehmung des Stadtraumes bei, die dazu führt, dass die Bedeutung der topographischen Bezeichnungen in den Hintergrund rückt. So trägt ein Kapitel aus Anstadts Erinnerungen die Überschrift „Gefährliche Straße“: Die Straße war kein Ort für das sichere Spielen. Der Raum meiner Freizeittätigkeit wurde durch die Grenzen des Hinterhofes markiert. Die selbständige Erkundung der Straße hat sich einzig auf der kurzen Strecke zur Schule und zurück ereignet. Vom Hören und aus der eigenen Erfahrung wusste ich, dass die Straße viele Gefahren mit sich bringt. Wenn ich manchmal den anderen Weg nach Hause nahm, dann ging ich mit schwer klopfendem Herzen und fühlte mich wie ein Held.34
Dieses Zitat grenzt den heimischen, vertrauten Raum, der sich vom Wohnhaus bis zum Hinterhof erstreckt, von der Straße als einen fremden, gefährlichen Raum ab. Als Begegnungsraum, in welchem verschiedene Ethnien und soziale Schichten aufeinandertrafen, wird die Straße vom jüdischen Kind nur selten und nach Einbruch der Dunkelheit kaum allein betreten. Einerseits sorgte die Diskriminierung der jüdischen Bevölkerung für negative Erfahrungen, andererseits schilderte der Ich-Erzähler Straßenbanden, die Straßenschlachten austrugen, vor denen sich nicht nur er, sondern auch die Erwachsenen fürchteten.35 Dieser 33 Vgl. Gauden 2019. 34 Anstadt 2000, S. 71: „Ulica nie była miejscem do bezpiecznej zabawy. Terytorium mojej swobodnej aktywnos´ci wyznaczały granice podwórka. Samodzielne poznawanie ulicy odbywało sie˛ jedynie na krótkiej trasie do szkoły i z powrotem. Ze słyszenia i z własnego dos´wiadczenia wiedziałem do domu okre˛z˙na˛droga˛, to z wala˛cym mocno sercem i poczuciem bohaterstwa.“ Wenn nicht anders angemerkt, stammen alle Übersetzungen von der Verfasserin. 35 Anstadt 2000, S. 71–72.
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Umstand führt dazu, dass sich die Perspektive des jüdischen Kindes von der seiner polnischen und ukrainischen Zeitgenossen wie Lem und Volcˇuk unterscheidet. Manche von ihnen berichten zwar davon, dass sie auf der Straße verloren gingen36, dennoch wirkt die Straße nicht gefährlich und die Grenzen der ihnen vertrauten urbanen Räume sind viel fließender und vor allem weiter gefasst als die des kindlichen, jüdischen Ich-Erzählers Anstadts. Ein weiteres Beispiel für ungleiche Erinnerungen an denselben Raum stellen Orte dar, die Teil des nationalen Gedächtnisses zweier Bevölkerungsgruppen, der ukrainischen und der polnischen, geworden sind. Ein solcher Ort ist der in vielen Kindheitserinnerungen erwähnte Jesuitengarten. Dieser kleine Park, der sich gegenüber dem ehemaligen galizischen Landtag, dem Gebäude der heutigen Universität, befindet, ist für viele Ich-Erzähler nicht nur ein autobiographischer Ort, sondern auch ein lieu de mémoire im Sinne Pierre Noras – ein Ort, an dem sich das nationale Gedächtnis einer nationalen Gruppe „kondensiert, verkörpert oder kristallisiert hat.“37 Ein Beispiel dafür findet sich in Roman Volcˇuks Erinnerungen Spomyny z peredvojennoho L’vova ta vojennoho Vidnja (2011). Da die Familie Volcˇuk in der näheren Umgebung des Jesuitengartens wohnte, war dieser Park ein täglicher Spazier- und Spielort für den kindlichen Ich-Erzähler. Wie bereits erwähnt, erinnert er sich einerseits, wie er bei einem Spaziergang mit seinem Kindermädchen verloren ging und von einer fremden Frau nach Hause gebracht wurde; zum anderen ist dieser Park mit den Erinnerungen an die Kämpfe um die Stadt zwischen Ukrainern und Polen im November 1918 verbunden: Während der Feiertage besuchte ich den Park mit meinem Vater und dann, als wir an dem Universitätsgebäude vorbeigingen, zeigte er mir die mit Zement zugespachtelten Einschusslöcher an der Mauer. Während der „Novembertage“ hatten die Ukrainer das Universitätsgebäude gegen die polnischen Aufständischen, die aus der Richtung des Berges des Heiligen Georgs angriffen, verteidigt.38
Es zeigt sich, dass sowohl die ukrainischen als auch die die polnischen Autoren bei der topographischen Rekonstruktion ihrer ersten Kindheitserinnerungen ähnliche Verfahren einsetzten. Die Erinnerungen werden kartographisch festgehalten, indem die Adressen privater Wohnungen sowie die Straßen genannt und somit narrativ rekonstruiert werden. Die Unterschiede in der Darstellung der Stadttopographie treten entweder auf topologischer Ebene auf (wie im Fall 36 Zum Beispiel Lem 2013, S. 13; Volcˇuk 2011, S. 20. 37 Nora, 1990. 38 Volcˇuk 2011, S. 21: „U vil’ni dni ja chodyv do parku z bat’kom, i todi, prochodjacˇy popry budynok universytetu, vin pokazuvav meni zamasˇcˇeni zementom diry v murach vid kul’. V ‚lystopadovi dni‘ budynok universytetu oboronjaly ukrajinci vid pol’s’kych povstanciv, jaki nastupaly vid hory sv. Jura“.
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von Milo Anstadt) oder als nationale Erinnerungsorte im Sinne Pierre Noras, welche als Teil des kollektiven Gedächtnisses fungieren.
4.
Secondspace – imaginierte Erinnerungsräume
Topographische Räume aus dem Bereich des firstspace werden in Kindheitserinnerungen an L’viv oft mit imaginären Räumen kombiniert, die als subjektive mentale Konstruktionen Sojas secondspace entsprechen. Da dem kindlichen Dasein oft eine starke Einbildungskraft sowie die Neigung zum Phantasieren zugeschrieben wird, haben die imaginierten Erinnerungsräume bei der (Re-) Konstruktion der Kindheit in den Erinnerungstexten ihren festen Platz. Entscheidend ist dabei die Fähigkeit einer spielerischen Wahrnehmung, welche imaginäre, verinnerlichte, mythisierte und sakralisierte Räume entstehen lässt. In den in diesem Beitrag behandelten Erinnerungstexten sind zwei Arten solcher Räume zu beobachten. Einerseits handelt es sich um neutrale Erinnerungsräume, denen keinerlei nationale Konnotation innewohnt, andererseits, können die imaginierten Räume mit den nationalen lieux der mémoire überlappen. Im Folgenden werden einige Beispiele präsentiert, welche diese beiden Raumvarianten zeigen. Der Erinnerungsessay „Wysoki Zamek“ von Lem ist durch eine Fülle von imaginierten Räumen charakterisiert. Bei der Beschreibung des väterlichen Anzugs kommt der Ich-Erzähler auf einen Spiegel zu sprechen, den er in dessen Tasche gefunden hat: Dieser Spiegel vergrößerte stark mein Gesicht, verwandelte das Auge in eine Art gewaltigen Teich, in dem die braune Iris wie ein runder Fisch schwamm, während die massiven Wimpern wie Schilf waren, das rings um den Teich wuchs.39
In diesem Erinnerungsfragment berichtet der Ich-Erzähler darüber, wie dіе kindliche Einbildungskraft eine ganze Landschaft erschuf, die sich hinter einem winzigen Spiegel verbirgt. Ein weiteres Beispiel eines mit Hilfe der kindlichen Einbildungskraft konstruierten imaginären Raumes, eines secondspace, ist Milo Anstadts Erinnerungen „Kind in Polen“ entnommen. In der folgenden Passage berichtet der Ich-Erzähler von einer Maschine, die sein Vater zur Herstellung von Kartonschachteln benutzte und die sich in der kleinen Wohnung der Familie befand:
39 Lem 1976, S. 11; Lem 2013, S. 12: „To lustro powie˛kszało energicznie moja˛twarz, czyniło z oka rodzaj ogromnego stawu, w którym jak okra˛gła ryba pływała piwna te˛czówka, a obrastaja˛cym staw tatarakiem były masywne rze˛sy.“
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Es war sicherlich ein pädagogischer Fehler meiner Eltern, denn sie nannten die Maschine Baba Jaga und haben mir damit gedroht, wenn ich Unfug machte. Ich wagte es nicht, mich der Maschine näher als zwei Meter zu nähern, was in diesem kleinen Käfig ziemlich mühsam war. Von dieser teuflischen Maschine habe ich in der Nacht geträumt. Ich sah, wie sie das Zimmer betrat, sich meinem Bett näherte und mich zu fangen versuchte.40
Auch in dieser Episode konstruiert der Ich-Erzähler einen imaginierten Raum, welcher die kindlichen Ängste thematisiert. Durch die elterlichen Erzählungen ausgelöst, wurde die Maschine zur Herstellung von Kartonschachteln unter Mitwirkung kindlicher Einbildungskraft zu einer furchterregenden Gestalt aus der Märchenwelt, die dem Kind Angst einjagte. Ein weiteres beachtenswertes Beispiel eines imaginierten Kindheitsraumes ist bei Witold Szolginia (1923–1996) zu finden. Der polnische Architekt, Schriftsteller und Autor unzähliger Bücher über Lwów sowie der Erinnerungen „Dom pod z˙elaznym lwem“ (1971), wohnte in der Łyczakowska Straße 137 bis er 1946 die zu dieser Zeit sowjetische Stadt im Zuge der Zwangsaussiedlung der polnischen Bevölkerung verlassen musste. Das Eingangstor des Mehrfamilienhauses, in dem die Familie des Ich-Erzählers bis zu ihrer Vertreibung wohnte, krönte die Figur eines eisernen Löwenkopfes, der für den autobiographischen Ich-Erzähler zur Metapher der Stadt selbst wurde. Als kleiner Bub verspürte er das Gefühl der Angst vor diesem Kopf und schrieb ihm anthropologische Züge zu: Der Löwenkopf schaut aus einem ihm umgebenden Mähnenkranz aus Dutzenden dichten Strähnen mit seinen unbeweglichen, blinden Augen geradeaus. Sind sie wirklich blind? Sie haben keine Pupillen, aber ich bin fest davon überzeugt, dass sie alles perfekt sehen. In jedem Fall bin ich mir sicher, dass diese wulstigen Augen unter der in gefährliche Falten gezogene Stirn mich sehr aufmerksam verfolgen, sobald ich in ihrer Reichweite bin. Unter der hervorstehenden, schnüffelnden, breiten, dreieckigen Nase glitzern scharfe Zähne in dem nicht geschlossenen Mund, die fest auf einen großen Eisenring zusammenbeißen.41
40 Anstadt 2000 S. 32: „Był to z pewnos´cia˛ bła˛d pedagogiczny moich rodziców, bo nazwali maszyne˛ Baba˛ Jaga˛ i straszyli mnie nia˛, gdy byłem nieposłuszny. Nie s´miałem zbliz˙yc´ sie¸ do naszej Baby Jagi bliz˙ej niz˙ na dwa metry, co w tej małej klitce było dos´c´ kłoptliwe. Diabelska maszyna s´niła mi sie˛ po nocach. Widziałem wtedy, jak szła przez pokój, wchodziła na łóz˙ko i próbowała mnie złapac´.“ 41 Szolginia 1989, S. 5: „Lwia głowa w otaczaja˛cym ja˛ wien´cu ge˛stej, strosza˛cej sie˛ dziesia˛tkami kosmyków grzywy patrzy prosto przed siebie nieruchomymi, niewidza˛cymi oczami. Czy rzeczywis´cie niewidza˛cymi? Wprawdzie nie maja˛ z´renic, ale jestem s´wie˛cie przekonany, z˙e wszystko s´wietnie widza˛. W kaz˙dym razie za mna˛ na pewno wodza˛ bardzo uwaz˙nie te wypukłe s´lepia pod s´cia˛gnie˛tym w groz´ne fałdy czołem, kiedy tylko znajde˛ sie˛ w ich zasie˛gu. Pod wysunie˛tym do przodu, czujnie we˛sza˛cym szerokim, trójka˛tnym nosem ls´nia˛ w nie domknie˛tej paszczy ostre kły, mocno zacis´nie˛te na duz˙ym z˙elaznym kółku.“
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Im darauffolgenden Text berichtet der Ich-Erzähler detailliert über sein Verhältnis zu diesem Löwenkopf, der ihm gleichzeitig Angst und Respekt einjagt. Mit der Zeit verflüchtigt sich die Angst und es entsteht ein freundschaftliches Verhältnis zwischen den beiden. Die drei vorgestellten Beispiele zu secondspace, d. h. zu imaginierten Kindheitsräumen, weisen keine Unterschiede hinsichtlich der ethnischen Zugehörigkeit der Erzähler auf. Die kindliche Vorstellungskraft, die im ersten Fall eine imaginierte Landschaft erschafft, im zweiten und dritten Fall märchenhafte und personifizierte Gestalten in die Welt der kindlichen Wahrnehmung rufen, sind neutral und mit keinerlei nationalen Konnotationen verbunden. Im folgenden Ausschnitt aus den Erinnerungen des Ukrainers Oleksandr Nadraha (1885–1962) ist die nationale Komponente dagegen deutlich zu spüren. Es handelt sich dabei um einen für die ukrainische Bevölkerung L’vivs wichtigen lieu der mémoire – den Park Wysokyj Zamok (Das Hohe Schloss). Dieser Park, der sich an der Stelle befindet, an der früher die Burg von König Danylo von Halycˇ stand, ist ein wesentlicher Bestandteil des ukrainischen Gründungsmythos der Stadt und ein wahrer lieux de mémoire. Bei der Beschreibung dieses Parks erklärt Nadraha, warum er keine Straßenbahn nimmt, wenn er Wysokyj Zamok besuchen will, sondern den Hügel zu Fuß zu besteigen bevorzugt: Ich begebe mich dorthin, wenn ich dem verlockenden Grün, der facettenreichen Röte oder dem jungfräulichen Weiße seiner Böschungen nicht widerstehen kann, immer nach einigen Vorbereitungen und zu Fuß. Im anderen Fall wäre man nicht in der Lage, den ganzen Zauber des Schlosshügels wahrzunehmen, das Verteidigungspfahlwerk, die Mauern und Türme der fürstlichen Burg zu betrachten, sowie Bohdans Heerschar42, den Pöbel von Mychajlo Kryvonos, türkische Janitscharen und schwedische Reiter von Karl XII zu sehen, man könnte das klägliche Weinen von Halsˇka von Ostroh nicht hören […].43
Die imaginierte Landschaft von Wysokyj Zamok, die sich dem inneren Auge des Ich-Erzählers eröffnet, ist mit historischen und mythischen Persönlichkeiten gefüllt, die in unterschiedlichen Epochen dort gewohnt haben und die im ukrainischen Geschichtsnarrativ eine wesentliche Rolle gespielt haben. Dies führte zur Entstehung eines imaginierten Raumes, der Züge eines beinahe sakralen und mythischen Charakters trägt.
42 Gemeint ist die Armee des ukrainischen Kosakenführer Bohdan Chmelnytskyj. 43 Nadraha, 2004, S. 157.
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Thirdspace – die Räume des Anderen
Sojas Kategorie des thirdspace erhält im Kontext der Kindheitserinnerungen an L’viv als einen heterogenen Kulturraum eine ganz besondere Bedeutung. Laut Soja, handelt es sich dabei um Räume, die weder physischer noch mentaler Natur sind, sondern „the terrain for the generation of ‚counterspaces‘, spaces of resistance to the dominant order arising precisely from their subordinate, peripheral or marginalized positioning.“44 Verwandt mit Sojas Konzept des thirdspace ist der Begriff der Heterotopie des französischen Philosophen Michel Foucault. Als Heterotopie bezeichnet er räumliche Ordnungsstrukturen, denen strukturelle Differenzen, Brüche und Spaltungen zugrunde liegen. Jene Orte sind unter anderem durch die folgenden Merkmale gekennzeichnet: ihr universelles Auftreten innerhalb aller Kulturen, einer gesonderten Stellung, die sie in der Gesellschaft einnehmen, einen historisch veränderlichem Anderen, der mit den in der jeweiligen Gesellschaft herrschenden Diskursen nicht erfasst werden kann, sowie „eine paradoxe Verortung sowohl innerhalb als auch außerhalb der Gesellschaft“.45 Demnach werden als Heterotopien Friedhöfe, Spitäler, Theater, Museen, Bibliotheken, Bahnhöfe, Hotels bezeichnet.46 Für Soja, der Foucaults Theorien aufgegriffen hat, sind die materiellen Räume mit den mentalen Räumen aufs engste verflochten, weil sie durch kulturelle Symbolisierungen geprägt werden. Dies trägt dazu bei, dass „ihnen stets eine (inter-)kulturelle Vielschichtigkeit eingeschrieben [wird], die dazu geeignet ist, die vermeintliche Homogenität und Hierarchisierung kultureller Ordnungen in Frage zu stellen.“47 Ein ähnliches Ziel verfolgt auch Homi Bhabha mit seinem Konzept des third space, nämlich „to focus on those moments or processes that are produced in the articulation of cultural differences.“48 Mit seinem Begriff third space möchte er erreichen „to open the way to conceptualizing an international culture, based not on the exotism of multiculturalism or the diversity of cultures, but on the inscription and articulation of culture’s hybridity. To that end we should remember that it is the „inter“ […], the in-between space – that carries the burden of the meaning of culture […].“49 Es ist nicht verwunderlich, dass Erinnerungstexte an L’viv, das in der Zwischenkriegszeit ein Schauplatz ethnischer, religiöser, sozialer und kultureller Rivalitäten und Konflikte war, eine Reihe von Raumphänomen, die als thirdspace bezeichnet werden können, aufweisen. Die mit diesen Spannungen verbundenen 44 45 46 47 48 49
Soja 1996, S. 68. Frank 2013, S. 303. Foucault 2015, S. 317–329. Hallet/Neumann 2009, S. 16. Bhabha 1994, S. 1–2. Ibid., S. 38–29.
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kindlichen Erlebnisse, die sich auf die Erfahrung des Peripheren, des Außenseins und der Grenze stützen, machen diesen spezifischen Raum aus. Typisch für den Stadtraum L’viv waren nicht nur die Begegnungen mit Personen, die am Rand der Gesellschaft lebten: Bettler und Bettlerinnen, Obdachlose, Geisteskranke, Invaliden, sondern auch mit Repräsentanten und Repräsentantinnen anderer ethnischer, religiöser und kultureller Gruppen. Berichte über solche Begegnungen sind öfters in Erinnerungstexten zu finden, Milo Anstadt und Jan Parandowski, zum Beispiel, widmen ihnen jeweils ein ganzes Kapitel ihrer Erinnerungen. „Unser armes Wohnhaus hatte seine wiederkehrenden Besucher: Bettler und Zigeuner“50 – so beginnt das entsprechende Kapitel Czerwona wsta˛z˙ka (Das rote Band) von Milo Anstadt. Der niedrigste Status in der sozialen Hierarchie war der Volksgruppe der Roma und Sinti vorbehalten. Mit ihnen waren viele Vorurteile verbunden. So berichtet der Ich-Erzähler Anstadt: „Mama war nicht nett zu den Zigeunern. Sie erzählte über sie Geschichten, die in der Stadt kursierten: Zigeuner stehlen Geld, Sachen und Kinder. Außerdem konnten sie einen bösen Blick werfen.“51 Der Volksgruppe der Roma, die in diesem Erinnerungsfragment als eine Figur des Anderen fungiert, werden Stereotypen, Vorurteile und negative Eigenschaften von der anderen ethnischen Gruppe – in diesem Falle der jüdischen – zugeschrieben. Für die polnischen und die ukrainischen Stadteinwohner und Stadteinwohnerinnen galten wiederum die Juden und Jüdinnen als die Anderen, wie das folgende Beispiel zeigt. Auch Jan Parandowski (1895–1978), Schriftsteller, Übersetzer klassischer Literatur und Autor der autobiographischen Erzählung „Die Sonnenuhr“ („Zegar słonecznyj“) widmet Personen, die am Rande der Gesellschaft stehen, gleich mehrere Kapitel seiner Erinnerung.52 Sein autobiographischer Ich-Erzähler schildert Begegnungen mit Kleinhändlern, meistens jüdischer Herkunft, die in regelmäßigen Abständen in der Wohnung der Familie aufkreuzten und kleine Reparaturdienste erledigten oder Krimskrams verkauften: Als ob ich ihn sehen würde: Ein dicker Jude mit einem Sack auf dem Rücken steht in der hohen Tür im Flur und ruft die Frau des Hauses mit heiserer, etwas kläglicher Stimme, mit der Bitte, ihm Eisen- oder Knochenstücke für ein paar Cent zu verkaufen. Es ist also Montag heute. Er kommt immer am Montag, weil sich während der Woche immer etwas sammelt, besonders nach dem Sonntagabendessen und immer morgens, als hätte er Angst, dass ihm jemand zuvorkommen würde.53 50 Anstadt 2000, S. 63: „Nasza uboga kaamienica miała swoich stałych gos´ci – z˙ebraków i Cyganów.“ 51 Anstadt 2000, S. 67: „Mama nie przepadała za Cyganami. Opowiadała na ich temat obiegowe historie: Cyganie krali pienia˛dze, rzeczy i dzieci. A do tego rzucali urok spojrzeniem.“ 52 Unter anderem, den Kapiteln „Babie Lato“, „Niebieskie Rachunki“ sowie „Lolo“. 53 Parandowski 1954, S. 39: „Jakbym go widział: gruby Z˙yd, z workiem na plecach, stoi w wysokich drzwiach od sieni i tym chrypia˛cym, troche˛ z˙ałosnym głosem wzywa gospodynie, by
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Die narrative Konstruktion dieses thirdspace verläuft entlang topologischer Differenzen: sowohl der Habitus, der Klang der Stimme, sowie das Auftauchen an einem bestimmten Tag der Woche deuten darauf hin, dass der skizzierte Händler als Figur des Anderen narrativ konstruiert wird. Zur Kategorie des thirdspace gehören auch die in der L’viver Stadtlandschaft der Zwischenkriegszeit berühmten „Batiary“ – Jugendliche, die einer bestimmten Subkultur angehörten. Ein anschauliches Beispiel findet sich in den Erinnerungen von Lew Kaltenbergh (1910–1987), einem polnischen Schriftsteller und Übersetzer. Seine Erinnerungen „Ułamki stłuczonego lustra: dziecin´stwo na kresach; tamten Lwów,“ („Scherben eines zerbrochenen Spiegels, Kindheit in Kresy, Das andere Lwów“), der die Batiary aus dem Stadtteil Kleparów wie folgt beschreibt: In Kleparów wimmelte es von Typen, denen es eine teuflische Freude bereitete, das Zusammentreffen eines Liebespaares zu stören, einen respektvollen Bürger, der von einem Restaurantbesuch zu später Stunde zurückkehrte, zu erschrecken, Polizisten zu verspotten oder aus Mangel an neuen Unterhaltungen einen unbeliebten Ladenbesitzer in einem Lied auszulachen.54
Die Schilderung dieser sozialen Gruppe situiert sie ebenso in den Bereich des thirdspace, verstanden als „intrusive disruption“55. Batiary zerstören das räumliche Ordnungssystem, dem die „Normalität“ zugrunde liegt, indem sie durch ihren Verhalten die öffentliche Ruhe stören. Selbst die Polizisten, die eigentlich für das Erhalten der bestehenden Ordnung zu sorgen haben, werden von ihnen nicht verschont. Ein Beispiel eines thirdspace, das die Züge des Foucaults Begriff der Heterotopie trägt, kann auch bei Kaltenbergh gefunden werden. Der autobiographische Ich-Erzähler schildert nämlich einen Ausflug auf den Hinrichtungshügel (Góra Stracen´) in der Nähe des Invalidenparks, wo ein Freund des aus bürgerlichen Verhältnissen stammenden Ich-Erzählers, Leo Friedmann, diesen mit Obdachlosen bekanntmacht, die am Fuß dieses Hügels Unterschlupf gefunden haben: Unter Tags und manchmal am Abend konnte man seltsame und furchterregende Gestalten beobachten. Der alte und abgenutzte Zaun aus verrostetem Stacheldraht, der den
za pare˛ centów pozbywały sie˛ u niego kawałków z˙elaziwa lub kos´ci. Czyli z˙e jest dzis´ poniedziałek. Zawsze przychodzi w poniedziałek, bo zawsze sie˛ cos´ uzbiera w cia˛gu tygodnia, zwłaszcza po niedzielnym obiedzie, i zawsze z samego rana, jakby sie˛ bał, z˙e go ktos´ ubiegnie.“ 54 Kaltenbergh 1991, S. 66: „Kleparów roił sie˛ od typów, którym sprawiało diabelna˛przyjemnos´c´ zakłócenie randki zakochanej pary, nastraszenie szanowanego obywatela powracaja˛cego póz´na˛ pora˛ z solidnej knajpy, wykpienie policyjnej władzy, a w braku innych rozrywek – kpiarskie obs´piewanie nie lubianego sklepikarza.“ 55 Soja 1996, S. 61.
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Park vom Rest der Welt trennen sollte, war für Menschen und Ziegen kein Hindernis mehr.56
Der Ort, der in diesem Zitat geschildert wird, stellt eine typische Heterotopie Foucaults da. Dafür sprechen seine Lage am Rand der Stadt, die Abgeschiedenheit, die Atmosphäre des Schreckens und der Furcht, welche der Ort ausstrahlt, sowie ein Hinweis auf alte und abgenutzte Gegenstände. Bei der Begegnung mit diesem Ort überschreiten die Freunde mehrere, sowohl soziale als auch kulturelle, Grenzen.
6.
Zusammenfassung
Raum, Stadt und Gedächtnis bilden in den Erinnerungstexten ein Spannungsfeld, dessen Dynamiken aus der räumlichen Perspektive analysiert werden können. In den evozierten Räumen der Kindheit im L’viv der Zwischenkriegszeit lässt sich die Wahrnehmung der Stadt aus dem Blickwinkel verschiedener nationaler Bevölkerungsgruppen zeigen. Mit diesen Kindheitserinnerungen werden nicht so sehr Bilder einer bestimmten Zeit hervorgerufen, sondern viel mehr Vorstellungen von einem Raum, mit dem diese Erinnerungen untrennbar verbunden sind. Stanisław Lem, der an mehreren Stellen seines Buchs Wysoki zamek über die Natur des menschlichen Erinnerungsvermögens reflektiert, fasst die Problematik des von ihm als antagonistisch empfundenen Begriffspaares „Zeit-Raum“ wie folgt zusammen: „Der Raum ist solide, einmalig, bar aller Gruben und Fallen, hingegen ist die Zeit ein feindliches, echt heimtückisches Element, ja sogar, wie ich behaupten möchte, der menschlichen Natur zuwider.“57 Die Kategorie der Zeit ist der Kategorie des Raumes untergeordnet. Der Ich-Erzähler erinnert sich, wie er als Kind Zeit im Raum zu lokalisieren pflegte, indem er „glaubte, dass das Morgen sich oberhalb der Decke befinde, gleichsam im nächsten Stockwerk, und dass es sich nachts, wenn alle schliefen, auf das richtige Niveau herablasse.“58 Dieses Beispiel zeigt, dass sich die These von der räumlich orientierten Ordnung der Erinnerung, mit der sich schon Walter Benjamin in seinem Erinnerungstext „Berliner Kindheit 56 Kaltenbergh 1991, S. 71: We dnie, a czasami i wieczorami, w ge˛stych krzakach rozplenionych w parku Inwalidów widywało sie¸ postaci dziwne i zatrwaz˙aja˛ce. Wa˛tłe i nadgryzione przez czas ogrodzenie ze zjedzonego rdza˛ kolczastego drutu, oddzielaja˛ce park od reszty s´wiata, nie stanowiło przeszkody ani dla ludzi, ani dla kóz. 57 Lem 1976, S. 32; Lem 2000, S. 42: „Przestrzen´ jest wszakz˙e solidna, jedyna, pozbawiona jakichkolwiek zapadni i pułapek. Natomiast z˙ywiołem wrogim, prawdziwie podste˛pnym, a nawet, powiedziałbym, przeciwnym naturze ludzkiej, jest czas.“ 58 Ibid, S. 32; Lem 2000, S. 42: „Sa˛dziłem, z˙e „jutro“ jest powyz˙ej sufitu, jakby na naste˛pnym pie˛trze, i opuszcza sie˛ na włas´ciwy poziom noca˛, kiedy wszyscy s´pia˛.“
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um neunzehnhundert“59 auseinandergesetzt hat, in vielfältiger Weise in den Kindheitserinnerungen an L’viv bestätigt. Die Erforschung der Kindheitsräume in den Erinnerungstexten an L’viv/ Lwów anhand des triadischen Modells der urbanen Raumkonstruktion von Soja erwies sich als besonders brauchbar. Es scheint, dass die Räume des firstspace sowie des secondspace sowohl bei den ukrainischen als auch bei den polnischen Autoren auf die gleiche Weise konstruiert werden, solange die Frage des nationalen Gedächtnisses der jeweiligen Nationen nicht zum Tragen kommt. Die Kategorie des thirdspace erlaubt es, die kulturellen, nationalen, religiösen, sprachlichen Komponenten der Erinnerungen adäquat zu repräsentieren. Somit kann die Frage, die Aleida Assmann nach Czesław Miłosz über die Möglichkeit, das multikulturelle Erbe einer durch verschiedene Nationalitäten und Kulturen geprägten Stadt als das eigene anzuerkennen, eventuell wie folgt beantwortet werden: man muss sich für Räume der „radical openness“ öffnen, in denen nach gemeinsamen Berührungspunkten gesucht werden kann.
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Excursus
Camillo Breiling (Universität Wien)
Die Lipovaner in der Bukowina des späten 18. Jahrhunderts im Vergleich mit den heutigen Lipovanern im Donaudelta
Abstract The Lipovans are a sub-group of the Russian Old Believers. They live in various parts of South-Eastern Europe such as the Bukovina and the Danube delta. At the end of the 18th century, the Austrian scholar Balthasar Hacquet visited a Lipovan village near the city of Siret while travelling through Bukovina. He described the religion, culture and manners of the Lipovans and pointed out peculiarities of this ethnical group. In this work, the descriptions of Hacquet are compared with the actual living situation and culture of the Lipovans in Sfis¸tofca, a Lipovan village in the Eastern part of the Danube delta. It is revealed that there are still some similarities between the Bukovinian Lipovans at the end of the 18th century and today’s Lipovans in the Danube delta. The text deals with the church services, priests, icons, funerals and baptism of the Lipovans. Moreover, it examines how the consumption of meat, tobacco and alcohol is seen within the Lipovan community. In the end, the text describes Belaja Krinica, Bra˘ila and Tulcea as three important places for the Lipovan community. On the whole, we see that the Lipovans are a dynamic community that has profoundly changed within the last two centuries. At the beginning of the 21st century, their fate is still undefined and can develop into various directions. Keywords: Balthasar Hacquet, Bukovina, Danube Delta, Lipovans, Minority Religion, Romania, Russian Old Believers.
1.
Einleitung
Im Jahre 1653 hat sich die russisch-orthodoxe Kirche an den Reformen des Moskauer Patriarchen Nikon gespalten. Zahlreiche Gläubiger sahen es als Sünde, die von den Griechen übernommenen und als heilig geltenden Riten zu verändern und widersetzten sich dem Moskauer Patriarchen. Die Gegner der nikonianischen Reformen wurden verfolgt. Als Verfechter des alten russisch-orthodoxen Glaubens aus der Zeit vor 1653 bezeichnete man sie als Altgläubige. Die Verfolgung der Altgläubigen zog sich bis ins frühe 20. Jh., so dass sie im Laufe der Jahrhunderte aus dem Zentrum des Russischen Reiches flohen und sich in peripheren Regionen an der Grenze des Reiches, wie etwa dem Donau-
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Camillo Breiling
delta, ansiedelten. Jene Altgläubigen, welche in das Donaudelta, die Bukowina oder in andere Regionen Südosteuropas eingewandert sind, werden als Lipovaner bezeichnet. 1796 erschien ein Reisebericht des österreichischen Gelehrten Balthasar Hacquet, welcher auf seiner Reise durch die Bukowina ein Lipovanerdorf nahe der Kleinstadt Siret besuchte. Hacquets Beschreibungen geben einen vielfältigen Einblick in die Lebenswelt der Lipovaner im ausgehenden 18. Jh. Die vorliegende Arbeit vergleicht die Beobachtungen Hacquets mit dem gegenwärtigen Leben der Lipovaner in Sfis¸tofca, einem kleinen Lipovanerdorf am östlichen Ende des Donaudeltas. Die Informationen zum Leben der Lipovaner in Sfis¸tofca erhielt ich im Rahmen mehrerer Feldforschungsaufenthalte in den Jahren 2010 und 2011. Die Arbeit soll Gemeinsamkeiten und Unterschiede zwischen den Lipovanern im späten 18. Jh. und den gegenwärtigen Vertretern der Ethnie aufzeigen. Dazu wird jedes Argument aus Hacquets Text der Reihe nach kritisch diskutiert und mit der gegenwärtigen Lebenssituation der Lipovaner in Sfis¸tofca in Beziehung gesetzt. Der Text klärt, in welcher Hinsicht sich die Religion und Kultur der Lipovaner in den letzten zweihundert Jahren verändert haben und wirft außerdem die Frage auf, ob die Lipovaner tatsächlich so konservativ und den alten Werten anhaftend sind, wie es vielfach angenommen wird. Den Schilderungen zur Lebensart und Lebenseinstellung der Lipovaner folgt eine Beschreibung der drei lipovanischen Zentren Belaja Krinica, Bra˘ila und Tulcea. Es wird auf die Gründung der ersten Hierarchie der Altgläubigen in Belaja Krinica im Jahre 1846 eingegangen und erläutert, weshalb man diese Hierarchie 1940 nach Bra˘ila verlegen musste. Am Ende der Arbeit wird die Bedeutung der Stadt Tulcea für die Altgläubigen im Donaudelta hervorgehoben. Der Artikel gehört thematisch in den Bereich der Raskolforschung, die erst in der Mitte des 19. Jh., also rund zwei Jahrhunderte nach dem Schisma in der russischen Orthodoxie, auf einer breiteren Basis begann. Der erste Lehrstuhl für Raskolforschung wurde 1853 in St. Petersburg eingerichtet, der zweite 1854 in Moskau. 1856 folgten zwei weitere Lehrstühle in Kazan und Kiev. Die Geschichte der Altgläubigen wird vor allem in den Werken von Andreev und Zen’kovsky beschrieben. Hauptmann und Hollberg gehen auf die Migrationsgeschichte sowie die verschiedenen Kirchenhierarchien und Gruppen der ˇ umicˇeva und Demkova befassen sich mit dem Altgläubigen ein. Bubnov, C Schriftum der Altgläubigen. Prigarin widmet sich der Geschichte der Altgläubigen im Donaudelta, Robson thematisiert die Lebenssituation der Altgläubigen im Russland des 20. Jh. Neben den hier genannten Autoren besteht eine Vielzahl weiterer Werke, welche die Identität, Sprache, Religion, Geschichte und Kultur verschiedener Gruppen von Altgläubigen darlegen.
Die Lipovaner in der Bukowina des späten 18. Jahrhunderts
2.
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Die Lipovaner im Reisebericht von Balthasar Hacquet
Balthasar Hacquet wurde 1740 im bretonischen Le Conquet geboren. Nach seinem Studium in Paris war er ab 1773 Professor für Anatomie in Laibach (heute Ljubljana). Im Jahre 1777 wurde Hacquet Mitglied der Leopoldina und 1787 Professor für Naturgeschichte in Lemberg. Im Jahre 1787 wurde Hacquet zum Mitglied der Göttinger Akademie der Wissenschaften gewählt und ab 1805 war er Professor für Chemie und Botanik in Krakau. In den Jahren 1791, 1792 und 1793, während der Professur in Lemberg, bereiste Hacquet das Fürstentum Moldau sowie die Bukowina und Galizien. Wenige Jahre zuvor, 1772 bzw. 1775, wurden Galizien und die Bukowina an das österreichische Habsburgerreich angeschlossen. Diese bislang nur wenig erschlossenen Gebiete waren dem Großteil der Bevölkerung des Habsburgerreiches gänzlich unbekannt und so beschloss Hacquet, seinen Landsleuten durch einen Reisebericht Einblicke in die geheimnisvollen Regionen im äußersten Osten des Reiches zu gewähren. Hacquet war einer der ersten Westeuropäer, welcher die neu hinzugekommenen Ostgebiete bereiste. In seinem Reisebericht geht er neben ausführlichen Beschreibungen der Flora und Fauna auch auf verschiedene Ethnien wie die Lipovaner ein. Auch wenn im Text immer wieder Stereotypen sowie die Hegemonie des Wiener Zentrums durchdringen, ist Hacquets Werk ein einzigartiges literarisches Dokument zur Lebenswirklichkeit im Osten des Habsburgerreiches im ausgehenden 18. Jh. Der Reisebericht umfasst zwölf Kapitel und wurde 1796 in Nürnberg herausgegeben. Das dritte Kapitel widmet sich der Bukowina. Neben Gebirgen, Bergwerken, Goldwäschereien und Salzsiedereien schildert Hacquet auf fünf Seiten das Volk der Lipovaner, dem er in einem Dorf nahe der Kleinstadt Siret begegnete. Die Beschreibung der Lipovaner wirkt stellenweise oberflächlich, da Hacquet einige Annahmen trifft, die nicht weiter ausgeführt oder begründet werden, und diese für alle Lipovaner verallgemeinert. Es ist davon auszugehen, dass Hacquets Beschreibungen nur auf seinen eigenen Beobachtungen basieren, da Ende des 18. Jh. meines Wissens keine ethnographische Literatur zu den Lipovanern existierte. Diese erschien erst nach der Einrichtung von Lehrstühlen für Raskolforschung im 19. Jh. Hacquet schien nicht zu wissen, dass die Lipovaner bereits im späten 18. Jh. neben der Bukowina auch in anderen osteuropäischen Regionen wie dem Donaudelta und dem Baltikum lebten. Außerdem erwähnt er nicht, dass die Lipovaner bereits im 18. Jh. in zahlreiche Untergruppen wie die Popovzy, Fedossejevzy und Filippovzy unterteilt waren. Hacquet scheint davon auszugehen, dass die Eigenschaften der Lipovaner in dem von ihm besuchten Dorf für alle Vertreter dieser Volksgruppe gelten und stellt diese facettenreiche Minderheit als homogene Einheit dar.
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Zu Beginn seines Textes geht Hacquet auf die Herkunft der Bezeichnung Lipovaner ein und bezeichnet diese Volksgruppe als Menschensekte mit einer besonderen Lebensart und Religion. In den nächsten Absätzen erläutert er einige Bräuche der Lipovaner und erklärt, dass sie zum Beispiel Ikonen anbeten, ihre Toten verbrennen und täglich warm baden. Außerdem beschreibt er, dass die Lipovaner sehr zurückgezogen leben und fremden Personen die Teilnahme an ihrem Gottesdienst nur sehr selten und ungern gestatten. Beim Vergleich der Lipovaner mit den Herrnhutern erläutert Hacquet, dass bei beiden Volksgruppen das Fluchen, Schlagen, Gewehr ergreifen, Blutvergießen und der Gebrauch von geistigen Getränken untersagt sind. Dieser Beschreibung fügt er hinzu, dass die Lipovaner sehr ausgelassen sind und sich, wie auch die Herrnhuter, entschieden wehren, wenn ihnen jemand zu nahe tritt. Wenn es in ihrem Interesse liegt, können die Lipovaner nach Hacquet grausam und unberechenbar sein. Ihre Gesetze verbieten ihnen allerdings, den Staat zu verteidigen. Hacquet bezeichnet den Ort Fontina alba als das Zentrum der Lipovaner in der Bukowina und beschreibt, welche Privilegien der Volksgruppe durch die österreichische Regierung zuteilwurden. Er erwähnt das Leinweben und Strickmachen als die Haupterwerbszweige der Lipovaner und geht anschließend auf die Kleidung der lipovanischen Männer, Frauen und Priester ein. Am Ende seines Berichtes räumt Hacquet ein, dass die Lipovaner sehr wohlgestaltet und von guter Gesichtsbildung sind.
3.
Die Ansiedlung der Lipovaner in der Bukowina und im Donaudelta
Zum Jahr 1784 schreibt Hacquet, dass damals 200 lipovanische Familien in die Bukowina ziehen wollten, was die österreichischen Obrigkeiten jedoch nicht gestatteten. Nach seinen Angaben haben sich nur 24 Familien tatsächlich angesiedelt, doch auch diesen wurde zunächst nicht das Recht auf eine dauerhafte Niederlassung gewährt.1 Ein Grund, weshalb die Obrigkeiten die Ansiedlung von Lipovanern in den Achtzigerjahren des 18. Jh. an manchen Orten der Bukowina verhindern wollten, war, dass die Lipovaner dafür bekannt waren, sich den Gesetzen eines Staates nicht gerne unterzuordnen. Außerdem hofften die Obrigkeiten, das Gebiet, welches die Lipovaner besiedeln wollten, auf eine gewinnbringendere Weise nutzen zu können.
1 Hacquet 1796, S. 129.
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Trotz der Bedenken, die den Lipovanern von den Behörden in der Bukowina entgegengebracht wurden, konnten 1785 Belaja Krinica und einige andere Dörfer gegründet werden. Bei Hauptmann lesen wir, dass sich die ersten Lipovaner bereits in den Zwanzigerjahren des 18. Jh. in der Bukowina ansiedelten. „Russische Altgläubige waren in der Bukowina seit 1724 ansässig. Damals gehörte das „Buchenland“ noch zu dem unter osmanischer Oberherrschaft stehenden Phanariotenfürstentum der Moldau“.2
Im Gegensatz zur Bukowina bestand im Donaudelta niemals die Situation, dass den Lipovanern Siedlungsrechte nicht gewährt wurden. Der osmanische Sultan empfand es vielmehr als Vorteil, dass eine als fleißig geltende Volksgruppe sich dazu entschlossen hatte, die unwirtlichen Sümpfe des Donaudeltas im Grenzgebiet zum Russischen Imperium zu besiedeln und den Osmanen darüber hinaus Abgaben und im Bedarfsfall auch Kriegsdienst zu leisten.3 In den Jahren nach 1784 kam es in der österreichischen Regierung zu einem Sinneswandel in Bezug auf die Siedlungsrechte der Lipovaner. Dazu lesen wir bei Hacquet, dass die Lipovaner unter kaiserlichem Schutz ewige Religionsfreiheit erhielten, vom Soldatenstand frei waren und zwanzig Jahre ohne Abgaben lebten. Außerdem wurde ihnen gestattet, ihre Häuser nicht zu nummerieren.4 Dazu ist anzumerken, dass Hausnummern im späten 18. Jh. noch relativ neu waren. Sie wurden im Habsburgerreich erst unter Maria Theresia systematisch eingeführt. Der Grund für die wohlwollende Behandlung der Lipovaner könnte gewesen sein, dass sie in den Augen der österreichischen Regierung zur Besiedlung neuer, bislang noch dünn bevölkerter Regionen beitrugen. Außerdem könnte Wien einen Vorteil darin gesehen haben, dass die Bukowina als Grenzregion zum Russischen Imperium von einer russischen Minderheit besiedelt ist. Die Lipovaner waren mit der russischen Sprache und Kultur bestens vertraut, so dass sie als Bewohner des Grenzlandes für die österreichische Regierung möglicherweise wertvolle Geheiminformationen zu den politischen Vorhaben und militärischen Strategien des Russischen Imperiums beschaffen konnten. Im Gegensatz zur Bukowina wurde den Lipovanern im Donaudelta von der osmanischen Regierung weder eine abgabenfreie Periode noch eine Freistellung vom Soldatenstand gewährt. Allerdings erhielten sie ebenfalls die uneingeschränkte Religionsfreiheit und wahrscheinlich auch die Erlaubnis, ihre Häuser nicht zu nummerieren. Diese Vermutung lässt sich dadurch begründen, dass die Häuser in kleinen Lipovanerdörfern wie Sfis¸tofca bis heute nicht nummeriert sind.
2 Hauptmann 1963, S. 128. 3 Prigarin 2010, S. 98. 4 Hacquet 1796, S. 129.
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Die wohlwollende Behandlung der Lipovaner in der Bukowina durch die österreichische Regierung könnte auch finanzielle Gründe gehabt haben. Hacquet schreibt, dass die Lipovaner vom Hof keine Unterstützung erhalten hatten, da sie selbst ein großes Vermögen mitbrachten.5 Auch wenn die Lipovaner in den ersten zwanzig Jahren keine Abgaben leisten mussten, könnte sich die österreichische Regierung von der geschäftstüchtigen Volksgruppe eine Belebung der Wirtschaft in der bislang eher vergessenen Grenzregion zum Russischen Imperium erhofft haben. Außerdem hätte sie damit rechnen können, nach Ablauf der abgabenfreien Zeit von den Lipovanern fristgerecht bezahlte Abgaben in beträchtlicher Höhe zu erhalten. Im Gegensatz zu den Lipovanern in der Bukowina galten ihre Glaubensbrüder im Donaudelta nie als besonders vermögend, so dass sich die osmanische Regierung von der Ansiedlung der Lipovaner im Donaudelta kaum finanzielle Vorteile erhoffen hätte können. Die Lipovaner im Donaudelta galten als eher arme Bevölkerungsschicht und in besonders entlegenen Lipovanerdörfern wie Sfis¸tofca spürt man noch heute, dass ein Großteil der Dorfbewohner keinesfalls im Überfluss lebt. Als zentrale Berufsfelder der Lipovaner in der Bukowina nennt Hacquet das Leinweben und Strickmachen6. Dementgegen waren der Fischfang und die kleinstrukturierte Landwirtschaft die einzigen traditionellen Erwerbszweige der Lipovaner im Donaudelta, so dass sie im Gegensatz zu ihren Glaubensbrüdern in der Bukowina nie die Möglichkeit hatten, sich als Kaufleute oder Fabrikbesitzer ein größeres Vermögen zu erwerben.
4.
Die Religion der Lipovaner
Mit dem Argument, dass die Lipovaner eine besondere Menschensekte hinsichtlich Lebensart und Religion sind, liegt Hacquet sicherlich richtig.7 Bis heute achten vor allem jene Lipovaner, die an den alten Traditionen festhalten, darauf, dass sie nicht zu eng mit Vertretern anderer Volksgruppen in Kontakt treten und nur innerhalb ihrer Ethnie heiraten. Durch dieses Verhalten soll verhindert werden, dass die Lipovaner, welche eine weit verstreute, jedoch relativ kleine Minderheit sind, als ethnische Gruppe zerfallen und in der Mehrheitsbevölkerung aufgehen. Die Religion der Lipovaner ist ebenfalls sehr besonders, da sie auf den Glaubensvorstellungen basiert, die in Russland bis zur Mitte des 17. Jh. allgemein5 Hacquet 1796, S. 129f. 6 Ebd. 7 Hacquet 1796, S. 127.
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gültig waren. Im Gegensatz zur russischen Staatskirche dürfen bei den Lipovanern Gebete während des Gottesdienstes nicht gleichzeitig gesungen werden, sondern müssen der Reihe nach einzeln vorgetragen werden. Durch diese strikten Regeln soll verhindert werden, dass durch das gleichzeitige Singen von Gebeten ein Stimmengewirr entsteht, aus dem sich durch das Aufeinanderfolgen von Wortfetzen aus verschiedenen Gebeten eine Gotteslästerung ergibt. Das einzelne Singen der Gebete hat zur Folge, dass die Gottesdienste der Lipovaner sehr lange dauern und die Gläubigen dazu angehalten sind, einen Großteil ihrer Freizeit in der Kirche zu verbringen. Dazu schreibt Hollberg: „Im Resultat wurden auch hierdurch die Gottesdienste noch mehr in die Länge gezogen und das Verständnis ihres Sinnes erschwert. Gottesdienste fanden aber nicht nur sonntags statt, sondern zum mindesten auch noch Freitag abends, der Regel nach auch Sonnabend abends und in den Fastenzeiten noch an anderen Tagen, resp. zu mehreren verschiedenen Tageszeiten. Der Besuch der Gottesdienste wurde eigentlich als Pflicht der Gemeindeglieder angesehen. Es ist leicht ersichtlich, dass die viele auf solche Weise in der Kirche zu verbringende Zeit für beruflich beschäftigte Leute zu einer grossen Belastung werden konnte“.8
Eine weitere Besonderheit sind neben den langen Gottesdiensten die strengen Forderungen, welche die Lipovaner an ihre Ikonenmaler stellen. So muss ein Ikonenmaler während und vor dem Malen einer Ikone fasten. Außerdem hat er die Ikone nach genau festgelegten Arbeitsschritten anzufertigen. Zuerst wird das Skelett des dargestellten Heiligen gezeichnet. Diesem fügt der Ikonenmaler den fleischlichen Körper und die Kleider hinzu. Durch diese Abfolge der Arbeitsschritte wird nach Auffassung der Lipovaner garantiert, dass die Ikone nicht nur ein Abbild des Heiligen bleibt, sondern durch die in ihr währende Gegenwart des dargestellten Heiligen eine heilsbringende Wirkung entfaltet.9
5.
Die Priester und Ikonen bei den Lipovanern
Hacquet beschreibt, dass sich die Lipovaner ihre Priester aus ihrer eigenen Gemeinde auswählen und sowohl in der Kirche als auch zu Hause Ikonen anbeten.10 Hacquet unternahm seine Reise vor dem Jahr 1846, in dem die Lipovaner in Belaja Krinica ihre eigene Hierarchie gründeten. Vor 1846 war es den Lipovanern noch nicht möglich, eigene Priester zu weihen oder Priesterseminare zu gründen. Deshalb kam es oft vor, dass die Lipovaner Priester aus der reformierten Staatskirche, die zum Altgläubigentum übertreten wollten, nach einer ausführ8 Hollberg 1994, S. 98. 9 Hollberg 1994, S. 762. 10 Hacquet 1796, S. 127.
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lichen Buße in ihre Gemeinschaft aufnahmen und bei sich fortan als Priester anstellten. Dazu lesen wir bei Hollberg: „Bei diesem Aufnahmeverfahren für übertrittswillige Priester wurde indessen nach und nach eine Grenze überschritten, welche dem altgläubigen Denken eigentlich als unüberschreitbar hätte gelten müssen. […] Schließlich setzte sich die Vorstellung durch, daß bei den Weihen auch in der von Reformen entstellten Großkirche die Amtsvollmacht noch übertragen werde, aber erst zum Segen ausgeübt werden könne, nachdem der Geweihte den Reformen abgeschworen habe. Zur Abschwörung trat schließlich noch die Nachfirmung der übertrittswilligen Priester, die auf dem 1779/80 in Moskau abgehaltenen „Umsalbungskonzil“ (Peremazanskij sobor) verbindlich gemacht wurde“.11
Nach 1846 änderte sich diese Situation, da die Altgläubigen durch die Gründung ihrer eigenen Hierarchie selbst Priester weihen und Priesterseminare organisieren konnten. In diesen Seminaren erhielten die Kandidaten eine fundierte theologische Ausbildung und wurden danach zum Dienst als Diakon oder Priester in die jeweilige Gemeinde entsandt. Gegenwärtig wird in den Priesterseminaren der Altgläubigen nach Möglichkeit darauf geachtet, dass ein Priester in seine Heimatgemeinde oder in eine der benachbarten Gemeinden entsandt wird. Der Sinn dieser Überlegung besteht darin, dass die Gemeinde einen Priester, welcher in seinem Geburtsort tätig ist, seit seiner Jugend kennt. Dadurch kann sich in den meisten Fällen leichter und schneller ein tiefes Vertrauen zwischen dem Priester und seiner Gemeinde herausbilden. Diese Situation beobachten wir gegenwärtig in Sfis¸tofca. Der im Dorf amtierende Diakon ist als Sohn des Messners in Sfis¸tofca geboren und aufgewachsen und genießt auf Grund seiner einfühlsamen und verständnisvollen Art bei zahlreichen Dorfbewohnern ein hohes Ansehen und Vertrauen. Im Gegensatz zur Art der Beschaffung von Priestern hat sich an der Art, wie die Lipovaner ihre Ikonen anbeten, seit Hacquets Reise im späten 18. Jh. nur wenig geändert. Damals wie heute gibt es in den traditionellen Haushalten eine große Familienikone, die zusammen mit zahlreichen kleineren Ikonen das spirituelle Zentrum des Hauses bildet. Von der Familienikone geht nach Ansicht der Lipovaner jene Kraft aus, die alle Bewohner des Haushaltes mit dem rechten Glauben und einer positiven Lebenseinstellung erfüllt. Vor der Familienikone werden die täglichen Hausgebete verrichtet und um sicherzustellen, dass die Ikone ihre spirituelle Kraft behält, ist darauf zu achten, dass vor ihr ununterbrochen ein Öllämpchen brennt. Dieses Öllämpchen symbolisiert als ewiges Licht die ständige Anwesenheit des Heiligen Geistes. An dieser Stelle ist auch darauf hinzuweisen, dass die Familienikone nicht verkauft werden darf und in der Regel vom Vater an den ältesten Sohn weitergegeben wird. 11 Hauptmann 1963, S. 122f.
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Zur Bedeutung der Ikone für die Altgläubigen schreibt Robson: „The Old Believers’ treatment of icons exemplified some of the old ritualists’ basic ideas about their own religious experience. The icon played a much larger part in the religious life of the Old Belief than simply that of a didactic device. In keeping with their sense of symbol, Old Believers preserved more than other Orthodox did the idea that icons provided a conduit for grace by being perfect images of the prototypes depicted on them. Thus, icons that reflected the ancient piety became symbolic of Old Believer religious identity itself […] Without the support of the government or the state-established church, icons provided evidence that (quite literally) „God is with us; know, all ye nations and bow down, for God is with us““.12
Bezüglich der Ikonen weist Hacquet darauf hin, dass sie auf Holz gemalt sind und selbst die großen Kirchenbücher mit Ikonen bedeckt sind.13 Bis zum heutigen Tage sind zumindest jene Ikonen, die nach den traditionellen Vorstellungen der Altgläubigen angefertigt sind, auf Holz gemalt. In Sfis¸tofca und anderen Lipovanerdörfern finden wir jedoch auch zahlreiche moderne Ikonen, welche auf Metall oder Plastik gemalt sind. Dazu sagen die Lipovaner, dass die auf Holz gemalten Ikonen die wahrhaftigen sind, geben aber zu bedenken, dass es heute in Rumänien nur mehr wenige altgläubige Ikonenmaler gibt. Dadurch sei es schwierig geworden, neue Ikonen, die nach der alten Tradition auf Holz gemalt sind, zu erwerben. Den auf Metall oder Plastik gemalten Ikonen sprechen die Lipovaner keine spirituellen Kräfte zu. Trotzdem hängen sie auch diese Ikonen gerne in ihren Häusern auf, da sie ein schöner Schmuck sind und trotz ihrer modernen Fertigung ausdrücken, dass die Bewohner des Hauses religiös und auf ihren altorthodoxen Glauben stolz sind. Entgegen der Erzählung von Hacquet ist es meinen Beobachtungen zufolge in Sfis¸tofca heute nicht üblich, die Kirchenbücher mit Ikonen zu illustrieren. Den Lipovanern sind sowohl die Kirchenbücher als auch die Ikonen heilig. Trotzdem trennen sie diese beiden Dinge strikt voneinander. Die Einbände der meisten Kirchenbücher sind in dunklen Farben gehalten. Manchmal haben sie ein Kreuz oder ein anderes religiöses Symbol eingestanzt, im Allgemeinen machen sie aber einen unscheinbaren Eindruck. Die Texte in den Kirchenbüchern sind ebenfalls kaum mit Bildern verziert. Der Leser soll ja schließlich seine volle Aufmerksamkeit auf den Inhalt der Texte richten und dabei nicht durch Bilder abgelenkt werden.
12 Robson 1995, S. 77. 13 Hacquet 1796, S. 127f.
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6.
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Die Totenbestattung und das Bad bei den Lipovanern
Nach den Gedanken zu den Kirchenbüchern und Ikonen erläutert Hacquet, dass die Lipovaner ihre Toten verbrennen und täglich warm baden.14 Das Verbrennen der Toten ist für die Lipovaner aus heutiger Sicht eine sehr ungewöhnliche Bestattungsart, die an heidnische Traditionen erinnert. In Sfis¸tofca ist die Feuerbestattung wahrscheinlich noch nie praktiziert worden und wird meinen Feldforschungen nach von den meisten Dorfbewohnern als sündhaft angesehen. Ihrer Ansicht nach darf der Leichnam nicht durch das Verbrennen entstellt werden, sondern muss in seiner ursprünglichen, natürlichen Form in geweihter Erde seine Ruhe finden. Die strikte Ablehnung der Kremierung finden wir heute nicht nur bei den Lipovanern, sondern auch in der russisch-orthodoxen Staatskirche sowie den meisten anderen orthodoxen Kirchen. Allerdings ist die Feuerbestattung für das späte 18. Jh. denkbar, da es den Lipovanern zu dieser Zeit sehr stark an Geistlichen mangelte. Möglicherweise gab es in der von Hacquet besuchten Siedlung keinen Geistlichen, der ein Grundstück zu einem Friedhof weihen und Begräbnisse zelebrieren hätte können. Sfis¸tofca und die anderen Lipovanerdörfer im Donaudelta verfügen heute alle über einen Friedhof, welcher von den jeweiligen Dorfbewohnern unterschiedlich oft besucht wird. Am Friedhof von Sfis¸tofca ist mittlerweile fast jedes Grab verwildert, da die Angehörigen der Toten ebenfalls gestorben oder zur Arbeitssuche in weiter entfernte Regionen abgewandert sind. Außerdem sind einige Dorfbewohner der Ansicht, dass man den Toten nicht unbedingt an seinem Grab besuchen muss, sondern ihn auch durch zum Beispiel Familienfotos im Gedächtnis behalten kann. So ist der Friedhof von Sfis¸tofca heute zu einem weitgehend verlassenen Ort geworden, welcher meistens nur dann besucht wird, wenn es einen weiteren Toten zu begraben gibt. Die gegenwärtigen Friedhöfe der Lipovaner sind dem Aussehen der Gräber nach oft sehr vielfältig. Die Gestaltung und der Prunk eines Grabes richten sich nach den finanziellen Mitteln der Hinterbliebenen. Am Friedhof von Sfis¸tofca ist die Ausstattung vieler Gräber gemäß den geringen finanziellen Möglichkeiten der meisten Dorfbewohner minimal. Auf den meisten Gräbern steht ein blau oder grün angestrichenes achtendiges Holzkreuz. Manche Gräber sind mit einem Metallzaun begrenzt, bei den meisten Gräbern wurde darauf verzichtet. Im Zusammenhang mit dem Kreuz ist darauf hinzuweisen, dass die Lipovaner nur das in der gesamten russisch-orthodoxen Kirche verbreitete achtendige Kreuz anerkennen. Das vierendige Kreuz assoziieren sie mit der aus ihrer Sicht sündhaften Westkirche und lehnen seinen Gebrauch daher ab.15 14 Hacquet 1796, S. 128. 15 Hollberg 1994, S. 13.
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In Bezug auf Hacquets Beobachtung, dass bei den Lipovanern Mann und Frau täglich warm baden, lässt sich vermuten, dass die Lipovaner Ende des 18. Jh. das tägliche Baden als eine Art Ritual zur Reinigung von den täglichen Sünden gesehen haben. Der Grund, weshalb warm gebadet wurde, liegt wahrscheinlich darin, dass man durch das Erhitzen Keime und Krankheitserreger aus dem Wasser entfernen konnte. Interessant ist die Frage, weshalb Mann und Frau gemeinsam badeten. Möglicherweise diente das gemeinsame Bad dazu, die körperliche und seelische Verbundenheit zwischen den Geschlechtern zu stärken. Auf Hacquet hat das gemeinsame Bad von Mann und Frau bei den Lipovanern wahrscheinlich anrüchig gewirkt, galt doch der Anblick von Nacktheit, vor allem zwischen verschiedenen Geschlechtern, nach westeuropäischen Vorstellungen der damaligen Zeit als Unsitte. Hingegen war es in der russischen Kultur der vorpetrinischen Zeit, welche durch die Lipovaner fortgeführt wurde, völlig normal und unter keinen Umständen verwerflich, dass sich Männer und Frauen zum gemeinsamen Bad voreinander entblößten. Dazu lesen wir bei Scheidegger: „Im „zivilisierten“ Westeuropa scheidet die neue Trennlinie nicht nur einen privaten von einem öffentlichen Bereich, das Individuum vom Publikum, sondern sie grenzt auch die Geschlechter und Lebensalter gegeneinander ab. Johann Georg Korbs Beschreibung der russischen Badeunsitten (A. 75) zeigt dies deutlich. Auch andere Autoren betonen immer wieder, dass im barbarischen Lande der Moskowiter sich Männer vor Frauen und – noch schlimmer – vor Jungfrauen entblössten und Frauen, selbst Jungfrauen, vor Männern und dass die unschuldige Jugend vom schuldigen Treiben der Erwachsenen nicht ferngehalten werde“.16
In Sfis¸tofca gibt es nur wenige Personen, welche täglich ein Bad nehmen. Das Dorf verfügt bis heute über kein fließendes Wasser und keine Kanalisation, so dass das Einlassen eines Bades mit einem großen Arbeitsaufwand verbunden ist. Daher ist es den meisten Dorfbewohnern zu mühsam, sich täglich zu baden. Zahlreiche Haushalte besitzen auch nicht mehr die für die Lipovaner typische Badestube und sind auf Grund von Brennholzmangel darauf angewiesen, sich sogar an kalten Wintertagen mit kaltem Wasser zu waschen. In der Regel ist es so, dass sich die meisten Dorfbewohner einmal pro Woche zur Gänze und an den restlichen Tagen nur punktuell waschen.
16 Scheidegger 1993, S. 113.
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7.
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Der Konsum von Tabak und Fleisch bei den Lipovanern
Im Hinblick auf die Essgewohnheiten und den Tabakkonsum schreibt Hacquet, dass die Lipovaner nur acht Mal im Jahr Fleisch essen und keinen Tabak konsumieren.17 Es wäre denkbar, dass sich die Lipovaner zum Zeitpunkt von Hacquets Besuch wegen Missernten nur an den acht höchsten Feiertagen des Jahres den Genuss von Fleisch leisten konnten. Entgegen dem Argument Hacquets essen die Lipovaner in Sfis¸tofca und anderen Orten des Donaudeltas fast jeden Tag Fisch und durchschnittlich einmal pro Woche Fleisch. Fisch ist im Donaudelta allgegenwärtig, den wöchentlichen Fleischkonsum ermöglichen Hühner und andere Arten von Geflügel, die in fast jedem Haushalt gehalten werden. Rindfleisch wird tatsächlich nur zu hohen Anlässen gegessen, da die geringe Weidefläche im Donaudelta das Halten größerer Rinderherden nicht zulässt und das Rindfleisch daher sehr teuer ist. Während der Fastenzeiten ist der Fleischkonsum bei den Lipovanern gänzlich untersagt und auch Fisch darf nur an gewissen Tagen gegessen werden. Personen, die sich an die Fastengebote halten, sind während der Fastenzeiten darauf angewiesen, sich hauptsächlich von Getreide, Gemüse und Früchten zu ernähren. In Bezug auf den Tabakkonsum liegt Hacquet richtig, wenn er behauptet, dass das Rauchen und Schnupfen bei den Lipovanern als Sünde gilt und daher verboten ist. Ende des 18. Jh. hielten sich sicherlich noch die meisten Angehörigen der Glaubensgemeinschaft an dieses Gebot. Im Laufe der Zeit nahmen aber vor allem junge Altgläubige das Rauchen als Sünde nicht mehr so ernst. Dazu schreibt Hollberg: „Auf allen solchen Kongressen, auch in den vom Kriege nicht berührten Ländern der neuen Welt, werden Klagen über den Verfall der Religiosität, das Zurückgehen des Kirchenbesuches und die „Verweltlichung“ laut. Wie weit diese Verweltlichung u. U. gehen kann, ist in den Peipusdörfern manchmal zu beobachten. Das Tabakrauchen gilt dem Altgläubigentum dort z. B. als Todsünde. Nicht nur, dass viele dennoch rauchen, natürlich heimlich; manche Jugendliche jedoch rauchen ganz öffentlich und scheuen sich bisweilen nicht, ihre „Papiroska“ […] an der Lampade anzuzünden“.18
Auch in Sfis¸tofca merkt man nur mehr in Ansätzen, dass das Rauchen ursprünglich als Sünde galt. Zahlreiche Dorfbewohner sind sehr starke Raucher. Hinsichtlich ihrer Einstellung zum Rauchen lassen sich die Bewohner von Sfis¸tofca in vier Gruppen unterteilen. Zur ersten Gruppe gehören Personen, die sehr viel Rauchen und vom Tabak im Laufe der Jahre abhängig geworden sind. Die zweite Gruppe bilden Menschen, die hin und wieder in Gesellschaft rauchen, vom Tabak jedoch nicht abhängig sind. Die dritte Gruppe besteht aus Personen, die 17 Hacquet 1796, S. 128. 18 Hollberg 1994, S. 773.
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selbst nicht rauchen, jedoch kein Problem darin sehen, wenn andere Dorfbewohner Tabak konsumieren. Die vierte Gruppe sind Leute, deren Einstellung zum Rauchen der traditionellen Auffassung der Lipovaner entspricht. Sie sehen das Rauchen als Sünde, sind daher strikte Nichtraucher und verurteilen den Tabakkonsum auch bei allen anderen Dorfbewohnern.
8.
Der Gottesdienst und die Taufe bei den Lipovanern
In Bezug auf den Gottesdienst schreibt Hacquet, dass die Lipovaner ihre Religionsbräuche sehr geheim halten und einem Fremden den Eintritt in ihre Kirche nur ungerne gewähren, so dass kaum bekannt ist, wie die Gottesdienste bei ihnen ablaufen.19 Dieses Verhalten ist für das späte 18. Jh. leicht nachvollziehbar, da damals die großen Verfolgungswellen der Altgläubigen im Russischen Imperium noch nicht lange vorüber waren. Die Furcht vor religiöser Verfolgung war im kollektiven Bewusstsein der Lipovaner noch sehr präsent. Um sich in ihrem neuen Siedlungsgebiet nicht weiteren Verfolgungen auszusetzen, versuchten sie deshalb, ihren Ritus vor fremden Menschen zu verbergen. Diese Situation besteht heute nur mehr selten. Während meiner Feldstudien besuchte ich sehr häufig den lipovanischen Gottesdienst in der Kirche von Sfis¸tofca. Dabei freuten sich die Dorfbewohner über mein Interesse für ihre Art der Glaubensausübung. Allerdings gibt es, etwa in der Bezirkshauptstadt Tulcea, relativ konservative Altgläubigengemeinden, die Personen von außen nach wie vor nur ungerne die Teilnahme an ihrem Gottesdienst gewähren. In Sfis¸tofca und anderen Altgläubigendörfern, in denen auswärtige Besucher im Gottesdienst willkommen sind, besteht nach dem Gottesdienst die Möglichkeit, sich beim Diakon oder einem der Dorfbewohner über die Geschichte der Kirchenikonen sowie die Bedeutung der einzelnen Abschnitte des Gottesdienstes zu erkundigen. Die Bereitschaft, fremde Personen über ihre Religion zu informieren, begründet sich bei zahlreichen Lipovanern auch in dem inneren Wunsch, neue Leute für ihre Religion zu begeistern, sie zum Übertritt zu bewegen und dadurch langfristig zur Vergrößerung der Religionsgemeinschaft beizutragen. Trotz der Offenheit, die zahlreiche Lipovaner im Zusammenhang mit ihrer Religion an den Tag legen, bestehen sie trotzdem darauf, dass sich auch fremde Besucher im Gottesdienst den religiösen Vorschriften entsprechend kleiden. So müssen Männer ein Hemd, eine lange Hose und einen Gürtel tragen. Frauen haben sich mit einem Rock, einer Bluse und einem Kopftuch zu bekleiden. Das Fotografieren ist während des Gottesdienstes ohne ausdrückliche Erlaubnis des Priesters oder Diakons untersagt. 19 Hacquet 1794, S. 128.
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Zur Taufe bei den Lipovanern lesen wir bei Hacquet, dass sie nur dann vollzogen werden soll, wenn der Säugling noch kein vollkommenes Gedächtnis hat. Dies, so Hacquet, ist vor allem im Winter sehr nachteilig.20 Hier bleibt unklar, weshalb die Taufe vor der Ausbildung eines vollkommenen Gedächtnisses zu erfolgen hatte, warum das Wasser im Taufbecken nicht erwärmt wurde und wie man mit den schwerwiegenden Folgen, die eine Taufe im kalten Wasser für den Säugling haben konnte, umgegangen ist. Wenn eine Taufe im Winter schwerwiegende Folgen für die körperliche oder geistige Gesundheit des Kindes hatte, haben die Lipovaner des 18. Jh. diesen Umstand wahrscheinlich als den Willen Gottes, dem man sich nicht widersetzen darf, akzeptiert und die Folgen der Taufe für das Kind klaglos angenommen. Dies würde auch der Tatsache entsprechen, dass zahlreiche Lipovaner in früheren Zeiten bei einer Krankheit nicht zum Arzt gegangen sind, da sie die Krankheit als gottgegebenes Schicksal aufgefasst haben. Eine ärztliche Behandlung wäre aus dieser Sicht einer Zuwiderhandlung gegen den göttlichen Willen und somit einer Sünde gleichgekommen. Zum Verhältnis der Altgläubigen zur ärztlichen Behandlung lesen wir bei Hollberg: „Doch konnten auch Ärzte sich vor plötzliche Hindernisse gestellt sehen, wie sich aus folgendem Falle ergibt: Der Arzt hatte einem kranken Kinde ein mit Milch einzunehmendes Medikament verordnet und damit einen Sturm der Entrüstung entfesselt. Denn er hatte übersehen, dass es in der grossen Fastenzeit vor Ostern war, wo es streng verboten ist, Milch und alle Milchprodukte […] zu sich zu nehmen. Die Eltern sagten mir in diesem Falle, sie wollten lieber das irdische Leben ihres Kindes gefährden als dessen ewiges Seelenheil. Denn sie waren überzeugt, dass eine solche schwere Übertretung dieses Fastengebotes mit ewiger Verdammnis gestraft werden würde“.21
In der Taufpraxis hat sich bei den Lipovanern in den vergangenen zweihundert Jahren einiges geändert. In Sfis¸tofca wartet man mit der Taufe bis die Schädeldecke des Säuglings fertig ausgebildet ist und das Kind eine gewisse Robustheit und Stärke erlangt hat. Im Winter erwärmt man das Wasser im Taufbecken, damit sich der Säugling nicht verkühlt und durch die Taufe keine bleibenden Schäden erleidet. Im Vergleich zum 18. Jh. ist bei der Taufe sicherlich gleichgeblieben, dass die Lipovaner nur das dreimalige vollständige Untertauchen des Säuglings als wahre Taufe anerkennen und das in der Westkirche verbreitete Beträufeln des Säuglings mit Wasser als nicht wahrhaftig ausgeführtes Sakrament ablehnen. Hollberg schreibt dazu: „In Russland hatte es sich eingebürgert, die aus dem Katholizismus und aus den aus diesem hervorgegangenen Konfessionen (Protestanten) zur Orthodoxie Übertretenden 20 Hacquet 1796, S. 128. 21 Hollberg 1994, S. 766.
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zu taufen, da die Taufe durch Benetzen des Hauptes für nichtig angesehen wurde. Denn die echte Taufe habe durch dreimaliges völliges Untertauchen vollzogen zu werden. Unter dem Einfluss von Griechenland und Kiew ging man hiervon ab und begnügte sich mit der Myrrhonsalbung der Übertretenden als Ergänzung der Taufe. Darin lag die Anerkennung der anderskonfessionellen Taufe als echter Taufe […] Das Altgläubigentum konnte diese Konzession nicht akzeptieren und blieb beim alten Standpunkt“.22
9.
Gewalt und Alkohol bei den Lipovanern
Bei der Beschreibung des Verhältnisses der Lipovaner zu Gewalt vergleicht Hacquet die Minderheit mit den Herrnhutern und erläutert, dass in beiden Gemeinschaften das Fluchen, Schlagen, Blutvergießen sowie der Waffengebrauch und Konsum alkoholischer Getränke untersagt sind.23 Gerade im 18. Jh., das noch sehr stark von Kriegen und physischer Gewalt geprägt war, galten die Vermeidung von verbaler und physischer Gewalt sowie die Ablehnung des Gebrauchs von Waffen als große Auszeichnungen, welche die Gemeinschaft der Lipovaner hinsichtlich ihrer Friedfertigkeit über andere Ethnien stellten. Auch wenn sich die Lipovaner des 18. Jh. gegenüber Fremden eher verschlossen und zurückhaltend verhielten, konnte man sich in ihren Dörfern doch sicher fühlen und musste – im Gegensatz zu anderen Orten – nicht darum fürchten, sein Leben in zum Beispiel einem Raubüberfall aus dem Hinterhalt zu verlieren. Die innere Ruhe und friedliche Lebenseinstellung vieler Lipovaner hing sicherlich auch damit zusammen, dass die Vertreter der Gemeinschaft für gewöhnlich wenig Alkohol konsumierten. Am Verhalten mancher Bewohner von Sfis¸tofca merkt man, dass sich dort die traditionelle Friedfertigkeit der Lipovaner bis heute erhalten hat. Bewusste Vertreter der Minderheit vermeiden bis heute sowohl Schimpfwörter als auch physische Gewalt. Außerdem achten sie beim Alkoholkonsum darauf, Maß zu halten und sich nicht zu einem Rausch und unbedachten Handlungen verleiten zu lassen. In Sfis¸tofca gibt es heute allerdings nur mehr sehr wenige Dorfbewohner, die auf den Alkoholkonsum vollständig verzichten. Die Ablehnung des Waffengebrauchs würde zu traditionellen Lipovanern auch heute noch gut passen, war aber zumindest in der sozialistischen Periode nicht möglich. Damals waren die Lipovaner eng in die rumänische Gesellschaft eingebunden und mussten daher auch Wehrdienst leisten.
22 Hollberg 1994, S. 13. 23 Hacquet 1796, S. 128.
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10.
Belaja Krinica, Bra˘ila und Tulcea als Zentren der Lipovaner in Südosteuropa
Als lipovanisches Zentrum der Bukowina nennt Hacquet den Ort Fontina alba, welcher 1846 unter seinem russischen Namen Belaja Krinica in die Geschichte einging.24 In Belaja Krinica wurde 1846 unter dem Metropoliten Amvrosij die erste Hierarchie der Altgläubigen gegründet. Ab diesem Zeitpunkt konnten die Lipovaner eigene Priester weihen und waren nicht mehr darauf angewiesen, Priester aus der Staatskirche zu suchen, die zum Altgläubigentum übertreten wollten. Gemäß Hacquets Bericht war Belaja Krinica schon Ende des 18. Jh. ein bedeutender Ort für die Lipovaner, so dass die Wahl dieses Dorfes als Standort für ihre erste Hierarchie sicherlich kein Zufall war. Bis 1940 blieb Belaja Krinica der Standort für die Hierarchie der Altgläubigen. Als die Nordbukowina von sowjetischen Truppen besetzt wurde, musste man die Hierarchie in die ostrumänische Kleinstadt Bra˘ila verlegen. Dieses Ereignis wird bei Hauptmann folgendermaßen beschrieben: „Mit dem Einmarsch der Roten Armee in die Nordbukowina im Juni 1940 wurde Belaja Krinica schlagartig seiner Bedeutung beraubt. Den Rotarmisten folgten die Mitarbeiter des Volkskommissariats für innere Angelegenheiten auf dem Fuße, um unverzüglich die Klöster zu zerstören sowie zahlreiche Priester, Mönche und Bauern zu verhaften und nach Sibirien zu verschicken. Der letzte Metropolit von Belaja Krinica und seine Bischöfe sahen sich zur Flucht nach Rumänien genötigt und ließen sich in Bra˘ila nieder“.25
Bra˘ila bot sich als neuer Standort für die Hierarchie an, da ein gesamtes Stadtviertel fast ausschließlich von Lipovanern besiedelt war. Außerdem befand sich die Stadt in der Nähe des Donaudeltas und der Dobrudscha, welche bis heute zu den Hauptsiedlungsgebieten der Lipovaner in Rumänien zählen. Obwohl Bra˘ila seit über siebzig Jahren das neue Zentrum der Lipovaner von Rumänien ist, merkt man in Belaja Krinica bis heute, dass dieser Ort die wichtigste Rolle in der Geschichte des Altgläubigentums gespielt hat. Das Zentrum von Belaja Krinica bildet eine riesige, mit türkisenen Fliesen verputzte Kathedrale, welche in ihrer Bauart sehr an die Moskauer Basiliuskathedrale erinnert. Die Kathedrale von Belaja Krinica wurde in den Jahren nach 1846 errichtet und sollte durch ihre Größe und ihren Prunk symbolisieren, dass Belaja Krinica nun das Zentrum der geistlichen Hierarchie der Altgläubigen ist. Heute leben um die Kathedrale von Belaja Krinica einige Lipovanerfamilien, die fast alle in der Landwirtschaft tätig sind und zur Aufbesserung ihrer finanziellen Situation einen Zweitberuf ausüben. So arbeitet beispielsweise Vitalij 24 Hacquet 1796, S. 129. 25 Hauptmann 1963, S. 144.
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Kalinin, ein Lipovaner, den ich im August 2014 in Belaja Krinica kennenlernte, als Offizier in der ukrainischen Armee und übt damit einen für die Lipovaner eher unüblichen Beruf aus. Derzeit leitet er einige Truppen in der krisengeschüttelten Ostukraine. Er hofft auf ein schnelles Ende der kriegerischen Auseinandersetzungen, um möglichst bald zu seiner Familie zurückkehren zu können. Im Allgemeinen macht Belaja Krinica heute einen sehr ruhigen und besinnlichen Eindruck. Abgesehen von der großen Kathedrale und zwei weiteren Kirchen gibt es im Dorf keine größeren Gebäude. Die Wege im Dorf sind bis heute nicht asphaltiert, so dass sie sich bei Regen in Schlammlacken verwandeln. Die Dorfkirche neben der Kathedrale, in der gegenwärtig die meisten Gottesdienste gefeiert werden, macht einen sehr gepflegten Eindruck, wohingegen die Kathedrale renovierungsbedürftig geworden ist. Hinsichtlich der heutigen Bewohner von Belaja Krinica ist zu bemerken, dass vor allem ältere Dorfbewohner fremden Besuchern gegenüber sehr offen sind und ihnen gerne von der ruhmreichen Geschichte ihres Heimatortes erzählen. Dabei sollte man als fremde Person das sogenannte Massaker von Fântâna Alba˘, bei dem in Belaja Krinica am 1. April 1941 200 Menschen durch sowjetische Truppen getötet wurden, nur sehr vorsichtig erwähnen. Dieses schreckliche Ereignis hat bei den meisten älteren Dorfbewohnern traumatische Erinnerungen hinterlassen, die bis heute kaum aufgearbeitet sind. Neben der Kathedrale, den zwei Kirchen und den Dorfbewohnern ist die Lage von Belaja Krinica an der rumänisch-ukrainischen Grenze als weitere Besonderheit des Ortes zu erwähnen. Unmittelbar neben dem Ortskern befindet sich ein Hauptquartier der ukrainischen Grenzwache und dahinter steht ein Grenzzaun, welcher die streng bewachte EU-Außengrenze zwischen Rumänien und der Ukraine sichert. Die Grenzanlagen neben der altehrwürdigen Kathedrale bieten einen ungewöhnlichen Anblick und die isolierte Lage an der Grenze verleiht Belaja Krinica den Eindruck eines verschlafenen, melancholischen und ein wenig in Vergessenheit geratenen Ortes, dessen ruhmreiche Vergangenheit gleich dem türkisen Anstrich der Kathedrale inzwischen verblichen ist. Durch die Grenze war es lange Zeit unmöglich, dass die Einwohner von Belaja Krinica ihre Verwandten und Freunde auf der rumänischen Seite der Bukowina besuchen. Bis vor einigen Jahren durfte die Grenze bei Belaja Krinica weder von ukrainischer noch von rumänischer Seite aus passiert werden. Dies hat dazu geführt, dass der Kontakt zwischen zahlreichen Familienangehörigen über die Grenze hinweg zum Erliegen gekommen ist. Seitdem die ukrainische Regierung die Visumspflicht für EU-Bürger abgeschafft hat, ist es zumindest für rumänische Staatsbürger relativ leicht geworden, in die Ukraine zu reisen. Dies merkt man vor allem daran, dass in den letzten Jahren die Zahl der von rumänischen Lipovanern organisierten Wallfahrten nach
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Belaja Krinica stark zugenommen hat. Seitdem die EU 2017 die Visumspflicht für ukrainische Staatsbürger abgeschafft hat, ist es auch für ukrainische Lipovaner leichter geworden, nach Rumänien einzureisen. Im Donaudelta ist die Kleinstadt Tulcea das Pendant zu Belaja Krinica. Im Gegensatz zu Belaja Krinica ist Tulcea keine lipovanische Gründung. Dennoch beherbergt die Stadt seit dem frühen 19. Jh. eine sehr aktive lipovanische Gemeinde, welche Tulcea durch ihre Sprache, Kultur und Kirchenbauten bis heute prägt. Die lipovanische Gemeinde von Tulcea teilt sich in drei Untergruppen auf, wobei jede Untergruppe in der Stadt ihre eigene Kirche besitzt. Die größte lipovanische Kirche gehört jenen Vertretern der Volksgruppe, welche die Hierarchie von Belaja Krinica anerkennen. Sie befindet sich direkt im Stadtzentrum. Diese Gruppe hat in Tulcea auch einen Bischof, welcher als sehr volksnah gilt und wegen seines milden und gütigen Charakters bei den Lipovanern im gesamten Donaudelta beliebt ist. Der Bischof von Tulcea steht in engen Kontakt mit dem Metropoliten von Bra˘ila, so dass dieser regelmäßig darüber informiert wird, welche Anliegen die Lipovaner in Tulcea und im Donaudelta beschäftigen. Die zweite Kirche gehört jenen Lipovanern, welche sich zur Altgläubigenhierarchie von Novozybkov bekennen. Die Hierarchie von Novozybkov wurde 1923 in Russland von Altgläubigen, welche die Hierarchie von Belaja Krinica nicht anerkennen wollten, als alternative Altgläubigenhierarchie gegründet. Die Lipovaner aus Tulcea, welche sich zur Hierarchie von Novozybkov bekennen, pflegen bis heute enge Kontakte zu ihren Glaubensbrüdern in Russland. Ihre Kirche befindet sich auf einem Hügel über dem Stadtzentrum von Tulcea und ist vom Donauufer aus gut zu erkennen. Die dritte Kirche ist ihrer Größe nach lediglich eine Kapelle und gehört den sogenannten priesterlosen Lipovanern. Die Gemeinschaft der priesterlosen Lipovaner ist in zahlreiche Untergruppen aufgeteilt, welche alle gemeinsam haben, dass sie keine der beiden Altgläubigenhierarchien anerkennen. Sie feiern den Gottesdienst bis heute ohne geweihte Geistliche. Die priesterlosen Lipovaner bestimmen aus ihrer Gemeinde einen sogenannten religiösen Führer, der sich in den religiösen Schriften und im Ritus der Lipovaner sehr gut auskennt und so in der Lage ist, einen Gottesdienst abzuhalten. Die Traditionen dieser Untergruppe erinnern stark an Hacquets Beschreibungen des späten 18. Jh., als noch sehr viele Lipovaner darauf angewiesen waren, ihre Gottesdienste ohne geweihte Geistliche zu feiern. Die Gemeinde der priesterlosen Lipovaner von Tulcea hält bis heute sehr streng an den religiösen Regeln der Altgläubigen fest. Die Teilnahme an ihrem Gottesdienst ist einem fremden Besucher nur dann gestattet, wenn er dem religiösen Führer von einem Mitglied der Gemeinde vorgestellt wird und der religiöse Führer die entsprechende Person als vertrauenswürdig erachtet.
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Leider hat das starre Festhalten an den alten Traditionen in den letzten Jahrzehnten bewirkt, dass die Gemeinde der priesterlosen Lipovaner von Tulcea stark geschrumpft ist. Die Beachtung der zahlreichen religiösen Vorschriften und Gebote ist vor allem jungen Vertretern der Glaubensgemeinschaft zu mühsam geworden. Abschließend lässt sich sagen, dass die meisten Lipovaner im Donaudelta zwar ˘ Braila als ihr geistiges Zentrum anerkennen, sich persönlich aber viel eher mit dem näher gelegenen Tulcea verbunden fühlen. So hat fast jeder Lipovaner im Donaudelta Verwandte in Tulcea und besucht diese Stadt mehrmals pro Jahr. Außerdem ist Tulcea auch der Hauptzuwanderungsort von Lipovanern aus dem Donaudelta, welche den schwierigen ökonomischen Verhältnissen in ihren Heimatdörfern entfliehen möchten. In der Regel hat ein neuzugewanderter Vertreter der Minderheit in Tulcea bereits länger ansässige Verwandte, welche ihm dabei helfen, schnell eine günstige Wohnung und im Idealfall auch eine einigermaßen gut bezahlte Arbeit zu finden.
11.
Zusammenfassung
Die Volksgruppe der Lipovaner hat sich in den letzten zweihundert Jahren entschieden gewandelt. Trotz des Festhaltens an dem altrussischen Glauben und den alten Traditionen sind auch die Lipovaner mit der Zeit gegangen und haben die Neuerungen jeder Epoche mit einer gewissen Verzögerung angenommen. Dennoch ist es der Volksgruppe an vielen Orten gelungen, ihren traditionellen Glauben und Lebensstil über das schnelllebige, von Kriegen, politischen Umwälzungen und massiven Industrialisierungsprozessen geprägte 20. Jh. bis in die Gegenwart zu erhalten. Für das noch junge 21. Jh., in dem die Gesellschaft in Rumänien und anderen osteuropäischen Staaten durch die gegenwärtigen neoliberalen Wirtschaftsformen, die den Zugang zu materiellen Gütern für weite Teile der Gesellschaft möglich gemacht haben, tiefgreifend umgestaltet wird, bleibt es fraglich, wie lange und in welcher Form die Lipovaner ihren traditionellen Glauben und Lebensstil beibehalten werden. Es ist auch zu erwarten, dass zahlreiche isolierte Lipovanerdörfer im Laufe des 21. Jh. verschwinden werden. Viele junge Menschen wandern zur Arbeitssuche in die Stadt ab oder emigrieren auf der Suche nach einem besseren und angenehmeren Leben in das westliche Ausland. Es ist noch nicht vollkommen klar, mit welchen Veränderungen und Herausforderungen das 21. Jh. die Gemeinschaft der Lipovaner konfrontieren wird. Trotzdem bleibt es spannend, sich mit der Geschichte und Lebenssituation einer religiösen und sprachlich-kulturellen Minderheit in Südosteuropa zu befassen, deren Anfänge im Moskau des 17. Jh. liegen und die im Laufe der Jahrhunderte
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zahlreiche Entbehrungen auf sich genommen hat, um das russische Altertum und den alten Ritus der russisch-orthodoxen Kirche zu bewahren.
Abbildung 1: Ortstafel Sfis¸tofca. Quelle: Eigene Fotos, 2010.
Abbildung 2: Ikonen in einem Haus in Sfis¸tofca. Quelle: Eigene Fotos, 2016.
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Abbildung 3: Der Friedhof in Sfis¸tofca. Quelle: Eigene Fotos, 2016.
Abbildung 4: Die Kirche von Sfis¸tofca. Quelle: Eigene Fotos, 2012.
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Abbildung 5: Die Kathedrale von Belaja Krinica. Quelle: Eigene Fotos, 2014.
Abbildung 6: Der Chor von Sfis¸tofca bei einem Altgläubigenfestival in Constanza. Quelle: Eigene Fotos, 2011.
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Abbildung 7: Adrian Dorimente – Priester einer Lipovanergemeinde in Tulcea. Quelle: Eigene Fotos, 2016.
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Frank Rochow (Max-Planck-Institut für ethnologische Forschung/ Martin-Luther-Universität Halle)
Habsburgische Militärarchitektur als gesamtgalizisches Erbe
Abstract In this article, I argue that the complex history of the military architecture erected during the 1850s in the province of Galicia is neglected in favour of a localised historiography. The scrutiny of the first constructions of the fortress in Krakau and the citadel in Lemberg reveals that the local circumstances were, although important, but only one dimension of a multi-faceted process. Accordingly, in a second step the interconnections between both projects, which despite their strict administrative separateness existed, are traced. Further, the monarchy wide perspective serves as a third dimension to show that the ideas and ideologies behind the building projects cannot be understood without having a look at the central planning institutions. I conclude that a thorough understanding of the meaning of military buildings can only be reached if the discourses, which evolved in higher military authorities, are incorporated and the links and mutual dependencies between the different places are recognized. Special attention is paid to the highly mobile staff of the military units that was trained at and participated in various building projects across the Habsburg monarchy. Therefore, their actions and decisions must be understood within a state wide or even Europe wide dialogue among experts on fortifications, engineering, and architecture. Keywords: Architecture, Habsburg Studies, Heritage, Military History, State-Building.
1.
Einleitung: Militärarchitektur als Schattenort
Wer sich mit der Frage auseinandersetzt, was von Galizien blieb und bleibt, kommt um das architektonische Erbe dieses ehemaligen habsburgischen Kronlandes nicht herum. Nicht zuletzt sind es die baulichen Überreste, die uns in einer Region, dessen Bevölkerung im 20. Jahrhundert mehrfach zum Spielball großer Politik und Opfer zivilisatorischer Erschütterungen wurde, an eine Vergangenheit vor Völkermorden, Shoa und gewaltsamen Bevölkerungsverschiebungen erinnern. Die militärischen Bauten des 19. Jahrhunderts erscheinen vor dem Hintergrund der großen Verwerfungen des 20. Jahrhunderts, die ihre Nach-
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wirkungen als „schwieriges Erbe“1 bis in unsere Zeit entfalten, oftmals eher als vernachlässigtes Erbe, das im Schatten der aktuellen Auseinandersetzungen eher einem bescheidenen Dasein fristet. Sie können in diesem Sinne als Schattenorte verstanden werden, denen in der aktuellen Forschung nur geringe Aufmerksam zuteilwird.2 Für eine Auseinandersetzung mit ihnen, kann die neuere Militärgeschichte mit ihren kulturwissenschaftlichen Ansätzen helfen, einen Zugang zu dieser besonderen Art des architektonischen Erbes zu eröffnen.3 Aufgrund der heutigen Zugehörigkeit der ehemaligen habsburgischen Provinz „Königreich Galizien und Lodomerien“ mit Polen und der Ukraine zu zwei unterschiedlichen Staaten konnte sich kein Umgang mit den baulichen Überresten herausbilden, der das gesamte ehemalige Kronland gleichermaßen kennzeichnet. Zusätzlich forciert durch die Lokalgeschichtsschreibung, die ihrer Natur nach dazu neigt, ihr Untersuchungsobjekt räumlich eng einzugrenzen, sowie der Eigenart der Tourismusbranche, potentielle Ausflugsziele als lokale Besonderheiten zu vermarkten, erfolgt heute eine Auseinandersetzung mit der habsburgischen Militärarchitektur in erster Linie in lokalen und regional eng begrenzten Kontexten. Dies wird den Objekten aber nur bedingt gerecht, so die grundlegende These dieses Exkurses. Ein Blick auf Krakau und Lemberg4 in den 1850er Jahren zeigt, dass neben den vielfältigen lokalen Anbindungen auch Beziehungen zwischen beiden Baustellen sowie eine starke Abhängigkeit von Entscheidungen in Wien, also eine reichsweite Ebene existierten. Nur in ihrer Zusammenschau kann ein Bild entworfen werden, das der Komplexität der Projekte Rechnung trägt und somit ein Verständnis für ihre Entstehung fördert, das Perspektiven über einen lokalisierten Umgang hinaus eröffnet. So vielschichtig dieser Ansatz ist, so vielfältig gestaltet sich das für diese Untersuchung in Frage kommende Quellenmaterial. Aufgrund der Kürze dieses Exkurses werden jedoch in erster Linie Dokumente des Österreichischen Staatsarchives ausgewertet, dessen Bestände aber bereits genügen, um das Potenzial der Beschäftigung mit dem Thema und seines Facettenreichtums auf1 Macdonald 2009. 2 Zur Terminologie vgl. Sabrow 2015. Die Ambivalenz von Sabrows „Schattenorten“ kommt bei Richter 2017 zum Ausdruck. Er zeigt, dass historisches Erbe einerseits einen langen Schatten werfen kann und damit vieles andere überdeckt, aber eben auch aufgrund der Schwierigkeit, mit diesem Erbe umgehen zu können, eher verdrängt zu werden droht, also selber im Schatten liegt. 3 Zur Richtung der neueren Militärgeschichte in Bezug auf die Habsburgermonarchie siehe z. B. Cole/ Hämmerle/ Scheutz 2011. Als Beispiel einer kunstgeschichtlichen Betrachtungsweise siehe Hagen 2017. 4 An dieser Stelle sei darauf hingewiesen, dass jeweils die Variante der Ortsnamen verwendet wurde, die die zeitgenössische staatliche Zugehörigkeit widergibt. Für die Schreibweise der deutschen Ortsnamen der heute polnischen und ukrainischen Orte diente die Statistische Übersicht über die Bevölkerung und den Viehbestand von Österreich von 1859 als Grundlage.
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zuzeigen. Da es außerdem darum gehen soll, die lokalen Perspektiven um eine galizische und um eine den gesamten österreichischen Kaiserstaat umfassende zu ergänzen, eignen sich die Dokumente der habsburgischen Zentralbehörden in besonderem Maße, um dem Gestaltungsanspruch der Wiener Zentrale nachzuspüren. Diese reklamierte schließlich in dem Jahrzehnt, das auf die Revolution von 1848/49 folgte, einen absoluten Herrschaftsanspruch für sich.
2.
Beschreibung der Baukomplexe
Die architektonischen Zeugen der habsburgischen Militärmacht über die beiden galizischen Städte Krakau und Lemberg könnten verschiedener kaum sein. Findet sich in der Stadt an der Weichsel eine voll entwickelte Gürtelfestung mit 28 Reduits, Forts, Türme und Lünetten,5 die sich in weitem Abstand sowohl zum Zentrum als auch zueinander um die Stadt und dem in ihr befindlichem Wawel, der in eine Zitadelle umfunktioniert wurde, herumlegen, so wurde in Lemberg in Zentrumsnähe lediglich eine Zitadelle im Wesentlichen bestehend aus einer Defensivkaserne und vier Rundtürmen erbaut.6 Beiden Orte ist aber gemein, dass die Bauten neben einer militärischen Bedeutung auch eine symbolische aufwiesen. Der Umbau des Wawel in Krakau, der bis ins 18. Jahrhundert als Begräbnisort der polnischen Könige fungierte, zum Zwecke der Stationierung habsburgischen Militärs steht hier paradigmatisch für den Herrschaftsanspruch, den die militärische Präsenz verdeutlichen sollte. Hinzu kam die Besetzung weiterer für das polnische Nationalbewusstsein wichtiger Ort, unter denen der Kos´ciuszko-Hügel westlich der Stadt an erster Stelle zu nennen ist. Diese künstliche Aufschüttung, die die sterblichen Überreste des polnischen Nationalhelden Tadeusz Kos´ciuszko beherbergte, wurde nun von einem militärischen Gebäudekomplex umgeben, der sich wie ein Ring um den gesamten Hügel schloss. Parallel dazu wurden auch der östlich Krakaus gelegene Hügel Wanda und der südlich der Stadt liegende Hügel Krakus durch militärische Bauten eingenommen. Auch wenn sich in Lemberg keine vergleichbaren Umkodierungen einzelner geografischer Punkte finden lassen, so zeigt jedoch die Positionierung der Zitadelle deutlich, dass die symbolische Komponente hier ebenfalls zum Tragen kam. Zunächst konnte der Bau aufgrund seiner Hügellage über der Stadt weithin wahrgenommen werden. Wichtiger jedoch war die unmittelbare Nähe der beiden 5 Vgl. ÖStA KA MBeh Genie GGD Hauptreihe Akten 7-9/45 ex 1850; KA KPS GPA Inland C VI a) Krakau Nr. 18. 6 Für eine detaillierte Beschreibung der Krakauer Befestigung siehe die 24 Bände der Reihe „Atlas Twierdzy Kraków“, die zwischen 1993 und 2007 erschienen ist. Für die Lemberger Zitadelle siehe Pinyazhko 2008.
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stärksten Türme des Komplexes zu dem Ossolineum, das als Inbegriff der polnischen Kulturpflege und damit Zentrum des polnischen Widerstandes gegen die österreichische Herrschaft galt.7 Im weiteren Verlauf der 1850er Jahre kam außerdem mit dem Invalidenhaus nördlich der Stadt ein weiteres Großprojekt hinzu, das die militärische Präsenz abermals enorm steigerte.8
3.
Der historische und administrative Rahmen
Die Entstehung der Festungsbauten in Krakau und Lemberg fällt in eine Zeit der beschleunigten Staatsbildung. Nach der Revolution von 1848/49 wurde das Konglomerat aus verschiedensten Territorien, aus dem die Habsburgermonarchie bestanden hatte, im Zuge einer verstärkten Integration in einen einheitlichen Staatsverband gefügt, dessen Verkörperung der Kaiser war.9 Dieser Prozess wurde durch den Abbau innerer Barrieren und dem Aufbau reichsweiter Verwaltungs- und Infrastrukturen sowie einer Förderung gesamtstaatlicher Identifikationsmöglichkeiten flankiert. Trotz seiner repressiven Seite, die durch die Gendarmerie symbolisiert wurde, wandte sich mit der Einleitung dieses Prozesses der habsburgische Staat dem Programm einer nachhaltigen Modernisierung zu, das in den 1860ern in eine Zeit des Konstitutionalismus und des Liberalismus münden würde.10 Für das Kronland Galizien brachte die Zeit dieses sogenannten Neoabsolutismus11 den vorläufigen Abschluss seiner territorialen Entwicklung,12 die 1772 im Zuge der Ersten Teilung Polen-Litauens durch Preußen, Russland und Habsburg begonnen hatte. Als Kunstgebilde geschaffen unterlag die Provinz immer wieder Gebietsveränderungen, die nur den östlichen Teil des späteren Galiziens mit Lemberg als urbanem und administrativem Zentrum durchgängig unter habsburgischer Herrschaft beließen. Die altpolnische Königsstadt Krakau als Fluchtpunkt Westgaliziens hingegen wurde, nachdem es Teil des von Napoleon initiierten Großherzogtums Warschau gewesen war, mit der Schlussakte des Wiener Kongresses der Status einer freien Stadt unter dem Schutz Preußens, Habsburgs und Russlands zuerkannt. Diesen büßte es 1846 wieder ein, als nach der Niederschlagung einer geplanten Revolution, die sich in ein unkontrollierbares Massaker verwandelte, Krakau mit seinem Umland der Do7 8 9 10 11
Prokopovych 2009, S. 135–142. Vgl. Rochow 2019, S. 177f. Vgl. u. a. Judson 2016; Deak 2015. Vgl. Judson 1998. Zur Debatte über diesen strittigen Begriff siehe Brandt 2014. Die Grenzen des neoabsolutistischen Herrschaftssystems hat zuletzt Seiderer 2015 aufgezeigt. 12 Zu den territorialen Veränderungen vgl. Haczynski 1970.
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naumonarchie einverleibt wurde. Demgegenüber präsentierte sich Lemberg aufgrund seiner Bevölkerungszahl und seiner historischen Bedeutung als Verwaltungszentrum unangefochten als Hauptstadt Galiziens. Faktisch zerfiel die Region jedoch seit 1846 in zwei Teile: in einen östlichen mit einer Ausrichtung auf Lemberg und einen westlichen, der sich nach Krakau orientierte. Diese Zweiteilung verstetigte sich auf administrativer Ebene im Verlauf der 1850er Jahre,13 so dass sowohl im zivilen als auch im militärischen Bereich neben einer zentralen Instanz in Lemberg (Statthalterei bzw. Oberkommando der IV. Armee) Unterabteilungen in den beiden Zentren Krakau und Lemberg existierten. Die militärische Organisation zu Beginn der 1850er ist jedoch weniger stringent als ihr ziviles Pendant. Parallel zu der Kommandostruktur innerhalb der IV. Armee, die ganz Galizien überzog und die nicht zuletzt dafür Sorge trug, dass die Armee im Kriegsfalle schnell handlungsfähig wäre, existierte ein administrativer Instanzenzug, der sich vom Kriegsministerium bis zu den Behördenabteilungen vor Ort ausdifferenzierte. Der Aufbau des Geniewesens, das sich in erster Linie mit der Planung und Ausführung von Bauwerken befasste, verdeutlicht dies. So bestand bis zum Jahre 1857 eine an sich unabhängige Genie-Behörde mit der in Wien ansässigen General-Genie-Direktion an der Spitze, die zu Beginn des Jahrzehnts dem Kriegsministerium untergeordnet war. Als dieses schließlich im Jahre 1853 aufgelöst wurde, bedrohte dies nicht die Existenz der Genie-Behörde, die nun lediglich dem Militäroberkommando unterstellt wurde.14 Auf Provinzebene wurden Genie-Inspektionen eingerichtet, die die Aufsicht über lokale Genie-Direktionen inne hatten.15 So befand sich die Genie-Inspektion Galiziens ebenfalls in Lemberg und übte die Aufsicht über die Genie-Direktionen in Krakau und in Lemberg aus, deren Tätigkeitsbereiche sich entweder auf West- oder Ostgalizien beschränkte.16
4.
Der lokale Rahmen der Bauprojekte
Die hierarchische Organisation wurde durch mehrere Besonderheiten des Militärs im Allgemeinen konterkariert. Zunächst wurden neben einer geografischen Einteilung ebenfalls projektbezogene Strukturen geschaffen, so dass z. B. in Krakau und Lemberg jeweils Befestigungs-Bau-Direktionen gebildet wurden, die sich ausschließlich mit der Schaffung der dortigen Fortifikationsbauten befass13 Vgl. Hof- und Staatshandbuch 1858, S. 319–477. 14 Zur Übersicht der Umstrukturierungen des Militärs vgl. Wagner 1966, S. 220ff. 15 Auf Antrag des General-Genie-Direktors Bernhard von Caboga wurden 1850 die Fortifikations-Distrikts-Direktoren in Genie-Inspektoren und die Fortifikations-Lokal-Direktoren in Genie-Direktoren umbenannte. Vgl. Rieger 1898, 1. Abschnitt, S. 131. 16 Vgl. ebd., 2. Abschnitt, S. 777f.
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ten. Diese unterstanden der Genie-Inspektion in Lemberg. Zweitens, existierten ebenfalls Genieverbände innerhalb der IV. Armee, die Feld-Genie-Einheiten. Diese waren in der Führung personell eng mit den Genie-Behörden verbunden, so dass z. B. der Genie-Inspektor für Galizien Georg Eberle außerdem FeldGenie-Direktor der IV. Armee war. Generell wurden darüber hinaus im Falle eines Krieges die Kontingente der Feld-Genie-Einheiten aus der Genie-Behörde ergänzt, was in Friedenszeiten jedoch auch andersherum funktionierte. Da die Genie-Behörden keinen Zugriff auf das Personalreservoir der Armee hatten, konnte im Bedarfsfalle nur über eine Anfrage beim Landes-Ober-Kommando um die Entsendung von Soldaten in Form von Arbeits-Detachements ersucht werden.17 Konnte so dem Arbeitskräftemangel nicht ausreichend beigekommen werden, kam schließlich ein dritter Aspekt vollends zum Tragen: die starke Durchdringung der Genie-Behörden durch zivile Kräfte. Diese fanden sich nicht nur in Form von Spezialisten – etwa als Zeichner, Bauaufseher oder Architekten18 – als Beschäftigte im Genie-Apparat wieder,19 auch private Unternehmen wurden bei der Umsetzung von Bauvorhaben, wann immer dies opportun erschien, mit der Ausführung betraut. Da die Baumaterialien möglichst preisgünstig bereitgestellt und verarbeitet werden sollten, kam nur die Produktion durch örtliche Firmen in Frage. Von der Ziegelherstellung über Maurer- und Schmiedearbeiten, von der Lieferung von Kalk, Sand und Wasser über die Bereitstellung oben erwähnten Fachpersonals wurden hunderte von Personen in den Bau der Festungswerke in Krakau und Lemberg eingebunden,20 was sich wiederum auf den örtlichen Arbeitsmarkt niederschlug. Hier zeigen sich auch die jeweiligen Besonderheiten der Region, denn auf der einen Seite erschien es in Lemberg durchweg problematisch, genügend qualifizierte Arbeitskräfte zu finden, wohingegen dies in Krakau weniger ein Thema war.21 im
17 Vgl. z. B. ÖStA KA MBeh Genie GGD Hauptreihe Akten 7-4/42 ex 1851. 18 An dieser Stelle wäre das Beispiel des Zivilarchitekten G. Müller aus Breslau zu erwähnen, der 1850 seine Tätigkeit für die Befestigungs-Bau-Direktion in Krakau aufnehmen sollte. Da er jedoch mehr Lohn verlangte, als dies im Budget von der General-Genie-Direktion veranschlagt und genehmigt wurde, musste von beiden Seiten nachverhandelt werden. Vgl. ÖStA KA MBeh Genie GGD Hauptreihe Akten 7-9/19 ex 1850. 19 Offensichtlich war die Beschäftigung von ungelernten Zivilarbeitern nicht immer einfach. So haben Ende des Jahres 1850 viele von ihnen die Baustelle wider Erwartens verlassen, was nicht zuletzt an den schlechten Bedingungen der vom Militär gestellten Unterkünfte lag. Vgl. ÖStA KA MBeh Genie GGD Hauptreihe Akten 7-6/34 ex 1850. 1852 wurde zudem festgestellt, dass die zu geringe Anzahl der Arbeiter sich auf zu niedrige Löhne zurückführen ließ. Vgl. ÖStA KA MBeh Genie GGD Hauptreihe Akten 7-3/2 ex 1852. 20 Im Normalfall wurden Aufträge jeweils für ein Jahr öffentlich ausgeschrieben. Vgl. z. B. Amtsblatt zur Lemberger Zeitung vom 28. 6. 1850, S. 916. 21 1850 wurde in Lemberg versucht, den durch Krankheit bedingten hohen Ausfall an Militärarbeitern durch zivile Arbeiter auszugleichen. Da dies mit einheimischen Kräften nur
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Januar 1852 wurde hier die Beschäftigungspolitik auf der Großbaustelle der Festung sogar als Instrument genutzt, um die aufgrund von Missernten und der strengen Witterungsbedingungen notleidende Bevölkerung des Krakauer Bezirks und des Wadowicer Kreises zu unterstützen.22 Diese Art Nothilfe konnte ebenfalls nur geografisch eng begrenzt Wirkung entfalten und unterstreicht abermals die lokale Bedeutung von Festungsbauten. Großbauwerke dieser Art beanspruchten zudem Boden in zumeist exponierten Lagen, auf denen sie errichtet werden konnten.23 Die Prozesse der Entsowie Aneignung liefen, da es sich um die Überführung von Privat- in Staatsbesitz handelte, nicht immer spannungsfrei ab und forderten manchmal die Vermittlung Dritter, welche z. B. in der Institution des Magistrats gefunden werden konnten. Dessen Anbindung an die örtliche Bevölkerung einerseits und das Erfordernis, durchaus im Sinne des sich abzeichnenden neoabsolutistischen Systems zu agieren andererseits, ließen ihn zwar mittunter in eine schwierige Lage kommen, eröffneten aber in den Verhandlungen auch Chancen für die Eigentümer. Die Rolle örtlicher vereidigter Schätzer zur Feststellung der für die zu erwerbenden Grundstücke angebrachten Entschädigungszahlungen muss hierbei als umso wichtiger verstanden werden, je länger sich die Verhandlungen bis zur endgültigen Enteignung hinzogen. Diese konnten in einigen Fällen innerhalb von Wochen abgewickelt werden. In anderen dauerte es Jahre, bis ein Abschluss erreicht wurde, wodurch Bauarbeiten verzögert wurden.24 Dies war Beweggrund genug, um auch von militärischer Seite Gesuche bei den zivilen Behörden aufzusetzen, die Enteignungen zu beschleunigen.25 1850 führte dies u. a. zu dem Befehl der General-Genie-Direktion an die Befestigungs-Bau-Direktion in Krakau, zivile Behörden bei der Übertragung der nötigen Grundstücke hinzuzuziehen.26 Doch so schwer es insgesamt ist, generelle Fronten in diesen Konflikten herauszuarbeiten, es zeigt sich doch klar, dass sich die Loyalitäten der Akteure komplex gestalteten und sich das Militär an ein im zeitgenössischen Verständnis rechtstaatliches Vorgehen hielt.
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begrenzt gelang, wurde die Anwerbung auf die umliegenden Kreise ausgeweitet. Vgl. ÖStA KA MBeh Genie GGD Hauptreihe Akten 7-9/15 ex 1850. Vgl. ÖStA KA MBeh Genie GGD Hauptreihe Akten 7-2/10 ex 1852. Eine Übersicht über anzukaufende Gründe für den Zitadellenbau in Lemberg mit dem geschätzten jeweiligen Wert findet sich unter ÖStA KA MBeh Genie GGD Hauptreihe Akten 7-6/ 37 ex 1850. So der Fall von Clementine Witting und der Baronin Josefine Humnicka in Lemberg. Bereits 1851 Thema in den Genie-Behörden beschäftigte er noch 1856 die Militärkanzlei Seiner Majestät. Vgl. ÖStA KA MBeh Genie GGD Hauptreihe Akten 7-4/48 ex 1851 und ÖStA KA AhOB MKSM Hauptreihe Akten 154 ex 1856. Vgl. die Anordnung des Statthalters Agenor Gołuchowski an die Kreisvorsteher, die Prozesse zur Akquise der für den Lemberger Zitadellenbau nötigen Grundstücke zu beschleunigen. Vgl. ÖStA KA MBeh Genie GGD Hauptreihe Akten 7-6/33 ex 1850. Vgl. ÖStA KA MBeh Genie GGD Hauptreihe Akten 7-9/24 ex 1850.
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5.
Frank Rochow
Horizontale Verbindungen zwischen beiden Projekte
Die Einbindung ziviler Akteure bei der Ausführung von staatlich organisierten Großbauten stärkt zunächst die Annahme, dass die Festungsbauten in erster Linie ein Ergebnis lokaler Aushandlungs- und Partizipationsprozesse sind. Es ergaben sich aber auch vielfache Interaktionsräume zwischen den beiden Baustellen, die dieses Bild ergänzen. Aufgrund der geografischen Zugehörigkeit zum Befehlsbereich der IV. Armee konnten zum Beispiel Kontingente von Militärarbeitern mittels Befehl des Landes-Ober-Kommandos zwischen Krakau und Lemberg je nach Bedarf verschoben werden.27 Damit konnte einerseits Druck von den jeweiligen Bau-Direktion genommen werden, in Zeiten verminderter Arbeit, sinnvolle Tätigkeiten für eine Truppe zu finden, die extra auf Anfrage beim Landes-Ober-Kommando – auch von außerhalb Galiziens – dorthin versetzt worden war, da mit der Transferierung zur anderen galizischen Großbaustelle diese Arbeiter weiterhin nutzbringend eingesetzt werden konnten. Andererseits konnte in Zeiten erhöhten Ausfalls etwa durch Krankheit unter den Arbeitern schneller Ersatz organisiert werden. Sicher spielt es hierbei keine unerhebliche Rolle, dass die neu eintreffenden Einheiten sich mit ihrem Erfahrungsschatz, den sie auf der anderen Baustelle gewonnen haben, schnell in die örtlichen Abläufe integrieren und somit den reibungslosen Arbeitsablauf befördern konnten. In wie fern diese Art des Austausches auch einen Wissenstransfer beinhaltet, wird deutlicher, wenn der Fokus von den ungelernten Arbeitern auf die Fachkräfte gerichtet wird.28 Auch wenn sich dies im Einzelnen schwer nachweisen lässt, so steht es doch außer Frage, dass Fachpersonal mit seiner Abkommandierung Wissen und Erfahrungen mitnahm und diese zum Nutzen der anderen Baustelle einfließen ließ. Doch die Interaktion zwischen der Krakauer und der Lemberger BefestigungsBau-Direktion beschränkte sich nicht nur auf den Austausch von Arbeitskräften, der ohnehin immer nur mittelbar über das galizische Landes-Ober-Kommando der IV. Armee abgewickelt werden konnte. So ist jener Fall aufschlussreich, in dem die Krakauer Direktion der Lemberger aufgrund eines Gesuchs finanziell aushalf. Dazu kam es, weil der Erwerb von Grundstücken im Jahr 1852 die im 27 Dies geschah nicht immer einvernehmlich und ohne Irritationen zwischen den Bauleitern. So etwa als in der zweiten Jahreshälfte 1850 nicht ganz klar war, wie der Arbeitskräfteverlust durch den Abzug des 1. Bataillons des Kaiser Alexander Infanterie-Regiments aus Krakau nach Lemberg kompensiert werden sollte und es daher erst einmal an der Weichsel verlieb. Vgl. ÖStA KA MBeh Genie GGD Hauptreihe Akten 7-9/32, 36, 38 ex 1850. 28 Dass ein stetiger Mangel an Fachkräften herrschte, zeigen die Dokumente aus der Anfangsphase der Baustellen. So bat die Befestigungs-Bau-Direktion in Krakau die GeneralGenie-Direktion 1850 die Hauptleute Lepowsky und Gasgeb trotz ihrer vom Landesoberkommando anbefohlenen Versetzung in Krakau zu belassen, was diese genehmigte. Vgl. ÖStA KA MBeh Genie GGD Hauptreihe Akten 7-9/25 ex 1850.
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jährlichen Budget veranschlagte Summe um knapp 30.000 Gulden überstieg. Um aber mit den Bauarbeiten nicht in Rückstand zu geraten, musste der Ankauf zeitnah erfolgen, weshalb nun eine Verschiebung auf das folgende Jahr, für das mehr Geld hätte beantragt werden können, keine Alternative darstellte. Auf Vorschlag der Lemberger Befestigungs-Bau-Direktion an die General-GenieDirektion in Wien und unter Absegnung der Genie-Inspektion für Galizien wurde aus dem durch Einsparungen geschonten Budget der Bau-Direktion in Krakau 20.000 Gulden an die Direktion in Lemberg übergeben. Eine Rückerstattung würde im folgenden Jahr durch ein angepasstes Budget, das an die Direktion in Lemberg ausgezahlt würde, erfolgen.29 Auch wenn die Initiativen zu Kooperationen zwischen den beiden Großbaustellen ebenso von der Lemberger oder Krakauer Direktion ausgehen konnten, so wurde doch deutlich, dass eine Abwicklung der Zusammenarbeit mindestens die Sanktionierung durch die zentralen Militärbehörden voraussetze, in der Regel aber auch im weiteren Verlauf unter ihrer Aufsicht vollzogen wurde. Die Bedeutung dieser höheren administrativen Ebene über die Funktion einer bloßen institutionellen Klammer hinaus wird letztlich überdeutlich, wenn die Planungsphase der Bauprojekte und die Involvierung einzelner Personen in den Blick genommen wird.
6.
Jenseits der mikrogeschichtlichen Perspektive
6.1.
Das Personal der „Genie-Waffe“30
Für die beiden bereits betrachteten Gruppen von Arbeitskräften lässt sich ein Mobilitäts- und Erfahrungsraum ausmachen, der sich innerhalb der geografischen Grenzen des Kronlandes Galizien bewegte. Bei den militärischen ArbeitsDetachements war dies durch den Aktionsradius der IV. Armee bedingt, bei den zivilen Arbeitskräften hingegen durch verschiedene Faktoren der Arbeitsmigration, wobei aber die eingeschränkten Kommunikations- und Transportmöglichkeiten über die Grenzen Galiziens hinaus sowie die administrativen Hürden eine wichtige Rolle gespielt haben. Auch unter den Männern des GenieStabes gab es einige, für die Galizien zum entscheidenden Erfahrungshorizont wurde. So führte Joseph Turnaus Weg ihn beginnend als Hauptmann 2. Klasse von Krakau nach Tarnow, wo er zum Hauptmann 1. Klasse aufstieg, wieder zurück nach Krakau und schließlich nach Lemberg. Nach insgesamt über sieben 29 Vgl. ÖStA KA MBeh Genie GGD Hauptreihe Akten 7-3/40, 42 ex 1852. 30 Dies war die damals gängige Bezeichnung des Ingenieur-Korps der k. k. Armee. Vgl. MilitärSchematismus.
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Jahren in Galizien ging es für ihn bis zum Jahre 1863 weiter nach Komorn, Budweis und Kaschau.31Turnau stellte jedoch eine absolute Ausnahme dar. Auf den unteren Rangebenen war es vorwiegend die Regel, dass die jungen Männer nach einigen Monaten bis wenigen Jahren zu anderen Festungen weiterzogen, um sich dort mit anderen Bauten vertraut machen und sich im Festungsbau in möglichst vielfältiger Weise üben zu können. Vor dem Hintergrund, dass 1850 und 1851 ausschließlich Personal nach Lemberg und Krakau entsandt wurde, das – abgesehen von den Direktoren – höchstens den Rang eines Hauptmanns 1. Klasse32 inne hatte, ergab sich für beide Direktionen ein erhebliches Kontinuitätsproblem. Dies wurde zunächst teilweise durch die erwähnten Direktoren aufgefangen. Mit Cornelius Wurmb in Krakau (1850 bis 1858) und Joseph Rudolph in Lemberg (1850 bis 1856) sorgten zwei erfahrene Männer an der Spitze der jeweiligen Direktion über die Umstrukturierungen zu Beginn der 1850er Jahre hinaus für die nötige Kontinuität. Diese war freilich im Krakauer Fall ungleich nötiger, da hier der Aus-/Bau der Festung weiter voranschritt. In Lemberg war zu dieser Zeit der bereits Zitadellenbau abgeschlossen. Ihm schlossen sich im Zuge des Krimkrieges lediglich einige Feldbefestigungen an. In der zweiten Hälfte des Dezenniums stellte wiederum der Bau des Invalidenhauses die größte Herausforderung dar, die jedoch im Vergleich zu den Bauten in Krakau in seiner Komplexität wesentlich übersichtlicher war. Institutionell zusammengehalten wurden die beiden Direktionen durch die Person Georg Eberles, der von 1851 bis zu seinem Tod 1855 als Genie-Inspektor für Galizien fungierte.33 Unterhalb der Führungsränge herrschte jedoch die Fluktuation vor. Das Beispiel Turnau bestätigt dies, da auch er, obwohl er sich insgesamt über sieben Jahre in Galizien aufhielt, immer wieder den Einsatzort wechselte. Dabei kam er aber immerhin auf Aufenthaltszeiten um die zwei Jahre pro Ort. Alfred Becher, der eher als Beispiel der vorherrschenden Verhältnisse gelten kann, verbrachte in der Genie-Direktion in Lemberg nur ein gutes Jahr, wohin er nach zweieinhalb Jahren wieder für fünf Monate zurückkehrte, um von dort nach Gura Humora weiterzuziehen, wo er ein Jahr und zwei Monate an den Feldbefestigungen mitarbeitete.34 Zu den erklärten Ausnahmen, die vor dem Hintergrund dieser per31 Vgl. KA Pers CL 45 Individual-Beschreibung des Hauptmanns 1. Klasse Josef Turnau, Edler von Dobrˇic´ ex 1863. 32 Die Ränge gliedern sich hierarchisch von unten nach oben wie folgt: Lieutenant bzw. Unterlieutenant 2. & 1. Klasse, Oberlieutenant, Hauptmann 2. & 1. Klasse, Major, Oberstlieutenant, Oberst, General-Major, Feldmarschall-Lieutenant, wobei die Verweildauer auf einem Rang tendenziell zunahm, je höher der Rang war und die Anzahl derjenigen, die den Rang innehatte, abnahm. Vgl. Militär-Schematismus. 33 Vgl. Militär-Schematismus 1850–1859. 34 Vgl. KA Pers CL 45 Individual-Beschreibung des Hauptmanns 1. Klasse Alfred Becher ex 1855/6.
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sonellen Unbeständigkeit umso wichtiger erscheinen, zählen Personen wie Heinrich Keil, der, nachdem er als Oberlieutenant 1850 zur Befestigungs-Direktion Krakau kam, dort drei Jahre, neun Monate und 22 Tage verblieb. Keil stieg in dieser Zeit zum Hauptmann 2. Klasse auf und konnte miterleben, wie unter dem Direktor Cornelius Wurmb der Personalbestand der Direktion sukzessive anstieg und mit neun Männern 185335 seinen vorläufigen Höhepunkt erreichte.36 Er traf hierbei auf den zwei Jahre älteren, in Zürich geborenen Maximilian von Orelli, der wiederum bereits nach knapp eineinhalb Jahren nach Venedig weiterzog, wo er jedoch weniger als sechs Monate verbrachte.37 Schien in Krakau mit Heinrich Keil noch ein gewisses Maß an Kontinuität gewahrt werden zu können, so überwog die Fluktuation in der Befestigungs-BauDirektion Lemberg insbesondere zu Beginn der 1850er Jahre vollends. Hier spitzte sich die Lage durch einen Sterbefall und eine Dienstquittierung noch zusätzlich zu.38 Einzig der Hauptmann (zunächst 2., dann 1. Klasse) Michael Maly kann als beständiges Mitglied der Behörde in den Jahren 1851 bis 1855 ausgemacht werden. Erst 1853 gesellten sich mit Theodor Niedczielski, Franz Bayer und Hipolit von Bochdan39 weitere Personen hinzu, die über einige Jahre so etwas wie die Stammbelegschaft bildeten, wobei sich deren Verweildauer in Lemberg nur teilweise überschnitt.40 In der Regel zogen die Männer in der ersten Hälfte der 1850er Jahre stets, wie oben deutlich wurde, nach etwa einem Jahr weiter. Ihre Wege führten sie dabei in alle Teile der Monarchie führte und zuweilen auch darüber hinaus.41
35 An dieser Stelle sei darauf hingewiesen, dass die Militär-Schematismen nur Momentaufnahmen sein können und zudem auch zeitverzögert erschienen sind. 36 Vgl. KA Pers CL 45 Individual-Beschreibung des Hauptmanns 1. Klasse Heinrich Ritter von Keil ex 1861. 37 Vgl. ebd. Individual-Beschreibung des Hauptmanns 1. Klasse Maximilian von Orelli ex 1863. 38 Adam Peisker verstarb am 22. Januar in Lemberg, nachdem er nur etwa ein Jahr in der dortigen Genie-Direktion tätig gewesen war. Im März desselben Jahres quittierte Theodor Ritter v. Niedczielski ebenfalls in Lemberg seinen Dienst. Vgl. KA Ms-Tg. 12 Offiziers-Index. 39 Bochdan diente während seiner Zeit in Lemberg unter den Direktoren Rudolph, Türckheim, Romano und Weiss, womit er Ende 1859 insgesamt knapp fünfeinhalb Jahre in Lemberg verbracht hatte. Vgl. KA Pers CL 49 Conduite-Liste über den Offizier Hipolit Ritter von Bochdan ex 1859. 40 Vgl. Militär-Schematismus 1851–1859. 41 Nachdem Franz Freiherr Pidoli von Quintenbach 1852 bis 1854 in Krakau und 1855 in Przemysl verbracht hatte, wurde er als Genie-Direktor nach Rastatt entsandt. Vgl. Schematismus 1852–1856.
266 6.2.
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Krakau und Lemberg als Teile eines monarchieweiten Befestigungssystems
Die Idee zur Befestigung Krakaus und Lembergs war eine Reaktion auf die Revolution 1848/49, die den zeitweisen Kontrollverlust über weite Teile des zur Monarchie gehörenden Territoriums mit sich brachte. Um ähnlichen Gefahren in Zukunft vorzubeugen, beauftragte der junge Kaiser Franz Joseph I. im November 1849 eine Kommission mit der Ausarbeitung einer monarchieweiten Befestigungsstrategie.42 Trotzdem es 1848/49 in Galizien abgesehen von einem durch General Wilhelm Freiherr von Hammerstein-Ecquord durch ein Bombardement Lembergs schnell niedergeschlagenen Aufstand relativ ruhig geblieben war,43 wurden die Unruhen aus den Jahren zuvor als Indikator des dort existierenden Bedrohungspotenzials gewertet, was eine starke Berücksichtigung Galiziens in den Plänen zur Folge hatte. Diese sahen zunächst eine Fortifizierung aller bevölkerungsreichen Städte der Monarchie vor, „um diese Stützpunkte der revolutionären Umtriebe in den Händen der Regierung zu erhalten, und die vorhandenen Staatsgüter möglichst zu sichern.“44 Für Galizien bedeutete dies, dass in erster Linie Krakau und Lemberg mit Festungsbauten ausgestattet werden sollten. Im Lemberger Fall wurde dieser Entscheidung bereits durch den 1849 angeordneten Bau einer Zitadelle auf der sogenannten Türkenschanze südwestlich des Stadtzentrums zuvorgekommen, die nun aber bereitwillig in die Konzeption aufgenommen wurde.45 Auch im Krakauer Fall wurden mit dem Wawel bereits vorhandene bauliche Strukturen bereitwill in die neuen Überlegungen eingearbeitet. Die Gründe für die letztlich unterschiedliche Ausgestaltung der beiden Festungsbauten erklären die Mitglieder der Zentralbefestigungskommission durch eine Differenzierung nach deren strategischer Ausrichtung.46 Gegen die wahrgenommene Bedrohung des „inneren Feindes“ sollte einerseits in beiden Städten eine dem Stadtzentrum nahe Befestigung entstehen, welche die jeweilige Stadt „im Zaum“ halten konnte. Dem entsprach die Adaption des Wawel und der Bau der Zitadelle in Lemberg. Die Funktion der anderen Teilprojekte lag andererseits primär in dem Schutz vor einer äußeren Bedrohung. Dies betraf die Errichtung eines weitläufigen Festungskomplexes um Krakau herum ebenso wie die Idee, auch in Przemysl, Tarnow und Zaleszczyki Befestigungsanlagen herzustellen. 42 43 44 45
Vgl. Wagner 1987, S. 178ff; ders. 1966, S. 49f. Vgl. Vushko 2015, S. 206–230. Rieger 1898, S. 601. Letztlich bewilligt wurde der Bau mit dem entsprechenden Budget erst 1850. Vgl. ÖStA KA AhOB MKSM Hauptreihe Akten 1365 ex 1850. 46 Vgl. Memoire des Vorsitzenden der Kommission, ÖStA KA AhOB MKSM Hauptreihe Akten Hauptreihe Akten 2709 ex 1850.
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Auch Lemberg wurde in die strategischen Überlegungen einbezogen, ohne jedoch den weiteren Ausbau der dortigen Zitadelle zur Folge zu haben. Grundlage für dieses Elaborat stellten zwei Prämissen dar: Erstens, galt es als militärstrategisch sinnvoll, befestigte Ort nicht weiter voneinander entfernt zu halten als etwa 30 Meilen, um die Kommunikationsfähigkeit zu garantieren. Zweitens, galt das Königreich Galizien geografisch als schwer zu verteidigen, da es im Wesentlichen aus „offene[m] Hügelland mit sumpfigen Niederungen“47 bestand, die jeglicher natürlicher Barriere, die den Vormarsch einer feindlichen Armee hätte verzögern oder gar stoppen können, entbehrte. Erst die Karpaten boten den hierfür nötigen Widerstand.48 Daraus ergab sich einerseits, dass es nicht ausreichte, einige wenige Punkte zu befestigen. Stattdessen musste das gesamt Kronland mit einem unter einander militärisch gut vernetzten System befestigter Orte überzogen werden. Andererseits gewannen Verkehrsknotenpunkte und die Flüsse Weichsel, San und Dniester als einzige ernst zu nehmende natürliche Hindernisse an Bedeutung. Da auf Krakau – im Gegensatz zu Lemberg – viele dieser Eigenschaften zutrafen und es sich zudem auf der Hauptoperationslinie von Warschau Richtung Wien befand, gestand die Kommission der Stadt die wichtigste Rolle in der Verteidigung der nordöstlichen Flanke der Monarchie zu.49 Nicht zuletzt aus finanziellen Gründen wurden die Pläne zur permanenten Befestigung Tarnows, Przemysls und Zalszczykis zunächst zwar wieder fallen gelassen,50 aber die Idee zu einer umfassenden Befestigung Galiziens, in der Przemysl eine wichtige Rolle spielte, wurden bereits wenige Jahre später zur Zeit des Krimkrieges wiederbelebt und anfänglich zwar mit Vorbehalten, in den folgenden Jahrzehnten bis zum ersten Weltkrieg aber umso energischer umgesetzt.51 Mit der Reduktion der zu befestigenden Punkte zu Beginn der 1850er Jahre auf Krakau und Lemberg wurde die Position letzteres in den strategischen Planungen gestärkt, galt es doch, hier eine Bastion zu errichten, die im Kriegsfall genug militärischen Widerstand gegen Invasoren hervorrufen sollte, um nicht nur die Stadt selber zu halten, sondern auch den gesamten Ostteil Galiziens. Dies mündete in Pläne zu einer umfassenden Befestigung, die ebenfalls während des Krimkrieges konkretisiert, aber kurze Zeit später – wiederum aus finanziellen Gründen – ad acta gelegt wurden. Darin wurde ähnlich dem System in Krakau die Herstellung von Bastionen um die Stadt herum vorgeschlagen, die sich jedoch
47 48 49 50 51
ÖStA KA AhOB MKSM Hauptreihe Akten 2709 ex 1850, Memoire, S. 19. Zur Wahrnehmung Galiziens siehe auch Maner 2007. Vgl. MKSM Hauptreihe Akten 2709 ex 1850, Memoire, S. 19ff. Vgl. Rieger 1898, 2. Abschnitt, S. 601. Vgl. Forstner 1987.
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mit zwei Ringen, einem engeren und einem weitläufigeren, weit umfangreicher zeigten, als dies in Krakau der Fall war.52 Was dieser kurze Blick in die Planungsgeschichte der Befestigungsbauten in Galizien zu Beginn der 1850er Jahre verdeutlicht, ist die konzeptionelle Verbindung der verschiedenen Projekte.53 Von zentralen Institutionen der Monarchie geplant, schrieben sie ihnen eine Existenzberechtigung zu, die in doppelter Hinsicht auf den Bestand des Staates ausgerichtet war. Zum einen sollten die Provinzen für die Monarchie gesichert und deren Bestand unter der Herrschaft der Habsburger garantiert werden. Zum anderen wurden die Hauptoperationslinien, die eine feindliche Armee auf dem Weg nach Wien einschlagen würde, gesperrt und das Zentrum somit geschützt. Institutionell und personell verkörperte diese Ideen Heinrich Freiherr von Hess, der, bereits in der Funktion eines Generalquartiermeisters in unmittelbarer Umgebung des Kaisers tätig, aufgrund der Vertrauensbeziehung zu diesem mit der Position des Vorsitzenden der Zentralbefestigungskommission betraut wurde.54 Doch auch der Kaiser selbst hatte ein starkes Interesse an fortifikatorischen Fragen und machte von seiner Prärogative als Oberbefehlshaber der Armee nicht davor Halt, sich auch in Detailfragen einzumischen.55 So können wir insgesamt davon ausgehen, dass die angepassten Entwürfe der Zentralbefestigungskommission letztlich auch die Meinung des Monarchen widerspiegeln. Von Anfang an handelte es sich in den Denkschriften und Planungen zur Befestigung der Monarchie also um Entwürfe, die nur als ein den gesamten Staat umfassendes System verstanden werden können. Und so, wie sich die Pläne für Galizien in eine monarchieweite Perspektive integrierten, müssen auch die einzelnen Bauten in Galizien als Teil einer Gesamtstrategie gesehen werden. Dies schlug sich auch auf die Ausarbeitung der Baupläne nieder, wie sie in der GenieBehörde durchgeführt wurde. So gab es einerseits eine Vielzahl von Vorlagen, die zentral von der General-Genie-Direktion ausgegeben wurden und in erster Linie technische Details erörterten und finanzielle Rahmen vorgaben. Ein anderes Mittel, das den monarchieweiten Rahmen des Austausches bezeugt, besteht in der Adaption bereits bestehender Festungen an die örtlichen Gegebenheiten um den Planungsprozess zu vereinfachen und zu beschleunigen. So erhielt die Befestigungs-Bau-Direktion in Lemberg auf Anfrage als Vorlage für den projektierten Zitadellenbau u. a. die Pläne aus Ragusa als Grundlage.56 Dazu fügte sich 52 Pinyazhko 2012, S. 105ff. 53 Zur Verbindung der architektonischen Gestaltung der militärischen Präsenz in Wien und Lemberg siehe Rochow 2019. 54 Zur besonderen Rolle Hess’ im militärischen System der frühen 1850er siehe Zeinar 2006, S. 333f. 55 Vgl. Rieger 1898, 1. Abschnitt, S. 128. 56 Vgl. ÖStA KA MBeh Genie GGD Hauptreihe Akten 7-6/4 ex 1850 und 7-4/7 ex 1851.
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außerdem eine lebendige Debatte zum Thema Festungsbau, die einerseits behördenübergreifend innerhalb der Monarchie vor sich ging,57 aber sich andererseits auch als Teil eines europäischen Diskurses wiederfand.58
7.
Festungsbau als histoire croisée?
Der Blick auf die Planungs- und Entstehungsgeschichte militärischer Bauten in Krakau und Lemberg hat neben einer lokalen die Bedeutung der regionalen und der monarchieweiten Perspektive bestätigt, wobei Entscheidungen auf der einen Ebene zu Rückwirkungen auf den anderen und der stetigen Einbeziehung aller hierarchischen Stufen der Militäradministration in den Entscheidungsfindungsprozess führten. Diese Komplexität wird durch eine starke Fluktuation des Genie-Stabes zusätzlich gesteigert, findet ihren Gegensatz aber in der konstanten Anbindung an lokale Interaktionen, etwa in der Zusammenarbeit mit örtlichen Firmen. Deren Sichtweisen konnten auf Grund des herangezogenen Quellenmaterials ebenso wenig berücksichtigt werden wie diejenigen ziviler Behörden. Beide würden dem Untersuchungsgegenstand eine weitere Tiefe verschaffen, die abermals eine Komplexitätssteigerung zur Folge hat und letztlich ein umfassendes Bild der Funktionsweise des administrativen Apparates des habsburgischen Staates entstehen lassen kann. Worauf an dieser Stelle noch einmal hingewiesen sein soll, ist der Blick über die Grenzen des habsburgischen Staates hinaus. Mit der Errichtung von Festungen in Grenzregionen findet immer auch eine Kommunikation mit der Gesellschaft jenseits der Grenze statt, da diese implizit (zum Schutz des eigenen Staates vor einem befürchteten oder erwarteten Angriff des Nachbarstaates) oder explizit (als Operationsbasen für Angriffe auf den Nachbarstaat) gegen diese gerichtet ist. Ein allumfassender Blick würde daher auch die Reaktionen auf der anderen Seite der Grenze in die Betrachtung einbeziehen und so letztlich das Verständnis von Grenzregionen als Räume der militärischen Interaktion denn als solche der Abschottung stärken. Im galizischen Fall würde dies in erster Linie die Berücksichtigung des Russischen Staates in der Darstellung und damit eine Ausweitung der Analyse bedeuten, die sich letztlich in einer Linie mit den For-
57 Als Beispiel sei die Debatte zwischen Genie- und Artillerie-Institutionen zu neuen Befestigungsmechanismen von Geschützen in Festungen erwähnt. Vgl. ÖStA KA MBeh Genie GGD Hauptreihe Akten 7-3/24, 25, 35, 37, 50 ex 1852. 58 Dies verdeutlicht etwa die Diskussion, die das Buch „Grundzüge eines absoluten Befestigungs-Systems im Geiste der Kriegsführung der Zukunft“ eines Prof. Wissmüllers aus Ravensberg (Königreich Württemberg) 1851 innerhalb der Führungsregie des Staates ausgelöst hat. Vgl. ÖStA KA AhOB MKSM Hauptreihe Akten 259 ex 1851.
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schungsansätzen einer histoire croisée59 und einer transnationalen Geschichtsschreibung wiederfindet.
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