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German Pages 231 [234] Year 2014
Jürgen Angelow / Johannes Großmann (Hg.)
Geschichte Franz Steiner Verlag
Wandel, Umbruch, Absturz Perspektiven auf das Jahr 1914
Jürgen Angelow / Johannes Großmann (Hg.) Wandel, Umbruch, Absturz
Jürgen Angelow / Johannes Großmann (Hg.)
Wandel, Umbruch, Absturz Perspektiven auf das Jahr 1914
Franz Steiner Verlag
Gedruckt mit der freundlichen Unterstützung von Dr. Klaus Halbhübner, Dipl. Pol. Burkhardt Otto (FAB Gesellschaft für Investitionsberatung), Dr. Hans-Hermann Ponitz und Dr. Jürgen K. Wied.
Umschlagabbildung: Deutsche Soldaten auf dem Chemin des Dames, aus: Der Weltkrieg im Bild. Originalaufnahmen des Kriegs-Bild- und Filmamtes aus der modernen Materialschlacht, Berlin 1926, S. 177. Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek: Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über abrufbar. Dieses Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist unzulässig und strafbar. © Franz Steiner Verlag, Stuttgart 2014 Druck: Offsetdruck Bokor, Bad Tölz Gedruckt auf säurefreiem, alterungsbeständigem Papier. Printed in Germany. ISBN 978-3-515-10913-0 (Print) ISBN 978-3-515-10914-7 (E-Book)
INHALTSVERZEICHNIS Vorwort ............................................................................................................. 7 EINLEITUNG .................................................................................................. 9 Jürgen Angelow Zocker, Schlafwandler, Hypochonder. Der Kriegsausbruch von 1914 als Gegenstand der historiographischen Reflexion ......................................... 11 WANDEL. GLOBALE WAHRNEHMUNGS-, KOMMUNIKATIONS- UND HANDLUNGSMUSTER .............................. 27 Stefan Rinke „Ein monströses Attentat gegen die menschliche Kultur“. Der Kriegsausbruch 1914 in Lateinamerika ................................................... 29 Boris Barth Die Auswirkungen des Kriegsausbruchs auf eine globalisierte Weltwirtschaft ................................................................................................. 43 Daniel Marc Segesser Verrechtlichung des Krieges? Völkerrechtliche Konventionen und das Ius in Bello im Vorfeld und zu Beginn des Ersten Weltkrieges ..................... 57 Florian Kerschbaumer Die Zerstörung des globalen Dorfes? Internationalität und Erster Weltkrieg: Netzwerke, Organisationen und Interaktionen ............................. 69 UMBRUCH. NATIONALE DISKURSE, IRRITIERTE STAATLICHKEIT UND NEUTRALITÄTSKONZEPTE ............................ 81 Volker Prott „Ruhe an der Grenze!“ Irritierte Loyalitäten und politische Entfremdung in Elsass-Lothringen zu Beginn des Ersten Weltkriegs .................................. 83 Agnieszka Kudełka Das galizische „Pulverfass“ und der Beginn des Ersten Weltkriegs. Eine Krisenregion zwischen Österreich-Ungarn und Russland .............................. 95
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Inhaltsverzeichnis
Christoph Brüll und Christophe Bechet Eine lästige Garantie. Die belgische Neutralität in den deutschen und französischen Kriegsszenarien ...................................................................... 111 Gabriele B. Clemens Macht und Ehre. Italien zwischen Neutralität und Intervento ...................... 125 Lothar Höbelt To fight or not to fight? Die „Späteinsteiger“ und ihre Entscheidung für den Krieg ................................................................................................. 139 ABSTURZ. KONKURRIERENDE DEUTUNGEN, FEINDBILDER UND MILITÄRISCHER ILLUSIONISMUS .............................................. 151 Malte König Sexualmoral und Geschlechterhierarchie. Rückwirkungen des Ersten Weltkriegs in Deutschland und Frankreich .................................................. 153 Guntram Schulze-Wegener Vom Prestigeobjekt zum Gewaltinstrument. Militärischer Illusionismus der Kaiserlichen Marine................................................................................ 165 Lauritz Wichmann „The Hun is at the gate“. Der Wandel nationaler Stereotypisierungen vor 1914 und die Perzeption des Deutschen Kaiserreichs durch die Entente-Mächte ....................................................................................... 179 Ralph Sowart Wer überschritt 1914 den Rubikon? Österreich-Ungarische und deutsche „Entscheidungen“ für den „Dritten Balkankrieg“ ......................... 197 AUSBLICK .................................................................................................. 217 Johannes Großmann 1914 als europäischer Erinnerungsort? Geteiltes, paralleles und gemeinsames Gedenken an den Beginn des Ersten Weltkriegs ................... 219
VORWORT Der Erste Weltkrieg hat die Welt wie kaum ein anderes Ereignis der neueren Geschichte verändert. Einmal ausgebrochen, entwickelte dieser Krieg eine suggestive Sogwirkung von steigender Intensität und wachsendem Ausmaß – nicht nur in räumlicher Hinsicht, sondern auch mit Blick auf die eingesetzten Mittel und Gewaltinstrumente, die personellen und materiellen Ressourcen, die Emotionen, die Willensanstrengungen und die Opferbereitschaft. Die im Titelbild gegen die gelichteten Höhen des Chemin des Dames an der Aisne vorgehende deutsche Infanterie steht sinnbildhaft für die Erfahrungen und das Leiden aller am Krieg beteiligten Soldaten. Der Ort selbst gehörte zu den am meisten umkämpften Regionen der Westfront. Auf wenigen Quadratkilometern fanden hier seit 1917 einige der blutigsten Gemetzel des Krieges statt. Doch Ort, Zeit und Akteure sind austauschbar. Die Szene könnte sich genauso bei Verdun, vor Lemberg, bei Gorlice, an der Donau oder am Isonzo abgespielt haben. Sie illustriert das Schicksal des universal soldier, der gleichsam zu einem transnationalen Erinnerungsort geworden ist. Der vorliegende Sammelband nimmt den 100. Jahrestag des Kriegsausbruchs von 1914 zum Anlass, um nach der Scharnier- und Umbruchfunktion dieses Ereignisses und den unterschiedlichen Geschwindigkeiten historischen Wandels in seinem zeitlichen Umfeld zu fragen. Er unterstreicht Kontinuitäten und grenzüberschreitende Verflechtungsprozesse, verdeutlicht die Wechselbeziehung zwischen kollektiven Mentalitäten und individuellen Entscheidungen und verknüpft unterschiedliche thematische, räumliche und methodische Perspektiven. Die Beiträge setzen den globalen Wandel von Wahrnehmungs-, Verhaltens- und Kommunikationsmustern in Bezug zu nationalen, regionalen und lokalen Diskursen und Entscheidungszwängen in der „Julikrise“. Sie fragen nach der Bedeutung politischer, militärischer und zivilgesellschaftlicher Transnationalisierungsprozesse und konfrontieren diese mit den politischen Visionen, den militärischen Illusionen und den nationalistischen Reflexen des Sommers 1914. Zwei Beiträge der beiden Herausgeber zur Historiographie- und Erinnerungsgeschichte rahmen den Band ein. Die Texte stammen teils aus der Feder jüngerer Historiker, teils von Kollegen, die mit der Materie seit langem vertraut sind. Sie spiegeln die unterschiedlichen Herangehensweisen wider, welche die Betrachtung des Gegenstandes bis heute bestimmen und dadurch die Vielschichtigkeit des historischen Ereignisses abbilden. Die beiden Herausgeber möchten sich für die engagierte Mitwirkung der Autoren und deren Geduld bei der Bearbeitung der Texte bedanken. Bei den formellen Korrekturen wurden die Herausgeber unterstützt von Daniel Hadwiger, dem hier ausdrücklich Dank gesagt werden soll. Bei der Umbruchkontrolle half Lena Nothacker. Die Herausgeber konnten ihre Überlegungen bei zahlreichen Gelegen-
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Vorwort
heiten darlegen und zur Diskussion stellen. Viele Anregungen von Kollegen und Freunden haben daher Eingang in diesen Band gefunden. Dank gebührt dem Franz Steiner Verlag, namentlich Katharina Stüdemann und Sarah Schäfer, für die Aufnahme des Bandes in ihr Verlagsprogramm und die freundliche und gewissenhafte Begleitung der Drucklegung. Besonders sind die Herausgeber jenen privaten Spendern verbunden, die mit ihrer Unterstützung einen entscheidenden Teil zum Gelingen beigetragen haben. Jürgen Angelow und Johannes Großmann, Berlin und Tübingen im Juli 2014
EINLEITUNG
ZOCKER, SCHLAFWANDLER, HYPOCHONDER Der Kriegsausbruch von 1914 als Gegenstand der historiographischen Reflexion Jürgen Angelow Von Beginn an war der Erste Weltkrieg nicht nur ein realhistorisches Phänomen sondern auch eines der Medien und der bewertenden Reflexion. Seit 1914 haben sich Publizistik und historische Forschung des Kriegsausbruchs aus sehr unterschiedlichen Blickwinkeln sowie mit sehr verschiedenen Intentionen und Stoßrichtungen angenommen. Gewandelte politische Konstellationen, veränderte Fragen an die Geschichte sowie verbesserte wissenschaftliche Erkenntnisbedingungen und Methoden haben dabei Pate gestanden und modifizierend gewirkt. Mit der Überwindung nationaler Antagonismen und Engstirnigkeiten hat sich der Blick der Forschung zugleich auch auf die miteinander verflochtenen Verantwortlichkeiten der einzelnen Akteure erweitert. So hat der Abbau politischer Konflikte in Europa auch zu einer größeren Offenheit der historischen Betrachtungen geführt. Keine der maßgeblichen Regierungen in Europa konnte für sich in Anspruch nehmen, genug getan zu haben, um diesen folgenschweren Schritt aus der Zivilisation zu verhindern. Obwohl beinahe alle führenden Staatsmänner des „alten Europa“ den Kriegsausbruch bedauerten und einen großen Krieg keineswegs als wünschenswert ansahen, fanden sich doch überall Inkonsistenz, Mut- und Verantwortungslosigkeit, Verblendung und Unfähigkeit. Dies im Einzelnen nachzuzeichnen, ist hier nicht der Ort.1 Weil die Aufarbeitung der nationalen Akteursperspektiven im Einzelnen sehr ungleich vorangekommen ist, wissen wir bis heute viel zu wenig über einige Regionen und Länder, zum Beispiel über Serbien. Dennoch wäre es wenig sinnvoll, die Handlungen einzelner Akteure unter dem Brennglas zu sezieren, um ihren Anteil am Kriegsausbruch festzustellen oder sie als Schuldige dingfest machen zu wollen, ohne diese Betrachtung mit der der anderen Akteure in eine Beziehung zu setzen und zu vergleichen. Isolierte Nationalgeschichten zum Kriegsausbruch von 1914 versprechen zwar noch immer neue Erkenntnisse und fördern bislang unbekannte Details zutage. Sie können aber die Frage nach den Verantwortlichkeiten nicht beantworten und führen oft zu einer verzerrten Wahrnehmung der komplexen Ereignisse. Da es gegenwärtig nicht mehr – wie 1914 – darum geht, nationale Kollektive zu mobilisieren, und geschichtliche Forschung auch nicht mehr – wie 1
Vgl. Jürgen Angelow, Der Weg in die Urkatastrophe. Der Zerfall des alten Europa 1900– 1914, Berlin 2010, insbesondere S. 26–30 und 163–167.
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nach den Pariser Vorortverträgen – der Legitimation oder Zurückweisung einer prekären Friedensordnung dient, können bis heute bestehende nationale Forschungsdesiderata unbefangener abgebaut werden. Dadurch erhalten synthetisierende Arbeiten neue Impulse. Die Behauptung der Kriegsschuld eines einzelnen Akteurs ist heute obsolet geworden. Sie ist einer Perspektive gewichen, die befreit ist von tagespolitischen Belastungen, nationalen Feindbildern und den Interventionen von Zeitzeugen. Diese neue Sichtweise kann Schuld und Verantwortung besser in ihren gegenseitigen Verschränkungen mit dem politischen Entscheidungshandeln verdeutlichen. Konsequenterweise muss sie im transnationalen Vergleich münden. Sie bietet methodische Anschlussmöglichkeiten im Bereich der Soziologie und Politologie – unabhängig davon, ob die jeweilige Darstellung zum Kriegsausbruch eher systematisch-analytisch oder narrativ angelegt ist. * Der mit dem Kriegsbeginn des Jahres 1914 einhergehende zivilisatorische Zusammenbruch hat viele Verbindungen zwischen Gesellschaften, Kulturen und politischen Gestaltungen zerrissen, hat den Welthandel ruiniert, die Logik des Internationalismus in bipolare Bahnen gelenkt und die Muster gegenseitiger Wahrnehmung banalisiert. Von nun an gab es Freunde und Feinde, „Händler und Helden“. Welches Tempo diese Veränderungen aufwiesen und ob sie sich als Wandel, Umbruch oder Absturz darstellten, ist je nach Blinkwinkel und Untersuchungsgegenstand unterschiedlich zu beantworten. Am Ende hatten sich nicht nur die europäischen Gesellschaften verändert. Auch die Welt war eine andere geworden. Jener Geist des Kosmopolitischen, der von Stefan Zweig in seiner „Welt von gestern“ beschrieben worden ist, war nationalen Patriotismen, bündnissolidarischen Affekten und binären Deutungshorizonten gewichen. Dieser Zustand blieb – mit einigen Unterbrechungen und Umwandlungen – im Grunde viele Jahrzehnte bestehen. Der Geist des Krieges prägte auch die frühe Beschäftigung mit dem Kriegsausbruch. In literarischer Hinsicht blieb diese zunächst auf die Presse, bald auch auf apologetische Rechtfertigungsschriften beschränkt. Eine ernsthafte historische Reflexion konnte erst stattfinden, als der Krieg abgeschlossen war, die politischen Konturen der Nachkriegsordnung besser erkennbar und die Ereignisse anhand von Archivquellen wenigstens in Ausschnitten rekonstruierbar wurden. Doch geschah dies nur ausnahmsweise mit der nötigen quellenkritischen Distanz, da auch die Historiker in den politischen Auseinandersetzungen ihrer Zeit gefangen waren. Die ersten Darstellungen zum Kriegsausbruch basierten auf den so genannten Farbbüchern, umfassenden nationalen Aktenpublikationen und Quellensammlungen. Ihr Entstehungskontext war zunächst die Auseinandersetzung um Schuld und Verantwortung für den Kriegsausbruch, aber auch der Aufdeckungseifer revolutionärer Nachkriegsregierungen. Zwar enthielten diese Farbbücher durchaus auch selbstkritische Passagen. Dennoch folgten sie in ihrer Unausgewogenheit einer manipulierenden Grundtendenz und einem einseitigen Geschichtsverständnis, das
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den Staat und das diplomatische Handeln seiner politischen Verantwortungsträger in den Mittelpunkt rückte und weite Bereiche der Gesellschaft und Kultur ausklammerte. Die Publikation der deutschen Akten2 verfolgte das Ziel, die Kriegsschuldthese des Versailler Vertrages3 zu widerlegen. Das mit der Aktenherausgabe betraute Auswärtige Amt war selbst an der Kampagne gegen die Kriegsschuld beteiligt und unterstützte mit dieser Zielsetzung die Erforschung der Kriegsursachen. Hierzu hatte es bereits Ende 1918 das „Spezialbüro Bülow“ eingerichtet, das 1919 zum „Kriegsschuldreferat“ umgebildet wurde. Die Aufgabe dieser Einrichtungen bestand darin, als interne Zensurstelle einen verbindlichen Deutungskonsens zu organisieren, Abweichler auszuschalten, die internationale Fachwelt mit Deutschland entlastenden Informationen zu versorgen und entsprechende Forschungsarbeiten wohlwollend zu honorieren.4 Sofort nach ihrer Veröffentlichung wurde den deutschen Akten von französischer Seite Verschleierung vorgeworfen. Paris reagierte prompt mit einer eigenen Aktenedition, um die deutsche Kampagne zu konterkarieren.5 Die österreichischungarischen Akten wurden präventiv herausgegeben,6 um dazu nicht irgendwann unter weniger günstigen Vorzeichen gezwungen zu werden. Die sowjetische Quellenedition versuchte den Nachweis zu erbringen, der Krieg sei vom Zaren und vom französischen Präsidenten Raymond Poincaré initiiert worden. Sie sollte damit sowohl den imperialistischen Charakter der zaristischen Regierung entlarven als auch französischen Forderungen nach Rückzahlung der Vorkriegsdarlehen 2
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Von besonderer Bedeutung für die langfristige deutsche Perspektive und jede Analyse der Außenpolitik des Kaiserreichs: Johannes Lepsius, Albrecht Mendelssohn Bartholdy, Friedrich Thimme (Hg.), Die große Politik der Europäischen Kabinette 1871–1914. Sammlung der Diplomatischen Akten des Auswärtigen Amtes, 40 Bde., Berlin 1922–1927; daneben für die Rekonstruktion der Julikrise wichtig: Max Montgelas, Walter Schücking (Hg.), Die deutschen Dokumente zum Kriegsausbruch. Vollständige Sammlung der von Karl Kautsky zusammengestellten amtlichen Aktenstücke mit einigen Ergänzungen, Neuauflage, 6 Bde., Berlin 1928. Paragraph 231 des Versailler Vertrages legte die Alleinverantwortung Deutschlands und seiner Verbündeten für alle im Krieg entstandenen Schäden fest. Artikel 227 formulierte eine persönliche Verantwortung des deutschen Kaisers. In einer Mantelnote der Alliierten an die deutsche Friedensdelegation vom 16.6.1919 wurde den Deutschen vorgeworfen, den Krieg angezettelt zu haben. Dieser sei das größte Verbrechen gegen die Menschheit und Freiheit der Völker gewesen, „welches eine sich für zivilisiert ausgebende Nation jemals mit Bewusstsein begangen hat.“ Vgl. Der Friedensvertrag von Versailles nebst Schlussprotokoll sowie Mantelnote und deutsche Ausführungsbestimmungen. Neue durchgesehene Ausgabe in der durch das Londoner Protokoll vom 30. August 1924 revidierten Fassung, Berlin 1925, S. 1f. Imanuel Geiss, Die manipulierte Kriegsschuldfrage. Deutsche Reichspolitik in der Julikrise 1914 und deutsche Kriegsziele im Spiegel des Schuldreferats des Auswärtigen Amtes, 1919– 1931, in: Militärgeschichtliche Mitteilungen 34 (1983), S. 31–60. Christopher Clark, Die Schlafwandler. Wie Europa in den Ersten Weltkrieg zog, München 2013, S. 10 und S. 725, Fußnote 3. Ludwig Bittner, Alfred F. Pribram, Heinrich Srbik, Hans Uebersberger (Hg.), ÖsterreichUngarns Aussenpolitik. Von der Bosnischen Krise 1908 bis zum Kriegsausbruch 1914, Diplomatische Aktenstücke des Österreichisch-Ungarischen Ministeriums des Äussern, 9 Bde., Wien 1930; Miklós Komjáthy (Hg.), Protokolle des Gemeinsamen Ministerrates der Österreichisch-Ungarischen Monarchie (1914–1918), Budapest 1966.
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den Boden entziehen.7 Auch die britischen Akten sind unausgewogen und tendenziös.8 Darüber hinaus enthalten die großen Aktenpublikationen auch Verfälschungen, die den Umgang mit ihnen besonders schwierig machen. So wurde die österreichisch-ungarische Mobilmachung, um nur ein Beispiel zu nennen, im russischen Orangebuch um drei Tage rückdatiert, so dass die russische Mobilmachung in einem ganz falschen Licht erscheint.9 Zwar sind die zentralen diplomatischen Korrespondenzen, die in den Farbbüchern veröffentlicht wurden, eine erstrangige Quelle – allerdings nur, wenn sie unter quellenkritische Quarantäne gestellt und mit weiteren Quellen abgeglichen oder ergänzt werden. Tagebücher und Erinnerungen könnten hier ein wichtiges Regulativ bilden, doch sie widersprechen sich häufig. Den Tagebüchern kommt eine erstrangige Bedeutung zu, da sie subjektive Befindlichkeiten und zeitgeistige Strömungen unmittelbar ausdrücken. Erinnert sei hier an das Tagebuch des österreichischdeutschfortschrittlichen Abgeordneten Josef Redlich,10 die umstrittenen Tagebücher von Kurt Riezler11 und die Tagebücher von Vizeadmiral Albert Hopman.12 Hingegen haben die Erinnerungen der 1914 politisch Verantwortlichen oft nur einen sehr begrenzten Wert. Sie sind in der Regel wenig inspirierend, gehen sehr oberflächlich auf die Ereignisse ein, blenden kompromittierende Details aus oder überdecken sie mit Phrasen. Den 1919 erschienenen Betrachtungen des deutschen Reichskanzlers Theobald von Bethmann Hollweg ist nichts Substanzielles zu entnehmen.13 Die Erinnerungen Kaiser Wilhelms II. haben außer Rechtfertigungen und Verschwörungstheorien nichts zu bieten.14 Der damalige Staatssekretär im Auswärtigen Amt, Gottlieb von Jagow, beschreibt die Ereignisse des Kriegsausbruchs von 1914 zwar sehr dezidiert, äußert sich allerdings vor allem rechtferti-
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Kommission beim Zentralexekutivkomitee der Sowjetregierung unter dem Vorsitz von Michail N. Pokrovskij (Hg.), Die internationalen Beziehungen im Zeitalter des Imperialismus. Dokumente aus den Archiven der Zarischen und der Provisorischen Regierung, autorisierte deutschsprachige Ausgabe, hg. von Otto Hoetzsch, Reihe I–III, Berlin 1931–1943. Vgl. Clark, Die Schlafwandler, S. 10; George Peabody Gooch, Harold Temperly (Hg.), Die britischen amtlichen Dokumente über den Ursprung des Weltkrieges 1898–1914, 11 Bde., autorisierte Ausgabe in deutscher Sprache, hg. von Hermann Lutz, Berlin 1926–1938. Vgl. Clark, Die Schlafwandler, S. 651. Fritz Fellner (Hg.), Schicksalsjahre Österreichs 1908–1919. Das politische Tagebuch Josef Redlichs, 2 Bde., Graz 1953–1954, hier insbesondere Bd. 1: 1908–1914. Kurt Riezler, Tagebücher, Aufsätze, Dokumente, hg. von Karl Dietrich Erdmann, Göttingen 1972, Neuauflage mit einer Einleitung von Holger Afflerbach, Göttingen 2008. Zur Kontroverse um die Tagebücher siehe Karl Dietrich Erdmann, Zur Echtheit der Tagebücher Kurt Riezlers. Eine Antikritik, in: Historische Zeitschrift 236 (1983) 2, S. 371–402; Bernd F. Schulte, Die Verfälschung der Riezler-Tagebücher. Ein Beitrag zur Wissenschaftsgeschichte der 50iger und 60iger Jahre, Bern 1985; Bernd Sösemann, Die Tagebücher Kurt Riezlers. Untersuchungen zu ihrer Echtheit und Edition, in: Historische Zeitschrift 236 (1983) 2, S. 327– 369. Albert Hopman, Das ereignisreiche Leben eines „Wilhelminers“. Tagebücher, Briefe, Aufzeichnungen 1901–1920, hg. von Michael Epkenhans, München 2004. Theobald von Bethmann Hollweg, Betrachtungen zum Weltkriege, 2 Bde., Berlin 1919. Wilhelm II., Ereignisse und Gestalten 1878–1918, Leipzig 1922.
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gend und ohne jeglichen Anflug von kritischer Selbstreflexion.15 Ein Blick in die Erinnerungen des russischen Außenministers Sergej Sasonow bietet wenig Erhellendes. Seine Erinnerungen sind „oberflächlich, aufgebläht, hier und da verlogen und absolut nichtssagend im Hinblick auf seinen Anteil an den maßgeblichen Ereignissen.“16 Auch Raymond Poincaré hat nicht viel mehr als Propaganda geliefert, und Edward Grey umgeht alle heiklen Fragen nach britischen Zusagen gegenüber seinen Entente-Partnern und der britischen Rolle im Krisenmanagement.17 Mehrheitlich zeugen diese Erinnerungen von einem kalkulierten Gedächtnisverlust, oder sie verhalten sich kongenial zu den jeweils zugehörigen Deutungskonsensen, die die Unschuld der eigenen nationalen Kollektive behaupten. Doch obwohl in den Darstellungen nach dem Ersten Weltkrieg politisch zweckmäßige Interpretationen zum Kriegsausbruch vorherrschten, die dem Duktus der Quelleneditionen und den nationalen Deutungen folgten, gab es immer auch kritische Ansätze und Zweifel an den offiziell vorgegebenen Interpretationen. So suchte der deutsche Historiker Eckart Kehr die innenpolitische Verankerung außenpolitischer Entscheidungen nachzuweisen, scheiterte damit aber an der Phalanx der offiziösen Historiographie. Sein Plädoyer, von einem „Primat der Innenpolitik“ auszugehen, wurde erst von der Sozialgeschichtsschreibung der 1960er Jahre wieder aufgegriffen.18 Der deutsche Rechtswissenschaftler Hermann Kantorowitz vertrat in einem Gutachten für den Parlamentarischen Untersuchungsausschuss 1923 die These, dass der deutschen Reichsleitung 1914 ein unbedingter Vorsatz zur Auslösung eines Balkankrieges und ein bedingter zur Auslösung eines Kontinentalkrieges unterstellt werden könne. Der Weltkrieg sei fahrlässig herbeigeführt worden.19 Die Veröffentlichung seines Gutachtens wurde seinerzeit unterdrückt und erfolgte erst im Zuge der Fischerkontroverse 1967. In Frankreich äußerte sich zuerst Pierre Renouvin kritisch, indem er bereits 1920 Fälschungen im offiziellen französischen Gelbbuch nachwies.20 Er vermochte sich zwar – anders als seine deutschen Kollegen – Gehör zu verschaffen. Den offiziellen Deutungskonsens indes konnte auch er nicht brechen. Nachdem auch in Großbritannien zunächst von einer deutschen Alleinschuld ausgegangen worden war, begannen sich britische Historiker namentlich Ende der 1920er Jahre kritischer zu äußern und die von Oxford vorgegebenen germanophoben Deutungen zu bezwei15 Gottlieb von Jagow, Ursachen und Ausbruch des Weltkrieges, Berlin 1919. 16 Clark, Die Schlafwandler, S. 11; Sergej Sasonow, Sechs schwere Jahre, Berlin 1927. 17 Clark, Die Schlafwandler, S. 11; Raymond Poincaré, Au service de la France. Neuf années de souvenirs, 10 Bde., Paris 1926–1933, insbesondere Bd. 4; Edward Viscount Grey of Falloden, Fünfundzwanzig Jahre Politik, 1892–1916. 2 Bde., München 1926. 18 Eckart Kehr, Schlachtflottenbau und Parteipolitik, 1894–1901, Berlin 1930; ders., Der Primat der Innenpolitik. Gesammelte Aufsätze zur preußisch-deutschen Sozialgeschichte im 19. und 20. Jahrhundert, hg. von Hans-Ulrich Wehler, Berlin 1965. 19 Hermann Kantorowicz, Gutachten zur Kriegsschuldfrage 1914, hg. von Imanuel Geiss, Frankfurt a.M. 1967. 20 Gerd Krumeich, Vergleichende Aspekte der Kriegsschulddebatte nach dem ersten Weltkrieg, in: Wolfgang Michalka (Hg.), Der Erste Weltkrieg. Wirkung, Wahrnehmung, Analyse, München 1994, S. 913–928, hier S. 920–926.
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feln.21 Im Zuge der britischen Appeasement-Politik gab der ehemalige britische Premierminister David Lloyd George schließlich 1934 die These aus, die Völker seien in den kochenden Kessel des Krieges ohne jede Spur von Besorgnis oder Betroffenheit hineingeschlittert. Im nationalsozialistischen Deutschland fand diese These natürlich eine freundliche Aufnahme.22 In den Vereinigten Staaten waren die Deutungen des Kriegsausbruchs von Anfang an viel kontroverser. Hier positionierte sich sehr früh eine einflussreiche, als „revisionistisch“ bezeichnete Minderheit, die von Artikeln in der angesehenen Fachzeitschrift American Historical Review sowie einer 1928 in englischer und zwei Jahre später in deutscher Sprache erschienenen Darstellung des Harvard-Professors Sidney Bradshaw Fay inspiriert wurde.23 Diese sehr gründliche und quellennahe Arbeit betrachtete alle europäischen Regierungen kritisch – die der Entente allerdings in besonderer Weise, was wiederum zu einer übermäßigen Entlastung der deutschen Reichsleitung führte. ** Die erste Darstellung, die dem Anspruch der Distanz und Quellenkritik umfassend gerecht wurde, war die des Italieners Luigi Albertini. Er stellte die Verantwortung aller europäischen Großmächte für den Kriegsausbruch heraus, sah im deutschen Drängen gegenüber Österreich-Ungarn jedoch den Hauptgrund für die Verschärfung der Lage.24 Mit dem Ende des Zweiten Weltkriegs und dem Abschluss des Zeitalters der Weltkriege haben sich die Bedingungen für die Darstellung des Kriegsausbruchs von 1914 deutlich verändert. Holocaust und nationalsozialistischer Rasse- und Vernichtungskrieg ließen die Ereignisse von 1914 in den Hintergrund treten. Es kam zu einer revisionistischen Miniaturisierung, die zum Teil noch von den Kriegsteilnehmern selbst vorgetragen wurde, etwa dem deutschen Historiker Gerhard Ritter. Die Frage der Verantwortlichkeit am Kriegsausbruch wurde nunmehr etwas zu schnell und unhinterfragt ad acta gelegt. Die ehemaligen Kriegsgegner gestanden sich gegenseitig zu, dass keine Regierung und kein Volk in Europa vom bewussten Willen zur Entfesslung eines Krieges geleitet gewesen seien.25 Doch dies sollte sich bald ändern: Denn die Thesen des Hamburger Historikers Fritz Fischer brachen den nationalpolitischen Konsens zum Kriegsausbruch 21 Catherine Ann Cline, British Historians and the Treaty of Versailles, in: Albion. A Quarterly Journal Concerned with British Studies 20 (1988) 1, S. 43–58; Vgl. auch Hartmut Pogge von Strandmann, Britische Historiker und der Ausbruch des Ersten Weltkrieges, in: Michalka (Hg.), Der Erste Weltkrieg, S. 929–952. 22 David Lloyd George, Mein Anteil am Weltkrieg. Kriegsmemoiren, Berlin 1934. Vgl. hierzu George W. Egerton, The Lloyd George War Memoirs. A Study in the Politics of Memory, in: Journal of Modern History 60 (1988), S. 55–94. 23 Sidney Bradshaw Fay, Der Ursprung des Weltkrieges, 2 Bde., Berlin 1930. 24 Luigi Albertini, Le origini della guerra del 1914, 3 Bde., Mailand 1942–1943. 25 Erklärung deutscher und französischer Historiker aus dem Jahre 1951, u.a. von Gerhard Ritter und Pierre Renouvin. Vgl. Karl Dietrich Erdmann, Die Zeit der Weltkriege, Stuttgart 81963, S. 25.
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von 1914 endlich auf. Fritz Fischer betrachtete die wilhelminische Außen- und Kolonialpolitik in ihren längerfristigen Wirkungen und setzte sie mit innenpolitischen Konstellationen sowie gesellschaftlichen Bewegungskräften in Verbindung.26 Er und seine Schüler vermuteten auf deutscher Seite gerichtetes, vorsätzliches Handeln sowie hegemoniale und imperialistische Kriegsziele.27 Sie versuchten den Nachweis zu führen, dass die Reichsleitung im Juli 1914 – in der Erwartung, Großbritannien neutral halten zu können – den Kontinentalkrieg mit Frankreich und Russland provoziert habe, um die europäische Hegemonie zu erreichen und den Anspruch auf eine Weltmachtstellung zu unterstreichen. Einflussreiche angelsächsische Historiker haben diese Gedanken ohne weiteres geteilt und noch am längsten an ihnen festgehalten, so beispielsweise Alan J. P. Taylor mit Rückgriff auf die Sonderwegs-These.28 Auch John Röhl, dem wir die umfangreichste Biografie des letzten deutschen Kaisers verdanken, tendiert noch heute in diese Richtung und überschätzt insbesondere die Bedeutung Wilhelms II. für den Kriegsausbruch.29 Infolge der Fischerkontroverse belebte sich die Debatte und wurde wieder deutlich kritischer geführt. Sie profitierte in der Folge von methodischen Differenzierungen und einer Vielfalt anregender Thesen, die sich zum Teil widersprachen, aber deutliche Erkenntnisfortschritte nach sich zogen. So wurde seit den 1960er Jahren den inneren Triebkräften außenpolitischer Entscheidungen verstärkte Aufmerksamkeit geschenkt. Dabei vertrat Hans-Ulrich Wehler, der auch Eckart Kehr eine späte Rehabilitation verschaffte, die inzwischen revidierte These, die herrschenden Eliten hätten die Volksmassen in sozialimperialistischer Absicht mit Hilfe äußerer Konflikte manipuliert. Wolfgang J. Mommsen war der Ansicht, die europäischen Machteliten hätten dem inneren Druck und Reformstau durch eine außenpolitische Prestigepolitik zu begegnen gesucht.30 Vom Gegenteil, einem Primat äußerer geopolitischer Faktoren sowie einer Dominanz außenpolitisch-strategischer Überlegungen und Gleichgewichtsideen, gingen oder gehen 26 Fritz Fischer, Griff nach der Weltmacht. Die Kriegszielpolitik des kaiserlichen Deutschland 1914–1918, Düsseldorf 1961, erweiterte Auflage 1967; Expliziter noch in: ders., Krieg der Illusionen. Die deutsche Politik von 1911–1914, Düsseldorf 1969. Die anschließende Debatte zusammenfassend: Klaus Große Kracht, Die Fischer-Kontroverse. Von der Fachdebatte zum Publikumsstreit, in: ders., Die zankende Zunft. Historische Kontroversen in Deutschland nach 1945, Göttingen 2011, S. 47–67. 27 Fritz Fischer und John C. G. Röhl gehen von einem deutschen Angriffsplan aus, der seit 1912 bestand und 1914 zu Durchführung gelangte: Fischer, Krieg der Illusionen; John C. G. Röhl, An der Schwelle zum Weltkrieg. Eine Dokumentation über den „Kriegsrat“ vom 8. Dezember 1912, in: Militärgeschichtliche Mitteilungen 21 (1977), S. 77–134; ders., Vorsätzlicher Krieg? Die Ziele der deutschen Politik im Juli 1914, in: Michalka (Hg.), Der Erste Weltkrieg, S. 193–215. 28 Alan J. P. Taylor, The Struggle for Mastery in Europe 1848–1918, Oxford 1954. 29 John C. G. Röhl, Wilhelm II., Bd. 3: Der Weg in den Abgrund. 1900–1941, München ²2009, S. 1150. 30 Hans-Ulrich Wehler, Das deutsche Kaiserreich 1871–1918, Göttingen 61988; Wolfgang J. Mommsen, Das Zeitalter des Imperialismus, Frankfurt a.M. 1969; ders., Großmachtstellung und Weltpolitik 1870–1914. Die Außenpolitik des Deutschen Reiches, Frankfurt a.M. 1993.
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Ludwig Dehio, Egmont Zechlin, Karl Dietrich Erdmann, Andreas Hillgruber und Klaus Hildebrand aus.31 Beide konkurrierenden Ansätze wirken heute wie ein Streit um des Kaisers Bart, doch sie haben die Forschung vorangebracht: Die Frage nach den sozioökonomischen Triebkräften von Außenpolitik sowie nach gesellschaftspolitischen Kontinuitäten zog, wenngleich sie selbst zu orthodoxen Überspitzungen neigte, eine Öffnung und Erweiterung der bis in die 1960er Jahre eng ausgelegten Politikgeschichte nach sich. Die Konzentration auf das Entscheidungshandeln von Politikern und Diplomaten wiederum lieferte tiefere Einsichten in deren Motivlage und die ihrem Handeln zugrunde liegenden Zwänge.32 Gewiss sind die meisten Interpretationen Fritz Fischers in der Folge relativiert oder zurückgewiesen worden, etwa die zur „Septemberdenkschrift“ Bethmann Hollwegs oder zum sogenannten „Kriegsrat“ vom 8. Dezember 1912. Auch wurde die allein auf deutsche Archivquellen fixierte Herangehensweise des Hamburger Historikers kritisiert, da sie keine vergleichende Perspektive zuließ. Doch hat seine Darstellung den Fokus auf gesellschaftspolitische und auch auf wirtschaftliche Fragen gelenkt, die seitdem keine seriöse Betrachtung zum Kriegsausbruch 1914 mehr ausblenden kann. Beginnend mit Lenin, Luxemburg und Liebknecht hatte die marxistische Schule seit jeher den Kriegsausbruch von 1914 als Folge zugespitzter imperialistischer Widersprüche und hegemonialer Absichten interpretiert. Obwohl sie die Kriegsschuld gleichmäßiger auf alle „imperialistischen Staaten“ verteilte und davon ausging, dass „die herrschenden Kreise aller Großmächte ohne Ausnahme“ die Verantwortung trugen,33 fühlte sie sich durch die Thesen Fritz Fischers bestärkt. Wirtschaft und Großbanken erschienen nun zwar etwas einseitig und abwegig als Hauptverursacher des Ersten Weltkriegs, doch es entstanden auch solide Arbeiten konventionellen Zuschnitts, die bis heute aufgelegt werden.34 Während Reinhold Zilch dem Reichsbankpräsidenten Rudolf Havenstein aggressive Ziele attestierte,35 konzentrierte sich Willibald Gutsche auf den zum Krieg hintreibenden Zusammenhang von monopolistischer Großwirtschaft, Großbanken 31 Ludwig Dehio, Gleichgewicht oder Hegemonie. Betrachtungen über ein Grundproblem der neueren Staatengeschichte, Krefeld 1948; Egmont Zechlin, Krieg und Kriegsrisiko. Zur deutschen Politik im Ersten Weltkrieg, Aufsätze, Düsseldorf 1979; Erdmann (Hg.), Kurt Riezler; Hillgruber, Andreas, Deutsche Großmacht- und Weltpolitik im 19. und 20. Jahrhundert, Düsseldorf 1977; ders., Deutschlands Rolle in der Vorgeschichte der beiden Weltkriege, Göttingen 21979; Klaus Hildebrand, Das vergangene Reich. Deutsche Außenpolitik von Bismarck bis Hitler 1871–1945, Stuttgart 1995. 32 Eine systematisierende Zusammenfassung der drei wichtigsten Forschungsansätze der 1960er bis 1990er Jahre bei Volker Ullrich, Die nervöse Großmacht. Aufstieg und Untergang des deutschen Kaiserreichs 1871–1918, Frankfurt a.M. 21999, S. 251–255. 33 Igor W. Bestuschew, Die russische Außenpolitik von Februar bis Juni 1914, in: Walter Laqueur, George L. Mosse (Hg.), Kriegsausbruch 1914, München 1967, S. 127–151, hier S. 151. 34 Autorenkollektiv unter Leitung von Fritz Klein, Deutschland im Ersten Weltkrieg, Bd. 1: Vorbereitung, Entfesselung und Verlauf des Krieges bis Ende 1914, Berlin/Ost 1970, Neuauflage, Leipzig 2004. 35 Reinhold Zilch, Die Reichsbank und die finanzielle Kriegsvorbereitung von 1907 bis 1914, Berlin/Ost 1987, S. 79.
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und Staat.36 Obwohl wirtschaftliche Interessen als strukturelle Faktoren bei der Analyse von Kriegsursachen anerkannt sind und beachtet werden müssen, wäre es verfehlt, 1914 von einer aus ökonomischen Interessen abgeleiteten und beinahe gesetzmäßig obwaltenden imperialistischen Aggressionspolitik auszugehen. *** In den letzten Jahrzehnten wurden zum Kriegsausbruch von 1914 wahre Materialschlachten an historischen Darstellungen geliefert, deren wissenschaftlicher „Geländegewinn“ von grundlegenden Erkenntnissen und Thesen bis hin zu kleinen Korrekturen und partiellen Einsichten reicht. Kein Mensch wird diese Literatur jemals zu Lebzeiten vollständig lesen können. Angesichts der Masse des Materials erscheint eine Auflistung und Systematisierung der neueren Forschungsliteratur zum Kriegsausbruch von 1914 beinahe aussichtslos. Sie kann an dieser Stelle auch nur kursorisch, anhand einiger ausgewählter Beiträge und ohne den Anspruch auf Vollständigkeit erfolgen: Die Ereignisse sind aus dem Blickwinkel der Akteure, ihrer Handlungsspielräume und angeblichen Handlungszwänge beschrieben worden. Dabei ist strittig geblieben, inwieweit Politiker und Diplomaten überhaupt autonom handeln konnten und welchen Einfluss gesellschaftliche und politische Handlungsbedingungen besaßen.37 Das Problem der Rückbindung individuellen Erfahrens, Entscheidens und Handelns an gesellschaftliche Strukturen ist bis heute eine Herausforderung für die Historiographie geblieben und wird es auch in Zukunft sein. Zwar hat die Wissenssoziologie den Zusammenhang von Erfahrungen, Deutungen und Handeln beleuchtet.38 Doch bleibt es im Einzelnen schwierig, die dynamischen Bedingungen und Potenziale außenpolitischen Handelns, die filternden Aktionsmuster sowie deren Übertragung in Interaktion zu erfassen. Eine rein strukturgeschichtliche Beschreibung kann dies nicht leisten, da sie die Akteure und ihre Besonderheiten sowie die Ebene des Handelns ausblendet. Eine narrative Darstellung läuft Gefahr, die innere Logik des Systems zu verkennen, Handlungsketten unvollständig oder falsch zu interpretieren oder im „Tatsachenschutt“39 unterzugehen. 36 Beispielhaft: Willibald Gutsche, Monopole, Staat und Expansion vor 1914. Zum Funktionsmechanismus zwischen Industriemonopolen, Großbanken und Staatsorganen in der Außenpolitik des Deutschen Reiches 1897 bis 1914, Berlin/Ost 1986. 37 Nach Gregor Schöllgen (Hg.), Flucht in den Krieg. Die Außenpolitik des kaiserlichen Deutschland, Darmstadt 1991, besaßen die Entscheidungsträger von 1914 nur geringe Handlungsspielräume. Strukturell argumentiert auch James Joll, Die Ursprünge des Ersten Weltkriegs, München 1988. 38 Vgl. Alfred Schütz, Thomas Luckmann, Strukturen der Lebenswelt, 2 Bde., Frankfurt a.M. 1979 und 1984; Peter L. Berger, Thomas Luckmann, Die gesellschaftliche Konstruktion der Wirklichkeit. Eine Theorie der Wissenssoziologie, Frankfurt a.M. 1969. 39 Der Historiker solle den „Tatsachenschutt“ möglichst kennen, aber nicht über dem Leser ausbreiten. Jacob Burckhardt an Bernhard Kugler, 30.3.1879, zitiert nach Holger Afflerbach, Der Dreibund. Europäische Großmacht- und Allianzpolitik vor dem Ersten Weltkrieg, Wien 2002, S. 35.
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Der Kriegsausbruch ist auch aus der Logik des Systems40 oder stärker von gesellschaftlichen Strukturen41 her hinterfragt worden. Einige Historiker haben lange Linien konstruiert, die aus ihrer Sicht in den Krieg führten,42 andere kürzere – oder beides.43 Gefragt wurde nach der Rolle der militärischen Eliten und nach ihrem Einfluss auf den zivilen Entscheidungsprozess,44 ebenso nach der Bedeutung von Rüstung45 und Kriegsplänen.46 Doch besteht hier die Gefahr, Deutungen und Handlungen der Militärs zu überschätzen, da diese an den Entscheidungen von 1914 doch nur mittelbar beteiligt waren und erst zu einem sehr späten Zeitpunkt der Julikrise maßgeblichen Einfluss gewannen. Wieder andere Historiker haben vergleichende Perspektiven gewählt: Bündnispolitischen Ab- und Rücksichten wurde traditionell ein hohes Gewicht bei der Entstehung des Krieges eingeräumt.47 Ihre gesellschaftliche Verankerung und ihr innerer Wandel48 sowie ihre allmähliche Ablösung49 standen lange Zeit nicht im Fokus der Forschung und wurden erst in den letzten beiden Dekaden stärker beachtet. Aber auch die Frage nach friedlichen Alternativen und Annäherungsprojekten zwischen Staaten, die sich in antagonistischen Verbindungen befanden, erforderte vergleichende Perspektiven. Auch wenn diese Verbindungen am Ende zu schwach blieben oder versagten, haben sie doch gezeigt, dass die Katastrophe von 1914 nicht unabänderlich war und dass es auch gegenläufige Ansätze gegeben hat. Verdienstvoll ist hier vor allem die Studie von Friedrich Kießling, der die Entspannungsbemühun40 Paul Schröder, Alliances, 1815–1945. Weapons of Power and Tools of Management, in: Klaus Knorr (Hg.), Historical Dimensions of National Security Problems, Lawrence 1976, S. 227–262. Kursorisch: Sönke Neitzel, Kriegsausbruch. Deutschlands Weg in die Katastrophe 1900–1914, München 2002. 41 Wehler, Das deutsche Kaiserreich 1871–1918. 42 Immanuel Geiss, Der lange Weg in die Katastrophe. Die Vorgeschichte des Ersten Weltkriegs 1815–1914, München 1990. 43 Johannes Burkhardt, Josef Becker, Stig Förster, Günther Kronenbitter, Lange und kurze Wege in den Ersten Weltkrieg. Vier Augsburger Beiträge zur Kriegsursachenforschung, München 1996. 44 Holger Afflerbach, Falkenhayn. Politisches Denken und Handeln im Kaiserreich, München 1994; Günther Kronenbitter, „Krieg im Frieden“. Die Führung der k.u.k. Armee und die Großmachtpolitik Österreich-Ungarns 1906–1914, München 2003. 45 Stig Förster, Der doppelte Militarismus. Die deutsche Heeresrüstungspolitik zwischen Statusquo-Sicherung und Aggression 1890–1913, Stuttgart 1985. Dezidierte Gegenposition bei Oliver Stein, Die deutsche Heeresrüstungspolitik 1890–1914. Das Militär und der Primat der Politik, Paderborn 2007. 46 Paul M. Kennedy, The War Plans of the Great Powers 1880–1914, London 1979; Hans Ehlert, Michael Epkenhans, Gerhard P. Groß (Hg.), Der Schlieffenplan. Analyse und Dokumente, Paderborn 2006. 47 Zur Zwei- und Dreibundforschung vgl. Helmut Rumpler (Hg.), Der „Zweibund“ 1879. Das deutsch-österreichisch-ungarische Bündnis und die europäische Diplomatie, Wien 1996. Nach Volker Berghahn, Der Erste Weltkrieg, München 2003, sind strukturelle, über einzelne Regierungsentscheidungen hinausgehende Kriegsursachen im Bündnissystem und in der Blockbildung der einzelnen Großmächte zu suchen. 48 Jürgen Angelow, Kalkül und Prestige. Der Zweibund am Vorabend des Ersten Weltkrieges, Köln 2000. 49 Afflerbach, Der Dreibund.
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gen vor 1914 aus deutscher, britischer und österreichisch-ungarischer Perspektive in den Blick nimmt.50 Stephen Schröder hat sehr klar herausgearbeitet, warum die für das System maßgebliche deutsch-britische Détente im Frühjahr 1914 scheiterte und in der Julikrise keine maßgebliche Rolle mehr spielte, obwohl sie sich doch in den Balkankriegen 1912/13 so gut bewährt hatte.51 Klaus Wilsbergs Untersuchung charakterisiert dagegen das deutsch-französische Verhältnis als viel ambivalenter und weniger festgefahren als dies bisher vielfach angenommen wurde.52 Ein weiteres wichtiges Themenfeld ist das der großen Medienöffentlichkeit und ihrer Bedeutung für die Entscheidungen von 1914. Zwar wird ein direkter Zusammenhang von öffentlicher Meinung und Regierungshandeln zurückgewiesen.53 Aber immerhin haben die Medien zu verzerrenden Wahrnehmungen und einer Virtualisierung der realen Welt beigetragen, Ängste geschürt und nationale Vorurteile bestätigt, von denen auch die Regierenden erfasst wurden.54 Aber auch der Aspekt des Versagens, der Charakterschwäche und zu großer Passivität im Verhalten der leitenden Politiker hat in der Forschung Beachtung gefunden. So heißt es in einer älteren Darstellung, die das Handeln des deutschen Reichskanzlers thematisiert: „Die Wahrscheinlichkeit, dass eine aktivere, wendigere und zupackendere deutsche Politik im Juli 1914 den Frieden hätte erhalten können, lässt sich nicht fortdisputieren. Hier liegt Bethmann Hollwegs einzelmenschliches Versagen, aber eben, es liegt in seiner Passivität und nicht in einem von ihm bewusst kalkulierten Kriegsrisiko.“55 Ähnlich argumentiert Joachim Radkau, der der mentalen Disposition des deutschen Reichskanzlers und einiger seiner Zeitgenossen ebenfalls kein günstiges Zeugnis ausstellt. Er geht darüber hinaus auf den sehr wichtigen Aspekt gruppenbiografischer Besonderheiten und Generationszusammenhänge ein, der weitere Forschungen zu den geistigen Befindlichkeiten der Entscheidungsträger von 1914 befruchten könnte: zu der von ihnen verinnerlichten Duellmentalität, zu den verhärteten Männeridealen, zu ihren Unterlegenheitsgefühlen und Dekadenzängsten aber auch zu ihrem Mutmenschentum und Gesinnungsidealismus.56 Die charakterliche Disposition maßgeblicher Vertreter der deutschen Reichleitung nimmt auch der Jurist Lüder Meyer-Arndt in 50 Friedrich Kießling, Gegen den „großen Krieg“? Entspannung in den internationalen Beziehungen 1911–1914, München 2002. 51 Stephen Schröder, Die englisch-russische Marinekonvention. Das Deutsche Reich und die Flottenverhandlungen der Tripelentente am Vorabend des Ersten Weltkrieges, Göttingen 2006. 52 Klaus Wilsberg, „Terrible ami – aimable ennemi“. Kooperation und Konflikt in den deutschfranzösischen Beziehungen 1911–1914, Bonn 1998. 53 Dominik Geppert, Pressekriege. Öffentlichkeit und Diplomatie in den deutsch-britischen Beziehungen (1896–1912), München 2007; Clark, Die Schlafwandler, S. 298–315. 54 Angelow, Der Weg in die Urkatastrophe, S. 44-46. 55 Eberhard von Vietsch, Bethmann Hollweg. Staatsmann zwischen Macht und Ethos, Boppard a.Rh. 1969, S. 195–200, hier S. 199. 56 Joachim Radkau, Das Zeitalter der Nervosität. Deutschland zwischen Bismarck und Hitler, München 2000, insbesondere S. 422–452. Vgl. auch Jürgen Angelow, Der „Kriegsfall Serbien“ als Willenstherapie. Operative Planung, politische Mentalitäten und Visionen vor und zu Beginn des Ersten Weltkrieges, in: Militärgeschichtliche Zeitschrift 61 (2002), S. 315–336.
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den Blick. Er geht von der Annahme aus, dass Deutschland zwar nicht nach der europäischen Hegemonie gestrebt habe, aber durch unverantwortliche Politiker und schäbige Charaktere in den Krieg gestolpert sei.57 Diplomatisches Handeln wird von zahlreichen inneren und äußeren Faktoren bestimmt, die einem steten Wandel unterliegen, aber rekonstruierbar sind: Bei den äußeren handelt es sich um geo- und sicherheitspolitische Koordinaten, staatliche Ressourcen und Vernetzungen, Voraussetzungen des Staatensystems und die Qualität der Staatenbeziehungen. Für die inneren sind institutionelle, personelle, konzeptionelle, soziale, politische und mediale, wirtschaftliche, militärische und mentale Verhältnisse von Bedeutung. Konkrete politische Entscheidungen, wie die des Sommers 1914, werden bei historiographischer Betrachtung stets mit einer idealen Entscheidungssituationen konfrontiert, die sich aus den rekonstruierten, sehr komplexen Entscheidungsbedingungen zusammensetzt und die dann mit dem realen Handeln verglichen werden kann. Das Problem besteht darin, dass Akteure oft gegen diese vorgestellten idealen Konstruktionen handeln. Ihr Handeln ist nicht immer rational. Emotionen und Affekte, Täuschungen und Selbsttäuschungen,58 Deutungsschwächen und Unsicherheiten,59 Kommunikationsprobleme und Handlungsfehler60 spielen hier eine große Rolle, ebenso das Getriebensein der Akteure durch miteinander vernetzte, sich gegenseitig aufschaukelnde Handlungsketten. Unter diesen Vorzeichen sind allein rationale Elemente erfassende Erklärungen für den Kriegsausbruch nicht immer möglich. Zwar ist das Problem der Irrationalität und Emotionalität menschlichen Handelns mit Blick auf 1914 bereits angesprochen,61 jedoch noch längst nicht ausdiskutiert worden. In den letzten zwei Jahrzehnten haben neue kulturgeschichtliche Ansätze in der Geschichte der internationalen Politik auf eine Erweiterung von Methoden, Fragestellungen und analytischen Begriffen gedrängt – auch wenn sie mit ihrer prononcierten Abgrenzung von der älteren Forschung teilweise über das Ziel hinausschossen. Immerhin erscheint es gerechtfertigt, eine intensivere methodisch57 Vgl. Lüder Meyer-Arndt, Die Julikrise 1914. Wie Deutschland in den Ersten Weltkrieg stolperte, Köln 2006. 58 So über die Reichweite des Gewaltfaktors, wobei die deutsche Reichsleitung bei ihren Zusagen vom 5. und 6.7.1914 und ihrem Drängen in den zwei Wochen danach einen begrenzten Konfliktfall annahm, weil sie nicht zwischen Lektionserteilung und Lokalkrieg unterschied. Vgl. Angelow, Der Weg in die Urkatastrophe, S. 16–24. 59 Unsicherheiten bestanden etwa über eine belastbare Handlungsebene zur Beilegung der Krise. Vgl. ebd., S. 58–63. 60 Die Schwierigkeiten der Kommunikation wurden zwischen dem 28. und 30.7.1914 besonders deutlich, als die deutsche Reichsleitung letztlich gescheiterte Versuche unternahm, ihren Verbündeten zurückzuhalten. Vgl. ebd., S. 152–156. 61 Stig Förster, Der deutsche Generalstab und die Illusion des kurzen Krieges 1871–1914. Metakritik eines Mythos, in: Militärgeschichtliche Mitteilungen 54 (1995) 1, S. 61–95; Patrick Bormann, Furcht und Angst als Faktoren deutscher Weltpolitik 1897–1914, in: ders., Thomas Freiberger, Judith Michel (Hg.), Angst in den internationalen Beziehungen, Bonn 2010, S. 71–92; Stig Förster, Angst und Panik. „Unsachliche“ Einflüsse im politischmilitärischen Denken des Kaiserreichs und die Ursachen des Ersten Weltkriegs, in: Birgit Aschmann (Hg.), Gefühl und Kalkül. Der Einfluss von Emotionen auf die Politik des 19. und 20. Jahrhunderts, Stuttgart 2005, S. 74–85.
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theoretische Fundierung empirischer Forschungsarbeiten in der Diplomatiegeschichte anzumahnen und Diplomatiegeschichte auch als internationale Kulturgeschichte aufzufassen.62 Als weiterführend wird sich auch das aus dem kulturwissenschaftlichen Diskurs abgeleitete Verlangen nach einem dynamischen Konzept für die Rolle von Staaten, politischen Begriffen und Praktiken erweisen, ebenso die Forderung, Globalisierung und Netzwerkbildungen aus politischer Perspektive zu sehen, die Rolle der Wirtschaft erneut zu durchdenken, die Bedeutung von Kommunikationsprozessen und kulturellen Transfers im Zusammenhang mit den internationalen Beziehungen zu untersuchen und schließlich internationale Gesellschaftsbeziehungen in den Blick zu nehmen.63 Zum Teil sind diese Forderungen in neueren Forschungsarbeiten bereits adaptiert worden. Während die Probleme der Globalisierung und Vernetzung vor 1914 im wissenschaftlichen Diskurs angekommen sind, bilden interdisziplinär angelegte Arbeiten noch eher eine Ausnahme. Doch gerade dezidiert kulturgeschichtliche Fragestellungen sind durch die Forschung bisher kaum oder bestenfalls in Ansätzen berührt worden. Die meiste Aufmerksamkeit erfahren noch immer eher konventionelle Themen und politikgeschichtliche Synthesen.64 Sie entstehen auf der Basis der großen europäischen Zentralarchive, die die schriftliche Hinterlassenschaft dieser Epoche verwahren: namentlich die Akten der jeweiligen Außenministerien, einschließlich der Verwaltungsakten, die anhand zahlreicher Interventionen Motive außenpolitischen Handelns beleuchten, sowie die sich durch Botschaftsberichte speisenden Länderakten, die auch Einblicke in innenpolitische Vorgänge und die öffentliche Meinung geben. Doch wird sich die Quellenbasis mit veränderten Fragestellungen erweitern. Eine kulturgeschichtliche Betrachtung des Kriegsausbruchs könnte nicht nur zu einer weiteren Ausdifferenzierung des Gegenstandes selbst führen, sondern auch Quellen neu bewerten und solche in den Blick nehmen, die bisher kaum beachtet worden sind. Sie wird viel mehr als bisher lokale und regionale Besonderheiten berücksichtigen müssen, wodurch unbeachtete Selbstzeugnisse, materielle und geistige Hinterlassenschaften der Zeit im weitesten Sinne und damit auch regionale Archive und deren Bestände an Relevanz gewinnen.
62 Vgl. hierzu z.B. das Themenheft von Martin Schulze Wessel (Hg.), Neue Ansätze in der Geschichte der internationalen Politik, in: Jahrbücher für Geschichte Osteuropas 56 (2008) 1; Lehmkuhl Ursula, Diplomatiegeschichte als internationale Kulturgeschichte. Theoretische Ansätze und empirische Forschung zwischen Historischer Kulturwissenschaft und Soziologischem Institutionalismus, in: Geschichte und Gesellschaft 27 (2001) 3, S. 394–423, hier S. 421–423; Friedrich Kießling, Der „Dialog der Taubstummen“ ist vorbei. Neue Ansätze in der Geschichte der internationalen Beziehungen des 19. und 20. Jahrhunderts, in: Historische Zeitschrift 275 (2002), S. 651–680. 63 Vgl. Eckart Conze, Ulrich Lappenküper, Guido Müller (Hg.), Geschichte der internationalen Beziehungen. Erneuerung und Erweiterung einer historischen Disziplin, Köln 2004. Vgl. auch Jürgen Osterhammel, Transnationale Gesellschaftsgeschichte. Erweiterung oder Alternative?, in: Geschichte und Gesellschaft 27 (2001) 3, S. 464–479. 64 So Clark, Die Schlafwandler.
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**** Ein Konsens der Konzepte oder Meinungen zum Kriegsausbruch 1914 ist nicht in Sicht. Daran wird und soll sich auch in Zukunft nichts ändern. War der Ausbruch des Krieges die Folge einer schlecht kalkulierten und egoistischen Politik Österreich-Ungarns gegenüber Serbien oder der russischen Risikostrategie zu dessen Verteidigung? War er das Ergebnis eines verfehlten europäischen Krisenmanagements,65 der Unfähigkeit und Verdorbenheit der Diplomatie66 oder das Resultat einer auf Einbildungen beruhenden Politik Getriebener und Verängstigter?67 War er die sich erfüllende Prophezeiung vom „unvermeidlichen Krieg“68 oder – im Gegenteil – das eher unwahrscheinliche Resultat einer Ordnung und Kultur, die eigentlich nicht mehr an einen „großen Krieg“ glaubte? So behauptet Holger Afflerbach, dass die Mehrheit der Zeitgenossen – selbst kriegslüsterne und karrieresüchtige Militärs –angesichts des hoch entwickelten Abschreckungssystems und der Unmöglichkeit, aus einem „großen Krieg“ Gewinn zu ziehen, eine solch selbstmörderische Auseinandersetzung nicht für möglich gehalten hätte. Daraus sei die Gefahr erwachsen, dass die politisch Handelnden sich der Unwahrscheinlichkeit des großen Kriegs zu sicher wähnten und politische Manöver verantworteten, die dann, entgegen allen Erwartungen, doch zur großen Auseinandersetzung führten.69 Diese Argumentation greift den von Kurt Riezler bereits 1913 ausgesprochenen Gedanken auf, wonach es den Politikern sehr schwer fallen würde, einen allgemeinen Krieg auszulösen, was sich bei entsprechend scharfer Kalkulation diplomatisch ausnutzen ließe.70 Womöglich ließ der Topos vom „unwahrscheinlichen Krieg“ bzw. vom „vermiedenen Krieg“ den Ausbruch des großen Krieges in der Wahrnehmung der Zeitgenossen eher unwahrscheinlich erschei-
65 Andreas Hillgruber, Riezlers Theorie des kalkulierten Risikos und Bethmann Hollwegs politische Konzeption in der Julikrise 1914, in: Historische Zeitschrift 22 (1966), S. 333–351. Dieser Ansatz ist durch neuere Forschungen inzwischen variiert, schärfer gefasst (Brinkmanship) und auf die anderen europäischen Akteure ausgeweitet worden. Vgl. Thomas Lindemann, Die Macht der Perzeptionen und Perzeptionen von Mächten, Berlin 2000, S. 146; Kießling, Gegen den großen Krieg, S. 311f.; Stefan Schmidt, Frankreichs Außenpolitik in der Julikrise 1914. Ein Beitrag zur Geschichte des Ausbruchs des Ersten Weltkrieges, München 2009, S. 142; Afflerbach, Der Dreibund, S. 832. 66 Meyer-Arndt, Die Julikrise 1914. 67 Gerd Krumeich, Juli 1914. Eine Bilanz, Mit einem Anhang: 50 Schlüsseldokumente zum Kriegsausbruch, Paderborn 2014, insbesondere das Kapitel zur Julikrise und S. 184. 68 Wolfgang J. Mommsen, Der Topos vom unvermeidlichen Krieg. Außenpolitik und öffentliche Meinung im Deutschen Reich im letzten Jahrzehnt vor 1914, in: ders., Der autoritäre Nationalstaat. Verfassung, Gesellschaft und Kultur des deutschen Kaiserreiches, Frankfurt a.M. 1990, S. 380–406. 69 Vgl. Afflerbach, Der Dreibund, S. 826. Diese These wird neuerdings zurückgewiesen von Krumeich, Juli 1914. 70 Kurt Riezler, Die Erforderlichkeit des Unmöglichen. Prolegomena zu einer Theorie der Politik und zu anderen Theorien, Berlin 1913. Vgl. Andreas Hillgruber, Riezlers Theorie des kalkulierten Risikos; Mommsen, Der Topos vom unvermeidlichen Krieg, S. 387.
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nen,71 so dass Ungeschicklichkeit und zu hohe Risikofreude der Diplomatie in den Vordergrund treten konnten und sich die Politiker schlussendlich verzockten. Wie auch immer man diese Fragen im Einzelnen beantworten mag: Zumindest ist mit dem zeitlichen Abstand der Wert der historischen Interpretationen für die Konstruktion nationaler Identitäten verblasst. Schuldzuweisungen sind geschwunden, Distanz und Selbstkritik haben an Boden gewonnen. Dies wird auch bei Christopher Clark deutlich, dessen groß angelegter europäischer Vergleich sich jeder selbstgerechten Wertung enthält, neue Akzente bei der Gewichtung der kleineren Staaten setzt und auch der britischen und französischen Seite eine große Mitverantwortung am Kriegsausbruch einräumt.72 Obwohl – wie eingangs betont – die jeweiligen Entwicklungen auf nationaler Ebene durchaus unterschiedlich intensiv erforscht wurden und auch hier noch Überraschungen möglich sind, verspricht ein Blick auf dieses welthistorische Ereignis ohne vergleichende und transnationale Perspektiven heute kaum mehr große Erkenntnisfortschritte.
71 So bei Holger Afflerbach, David Stevenson (Hg.), An Improbable War? The Outbreak of World War I and European Political Culture before 1914, Oxford 2007; Kießling, Gegen den großen Krieg; Wilsberg, „Terrible ami – aimable ennemi“, S. 81–94. Die Gegenposition bezieht Volker Ullrich, Ein Weltkrieg wider Willen? Der Streit der Historiker über den Kriegsausbruch 1914 geht in eine neue Runde, in: Die Zeit, 2.1.2003. 72 Clark, Die Schlafwandler.
WANDEL GLOBALE WAHRNEHMUNGS-, KOMMUNIKATIONSUND HANDLUNGSMUSTER
„EIN MONSTRÖSES ATTENTAT GEGEN DIE MENSCHLICHE KULTUR“ Der Kriegsausbruch 1914 in Lateinamerika Stefan Rinke In der Flut der Studien zum Ersten Weltkrieg, die derzeit erscheinen, wird Lateinamerika, wenn überhaupt, nur am Rande erwähnt.1 Zu weit entfernt von den Kriegsschauplätzen, von den Großmächten und ihren Kolonien war die Region scheinbar fernab vom Geschehen. Neben diesem Eindruck dürfte auch die wenig intensive Beschäftigung von Historikern in und außerhalb Lateinamerikas mit der Thematik eine wesentliche Rolle spielen. Zwar gibt es einige mehr oder wenige umfangreiche, traditionell diplomatie- und wirtschaftshistorische Darstellungen zur Geschichte einzelner Länder während des Kriegs. Doch fehlen transnational angelegte Studien, die die Einbindung Lateinamerikas in den globalen Kontext problematisieren.2 Lag der Subkontinent also abseits vom großen Weltgeschehen, sozusagen auf einer Insel der Seligen? Die Reaktionen in Lateinamerika auf den Kriegsausbruch im August 1914 lassen auf das Gegenteil schließen. Die Auseinandersetzung mit den Quellen zum Kriegsausbruch ergibt ein überraschendes Bild davon, in welchem Maße man sich in den meisten lateinamerikanischen Staaten mit diesem Ereignis befasste. Der sich anbahnende Krieg beherrschte von Ende Juli an nicht nur die Leitartikel, sondern auch die Titelseiten der Presse in allen Teilen Lateinamerikas. Im Folgen1
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Siehe z.B. Hew Strachan, The First World War, Bd. 1: To Arms, Oxford 2001; William K. Storey, The First World War. A Concise Global History, Lanham 2009, S. 67–72; Lawrence Sondhaus, World War One. The Global Revolution, Cambridge 2011, S. 103–109; Michael S. Neiberg, Fighting the Great War. A Global History, Cambridge 2005, S. 123–150; Daniel Marc Segesser, Der Erste Weltkrieg in globaler Perspektive, Wiesbaden 2010; Heike Liebau (Hg.), The World in World Wars: Experiences, Perceptions and Perspectives from Africa and Asia, Leiden 2010. Siehe z.B. Ricardo Weinmann, Argentina en la Primera Guerra Mundial. Neutralidad, transición política y continuismo económico, Buenos Aires 1994; Francisco Luiz Teixeira Vinhosa, O Brasil e a Primeira Guerra mundial. A diplomacia brasileira e as grandes potências, Rio de Janeiro 1990; Juan Ricardo Couyoumdjian, Chile y Gran Bretaña durante la Primera Guerra Mundial y la postguerra, Santiago 1986; Friedrich Katz, The Secret War in Mexico. Europe, the United States and the Mexican Revolution, Chicago 1981; Die gerade erschienene Studie von Olivier Compagnon, L’adieu à l’Europe. L’Amérique latine et la Grande Guerre (Argentine et Brésil, 1914–1939), Paris 2013, geht einen Schritt darüber hinaus, indem sie Argentinien und Brasilien vergleichend betrachtet und auch die kulturelle Dimension mit in den Blick nimmt. Einem transnationalen Ansatz folgt aber auch Compagnon nicht.
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den sollen diese lateinamerikanischen Reaktionen genauer analysiert werden. Im Mittelpunkt steht dabei die Frage, mit welchen Erwartungen und Befürchtungen man in Lateinamerika die Entwicklungen in Europa verfolgte. Welche Bilder von Europa kamen 1914 in Umlauf? Welche Wahrnehmungsmuster lassen sich erkennen, und welche Schlussfolgerungen zog man daraus für die eigene Situation? Gestützt auf eine umfangreiche Quellengrundlage, vor allem aus Zeitungen und Zeitschriften aus ganz Lateinamerika von Mexiko bis Argentinien, geht dieser Beitrag zunächst kurz auf den Charakter der Kriegsberichterstattung ein. Danach untersucht er die wichtigsten der daran deutlich werdenden Perzeptionsmuster. Schließlich kommt er auf die vor allem im Verhältnis zu Europa getroffenen Rückschlüsse zu sprechen. * Lateinamerika hatte sich im Laufe des 19. Jahrhunderts in den Weltmarkt integriert. Als Rohstofflieferant und Abnehmer von Fertigwaren kam dem Subkontinent in der Weltwirtschaft die Rolle einer untergeordneten Region zu. Hatten seit der Unabhängigkeit in den 1820er Jahren die Briten hier ein „informelles Empire“ aufgebaut, so engagierten sich später auch Franzosen, US-Amerikaner und seit der Jahrhundertwende zunehmend auch Deutsche in der Region, die somit zu einem Konfliktherd des imperialistischen Wettbewerbs wurde.3 Eine Dimension dieses Wettbewerbs war die Einbindung außereuropäischer Regionen in den internationalen Nachrichtenverkehr durch die Verlegung von Überseekabeln. Damit einher ging eine Aufteilung der Welt unter den führenden Nachrichtenbüros der Großmächte. In Südamerika dominierte die französische Agentur Havas, während in Zentralamerika und in der Karibik das US-amerikanische Nachrichtenbüro Associated Press (AP) und der Dienst der United Fruit Company ihren Einfluss geltend machten.4 Diese einseitige Ausrichtung machte sich sofort bemerkbar, als der Krieg in Europa ausbrach. Eine der ersten Maßnahmen der britischen Kriegführung war das Kappen der deutschen Überseekabel. Zwar konnten Nachrichten aus Deutschland bis 1917 noch auf Umwegen über die USA nach Lateinamerika kommen, doch trafen diese verspätet und in deutlich geringerem Umfang ein als der Nachrichtendienst der Havas. Insgesamt ergab sich daraus eine Unausgewogenheit in der Berichterstattung. Dies beklagten insbesondere die in Lateinamerika lebenden deutschen Minderheiten lautstark, die sich der Presse- und Propagandaarbeit wäh3 4
Stefan Rinke, Geschichte Lateinamerikas. Von den frühesten Kulturen bis zur Gegenwart, München 2010, S. 82–86. Zu den Zusammenhängen siehe Dwayne R. Winseck, Robert M. Pike, Communication and Empire. Media, Markets, and Globalization, 1860–1930, Durham 2007. Für eine Detailanalyse zu Costa Rica siehe Patricia Vega Jiménez, Primicias de la Primera Guerra Mundial en la prensa costarricense (1914), in: inter.c.a.mbio 4 (2007) 5, S. 271–308, hier S. 286–290. Das beste Beispiel für diese Einseitigkeit waren Zeitungen wie der guatemaltekische Diario de Centro-América, der die Kabelnachrichten der Associated Press kommentarlos übersetzte.
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rend der Kriegsjahre annahmen. So konnte, wie die Deutsche La Plata Zeitung im August 1914 feststellte, aufgrund der Leichtgläubigkeit des Publikums und der ohnehin großen Begeisterung für die Alliierten der Eindruck entstehen, letztere eilten von Sieg zu Sieg, während die Mittelmächte ständig Rückschläge zu verdauen hätten.5 Obwohl die Beobachtungen des deutsch-argentinischen Kommentators nicht ganz falsch waren, so waren doch die Schlussfolgerungen überzogen. Denn Presse und Publikum in Argentinien und anderen Ländern Lateinamerikas waren keineswegs so naiv, wie er glauben machen wollte. In der lateinamerikanischen Presse war der Kriegsausbruch im August 1914 das Ereignis, das alles andere überschattete und die Spalten der Gazetten füllte.6 Selbst aus dem bürgerkriegsgeschüttelten Mexiko berichtete etwa El Imparcial schon am 1. August ganzseitig über die Ereignisse in Europa.7 In der Berichterstattung spielten die Depeschen der Nachrichtendienste wie gesagt eine große Rolle. Hinzu kamen zahlreiche Fotos aus Archivbeständen, die die modernen Waffen, militärische Manöver und den europäischen Hochadel abbildeten. Allerdings berichteten nun auch Korrespondenten direkt vom Schauplatz des Kriegsgeschehens. Diese Kriegsreporter waren neue Akteure, und sie agierten im gesamtlateinamerikanischen Rahmen. In der führenden brasilianischen Zeitung O Estado de São Paulo zählten dazu Diplomaten und Intellektuelle wie Manuel de Oliveira Lima, der regelmäßig in der Kolumne „Ecos da guerra“ berichtete, ebenso wie der Begründer des modernen brasilianischen Journalismus, Julio Mesquita, mit seiner Wochenchronik „Boletim semanal da guerra“.8 In der argentinischen La Nación informierten so bekannte Größen des Geisteslebens wie Leopoldo Lugones aber auch der Offizier Emilio Kinkelin, der mit der argentinischen Waffenkaufkommission kurz vor Kriegsausbruch nach Deutschland gekommen war und dann als Korrespondent bis 1918 dort blieb. Die größte lateinamerikanische Illustrierte, Caras y Caretas, aus Buenos Aires entsandte umgehend ihren Korrespondenten Javier Bueno und den Zeichner Federico Ribas an die alliierte Front. Ab Dezember 1914 berichteten die beiden von den Abenteuern, die Journalisten im Angesicht der vielen bunten Uniformen aus aller Herren Länder erleben konnten. In der Folgezeit druckte die Zeitschrift Berichte von bis zu fünf Korrespondenten an den unterschiedlichen Fronten ab und präsentierte ihren Lesern somit einen unmittelbaren Eindruck vom Kampfgeschehen.9 5 6 7 8 9
Die hiesige Presse und die öffentliche Meinung, in: Deutsche La Plata Zeitung (Buenos Aires), 20.8.1914, S. 1. La contienda europea, in: La Nación (Buenos Aires), 2.8.1914, S. 6; Notas chalacas, in: La Crónica (Lima), 2.8.1914, S. 1f. La situación europea se agrava, in: El Imparcial (Mexiko), 1.8.1914, S. 1. Mesquitas Berichte wurden in einer vierbändigen Ausgabe neu herausgegeben: Julio Mesquita, A guerra, 1914–1918, 4 Bde., São Paulo 2002. Siehe auch Compagnon, „Si loin, si proche ...“, S. 82f. Federico Lorenz, La gran guerra vista por un argentino, in: Todo es Historia 352 (1996), S. 48–65, hier S. 49. Kinkelin veröffentlichte seine Beiträge gesammelt nach dem Krieg in zwei Bänden: Emilio Kinkelin, Mis correspondencias a La Nación durante la guerra europea, 2 Bde., Buenos Aires 1921.
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In den städtischen Zentren Lateinamerikas konnten diese Berichte große Wirkung entfalten, denn die Presse erlebte in den 1910er Jahren eine regelrechte Explosion. Ihre Leserschaft beschränkte sich keineswegs – wie noch im 19. Jahrhundert – nur auf Mitglieder der nationalen Eliten, sondern rekrutierte sich zunehmend auch aus der Arbeiterschaft sowie aus den ständig wachsenden Mittelschichten. Der Krieg war einem Journalismus hoch willkommen, der zunehmend auf Bilder und Sensationen setzte und sich damit dem Boulevardjournalismus USamerikanischer Prägung annäherte. Diese neue Form der Sensationsberichterstattung wird beispielhaft an der brasilianischen Illustrierten Revista da Semana deutlich, die ihren Lesern bereits am 1. August 1914 versprach, „über alle Katastrophen“ in Europa ausgiebig zu berichten.10 Den Spektakelcharakter des Krieges unterstrich man durch Fotos und Zeichnungen mit „pittoresken“ Szenen aus dem Geschehen.11 Ganzseitige Titelseiten mit modernen Flugzeugen und gigantischen Kanonen waren Sinnbild der Faszination, die in den Augen vieler Lateinamerikaner von Europa noch immer ausging.12 Völlig neuartig war auch das direkte Ansprechen der Leserschaft. Die Zeitung Jornal do Brasil etwa forderte im September 1914 zur Beteiligung an einem Gewinnspiel auf: Auf einer Landkarte sollten die Leser einzeichnen, wie wohl die Grenzverläufe in Europa im Januar 1915 ihrer Meinung nach aussehen werden.13 Die Erwähnung dieser Art der Berichterstattung, die den Sensationscharakter, ja den Unterhaltungswert des Krieges in den Mittelpunkt stellte, soll allerdings nicht darüber hinwegtäuschen, dass die Auseinandersetzung mit den europäischen Ereignissen in der Regel in durchaus seriöser Manier erfolgte. Dabei ist wichtig, festzuhalten, dass sich die führende Presse Lateinamerikas nicht von Beginn an einseitig festlegte. Wenn etwa der germanophile Kinkelin aus Deutschland berichtete, so standen dem die alliiertenfreundlichen Kommentare von Lugones gegenüber. Ähnlich sah es bei den meisten Blättern aus, auch wenn die Übermacht von Havas und die generell großen Sympathien für Frankreich dafür sorgten, dass die prodeutschen Stimmen in der Minderheit blieben. Im Allgemeinen ergriff man zunächst nicht offen Partei für eine Seite, sondern kritisierte vielmehr das Scheitern der europäischen Diplomatie im Ganzen – und das sowohl in Wort als auch in Bild, wie die zahlreichen Karikaturen dieser Zeit belegen.14 Schon der Juli 1914 war wie andernorts geprägt von der großen Sorge über die Entwicklungen in Europa, die die ganze Welt ergriffen hatte. Noch am 5. August erschien in La Nación in Buenos Aires ein Korrespondentenbericht von Julio 10 11 12 13 14
Os Successos, in: Revista da Semana (Rio de Janeiro), 1.8.1914, S. 2. Notas pintorescas del ejército aliado, in: Caras y Caretas (Buenos Aires), 14.11.1914. Siehe zum Beispiel: A guerra nos ares, in: O Imparcial (Rio de Janeiro), 5.8.1914, S. 1. Concurso intellectual, in: Jornal do Brasil (Rio de Janeiro), 6.9.1914, S. 7. Am Beispiel der Presse in Porto Alegre untersucht hat dies Stefan Chamorro Bonow, A desconfiança sobre os indivíduos de origem germânica em Porto Alegre durante a Primeira Guerra Mundial. Cidadãos leais ou retovados?, Diss., Porto Alegre 2011, S. 83. Für Rio de Janeiro bestätigt dies Sidney Garambone, A primeira Guerra Mundial e a imprensa brasileira, Rio de Janeiro 2003, S. 57–75. Zu den Karikaturen siehe z.B. Cara-Dura (Buenos Aires), 23.2.1915.
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Piquet aus Paris von Ende Juli. Darin spekulierte Piquet, ob der schreckliche Monat Juni mit seinen Katastrophen ein ungutes Vorzeichen war. Trotz des enormen Fortschritts der Europäer konnte es keine Sicherheit und Garantie für den „bewaffneten Frieden“ geben, der zunehmend brüchig erschien.15 „Unsicherheit, Misstrauen und Angst“, diese drei Begriffe umschrieben laut dem Leitartikler der peruanischen La Crónica die Situation.16 Allerdings schien Ende Juli noch nicht alle Hoffnung vergebens. So schrieb der Diario aus Asunción noch hoffnungsvoll von der „universellen Solidarität“, die den Krieg noch verhindern könnte.17 Ein brasilianischer Kommentator meinte dagegen, die Völker seien kriegslüsterner als die Herrscher, aber diese hätten viel zu verlieren. Daher bestand auch aus seiner Sicht noch Hoffnung auf Frieden.18 Angesichts des enormen Fortschritts und der weltweiten Verflechtungen lag für so manchen lateinamerikanischen Beobachter ein Kriegsausbruch in Europa jenseits der Vorstellungskraft.19 Als es Anfang August dennoch so weit war und Eilmeldungen über den Kriegsausbruch sich rasend schnell in Lateinamerika verbreiteten, klangen diese Stimmen völlig überrascht. Allerdings stellte man sich schnell auf die neue Realität ein – wie etwa der paraguayische Diario, der nur eine Woche nach seinem hoffnungsvollen Plädoyer bereits von der Unvermeidbarkeit des Krieges sprach. Krieg, so der Kommentar weiter, sei letztlich ein Basisinstinkt der Menschen, und wenn an den Patriotismus appelliert werde, dann seien alle bei den Fahnen. Die Visionen der Pazifisten waren nach Meinung des Leitartiklers utopisch. Dem Krieg komme vielmehr eine notwendige Funktion im Wettstreit der Völker zu, und der Frieden sei nur die Ruhepause vor dem nächsten Krieg, in dem sich die Verlierer wieder rächen wollten.20 Dieser radikal sozialdarwinistische Kommentar blieb zwar eine Ausnahme, doch in der Tat sahen sich viele Beobachter in ihren Warnungen bestätigt. Aus ihrer Sicht hatte das Gleichgewicht Europas schon lange am seidenen Faden gehangen, und nun war das eingetreten, was man eigentlich schon seit langem erwartet hatte.21 40 Jahre Militarismus in Europa hätten die Völker auf den Krieg vorbereitet, der dann unvermeidbar gewesen sei.22 Trotz der Friedenskonferenzen von Den Haag, den pazifistischen Annäherungen und An-
15 Julio Picquet, Una tormenta mortífera, in: La Nación, 5.8.1914, S. 5. Siehe auch: La situación de Europa, in: La Nación, 2.8.1914, S. 9. 16 Sobre la guerra en Europa, in: La Crónica, 4.8.1914, S. 8. 17 Conflagración?, in: El Diario (Asunción), 27.7.1914, S. 1. 18 Ainda uma esperança, in: Correio da Manhã (Rio de Janeiro), 1.8.1914, S. 2. 19 So der Chilene Pedro Subercaseaux Errázuriz, zitiert in: Juan Ricardo Couyoumdjian, María Angélica Muñoz, Chilenos en Europa durante la Primera Guerra Mundial, 1914–1918, in: Historia 35 (2002), S. 35–62, hier S. 43. Siehe auch den Kommentar A maior guerra da historia, in: Fon-Fon, 8.8.1914. Auf die unterschiedlichen Prognosen zum Kriegsausbruch hingewiesen hat jüngst Oliver Janz, 14. Der große Krieg, Frankfurt a.M. 2013, S. 18. 20 Ante la guerra, in: El Diario, 4.8.1914, S. 1 und 4. 21 Mirando a otros horizontes, in: El Mundo Ilustrado (Mexiko), 2.8.1914, S. 3. 22 Chronica, in: Revista da Semana, 8.8.1914, S. 5. Auch in Peru waren Beobachter der Meinung der „bewaffnete Frieden [sei] gescheitert“: La conflagración europea, in: Variedades (Lima), 8.8.1914.
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sätzen der internationalen Schiedsgerichtsbarkeit, bleibe der Krieg eine „unerbittliche Gottheit“, so auch der chilenische Politiker Galvarino Gallardo Nieto.23 Obwohl viele Kommentare die Unabwendbarkeit des Geschehens betonten, drückten sie in der Regel auch Bestürzung aus. Denn der Kriegsausbruch blieb doch ein Schock mit bitteren Folgen für Lateinamerika.24 Allerorten sprach man nun von einer „Katastrophe“, deren Ergebnis zweifellos eine „Hekatombe“ sein werde.25 Die Journaille bemühte Naturmetaphern, ohne eine Erklärung für die unfassbaren Ereignisse zu finden. Die Kommentatoren sparten nicht an Superlativen, um die historische Einmaligkeit der Ereignisse zu betonen.26 Im Leitartikel der führenden Kulturzeitschrift Nosotros aus Buenos Aires hieß es, der „schreckliche Weltenbrand“, „eine der schlimmsten Katastrophen in Jahrtausenden“, sei „explodiert wie ein Blitz, urplötzlich, und […] unerwartet“.27 Natürlich stellte man sich die Frage, wie es dazu hatte kommen können. Die Zeitungen analysierten die historische Entwicklung der deutsch-französischen „Erbfeindschaft“ sowie das Revanchestreben Frankreichs.28 Doch die Kommentatoren nannten auch den Panslavismus, das englische Hegemonialstreben, den Pangermanismus mit seinem Weltmachtanspruch, die kolonialen Konflikte und den Imperialismus allgemein als Ursachen für den Kriegsausbruch, wobei sie je nach Neigung mal das eine, mal das andere Element betonten.29 Einig war man sich darin, dass die enorme Aufrüstung seit 1871 sowie die Geheimdiplomatie die Völker in den Krieg getrieben hätten.30 Dieser Krieg ließ sich in den Augen vieler als ein Krieg der Zivilisationen oder der „Rassen“ zwischen Teutonen und Slawen, zwischen Lateinern und Germanen erklären.31 Der Leitartikler des El Día aus Montevideo traf den Nagel auf den Kopf, als er beklagte, dass sich die europäischen Mächte alle gegenseitig beschuldigten, den Krieg begonnen zu haben, doch für die Welt als Ganzes sei dies belanglos, denn der Krieg als schreckliche Wahr23 Galvarino Gallardo Nieto, Neutralidad de Chile ante la guerra europea, Santiago 1917, S. CIII. 24 Chronica, in: Revista da Semana, 8.8.1914, S. 5. 25 Enrique Jaureguí, Hecatombe, in: La Nación, 4.8.1914, S. 3. 26 Juan P. Ramos, Alemania ante la guerra, in: Revista Argentina de Ciencias Políticas 9 (1914/15), S. 427–444, hier S. 427; A repercução do conflicto no Brazil, in: A República (Curitiba), 4.8.1914, S. 2. 27 La Guerra, in: Nosotros (Buenos Aires), 8.8.1914, S. 117. 28 A França, 44 annos depois de Sedan, intenta a sua revanche, in: O Imparcial, 3.8.1914, S. 1; G. F. Yañez, La Guerra Europea, in: Estudios (Buenos Aires) 7 (1914), S. 441–448. 29 Alberto de Carvalho, A miragem dos imperios, in: A Época (Rio de Janeiro), 4.8.1914, S. 1; As grandes causas da guerra, in: Jornal do Commercio (Rio de Janeiro), 6.8.1914, S. 3; Manuel A. Barés, Delenda Germaniae, in: Revista Argentina de Ciencias Políticas 10 (1915), S. 226–236 und S. 495–512, sowie 11 (1915/16), S. 38–53; Francisco Barroetaveña, Alemania contra el mundo, Buenos Aires 1915, S. 5. 30 Luis Bertrán, La conflagración europea, in: Cuba Contemporánea (Havanna) 6/8 (1914), S. 87; A victoria da Triplice Alliança?, in: Jornal do Commercio, 2.8.1914, S. 17; El secreto en las relaciones exteriores, in: La Vanguardia (Buenos Aires), 24./25.8.1914, S. 1. 31 José Enrique Montoro, Las causas de la guerra, in: Cuba Contemporánea 6/9 (1914), S. 147; Alemania y la guerra, in: La Nación, 19.9.1914, S. 5.
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heit werde ganz Europa ausbluten und die Welt verarmen lassen.32 Der Krieg war aus dieser Perspektive nichts anderes als ein Verbrechen, „ein monströses Attentat gegen die menschliche Kultur“.33 Nicht nur die bürgerliche Presse, sondern auch die Arbeiterpresse beschäftigte sich intensiv mit dem Kriegsausbruch in Europa. In Argentinien, wo die sozialistische Bewegung besonders stark war, schrieb die Parteizeitung La Vanguardia von einem vorhersehbaren Ereignis. Dieses werde natürlich auch in Amerika spürbar angesichts der enormen Entwicklung der Kommunikationsverbindungen und der vielgestaltigen Beziehungen, die zwischen der Alten und der Neuen Welt einen permanenten und engen Kontakt hätten entstehen lassen. Die Dimension der Erschütterung übersteige aber jede Vorhersage.34 Das sah auch der anarchistische Journalist Antonio de Pío Araujo aus Mexiko so, leitete aber Positives daraus ab. Denn der „Krieg der Rassen und der Religionen“, bei dem es eigentlich nur um die konkurrierenden Interessen der Bourgeoisie und des Kapitals gehe, werde sich früher oder später in einen Krieg der solidarischen Arbeiter gegen die Unterdrücker verwandeln. Die große Weltrevolution war seiner Meinung nach zum Greifen nah.35 Der Herausgeber der mexikanischen Zeitung Regeneración, in der Pío Araujo seinen Artikel veröffentlichte, Ricardo Flores Magón, war sogar noch enthusiastischer. Er bejubelte den Kriegsausbruch geradezu. Dieser unvermeidbare Weltenbrand werde dazu führen, dass der Kapitalismus sich selbst verschlinge, so Flores Magón. Zwar war er enttäuscht über die nationalistische Begeisterung der Massen, doch vertraute er der Kraft der mobilisierten Arbeiter, die dafür sorgen müssten, dass dies der letzte kapitalistische Krieg sei: „Wenn dieser Konflikt nicht den Tod des Rechts auf Eigentum, die Ausrottung des Autoritätsprinzips und die Auslöschung der Religion im Gewissen der Menschen nach sich zieht, dann muss man sich damit abfinden, dass die Menschheit so verkommen ist, dass sie noch hunderte von Jahren bis zu ihrer Erneuerung benötigen wird.“36 Auch wenn der aus europäischen Quellen gespeiste Anarchismus nicht einmal innerhalb der lateinamerikanischen Arbeiterbewegungen eine Mehrheitsmeinung darstellte, so spiegelte sich in den Worten von Flores Magón der Zeitgeist durchaus wider. Denn die globale Dimension des Krieges wurde von Beginn an zu einem prägenden Thema der Kommentare und Debatten. Schon am 2. August 1914 brachte der Leitartikler von La Nación dies auf den Punkt, als er die Geschehnisse in Europa als „Drama der gesamten Menschheit“ bezeichnete, in dem es keine Zuschauer geben könne.37 Vereinzelt sprachen Kommentatoren bereits davon, dass dieser Krieg kein europäischer, sondern ein universaler sei, denn er zerstöre alle Bande zwischen den Menschen.38 Es handele sich, so der argentinische Intellektuelle Rojas, um einen „Bürgerkrieg der Menschheit“, der zwar als lokale An32 33 34 35 36 37 38
La culpa de la guerra, in: El Día (Montevideo), 5.8.1914, S. 3. Las terribles consecuencias de la guerra en el porvenir, in: La Crónica, 13.9.1914, S. 6. Dura lección, in: La Vanguardia, 6.8.1914, S. 1. Antonio de Pío Araujo, La catastrofe mundial, in: Regeneración (Mexiko), 22.8.1914, S. 1. Ricardo Flores Magón, La Gran Guerra Europea, in: Regeneración, 8.8.1914, S. 1. Ecos del día: La catástrofe, in: La Nación, 2.8.1914, S. 1. Chronica, in: Revista da Semana, 8.8.1914, S. 5.
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gelegenheit begonnen habe, dann aber schnell eine globale Größenordnung mit Auswirkungen auf die Zukunft der ganzen Welt angenommen habe.39 Für Rojas’ Landsmann Juan P. Ramos ging es in diesem Krieg um nichts weniger als die gesamte menschliche Zivilisation: „Der Sieg der einen oder anderen Seite kann fundamentalen Wandel in der politischen Organisation der Nationen und besonders im inneren Leben aller konstituierten Gesellschaften bringen.“40 Alle Nationen der Erde seien aufs Engste miteinander verwoben, und wenn nur wie im August 1914 fünf von ihnen zu den Waffen griffen, dann werde die Welt in ihren wirtschaftlichen Grundfesten erschüttert. „Dasselbe kann schon morgen in der moralischen Ordnung, der politischen Ordnung, der geistigen Ordnung […] passieren.“41 Darauf wiesen auch die argentinischen Sozialisten hin, als sie die schwere Krise im Subkontinent in einen Zusammenhang mit der Notlage „in der gesamten zivilisierten Welt“ und selbst in den entferntesten Regionen stellten. Der Krieg, so La Vanguardia weiter, habe sich scheinbar im Raum ausgedehnt, um nun selbst in Asien und Afrika fühlbar zu werden.42 Daher schrieb der spanischmexikanische Dichter Amado Nervo, die Menschheit müsse sich eingestehen, dass keine Nation sich mehr auf sich selbst zurückziehen könne.43 Diese Kommentare spielten auf die Realität der schweren wirtschaftlichen Verwerfungen an, die der Kriegsausbruch in ganz Lateinamerika nach sich zog. Das Gefühl der eigenen Betroffenheit, des Einbezogenseins in die Weltereignisse, war nur allzu realistisch, da die Folgen des Krieges sich schmerzlich bemerkbar machten. So stellte der brasilianische Gesandte in London Mitte August fest, dass der Krieg, wie lange er auch immer dauern werde, die Weltwirtschaft auf Jahrzehnte zerrütten werde.44 In Rio de Janeiro und andernorts in Lateinamerika wartete man derartige Berichte allerdings gar nicht erst ab, um tätig zu werden.45 Doch waren die Gegenmaßnahmen angesichts des Darniederliegens von Handel und Schifffahrt erfolglos. Selbst im abgelegenen Paraguay, das eine relativ geringe Einbindung in den Weltmarkt aufwies, fühlte man die wirtschaftlichen Auswirkungen des Krieges sofort.46 Zwar besserte sich die Lage ab Ende 1914, als die Nachfrage nach kriegswichtigen Rohstoffen in einigen lateinamerikanischen Ländern zu einem regelrechten Exportboom führte. Im Februar 1915 kommentierte La Nación, dass Lateinamerika zwar nur einen indirekten dafür aber umso wirkungsvolleren Beitrag 39 Ricardo Rojas, La guerra de las naciones, Buenos Aires 1924, S. 66–67. Siehe auch: A conflagração européa, in: A Epoca (Rio de Janeiro), 4.8.1914, S. 1. 40 Ramos, Alemania ante la guerra, S. 442. 41 Ebd. Siehe auch Eduardo Navarro Salvador, Fuerzas y alianzas, in: El Demócrata (Mexiko) 17.10.1914, S. 3. 42 Dura lección, in: La Vanguardia, 6.8.1914, S. 1. Siehe auch Antonio de Pío Araujo, La catastrofe mundial, in: Regeneración, 22.8.1914, S. 1. 43 Amado Nervo, Ante la catástrofe, in: La Nación, 6.10.1914, S. 5. 44 Brasilianische Gesandtschaft in London an Ministério das Relações Exteriores, 18.8.1914, in: Arquivo Histórico do Itamaraty, Directoria Geral dos Negocios Politicos e Diplomaticos. 45 Gil Vidal, Effeitos da guerra, in: Correio da Manhã, 4.8.1914, S. 2. 46 Ante la guerra, in: El Diario, 4.8.1914, S. 4.
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zum Krieg leiste wie alle Länder mit globalen Verflechtungen.47 Doch insgesamt, da waren sich die Beobachter einig, war 1914 ein schlechtes Jahr für die Menschheit, ja eine einzige Katastrophe, die von Europa aus die ganze Welt erschütterte.48 Dementsprechend machte man sich auch in Lateinamerika Gedanken über die mögliche Dauer des Kriegs. Wie in Europa selbst bestand zunächst Hoffnung auf ein schnelles Ende nach einer Entscheidungsschlacht.49 Doch bereits Mitte August 1914 verbreiteten sich Spekulationen über eine eventuell längere Dauer, weil der Charakter des Krieges im 20. Jahrhundert völlig neuartig sei. Anfang 1915 waren die Spekulationen fast schon zur Gewissheit geronnen.50 Diese Einschätzung basierte nicht zuletzt darauf, dass man einen globalen Kreislauf der Gewalt zu erkennen meinte, der in Lateinamerika bereits seit 1910 mit dem Ausbruch der mexikanischen Revolution zu spüren war und sich nun durch den Krieg in Europa zu einem „immensen Horror“ auswuchs. „Die menschliche Bestie“, so Ramos, „macht ihre vergessenen Rechte geltend, und sie erhebt sich wütend und stolz über die kolossale Totenpyramide der Schlachtfelder.“51 Diese bildreiche Sprache fand sich auch in vielen Zeitungskommentaren, die das Ende aller moralischen Werte, ja ein „danteskes Inferno“ zu erkennen glaubten: „Auf allen Meeren und in allen Landen bringen die Menschen sich gegenseitig um; Millionen von Soldaten sind nur darauf aus zu töten oder zu sterben; es regnet Feuer und Stahl, es sinken die riesigen Kreuzer, es brennen die Städte und die Felder sind zerstört; überall ist Morden, Feuerbrand, Raub, Gewalt; das einzige Gesetz heißt Zerstören und Töten; der Mensch hat dem geilen und wilden Gorilla Platz gemacht.“52 Der Rückfall in die Barbarei schien angesichts des bereits erreichten Fortschritts besonders erschreckend. Laut Nervo übertrafen „der Horror und die Grausamkeiten des Krieges von heute […] die aller Barbareneinfälle.“53 Für Nervo und andere lateinamerikanische Intellektuelle war es besonders furchtbar zu sehen, dass die Gewalt nicht vor den Denkern haltmachte. Viele waren zwar freiwillig und voller Begeisterung in die Schützengräben gezogen, doch bedeutete ihr Tod den Verlust einer geistigen Elite.54 Weniger elitär argumentierten die Sozialisten: „Massen […] prallen in diesen Momenten aufeinander, um den Tod in den Boden Europas zu säen und ihn zu zerstören. Die Jugend der Völker wird im Krieg zu Mehl zermahlen […]. Lange Monate oder Jahre, die uns wie Jahrhunderte vorkommen werden, wird die Arbeit von Millionen Männern unter-
47 Ante la realidad, in: La Nación, 9.2.1915, S. 7. 48 O anno que passa, in: Correio da Manhã, 1.1.1915, S. 1; El nuevo año, in: Zig-Zag (Santiago de Chile), 2.1.1915. 49 Triple Alianza y Triple Entente, in: La Nación, 3.8.1914, S. 4. 50 La duración de la guerra, in: La Nación, 16.8.1914, S. 5; La duración de la guerra, in: La Nación, 21.1.1915, S. 7. 51 Ramos, Alemania ante la guerra, S. 426. 52 La Guerra, in: Nosotros, 8.8.1914, S. 118. 53 Amado Nervo, Ante la catástrofe, in: La Nación, 6.10.1914, S. 5. 54 E. Gómez Carillo, La vida trágica, in: La Nación, 24.12.1914, S. 5.
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brochen, um durch die kalkulierte Barbarei und die gelehrte Grausamkeit der Vernichtungstechnologie ersetzt zu werden.“55 Es gab also gute Gründe, sich für die Beendigung des Krieges einzusetzen. Wie andernorts waren auch in Lateinamerika die politische Linke und die Kirche besonders stark in pazifistischen Aktivitäten engagiert. Während zum Beispiel die argentinischen Katholiken im August 1914 eine Wallfahrt zum Nationalheiligtum in Luján veranstalteten, um für den Weltfrieden zu beten, kritisierte La Vanguardia, dass sich im Namen derselben Religion in Europa Katholiken gegenseitig umbrächten.56 Die sozialistischen Bewegungen sahen sich als die wahren Vorreiter im Kampf gegen den Krieg und hielten Jean Jaurès als leuchtendes Vorbild hoch.57 Doch ihre Hoffnung, dass „die Gewalt als Mittel zur Beilegung internationaler Streitigkeiten in Zukunft ausgespielt haben“ werde, sollte sich nicht erfüllen.58 Selbst in den eigenen Reihen offenbarte der Kriegsausbruch die Brüchigkeit der Bewegung. So kam es im sozialistischen Verein Vorwärts, der sich aus deutschen Einwanderern in Buenos Aires zusammensetzte, zu Massenaustritten der kriegsbegeisterten Basis. Im Oktober 1914 zählte man nur noch 19 aktive Mitglieder. Wenig später erklärte sich die Vereinsleitung loyal zu den deutschen Kriegsanstrengungen und stellte ihr Vereinslokal für patriotische Demonstrationen zur Verfügung, woraufhin die Mitgliederzahl wieder anstieg.59 Der Kampf gegen den Krieg, so stellten viele frustriert fest, war letztlich umsonst und vergeblich, denn die nationalistische Begeisterung hatte den Wunsch nach Frieden in den Hintergrund gedrängt.60 ** Was aber ergab sich aus diesen bedrückenden Ereignissen für Lateinamerika? Immerhin galt Europa vielen noch immer als Zentrum der Zivilisation, als Impulsgeber. Das zeigte eine Umfrage von Nosotros im Oktober 1914, in der lateinamerikanische Intellektuelle nach den Auswirkungen des Krieges für die Menschheit und für Lateinamerika im Besonderen gefragt wurden.61 Doch schien sich diese Zivilisation, die auf Vernunft und Materialismus gründete, mit großen Schritten auf ihr Ende zuzubewegen. Dieser pauschalisierende Diskurs war aus Europa entlehnt, wo Intellektuelle vergleichbare Klagen bereits vor dem Krieg formuliert hatten.62 Interessant war allerdings die Schonungslosigkeit der Ausei55 La guerra!, in: La Vanguardia, 2.8.1914, S. 1. 56 Por la paz europea, in: La Vanguardia, 24./25.8.1914, S. 1; Religión de amor, in: La Vanguardia, 3./4.8.1914, S. 1. 57 El desastre de una guerra euopea, in: La Vanguardia, 1.8.1914, S. 1. 58 Dura lección, in: La Vanguardia, 6.8.1914, S. 1. 59 Ronald C. Newton, German Buenos Aires, 1900–1933. Social Change and Cultural Crisis, Austin 1977, S. 34. 60 A’ hora da guerra, in: A Careta (Rio de Janeiro), 8.8.1914. 61 Nuestra tercera encuesta, in: Nosotros, 8.10.1914, S. 164. 62 Rojas, La guerra de las naciones, S. 289f.
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nandersetzung mit Europa, dem ehemals verklärten Modell und Vorbild für lateinamerikanische Entwicklungsanstrengungen seit der Unabhängigkeit. Offen diskutierte man nun die Barbarisierung der Alten Welt. Der Londoner Korrespondent des Jornal do Comercio aus Rio de Janeiro berichtete von den nächtlichen Verdunkelungen, die den Eindruck von Auflösungserscheinungen verstärkten und einen tiefen Eindruck auf die Psyche der Nation hinterließen.63 Im vermeintlich hoch kultivierten Europa sei die Zivilisation bankrott, sie habe sozusagen Selbstmord verübt, so die Kommentatoren, denn die komplizierteste und modernste Technik werde nun dafür eingesetzt, noch effizienter zu morden.64 Europakritik hatte es natürlich auch schon vor Kriegsausbruch gegeben.65 Seit August 1914 aber erschien Europa als bedauernswerter „alter Kontinent“, der auf seinem Marsch in den Fortschritt um Jahrzehnte zurückgeworfen und ruiniert werde.66 Mit feiner Ironie kommentierte die mexikanische Zeitung El Demócrata den bekannten Dünkel der Europäer gegenüber Lateinamerika und diagnostizierte die „Unterentwicklung“ der eigenen Region, denn in Sachen Militarismus und Brutalität mache der Alten Welt niemand etwas vor, während das Ausmaß des Blutvergießens im eigenen Bürgerkrieg dagegen verblasse. „Gott sei Dank“, so der Leitartikler, „sind wir hier nicht so weit entwickelt wie die Europäer.“67 Sein Kollege vom Diario del Hogar bemerkte, das alte Europa, das Mexiko immer wieder als barbarisch bezeichnet hatte, kämpfe heute einen viel blutigeren Kampf aus viel niedrigeren Motiven. Im Namen der Zivilisation werde dort aus Gier und Neid ein von Geheimdiplomaten und Aristokraten angestachelter Krieg ausgefochten, während es im eigenen Land immerhin noch um soziale Reformen und die Gleichberechtigung der Menschen gehe.68 Die Kritik paarte sich mit Verärgerung. Lugones berichtete schon im Juli 1914 in einem allerdings erst nach Kriegsausbruch publizierten Artikel zornig über die europäischen Krisen: „Wie kann es Europa seltsam erscheinen, dass Mexiko nicht alle seine Indios in 100 Jahren Unabhängigkeit zivilisiert hat, wenn die albanische oder marokkanische Barbarei sich seit grauer Vorzeit mitten in Europa halten konnte? Und außerdem: was soll es uns kümmern, ob das Europa seltsam erscheint oder nicht? Wir sind ganz allein die Herren unseres Schicksals […] Die Neue Welt hat eine neue Zivilisation zur Grundlage, und sie hat damit bereits begonnen […].“69
63 As Financas da Guerra, in: Jornal do Commercio, 26.11.1914, S. 2. 64 La guerra, in: Variedades, 19.9.1914; Ramón Melgar, La bancarrota de una civilización. Guerra europea de 1914, Dolores 1914, S. 11. 65 Eduardo Devés Valdés, El pensamiento latinoamericano en el siglo XX. Entre la modernización y la identidad, Bd. 1: Del Ariel de Rodó a la CEPAL, 1900–1950, Santiago de Chile 2001, S. 44f. 66 A victoria da Triplice Alliança?, in: Jornal do Commercio, 2.8.1914, S. 17; La pobre Europa, in: Zig-Zag, 8.8.1914. 67 La guerra de Europea y nuestra revolución, in: El Demócrata, 25.9.1914, S. 2. 68 Historia de la actual guerra en Europa, in: El Diario del Hogar (Mexiko), 7.10.1914, S. 2. 69 Leopoldo Lugones, La viga en el ojo (Paris, Juli 1914), in: La Nación, 10.8.1914, S. 3.
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Diese neue Zivilisation sollte Amerika quasi als „Berg Ararat der Zivilisation“ erstrahlen lassen.70 Nach dem europäischen Fegefeuer sollte sie jenseits des Atlantiks wie Phönix aus der Asche wiederauferstehen.71 Der Krieg, so der argentinische Soziologe Augusto Bunge in seiner Antwort auf die Umfrage von Nosotros, bot die einmalige Gelegenheit sich aus der Abhängigkeit der Europäer zu lösen und die Macht der ausländischen Monopole zu zerschlagen.72 Das sah man in Mexiko nicht anders.73 Der chilenische Offizier Ernesto Medina schloss sich dieser Meinung an. Aus seiner Sicht werde der Krieg viele Auswanderer nach Lateinamerika treiben, wo sie viel Gutes bewirken würden.74 Insgesamt waren die veröffentlichten Meinungen zuversichtlich für die Zukunft der eigenen Nation, von der man meinte, sie werde auf Kosten der Europäer an Ansehen gewinnen und sich im Kreis der „zivilisierten“ Mächte behaupten.75 Für Europa aber, da waren sich die Beobachter einig, sah die Zukunft düster aus. Bunge war in seinem Urteil besonders weitsichtig und schrieb, dass der Krieg für die Europäer Probleme aufwerfe, die viel zu groß seien, als dass einzelne Länder sie lösen könnten. Die enormen Kosten der Zerstörungen und der Kriegführung mussten seines Erachtens das Ende des klassischen liberalen Kapitalismus und die Verarmung Europas mit sich bringen. Im Allgemeinen sagte man einen Aufstieg der Arbeiterschaft und die Stärkung des Staates voraus.76 Häufig las man auch Prognosen, die den Fall der europäischen Dynastien und soziale Revolutionen voraussagten. All dies würde zwar schwere Erschütterungen, letztlich aber auch einen Zugewinn an Freiheit mit sich bringen.77 *** Durch den Kriegsausbruch in Europa wurde Amerika einmal mehr zur „Stadt, die auf einem Berge liegt“, und damit meinte man in Lateinamerika bereits 1914 selbstbewusst das eigene Amerika als ein Modell für wahren Frieden.78 Dieses neue Selbstbewusstsein in Bezug auf die Nation ist eines der Wahrnehmungsmuster, das sich aus den letztlich sehr heterogenen Reaktionen herausfiltern lässt. 70 America, Ararat da civilisação, in: A Epoca, 9.9.1914, S. 1. 71 So der venezolanische Konsul Raúl Crespo aus Genua. Zitiert nach Ramón J. Velásquez, Venezuela y la primera guerra mundial (1914–1918), in: Boletín de la Academia Nacional de la Historia 88 (2005), S. 28–67, hier S. 31. Siehe auch: Interesante entrevista con don Alejandro Alvarez, in: Zig-Zag, 20.2.1915. 72 Nuestra tercera encuesta, in: Nosotros, 8.10.1914, S. 144. Siehe auch den Kommentar des Zoologen Clemente Onelli, in: Nosotros, 8.10.1914, S. 169. 73 Horizontes abiertos, in: El Demócrata, 4.4.1917, S. 3. 74 El conflicto europeo, in: Zig-Zag, 8.8.1914. 75 So das Fazit der Umfrage: Nuestra tercera encuesta, in: Nosotros, 8.10.1914, S. 161. 76 Nuestra tercera encuesta, in: Nosotros, 8.10.1914, S. 140–142. 77 La Guerra, in: Nosotros, 8.8.1914, S. 118; Nuestra tercera encuesta, in: Nosotros, 8.10.1914, S. 159; Bertrán, La conflagración europea, S. 93; H. Lavaerd, Después de la guerra, in: Revista Argentina de Ciencias Políticas 9 (1914/15), S. 445–452, hier S. 445. 78 Julio Picquet, Una tormenta mortífera, in: La Nación, 5.8.1914, S. 5.
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Weitere kamen hinzu: Der Schock über das Ausmaß und die globale Dimension der Gewalt, die der Krieg mit sich brachte; der Angriff auf die gemeinsame Zivilisation und der Niedergang Europas; das revolutionäre Potenzial, das durch den Krieg angeheizt wurde; schließlich auch die Wut darüber, dass die Europäer es zu diesem „monströse[n] Attentat gegen die menschliche Kultur“ hatten kommen lassen. Dass die Vorbildrolle der Alten Welt sich angesichts des mörderischen Treibens überholt hatte, das machten bereits die frühen Kommentare deutlich. Andererseits zeigten sie aber auch, wie stark lateinamerikanische Beobachter in europäischen Diskursmustern verhaftet blieben. Wichtig war zweifellos die frühe Erkenntnis, dass es Lateinamerika aufgrund der globalen Verflechtungen letztlich unmöglich war, sich vollständig aus dem Konflikt herauszuhalten. Die Rückwirkungen des Kriegs, die schon im Anfang August 1914 mit aller Wucht in der Region spürbar wurden, zeigten ohne Frage, dass neue Herausforderungen auf Lateinamerika zukamen, die die Weichenstellung für das 20. Jahrhundert ganz erheblich beeinflussen sollten.
DIE AUSWIRKUNGEN DES KRIEGSAUSBRUCHS AUF EINE GLOBALISIERTE WELTWIRTSCHAFT Boris Barth EINFÜHRUNG: ÖKONOMISCHE GLOBALISIERUNG VOR 1914 Ausgehend von der Wirtschaftsgeschichtsschreibung der 1990er Jahre hat sich unter Historikern ein breiter Konsens darüber gebildet, dass die globale Vernetzung der Weltwirtschaft vor 1914 ein zuvor niemals gekanntes Ausmaß erreicht hat.1 Übereinstimmung besteht weiterhin darüber, dass der Erste Weltkrieg und seine langfristigen Folgen diesen hohen Grad von ökonomischer Globalisierung deformiert, bzw. zerstört haben, dass es in den 1920er Jahren trotz erheblicher Bemühungen nicht gelang, an diese Erfolgsgeschichte der Vorkriegszeit anzuknüpfen, und dass der Börsencrash von 1929 und die folgende Große Depression nicht nur zu einer dramatischen Schrumpfung des Welthandels, sondern auch zu einer Regionalisierung und Zersplitterung der Weltwirtschaft in einzelne Wirtschafts- und Währungsblöcke geführt hat. Erst seit den späten 1970er bzw. in den 1980er Jahren ist es wieder gelungen, ein Maß an weltwirtschaftlicher Integration zu erreichen, das mit der Zeit von vor 1914 vergleichbar gewesen wäre. Auch wenn dieses sehr pauschale Bild auf der regionalen und sektoralen Ebene einiger Korrekturen bedarf, so handelt es sich um den derzeit grundsätzlich akzeptierten Forschungsstand. Die entscheidende Voraussetzung für die wachsende globale ökonomische Integration im 19. Jahrhundert bestand in der Existenz und in der Expansion des britischen Empires. London stellte das clearing center der Weltwirtschaft dar, zu dem jeder internationale Marktteilnehmer jederzeit Zugang hatte. Im Empire herrschte weitgehend Freihandel, d.h. jeder – auch nicht-britische – Investor konnte jederzeit beispielsweise in Indien, Ägypten oder Südafrika Geschäfte tätigen, sofern er dies wollte. Gewisse Einschränkungen bestanden nur bei strategisch sensiblen Transaktionen wie z.B. bei Hafen- oder bei Eisenbahnbauten. Zudem garantierte die weltweite Präsenz der britischen Flotte, dass in London definierte liberale Normen eingehalten, bzw. im Konfliktfall gewaltsam durchgesetzt wurden. Zahlungsunfähige Schuldnerstaaten mussten mit dem stets einsatzbereiten 1
Grundlegend zur ökonomischen Globalisierung vor 1914 immer noch: Knut Borchardt, Globalisierung in historischer Perspektive, München 2001; Jürgen Osterhammel, Niels P. Petersson, Geschichte der Globalisierung. Dimensionen, Prozesse, Epochen, München 2007.
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britischen militärischen Drohpotential rechnen. Vor 1914 benutzten im Überseehandel auch alle deutschen Firmen fast ausschließlich die Pfund-Sterling Valuta, die damit – modern gesprochen – eine Art von globaler Leitwährung darstellte. Zwar ist nach der Jahrhundertwende ein relativer Rückgang der britischen Industrie- und Warenfertigung gegenüber den neuen Konkurrenten USA und Deutsches Reich erkennbar. Doch spielten die USA als globaler Konkurrent der Briten keine Rolle, weil die sehr hohen amerikanischen Produktionszahlen fast vollständig vom rapide wachsenden Binnenmarkt absorbiert wurden. Gerade im Bankwesen bestand ferner eine sehr enge deutsch-britische Kooperation. Es wäre grundsätzlich falsch anzunehmen, dass „deutsche“ Banken stets auch im „deutschen“ Interesse handelten. Das gleiche gilt für die großen Finanziers der City of London. Gerade wegen der umfangreichen globalen Verflechtungen orientierten sich Finanziers an Profitmöglichkeiten und nur in Ausnahmefällen an den vorgeblichen oder wirklichen „nationalen“ Interessen ihrer Regierungen. In dieser Hinsicht markierte der Erste Weltkrieg einen scharfen Einschnitt, weil er in einem bisher quantitativ nur schwer abschätzbaren Maße die Nationalisierung des zuvor weitgehend internationalen Kapitals beförderte. Politisch und militärisch bestand zwischen Großbritannien und dem Deutschen Reich seit der Jahrhundertwende eine wachsende und scharfe Konkurrenz, denkt man an koloniale Rivalitäten oder an den Flottenbau. Der rasante Aufstieg der deutschen Wirtschaft hatte viele Ursachen, aber die rapide deutsche ökonomische Expansion in die Weltmärkte war nur deshalb möglich, weil das Empire existierte. Zwei Punkte sind allerdings kritisch hervorzuheben. Erstens ist das Bild einer ökonomisch globalisierten Welt vor 1914 eindeutig eurozentrisch bzw. durch die Perspektive der Industrieländer geprägt. Ökonomische Globalisierung stellte im 19. Jahrhundert einen Prozess dar, der durch das aktive Handeln von exportorientierten Firmen und Banken vorangetrieben wurde und der zudem eng mit dem imperialistischen Ausgreifen der europäischen Kolonialmächte verknüpft war. Vor allem das britische Empire und die seit den 1840er Jahren aggressiv vorangetriebene britische Freihandelspolitik waren dafür verantwortlich, dass immer größere Teile der Welt in ökonomische Zusammenhänge eingegliedert wurden, deren Spielregeln maßgeblich von europäischen Akteuren bestimmt wurden. Ebenso waren die rapide Industrialisierung und der technische Fortschritt, durch den bisher kaum oder gar nicht bekannte Teile der Erde unterworfen wurden, wesentlich durch Europa bestimmt – Ausnahmen wie die USA und Japan bestätigen die Regel. Ökonomische Expansion war allerdings nicht deckungsgleich mit kolonialer Herrschaft. Konsens besteht unter Historikern darüber, dass der Kolonialismus vor 1914 – von einigen Ausnahmen wie Indien abgesehen – volkswirtschaftlich für das Mutterland meist wenig rentabel war, während informelle Herrschaft demgegenüber in vielen Fällen enorme Profite abwerfen konnte. Zwar gab es auch 1914 noch einige Regionen, die kaum in die globalen Ökonomien integriert waren, doch können diese im hier verfolgten Zusammenhang vernachlässigt werden. Tibet oder der Norden Sibiriens dürften weitgehend autark gewesen sein, doch selbst die Handelswege in der inneren Sahara wurden 1913 durch politische Er-
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eignisse in Mitleidenschaft gezogen, die sich in ganz anderen Regionen Afrikas abspielten und die maßgeblich von den Franzosen initiiert worden waren.2 Zweitens fällt die überwiegend positive Sichtweise auf, mit der die ökonomische Globalisierung vor 1914 heute meistens betrachtet wird. Diese Interpretation ist vor allem erklärbar durch die verheerenden Folgen der Großen Depression der 1930er Jahre. Der Gegensatz zwischen der Zeit vor 1914 und den 1930er Jahren erklärt, warum die ökonomische Globalisierung in der Rückschau gelegentlich idealisiert wird. Dies soll hier ausdrücklich nicht geschehen, denn auch die Globalisierung vor dem Ersten Weltkrieg hatte ihre Schattenseiten. Hierzu zählten die Zerstörung funktionierender originär afrikanischer oder asiatischer Ökonomien und traditioneller Handelswege, eine konstante und sehr hohe Armutsmigration vor allem nach Nordamerika, die Umformung der Wirtschaft auf die Bedürfnisse des Mutterlandes in abhängigen Territorien und in den europäischen Kolonien und nicht zuletzt katastrophale Hungersnöte, die von den Briten durch das bedingungslose Festhalten am Freihandel und an der radikal liberalen Nicht-Interventionspolitik verschärft wurden. Allein im Zuge der großen Hungerkatastrophe in Indien zwischen 1876 und 1878 kamen mehrere Millionen Menschen ums Leben, weil die Landwirtschaft einseitig auf den britischen Export ausgerichtet war und selbst aus den Hungerregionen Weizen exportiert wurde. In der internationalen Krisenbewältigungspolitik, die auf die Lehman-Krise von 2008 folgte, stand stets das warnende Menetekel der Folgen von 1929 im Raum. Nahezu alle handelnden Akteure nahmen die Mahnung ernst, dass große Krisen in keinem Falle ausschließlich im nationalen Rahmen bewältigt werden können und dass internationale Kooperation das Gebot der Stunde darstellte. Bereits 2001 hatte Harold James in einem in Deutschland nur wenig beachteten Buch zur Großen Depression die berechtigten Fragen gestellt, ob eine solche Katastrophe noch einmal geschehen könne, und ob globale Systeme an ihren eigenen Widersprüchen zerbrechen können.3 Selbst wenn man diese Fragen verneint, so ist doch kaum bestreitbar, dass der Erste Weltkrieg ein Zeitalter der globalen ökonomischen Integration beendete. Im Folgenden soll vor allem das Jahr 1914 genauer betrachtet und das Problem untersucht werden, ob und in welcher Weise der Ausbruch des Ersten Weltkriegs bereits einen irreversiblen wirtschaftlichen Einschnitt bedeutete.
2 3
Vgl. hierzu: Astrid Meier, Hunger und Herrschaft. Vorkoloniale und frühe koloniale Hungerkrisen im Nordtschad, Stuttgart 1995. Vgl. Harold James, The End of Globalization. Lessons from the Great Depression, London 2001.
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DIE ZÄSUR VON 1914 Aus der langfristigen Perspektive stellte das Jahr 1914 eine entscheidende Epochenzäsur dar, durch die das erste Zeitalter der Globalisierung unwiderruflich beendet wurde und durch die Europa seine globale ökonomische Vormachtstellung verlor. Obwohl viele Zeitgenossen düstere Zukunftsprognosen stellten, waren die langfristigen Folgen des Kriegsausbruchs zu diesem Zeitpunkt noch nicht prognostizierbar. Auch ist fraglich, ob 1914 wirklich den point of no return markierte. Denn die in diesem Jahr eingeleiteten Entwicklungen wären zunächst noch revidierbar gewesen. Wenn der Krieg aus irgend einem Grund bereits Ende 1915 oder sogar Anfang 1916 mit einem Kompromissfrieden geendet hätte, und die Beteiligten sich darauf geeinigt hätten, zum status quo ante zurückzukehren, wären die ökonomischen Folgen zwar schwerwiegend, aber doch beherrschbar gewesen. Ende 1918 hingegen waren sie es nicht mehr, und die gesamten 1920er Jahre waren von dem vergeblichen Versuch bestimmt, eine stabile neue Weltwirtschaftsordnung zu etablieren. Bereits in der älteren Literatur sind die wirtschaftlichen Kriegsvorbereitungen einiger der beteiligten europäischen Staaten ausführlich untersucht worden.4 Die Ergebnisse sind gleichermaßen eindeutig wie frappierend: Wie im militärischen Bereich waren die finanziellen und ökonomischen Kriegsvorbereitungen mangelhaft, weil offensichtlich kaum einer der zeitgenössischen staatlichen Experten und privaten Unternehmer in der Lage war, sich die Dimensionen eines kommenden großen europäischen Krieges auszumalen. Lediglich in der deutschen privaten Wirtschaft wurden nach der zweiten Marokkokrise, als Europa im September 1911 vor einem deutsch-französischen Krieg zu stehen schien, einige – wenn auch ganz unzulängliche – Vorbereitungen getroffen. Das Hauptthema des Vierten Allgemeinen Deutschen Bankierstages im September 1912 war die finanzielle Kriegsvorbereitung. Lebhaft wurde darüber diskutiert, ob die Finanzwirtschaft auf einen Krieg vorbereitet sei. Im hier verfolgten Zusammenhang sind zwei Beobachtungen zentral: Einerseits wurde das größte Problem in einer möglichen Börsenpanik bei Kriegsausbruch gesehen. Bei der Vermeidung solch einer Panik sollten die Finanziers auch sehr erfolgreich sein, wie sich Anfang August 1914 zeigte. Zweitens aber wurde weder über die zu erwartende Länge eines Krieges diskutiert, noch wurden die Kosten realistisch vorausgesehen, sondern stattdessen drastisch unterschätzt.5 Auch in den folgenden zwei Jahren sahen die Experten weder die Folgen der britischen Blockade, noch die immensen Kosten des Krieges voraus. Wie bei den Militärs, die ganz auf den Erfolg des hoch riskanten Schlieffenplans setzten, fehlte jedes worst case-Denken. Nicht einmal im Ansatz wurde der Versuch unternommen, in Planspielen oder in Denkmodellen eventuel 4 5
Vgl. für Deutschland: Lothar Burchard, Friedenswirtschaft und Kriegsvorsorge. Deutschlands wirtschaftliche Rüstungsbestrebungen vor 1914, Boppard 1968. Vgl. Verhandlungen des Vierten Allgemeinen Deutschen Bankierstages zu München am 17. und 18. September 1912, Berlin 1912.
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le Fehlschläge einzukalkulieren, die prekäre Rohstoff- und Nahrungsmittelsituation zu analysieren oder zumindest die Möglichkeit eines langen europäischen Konfliktes abzuschätzen. Einigermaßen realistisch wirken demgegenüber die britischen Vorstellungen, im Konfliktfall das Deutsche Reich und seine Verbündeten mit einer Fernblockade von allen überseeischen Märkten abzuschneiden und langfristig entscheidend zu schwächen. Dies stellte eine strategische Konzeption dar, die in britischer Tradition wirtschaftliche Faktoren in eine militärische Seestrategie integrierte und die Erfahrungen des Amerikanischen Bürgerkriegs einbezog. Die Seeblockade der Union hatte in erheblichem Maße zur Niederlage der Konföderation beigetragen. Noch weniger als im Deutschen Reich wurde die Eventualität eines Krieges aber in der Privatwirtschaft der Entente-Staaten bedacht. Weder der britische, noch der französische Finanzmarkt waren in irgendeiner Weise auf einen Kriegsausbruch, geschweige denn auf einen großen und langen Krieg vorbereitet. Um ein finanzielles Chaos zu verhindern, musste sofort ein Zahlungsmoratorium verkündet werden. Die Börse in Paris konnte erst am 7. Dezember 1914 und diejenige in London am 4. Januar 1915 mit Einschränkungen wieder geöffnet werden.6 Ein derart drastischer Schritt war in Deutschland nicht notwendig, da die privaten Finanzinstitute und die Reichsbank zumindest für einen Kriegsausbruch einige Vorsorgemaßnahmen getroffen hatten. Gänzlich unrealistisch waren aber die weitergehenden ökonomischen Konzepte des deutschen Staates, da diese sich an einem kurzen Krieg orientierten, der zudem nicht in den ökonomischen Bereich eskalieren würde. Paul Kennedy hat die deutsch-britische Handelsrivalität als einen von mehreren Faktoren benannt, die zur Verschlechterung der bilateralen Beziehungen beigetragen hätten. Ohne Zweifel wurden bereits seit der späten Bismarckzeit britische Waren in Deutschland durch Zölle benachteiligt. Zugleich war es deutschen Exportfirmen vor 1914 gelungen, in zahlreiche zuvor britisch dominierte Märkte einzudringen und dem britischen Handel erhebliche Marktanteile abzunehmen. Dies galt vor allem für Lateinamerika, wo deutsche Handelshäuser und Banken erhebliche Erfolge erzielten. Trotz dieser Konkurrenzsituation stellten Großbritannien und das Deutsche Reich aber auch füreinander sehr wichtige Kunden dar. 1913 importierte Großbritannien Waren im Wert von 80,4 Millionen Pfund aus Deutschland, exportierte im Wert von 40,6 Millionen und re-exportierte im Wert von 19,8 Millionen. Hinzu kamen noch die wahrscheinlich beträchtlichen Warenmengen, die über Drittländer verkauft wurden. Damit befand sich das Deutsche Reich für Großbritannien auf dem zweiten Platz der Importeure (nach den USA) und bei den Exporten ebenfalls auf Platz zwei (nach Indien).7 Vor diesem Hintergrund wird deutlich, dass der August 1914 für beide Länder einen tiefen Einschnitt bedeutete, weil jeweils einer der wichtigsten Absatz- und Handelsmärkte 6 7
Zu den Börsen vgl. Jacob Riesser, England und wir. Finanzielle und wirtschaftliche Kriegswirkungen in England und Deutschland, Leipzig ²1915. Vgl. Paul Kennedy, The Rise of the Anglo-German Antagonism 1860–1914, London 1982, S. 293f.
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verloren ging. Dies war führenden Wirtschaftskreisen sowohl in London als auch in Berlin völlig bewusst und erklärt, warum beispielsweise in der Bankenwelt der Kriegsbeginn keineswegs begeistert begrüßt wurde.8 Salopp formuliert: Selbst wenn persönliche oder nationale Animositäten bestanden, schien es hochgradig irrational zu sein, einen der besten und profitabelsten Kunden umzubringen. Vielleicht auch infolge mangelhafter Planungen begann der Erste Weltkrieg unter ökonomischen Aspekten im August 1914 recht moderat als konventioneller Krieg: Feindvermögen wurden eingefroren. Alle Zentralbanken trafen Maßnahmen zum Schutz der eigenen Währungen. Vorbereitende Maßnahmen zur Bewirtschaftung seltener strategischer Rohstoffe wurden getroffen, und Experten begannen zu untersuchen, auf welche Weise die zu erwartenden Kosten für den Krieg aufgebracht werden könnten. In dieser Hinsicht unterschieden sich die Entscheidungen im August und September 1914 kaum von denjenigen, die auch bei vorhergehenden Konflikten wie etwa dem Deutsch-Französischen Krieg von 1870/71 in Europa getroffen worden waren. Allerdings war schon im August 1914 vielen Beteiligten klar, dass der Konflikt kein klassischer Kabinettskrieg sein würde, bei dem sich die Kontrahenten nach einem kurzen Schlagabtausch an den Verhandlungstisch setzen würden, sondern dass ein europäischer Hegemonialkrieg begonnen hatte. Auch wenn heute unter Historikern umstritten ist, ob es sich beim Ersten Weltkrieg bereits um einen totalen Krieg handelte, ist die Tendenz unübersehbar, dass sehr schnell alle überhaupt nur denkbaren Lebensbereiche vom Krieg erfasst wurden. Bereits wenige Wochen nach dem Kriegsausbruch zeichnete sich ferner nach der deutschen Niederlage an der Marne ab, dass der Krieg nicht alleine auf dem Schlachtfeld entschieden werden würde, sondern dass die Leistungsfähigkeit der jeweiligen Ökonomien und die industriellen Produktionszahlen eine zentrale Rolle für den Ausgang des Konfliktes spielen würden. Wie die immer noch grundlegenden Studien von Carl-Ludwig Holtfrerich und Gerald D. Feldman gezeigt haben, setzte die Inflation, die in Deutschland nach 1921 und dann vor allem 1923 so verheerende Folgen haben sollte, bereits unmittelbar nach dem Ausbruch des Krieges ein.9 Dieser Befund gilt für fast alle am Krieg beteiligten Staaten. Die Zentralbanken setzten im Moment der Kriegserklärung die Golddeckung ihrer Währung aus, um die jeweiligen Goldvorräte zu schützen. Der internationale Goldstandard, der bis dahin den Industriestaaten eine solide und robuste Basis für ihren internationalen Handel geboten hatte, wurde faktisch aufgegeben. Allerdings wurde zu diesem Zeitpunkt ohne Ausnahme erwartet, dass es sich hier lediglich um eine vorübergehende Maßnahme handeln und nach dem Ende des Krieges der Goldstandard so schnell wie möglich wieder 8 9
Vgl. die Zitate bei Boris Barth, Die deutsche Hochfinanz und die Imperialismen. Banken und Außenpolitik vor 1914, Stuttgart 1995, S. 454f. Vgl. zum Beispiel Carl-Ludwig Holtfrerich, Die deutsche Inflation1914–1923. Ursachen und Folgen in internationaler Perspektive, Berlin 1980; Gerald D. Feldman, The Great Disorder. Politics, Economics, and Society in the German Inflation, 1914–1924, Oxford 1993.
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hergestellt werden würde, eben weil dieser sich außerordentlich bewährt hatte. Der schleichende inflationäre Prozess, der durch die Suspendierung der Goldeinlösepflicht der Zentralbanken in Gang gesetzt wurde, hat bei den Zeitgenossen anfangs nur wenig Besorgnis ausgelöst. Häufig wurde diese Maßnahme als kurzfristige, kriegsbedingte Notmaßnahme gesehen. Auch findet sich die Auffassung, dass eine gewisse Aushöhlung der eigenen Währung kein Problem darstelle, da am Ende der Verlierer ohnehin die eigenen Kriegskosten vollständig bezahlen würde. Da zudem fast überall sehr schnell staatliche Preiskontrollen eingeführt wurden, war die schleichende Inflation für die Verbraucher anfangs im Alltag kaum erfahrbar. Erst in der zweiten Kriegshälfte fand zumindest bei den Zentralmächten eine sehr viel realistischere Preisbildung am Schwarzmarkt statt, die aber von der Bevölkerung wiederum als kriegsbedingte Anomalie interpretiert wurde. Langfristig hatte die Aufgabe des Goldstandards aber erhebliche Folgen, die noch nach dem Zweiten Weltkrieg zu spüren waren. Der Goldstandard war seit den 1870er Jahren international eher zufällig und ungeplant entstanden. Seine großen Vorteile bestanden darin, dass er für stabile Wechselkurse zwischen denjenigen Währungen sorgte, die an ihn angebunden waren, dass er damit Ex- und Importe problemlos kalkulierbar machte und dass er innerhalb eines gewissen Rahmens im Handel der Industriestaaten untereinander automatisch für einen Zahlungsbilanzausgleich sorgte. Seine deflationäre Wirkung trat in den europäischen Industriestaaten nicht negativ in Erscheinung, weil sich deren Wirtschaft seit den 1890er Jahren ohnehin in einem – nur selten durch kurze Krisen unterbrochenen – kontinuierlichen und robusten Wachstum befand. Zudem bevorzugte der Goldstandard im Handel mit Regionen, die nicht an ihn angebunden waren, eindeutig die Industriestaaten, wie sich z.B. innerhalb des britischen Empires zeigen lässt.10 Faktisch war der Goldstandard damit die entscheidende währungspolitische Basis für die von Europa ausgehende Globalisierung. Dies war den meisten Zeitgenossen bewusst, und deshalb wurde nach dem Ende des Krieges auch eine schnelle Rückkehr zu den Goldwährungen angestrebt. Allerdings stellten sich die Rahmenbedingungen nach 1918 völlig anders dar, als ursprünglich erwartet worden war.11 Der Übergang zu einem aufgeweichten Gold-Devisenstandard war – wie die bahnbrechende Studie von Berry Eichengreen gezeigt hat – maßgeblich mitverantwortlich für die Härte, mit der die Krise von 1929 die Weltwirtschaft traf.12 Erst nach dem Zweiten Weltkrieg gelang es mit dem Bretton-WoodsSystem wieder einen internationalen Rahmen zu schaffen, der – wenn auch in einem regional begrenzteren Raum – ähnliche Stabilität garantierte. 10 Vgl. immer noch: Marcello De Cecco, Money and Empire. The International Gold Standard 1890–1914, Oxford 1974. 11 Hierzu neuerdings: Matthias Morys, The Disintegration of the Gold Exchange Standard during the Great Depression – Déjà Vu for the Eurozone?, in: Geschichte und Gesellschaft 39 (2013), S. 153–176. 12 Vgl. grundlegend: Berry Eichengreen, Golden Fetters. The Gold Standard and the Great Depression, 1919–1939, New York 1992.
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Auch aus einem anderen Grund bedeutete der Kriegsausbruch für die internationale Finanzwelt einen scharfen Einschnitt. Die Kapitalmärkte waren von allen Branchen in der globalen Wirtschaft am stärksten miteinander verflochten. Diese zahlreichen Verknüpfungen, die sich sehr häufig in informeller Kooperation, oft aber auch in institutionalisierten Konsortien oder in fest etablierten Kontakten zur Industrie und zum Handel niedergeschlagen hatten, waren ausschließlich in privatwirtschaftlicher Initiative entstanden und gewachsen. Versuche einzelner Regierungen, bestimmte multinationale finanzielle Transaktionen im eigenen politischen Sinne zu beeinflussen, hat es vor 1914 häufig gegeben. Doch war die Wirkung dieser Interventionen stets begrenzt gewesen, weil die jeweiligen Nationalstaaten kaum über Mittel verfügten, Börsen und Anleger zu kontrollieren bzw. nachhaltig zu beeinflussen. Große internationale Staatsanleihen stellten zwar stets ein Politikum dar. Die alltäglichen Transaktionen der Banken ließen sich aber kaum steuern. Die internationalen Märkte waren grundsätzlich transparent. Die City of London war auch deshalb zum Zentrum der Weltwirtschaft geworden, weil die britische Regierung die Kapitalmärkte so wenig wie möglich regulierte. Die deutsche und die französische Regierung haben vor 1914 hingegen mehrfach versucht, nachhaltigen Einfluss auf die Politik „ihrer“ Banken zu nehmen, bzw. Investitionen in eine außenpolitisch gewünschte Richtung zu lenken. Doch waren die Resultate dieser Bemühungen wenig erfolgreich gewesen.13 Beispielsweise hatte die deutsche Regierung vor der Jahrhundertwende erstens versucht, mit gesetzlichen Regulierungen Kleinanleger zu schützen und den spekulativen Handel mit Aktien von Goldminen zu begrenzen. Im Börsengesetz von 1896/97 wurden zweitens an der Berliner Börse Warentermingeschäfte quasi verboten. Innerhalb weniger Tage war die Spekulation einfach von Berlin nach London übergesiedelt, ohne dass die Politik dieses verhindern konnte.14 Der Kriegsausbruch änderte das Verhältnis zwischen dem privaten Bankensektor und den jeweiligen Regierungen grundsätzlich, weil der Zugang zu Kapital und Kredit kriegsentscheidend wurde. Schon in den ersten Monaten nach dem August 1914 schufen sich alle Regierungen der Großmächte gesetzliche Instrumentarien, mit denen sie im wachsenden Maße in die Finanzmärkte eingreifen konnten. Alle Regulierungen waren auch hier lediglich als vorübergehende kriegsbedingte Maßnahmen gedacht. Doch erwies sich mit fortlaufender Kriegsdauer, dass immer stärkere staatliche Eingriffe nicht zu vermeiden waren. Alle Staaten, die am Krieg teilnahmen, bauten im wachsenden Maße Kontrollinstrumente auf, die nach 1918 nur teilweise wieder demontiert wurden. Mittel- und langfristig förderten die Kriegsereignisse eine Nationalisierung des internationalen Kapitals, die vor 1914 unmöglich gewesen wäre. Zwar versuchten vor allem 13 Vgl. z.B. Barth, Die deutsche Hochfinanz und die Imperialismen, S. 456–461. 14 Vgl. hierzu Boris Barth, Banken und Kapitalexport vor 1914. Anmerkungen zum Forschungsstand der politischen Ökonomie des Kaiserreiches, in: Manfred Köhler, Keith Ulrich (Hg.), Banken, Konjunktur und Politik. Beiträge zur Geschichte deutscher Banken im 19. und 20. Jahrhundert, Essen 1995, S. 42–54.
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die großen jüdischen Privatbankiers, die meistens global ausgezeichnet vernetzt waren, in den ersten Monaten ihre informellen Kontakte untereinander aufrecht zu erhalten. Zugleich standen sie aber auch unter einem wachsenden Druck in der jeweiligen Öffentlichkeit, die sie unter den Generalverdacht des Internationalismus stellte. Sie waren deshalb gezwungen, stets ihre nationale Loyalität unter Beweis zu stellen.15 Während britische und französische Firmen den Ausfall der Märkte in Zentraleuropa meistens nach einer gewissen Übergangszeit ersetzen konnten, bestand diese Möglichkeit für die Finanziers der Mittelmächte nicht. Nicht nur der Ausfall des Handels, sondern auch der Zusammenbruch der Kommunikationslinien und Informationsnetze ließ sich nur sehr unvollkommen über erhöhte Aktivitäten in den neutralen Staaten kompensieren. Da internationale Handelsfinanzierung und die Emission von Auslandsanleihen fast unmöglich war, blieben den deutschen und den österreichisch-ungarischen Finanziers praktisch nur die relativ begrenzten heimatlichen Märkte. Durch die staatliche Bewirtschaftung von Rohstoffen, Lebensmitteln und Konsumgütern wurde der freie Handel nahezu vollständig ausgeschaltet. Auch aus diesem Grund stieg die Staatsquote steil an, und mangels Alternative mussten die großen Banken in wachsendem Maße Kriegsanleihen der Mittelmächte in ihr Portfolio aufnehmen. Vor 1914 hatten Handelswechsel für viele Banken die Basis des alltäglichen Geschäftes ausgemacht. Doch fanden diese sich seit 1916 fast überhaupt nicht mehr in den Depots.16 Nur wenige Bankiers erkannten, dass diese Anlagestruktur bei einer Niederlage existenzbedrohende Probleme verursachen musste. Vor 1914 hatte der Kapitalexport entscheidend zum Wirtschaftswachstum vor allem in Großbritannien, Frankreich und dem Deutschen Reich, im geringeren Maße auch in Belgien, den Niederlanden und anderen europäischen Industriestaaten beigetragen. Die Emission von Auslandsanleihen war häufig an industrielle Lieferverträge gekoppelt worden, so dass das Kapital streng genommen nicht exportiert, sondern auf Kosten ausländischer Kunden in die jeweils heimische Industrie investiert wurde. Da die jeweiligen Anleihen zugleich oft von multinationalen Konsortien emittiert und an mehreren europäischen Börsen gehandelt wurden, ist die präzise nationale Herkunft der jeweiligen Kapitalien heute nicht mehr bestimmbar. So kauften beispielsweise französische Anleger deutsche Papiere, die in Paris nicht gehandelt werden durften, einfach in der Schweiz oder in den Niederlanden, wenn sie sich davon Profite versprachen. Aus derartigen Transaktionen waren häufig sehr komplexe, multinationale und vor allem hoch dynamische 15 Vgl. Boris Barth, Weder Bürgertum noch Adel – Zwischen Nationalstaat und kosmopolitischem Geschäft. Zur Gesellschaftsgeschichte der deutsch-jüdischen Hochfinanz vor dem Ersten Weltkrieg, in: Geschichte und Gesellschaft 25 (1999), S. 94–122. 16 Vgl. etwa Gerald D. Feldman, Die Deutsche Bank vom Ersten Weltkrieg bis zur Weltwirtschaftskrise 1914–1933, in: Lothar Gall, Gerald D. Feldman, Harold James, Carl-Ludwig Holtfrerich, Hans E. Büschgen, Die Deutsche Bank. 1870–1995, München 1995, S. 137–314, hier S. 138f. und 145.
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Netzwerke entstanden, die im August 1914 zerrissen. Zu diesem Zeitpunkt war die weitere Entwicklung der jeweiligen Auslandsverschuldung der verfeindeten Staaten nicht absehbar. Aber schon nach wenigen Monaten dürfte den meisten internationalen Investoren klar geworden sein, dass der Krieg selbst bei günstiger Entwicklung und vorsichtiger Anlagestrategie in großem Maßstab Kapital vernichten würde. Die Dimensionen waren aber nicht abzuschätzen: Beispielsweise konnte ein französischer Rentier im Herbst 1914 kaum voraussehen, dass seine bis dahin profitablen und sicheren Papiere mit Investitionen in russische Staatsanleihen nur wenige Jahre später bestenfalls noch zum Anzünden des Kamins taugen würden. Für die globalen Verhältnisse war ferner kennzeichnend, dass europäisches Kapital, das bis dahin für große Teile der Welt zur Verfügung stand, schlagartig ausblieb bzw. nur zu extrem ungünstigen Konditionen und unter politischen Vorbehalten zu erhalten war. Auch in anderer Hinsicht förderte der Kriegsausbruch die Nationalisierung der zuvor internationalen ökonomischen Strukturen. Wie Ranald Michie gezeigt hat, war der Anteil der Deutschen, die an der Börse von London als Makler tätig waren, sehr hoch.17 Es kann angenommen werden, dass unter diesen viele deutsche Juden waren, die sich vorübergehend oder dauerhaft in England eine ökonomische Existenz aufgebaut hatten. Bei Kriegsausbruch ließ sich ein großer Teil von ihnen sofort naturalisieren, und die englischen Behörden scheinen ihnen dabei keine Probleme bereitet zu haben. Nicht nur beim Kapital, sondern auch auf individueller Ebene beförderte der britische Kriegseintritt deshalb eine schnelle Nationalisierung. Schon kurz vor dem Ausbruch des Krieges griff die britische Regierung zu einer drastischen Maßnahme und unterbrach am 31. Juli 1914 einen Teil der deutschen Kommunikationslinien. Auf diese Weise wurden auch die Firmen in den Mittelmächten dauerhaft von den globalen Kommunikationsnetzen abgeschnitten. Bis heute ist nicht systematisch untersucht worden, auf welche Weise es den Deutschen dennoch gelang, ein umfassendes und bis ins Detail hervorragendes System der Informationsbeschaffung auch im ökonomischen Bereich aufzubauen – das allerdings der Privatwirtschaft nur wenig nutzte. Eine zentrale Rolle scheinen die Bank M. M. Warburg und die deutsche Botschaft in Stockholm gespielt zu haben. Immerhin verfügte die deutsche Regierung noch im Sommer 1918 über ausgezeichnete und sehr detaillierte Angaben über nahezu alle volkswirtschaftlich wichtigen Entwicklungen in den Staaten der Entente. Hieraus gingen z.B. die unzureichende Wirkung des U-Boot-Krieges und die drückende ökonomische Überlegenheit des feindlichen Lagers klar hervor. Bereits ab 1916 war somit klar, dass die Zentralmächte den Krieg ökonomisch nicht gewinnen konnten. Allerdings scheinen diese Berichte von den deutschen Militärs und den Diplomaten vollständig ignoriert worden zu sein.18 17 Vgl. Ranald Michie, The London Stock Exchange. A History, Oxford 1998, S. 144. 18 Vgl. die Quellen in: Geheimes Staatsarchiv Preußischer Kulturbesitz, Berlin-Dahlem (GStA), Rep. 151: Finanzministerium, HB: Hauptbüro.
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Niels Petersson hat hervorgehoben, dass vor dem Ersten Weltkrieg die Dichte des staatlichen regulatorischen Eingreifens in die Wirtschaft gering gewesen sei. Denn viele Bereiche hätten als „technisch“ gegolten und seien deshalb als politischer Gestaltung nicht zugänglich oder nicht bedürftig erschienen.19 Die massive Zunahme staatlicher Regulierungen, die im 19. Jahrhundert kaum denkbar gewesen wären, betraf fast jeden alltäglichen Bereich. Dies soll anhand eines nur scheinbar kleinen Beispiels illustriert werden: Die freie Migration war vor 1914 nur in Ausnahmen, z.B. seit 1890 bei der Zuwanderung in die USA, eingeschränkt worden. Schon kurz nach Ausbruch des Krieges wurden hingegen in allen Ländern umfangreiche Bürokratien aufgebaut, die die Tätigkeit von Ausländern überwachen und Ströme von Flüchtlingen in gewünschte Richtungen kanalisieren sollten. Auch diese Behörden, die Aufenthaltsgenehmigungen erteilten oder verweigerten, für das Passwesen, Visa und die Meldepflicht zuständig waren, sollten lediglich vorübergehend tätig werden. Nach 1918 hatten gerade in Großbritannien die Regierungen jedoch die außerordentlichen Vorteile erkannt, die sich durch derartige Regelungen für die Bevölkerungs- und Migrationskontrolle ergaben. Vor 1914 konnten Grenzen häufig ohne Reisepässe überquert werden, nach Ausbruch des Krieges wurde die ursprüngliche Improvisation bis heute zu einem etablierten Instrument staatlicher Kontrolle. Die hohe Mobilität und die transkontinentalen Wanderungsbewegungen wurden drastisch eingeschränkt.20 ENT-EUROPÄISIERUNG ODER DE-GLOBALISIERUNG DES WELTHANDELS? Nicht nur aus der militärischen, sondern auch aus der ökonomischen Perspektive ist die Charakterisierung des Großen Krieges als „Weltkrieg“ problematisch. Eigentlich handelte es sich um einen europäischen Krieg, der – ähnlich wie der siebenjährige Krieg – in der Welt ausgetragen wurde. Handelsnetze, die vor 1914 von europäischen Firmen dominiert worden waren, wurden teilweise zerstört. Teilweise wurden sie aber auch von anderen, nicht-europäischen Marktteilnehmern übernommen bzw. umgeformt. Die zentrale These dieses Beitrags ist, dass es sich bei diesen Vorgängen nicht um einen Prozess der De-Globalisierung, sondern der Ent-Europäisierung einiger außereuropäischer Handelsnetze und Märkte handelte, die damit aber nicht automatisch auch aus der weiterhin stark globalisierten Weltökonomie hinausfielen. Die eigentliche De-Globalisierung fand erst in der großen Depression der 1930er Jahre statt, die allerdings durchaus auch als eine langfristige Folge des Krieges interpretiert werden kann. 19 Vgl. Niels P. Petersson, Anarchie und Weltrecht. Das Deutsche Reich und die Institutionen der Weltwirtschaft 1890–1930, Göttingen 2009, S. 340. 20 Vgl. Christiane Reinecke, Grenzen der Freizügigkeit. Migrationskontrolle in Großbritannien und Deutschland, 1880–1930, München 2010, S. 267f.
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In der älteren Literatur ist häufig hervorgehoben worden, dass die führende Rolle Londons als Finanzzentrum der Welt nach dem Ersten Weltkrieg zu einem Ende gekommen sei und dass New York zunehmend die Funktion der City übernommen habe. Dieses pauschale Urteil muss allerdings stark differenziert werden. Es trifft uneingeschränkt für die Emissionsmärkte zu: Da in Paris und in London fast kein privates Kapital mehr für Anleihen zur Verfügung stand, übernahm die Wall Street diese Funktion als globaler Geldgeber. Allerdings zeigt eine detaillierte Betrachtung, dass nach dem Ende der Anpassungskrise schon in den frühen 1920er Jahren London im Bereich der Handelsfinanzierung direkt an die Vorkriegszeit anknüpfte und dass keineswegs von einem Finanzplatz im Niedergang gesprochen werden kann. Abgesehen von den Auslandsemissionen hielten die Londoner Banken auf nahezu allen anderen Geschäftsfeldern ihre führende Position. Vor allem die großen Merchant- und Überseebanken nutzten weiterhin ihre speziellen, in vielen Jahrzehnten erworbenen Kompetenzen, um Marktanteile, die im Krieg verloren gegangen waren, zurückzugewinnen. Wie wichtig London blieb, ist auch daran zu erkennen, dass sich die Zahl der Auslandsfilialen britischer Banken deutlich erhöhte: Zwischen 1913 und 1928 stieg die Zahl von 1387 auf 2253 an.21 Der Bedeutungsverlust Londons lag also gerade nicht im ökonomischen, sondern eher im politischen Bereich. Auslandsanleihen konnten in bestimmten Situationen auch eine wirkungsvolle außenpolitische Waffe darstellen, die der britischen Diplomatie nach 1918 nicht mehr zur Verfügung stand. Am deutlichsten war die Ent-Europäisierung im Falle von Mittel- und Südamerika. Hier bestanden in verschiedenen Branchen lange etablierte und gut funktionierende Handelsbeziehungen zwischen verschiedenen Ländern und dem Deutschen Reich. Auch wenn der direkte bilaterale Handel schon im August 1914 zum Erliegen kam, wurden diejenigen deutschen Firmen, die in Lateinamerika gut etabliert waren, zunächst nur wenig getroffen. Leider fehlen Detailstudien, die zeigen, mit welchen Mitteln es Handelshäuser und Banken gelang, zumindest die ersten Jahre des Krieges zu überstehen und in einigen Fällen sogar erhebliche Gewinne zu erzielen. Da diese Firmen gegenüber der Entente erfolgreich mit großer Geheimhaltung operierten, ist die Quellenlage schlecht.22 Zu vermuten ist, dass sie in den jeweiligen lokalen Strukturen fest verwurzelt waren und außerdem über sehr gute formelle und informelle Kontakte zu den jeweiligen Eliten verfügten. Erst der Kriegseintritt der USA bedeutete hier einen tiefen Einschnitt, weil nun massiver politischer Druck auf alle Staaten Lateinamerikas ausgeübt wurde, die deutschen Firmen zu enteignen. Ob und inwieweit diese Enteignungen aber durchgeführt wurden, ist schlecht erforscht. In vielen Fällen ist eine schleichende 21 Youssef Cassis, Metropolen des Kapitals. Die Geschichte der internationalen Finanzzentren 1780–2005, Hamburg 2007, S. 235–244. 22 Die einschlägige bankhistorische Literatur gibt für diese Frage nur wenig her. Vgl. etwa Johannes Bähr, Zwischen zwei Kontinenten. Hundert Jahre Dresdner Bank Lateinamerika vormals Deutsch-Südamerikanische Bank, Dresden 2007.
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„Lateinamerikanisierung“ anzunehmen, die sowohl das Kapital, als auch das Leitungspersonal betraf. Mit zunehmender Kriegsdauer war die britische Industrie nicht mehr in der Lage, gleichzeitig die Bedürfnisse der Rüstung zu befriedigen und ausreichende Mengen von Konsumgütern für die zuvor dominierten Weltmärkte zu produzieren. Da die deutsche Konkurrenz ohnehin wegen der Blockade ausgeschaltet war, ergab sich daher für zahlreiche Länder an der so genannten Peripherie die Möglichkeit, selbständig in diese Lücke vorzustoßen. Lateinamerika war für zahlreiche britische, deutsche und französische Firmen und Banken vor 1914 ein großer, hart umkämpfter und vor allem gewinnbringender Markt gewesen, der nur langsam von US-amerikanischen Unternehmen durchdrungen wurde. Durch den Ausfall der europäischen Konkurrenz entstand für lokale Produzenten die Möglichkeit, eigene Industrieunternehmen aufzubauen. Infolge des Kriegsausbruchs mussten auf der ganzen Welt zuvor rege benutzte Handelsrouten eingeschränkt werden. Manche verschwanden ganz. Die deutsche Handelsflotte fiel völlig aus, und britischer ziviler Schiffsraum wurde nun fast ausschließlich für die Versorgung der Insel bzw. für militärische Zwecke genutzt. Auch hier ergaben sich neue Marktchancen für Reedereien aus neutralen Ländern. Die erheblichen Verschiebungen der Handelswege, die gerade auch in Ostasien zu beobachten waren, sind bisher systematisch nicht dargestellt bzw. analysiert worden. Am Beispiel des kleinen europäischen Staates Norwegen lässt sich zeigen, wie bestehende Handelsrouten zunächst quasi übernommen wurden, wie dann aber auch wegen der zunehmenden Totalität des Krieges eine wirkliche Neutralität immer schwieriger wurde. Da die britische Handelsflotte fast vollständig für die Versorgung des Mutterlandes benötigt wurde, wurde der Handel zwischen Großbritannien und Russland in den arktischen Gewässern seit 1915 von neutralen norwegischen Schiffen übernommen. Durch die Übernahme dieser Vermittlerstellung wurde Norwegen aber zugleich zum Ziel der deutschen Kriegsführung. Im Winter 1916/17, schon vor der Erklärung des uneingeschränkten U-BootKrieges, griffen deutsche U-Boote diese Handelsroute gezielt an und versenkten innerhalb von vier Monaten ohne Vorwarnung 143 norwegische Schiffe.23 In anderen Regionen der Welt hatte der Rückgang der britischen Präsenz keine derart dramatischen Folgen, sondern förderte eher die Entwicklung neuer regionaler Unternehmer und Reedereien, die nach 1918 den Europäern Konkurrenz machen sollten. Vor allem durch die aggressive britische Blockadepolitik wurden von Anfang an zahlreiche Firmen aus neutralen Staaten in den Konflikt hineingezogen. Bis dahin ausschließlich ökonomische Handelsbeziehungen wurden politisiert. Erstens wurden ausnahmslos alle Waren, die in die Zentralmächte geliefert wurden, als Kontrabande behandelt. Zweitens versuchte die britische Regierung mit wachsendem Erfolg, auch solche Firmen aus neutralen Staaten, die Handel auf beiden 23 Vgl. Patrick Salmon, Scandinavia and the Great Powers, 1890–1940, Cambridge 1997, S. 138f.
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Seiten trieben, systematisch auszuschalten. Als wirksame Mittel erwiesen sich die „Black Lists“ und der „Trading with the Enemy Act“. Zunächst wurde den eigenen Staatsbürgern jeder Handel mit Mitgliedern der Feindstaaten verboten. Dann wurden diese Maßnahmen kontinuierlich verschärft und auch auf Angehörige neutraler Länder ausgedehnt. Interessanterweise haben einige der britischen Alliierten diese harten Maßnahmen nur zögernd mitgetragen. Beispielsweise ging die russische Regierung sehr viel später und zurückhaltender als die Engländer zu einer konsequenten ökonomischen und finanziellen Kriegsführung gegen die Zentralmächte über. FAZIT Es ist außerordentlich schwierig, die Bedeutung des Kriegsausbruchs für die konjunkturellen Entwicklungen in Europa präzise zu bestimmen, weil das statistische Material generelle Schlüsse nur sehr begrenzt zulässt und internationale Vergleiche wegen der unterschiedlichen nationalen Methoden der Erfassung der relevanten Daten problematisch sind. Betrachtet man nur den Kriegsausbruch im August 1914, so waren die Auswirkungen auf eine globale Wirtschaft sicherlich erkennbar, aber doch begrenzt. Es ist außerdem kaum möglich, den genauen Zeitpunkt zu bestimmen, von dem an die durch den Krieg bedingten ökonomischen Veränderungen irreversibel wurden und das Ende des Zeitalters der von Europa dominierten Globalisierung einleiteten. Der Krieg bedeutete auch nicht einfach einen Abbruch der Globalisierung. Vielmehr verschoben sich die Zentren und die Peripherien der weltweiten ökonomischen Integration zunächst sehr langsam, dann aber dauerhaft. Deshalb handelte es sich nicht so sehr um einen Prozess der DeGlobalisierung, sondern vielmehr um einen der Ent-Europäisierung.
VERRECHTLICHUNG DES KRIEGES? Völkerrechtliche Konventionen und das Ius in Bello im Vorfeld und zu Beginn des Ersten Weltkriegs Daniel Marc Segesser Als der Erste Weltkrieg 1919/20 formell durch die Pariser Vorortsverträge beendet wurde, enthielt jedes der Abkommen Bestimmungen über die Ahndung von Verstößen gegen das Recht im Krieg. Die Verlierermächte wurden darin verpflichtet, alle notwendigen Maßnahmen zu ergreifen, um die Siegermächte zu unterstützen bei der strafrechtlichen Verfolgung von Verantwortlichen für Verstöße gegen die Gesetze und Gebräuche des Krieges.1 Grundlage zur Klärung der Frage, ob bzw. inwiefern solche Verstöße vorlagen, sollte dabei das geschriebene und ungeschriebene Ius in Bello bilden.2 Die Auslegung der entsprechenden Regeln folgte dabei weitestgehend der Interpretation, wie sie während des Krieges von führenden Rechtswissenschaftlern aus Frankreich, Großbritannien und Belgien verfochten worden war.3 Dass die gleichen Regeln auf Seiten der Verlierermächte zumindest in Teilen eine andere Auslegung erfahren hatten und erfuhren, wurde nicht berücksichtigt, denn schließlich hatte die Entente den Krieg der Worte in dieser Sache gewonnen.4 Der vorliegende Beitrag will an dieser Stelle anknüpfen und die Frage klären, welche Auffassungen in Diskussionen zur Verrechtlichung des Krieges 1914 bestanden, wie die Bestimmungen des geschriebenen Ius in Bello (v.a. Genfer Konvention und Haager Landkriegsordnung) verstanden wurden und welche Auswirkungen dies zu Beginn des Krieges 1914/15 hatte. Dabei soll auch diskutiert werden, inwiefern 1914 aus der Perspektive des Völkerrechts als Zivilisationsbruch und Beginn eines Jahrhunderts der Extreme verstanden werden kann bzw. inwie1 2 3 4
James F. Willis, Prologue to Nuremberg. The Politics and Diplomacy of Punishing War Criminals of the First World War, Westport 1982, S. 177–181. Commission on the Responsibility of the Authors of the War and the Enforcement of Penalties, Report presented to the Preliminary Peace Conference, in: American Journal of International Law 14 (1920), S. 95–154, hier S. 112–115. Beispielhaft finden sich viele dieser Positionen in: Louis Renault, Dans quelle mesure le droit pénal peut-il s’appliquer à des faits de guerre contraires au droit des gens?, in: Revue Pénitentiaire et de Droit Pénal 39 (1915), S. 406–493. Zum Krieg der Worte und der Rolle von Intellektuellen im Krieg siehe John Horne, Alan Kramer, Deutsche Kriegsgreuel 1914. Die umstrittene Wahrheit, Hamburg 2004, S. 333–478, sowie Marta Hanna, The Mobilization of Intellect. French Scholars and Writers during the Great War, Cambridge 1996.
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fern der Krieg als multidimensionaler Ereignisknoten5 im Bereich des Völkerrechts auch und womöglich in erheblichem Ausmaß eine akzentuierende Wirkung auf bestehende Divergenzen hatte. DIE VÖLKERRECHTLER DES 19. JAHRHUNDERTS UND DIE HAAGER FRIEDENSKONFERENZEN VON 1899 UND 1907 Die Frage der Entfaltung dessen, was wir heute „das Völkerrecht“ nennen, gehört zu denjenigen Gegenständen der Wissenschaft, die unter Historikerinnen und Historikern wie unter Rechtswissenschaftlerinnen und Rechtswissenschaftlern der Gegenwart umstritten sind. Für einige von ihnen existierte „Völkerrecht“ erst mit dem Aufkommen moderner Staaten und des Begriffs der Souveränität, der, so waren etliche Zeitgenossen überzeugt, jedem Staat das „Recht zum Krieg“ einräumte. Andere sahen die Existenz von über wie auch immer organisierte Herrschaftsverbände hinaus bestehenden allgemeinen Normen als gegeben an.6 In der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts begann sich in Europa und teilweise den von diesem Kontinent geprägten Gesellschaften Nord- und Südamerikas sowie Australiens die Überzeugung durchzusetzen, dass es für sie eine allgemein gültige internationale Wertordnung der zivilisierten Staaten gäbe. Diese sei einerseits in ungeschriebenen Regeln manifest, bedürfe andererseits aber auch einer Verschriftlichung in Form internationaler Übereinkünfte. Als besonders akut wurde dieser Wunsch von einer Reihe von Rechtswissenschaftlern erachtet, die sich 1873 an der Gründung des Institut de Droit International beteiligten und vielfach in der Revue de Droit International et de Législation Comparée publizierten.7 Angesichts der immer offensichtlicher werdenden Machtansprüche von Politikern und Militärs versuchten sie, international verbindliche rechtliche Rahmenbedingungen zu entwickeln, die für die Beziehungen zwischen zivilisierten Staaten bestimmend sein sollten. Der schweizerische Völkerrechtler und Präsident des Internationalen Komitees vom Roten Kreuz, Gustave Moynier, formulierte dies 1890 wie folgt: „La civilisation, s’est-on dit, donne à tous les peuples un certain air de famille; elle leur infuse une sève commune qui multiplie leur traits de ressemblance. Elle tend, en particulier, à leur inculquer à tous la même notion du juste, et à les doter de ce qu’on a pu appeler avec raison la conscience juridique du monde civilisé. Mais les prescriptions de cette conscience manquent, pour la plupart, de netteté. Il faudrait avoir l’art de la faire parler clairement, puis sous sa dictée, formuler les principes du droit conformément à ses exigences. […] S’il arrivait que ces experts [– des hommes en qui s’incarne le plus notoirement le sens juridique international dans les différents pays –], choisis parmi les conseillers habituels des souverains, se trouvassent ou se missent d’accord sur certains points, il suffirait alors d’en prendre acte et de rédiger
5 6 7
Vgl. Hannes Leidinger, Verena Moritz, Der Erste Weltkrieg, Wien 2011, S. 71–99. Vgl. Otto Kimminich, Stephan Hobe, Einführung in das Völkerrecht, Tübingen 72000, S. 29– 47. Vgl. Martti Koskeniemi, The Gentle Civilizer of Nations. The Rise and Fall of International Law 1870–1960, Cambridge 2001, S. 12–19 und 39–54.
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leurs avis, pour avoir des projets de lois internationales auxquels on serait à peu près assuré que tout le monde souscrirait.“8
In diesem Geiste bemühten sich Völkerrechtler aus vielen verschiedenen Ländern im Verlauf des 19. Jahrhunderts, zu rechtlichen Übereinkünften auch über das Recht im Krieg zu gelangen. Bis zur Verabschiedung der Haager Landkriegsordnung im Jahre 1899 waren sie damit nur in einzelnen Bereichen erfolgreich – so mit der Genfer Konvention von 1864 zur Behandlung der Verwundeten im Landkrieg, der Deklaration von Sankt Petersburg von 1868 über den Einsatz explosiver Projektile oder der Pariser Seerechtsdeklaration von 1856.9 Am 30. Dezember 1898 ließ der russische Außenminister Mikhail Muravyov den in Sankt Petersburg akkreditierten Botschaftern eine Zirkularnote zukommen, die zu einer internationalen Friedenskonferenz einlud. Als Diskussionsgegenstand nannte er – allerdings nur als siebten von acht Punkten – auch die Erarbeitung eines international akzeptierten Regelwerks zum Ius in Bello.10 An der Konferenz, die vom 18. Mai bis 29. Juli 1899 in Den Haag stattfand, rückte dieser Punkt jedoch rasch in den Mittelpunkt, da in den anderen vielfach keine Einigung erzielt werden konnte.11 Auf der Grundlage der 1874 verabschiedeten, aber nie ratifizierten Deklaration von Brüssel erarbeitete eine Kommission unter Führung des russischen Völkerrechtlers Fyodor Fyodorovich Martens eine Konvention, welche im Anhang ein detailliertes Regelwerk der geltenden Regeln des Ius in Bello enthielt. Zu größeren Diskussionen führten dabei die Fragen, wer als legitimer Kombattant zu betrachten sei und ab wann ein Gebiet als vom Feind besetzt zu gelten habe. Kleine Staaten wie Belgien oder die Schweiz plädierten dabei dafür, dass Widerstand legitim sei, bis der Feind tatsächlich sowohl das Gebiet erobert habe als auch die zwischen seinen Truppen bestehenden Kommunikationswege kontrolliere. Die Vertreter der Habsburgermonarchie, des Deutschen Reiches und Russlands votierten hingegen für eine allgemeiner gehaltene Regelung und konnten sich damit weitgehend durchsetzen.12 Am umstrittensten waren die Formulierungen zum Status des Kombattanten. Kommissionspräsident Martens machte dabei klar, dass es nicht darum gehen könne, dem Patriotismus Grenzen zu setzen. Aber es müsse rechtlich klar sein, was als legitime Kriegshandlung gelten könne und was nicht. Deshalb schlug er gleich zu Beginn der Diskussionen vor, dass für diejenigen Fälle, in welchen keine Einigung erzielt werden könne, eine allgemeine Formulierung folgender Art in das Regelwerk aufgenommen werden solle:
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Gustave Moynier, L’Institut de Droit International, Paris 1890, S. 5f. Geoffrey Best, Humanity in Warfare. The Modern History of the International Law of Armed Conflicts, London 1980, S. 147–166. 10 Zirkularnote des russischen Außenministers Mikhail Muravyov an die in St. Petersburg akkreditierten Botschafter, 30.12.1898, in: James Brown Scott (Hg.), Documents Relating to the Program of the First Hague Peace Conference, Oxford 1921, S. 2f. 11 Vgl. Jost Dülffer, Regeln gegen den Krieg? Die Haager Friedenskonferenz von 1899 und 1907 in der internationalen Politik, Frankfurt a.M. 1981, S. 103–202. 12 James Brown Scott (Hg.), The Proceedings of the Hague Peace Conferences. Translations of the Official Texts, Bd. 1: The Conference of 1899, Oxford 1920, S. 509–516.
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Daniel Marc Segesser „Until a perfectly complete code of the laws of war is issued, the Conference thinks it right to declare that in cases not included in the present arrangement, populations and belligerents remain under the protection and empire of the principles of international law, as they result from the usages established between civilized nations, from the laws of humanity, and the requirements of the public conscience.“13
Diese als so genannte Martensklausel in einer Präambel zur Konvention aufgenommene Formulierung erlaubte es schließlich, trotz aller Unterschiede in der Interpretation der einzelnen Bestimmungen zu einer Einigung über den Status des Kombattanten zu gelangen. Dies gelang allerdings nur, weil der besonders von der Schweiz unterstützte britische Delegierte John Ardagh seine Einwände „for the sake of harmony“ zurückzog.14 Die von Moynier erhoffte Einigkeit der Juristen trug also in Den Haag 1899 Früchte. Allerdings ging dies auf Kosten der Klarheit des Textes, denn die von Martens angesprochenen Prinzipien des internationalen Rechts blieben ebenso interpretationsbedürftig wie der Inhalt der verabschiedeten Artikel. Auf der zweiten Haager Friedenskonferenz von 1907 wurden zwar Anpassungen diskutiert, zu wesentlichen Änderungen der Landkriegsordnung kam es allerdings nicht. Der von Japan unterstützte Versuch der deutschen Delegation, die Bestimmungen über die Kennzeichnung von Freiwilligenverbänden und Milizen um eine vor Kriegsbeginn zu erfüllende Meldepflicht gegenüber dem Kriegsgegner zu ergänzen, wurde trotz Unterstützung durch die Habsburgermonarchie, Italien, die USA, das Osmanische Reich und China abgelehnt. Besonders die beiden Delegierten Frankreichs und der Schweiz wandten sich vehement gegen eine solche Regelung. Da solche Verbände erst bei Kriegsbeginn aufgestellt würden, war es ihres Erachtens unmöglich, eine Gegenseite überhaupt rechtzeitig über die genaue Form einer Kennzeichnung in Kenntnis zu setzen. Dieser Meinung schlossen sich mit Ausnahme Bulgariens, Rumäniens, Chiles und Venezuelas alle kleinen Saaten und auch Großbritannien an. Akzeptiert wurde hingegen ein ebenfalls von deutscher Seite gemachter Vorschlag, wonach explizit festgehalten werden solle, dass Freiwilligenverbände und Milizen ihre Waffen offen tragen müssten. Der schweizerische Gesandte Eugène Borel machte dabei klar, dass dies gemäß Auffassung seines Landes keine Neuerung, sondern einzig eine Präzisierung darstelle, die für die betroffenen Verbände keine neue Einschränkung bedeuten würden.15 Der Versuch der japanischen Delegation, die Frage der Internierung von Zivilisten aus Feindstaaten während eines Krieges in einem neuen Artikel grundsätzlich auszuschließen, fand ebenfalls keine Zustimmung. Besonders der belgische Delegierte Auguste Beernaert wehrte sich vehement dagegen und betonte, dass die bestehenden Bestimmungen zum Schutz der Rechte von Zivilisten in Artikel 5 ausreichen würden: „[H]e considers internments and expulsions en masse as be-
13 Scott (Hg.), The Proceedings of the Hague Peace Conferences, Bd. 1, S. 548. 14 Ebd., S. 419f. und 546–555, Zitat S. 420. 15 Scott (Hg.), The Proceedings of the Hague Peace Conferences, Bd. 4: The Conference of 1907. Meetings of the Second, Third and Fourth Commissions, Oxford 1921, S. 100–102.
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longing to another age.“16 Ähnlich wie schon auf der Konferenz von 1899 blieben also viele Bestimmungen vage. Die Delegierten, die sich mit dem Ius in Bello beschäftigten, vertrauten darauf, dass „zivilisierte“ europäische Staaten in einem zukünftigen Krieg diese Regeln einhalten und auch in gleicher Art und Weise interpretieren würden. Entscheidend war vor allem, dass ein in den Kommissionen erreichter Konsens oder Mehrheitsentscheid von der unterlegenen Seite nicht mehr in Frage gestellt wurde. Konsens war in Den Haag zumindest mit Blick auf das Ius in Bello allen wichtiger als die letztendliche Durchsetzung der eigenen Vorstellungen.17 DIE BALKANKRIEGE 1912/1913 UND DIE INTERPRETATION VÖLKERRECHTLICHER BESTIMMUNGEN Die Balkankriege von 1912/13 waren die einzigen größeren militärischen Konflikte, die zwischen der Verabschiedung der Haager Landkriegsordnung im Jahre 1907 und dem Beginn des Ersten Weltkriegs die Möglichkeit boten, die Einhaltung der bestehenden geschriebenen Regeln des Ius in Bello zu beobachten. Die Konflikte in Kuba, Südafrika und China, die im Umfeld der ersten Haager Friedenskonferenz stattgefunden hatten, wurden in diesem Zusammenhang entweder als „not very commendable“18 (Kuba und Südafrika) bezeichnet oder gar nicht erwähnt (China), was angesichts der Haltung vieler Völkerrechtler gegenüber der als weitgehend „unzivilisiert“ betrachteten außereuropäischen Welt19 nicht besonders erstaunlich ist. Auch wenn die Slawen des Balkans nicht als vollständig „zivilisiert“ im Sinne (west-)europäischer Mächte betrachtet wurden, so wurde ihnen doch attestiert, sich auf dem Weg zu befinden, um in Kürze eine eigenständige Rolle auf dem internationalen Parkett spielen zu können.20 Zudem waren auf dem Balkan die Interessen wichtiger europäischer Staaten wie Russlands oder der Habsburgermonarchie direkt tangiert. Andere Großmächte wie Großbritannien, Frankreich oder das Deutsche Reich waren durch ihre Interessen in der Orientfrage involviert.21 Schon bald nach Beginn der Balkankriege kursierten erschreckende Aussagen über die Kriegführung in den Zeitungsspalten Europas und Nordamerikas. Viele aus dem 19. Jahrhundert bestehende Stereotypen über den Balkan wurden aufge-
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Ebd., S. 110–114, Zitat S. 113. Ebd., S. 6–16. Ebd., S. 111. Vgl. Gerrit Gong, The Standard of „Civilization“ in International Society, Oxford 1984. Beispielhaft festgehalten bei Arthur W. Spencer, The Balkan Question. The Key to Permanent Peace, in: American Political Science Review 8 (1914), S. 563–582, hier S. 565. 21 Vgl. zur Orientfrage Davide Rodogno, Against Massacre. Humanitarian Interventions in the Ottoman Empire 1815–1914, Princeton 2012.
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griffen.22 Der deutsche Völkerrechtler Joseph Kohler sprach in diesem Zusammenhang von der „furchtbaren Erbitterung […], welche diese Kriegsführung befleckt hat und in uns die Erinnerung an mittelalterliche Unkultur wachruft.“23 Eine internationale Kommission des Carnegie Endowment for International Peace hielt zudem in ihrem Abschlussbericht fest, dass es auf allen Seiten unzulässige Gräueltaten gegeben habe, dass vor allem irreguläre Verbände die Regeln des Ius in Bello nicht beachtet und die an den Kriegen beteiligten Regierungen keine ausreichenden Maßnahmen getroffen hätten, um Übergriffe gegen die Zivilbevölkerung zu verhindern.24 Unter Völkerrechtlern fanden die Berichte aus dem Balkan bis 1914 kaum eine Resonanz, und die Frage, inwiefern mit Blick auf die Regeln der Haager Landkriegsordnung betreffend des Einsatzes von Freiwilligenverbänden oder Milizen Anpassungen notwendig sein würden, wurde nicht diskutiert.25 Die Überzeugung vieler Völkerrechtler, dass es in den „zivilisierten“ Staaten Europas keine solchen Verstöße gegen die Regeln des Ius in Bello geben werde, spielte dabei sicherlich eine wichtige Rolle, auch wenn ein Bericht aus dem Economist vom 18. Juli 1914 zeigt, dass es daran durchaus schon einige Zweifel gab: „That the soldier transgressed rules which he had never been taught is hardly surprising, especially when we remember that the level of civilisation in the Balkans is, after all, a low one […]. But the question cannot help arising how it stands, on this point, with the armies of civilised Europe. How much does the British Tommy know of the Hague Convention as binding his behaviour? How much would any army be bound by it, once the actual tide of war had swept away normal restraints? […] [W]hat do we know of the effect of an equally desperate struggle on a civilised people?“26
DAS ATTENTAT VON SARAJEWO UND DIE DADURCH AUSGELÖSTEN ERWARTUNGEN MIT BLICK AUF EINEN KRIEG IM BALKAN Wie jüngste Forschungen wieder gezeigt haben, wuchs die Bereitschaft, Krieg zu führen, in den letzten Jahren vor dem Kriegsbeginn vom Sommer 1914 bei allen Mächten in erheblichem Ausmaß. Auch wurde ein Nachgeben im Rahmen von diplomatischen Auseinandersetzungen mehr und mehr ausgeschlossen.27 Offensi22 Vgl. Florian Keisinger, Unzivilisierte Kriege im zivilisierten Europa? Die Balkankriege und die öffentliche Meinung in Deutschland, England und Irland 1876–1913, Paderborn 2008, S. 38–47 und 114–140. 23 Joseph Kohler, Das Völkerrecht im Balkankriege, in: Deutsche Juristen-Zeitung 19 (1914), Sp. 25–28, hier Sp. 26. 24 Carnegie Endowment of International Peace, Report of the International Commission to Inquire into the Causes and Conduct of the Balkan Wars, Washington 1914, S. 1, 71–90, 95– 108, 144f., 148–158, 211–234 und 277–377. 25 Vgl. Daniel Marc Segesser, Recht statt Rache oder Rache durch Recht? Kriegsverbrechen in der internationalen wissenschaftlichen Debatte, 1872–1945, Paderborn 2010, S. 148–150. 26 The Balkan War Enquiry, in: The Economist, 18.7.1914, S. 106f., hier S. 106. 27 Vgl. Christopher Clark, The Sleepwalkers. How Europe Went to War in 1914, London 2012; Lawrence Sondhaus, World War One. The Global Revolution, Cambridge 2011, S. 7–37.
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ve Kriegsplanungen dominierten zunehmend,28 während die Anliegen der Völkerrechtler mit Blick auf das Ius in Bello in den Hintergrund rückten. Denn einerseits bestimmte nun mehr und mehr die Frage der Schiedsgerichtsbarkeit die Diskussion unter den Fachleuten. Anderseits waren mit dem Tod namhafter Verfechter der Regeln des Genfer und Haager Rechts wie Fyodor Fyodorovich Martens (1909), Gustave Moynier (1910), Auguste Beernaert (1912), John Westlake (1913) und Tobias Asser (1913) wesentliche Stimmen zugunsten von Beschränkungen der Kriegführung verstummt.29 In diese Situation fielen die Schüsse von Sarajewo, die anfänglich von fast allen Seiten als Verbrechen scharf verurteilt wurden.30 Für die politische und militärische Führung der Habsburgermonarchie war angesichts des kriminellen Charakters des Mordes an Franz Ferdinand klar, dass die Gegenseite auch in einer militärischen Auseinandersetzung mit Serbien zu unrechtmäßigen Mitteln greifen würde. Die Verunsicherung und die dadurch geschürten Ängste waren auf allen Ebenen enorm groß. Noch während der Balkankriege hatte ein anonymer Autor in der Militärischen Rundschau aus Angst vor der Brutalität serbischer Verbände gegenüber Verwundeten und Kriegsgefangenen vorgeschlagen, alle österreichischungarischen Heeresangehörigen „außer mit einem Verbandpäckchen auch mit einer Zyankalikapsel für den äußersten Notfall zu beteilen“.31 Noch deutlicher wurde der Chef des österreichisch-ungarischen Evidenzbüros, Oberst Oskar von Hranilovic-Czvetassin in einem Bericht über die Kampfweise irregulärer serbischer Komitadschi-Verbände. Es handle sich dabei um Einheiten, die in Serbien ein hohes Ansehen genössen, die aber primär aus „minderwertigen Elementen“ und „gescheiterten Existenzen“ bestünden und die einen unrechtmäßigen Bandenkrieg führten. Solche Kämpfer seien durch die Haager Landkriegsordnung nicht geschützt. Vielmehr handele es sich um Kriminelle, gegen die ein rücksichtsloses Vorgehen notwendig sei.32 Angesichts verschiedener Verzögerungen begannen die Operationen in Nordwestserbien sogar erst kurz nach dem Einrücken deutscher Truppen in Belgien. Ab dem 12. August versuchten die Truppen des Oberkommandierenden der Balkanstreitkräfte Oskar Potiorek über die Drina nach Serbien einzumarschieren. Die Hoffnungen auf einen kurzen Feldzug erfüllten sich nicht, dies nicht zuletzt, da die gut vorbereiteten serbischen Truppen erbittert Widerstand leisteten und die Verbände Potioreks nicht ausreichend ausgerüstet waren. Ähnlich wie die Garde Civique in Belgien kämpften dabei auf serbischer Seite in Form eines sogenannten 28 Vgl. Hans Ehlert, Michael Epkenhans, Gerhard P. Groß (Hg.), Der Schlieffenplan. Analysen und Dokumente, Paderborn ²2007. Das Buch ist – anders als der Titel glauben macht – transnational angelegt. 29 Segesser, Recht statt Rache, S. 140–142. 30 Gerd Krumeich, Juli 1914. Eine Bilanz, Paderborn 2014, S. 60–64. 31 Anonym, Die Nutzanwendung der Balkankriegserfahrungen, in: Militärische Rundschau 2/120 (1913), S. 1–4, hier S. 4. 32 „Über Wesen, Ausrüstung und Kampfesart der KOMITADSCHIS“, Subbeilage c der Beilage 21 zum Kriegsfall B 1914/15 von Oberst Oskar von Hranilovic-Czvetassin, Juli 1914, in: Österreichisches Staatsarchiv, Wien (ÖStA), Kriegsarchiv (KA), NFA: 2. Armee, OpAK 2.
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dritten Aufgebotes auch Männer, die während der Balkankriege im Rahmen irregulärer Komitadschi-Verbände im Einsatz gestanden hatten. Sie waren aufgrund von Produktionsengpässen und einer nicht abgeschlossenen Heeresreform nicht immer mit Uniformen ausgerüstet, betrachteten sich aber als reguläre Kämpfer im Sinne von Artikel 1–3 der Haager Landkriegsordnung.33 Auf österreichischungarischer Seite war die Bereitschaft zur Anerkennung dieser Verbände als legitime Kämpfer nicht hoch. In einem Befehl vom 8. August 1914 machte der kommandierende General des 9. Korps der zweiten Armee, Lothar Edler von Hortstein, zwar klar, dass er ein „streng soldatisches und korrektes Auftreten“ seiner Soldaten erwarte. Es müsse aber alles getan werden, um „den übel gesinnten Teil der Bevölkerung einzuschüchtern und vor feindseligen Handlungen […] zurückzuhalten.“34 Da seine Verbände ihre Ziele nicht erreichen konnten und hohe Verluste erlitten, musste Potiorek seinen Angriff bereits am 24. August abbrechen und seine Truppen wieder in ihre Ausgangsstellungen zurückbeordern. Für die hohe Zahl von „zivilen“ Opfern, die der Feldzug forderte, machten die österreichischungarischen Truppen zu Unrecht illegal an den Kämpfen beteiligte Zivilisten verantwortlich. Die serbischen Behörden hingegen sprachen von unaussprechlichen Grausamkeiten der Verbände der Habsburgermonarchie und appellierten an Publizisten, Kriminologen und Juristen aus dem Ausland, sich selbst vor Ort ein Bild zu machen. Einige, wie Henri Barby aus Frankreich, John Reed aus den USA oder Rodolphe Archibald Reiss aus der Schweiz folgten dieser Einladung. Im Gegensatz zu den zeitgleichen Vorkommnissen in Belgien und Nordfrankreich wurde die Situation in Serbien allerdings nicht zum Thema einer größeren Debatte von Wissenschaftlern und Publizisten.35 Deutlich wurde allerdings, dass die nicht in allen Punkten klare Formulierung zum Kombattantenstatus in der Haager Landkriegsordnung und vor allem die seit den Verhandlungen in Den Haag höchst unterschiedlichen Auslegungen der betreffenden Bestimmungen schon in den ersten Wochen des Krieges verheerende Folgen gehabt hatten.
33 Mario Christian Ortner, Die Feldzüge gegen Serbien in den Jahren 1914 und 1915, in: Jürgen Angelow (Hg.), Der Erste Weltkrieg auf dem Balkan, Berlin 2011, S. 123–142, hier S. 123– 125; Manfried Rauchensteiner, Der Erste Weltkrieg und das Ende der Habsburgermonarchie 1914–1918, Wien 2013, S. 187–196; Daniel Marc Segesser, Kriegsverbrechen? Die österreichisch-ungarischen Operationen des August 1914 in Serbien in Wahrnehmung und Vergleich, in: Wolfram Dornik, Julia Walleczek-Fritz, Stefan Wedrac (Hg.), Frontwechsel. ÖsterreichUngarns „Großer Krieg“ im Vergleich, Wien 2014, S. 213–233, hier S. 222f. 34 Tagesbefehl von General der Infanterie Lothar Edler von Hortstein, Kommandeur des 9. k.u.k. Korps, 8.8.1914, in: ÖStA, KA, NFA: 2. Armee, OpAK 2, Op 287. 35 Segesser, Kriegsverbrechen?, S. 224–228.
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DER KRIEG IN BELGIEN UND NORDFRANKREICH UND DIE INTERPRETATION VÖLKERRECHTLICHER BESTIMMUNGEN Nicht nur in Serbien, sondern auch in Belgien kam es beim Vormarsch deutscher Truppen zu Situationen, in welchen die Frage des Kombattantenstatus eine zentrale Rolle spielte. Ähnlich wie die österreichisch-ungarische Militärführung rechnete ihr deutsches Gegenüber beim Vormarsch in Belgien nicht mit größerem Widerstand, da die Verbände des Gegners als schwach und unzureichend ausgerüstet eingeschätzt wurden. Der unerwartet große Widerstand sowohl in der Grenzregion um Lüttich als auch später im Innern des Landes löste bei deutschen Offizieren und Soldaten vielfach Frustration aus. Eine Rolle spielte dabei auch, dass aufgrund der größeren Distanzen, auf welche tödliche Schüsse abgegeben werden konnten, sowie aufgrund der unübersichtlichen Lage nicht immer klar war, von wo ein Beschuss ausgegangen war. Die Schwierigkeiten beim Vorrücken wurden deshalb vielfach zu Unrecht damit erklärt, dass die belgischen Behörden den Volkskrieg ausgerufen und Zivilisten daraufhin in die Kämpfe eingegriffen hätten. Eine bedeutsame Rolle spielte dabei sicherlich auch der Einsatz der belgischen Garde Civique. Bei dieser handelte es sich um Verbände, die im Unterschied zu den ordentlichen belgischen Streitkräften nicht uniformiert, aber doch gemäß der Haager Landkriegsordnung klar als Kombattanten gekennzeichnet waren. Massivste Übergriffe waren die Folge. Nicht selten endeten diese damit, dass ganze Ortschaften angezündet und zerstört wurden. Beispiele dafür waren Aerschot, Andenne, Arlon, Dinant, Tamines und vor allem die alte Universitätsstadt Leuven/Louvain.36 Bereits am 7. August setzte der belgische Justizminister Henri Carton de Wiart eine Untersuchungskommission ein, die die Vorfälle aufklären sollte. Ihr gehörte mit Ernest Nys nur ein bekannterer Völkerrechtler an – und dies auch nur zeitweise. Aber mit einem Vorwort von Staatsminister Jules van den Heuvel, der neben Auguste Beernaert der zweite belgische Delegierte an der Haager Friedenskonferenz von 1907 gewesen war, versuchte die belgische Regierung den Aussagen der Kommission mehr Legitimität zu verschaffen. In ihrem am 20. Januar 1915 vorgelegten Abschlussbericht betonte sie, dass die belgische Seite die bestehenden Regeln des Ius in Bello in allen Punkten eingehalten habe, während die deutschen Truppen sich zahlreicher ungerechtfertigter Übergriffe gegen die Zivilbevölkerung schuldig gemacht hätten.37 Zu ähnlichen Ergebnissen kamen analoge Kommissionen, die von französischer Seite mit Blick auf die im Norden des eigenen Landes bekannt gewordenen Übergriffe sowie von der britischen Regierung 36 Horne, Kramer, Deutsche Kriegsgreuel 1914, S. 9–88; Larry Zuckerman, The Rape of Belgium. The Untold Story of World War I, New York 2004, S. 22–37. Zur belgischen Garde Civique siehe Piet Veldeman, Trapped in a Legal No-Man’s Land? The Extraordinary Case of the Belgian Civic Guard in 1914, in: Margo de Koster, Hervé Leuwers, Dirk Luyten Xavier Rousseaux (Hg.), Justice in Wartime and Revolutions. Europe, 1795–1950, Brüssel 2012, S. 355–364. 37 Commission Officielle du Gouvernement Belge, Rapports sur la Violation du Droit des Gens en Belgique, Paris 1915.
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angesichts einer Welle belgischer Flüchtlinge eingesetzt worden waren.38 Diese Berichte wurden in der Folge von einer Reihe von Staats- und Völkerrechtlern aus den Entente-Staaten aufgegriffen und weiterverbreitet sowie im Fall des Berichts der französischen Kommission bewusst auch ins Englische und Deutsche übersetzt, um in den neutralen Staaten, vor allem in den USA und der Schweiz, Stimmung gegen die Mittelmächte zu machen.39 Auch im Deutschen Reich wurden die Vorkommnisse in Belgien thematisiert. In seinem im Herbst 1914 erschienen Kommentar zum Landkriegsrecht wies der deutsche Völkerrechtler Karl Strupp den Vorwurf zurück, die deutschen Truppen hätten dort Regeln des Ius in Bello verletzt. Es sei zwar möglicherweise zu einzelnen Völkerrechtsverstößen gekommen. „[F]reilich [würden] auch vielfach Handlungen als Rechtsverletzungen angesehen, die sich lediglich als Kriegsrepressalie im eigentlichen Sinn […] darstellen und die, wenn sie uns auch erschauern lassen, der Ursache wie des Zweckes willen als geboten, als völkerrechtsgemäß erscheinen.“40 Andere Staats- und Völkerrechtler wie Ernst Neukamp oder Christian Meurer nahmen ganz explizit auf die Haager Landkriegsordnung Bezug und betonten, die deutschen Maßnahmen seien militärisch notwendig gewesen, da die belgische Zivilbevölkerung unrechtmäßig zu den Waffen gegriffen und sich dabei selbst nicht an die Bestimmungen des Haager Rechts gehalten habe.41 Meurer erkannte dabei die Sprengkraft der Debatte genau und betonte: „Unsere Feinde scheinen von ihren eigenen ungeheuerlichen Rechtsverletzungen, die der Franktireurkrieg entfesselt hat, den Blick des Auslandes dadurch ablenken zu wollen, dass sie nichtswürdig unseren braven Soldaten Gräueltaten andichten.“42 Entsprechend wurde auf deutscher Seite wie auf derjenigen der Entente ein „Krieg der Worte“ in Gang gesetzt, an welchem sich sowohl Juristen wie andere Wissenschaftler und Intellektuelle beteiligten und aus welchem schließlich diejenigen aus den Ländern der Entente bei Kriegsende siegreich hervorgehen sollten.43
38 Commission instituée en vue de constater les Actes commis par l’Ennemi en Violation du Droit des Gens, Les Atrocités Allemandes en France. Rapport présenté à M. le Président du Conseil, Paris 1915; Committee on Alleged German Outrages. Report of the Committee on Alleged German Outrages, London 1915. 39 Segesser, Recht statt Rache, S. 159–165. 40 Karl Strupp, Das internationale Landkriegsrecht, Frankfurt a.M. 1914, S. 9. 41 Ernst Neukamp, Die Haager Friedenskonferenzen und der Europäische Krieg, in: Zeitschrift für Völkerrecht 8 (1914), S. 545–568; Christian Meurer, Der Volkskrieg und das Strafgericht über Löwen, in: Zeitschrift für Völkerrecht 8 (1914), S. 609–640. 42 Meurer, Der Volkskrieg und das Strafgericht, S. 617. 43 Horne, Kramer, Deutsche Kriegsgreuel 1914, S. 333–478; Segesser, Recht statt Rache, S. 168–176 und 212–225.
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DIE INTERNIERUNG FEINDLICHER AUSLÄNDER BEI KRIEGSBEGINN Die Frage der Internierung feindlicher Ausländer auf dem Boden einer kriegführenden Macht war auf der Haager Friedenskonferenz von 1907 von der japanischen Delegation zum Thema gemacht worden. Der Vorschlag, das Thema explizit, wenn auch in sehr allgemein gehaltener Form, in die Haager Landkriegsordnung aufzunehmen, war auf Betreiben des belgischen Delegierten Auguste Beernaert mit der Begründung abgelehnt worden, dass die bestehenden Regeln ausreichten und dass Masseninternierungen oder -ausweisungen eine Sache der Vergangenheit seien.44 Schon bald nach Kriegsbeginn sollte sich zeigen, dass diese Aussage Beernaerts durch die von allen kriegführenden Mächten ergriffenen Maßnahmen Lügen gestraft wurde. Nicht nur in Europa, sondern auch und gerade in Ländern, die wie Australien oder Neuseeland weit weg vom direkten Frontgeschehen lagen, wurden bereits kurz nach Kriegsbeginn Personen interniert, die als Staatsangehörige von Feindmächten identifiziert wurden. Dabei genügte der bloße Verdacht, so dass auch Personen aus neutralen Staaten wie der Schweiz oder slawische Migranten aus dem Herrschaftsbereich der Habsburgermonarchie von den Maßnahmen der Internierungsbehörden erfasst wurden.45 Inwiefern der japanische Vorschlag an dieser Situation etwas geändert hätte, ist zweifelhaft. Denn auch er war sehr allgemein gehalten und hätte Internierungen erlaubt, insofern diese durch die Erfordernisse des Krieges notwendig geworden wären.46 Wie weit und unterschiedlich solche Bestimmungen ausgelegt werden konnten, wird an der Frage des Kombattantenstatus deutlich. FAZIT Eine Bewertung der Diskussionen zur Verrechtlichung des Krieges vor und während des Ersten Weltkriegs, der daraus resultierenden Regeln und vor allem der Umsetzung dieser Regeln zu Beginn des Konfliktes ist eine schwierige und komplexe Angelegenheit. Die von Gustave Moynier im Jahre 1890 ausgesprochene Hoffnung, dass eine von Juristen gemeinschaftlich erarbeitete Doktrin zum Ius in Bello die Staaten dazu zwingen werde, sich an entsprechend ausgearbeitete Regeln zu halten, erwies sich als Illusion. Schon an den beiden Haager Friedenskonferenzen von 1899 und 1907 wurde deutlich, dass selbst unter Staats- und Völkerrechtlern unterschiedliche Auffassungen darüber herrschten, wie die Regeln des Ius in Bello ausgestaltet sein sollten. Dies galt insbesondere hinsichtlich der Fra44 Scott (Hg.), The Proceedings of the Hague Peace Conferences, Bd. 4, S. 110–114. 45 Vgl. Matthew Stibbe, Civilian Internment and Civilian Internees in Europe, 1914–1920, in: Immigrants and Minorities 26 (2008), S. 49–82; Gerhard Fischer, Enemy Aliens. Internment and the Homefront Experience in Australia 1914–1920, St. Lucia 1989, S. 65–175; Andrew Francis, „To Be Truly British We Must Be Anti-German“. New Zealand, Enemy Aliens and the Great War Experience, 1914–1919, Oxford 2012, S. 69–111 und 153–180. 46 Scott (Hg.), The Proceedings of the Hague Peace Conferences, Bd. 4, S. 110.
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ge, wer in einem Krieg als Kombattant gelten sollte und welche Form der Kriegführung für zivilisierte Staaten als angemessen und rechtmäßig betrachtet werden sollte. Schließlich resultierten daraus relativ allgemein gehaltene Regelungen. Im Fall der Internierung von feindlichen Ausländern wurde 1907 sogar bewusst auf eine Präzisierung der bestehenden Bestimmungen der Haager Landkriegsordnung verzichtet, weil diese als eine Selbstverständlichkeit für zivilisierte Staaten angesehen wurden. Bereits im Rahmen der Balkankriege wurde deutlich, wie schwierig es werden würde, eine Einhaltung auch nur der Regeln des Genfer und Haager Rechts geschweige denn der noch weit weniger präzisen von der Martensklausel beschriebenen Prinzipien des ungeschriebenen Ius in Bello zu erreichen. Trotz erster, im Sommer 1914 geäußerter Zweifel daran wurde dies mit Blick auf einen Krieg zwischen europäischen Großmächten allerdings meist mit dem Hinweis darauf abgetan, dass es sich beim Balkan um ein von „unzivilisierten“ oder bestenfalls „halb zivilisierten“ Mächten bewohntes Gebiet handle. Wie falsch diese Annahmen waren, sollte sich bald nach Kriegsbeginn zeigen. Verzerrte Erinnerungen, Fehlinterpretationen in der Wahrnehmung des Gegners sowie der Glaube in die eigene Fähigkeit, sich durchzusetzen, führten zur Entstehung eines sich selbst verstärkenden Mythenkomplexes, in dessen Zentrum die Vorstellung eines von den Kleinstaaten Belgien und Serbien planmäßig organisierten und von Banden betriebenen Volkskriegs stand. Staats- und Völkerrechtler beteiligten sich intensiv an der daraus resultierenden Diskussion und stützten sich dabei in wesentlichen Teilen auf Positionen, wie sie von ihnen selbst oder den Vertretern ihrer Länder bereits auf den beiden Haager Friedenskonferenzen verfochten worden waren. Es zeigte sich dabei deutlich, dass im Bereich des Völkerrechts letztlich nicht die Normen an sich entscheidend waren und sind, sondern deren Interpretation. Diese war und ist nicht einheitlich. Und so wurde das Jahr 1914 nicht nur zum Zeugen einer militärischen Auseinandersetzung von globalem Ausmaß, sondern eben auch zum Zeugen einer Auseinandersetzung über die Interpretation geschriebener wie ungeschriebener Regeln des Völkerrechts. Diese hatte schon weit früher begonnen als der Krieg und wurde nun lediglich mit anderen Mitteln und vor dem Hintergrund eines völlig veränderten Kontextes ausgetragen. Angesichts des multidimensionalen und globalen Charakters des Krieges und der zunehmenden Zahl von Elementen eines totalen Krieges47 ist es daher nicht erstaunlich, dass der Erste Weltkrieg zu einer maßgeblichen Akzentuierung der bestehenden Divergenzen im Bereich des Völkerrechts führte. Für diesen allerdings einen Zivilisationsbruch zu postulieren, scheint dann doch etwas zu weit gegriffen zu sein.
47 Vgl. Stig Förster, Das Zeitalter des totalen Kriegs, 1861–1945, in: Mittelweg 36 (1999) 8, S. 12–29; Daniel Marc Segesser, Der Erste Weltkrieg in globaler Perspektive, Wiesbaden 3 2013.
DIE ZERSTÖRUNG DES GLOBALEN DORFES? Internationalität und Erster Weltkrieg: Netzwerke, Organisationen und Interaktionen Florian Kerschbaumer I. Die sukzessive Weiterentwicklung der klassischen Diplomatiegeschichte hin zu einer multiperspektivischen internationalen Geschichte hat in den vergangenen Jahrzehnten zu einer beeindruckenden Dynamisierung dieses Forschungsfeldes geführt. Die Perspektive auf internationale Beziehungen hat sich dadurch deutlich erweitert. Neue Themenfelder wie die Zirkulation von Ideen, ökonomische Aspekte und nicht-staatliche Akteure als politische und gesellschaftliche Faktoren sowie die Auseinandersetzung mit der Geschichte von internationalen Organisationen sind verstärkt in den Fokus der Geschichtswissenschaften gerückt1 – neue Blickwinkel, die für einen zusätzlichen Erkenntnisgewinn und ein besseres Verständnis der Geschichte unabdingbar sind. Gerade die vielfältigen und beschleunigten Globalisierungsprozesse des 19. Jahrhunderts führten zur Entstehung zahlreicher internationaler Organisationen mit völlig unterschiedlichen Themen, Zielen und Rechtsformen: Private Träger machten sich für gesellschaftspolitische Angelegenheiten wie Frieden, Frauenrechte oder soziale Verbesserungen für Arbeiterinnen und Arbeiter stark, während sich zwischenstaatliche Organisationen der Vereinheitlichung des Maß- und Gewichtsystems sowie der Verwaltung der neu aufkommenden transnationalen Kommunikationsmöglichkeiten (z.B. Telegrafie) widmeten oder sich mit der Entfaltung der Weltwirtschaft befassten.2 1
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Vgl. Eckart Conze, Jenseits von Männern und Mächten. Geschichte der internationalen Politik als Systemgeschichte, in: Hans-Christof Kraus, Thomas Nicklas (Hg.), Geschichte der Politik. Alte und neue Wege, München 2007, S. 41–64; Akira Iriye, Internationalizing International History, in: Thomas Bender (Hg.), Rethinking American History in a Global Age, Berkeley 2002, S. 47–62; Davide Rodogno, Shaloma Gauthier, Francesca Piana, What does Transnational History tell us about a World with International Organizations? The Historians’ Point of View, in: Bob Reinalda (Hg.), Routledge Handbook of International Organization, London 2013, S. 94–105. Programmatisch hierzu Wilfried Loth, Jürgen Osterhammel (Hg.), Internationale Geschichte. Themen – Ergebnisse – Aussichten, München 2000; Jost Dülffer, Wilfried Loth (Hg.), Dimensionen internationaler Geschichte, München 2012. Vgl. den Überblick bei Jürgen Osterhammel, Die Verwandlung der Welt. Eine Geschichte des 19. Jahrhunderts, München ³2009, S. 723–735; für eine ausführliche Darstellung vgl. Bob Reinalda, Routledge History of International Organizations. From 1815 to the Present Day, London 2009, insbesondere S. 51–267.
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In diesem Potpourri an unterschiedlichen Organisationen und Formen von internationalen Beziehungen ist es nicht leicht den Überblick zu bewahren, was wiederum die Suche nach geeigneten Eingrenzungsmöglichkeiten befördert. Dabei ergeben sich die ersten Schwierigkeiten aus Sicht der Geschichtswissenschaften bereits daraus, dass die breit gefächerten Begriffsbildungen zur Analyse des komplexen und nicht selten inkonsistenten System des Internationalen aus einer Gegenwartsperspektive heraus entwickelt wurden und vor allem von den Politikwissenschaften geprägt sind.3 Die Forderung nach einer an die Bedürfnisse der Geschichtswissenschaft angepassten Terminologie wurde in den letzten Jahren vermehrt aufgegriffen. So hat beispielsweise Madeleine Herren-Oesch jüngst eine geeignete Definition für internationale Organisationen vorgelegt. Diese seien demnach „grenzübergreifend formalisierte Strukturen, die im internationalen System von Zivilgesellschaften und/oder Staaten als Akteure wahrgenommen werden. Sie sind Teil der internationalen Organisation der Welt und verbinden ihre mindestens aus drei unterschiedlichen Staaten stammenden Mitglieder durch die Regelung eines grenzübergreifenden Informationszugriffs.“4 Diese Begriffsbestimmung setzt jedoch eine prinzipielle Offenheit des internationalen Systems voraus, die einer möglichst großen Anzahl an Akteuren eine uneingeschränkte Partizipation an diesen Organisationen ermöglicht. Diese Annahme ist für Friedenszeiten in der Regel zutreffend, für Phasen globaler kriegerischer Auseinandersetzungen hingegen nicht. Es erscheint daher notwendig, bestehende Perspektiven, Kategorien und Definitionen weiterzuentwickeln, um sie auf eine Analyse der internationalen Geschichte auch für Zeiträume fundamentaler Krisen und Konflikte anwenden zu können. Erste Ansätze hierfür lassen sich aus Beobachtungen des internationalen Systems während des Ersten Weltkriegs gewinnen. Die zunehmende Globalisierung und die weltweite Vernetzung waren in Europa am Vorabend des Ersten Weltkriegs deutlich spürbar. Grenzüberschreitende Modetrends, die ökonomischen Verflechtungen, die Kommunikationsmöglichkeiten über Telegrafen und ein sich entwickelndes Telefonnetz, ein ausgebautes Eisenbahnsystem und erste Ausprägungen des Massentourismus verdeutlichen das sukzessive Zusammenwachsen der Welt in besonderer Weise.5 Dieses Geflecht an internationalen Interaktionen führte bei einigen zeitgenössischen Intellektuellen zu durchaus optimistischen Zukunftsprognosen, die quasi das Gegenstück zum in der
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Vgl. Bob Reinalda, International Organization as a Field of Research since 1910, in: ders. (Hg.), Routledge Handbook of International Organziation, S. 1–23. Madeleine Herren, Internationale Organisationen seit 1865. Eine Globalgeschichte der internationalen Ordnung, Darmstadt 2009, S. 6. Emily S. Rosenberg, Transnationale Strömungen in einer Welt, die zusammenrückt, in: dies. (Hg.), Geschichte der Welt. 1870–1945: Weltmärkte und Weltkriege, München 2012, S. 815– 998; Michael Wallace, Joel D. Singer, Intergovernmental Organization in the Global System, 1815–1964. A Quantitative Description, in: International Organization 24 (1970) 2, S. 239– 287; John Boli, George M. Thomas, INGOs and the Organization of World Culture, in: dies. (Hg.), Constructing World Culture. International Nongovernmental Organizations since 1875, Stanford 1999, S. 13–49.
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Vergangenheit viel zitierten „Topos vom unvermeidlichen Krieg“6 bildeten. Eines der bekanntesten Beispiele dafür lieferte wohl der britische Publizist, Mit-Architekt des Völkerbundes und spätere Friedensnobelpreisträger Norman Angell.7 In seinem in viele Sprachen übersetzten Buch „The Great Illusions“ (deutsch: „Die falsche Rechnung“) skizzierte er die Sinnlosigkeit des Krieges in einer zunehmend globalisierten Welt: „In dem Maße, wie die sichtbaren Tatsachen unserer Zivilisation, die Wechselwirkungen in der modernen Welt klarer zutage treten, müssen alle Versuche, diese gegenseitigen Wechselwirkungen durch kleinliche Trennungsstriche zu unterbrechen, mehr und mehr zusammenbrechen.“8 Der Ausbruch des Krieges 1914 machte diese Hoffnungen zunichte. Zwar wurden die bis dahin in Gang gesetzten Globalisierungsprozesse nicht völlig abgebrochen, aber in bedeutender Weise gewandelt, ja deformiert. Ebenso veränderte das internationale System seinen Charakter. Die Beziehungen zwischen den Staaten unterlagen aufgrund der Kriegsereignisse nunmehr einer deutlichen Polarisierungstendenz – ein Phänomen, das sich später in modifizierter Form als charakteristisch für das 20. Jahrhundert erweisen sollte. Dabei markierte das Jahr 1914 in mehrerlei Hinsicht einen Bruch im internationalen System: Erstens setzten nur wenige internationale Organisationen während des Krieges ihre Aktivitäten uneingeschränkt fort, und wenn, dann meist nur deshalb, weil sie – wie das Internationale Komitee vom Roten Kreuz – in der Kriegssituation eine spezifische Funktion übernahmen und ihre Beibehaltung als moralisches Gebot erschien. Daneben gab es Initiativen neutraler Kräfte, die versuchten, an bewährten Standards der Internationalisierung festzuhalten. Sie sahen sich oft Anfeindungen von Seiten der kriegführenden Parteien ausgesetzt und unter den neuen Bedingungen eines durch Konflikte geprägten internationalen Systems zu einem ständigen Balanceakt gezwungen. Außerdem entstanden Netzwerke innerhalb der verbündeten Lager, die allerdings nicht als Fortsetzung der Internationalisierung vor 1914 angesehen werden können, sondern als Produkt des Krieges verstanden werden müssen. Schließlich verlagerten sich durch den Ersten Weltkrieg auch zentrale Knotenpunkte der unterschiedlichsten internationalen Netzwerke, vor allem zu Lasten des europäischen Kontinents, was wiederum die globalen Auswirkungen dieses Ereignisses verdeutlicht. Anhand einiger exemplarischer Themen soll nun gezeigt werden, wie sich diese Verflechtungen unter den neuen Bedingungen eines deformierten internationalen Systems bildeten, wie sie sich in dieses integrierten und in welchen unterschiedlichen Bereichen sie von Bedeutung waren. 6
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Wolfgang J. Mommsen, Der Topos vom unvermeidlichen Krieg. Außenpolitik und öffentliche Meinung im Deutschen Reich im letzten Jahrzehnt vor 1914, in: ders., Der autoritäre Nationalstaat. Verfassung, Gesellschaft und Kultur des deutschen Kaiserreiches, Frankfurt a.M. 1990, S. 380–406; Holger Afflerbach, David Stevenson (Hg.), An Improbable War. The Outbreak of World War I and European Political Culture before 1914, New York 2007. Jüngst dazu auch Christopher Clark, Die Schlafwandler. Wie Europa in den Ersten Weltkrieg zog, München 2013. Martin Ceadel, Angell, Sir (Ralph) Norman (1872–1967), in: Oxford Dictionary of National Biography, Bd. 2, Oxford 2004, S. 150–152. Norman Angell, Die falsche Rechnung. Was bringt der Krieg ein?, Berlin 1913, S. 265f.
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II. Erschüttert von den Eindrücken der Schlacht von Solferino 1859 und dem dadurch entstandenen Wunsch, eine bessere Versorgung von verwundeten Soldaten zu gewährleisten, wurde der Schweizer Henry Dunant zum spiritus rector und Gründungsvater des Internationalen Komitees vom Roten Kreuz (IKRK). Auf Grundlage der Genfer Konvention aus dem Jahr 1864 gründeten sich in beeindruckender Geschwindigkeit in den folgenden Jahrzehnten weltweit auch nationale Verbände, die sich der „Verbesserung des Schicksals der verwundeten Soldaten der Armeen im Felde“ widmeten.9 Das IKRK mit Sitz in der Schweiz, welches unabhängig von den nationalen Rotkreuz-Gesellschaften agierte, definierte sich nicht nur über Lobby- und Organisationsarbeit, sondern hatte auch eine starke, auf konkrete Hilfe ausgerichtete Akzentuierung und trat immer wieder bei bewaffneten Auseinandersetzungen in Erscheinung. Der Erste Weltkrieg aber sollte das IKRK und die nationalen Verbände, die auch auf internationale Freiwillige zurückgreifen konnten, zu einer völlig neuen Bedeutung verhelfen. Dabei positionierte sich das IKRK als zentrale Vermittlungsinstanz in einem Geflecht aus nationalen Verbänden, Konfliktparteien, aber auch Konsulaten und neutralen Staaten, um auf diese Weise sowohl den immensen Anforderungen gerecht zu werden als auch dem kriegsbedingten Misstrauen entgegenzuwirken. Dabei erweiterte das IKRK sein Aufgabenspektrum deutlich und beschäftigte sich nun auch mit dem Schicksal der unzähligen Kriegsgefangenen. Mit Hilfe von weit über 1000 Freiwilligen aus unterschiedlichen Ländern wurde von Genf aus die Kriegsgefangenenhilfe bzw. die VermisstenSuche organisiert. Millionen von internierten Soldaten, aber auch Zivilgefangene und Verschollene, wurden erfasst, ihre Daten gesammelt und an Angehörige weitergegeben, Briefe und Pakete in Millionenhöhe versandt und der Austausch von Gefangenen zwischen den Konfliktparteien angeregt. Darüber hinaus überprüfte das IKRK Kriegsgefangenenlager,10 trat mahnend an die Öffentlichkeit und wurde sukzessive zu einer kontrollierenden Instanz des Völkerrechts.11 Trotz seiner Leistungen blieb das IKRK nicht von Kritik verschont: Vorwürfe mangelnder Objektivität und Zweifel an der Überparteilichkeit bzw. Unabhängigkeit wurden teils aus propagandistischen, teils aber durchaus aus berechtigten Gründen geäußert.12 In verstärktem Maße trifft dies auf die nationalen Hilfsorganisationen zu. Sie be9
Willy Heudtlass, J. Henry Dunant. Gründer des Roten Kreuzes. Urheber der Genfer Konvention, Stuttgart 1962, S. 65. 10 Gerade die Behandlung von Gefangenen war immer wieder Thema der öffentlichen Diskussion, aber auch der gezielten Propaganda. Vgl. dazu Anton Holzer, Die andere Front. Fotografie und Propaganda im Ersten Weltkrieg, Darmstadt 2007, S. 184f. 11 Dieter Riesenberger, Für Humanität in Krieg und Frieden. Das Internationale Rote Kreuz 1863–1977, Göttingen 1992, S. 61–82; Uta Hinz, Humanität im Krieg? Internationales Rotes Kreuz und Kriegsgefangenenhilfe im Ersten Weltkrieg, in: Jochen Oltmer (Hg.), Kriegsgefangene im Europa des Ersten Weltkriegs, Paderborn 2006, S. 216–236. 12 David P. Forsythe, The Humanitarians. The International Committee of the Red Cross, Cambridge 2005, S. 29–33.
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wegten sich im Spannungsfeld von Humanität und Patriotismus, da sie vielfach integraler Bestandteil des militärischen Systems waren.13 Das Beispiel des Internationalen Komitees vom Roten Kreuz veranschaulicht die Fortsetzung der Humanisierungstendenzen des 19. Jahrhunderts und die Kontinuität internationaler Aktivitäten über das Jahr 1914 hinaus, die jedoch eng mit dem Kriegsgeschehen verbunden waren. Der Erste Weltkrieg war gleichzeitig auch Anlass zur Gründung neuer international agierender Organisationen, die sich der humanitären Hilfe verschrieben. Viele dieser Initiativen sind jedoch nur bedingt mit dem IKRK vergleichbar, da sie von (zunächst) neutralen Mächten ausgingen und ihre Steuerungsprozesse in nationalstaatliche Kontexte eingebettet waren.14 Dies gilt zum Beispiel für die Commission for Relief in Belgium (CRP) unter der federführenden Beteiligung des späteren amerikanischen Präsidenten Herbert Hoover, dessen organisatorisches Geschick und diplomatische Fähigkeiten ihn zum „Almoner of Starving Belgium“ machten.15 Ähnliches gilt für die 1913 gegründete Rockefeller Foundation des amerikanischen Industriemagnaten John D. Rockefeller, die sich ebenfalls mit umfangreichen Nahrungsmittellieferungen in Belgien engagierte.16 III. Am 10. Dezember 1917, mitten im vierten Kriegswinter, erhielt das Internationale Komitee vom Roten Kreuz für seine Leistungen den Friedensnobelpreis zugesprochen.17 Dies war im Übrigen nicht der einzige Nobelpreis, der in den Kriegsjahren vergeben wurde. Trotz lückenhafter Preisabfolgen in der Zeit zwischen 1914 und 1918 durften einige namhafte Wissenschaftler und Künstler in diesen schwierigen Zeiten die begehrte Medaille entgegennehmen. Die Nominierungen aus den einzelnen Ländern waren zwar überwiegend nationalistisch motiviert,18 die neutralen skandinavischen Entscheidungsträger bemühten sich jedoch um Un13 Besonders eindrücklich geschildert wird dieser oft als Widerspruch empfundene Sachverhalt in den Zeugnissen von Krankenschwestern und im Umgang mit verwundeten Gegnern. Vgl. Birgit Panke-Kochinke, Monika Schaidhammer-Placke, Frontschwestern und Friedensengel. Kriegskrankenpflege im Ersten und Zweiten Weltkrieg. Ein Quellen- und Fotoband, Frankfurt a.M. 2002. 14 Solche Zuschreibungen bzw. Kontextualisierungen sind jedoch gerade im Bereich der humanitären Hilfe immer ein heikles Unterfangen. Vgl. Heather Jones, International or Transnational? Humanitarian Action during the First World War, in: European Review of History 16 (2009) 5, S. 697–713. 15 William E. Leuchtenburg, Herbert Hoover, New York 2009, S. 24–32. 16 Raymond Blaine Fosdick, The Story of the Rockefeller Foundation, New Brunswick 1989, S. 28f. 17 Maya Jurt, Internationales Komitee vom Roten Kreuz – Feuerwehr der Nationen, in: Michael Neumann (Hg.), Der Friedens-Nobelpreis von 1901 bis heute, Bd. 3: Der Friedens-Nobelpreis von 1917 bis 1925, Zug 1988, S. 32–51. 18 Elisabeth Crawford, Nationalism and Internationalism in Science, 1880–1939. Four Studies of the Nobel Population, Cambridge 1992, S. 49–78.
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abhängigkeit, versuchten den schwierigen Balanceakt zwischen den Konfliktparteien und waren in ihren begrenzten Handlungsspielräumen um friedliche Signalwirkung bemüht. Besonders deutlich wird dies am Beispiel des französischen Schriftstellers Romain Rolland, der den Literaturnobelpreis von 1915 erhielt. Seine pazifistischen Schriften sowie seine Kritik am Krieg und vor allem an den europäischen Intellektuellen, die sich in ihrer nationalistischen Euphorie vor den Karren der Kriegstreiber spannen hatten lassen, machten ihn sowohl bei den Mittelmächten als auch in Frankreich selbst zu einem populären Feindbild.19 In seinem Heimatland war der Aufschrei gegen seine Person und seine Arbeit so groß, dass die wirkliche Zuerkennung des Preises erst 1916 erfolgen konnte. Auch danach stand Rolland, der das Preisgeld zu einem großen Teil an das Rote Kreuz in Genf spendete (für das er auch ehrenamtlich tätig war), in Frankreich im Fadenkreuz der öffentlichen Kritik.20 Die von Stockholm beabsichtigte, friedliche Signalwirkung verfehlte ihr Ziel jedoch nicht, da Rolland, „der in entscheidender Stunde das Gewissen Europas“ wurde, Vorbild und Anschlussmöglichkeit für viele Pazifisten und Intellektuelle darstellte.21 IV. Gerade am Beispiel der Wissenschaft und Kunst wird die Zäsur des Jahres 1914 für das internationale System besonders deutlich: Eine beginnende blühende Landschaft des Wissens, bestehend z.B. aus internationalen Gelehrtengesellschaften, Kongressen und grenzüberschreitenden Publikationsorganen, wurde binnen kürzester Zeit durch einen Sturm von Chauvinismus und Nationalismus zerstört, dessen erste Brise bereits vor dem Krieg zu spüren gewesen war. Viele Gelehrte und Künstler wurden zu Beginn der militärischen Auseinandersetzung nicht müde, den Krieg als Notwendigkeit zu rechtfertigen und ihn sogar zum Kulturkampf zu stilisieren.22 Nicht wenige von ihnen begannen sich im „militärisch-industriellwissenschaftlichen Komplex“ zu engagieren.23 Die Minderheit, die nicht in diesen Chor der Kriegsbegeisterung einstimmte oder beharrlich schwieg, fand zunächst keine Beachtung – so Heinrich Mann, der (nicht nur) in dieser Frage in Oppositi19 Michael Klepsch, Romain Rolland im Ersten Weltkrieg. Ein Intellektueller auf verlorenem Posten, Stuttgart 2000, S. 64–70. 20 Ebd., S. 189–194. 21 Stefan Zweig, Die Welt von Gestern. Erinnerungen eines Europäers, Frankfurt a.M. 392012, S. 291–320, Zitat S. 235. 22 Wolfgang J. Mommsen (Hg.), Kultur und Krieg. Die Rolle der Intellektuellen, Künstler und Schriftsteller im Ersten Weltkrieg, München 1996. 23 Sören Flachowsky, Krisenmanagement durch institutionalisierte Gemeinschaftsarbeit. Zur Kooperation von Wissenschaft, Industrie und Militär zwischen 1914 und 1933, in: Michael Grüttner, Rüdiger Hachtmann, Konrad H. Jarausch, Jürgen John, Matthias Middell (Hg.), Gebrochene Wissenschaftskulturen. Universität und Politik im 20. Jahrhundert, Göttingen 2010, S. 83–106.
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on zu seinem Bruder Thomas stand.24 Erst im Frühjahr 1916 begann sich dies zu ändern: „Die Zeit hatte ihr Werk grausamer Ernüchterung getan. Nach dem furchtbaren Aderlaß auf den Schlachtfeldern begann das Fieber zu weichen. Die Menschen sahen mit kälteren, härteren Augen dem Krieg ins Gesicht als in den ersten Monaten der Begeisterung“, resümierte der österreichische Schriftsteller Stefan Zweig in seinen Lebenserinnerungen.25 Betrachtet man die überstaatliche Forschungs- und Gelehrtenlandschaft nun aus der Perspektive der eingangs skizzierten Brüche und unter dem Blickwinkel eines sich durch den Ersten Weltkrieg wandelnden bzw. deformierenden internationalen Systems, dann lassen sich durchaus Formen der grenzüberschreitenden Zusammenarbeit erkennen. Kriegsbedingt geschah dies innerhalb der jeweiligen militärischen Bündnisse, als eine Art Binnensolidarität. Besonders seit dem Kriegseintritt der Vereinigten Staaten wurde der wissenschaftlich-militärische Austausch zwischen den Entente-Mächten deutlich intensiviert. Diese Bemühungen wurden 1917 mit der Gründung des Research Information Committee (später: Research Information Service) institutionalisiert. Damit entstand eine organisierte, wenngleich in der Praxis nicht immer einfache „Kooperation unter den Alliierten, d.h. eine effektive Koordinierung und Abstimmung der Forschungen, ein Austausch von Wissenschaftlern und regelmäßige gegenseitige Information.“26 Noch während in den Schützengräben die Kämpfe tobten, wurden seitens der Entente bereits konkrete Pläne für eine internationale Gelehrtengemeinschaft nach dem Krieg entwickelt und erste Treffen abgehalten, so dass hier ein fließender Übergang in eine wissenschaftliche „Nachkriegsordnung“ gewährleistet war. Die Integration der Verliererstaaten, und hier vor allem des Deutschen Reichs, in diese Planungen sollte jedoch noch einige Zeit in Anspruch nehmen und war mit großen Herausforderungen verbunden.27 Abgesehen von der Konzentration internationaler Wissenschaftsbeziehungen innerhalb der militärischen Bündnisse lassen sich durchaus auch andere kriegsbedingte Veränderungen und Verlagerungen erkennen. Regionen, die jenseits des europäischen Kriegsschauplatzes lagen, erlebten gerade während des Ersten Weltkriegs einen Aufschwung. Seitens der Vereinigten Staaten entwickelte sich ein besonderes Interesse am pazifischen Raum, welches sich in zahlreichen wissen24 Hanjo Kesting (Hg.), Heinrich Mann und Thomas Mann. Ein deutscher Bruderzwist, Göttingen 2003. 25 Zweig, Die Welt von Gestern, S. 291. Dazu auch Wolfgang J. Mommsen, Die deutschen kulturellen Eliten im Ersten Weltkrieg, in: ders., Kultur und Krieg, S. 1–15, hier S. 11f. 26 Eckhardt Fuchs, Wissenschaftsinternationalismus in Kriegs- und Krisenzeiten. Zur Rolle der USA bei der Reorganisation der internationalen scientifc community, 1914–1925, in: Ralph Jessen, Jakob Vogel (Hg.), Wissenschaft und Nation in der europäischen Geschichte, Frankfurt a.M. 2002, S. 263–284, hier S. 269. 27 Gabriele Metzler, Deutschland in den internationalen Wissenschaftsbeziehungen. 1900–1930, in: Grüttner, Hachtmann, Jarausch, John, Middell (Hg.), Gebrochene Wissenschaftskulturen, S. 55–82; Brigitte Schröder-Gudehus, Deutsche Wissenschaft und internationale Zusammenarbeit 1914–1928. Ein Beitrag zum Studium kultureller Beziehungen in politischen Krisenzeiten, Genf 1966; Daniel J. Kevles, „Into Hostile Political Camps“. The Reorganization of International Science in World War I., in: Isis 62 (1971) 1, S. 47–60.
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schaftlichen Aktivitäten, etwa der Gründung des Committee on Pacific Exploration an der amerikanischen National Academy of Science im Jahr 1916, zeigte. Andere Organisationen, wie die 1917 von dem auf Hawaii lebenden Amerikaner Alexander Hume Ford gegründete Pan-Pacific Union, setzten sich zum Ziel, die Beziehungen unter den pazifischen Ländern und Menschen zu verbessern, was auch wissenschaftliche und bildungspolitische Initiativen mit einschloss.28 Die ersten Impulse für die Genese eines lateinamerikanischen Wissenschaftsinternationalismus gingen dagegen bereits in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts von Argentinien aus. Ab 1898 manifestierten sich diese in grenzüberschreitenden Wissenschaftskongressen, die fortan unter dem Namen Pan-American Scientific Congress firmierten und sich bald auch gegenüber den Vereinigten Staaten öffneten. Sukzessive kristallisierte sich auch hier unter der Fahne des Panamerikanismus ein Führungsanspruch der USA heraus, wo 1915 schließlich die fünfte dieser Konferenzen abgehalten wurde.29 „Für die Wissenschaftler Südamerikas und des Pazifiks hatte Europa seinen Anspruch auf Führung in der internationalen Wissenschaft verloren“, während gleichzeitig der für das 20. Jahrhundert und darüber hinaus so prägende Einfluss der USA stetig wuchs.30 Ein weiteres, den Bereich der Wissenschaft partiell tangierendes Ereignis führt uns den Verflechtungsgrad der Welt auf der einen und den deformierten Internationalismus auf der anderen Seite auf tragische Art und Weise vor Augen. Seit der Mitte des 19. Jahrhunderts waren Hygiene, Gesundheit und Seuchenbekämpfung zu einem zentralen Thema geworden; verbunden mit der Einsicht, dass Krankheitserreger sich keiner nationalen Grenzziehung unterwarfen. Daraus folgte eine zaghafte transnationale Vernetzung, die unter anderem in internationalen Expertenkonferenzen zum Ausdruck kam und mit der Zeit auch einen institutionellen Charakter annahm, so beispielsweise in Gestalt des zu Beginn des 20. Jahrhunderts gegründeten Office International d’Hygiène Publique (OIHP) mit Sitz in Paris. Das OIHP konzentrierte sich vor allem auf die Informations(v)ermittlung, sammelte auch während des Ersten Weltkriegs weiterhin Daten und veröffentlichte Gesundheitsreports.31 Das war angesichts der kriegsbedingt steigenden Seuchengefahr, vor der bekannte Zeitgenossen wie der deutsche Medizinhistoriker Karl Sudhoff warnten, eine bedeutsame Aufgabe.32 In der Praxis hatten diese Bemühungen hingegen wenige Auswirkungen, wie sich an der Jahrhundertpandemie der Spanischen Grippe ablesen lässt. Die hier initiierten Gegenmaßnahmen beschränkten sich meist auf die lokale Ebene, so dass sich aus der Perspektive der 28 Philip F. Rehbock, Organizing Pacific Science. Local and International Origins of the Pacific Science Association, in: Pacific Science 45 (1991) 2, S. 107–122. 29 Fuchs, Wissenschaftsinternationalismus in Kriegs- und Krisenzeiten, S. 280–282. 30 Ebd., S. 283. 31 Jean-Charles Sournia, Medicine and Public Health, in: Sarvepalli Gopal, Sergei L. Tikhvinsky (Hg.), History of Humanity. Scientific and Cultural Development, Bd. VII: The Twentieth Century, Paris 2008, S. 168–190, hier S. 168f. 32 Karl Sudhoff, Kriege und Seuchen in früheren Zeiten (1916), in: Henry E. Sigerist (Hg.), Ausgewählte Abhandlungen von Karl Sudhoff. Mit einer autobiographischen Skizze zum 75. Geburtstage, Leipzig 1929, S. 248–260.
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Internationalität vor allem darüber diskutieren lässt, welche kriegsbedingten Faktoren die Expansion dieser Seuche – z.B. über die Verbreitung durch Truppentransporte oder heimkehrende Soldaten – beschleunigt oder – z.B. durch die zementierten Fronten – eingedämmt haben.33 Die unglaubliche Geschwindigkeit, mit welcher der Erreger in die entlegensten Winkel der Erde gelangte, ließ diesen Influenzavirus, der mehr Todesopfer als der Krieg selbst verursachte,34 zum eindeutigen und tragischen Beweis für den hohen Globalisierungsgrad zu Beginn des 20. Jahrhunderts werden. Die Pandemie führte dann zu einer Explosion an internationalen Aktivitäten im Gesundheitsbereich während der 1920er Jahre.35 Im Bereich von Wissenschaft und Kunst kommt die durch den Ersten Weltkrieg ausgelöste Verwandlung bzw. Deformierung des internationalen Systems in aller Deutlichkeit zum Ausdruck – sei es in Form interalliierter Zusammenarbeit, in geografischen Schwerpunktverlagerungen oder sogar in einem völligen Scheitern. V. Das Panorama der internationalen Beziehungen lässt sich um weitere Aspekte ergänzen. Auch im Sport war der Grad der grenzüberschreitenden Vernetzung zu Beginn des Ersten Weltkriegs schon recht weit fortgeschritten. Populäre Sportarten wie Radfahren, Leichtathletik und Fechten organisierten sich bereits vor dem Jahr 1914 in internationalen Fachverbänden.36 Der Kriegsausbruch bedeutete für diese Organisationen nachvollziehbare Einschränkungen in ihrer Arbeit, besonders wenn es um die Ausrichtung von internationalen Wettbewerben ging. So konnten beispielweise die VI. Olympischen Spiele von 1916, die in Berlin stattfinden hätten sollen, kriegsbedingt nicht realisiert werden. Als bezeichnend für den Kriegsoptimismus mancher Funktionäre im deutschen Organisationskomitee kann wohl der Sachverhalt gelten, dass die Spiele offiziell nie abgesagt wurden.37 Durch die politisch-militärischen Erschütterungen kam es zu einer deutlichen Reduktion im internationalen Sportsystem, obwohl viele Verbände versuchten, den gebotenen Möglichkeiten entsprechend, weiterzumachen. Die 1904 gegründete Fédération Internationale de Football Association (FIFA) führte auch in den 33 Zu dieser Debatte vgl. Eckard Michels, Die „Spanische Grippe“ 1918/19. Verlauf, Folgen und Deutungen in Deutschland im Kontext des Ersten Weltkriegs, in: Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte 58 (2010), S. 1–33; Jürgen Müller, Die Spanische Influenza 1918/19. Einflüsse des Ersten Weltkrieges auf Ausbreitung, Krankheitsverlauf und Perzeption einer Pandemie, in: Wolfgang U. Eckart, Christoph Gradmann (Hg.), Die Medizin und der Erste Weltkrieg, Herbolzheim ²2003, S. 321–342. 34 Manfred Vasold, Die Spanische Grippe. Die Seuche und der Erste Weltkrieg, Darmstadt 2009. 35 Susan Gross Solomon, Lion Murard, Patrick Zylberman (Hg.), Shifting Boundaries of Public Health. Europe in the Twentieth Century, Rochester 2008. 36 Friedrich Mevert, Internationale und europäische Sportorganisationen, Wiesbaden 1981. 37 Volker Kluge, Olympische Sommerspiele. Die Chronik, Bd. 1: Athen 1896–Berlin 1936, Berlin 1997, S. 381–391.
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Kriegsjahren Bewerbungs- und Aufnahmeverhandlungen mit Mitgliedern und konnte sogar Vermögenszuwächse verzeichnen – wenngleich die sportliche Arbeit stark in Mitleidenschaft gezogen wurde.38 Der – auch aus militärisch-politischen Überlegungen heraus geförderte39 – Sport selbst erfreute sich zwar zunehmender Beliebtheit während des Krieges; internationale Begegnungen kamen jedoch kaum zustande.40 Es gab aber Ausnahmen im kriegsgebeutelten Europa, die vor allem auf Initiativen der neutralen Länder zurückzuführen waren. So versuchte die Fußballnationalmannschaft der neutralen Schweiz, den Länderspielbetrieb aufrecht zu erhalten. Ursprünglich geplante Spiele gegen Frankreich und das Deutsche Reich wurden aus unterschiedlichen Gründen während der Kriegsmonate zwar nicht realisiert. Jedoch gab es 1917 in Basel bzw. Zürich zwei Partien gegen Österreich, und im darauffolgenden Jahr wurden wiederum zwei Freundschaftspiele gegen Ungarn in Budapest und Österreich in Wien bestritten.41 Gleiches gilt auch für die neutralen skandinavischen Länder Dänemark, Norwegen und Schweden, die trotz des Krieges Länderspiele organisierten, so beispielweise ein Aufeinandertreffen Schwedens und der Vereinigten Staaten von Amerika im Jahr 1916.42 Das Spektrum an möglichen Themenfeldern ließe sich noch um zahlreiche Aspekte erweitern und bedarf zweifelsohne noch einer weiteren Differenzierung. Es umfasste Veranstaltungen wie die Panama Pacific International Exposition in San Francisco 191543 ebenso wie die nach einem ersten Schock wieder aktiv gewordenen europäischen Friedensbewegungen44 und zahlreiche weiteren Formen internationaler Zusammenarbeit, z.B. im Bereich der Kommunikation, des Postwesens und der Frauenbewegung.45
38 Christiane Eisenberg, Pierre Lafranchi, Tony Mason, Alfred Wahl, FIFA 1904–2004. 100 Jahre Weltfußball, Göttingen 2004, S. 64. 39 Peter Tauber, Vom Schützengraben auf den grünen Rasen. Der Erste Weltkrieg und die Entwicklung des Sports in Deutschland, Berlin 2008. 40 Christian Koller, Transnationalität. Netzwerke, Wettbewerbe, Migration, in: ders., Fabian Brändle (Hg.), Fußball zwischen den Kriegen. Europa 1918–1939, Wien 2010, S. 37–63, hier S. 39; Christiane Eisenberg, Der Weltfußballverband FIFA im 20. Jahrhundert. Metamorphosen eines „Prinzipienreiters“, in: Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte 54 (2006), S. 209–230, hier S. 216f. 41 Christian Koller, 1898 bis 1919. „Uneben und oft zerfahren“, in: Beat Jung (Hg.), Die Nati. Die Geschichte der Schweizer Fußball-Nationalmannschaft, Göttingen 2006, S. 25–34. 42 Michael L. LaBlanc, Richard Henshaw, The World Encyclopedia of Soccer, Detroit 1994, S. 267. 43 Winfried Kretschmer, Geschichte der Weltausstellungen, Frankfurt a.M. 1999, S. 172–176. 44 Karl Holl, Friedensbewegungen, in: Gerhard Hirschfeld, Gerd Krumreich, Irina Renz (Hg.), Enzyklopädie Erster Weltkrieg, aktualisierte und erweiterte Studienausgabe, Paderborn 2009, S. 508–510. 45 Herren, Internationale Organisationen seit 1865, S. 51–53.
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VI. Gerade am Beispiel des Ersten Weltkriegs wird ersichtlich, wie schnell der historische Begriffskanon bei Zuschreibungen wie „national“ oder „international“ an seine analytischen Grenzen gelangt und wie notwendig ein spezifizierter, sowohl terminologischer als auch analytischer, Zugang unter den Vorzeichen einer globalen Konfliktsituation ist. Um diesen Anforderungen gerecht zu werden, müssen mehrere Aspekte berücksichtigt werden. So ist erstens eine globalhistorische, nicht nur auf die Militärgeschichte beschränkte Herangehensweise unumgänglich.46 Den Ersten Weltkrieg aus einer ausschließlich europäischen Perspektive zu betrachten, ist pragmatisch und hat in gewissen Fällen auch seine Berechtigung. Im Kontext der Internationalität wäre diese Verengung jedoch nicht zielführend. Denn dadurch würden viele grenzüberschreitende Beziehungen gar nicht sichtbar. Die globalen Auswirkungen dieses Konflikts – man denke nur an den pazifischen Raum – wären weiterhin nur narratives Beiwerk, während die unterschiedlichen gesellschaftlichen, ökonomischen und politischen Prozesse, die weltweit durch den Ersten Weltkrieg angeregt wurden, keine Beachtung fänden. Gerade dies erscheint aber als eine wichtige Aufgabe künftiger historischer Forschung.47 Zweitens sind die für Friedenszeiten erprobten und entwickelten geschichtswissenschaftlichen Analysekategorien in globalen Krisensituationen nur bedingt verwendbar. Die Notwendigkeit differenzierter Zugänge, die den Anforderungen einer internationalen Geschichte des Ersten Weltkriegs und der ihm zugrunde liegenden Komplexität gerecht werden, wurde hier in ersten Ansätzen dargelegt. Parallel dazu bedarf es auch Überlegungen einer adäquaten Terminologie und Methodik. Dies beinhaltet sowohl die qualitative Untersuchung von Themenfeldern, Organisationen, Prozessen und einzelnen Akteuren als auch eine quantitative Herangehensweise – sofern es die Quellenlage zulässt. Gerade im Kontext von Globalisierung und internationalen Organisationen findet in letzter Zeit der Begriff des „Netzwerkes“ immer häufiger Verwendung. Der Terminus kam in den letzten Jahrzehnten als Allegorie oder Metapher zwar inflationär zum Einsatz und wurde schon zur „Leerformel der Geschichtswissenschaft“ erklärt.48 Er gewinnt jedoch in jüngster Zeit in der wissenschaftlichen Diskussion durchaus an Begriffsschärfe und Potenzial49 – vor allem wohl auch, da sich parallel zu dieser Debatte auch neue methodische Zugänge wie die Histori-
46 Jüngst umgesetzt von Oliver Janz, 14. Der große Krieg, Frankfurt a.M. 2013; Jörn Leonhard, Die Büchse der Pandora. Geschichte des Ersten Weltkriegs, München 2014. 47 Jürgen Angelow, Der Weg in die Urkatastrophe. Der Zerfall des alten Europa 1900–1914, Berlin 2010, S. 9–15. 48 Wolfgang Reinhard, Mikrogeschichte und Makrogeschichte, in: Hillard von Thiessen, Christian Windler (Hg.), Nähe in der Ferne. Personale Verflechtung in den Außenbeziehungen der Frühen Neuzeit, Berlin 2005, S. 135–144, hier S. 135. 49 Madeleine Herren, Netzwerke, in: Jost Dülffer, Wilfried Loth (Hg.), Dimensionen internationaler Geschichte, München 2012, S. 107–128.
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sche Netzwerkforschung etablieren.50 Aufschlussreiche Studien zu internationalen Organisationen mit Blick auf die Vorkriegszeit51 oder das ambitionierte Projekt LONSEA, mit dem derzeit unter der Ägide von Madeleine Herren-Oesch eine umfangreiche Datenbank zu internationalen Organisationen mit Fokus auf die Zwischenkriegszeit aufgebaut wird,52 geben bereits einen ersten Vorgeschmack auf die Wirkungsmächtigkeit solcher Ansätze. Dass der Erste Weltkrieg ein fundamentales Ereignis im Kontext der Internationalen Beziehungen – und hier besonders im institutionellen Bereich – war, steht außer Frage. Die hier genannten Beispiele unterstreichen diese Zäsur und verdeutlichen die massive Deformierung des internationalen Systems. Gleichwohl blieb die Welt eine globalisierte bzw. vernetzte, so dass man in gewissem Maße eine „kontinuierliche Weiterentwicklung des Internationalismus während des Kriegs“ konstatieren kann.53 Dies geschah jedoch unter völlig anderen Voraussetzungen und führte daher zu neuen Formen internationaler Beziehungen, die über das Ende des Krieges hinaus von Bedeutung bleiben sollten. Europas Rolle als internationaler Knotenpunkt wurde genauso in Frage gestellt, wie sich die für das 20. Jahrhundert charakteristisch werdenden Polarisierungstendenzen abzeichneten, die sowohl internationale Organisationen als auch neutrale Staaten vor neue Herausforderungen stellten. Das im Werden begriffene „globale Dorf“ wurde zwar durch den Ersten Weltkrieg nicht zur Gänze zerstört, aber nachhaltig verändert, wie sich am weiteren Verlauf der Geschichte ablesen lässt.
50 Marten Düring, Ulrich Eumann, Historische Netzwerkforschung. Ein neuer Ansatz in den Geschichtswissenschaften, in: Geschichte und Gesellschaft 39 (2013), S. 369–390. 51 Christophe Verbruggen, Julie Carlier, Laboratories of Social Thought. The Transnational Advocacy Network of the Institut International pour la Diffusion des Expériences Sociales and its Documents du Progrès (1907–1916), in: W. Boyd Rayward (Hg.), Information Beyond Borders. International Cultural and Intellectual Exchange in the Belle Époque, Farnham 2014, S. 123–142. 52 League of Nations Search Engine, URL: http://www.lonsea.org [6.8.2014]. 53 Herren, Internationale Organisationen seit 1865, S. 53.
UMBRUCH NATIONALE DISKURSE, IRRITIERTE STAATLICHKEIT UND NEUTRALITÄTSKONZEPTE
„RUHE AN DER GRENZE!“ Irritierte Loyalitäten und politische Entfremdung in Elsass-Lothringen zu Beginn des Ersten Weltkriegs Volker Prott Kriegsausbrüche haben oft den Effekt einer inneren Solidarisierung der beteiligten Konfliktparteien. Insbesondere das kollektive Gefühl einer plötzlichen, massiven äußeren Bedrohung, wie in jüngerer Zeit bei den Anschlägen des 11. September 2001 in New York, vermag die Zustimmungswerte der politischen Führung bei der Bevölkerung zumindest kurzfristig in sonst unerreichbare Höhen zu treiben.1 Im Fall des Ersten Weltkriegs hat dieser Solidarisierungseffekt mit Begriffen wie „Augusterlebnis“, „Union Sacrée“ oder „Burgfrieden“ Eingang in das nationale Gedächtnis gefunden. Das durch diese Begriffe suggerierte Bild einer geschlossen kriegsbegeisterten Bevölkerung zu Beginn des Ersten Weltkriegs hält allerdings der Wirklichkeit kaum stand.2 Besonders deutlich werden die Grenzen der angeblichen massenhaften Kriegsbegeisterung im deutsch-französischen Grenzland Elsass-Lothringen. Hier bewirkte die deutsche Mobilmachung eine Radikalisierung der nationalen Loyalitätsforderungen an die lokale Bevölkerung, die einen Krieg gegen Frankreich mehrheitlich ablehnte und sich auch in den ersten Augusttagen 1914 nicht zu einem geschlossenen Enthusiasmus hinreißen ließ. Der Krieg offenbarte vielmehr die vielschichtigen lokalen und regionalen Identitäten der meisten Elsässer und Lothringer, die sich einer einheitlichen nationalen Mobilisierung zu entziehen suchten und im Laufe des Krieges eine zunehmend ablehnende Haltung gegenüber der deutschen Herrschaft entwickelten. Die neuere Forschung sieht die wesentliche Ursache der wachsenden antideutschen Stimmung der elsässisch-lothringischen Bevölkerung in den repressiven Maßnahmen der deutschen Militärbehörden.3 Dieser direkten kausalen Ver1
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So stiegen die Zustimmungswerte für den damaligen amerikanischen Präsidenten George W. Bush etwa zehn bis zwölf Tage nach dem 11. September 2001 auf 90%. Vgl. Randall Collins, Rituals of Solidarity and Security in the Wake of Terrorist Attack, in: Sociological Theory 22 (2004), S. 53–87, hier S. 54. Vgl. für den deutsch-französischen Kontext jüngst Jean-Jacques Becker und Gerd Krumeich, La Grande Guerre. Une Histoire Franco-Allemande, Paris 2008, S. 77–82, und, spezifischer für den deutschen Kontext, Jeffrey Verhey, The Spirit of 1914. Militarism, Myth, and Mobilization in Germany, Cambridge 2000. Diese Tendenz kennzeichnet sowohl die französische und deutsche, als auch die englischsprachige Forschung, vgl. Jean-Noël Grandhomme, Introduction. Les Alsaciens-Lorrains dans la
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knüpfung von Repression und politischer Antipathie scheint allerdings zu widersprechen, dass ähnlich repressive Maßnahmen der französischen Militärbehörden in dem seit August 1914 besetzten Teil des Oberelsass nicht zu einer vergleichbaren allgemeinen Ablehnung französischer Herrschaft führten.4 Dieser Beitrag argumentiert, dass nur eine auf der lokalen Ebene ansetzende, vergleichende Untersuchung die rapide Transformation der nationalen Sympathien in Elsass-Lothringen zu erklären vermag. Es waren dabei nicht die militärischen Repressionen an sich – wie Schutzhaft, Ausweisungen, Prozesse wegen Deutschfeindlichkeit − die eine anti-deutsche Stimmung begünstigten. Der entscheidende Mechanismus der Entfremdung bestand vielmehr in den von Misstrauen und dem Wunsch nach Disziplinierung bestimmten Maßnahmen des deutschen Militärs, welches das Reichsland zunehmend als Feindesland und die lokale Bevölkerung als „Schädlinge“ ansah. Dagegen zielte die französische Politik in den besetzten elsässischen Gebieten darauf ab, bestehende soziale Spannungen zu nutzen, indem sie scharf zwischen deutschen „Immigranten“ und „indigenen“ Elsässern unterschied und sich um die Sympathien Letzterer aktiv bemühte. DIE SITUATION VOR 1914 UND DIE ZABERN-AFFÄRE In den letzten Jahren vor Ausbruch des Krieges spitzte sich die politische Lage in Elsass-Lothringen zu. Hitzige Debatten kreisten um die Frage, unter welchen Bedingungen die 1871 von Frankreich annektierten Territorien, das „Reichsland“ Elsass-Lothringen, dauerhaft in den deutschen Staat eingegliedert werden sollten.5 Wie vielfach in der Literatur bemerkt worden ist, war das Reichsland in sozialer und wirtschaftlicher Hinsicht bereits relativ stark in das Deutsche Reich integriert. Darüber hinaus hatten auch die deutschen Parteien begonnen, in weiten
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Première Guerre Mondiale, in: ders. (Hg.), Boches ou tricolores. Les Alsaciens-Lorrains dans la Grande Guerre, Strasbourg 2008, S. 19–33, hier S. 26; Stefan Fisch, Das Elsass im deutschen Kaiserreich (1870/71–1918), in: Michael Erbe (Hg.), Das Elsass. Historische Landschaft im Wandel der Zeiten, Stuttgart 2002, S. 123–146, hier S. 145; Alan Kramer, Wackes at War: Alsace-Lorraine and the Failure of German National Mobilization, 1914–1918, in: John Horne (Hg.), State, Society and Mobilization in Europe During the First World War, Cambridge 2002, S. 105–121, hier S. 105. Zur französischen Politik in den besetzten Gebieten um Thann, Altkirch und Maseveaux vgl. Jean-Claude Farcy, Les camps de concentration français de la première guerre mondiale (1914–1920), Paris 1995; Jean-Noël Grandhomme, Réfugiés en Vaucluse, in: ders. (Hg.), Boches ou tricolores, S. 163–178; Volker Prott, War Aims, Wilsonian Ideas, and the „New Diplomacy“. Reinventing the Franco-German Border of Alsace-Lorraine, 1914–1919, in: Hagen Schulz-Forberg (Hg.), Zero Hours. Conceptual Insecurities and New Beginnings in the Interwar Period, Brüssel 2013, S. 147−166. Für eine quellennahe Darstellung der verfassungsrechtlichen und politischen Entwicklung Elsass-Lothringens im deutschen Kaiserreich vgl. Sophie Charlotte Preibusch, Verfassungsentwicklungen im Reichsland Elsass-Lothringen 1871–1918. Integration durch Verfassungsrecht?, Berlin 2006.
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Teilen Elsass-Lothringens Fuß zu fassen.6 Andererseits schien sich seit der Jahrhundertwende, zumindest aus deutscher Sicht, eine Verschlechterung der politischen Lage einzustellen. Dies drückte sich in dem Aufkommen eines starken Regionalbewusstseins7 und einer zunehmenden Aktivität von Vereinen und kirchlichen Gruppen mit autonomistischer Färbung aus, wie dem Souvenir Français oder der Lorraine Sportive. Gleichzeitig deuteten mehrere Zeichen darauf hin, dass sich das frankophile Bürgertum politisch zunehmend in der Defensive sah. In den letzten Quartalsberichten vor Ausbruch des Krieges, die der Statthalter Graf von Wedel an den deutschen Reichskanzler Bethmann-Hollweg schickte, sprach Wedel von einer „Erschütterung der Sympathien“ für die frankophilen „Nationalisten“. Die Landtagswahlen im Jahr 1912 hatten diesen eine deutliche Niederlage zugefügt. Wedel verlieh daher seiner Hoffnung Ausdruck, dass sich die lokale Zentrumspartei bald von ihrem frankophilen Flügel trennen würde. Ein weiteres Indiz für die Schwächung der „Nationalisten“ ergibt sich aus einer genaueren Lektüre der französischsprachigen Presse Elsass-Lothringens. So betonte der Chefredakteur des Lorrain, Léon Boll, in einer längeren Artikelserie über die politische Lage ElsassLothringens sein Unbehagen über die Versuche einer neuen Generation von Journalisten, die regionale Identität einseitig als deutsch umzudeuten und die frankophile Tradition im öffentlichen Diskurs zu marginalisieren.8 Diese widersprüchlichen Tendenzen waren Ausdruck einer intensiv geführten Auseinandersetzung um die Deutungshoheit der politischen Mitte in ElsassLothringen. Frankophile „Nationalisten“ und „pangermanische“ Agitatoren spielten dabei eher eine untergeordnete Rolle. Vielmehr konzentrierten sich die Debatten auf die Ausgestaltung einer regionalen Identität und eines eigenständigen politischen Status. So stellte kaum jemand ernsthaft die Zugehörigkeit des Reichslands zum deutschen Staat in Frage. Wohl aber divergierten die Akzentuierungen hinsichtlich der Rolle des französischen Erbes und der konkreten Form der Autonomie. Die Zabern-Affäre nahm die unheilvolle Wechselwirkung von deutschem Misstrauen, lokalem Widerstand und schwer kontrollierbaren Militärbehörden vorweg, die Elsass-Lothringen im Laufe des Ersten Weltkriegs von der deutschen Herrschaft entfremden sollte. Anlass der Affäre war ein junger preußischer Leutnant, Günter Freiherr von Forstner, der Ende Oktober 1913 seine elsässischen Rekruten und, je nach Darstellung, die lokale Bevölkerung der elsässischen Stadt Zabern (Saverne) als „Wackes“ bezeichnete und seinen rechtsrheinischen deutschen Rekruten zur gewaltsamen Selbstverteidigung riet. Jeder, „der einen dieser
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Vgl. ebd., S. 602; François Roth, Alsace Lorraine. Histoire d’un pays perdu: De 1870 à nos jours, Nancy 2010, S. 126; Fisch, Das Elsass im deutschen Kaiserreich, S. 132. Für diesen Aspekt vgl. besonders Christopher J. Fischer, Alsace to the Alsatians? Visions and Divisions of Alsatian Regionalism, 1870–1939, New York 2010. Vgl. Léon Boll, Ce qui nous distingue, Ce qui nous divise, Ce qui doit nous unir, in: Journal d’Alsace-Lorraine, 21.7.1910, enthalten in: Archives départementales du Bas-Rhin, Straßburg (ADBR), 65 AL 32.
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‚Wackes‘ oder ‚Dreckswackes‘ zusammenschießt oder zusammensticht“,9 erhielte von Forstner als Belohnung zehn Mark. Die Affäre fand ihren Weg in die lokale Presse, die von einer „Herausforderung“ sprach und „das Empfinden aller Elsässer auf das äußerste“ verletzt sah.10 In der Folge kam es zu massenhaften Protesten der lokalen Bevölkerung, die von dem provozierenden Auftreten von Forstners und einiger weiterer Offiziere aufgebracht war.11 Obwohl es dem Kreisdirektor Georg Mahl gelang, durch massiven Einsatz von Gendarmen, Polizei und Feuerwehr die Lage wenige Tage später zu beruhigen, kam es am 28. November 1913 dennoch zur Eskalation. Als Forstner um sieben Uhr morgens in Begleitung von vier Offizieren am Schlossplatz von Jugendlichen beschimpft wurde, eilte einer der Offiziere zur nahen Schlosskaserne und kam mit „50 Mann mit aufgepflanztem Seitengewehr und scharfer Munition“ zurück.12 Unter Androhung von Gewalt forderten die Soldaten unbeteiligte Passanten auf, sofort den Schlossplatz zu verlassen. In der Folge kam es zur Verhaftung von etwa 18 unbeteiligten Zivilisten, darunter mehreren Juristen, die gerade das nahe Gerichtsgebäude verlassen hatten. Mahls Stellvertreter, Regierungsamtmann Robert Großmann, wandte sich umgehend an den befehlenden Oberst Ernst von Reuter. Doch dieser erwiderte, „er lasse sich keinerlei Vorschriften machen, die Zivilbehörden hätten versagt“, er „wäre zum Äussersten entschlossen und werde, falls das Publikum es wagte Offiziere weiter zu beleidigen, auf dem Schlossplatze stehen zu bleiben oder zu lachen scharf schiessen lassen.“13 Dies war der Höhepunkt eines Konflikts, in dessen Verlauf das Militär, geschützt durch die deutschnationale Presse und den Kaiser,14 die lokale Bevölkerung gezielt provozierte und harmlose Reaktionen einzelner Jugendlicher zum Anlass nahm, faktisch den Belagerungszustand zu erklären, die zivilen Behörden zu entmachten und harte Maßnahmen gegen unbeteiligte Zivilisten zu ergreifen. Die unmittelbaren Konsequenzen der Vorfälle waren hitzige Debatten im Reichstag, wo sich fast alle Parteien, letztlich vergeblich, gegen den starken Einfluss des Militärs aussprachen. Ausländische Medien griffen den Fall auf, der nicht nur in Frankreich und England, sondern auch in den USA deutliche Kritik am deutschen Militär und den Mängeln des autoritären deutschen Staates hervor-
9 Der Elsässer, 6.11.1913. 10 Ebd. 11 Für eine genaue Darstellung des Ablaufs und der politischen Konsequenzen der ZabernAffäre vgl. Hans-Ulrich Wehler, Krisenherde des Kaiserreichs, 1871–1918. Studien zur deutschen Sozial- und Verfassungsgeschichte, Göttingen ²1979, S. 70−88; David Schoenbaum, Zabern 1913. Consensus Politics in Imperial Germany, London 1982. 12 Bericht des stellvertretenden Kreisdirektors von Zabern, Robert Großmann, 28.11.1913, in: ADBR, 247 D 23-1. 13 Ebd. 14 Zur Rolle von Wilhelm II. in der Zabern-Affäre vgl. Preibusch, Verfassungsentwicklungen im Reichsland, S. 491; Schoenbaum, Zabern 1913, S. 105.
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rief.15 Auf lokaler Ebene führte die Zabern-Affäre zur Demission des vergleichsweise liberalen Statthalters von Wedel, der im April 1914 durch den preußischen Hardliner Johann von Dallwitz ersetzt wurde. Der französische Botschafter in Berlin, Jules Cambon, bedauerte diesen Wechsel und kommentierte treffend: „Wir müssen uns darauf einstellen, dass Elsass-Lothringen einige schwierige und vielleicht auch schmerzhafte Jahre zu überstehen hat.“16 Auch wenn es mittelfristig wieder zu einer Entspannung hätte kommen können, befand sich Elsass-Lothringen am Vorabend des Ersten Weltkriegs deutlich auf dem Scheideweg zwischen der ihre Rechte und Eigenart betonenden Bevölkerung und den nationalen Loyalitätsforderungen einer konservativen Regierung. Bezeichnenderweise drehte sich dieser Konflikt seit der Zabern-Affäre zunehmend um französische Farben und Symbole, deren Tragen und Mitbringen von Ausflügen jenseits der deutsch-französischen Grenze seit Anfang Juli 1914 durch den neuen Statthalter von Dallwitz unter Strafe gestellt wurde.17 Aufschlussreich ist dabei das Verhalten der Bevölkerung, die zwar die „Ruhe an der Grenze“18 wahrte, ihre kritische Haltung gegenüber dem radikal anti-französischen Kurs der Behörden jedoch nicht aufgab. Vielmehr deutet die Berichterstattung in der lokalen Presse darauf hin, dass die neuen Regeln zu stillem Protest und in manchen Fällen auch zu Subversion führten.19 ELSASS-LOTHRINGEN IM ERSTEN WELTKRIEG Die letzten Tage des Juli 1914 waren in Elsass-Lothringen von einer starken Erregung und Nervosität der Bevölkerung bestimmt. Wie im restlichen Deutschen Reich sahen die meisten Menschen einem Krieg mit Sorge entgegen.20 Die Straßburger Neuesten Nachrichten berichteten, dass am Samstagmorgen des 25. Juli bereits „viele Tausende“ in Cafés, vor Kiosks und Zeitungsredaktionen auf Extrablätter warteten und über das österreichische Ultimatum an Serbien und die russische Teilmobilmachung diskutierten. Viele seien äußerst „nervös“ und versuchten, Erspartes von den Sparkassen abzuheben.21 Gleichzeitig wuchsen die Schlangen vor den Lebensmittelläden. Die sozialdemokratische Freie Presse schrieb am 15 Hier sind besonders die Berichte des französischen Botschafters in Washington, Jules Jusserand, aufschlussreich. Vgl. z.B. Jusserand an Ratspräsidenten Gaston Doumergue, 11.12.1913, in: Archives du Ministère des Affaires Étrangères, Paris (AMAE), Nouvelle série, 10, Allemagne, Minorités, Alsace-Lorraine, 1911–1914. 16 Jules Cambon an Außenminister Stéphane Pichon, 27.4.1914, ebd. Soweit nicht anders gekennzeichnet, stammen alle Übersetzungen vom Verfasser. 17 Vgl. die Presseberichte in ADBR, 132 AL 30. 18 Rot und weiß, in: Straßburger Neue Zeitung, 14.7.1914, enthalten in: ADBR, 132 AL 30. 19 Vgl. z.B. Das Vaterland ist wieder gerettet, in: Freie Presse, 23.8.1913, enthalten in: ADBR, 132 AL 30. 20 Dies hat Jeffrey Verhey in seiner umfangreichen Studie gezeigt, vgl. Verhey, The Spirit of 1914. 21 Die Stimmung in der Stadt, in: Straßburger Neueste Nachrichten, 27.7.1914.
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28. Juli, dass in der „Furcht vor dem Kriege […] die wahre Gesinnung der Bevölkerung zum Ausdruck [kommt], nicht in dem heiseren Geschrei einiger alkoholbegeisterter Jünglinge.“22 Tatsächlich kam es seit den Abendstunden des 25. Juli, als die Nachricht der österreichischen Kriegserklärung an Serbien eintraf, in den größeren Städten Elsass-Lothringens zu vereinzelten patriotischen Kundgebungen, die jedoch im deutlichen Kontrast zu der allgemeinen Skepsis standen. Den Presseberichten zufolge erfasste die Begeisterung besonders Schüler und Studenten. In den „Studentenlokalen“ herrschte eine „Begeisterung ohnegleichen“, und am Abend des 25. Juli zogen Studenten „das Lied ‚Deutschland, Deutschland über alles‘ singend durch die Straßen.“23 Dagegen rief die Kriegsgefahr bei der älteren und vor allem der einheimischen elsässischen und lothringischen Bevölkerung eher eine gedrückte Stimmung hervor.24 Die französischsprachige Presse verlieh dieser angespannten Atmosphäre Ausdruck und riet ihren Lesern in den letzten Julitagen wiederholt zur „Ruhe“ und „Vorsicht“.25 Tagebücher von Zeitzeugen sind in den ersten Augusttagen von Gefühlen der Angst und Verzweiflung gekennzeichnet, die umso stärker waren, als viele Menschen durch den Krieg überrascht wurden. So notierte der Mülhauser Lehrer Philippe Husser am 3. August 1914, dass „niemand diesen Krieg will, man versteht nicht, warum man gegeneinander kämpfen muss.“ Einen Tag später beschreibt er die Stimmung von Zugreisenden auf dem Weg nach Sundhoffen: „Alle sind unglücklich, betrübt und schlecht gelaunt.“26 Der elsässische Künstler Charles Spindler, der den Krieg im frontnahen Saint-Léonard (Sankt Leonhard) erlebte, berichtet ebenfalls von tränenerfüllten Abschiedsszenen am Bahnhof und einigen wenigen, kaum überzeugten Ausdrücken patriotischer Stimmung.27 Ähnlich fasst die Lothringerin Marie-Françoise Zingerlé rückblickend die Verkündung der Mobilmachung in ihrem Dorf Vallerange zusammen: „Das ganze Dorf ist auf den Beinen, alle weinen.“28 Die widersprüchlichen Empfindungen der Bevölkerung Elsass-Lothringens zu Beginn des Ersten Weltkriegs kamen auch in dem Bericht des neuen Statthalters in Straßburg, Johannes von Dallwitz, zum Ausdruck. Nachdem er die reibungslose militärische Mobilmachung positiv hervorgehoben hatte, gab Dallwitz zu be22 23 24 25
Kriegsängste, nicht Kriegsbegeisterung, in: Freie Presse, 28.7.1914. Die Stimmung in der Stadt, in: Straßburger Neueste Nachrichten, 27.7.1914. Ebd. Vgl. z.B. auch „Mehr Ruhe!“, in: Freie Presse, 28.7.1914. Vgl. Chronique Messine. Du calme!, in: Le Lorrain, 28.7.1914; Restons calmes, in: Le Lorrain, 31.7.1914. Die französischsprachige Presse Elsass-Lothringens wurde ab dem 1.8.1914 verboten. Nur die Jahre vorher eingestellte, regimetreue Gazette de Lorraine wurde wieder aufgelegt. 26 Philippe Husser, Un instituteur alsacien. Entre France et Allemagne, Journal de 1914–1951, Paris 1989, S. 28. Sofern nicht anders angegeben, stammen alle Übersetzungen vom Verfasser. 27 Vgl. Charles Spindler, L’Alsace pendant la guerre. 1914–1918, Nancy 2008, S. 36. 28 Marie-Françoise Zingerlé, Toujours fidèle à la France! Journal de guerre 1914−18 d’une paysanne lorraine, Sarreguemines 2003, S. 18, Eintrag vom 21.8.1916.
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denken, dass am 1. August 1914 keine „rückhaltlose Begeisterung“ bei der Bevölkerung festzustellen gewesen sei. Zwar sei „bei einem Teile auch der einheimischen Bevölkerung eine mit Ernst gepaarte gehobene Stimmung“ zu beobachten gewesen. Dennoch habe weder dieser Ernst noch das starke zivile Engagement bei der Versorgung der Verwundeten zu einem patriotischen Solidarisierungseffekt geführt. Stattdessen habe der Krieg die Gräben in der Bevölkerung noch vertieft.29 Die Herrschaft der Militärbehörden und lokale Reaktionen Am 1. August 1914 verhängte Kaiser Wilhelm II. den Belagerungszustand über Elsass-Lothringen, wodurch die zivile Verwaltung unter die nahezu absolute Kontrolle der Militärbehörden geriet. Die Herrschaft des Militärs entfaltete bald eine Dynamik, wie sie sich in der Zabern-Affäre angedeutet hatte: Während die Bevölkerung mit den Lasten des Krieges und der Nähe der Front zu kämpfen hatte, forderten die militärischen Befehlshaber absolute Loyalität und begegnetem abweichendem Verhalten mit starkem Misstrauen, teilweise mit harten Strafen. Zu nennen sind hier besonders die Einschränkung der Bewegungs-, Versammlungs- und Meinungsfreiheit,30 die Schutzhaft und Ausweisung verdächtiger Personen31 sowie die Versetzung zahlreicher elsässischer und lothringischer Soldaten an die Ostfront.32 Allerdings wurden die repressiven Maßnahmen trotz der Dominanz der Militärbehörden erst im Laufe des Krieges graduell verschärft. Es kann also nicht, wie zuweilen in der Literatur suggeriert, davon gesprochen werden, dass in ElsassLothringen mit Beginn des Krieges sofort eine lückenlose Struktur repressiver Maßnahmen griff. Vielmehr führten die einzelnen Militärbehörden in Metz, Straßburg, Mülhausen, Colmar und anderen Kreisen jene Vielzahl von Verordnungen, die „deutschfeindliches“ Verhalten oder den Gebrauch der französischen Sprache für Inschriften und in der Öffentlichkeit unter Strafe stellten, erst schrittweise ein.33 Wenn es auch zu keinem offenen Protest und Widerstand kam und die meisten Elsässer und Lothringer sich an die repressiven Verordnungen und Gesetze 29 Bericht des Statthalters Dallwitz über die Lage in Elsass-Lothringen vom dritten Quartal 1914 bis Ende 1915, 4.2.1916, in: Bundesarchiv Berlin (BArch), R43, 168a. 30 Die genauen Bestimmungen wurden in den lokalen Zeitungen abgedruckt, vgl. z.B. die Straßburger Neuesten Nachrichten vom 1.8.1914. 31 Zur Schutzhaft gibt es bislang keine eigene Studie. Vgl. die kurzen Passagen bei Preibusch, Verfassungsentwicklungen im Reichsland, S. 581; Pierre Brasme, Metz de 1914 à 1918. De la dictature à la délivrance, in: Grandhomme (Hg.), Boches ou tricolores, S. 135–150, hier S. 137; Roth, Alsace Lorraine, S. 133; Grandhomme, Introduction, S. 25; sowie die Darstellung bei Joseph Rossé, Marcel Stürmel, Albert Bleicher, Fernand Deiber, Jean Keppi, Das Elsass von 1870–1932, Bd. I: Politische Geschichte, Colmar 1936, S. 241–248. 32 Vgl. hierzu Alan Kramer, Wackes at War, S. 112; Grandhomme, Introduction, S. 28. 33 Vgl. die Prozessakten in: ADBR, 87 AL 5536 und 5606, und weiter unten in diesem Abschnitt.
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hielten, versuchte eine nicht unerhebliche Zahl, sich dem Zugriff des deutschen Staates bzw. des Militärs zu entziehen. Ähnlich wie in den Gebieten mit dänischer und polnischer Minderheit war in Elsass-Lothringen der Anteil der Deserteure höher als im restlichen Reichsgebiet.34 Darüber hinaus engagierten sich etwa 20 000 elsässische und lothringische Männer, meist aus dem französisch besetzten Oberelsass und frontnahen Gebieten, freiwillig für die französische Armee.35 Dagegen meldeten sich lediglich 5000 Männer aus dem Reichsland freiwillig für das deutsche Heer, darunter vermutlich viele aus dem Reichsinnern eingewanderte Deutsche.36 Die anfangs eher neutral bis zaghaft deutschfreundliche Stimmung in der lokalen Bevölkerung37 schlug sehr früh, bereits im August und September 1914, in eine skeptische und ablehnende Haltung um. So berichtete Statthalter Dallwitz konsterniert, dass die „gehobene Stimmung“ nach dem Kriegsausbruch schnell verflogen und nach wenigen Monaten bereits „ein erheblicher Teil der Bevölkerung“ von der Überlegenheit Frankreichs „überzeugt“ sei. Die Ursache sah er dabei allerdings weniger in dem Vorgehen des deutschen Militärs, sondern in der frankophilen Propaganda „in den letzten 10 Jahren vor dem Krieg“.38 Tagebücher verschiedener Zeitzeugen belegen, wie früh die Stimmung kippte. Hatte Charles Spindler noch am 4. August 1914 festgestellt, dass die Elsässer kaum noch einen Bezug zu Frankreich hätten,39 mehrten sich im Laufe des August seine Beschwerden über das Verhalten der deutschen Truppen. Zusammen mit den harten Maßnahmen der Militärbehörden gegen deutschfeindliches Verhalten und der Flut an Denunziationen und Investigationen wegen Deutschfeindlichkeit ergab sich für Spindler bereits am 12. September der Gesamteindruck, dass die Deutschen „zunehmend verabscheut werden. Überall, wo ich hingehe, gibt es nur Berichte über Plünderungen und Gewalt.“40 Philippe Husser, der die deutsche Seite anfangs unterstützte, fragte sich schon am 31. August 1914, warum die Deutschen Mülhausen als Feindesland und die Elsässer pauschal als Feinde behandeln und damit alle Sympathien verspielen würden.41 Denunziationen und Kriegsgerichtsprozesse wegen Deutschfeindlichkeit und des Gebrauchs der französischen Sprache vergifteten das politische Klima und verengten die Kommunikation zwischen der lokalen Bevölkerung und den Militärbehörden auf Kontrolle, Verdacht und Bestrafung. Bereits Ende August sahen 34 Vgl. Kramer, Wackes at War, S. 111; Grandhomme, Introduction, S. 28. 35 Die Zahl von 20 000 gibt Grandhomme, Introduction, S. 30, während Kramer, Wackes at War, S. 109, von 17 650 spricht. 36 Vgl. Bericht des Statthalters Dallwitz, 4.2.1916, in: BArch, R43, 168a. Kramer, Wackes at War, S. 107–108, nennt die Zahl von 8000–12 000 Freiwilligen, von denen 3000 alteingesessene Elsässer und Lothringer waren. 37 Vgl. für Zabern z.B. Pierre Vonau, Saverne durant la Grande Guerre, in: Grandhomme (Hg.), Boches ou tricolores, S. 103–117, hier S. 113. 38 Bericht des Statthalters Dallwitz, 4.2.1916, in: BArch, R43, 168a. 39 Vgl. Spindler, L’Alsace, S. 41. 40 Ebd., S. 94. 41 Vgl. Husser, Instituteur alsacien, S. 40f.
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sich die lokale Verwaltung und die Polizeibehörden mit einer Flut von Denunziationen konfrontiert, die vielfach aus rein persönlichen Motiven und weniger aus politischen oder militärischen Gründen entsprangen. Viele Denunziationen waren anonym. So schrieb ein „rechtschaffen Denkender“ an den „Herr[n] Wachtmeister“: „[D]er Apotheker Hoffmann ist dem Deutschtum feindlich gesinnt. In einem Geschäft hat er dies gesagt und es fließt französisches Blut in seinen Adern. Der Sohn ist im Westen. […] Man muß bei ihm die Arznei teurer bezahlen als in der Stadt. Ich hoffe daß Sie Abhilfe [schaffen].“42
Solche Denunziationen zogen in der Regel zu Ermittlungen der Militärpolizei nach sich und konnten bis hin zu einem Prozess vor einem Kriegsgericht führen. Die Zahl dieser Prozesse lag für den gesamten Zeitraum des Krieges bei über 2000, wobei die große Mehrzahl der Prozesse zu einer Verurteilung führte.43 Eine genauere Untersuchung der Prozessakten zeigt, dass das vielfach in der Forschung suggerierte Bild einer rücksichtslosen Kriegsjustiz, die zahllose Elsässer und Lothringer für ein einfaches Bonjour44 oder ein Vive la France!45 monatelang und ohne Prozess ins Gefängnis schickte, differenziert werden muss. Gerade im letzteren Fall kam es beispielsweise darauf an, unter welchen Umständen das Vive la France! geäußert wurde. So wurde eine Mülhauserin zu einer Gefängnisstrafe von 14 Tagen verurteilt, weil sie während des Einzugs der Franzosen am 8. August 1914 öffentlich Vive la France! gerufen hatte. Sie überzeugte das Gericht während des Prozesses, dass dies eine „Dummheit“ gewesen sei und sie nur gerufen hätte, weil dies so viele andere Menschen in ihrer Nähe auch getan hätten. Weniger mildernde Umstände erreichte ein Angestellter, der am selben Tag in Mülhausen ebenfalls Vive la France! gerufen hatte. Da er dieses mehrfach getan hatte und durch sein „offen zur Schau getragene franzosenfreundlich Verhalten [sic]“ erhielt er drei Monate Gefängnis und eine Geldstrafe von 50 Mark.46 Das Vorgehen der deutschen Politik in Elsass-Lothringen im Ersten Weltkrieg war auch deshalb so kontraproduktiv, weil die repressiven Maßnahmen und der Generalverdacht der nationalen Illoyalität der Bevölkerung jeder Beschwerde und jedem Wunsch nach Ausübung der französischen Sprache die Form einer antideutschen Kundgebung verlieh. Zwar ging die Zahl der Prozesse seit 1915 deutlich zurück.47 Allerdings deutete dies, wie Dallwitz selbst hinzufügte, lediglich auf den passiven Gehorsam der Bevölkerung hin, die sich innerlich immer stärker von der deutschen Herrschaft abwandte.
42 Anonymer Brief aus Molsheim, eingegangen am 22.5.1915, in: ADBR, 116 AL 45. 43 Kramer, Wackes at War, S. 109 nennt die Zahl von 2389 Prozessen, wobei etwa 80% der Prozesse (ca. 1900 Fälle) zu Verurteilungen geführt hätten. 44 Vgl. Grandhomme, Introduction, S. 25. Ähnlich bei Rossé, Das Elsass, Bd. I, S. 362. 45 Vgl. Kramer, Wackes at War, S. 108; Rossé, Das Elsass, Bd. I, S. 258. 46 Urteilsverkündungen des außerordentlichen Kriegsgerichts Neubreisach gegen Maria Adam am 6.3.1915 und gegen Camill Adam am 6.1.1915, in: ADBR, 87 AL 5536. 47 Bericht des Statthalters Dallwitz, 11.10.1916, in: BArch, R43, 168a.
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Der deutsche und der französische Ansatz Die französischen Militärbehörden trafen anfangs auf ganz ähnliche Schwierigkeiten in den von ihnen seit August 1914 besetzten Gebieten des Oberelsass. In den ersten Kriegswochen behandelten die französischen Soldaten die lokale Bevölkerung vielfach unterschiedslos als deutsch. Erst nach den intensiven Bemühungen frankophiler Elsässer wie Emile Wetterlé, Paul Helmer oder Jean-Jacques Waltz (genannt Hansi), die kurz vor Ausbruch des Krieges nach Frankreich geflohen waren, führten die französischen Militärbehörden eine strikte Trennung zwischen alteingesessenen Elsässern und deutschen „Immigranten“ ein. Elsässische Kriegsgefangene wurden von den anderen Deutschen getrennt und erfuhren eine deutlich bessere Behandlung. Die französischen Soldaten hatten strikte Anweisungen, die lokale elsässische Bevölkerung als befreundet, mithin als französisch zu behandeln, und die Militärbehörden warben bei elsässischen Soldaten und Zivilisten um ein Engagement in der französischen Armee.48 Zwar schickten die Militärbehörden politisch als franzosenfeindlich klassifizierte Elsässer in Umerziehungslager, dennoch war die zentrale Unterscheidung jene zwischen Elsässern und Deutschen. Die deutschen Militärbehörden versuchten dagegen, die nationale FreundFeind Dichotomie zwischen Deutschen und Franzosen in Elsass-Lothringen unter den verschärften Bedingungen des militärischen Operations- und Etappengebiets umzusetzen. Anfängliche Versuche, das „Augusterlebnis“ und den Konflikt mit Frankreich zu einer Überbrückung der lokalen Spannungen zu nutzen, scheiterten rasch an den zunehmend rigorosen Maßnahmen der Militärbehörden. Wie die Tagebücher fast einhellig belegen, spielten außerdem die Gerüchte in der Presse49 und vor allem das teilweise brutale Verhalten der bei der Zivilbevölkerung einquartierten deutschen Soldaten eine entscheidende Rolle für den Umschwung der Stimmung in den ersten Monaten des Krieges.50 Sowohl die französische Administration nach Kriegsende als auch die deutsche Administration während des Krieges verfolgten eine Politik der nationalen „Säuberung“ (épuration).51 Es war den spezifischen lokalen Bedingungen ge48 Vgl. besonders den unsignierten „Bericht über freiwilligen Eintritt von Elsässern in das französische Heer“, Bern, 14.11.1914, in: ADBR, 22 AL 141. 49 So berichten mehrere Tagebücher unabhängig voneinander von Gerüchten, dass der französische Präsident Poincaré ermordet worden sei, dass Paris in Flammen stehe und dort die Revolution ausgebrochen sei. Vgl. Husser, Instituteur alsacien, S. 27, Eintrag vom 3.8.1914; A. Le Grand, Jours de guerre en Alsace. Journal d’une famille (Août-Septembre 1914), Paris 1916, S. 145, Eintrag vom 1.−14.8.1914; Spindler, L’Alsace, S. 39, Eintrag vom 3.8.1914; Yvonne Stamm, Les cinq carnets d’Yvonne. Journal des années de guerre, 1914–1918, à Wesserling. Colmar 2009, S. 18, Eintrag vom 5.8.1914. 50 Vgl. Husser, Instituteur alsacien, S. 39, 41, 69, Einträge vom 27. und 31.8.1914 sowie vom 19.6.1915; Spindler, L’Alsace, S. 57–68, Einträge vom 16.–19.8.1914, und Zingerlé, Toujours fidèle, S. 30, Eintrag vom 28.9.1916. Vgl. auch Fischer, Alsace to the Alsatians, S. 109; Kramer, Wackes at War, S. 108–109. 51 Vgl. Laird Boswell, From Liberation to Purge Trials in the „Mythic Provinces“: Recasting French Identities in Alsace and Lorraine, 1918–1920, in: French Historical Studies 23 (2000), S. 129–162; Volker Prott, A Testing Ground for Ethno-Political Population Politics. Alsace-
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schuldet, dass die deutsche „Säuberung“ dabei eine stärker politische Stoßrichtung hatte als die französische, die wesentlich auf der ethnischen Unterscheidung von alteingesessenen Elsässern und Lothringern einerseits und deutschen „Immigranten“ andererseits beruhte. Der deutsche Ansatz zielte dagegen darauf ab, den französischen Einfluss zurückzudrängen, indem man gegen politisch illoyale und wirtschaftlich mit Frankreich verbundene Bürger vorging. So bemerkte Erich Ludendorff im August 1917, dass der Krieg im Reichsland zu einer „Scheidung und Säuberung von vielen feindlichen Elementen“ führe: Illoyale Elsässer und Lothringer, die bereits ins Ausland ausgewandert seien, würden ausgebürgert und der französische Privatbesitz in der Region beseitigt.52 SCHLUSS Alan Kramer kommt in seiner Untersuchung der Geschichte Elsass-Lothringens im Ersten Weltkrieg zu dem Ergebnis, der Krieg habe die eigentliche Präferenz der Elsässer und Lothringer für das politische französische Verständnis der Nation offenbart, was die Menschen letztlich dem deutschen rassischen Konzept vorgezogen hätten.53 Die hier durchgeführte, vergleichende Betrachtung Elsass-Lothringens auf der Mikroebene zeigt dagegen, dass der Krieg die traditionelle Unterscheidung eines ethnischen deutschen und eines politischen französischen Verständnisses der Nation nicht nur verwischte, sondern in mancher Hinsicht umkehrte. Abgesehen von den Versuchen, die französische Sprache zurückzudrängen und im letzten Kriegsjahr französischen Privatbesitz zu liquidieren, zielten die Maßnahmen der deutschen Militärbehörden im Wesentlichen auf die nationale, also politische Loyalität der lokalen Bevölkerung. Dagegen stützte sich die französische Administration der besetzten Gebiete im Oberelsass − und schließlich der gesamten Region im Wiedereingliederungsprozess unmittelbar nach dem Krieg − hauptsächlich auf die ethnische Unterscheidung zwischen Indigenen und deutschen „Immigranten.“ Der Krieg war kein Lackmustest nationaler Treue, sondern er transformierte einen innerdeutschen Konflikt zu einer international aufgeheizten Auseinandersetzung um die politische Loyalität einer sozial, religiös, regional, ethnisch und politisch heterogenen Grenzbevölkerung. Es waren dabei nicht die repressiven Maßnahmen der deutschen Militärverwaltung per se, die zu einer zunehmenden Entfremdung der lokalen Bevölkerung führten. Vielmehr war der werbende und differenzierende französische Ansatz deutlich erfolgreicher als der disziplinierende und verallgemeinernde deutsche, weil die Gegenüberstellung von „Indigenen“ Lorraine from the First World War to the Versailles Treaty, in: Fabian Lemmes, Johannes Großmann, Nicholas Williams, Olivier Forcade, Rainer Hudemann (Hg.), Evakuierungen im Europa der Weltkriege – Les évacuations dans l’Europe des guerres mondiales – Evacuations in World War Europe, Berlin 2014 (im Druck). 52 Erich Ludendorff, Das Verhalten der Elsaß-Lothringer in drei Kriegsjahren, 1.8.1917, in: BArch, R3001/1588a, S. 75. 53 Vgl. Kramer, Wackes at War, S. 120.
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und „Deutschen“ stärker national zu mobilisieren vermochte als die deutsche Unterscheidung zwischen deutschfreundlichen und deutschfeindlichen „Elementen“. Während Frankreich aktiv um die Elsässer und Lothringer warb und sie von den deutschen „Immigranten“ trennte, behandelten die deutschen Militärbehörden die lokalen Bewohner zunehmend als gefährliche Schädlinge und die Region insgesamt als Feindesland, das es „unschädlich“ zu machen gelte.54 Wie das Aufkommen der elsässischen malaise wenige Monate nach Kriegsende zeigt, hatte auch der französische Ansatz, die „verlorenen Provinzen“ möglichst rasch und reibungslos in den unitären französischen Nationalstaat zu überführen, seine Grenzen.55 Insofern offenbaren die vielfältigen Spannungen in Elsass-Lothringen kurz vor, während und nach dem Ersten Weltkrieg eine tiefergehende Problematik, die aus dem zeitgenössischen Ideal des ethnisch homogenen Nationalstaats resultierte. Das elsass-lothringische Beispiel zeigt dabei deutlich die Gefahren lokaler Gewaltdynamiken, die sich aus dem Konflikt zwischen staatlichem Loyalitätsanspruch und widerstrebenden lokalen Bevölkerungsgruppen ergeben konnten. Es war weder für das ehemalige Reichsland Elsass-Lothringen noch für das restliche Europa ein gutes Omen, dass gerade der ethnisch homogene Nationalstaat als scheinbar alternativloses politisches Ideal aus dem Ersten Weltkrieg hervorging.
54 So spricht Ludendorff von dem „schweren Schaden“, den die deutsche Kriegsführung durch „Elsaß-Lothringer“ erlitten habe, in: Ludendorff, Das Verhalten der Elsaß-Lothringer in drei Kriegsjahren, 1.8.1917, in: BArch, R3001/1588a, S. 3. Der preußische Kultusminister Minister Adam von Trott zu Solz bemerkte bereits am 23.9.1915, die Elsässer und Lothringer müssten „unschädlich“ gemacht werden. Zitiert nach Preibusch, Verfassungsentwicklungen im Reichsland, S. 522. 55 Zur elsässischen malaise in den 1920er und 1930er Jahren vgl. Fischer, Alsace to the Alsatians, Kapitel 6 und 7; sowie die detaillierte Darstellung in Rossé, Das Elsass, Bd. III: Das Elsass unter französischer Herrschaft von 1918–1932.
DAS GALIZISCHE „PULVERFASS“ UND DER BEGINN DES ERSTEN WELTKRIEGS Eine Krisenregion zwischen Österreich-Ungarn und Russland Agnieszka Kudełka Galizien war am Vorabend des Ersten Weltkriegs einer der zentralen Krisenherde in den Beziehungen zwischen Österreich-Ungarn und Russland. Dies resultierte nicht nur aus der machtpolitischen Konkurrenzsituation, sondern vor allem daraus, dass sich die Ukrainophilen, die Polnisch-Nationalen und die Russophilen unterschiedlich zu den sich herauskristallisierenden Konfliktparteien positionierten.1 Naturgemäß wurden alle politischen Handlungen in diesem an Russland grenzenden Landesteil der Habsburgermonarchie kritisch beäugt, drohten sie doch stets Auslöser weiterführender Verwicklungen zu werden. Die Ähnlichkeit der galizischen Verhältnisse mit denen in Bosnien-Herzegowina liegt auf der Hand. „Sarajewo“ hätte sich auch in Lemberg zutragen können. Der vorliegende Beitrag zeichnet die Entwicklung Galiziens im zeitlichen Umfeld des Kriegsausbruchs nach. Im Zentrum steht die Frage, welche Einstellungen die Galizier gegenüber der Donaumonarchie, gegenüber Russland und gegenüber den eigenen Landsleuten in den letzten Jahren vor Beginn des Weltkriegs, bei Kriegsausbruch und beim Einmarsch der russischen Armee in Lemberg artikulierten. Dies soll anhand ausgewählter Wort- und Pressemeldungen dargelegt und vor dem Hintergrund der habsburgischen und russischen Nationalitätenpolitik gedeutet werden. Der Kriegsausbruch von 1914 erschien allen politischen Lagern als Gelegenheit zur Durchsetzung ihrer Interessen. Ukrainophile und russophile Bewegungen positionierten sich eindeutig gegeneinander und hofften auf die Hilfe ihrer Schutzmächte bei der Realisierung ihrer politischen Vorstellungen. Im Falle der Russophilen ging es um die Vereinigung mit Russland. Während sie Russland kulturell und religiös nacheiferten, unterstützte die russische Regierung die Bewegung nur dann, wenn dies keinen Schaden für die eigenen politischen Pläne erwarten ließ. Denn Sankt Petersburg wollte an der traditionellen, übernationalen Reichsidee festhalten und lehnte daher enge nationalistische Konzeptionen ab.2 Wäre Ostgalizien ein Teil von Russland geworden, hätten sich die Russophilen allerdings in vielerlei Hinsicht besser entfalten können als in der Habsburgermonarchie. 1 2
Anna Veronika Wendland, Die Russophilen in Galizien. Ukrainische Konservative zwischen Österreich und Russland, 1848–1915, Wien 2001, S. 17–19. Vgl. ebd., S. 485f.
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Die ukrainophilen Politiker sahen nur in der Zusammenarbeit mit der Habsburgermonarchie die Möglichkeit, sich ihrem Ziel eines ukrainischen Nationalstaats zu nähern. Angesichts der Situation der ukrainischen Minderheit in Russland, die sich beispielsweise im Emser Erlass von 1876, also dem Verbot der Verbreitung literarischer Werke in ukrainischer Sprache äußerte, misstrauten sie der russophilen Propaganda, die für einen Anschluss der Ukraine an Russland unter Garantie von Autonomierechten plädierte. Die Ukrainophilen wollten die ukrainisch bewohnten Gebiete Russlands aus dem Zarenreich herauslösen, ähnlich wie die Polen das russische Teilungsgebiet. Ein Leitgedanke der österreichisch-ungarischen Außenpolitik war die Instrumentalisierung des ukrainischen Nationalismus zur Schwächung des Russischen Reiches.3 Denn die politische Lage der Ukrainer in Galizien hatte einen großen Einfluss auf die Entwicklung der Unabhängigkeitsbewegung in der russischen Ukraine. Daher beobachteten russische Diplomaten und Geheimdienstler die Entwicklung der „kleinrussischen Frage“ in Österreich-Ungarn mit großer Beunruhigung.4 Auch die polnische Nationalbewegung, mit Ausnahme der russlandfreundlichen Nationaldemokraten, lehnte die territorialen Ansprüche des Russischen Reiches, seine soziale Ordnung und sein politisches System ab. Beide Bewegungen, aber insbesondere die ukrainische, stellten für Russland eine große Gefahr dar. Denn sie beanspruchten große Gebiete des Zarenreichs mit großen demographischen und materiellen Ressourcen. Umgekehrt waren die Russophilen, die für eine Abtrennung Ostgaliziens von Österreich-Ungarn plädierten, weniger gefährlich für Wien. Denn Ostgalizien war kein so wertvolles Territorium wie die Ostukraine mit ihren reichen Bodenschätzen und Getreidevorkommen. Auch schien der klar antiliberale Kurs Russlands nur begrenzte Anziehungskraft zu entfalten.5 Dennoch verschärften sich am Vorabend des Krieges die staatlichen Reaktionen auf die russophilen Aktivitäten. Grund dafür waren einerseits die zunehmende Radikalisierung innerhalb der russophilen Bewegung und unverhohlene Drohungen russischer Interventionen zu ihren Gunsten, andererseits ein Wechsel in der Wiener Außenpolitik, die ihre Zurückhaltung nach und nach aufgab und expansionistische Züge annahm. Denn parallel zum Konfliktpotenzial in Galizien, das allgemein bekannt war und auf das die Ost-Spezialisten immer wieder hinwiesen,6 entwickelte sich der serbische Krisenherd zu einer beinahe irrationalen Obsession der Wiener Regierung.7 Österreich-Ungarn riskierte somit einen Krieg an mindestens zwei Fronten. In einer besonders schwierigen Lage befanden sich die ostmitteleuropäischen Juden, die durch das Raster des ethnisch homogenen Nationalstaats fielen. Das 3 4 5 6 7
Ebd., S. 531f. und 539. Vgl. Klaus Bachmann, „Ein Herd der Feindschaft gegen Russland“. Galizien als Krisenherd in den Beziehungen der Donaumonarchie mit Russland (1907–1914), Wien 2001, S. 259. Ebd., S. 263f. Wendland, Die Russophilen in Galizien, S. 531f. und 539. Vgl. Jürgen Angelow, Der „Kriegsfall Serbien“ als Willenstherapie. Operative Planung, politische Mentalitäten und Visionen vor und zu Beginn des Ersten Weltkrieges, in: Militärgeschichtliche Zeitschrift 61 (2002) 2, S. 315–336, hier S. 321.
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Verhältnis der jüdischen Eliten zur polnischen und zur ukrainischen Nationalbewegung war gespalten. Die Zionisten, die einen Nationalstaat in Palästina anstrebten und damit in die damalige nationalistische Vorstellungswelt passten, unterstützten eher die Bestrebungen der Ukrainer. Dagegen erstrebten die Polen jüdischen Glaubens oder die mit Polen verwandten Juden eine Wiedererrichtung des polnischen Staates.8 Herrschaftstechnisch bevorzugten die meisten galizischen Juden eine österreichische Verwaltung, war diese doch lange Zeit der Garant für eine vergleichsweise ungefährdete Existenz gewesen.9 Das galizische Konfliktszenario der unmittelbaren Vorkriegsperiode resultierte also in der Regel aus Diskussionen über den Status der einzelnen Nationalitäten. Konfliktpotenzial trugen beispielsweise die seit 1907 intensiv geführten Debatten über die Gründung einer ukrainischen Universität in Lemberg in sich. Spätestens mit der Gründung der Tschechischen Universität in Prag 1882 war klar, dass kulturpolitische Entscheidungen von diesem Ausmaß zu weiterreichenden Auseinandersetzungen führen mussten. Seinerzeit hatte die deutsche Professorenschaft der Karls-Universität heftig protestiert. Und auch in der Folge hatte es – im Kontext der österreichischen Sprachen- und Kulturpolitik des ausgehenden 19. Jahrhunderts – immer wieder harte Auseinandersetzungen gegeben.10 Den Forderungen der Ukrainophilen nach einer ukrainischen Universität gingen Versuche voraus, die Rechte der Ukrainer an der bestehenden Lemberger Universität zu erweitern. Dagegen wandten sich die Polen, insbesondere die ostgalizischen Gutsbesitzer. Denn jedes Entgegenkommen hätte zu einer Dominanz der Ukrainer oder gar zur Übernahme der Universität führen können. Genauso scharf wandten sie sich gegen eine selbstständige ukrainische Universität, fürchteten sie doch eine zu starke Beeinträchtigung ihrer dominierenden Position durch die ukrainische Seite in der Hauptstadt Galiziens.11 Weiter angefeuert wurden die nationalen Konflikte in Galizien durch die 1907 eingeleitete Wahlreform im österreichischen Reichsrat. Unter Umgehung der privilegierten Polen hatte Wien auch den Jungruthenen (Ukrainophilen) Versprechungen gemacht, unter anderem eine neue Regelung des Wahlrechts zum Land-
8
Christoph Mick, Wer verteidigte Lemberg? Totengedenken, Kriegsdeutungen und nationale Identität in einer multiethnischen Stadt, in: Dietrich Beyrau (Hg.), Der Krieg in religiösen und nationalen Deutungen der Neuzeit, Tübingen 2001, S. 189–216, hier S. 193. 9 Die Juden Galiziens erhielten wie die übrigen jüdischen Untertanen der Habsburgermonarchie 1867 formal die Gleichberechtigung. Ihre Anerkennung als eigenständige Nation mit eigener Sprache blieb allerdings umstritten. Nur in der benachbarten Bukowina erhielten sie den Status einer Nation. Vgl. Frank Michael Schuster, Das multikulturelle Galizien. Die Entstehung eines Mythos während des Ersten Weltkrieges, in: Kwartalnik Historii Żydów [Vierteljahresheft der jüdischen Geschichte] 212 (2004), S. 532–545, hier S. 534. 10 Jan Křen, Die Konfliktgemeinschaft. Tschechen und Deutsche 1780–1918, München ²2000, S. 176 und 181. 11 Die ukrainischen Politiker rechneten damit, mithilfe der eigenen Universität die Hauptstadt Galiziens schnell dominieren zu können. Vgl. Katarzyna Michalewska, Sprawa uniwersytetu ukraińskiego w latach 1848–1914 [Die Frage der ukrainischen Universität zwischen 1848 und 1914], in: Studia Historyczne [Historische Studien] 27 (1984) 1, S. 35–60, hier S. 49.
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tag und die besagte ukrainische Universitätsgründung.12 Die Unterstützung der Jungruthenen durch Wien verfolgte das Ziel, die für Russland agitierenden Altruthenen (Russophilen) in die Schranken zu weisen. So reifte in Wien der Gedanke, nicht nur die Polen, sondern auch die Ruthenen durch Autonomiezusagen zu gewinnen. Monarch und Regierung, namentlich Außenminister Alois Lexa von Aehrenthal (1906–1912), unterstützten daher den moderaten ukrainischen Nationalismus.13 Angeblich hatte der Kaiser einem Reichsratsabgeordneten der Ukrainischen Nationaldemokratischen Partei, Kost Lewyzkyj, bei einer Audienz 1909 die etappenweise Gründung einer ukrainischen Universität versprochen.14 Am 15. Juni 1912 erfolgte eine diesbezügliche Zusage durch den österreichischen Unterrichtsminister,15 die durch eine kaiserliche Botschaft an die Ruthenen vom 18. Juni 1912 bekräftigt wurde.16 Doch den Zusagen folgten keine konkreten Entscheidungen, obwohl sogar der Lemberger Polenklub am 22. Mai 1912 seine Einwände gegen eine selbständige ruthenische Universität zurückgezogen und deren Gründung bis zum 1. Oktober 1916 als Ziel formuliert hatte.17 Während des Ersten Balkankriegs 1912, der eine Krise in den Beziehungen zu Russland nach sich zog, mischte sich Außenminister Leopold Berchtold (1912–1915) in die Angelegenheit ein, wobei er Polen und Ukrainer zu einer Verständigung drängte.18 Die Öffentlichkeit erfuhr hiervon nur am Rande.19 Derartige Teillösungen waren indes für die Ukrainer nicht mehr zufriedenstellend. Um ihre Verhandlungsposition zu verbessern, unterbrachen sie die Gespräche im Reichsrat.20 Sie wollten diese erst nach der Wahlrechtsreform für den Galizischen Landtag und der damit verbundenen Änderung der Mehrheitsverhältnisse in ihrem Sinne wieder aufzunehmen.21 Unterdessen wurde die Lemberger Universitätsfrage von der russischen Regierung genau beobachtet. So bemerkte der deutsche Botschafter in Wien, Heinrich von Tschirschky, 1911, die Gründung einer ukrainischen Universität würde 12 Janusz Gruchała, Rząd austriacki i polskie stronnictwa polityczne w Galicji wobec kwestii ukraińskiej. 1890–1914 [Österreichische Regierung, polnische politische Parteien in Galizien und die ukrainische Frage. 1890–1914], Kattowitz 1988, S. 76, 93 und 135. 13 Hans-Christian Maner, Galizien. Eine Grenzregion im Kalkül der Donaumonarchie im 18. und 19. Jahrhundert, München 2007, S. 165. 14 Kost’ Levyc’kyj, Istorija polityćnoji dumky halyc’kych ukrajinciv 1848–1914 [Geschichte des politischen Denkens der galizischen Ukrainer 1848–1914], Bd. 2, Lemberg 1926, S. 700f. 15 Sprawa uniwersytetu ruskiego. Oświadczenie P. Ministra oświaty [Frage der ruthenischen Universität. Erklärung des Bildungsministers], in: Gazeta Lwowska [Lemberger Zeitung], 16.6.1912, S. 1. 16 Neue Freie Presse, 19.6.1912, S. 1f. 17 Rezolucya Koła Polskiego w sprawie uniwersyteckiej [Beschluss des Polenklubs in der Universitätsfrage], in: Gazeta Lwowska, 3.1.1913, S. 2. 18 Maner, Galizien, S. 165. 19 Rezolucya Koła Polskiego w sprawie uniwersyteckiej [Beschluss des Polenklubs in der Universitätsfrage], in: Gazeta Lwowska, 3.1.1913, S. 2. 20 Bachmann, „Ein Herd der Feindschaft gegen Russland“, S. 181f. 21 Harald Binder, Galizien in Wien. Parteien, Wahlen, Fraktionen und Abgeordnete im Übergang zur Massenpolitik, Wien 2005, S. 491.
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Studenten aus Kiew nach Österreich-Ungarn locken und breite Bevölkerungsteile dem Russischen Reich entfremden.22 Anfang 1913 vermutete das offiziöse Kiewer Blatt Kievljanin angesichts der Gründungspläne, dass eine ukrainische Universität „ein Herd der Feindschaft gegen Russland [...] des kulturellen und politischen Separatismus sowie [...] [der] ständigen Verschwörung“ sein würde und „schließlich zur Losreißung der russischen Ukraine von Russland und zur Angliederung an Österreich führen“ könne.23 Die Universitätsfrage wurde erst nach dem Kriegsausbruch von 1914 wieder aktuell. In Erwartung eines siegreichen Abschlusses informierte das Außenministerium am Ballhausplatz die Vertreter der Ukrainer, dass man nach dem Sieg über Russland „die Gründung einer unabhängigen Ukraine, so gut es gehe, fördern“ wolle. Da Österreich nicht 30 Millionen Ukrainer regieren könne, werde man versuchen, „Ostgalizien zu einem Zentrum der ukrainischen Kultur auszubauen und in Lemberg eine ukrainische Universität [zu] errichten.“24 Das Versprechen verfolgte natürlich vor allem propagandistische Ziele. Ein weiterer Streitpunkt war die Wahlrechtsreform für den Galizischen Landtag, für die sich die Ukrainer seit der Wahlrechtsreform im Reichsrat 1907 immer stärker eingesetzt hatten. Das Anliegen der Universitätsgründung wollten sie im Landtag zur Sprache bringen, damit diese Frage nicht mit der Wahlrechtsreform im Reichsrat kollidieren konnte. Erst der Misserfolg der Verhandlungen im Landtag im Dezember 1913 führte dazu, dass die Ukrainer im Reichsrat zur Obstruktion übergingen.25 Da sich die polnischen Parteien im Galizischen Landtag in zwei Lager gespalten hatten und sich gegenseitig boykottierten, wurde die Lösung der Reformfrage für lange Zeit unmöglich. Erst nach dem Beginn des Ersten Balkankriegs im September 1912 wurden die Parteien in Galizien aufgefordert, aufeinander zuzugehen. Die vom Statthalter unterstützten Verhandlungen führten schließlich zum Durchbruch. Am 14. Februar 1914 wurde die Reform verabschiedet.26 Zwar war keine der Parteien mit dem Ergebnis des Kompromisses vollständig zufrieden. Doch wurden im Galizischen Landtag nun erstmals Plätze für ukrainische Abgeordnete garantiert. Diese Regelung konnte als Ausgangspunkt für ein friedliches Zusammenleben beider Nationen angesehen werden.27 In der Presse wurde die galizische Wahlrechtsreform überwiegend positiv gesehen. Die ukrainophile Dilo betrachtete sie als einen wichtigen Integrationsfaktor. Kompromissbereite Polen und moderate Ukrainer hätten sich gegenüber ihren Gegnern – den polnischen Nationaldemokraten, ostgalizischen Konservativen und Russophilen – durchgesetzt. Der Kompromiss in der Wahlreformfrage wirke sich positiv auf die Stabilität Österreich-Ungarns aus und mindere den Einfluss Russ22 23 24 25 26
Bachmann, „Ein Herd der Feindschaft gegen Russland“, S. 194. Zitiert nach ebd., S. 266. Ebd., S. 269. Binder, Galizien in Wien, S. 487 und 491. Vgl. Michał Bobrzyński, Z moich pamiętników [Aus meinen Erinnerungen], Breslau 1957, S. 379. 27 Die einzige Frage, die noch Konfliktpotenzial barg, war die Festlegung der Wahlkreisgrenzen. Vgl. Stanisław Grodziski, Sejm Krajowy galicyjski 1861–1914 [Der Galizische Landtag 1861–1914], Warschau 1993, S. 69.
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lands.28 Lewyzkyj behauptete zugespitzt, dass die Reform angesichts des Misserfolgs in der Frage der Universitätsgründung 1912 die letzte Chance für eine Verständigung zwischen den Nationen gewesen sei. Die ukrainische Verhandlungsbereitschaft deutete er als Beweis für einen hohen Grad an Geduld und Mäßigung. Lewyzkyj forderte kategorisch die Zustimmung zur Reform ein, indem er deren Bedeutung für die „gleichmäßige Entwicklung beider Nationen in Galizien im Interesse des österreichischen Staates“ betonte, um eine gemeinsame Frontlinie „gegen den gemeinsamen Feind im Nordosten zu schaffen.“29 Die Staatsvertreter sollten sich seiner Auffassung nach an die Seite der Ukrainer stellen, damit die Monarchie sich als einen konstitutionellen Staat präsentieren konnte. Begriffe wie „Frontlinie“ und „Feind in Nordosten“ verwiesen auf die angespannten Beziehungen der Donaumonarchie zum Russischen Reich hin und ließen die Gefahr eines Krieges reell erscheinen. Gleichzeitig sah Lewyzkyj die neu entstandene polnischukrainische Koalition eindeutig an der Seite der Habsburger. Auch Czas, das Sprachrohr der Krakauer Konservativen, betonte die breite Akzeptanz und das politische Potential des Kompromisses.30 Nur die nationaldemokratische Słowo Polskie bezweifelte, dass die Erweiterung der Rechte für die einzelnen Bevölkerungsgruppen Auswirkungen auf die internationalen Beziehungen haben werde. Stattdessen kritisierte die Zeitung die Erwartungshaltung der Ukrainer in Galizien.31 Doch obwohl in beiden Nationalbewegungen bis zum Ersten Weltkrieg immer wieder radikale Stimmen laut wurden und teils sogar Forderungen nach einer Vertreibung der Polen aus Westgalizien oder einer Abtrennung Galiziens von der Habsburgermonarchie aufkamen, fanden beide Bevölkerungsteile – unter dem Druck der Wiener Regierung – Wege zur Verständigung. Die Konkurrenz der Großmächte untereinander und ihr Kampf um Einflusssphären schlugen sich seit Anfang des 20. Jahrhunderts zunehmend auf dem Balkan nieder. Dies wirkte sich auch auf die Beziehungen zwischen ÖsterreichUngarn und Serbien aus, die seit 1903, dem Jahr des Dynastiewechsels in Belgrad, angespannt waren. Nach der Annexion Bosniens 1908 durch Österreich-Ungarn unterstützte Russland die Schaffung des gegen das Osmanische Reich gerichteten Balkanbundes zwischen Serbien und Bulgarien (später auch Montenegro und Griechenland). Die aktive russische Balkanpolitik führte zur Verschlechterung der Beziehungen zu Österreich-Ungarn. Das offensive serbische Vorgehen gegen das Osmanische Reich im Zuge des Ersten Balkankriegs im September 1912 brachte die Habsburgermonarchie in eine schwierige Lage, da sie noch nicht auf eine Auseinandersetzung mit Serbien eingestellt war.32 Der Zweite Balkan28 Unïversytet, vyb. reforma i pravytel’stvo. Z promovy posla d-ra Kostya Levyts’koho v palatï posliv dnya 28. maya 1913 [Universität, Wahlrechtsreform und Regierung. Aus der Rede des Abgeordneten Dr. Kostja Lewickyj im Abgeordnetenpalast am 28. Mai 1913], in: Dilo [Tat], 3.6.1913, S. 2. 29 Ebd. 30 Reforma wyborcza [Wahlrechtsreform], in: Czas [Zeit], 5.11.2013, S. 1. 31 Reforma wyborcza. Stanowisko Rusinów [Wahlrechtsreform. Stellung der Ruthenen], in: Słowo Polskie [Polnisches Wort], 5.11.1913, S. 1. 32 Vgl. Angelow, Der „Kriegsfall Serbien“, S. 332.
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krieg war zwar nur ein Krieg um die Verteilung der osmanischen Beute. Er verstärkte aber die Gewaltbereitschaft der Donaumonarchie. Denn Serbien hatte sein Territorium auf Kosten Bulgariens, eines potenziellen Verbündeten ÖsterreichUngarns, deutlich vergrößert. Zu diesem Zeitpunkt bemühte sich Wien verstärkt um den polnisch-ruthenischen Ausgleich, um Russland Argumente für dessen antiösterreichische Propaganda in Galizien zu entziehen.33 Dort herrschte seit den Balkankriegen eine von Verdächtigungen und Spionagehysterie geprägte Atmosphäre. Gewalttätige Übergriffe des Militärs auf Russophile waren an der Tagesordnung. Wien befürchtete ein Anwachsen russophiler Strömungen in Galizien. Das harte Vorgehen der Doppelmonarchie forderte wiederum Opfer, die in Russland als Märtyrer und Helden gefeiert werden konnten. Während sich im Generalstab, im Kriegsministerium und sogar im Außenministerium eine Russophilen-Hysterie breit machte, setzten sich die galizische Zivilverwaltung, das Innenministerium und das Unterrichtsministerium für eine friedliche Beilegung der Konflikte ein.34 Gegen die russische Einflussnahme in Galizien wandte sich auch die Lemberger Presse. Gleichzeitig vertraten insbesondere die national orientierten Zeitungen die Meinung, die Balkankriege seien nur das Vorspiel zu einem weiteren Krieg, der zwangsläufig aus der Mächtekonstellation resultieren werde. Bereits Anfang Januar 1914 verwandelten sich im proösterreichischen Kurier Lwowski Spekulationen über einen möglichen Kriegsausbruch in konkrete Kriegserwartungen: „Ein weiterer Akt des Balkandramas, das sich seit Jahrhunderten abspielt, ist zu seinem Ende gekommen. Die auf ihn folgende Pause wird etwas länger dauern, was aus der Erschöpfung der bisherigen Kriegsteilnehmer resultiert. Doch wird die anscheinend lokale Angelegenheit die Ruhe in ganz Europa stören und auf einen Wendepunkt hindeuten, dessen wirtschaftliche Folgen bereits spürbar sind [...]. In Europa besteht die Tendenz, alte Rechnungen zu begleichen. Bisher haben nur die noch nicht abgeschlossenen Kriegsvorbereitungen und der ‚Verstand der Staatsraison‘ zu einem Aufschub der Streitigkeiten geführt. Doch die in Europa um sich greifende Aufrüstung ist ein sicheres Symptom. Und Russland wird versuchen, die polnischen Provinzen des österreichischen Teilungsgebietes zu dominieren und dort seine Netze zu werfen.“35
Auch die ukrainische, christlich-konservative Zeitung Ruslan deutete im Juli 1913 an, dass die Balkankriege vermutlich zu einem neuen Krieg führen würden: „Normale Streitigkeiten unter Nachbarn wurden zu schrecklichen Konflikten unter Fremden. Daher gehörten die Kriege zwischen Bulgaren und Serben zu den blutigsten in der Geschichte. Sie dauerten kurz, forderten aber hunderttausend Menschenleben. Das war der vorletzte Akt des Balkandramas. Der vorletzte deshalb, weil niemand vorauszusehen kann, welche Richtung die Kraft dieses Sturmes nimmt und wie sie sich auflöst. Die Handlungen werden komplizierter und sind wie ein ins Wasser geworfener Stein. Sie ziehen immer weitere und immer breitere Kreise.“36
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Vgl. Bachmann, „Ein Herd der Feindschaft gegen Russland“, S. 62. Vgl. Wendland, Die Russophilen in Galizien, S. 514f., 520f., 540. Miniony Rok [Das vergangene Jahr], in: Kurier Lwowski [Lemberger Kurier], 1.1.1914, S. 1. Z pryvodu ostannoï viy̆ ny (Mirkovanya nepolïtyka): analiz [Im Blick auf den letzten Krieg (Gemäßigte Unpolitik): Analyse], in: Ruslan, 17.7.1913, S. 1.
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Das Wissen um die antagonistische Mächtekonstellationen und die angehäuften Konfliktpotenziale ließ die Zeitung also an eine Fortsetzung des Krieges auf dem Balkan glauben. Die ohnehin schwierigen Beziehungen der verschiedenen Bevölkerungsgruppen in Galizien wurden durch die Spionagefurcht und die immer offenere Kriegserwartung der militärischen und politischen Eliten Österreich-Ungarns noch angespannter. Sowohl Russophile als auch Juden wurden der Spionage verdächtigt. Die jüdische Schriftstellerin und Germanistin Minna Lachs (1907–1993) berichtet, dass Anfang 1914 Spione den Kaiser ermorden wollten, die wie orthodoxe Juden aussahen, was sie – als junge Jüdin – nicht verstehen konnte.37 In den Beziehungen zwischen Ukrainern, Russophilen, Polen und Juden spielten Kriegserwartungen eine immer bestimmendere Rolle. Die Presse spekulierte über den möglichen Zeitpunkt des Kriegsausbruchs. Ende Dezember 1912 war im nationaldemokratischen Słowo Polskie zu lesen, dass die Bauern angesichts des bevorstehenden Kriegsausbruchs den Einmarsch der russischen Armee mit Freude erwarteten, österreichisch-ungarische Symbole, zum Beispiel Kaiserbildnisse, vernichteten und durch Bilder des russischen Zaren ersetzten. Die Gazeta Lwowska erklärte anschließend, dass sich die Russophilen durch eine Falschmeldung an einem ukrainischen Gemeindevorsteher rächen wollten.38 Dass der Krieg sowohl in den polnischen Zeitungen als auch von den Ukrainophilen offen erwartet wurde, hing mit den nationalen Erwartungshaltungen zusammen, die an ihn geknüpft wurden. So erschienen im Kurier Lwowski zum Jahreswechsel 1912/13 zwei Artikel, in denen die Kriegserwartung sehr deutlich akzentuiert wurde. Der Beitrag „Zum Neuen Jahr“ schlug einen sehr martialischen Ton an: „Die letzten Tage haben gezeigt, dass es trotz der polnischen Tradition des Streits Dinge gibt, die das ganze Volk einstimmig begehrt, ohne Unterschiede und Ausnahmen. Die Zeiten haben uns gezeigt, dass die Traditionen des bewaffneten, militärischen Kampfes um die Freiheit nicht verloren gegangen sind und bei der nächsten Gelegenheit mit ungehemmter Kraft hervorbrechen können. Die Zeit hat uns beigebracht, dass Begriffe wie polnische Staatlichkeit, polnische Staatsraison und polnische Kampfstärke, die so unklar erschienen, nichts von ihrer Frische und Kraft verloren haben und dass sie jederzeit Realität werden können.“39
Die Zeitung brachte den Glauben an eine mit dem Krieg verbundene Befreiung der Polen und die Wiedererlangung ihrer staatlichen Unabhängigkeit zum Ausdruck. Man blicke den kommenden Entwicklungen mit „ruhiger Zuversicht und Hoffnung“ entgegen: „Wird das kommende neue Jahr das letzte Jahr unserer Gefangenschaft sein – das lässt sich schwer sagen. Aber egal, wie es wird, eines ist sicher, es bringt uns viel schneller als seine Vorgänger der ersehnten Freiheit und nationalen Unabhängigkeit näher.“40
37 Vgl. Minna Lachs, Warum schaust du zurück. Erinnerungen 1907–1941, Wien 1986, S. 24. 38 Sprostowanie mylnych pogłosek [Richtigstellung der falschen Gerüchte], in: Gazeta Lwowska, 3.1.1913, S. 4. 39 Z nowym rokiem [Zum Neuen Jahr], in: Kurier Lwowski, 1.1.1913, S. 1. 40 Ebd.
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Im zweiten Artikel wurde der erwartete Wandel bereits im Titel angesprochen: Wie am Vorabend großer geologischer Eruptionen würde man im Inneren der Erde ein geheimnisvolles Sieden und die Arbeit starker Naturgewalten verspüren. Auch in den europäischen Gesellschaften hätten sich in den letzten Jahren die Symptome inneren Wandels verstärkt. Es mangele nicht an Erschütterungen und Tatsachen von großer Tragweite, die auf kommende gesellschaftliche und nationale Umwälzungen hindeuteten.41 Das Attentat von Sarajewo am 28. Juni 1914 löste in Lemberg und Galizien eine Welle von Spekulationen aus. Zwar zeigten sich viele Polen und auch Ukrainer durchaus nicht abgeneigt gegenüber einem Krieg zwischen Österreich-Ungarn und Serbien, da solch eine Entwicklung Bewegung in der Nationalitätenfrage versprach.42 Dennoch wurde das Attentat – abgesehen von den prorussischen Blättern43 – moralisch verurteilt. In der Gazeta Lwowska, die zum Presseorgan der österreichischen Machthaber wurde, bezeichnete der Rektor der Lemberger Universität am 11. Juli 1914 das Attentat als „eine schreckliche Tragödie“.44 Noch deutlicher proösterreichisch positionierte sich Dilo. Dieses Blatt verurteilte das Attentat nicht nur als ein „Verbrechen“, sondern geißelte in seinem Bericht über die Stimmung in Ungarn außerdem den großserbischen Expansionismus.45 Von staatlicher Presselenkung konnte hier keine Rede sein. Die Verurteilung Serbiens resultierte vielmehr aus dem Willen, sich durch die proösterreichische Parteinahme als loyal gegenüber der Habsburgermonarchie zu darzustellen. Sowohl Österreich-Ungarn als auch Russland hatten vor dem Kriegsausbruch strategische Pläne entwickelt, in denen Galizien einen wichtigen Platz einnahm. Dabei war der österreich-ungarische Generalstab davon ausgegangen, Galizien müsse gegen Russland mit etwa 30 Divisionen verteidigt werden, während an der serbischen Grenze mindestens zehn Divisionen benötigt würden. Weitere zwölf Divisionen sollten entsprechend der jeweiligen Prioritäten eingesetzt werden. Entweder sollte vorrangig Serbien vernichtet oder Russland angegriffen werden. Zu Beginn des Krieges, nach dem Abbruch der Beziehungen zu Serbien, fiel die Entscheidung zugunsten der ersten Option. Einige Tage später wurden die Truppen jedoch teilweise an die galizische Front zurückbeordert, um den russischen Angriff abzuwehren. Da die Truppen im entscheidenden Moment nicht zur Verfügung standen, musste die österreichisch-ungarische Heeresführung im Septem41 W przededniu wielkich zmian [Am Vorabend großer Veränderungen], in: Kurier Lwowski, 1.1.1913, S. 1. 42 Vgl. Christopher Mick, Kriegserfahrungen in einer multiethnischen Stadt. Lemberg 1914– 1947, Wiesbaden 2010, S. 69. 43 Die prorussische Słowo Polskie berichtete beispielsweise verhältnismäßig neutral über den Konflikt zwischen Österreich-Ungarn und Serbien, der aus dem Attentat resultierte. Die Zeitung zitierte dabei überwiegend andere Medien, ohne selbst direkt Stellung zu nehmen. Vgl. Zatarg Austro-Węgier z Serbją [Konflikt Österreich-Ungarns mit Serbien], in: Słowo Polskie, 14.7.1914, S. 1f. 44 Gazeta Lwowska, 11.7.1914, S. 1. 45 Sarayevs’kyy̆ zlochyn v ugors’kim parlyamentï [Verbrechen von Sarajewo im ungarischen Parlament], in: Dilo, 16.7.1914, S. 3f.
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ber 1914 eine empfindliche Niederlage in Galizien hinnehmen und sogar Lemberg aufgeben.46 Und obwohl Russlands stärkster Gegner nicht Österreich-Ungarn, sondern Deutschland war und die Kriegskoalition eine Abstimmung mit Frankreich notwendig machte, war Galizien in den russischen Kriegsplänen der wichtigste Kriegsschauplatz. Denn hier sollte der Durchbruch in Richtung des Osmanischen Reiches und der Meerengen erfolgen, von dem sich die russische Öffentlichkeit mehr versprach als von einem Sieg gegen Deutschland.47 Eine allgemeine Kriegsbegeisterung gab es in Galizien nicht. Wenn überhaupt, dann waren positive Signale ausschließlich in der polnischen und ukrainophilen Presse auszumachen, die offen mit der Doppelmonarchie sympathisierte. Doch auch hier überwogen eher nachdenkliche Töne. So erfuhren die Leser der Gazeta Lwowska am 28. Juli, dem Tag der Kriegserklärung an Serbien, dass von den Völkern der Habsburgermonarchie Opferbereitschaft erwartet werde: „Keiner wird doch zögern, sein Leben zu riskieren, um die Monarchie zu verteidigen […]. Natürlich war die Entscheidung, in den Krieg zu treten, nicht einfach. Kein verantwortlicher Staatsmann würde leichtsinnig einen solchen Entschluss gefasst haben.“48
Die jüdische Bevölkerung beging den Tag des Kriegsbeginns sehr feierlich. Die vor den Rathäusern der galizischen Städte und Schtetl versammelten Menschenmengen ließen Österreich und den Kaiser hochleben.49 In Tarnów trug man Kaiserbilder vor sich her und sang die österreichische und die polnische Hymne. In Lemberg hielt der Statthalter eine Rede für die vor seiner Residenz versammelten Menschen. Vor dem Sitz des Militärkommandos ertönte der Radetzky-Marsch.50 Unter den ukrainophilen Politikern machte sich Optimismus breit. Die Erfüllung ihrer nationalen Pläne schien in naher Zukunft möglich. Daher appellierten die Ukrainer an die Bevölkerung, militärische Einheiten zu bilden und die ukrainischen Schützen und Volkswehren zu mobilisieren.51 Mit Anspielungen auf den historischen Konflikt zwischen Russen und Ruthenen wurden antirussische Affekte geschürt: Endlich würde das „von Moskowitern geraubte ukrainische Land“ befreit. Die Ukrainer würden an der Seite der österreichisch-ungarischen Armee in den Kampf ziehen „für die Ehre und den Ruhm ihrer Armee und ihres obersten Befehlshabers, für die Westkultur, für das, was für sie am wertvollsten ist, die freie Heimat, die Ukraine […], die freie Ukraine, die unabhängige Staatlichkeit eines Volkes von 30 Millionen Menschen, eines unterdrückten und [...] leidenden Volkes, eines Volkes, das sich [...] aus einem jahrhundertelangen Schlaf erhebt.“52
46 Angelow, Der „Kriegsfall Serbien“, S. 317f. 47 Vgl. Janusz Pajewski, Pierwsza wojna światowa. 1914–1918 [Der Erste Weltkrieg. 1914– 1918], Warschau 1998, S. 198. 48 Gazeta Lwowska, 28.7.1914, S. 1. 49 Lachs, Warum schaust du zurück, S. 25. 50 Głos Narodu [Stimme der Nation], 31.7.1914, S. 3, und 1.8.1914, S. 2. 51 Holovnya Ukraïns’ka Rada dlya vseho Ukraïns’koho Narodu! [Ukrainischer Hauptrat an das ukrainische Volk!], in: Dilo, 6.8.1914, S. 1. 52 Viy̆ na za Ukraïnu [Krieg für die Ukraine], in: Dilo, 12.8.1914, S. 6.
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Da sich die Ukrainer seit Jahrhunderten im Konflikt mit dem Russischen Reich befanden, betrachten sie sich selbst als ausschlaggebenden Faktor im Ringen der beiden Großmächte Österreich-Ungarn und Russland. So schrieb Erzbischof Andrej Scheptyzkyj in einem Hirtenbrief vom 8. August 1914: „Jetzt kommt der Krieg zwischen unserem Kaiser und dem Moskauer Zaren. Der Krieg wird für uns geführt, weil der Moskauer Zar nicht dulden konnte, dass wir im österreichischen Staat die Religions- und Nationalitätenfreiheit haben. Er möchte uns diese Freiheit rauben und uns in Ketten legen!“53
Scheptyzkyj identifizierte Russland als Hort einer Knechtschaft, aus der man sich nur gewaltsam befreien könne. Sofort nach dem Kriegsbeginn wurden alle Russophilen aus dem öffentlichen Leben ausgeschlossen und viele von ihnen verhaftet. Dazu dienten Listen, die bereits in der Vorkriegszeit von der Polizei auf Weisung der Statthalterei verfertigt worden waren und alle verdächtigen politischen Aktivisten erfasst hatten.54 Die Marginalisierung der Russophilen ging mit Medienberichten einher, die die russische Regierung der Spionage und der paramilitärischen Aktivitäten gegen die Ukrainer beschuldigte.55 Natürlich führte das zu einer Verschlechterung der Beziehungen zwischen Ukrainern und Russen. Für die Ukrainer bestand nun die Möglichkeit, Rache zu nehmen und die Konflikte der Vorkriegszeit für sich zu entscheiden. Dabei inszenierten ukrainische Nationalisten eine Russophilen-Hysterie und stellten sich selbst als die „Garanten des Österreichertums“ dar.56 Diese Aktivitäten richteten sich insbesondere auf das Gebiet der mehrheitlich griechisch-katholischen Lemken, einem ruthenischen Gebirgsvolk, das im Bereich der niederen Beskiden siedelte und als russophil denunziert wurde: „Bei Kriegsbeginn haben die Lemken ungeduldig auf die schnelle Verwirklichung all dessen gewartet, was ihnen die Moskauer Agitatoren eingeflüstert haben. […] In den ersten Tagen der Mobilisierung waren die jungen Russophilen von Dorf zu Dorf gerannt und haben damit gedroht, den Ukrainern ein Blutbad zu bereiten.“57 Die gegen Russophile gerichteten Repressalien der österreichisch-ungarischen Militärverwaltung wurden von den meisten Ukrainern unterstützt. Sie fanden auch in die Erinnerungen derer Eingang, die nicht mit dem Militär verbunden waren. Matylda Sapieżyna wusste von „einer richtigen Psychose in der Armee“58 zu berichten. Die antirussische Propaganda und die Verfolgung der Russophilen war 53 Edward Prus, Władyka Świętojurski [Erzpriester vom Heiligen Jura], Warschau 1985, S. 46. 54 Vgl. Jerzy Z. Pająk, Od autonomii do niepodległości. Kształtowanie się postaw politycznych i narodowych społeczeństwa w Galicji w warunkach Wielkiej Wojny 1914–1918 [Von der Autonomie zur Unabhängigkeit. Ausdifferenzierung der politischen und nationalen Einstellungen in Galizien während des Ersten Weltkriegs, 1914–1918], Kielce 2012, S. 82. 55 Halychyna v chasï viy̆ ny, Lemkivshchyna [Galizien während des Kriegs, Lemkengebiet], in: Dilo, 14.8.1914, S. 6f. 56 Wendland, Die Russophilen in Galizien, S. 528. 57 Halychyna v chasï viy̆ ny, Lemkivshchyna [Galizien während des Kriegs, Lemkengebiet], in: Dilo, 14.8.1914, S. 6f. 58 Matylda z Windisch-Graetzów Sapieżyna, My i nasze Siedliska [Wir und unser Siedliska], Krakau 2003, S. 236.
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auch eine Antwort auf die panslawistische Propaganda von russischer Seite, welche die slawischen Völker Österreich-Ungarns als die „jüngeren Brüder eines großen Volkes“ bezeichnete. So versprach Großfürst Nikolai Nikolajewitsch Romanow, der Oberbefehlshaber der russischen Streitkräfte im Ersten Weltkrieg, den galizischen Slawen die „Befreiung von der feindlichen Regierung der Österreicher und die Verbindung mit Russland“.59 Die polnischen Zeitungen setzten in ihrer Berichterstattung zum Ausbruch des Krieges etwas andere Akzente. Sie hoben vor allem die Loyalität zum Hause Habsburg hervor, dem die polnische Bevölkerungsgruppe weitreichende Sonderrechte zu verdanken hatte. So appellierte die konservative Krakauer Czas am 29. Juli an das Ehr- und Dankbarkeitsgefühl der polnischen Bevölkerung Galiziens. Sie solle sich um das Wohlergehen jenes Staates sorgen, der ihnen die Möglichkeit gebe, sich zu ihrer polnischen Nationalität zu bekennen.60 Czas druckte Stellungnahmen bekannter Autoritäten, beispielsweise den Aufruf des polnischen Erzbischofs von Lemberg, Józef Bilczewski, vom 4. August 1914.61 Die nationale Presse appellierte an die Bevölkerung, „kaltes Blut zu bewahren“ und ihre Interessen nicht aus den Augen zu verlieren.62 Allerdings waren auch verhalten kritische Töne und Bedauern über den verlorenen Frieden zu vernehmen.63 Autoren von Flugblättern kritisierten das unüberlegte Hineinstolpern der Mittelmächte in den Krieg mit noch größerer Offenheit.64 In der galizischen Erinnerungsliteratur wird der Kriegsausbruch mit gemischten Gefühlen, oft durchaus auch mit Sorge kommentiert. Die jüdische Autorin Minna Lachs beispielsweise registrierte zwar eine anfängliche Euphorie, die dann aber schnell verflogen sei.65 In den Schtetln und Städten Galiziens und der Bukowina machte sich bald Panik breit. Mehr als die Hälfte der jüdischen Bevölkerung Galiziens flüchtete aus den frontnahen Gebieten in abgelegenere Gegenden oder gleich ins Innere der Donaumonarchie, oft nach Wien. Viele Juden wurden von der abziehenden österreich-ungarischen Armee evakuiert.66 Lachs berichtet, dass sie als Kind während ihrer Flucht aus Trembowla, einer Grenzstadt, nach Wien, oft den Schreckensruf „Die Kosaken kommen!“ vernommen habe. Dieser habe sie noch lange in ihren Alpträumen verfolgt.67 Zofia Romanowiczówna, eine in Lemberg ansässige polnische Lehrerin, die bereits am Januar-Aufstand 1863 teil59 60 61 62 63
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Pająk, Od autonomii do niepodległości, S. 91f. Czas, 29.7.1914, S. 1. Czas, 4.8.1914, S. 1. Zimnej krwi [Kaltes Blut], in: Głos Narodu, 28.7.1914, S. 1. Kurier Lwowski, 26.7.1914, S. 1. In der gleichen Zeitung wurden jedoch auch übertrieben optimistische Briefe einfacher Soldaten von ihren Siegen über die Russen abgedruckt, wie der Brief von Gustaw Daniłowski, der von seinem „grenzlosen Vertrauen in das Oberkommando der Armee“ schrieb. Kurier Lwowski, 29.8.1914, S. 3f. Vgl. Stanisław Domański (Hg.), Szrapnel: wydane pewnego pamiętnego sierpnia 1914 [Schrapnell: herausgegeben in einem unvergesslichen August 1914], Warschau 1914, S. 2. Lachs, Warum schaust du zurück, S. 25. Vgl. Beatrix Hoffmann-Holter, „Abreisendmachung“. Jüdische Kriegsflüchtlinge in Wien 1914 bis 1923, Wien 1995, S. 26. Lachs, Warum schaust du zurück, S. 30.
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genommen hatte, charakterisierte am 5. August 1914 die schwierige Lage der polnischen Soldaten: „Es ist passiert! Die Würfel sind gefallen – seit 3 Tagen Krieg […]. [F]ast alle europäischen Staaten mobilisieren ihre Soldaten. Unsere Soldaten sind Teil aller Armeen. Schrecklich! … Was passiert weiter[?] […] Vielleicht eine Katastrophe, oder vielleicht die Renaissance eines neuen schöneren Lebens […] Ich kann diese langen Schlangen von Menschen, die zur Schlachtbank geführt werden, nicht mehr sehen.“68
Maria Kasprowiczowa, Ehefrau eines Schriftstellers aus der Kleinstadt Poronin in der Tatra, vertraute ihrem Tagebuch an: „Gott, oh Gott! Es ist also wirklich ein europäischer Krieg ausgebrochen? Wahnsinn! [...] Für die Psyche des zeitgenössischen Menschen unverständlich. Aber tief im Bewusstsein müssen wir darin eine große, tragische Notwendigkeit sehen.“69
Der Führer der Volkspartei, Wincenty Witos, konstatierte eine proösterreichische und kriegsbejahende Einstellung der meisten Menschen polnischer Nationalität: „Bei Kriegsausbruch [...] stand der Großteil der polnischen Bevölkerung an der Seite des österreichischen Staates, ganz aus Überzeugung, ohne irgendwelche Schlussfolgerungen bezüglich der Zukunft zu ziehen. Alle waren übrigens überzeugt, dass der Krieg bei der heutigen Technik höchstens ein paar Monate dauern wird, nicht jeder ums Leben kommen wird, aber alle dabei verdienen, denn in der Regel war es so bei den Kriegen. […] Also der Kriegsausbruch [...] war gewissermaßen die Erfüllung der leisen Träume eines großen Teils der polnischen Gesellschaft.“70
Allerdings gab es durchaus auch Menschen, deren Einstellung zu Russland nicht eindeutig negativ und nicht ganz so kriegsbejahend war. So schrieb Maria Kasprowiczowa: „Wir erleben [...] tragische und große Momente. Jetzt oder nie! Polen muss ein Zeichen setzen, dass es lebt, damit die Geschichte seine Existenz nicht verschweigt, wenn sich die Landkarte Europas ändern wird. […] Obwohl sich kein Pole für Russland offen erklären kann, gibt es doch auch tiefe Sympathien mit den Russen. Russlands Polenpolitik ist gegen seine eigenen Interesen gerichtet gewesen. [...] Doch im Kampf gegen die dunklen Elemente der Reaktion und des Bösen können viele Russen den Polen die Hand reichen.“71
Angesichts der starken antirussischen Propaganda und der Siegeszuversicht in der Öffentlichkeit war es nicht ungefährlich, prorussische Einstellungen zu artikulieren.72 Die suggestive Kraft des Krieges wirkte wie eine Naturgewalt, von der 68 Zofia Romanowiczówna, Dziennik lwowski 1842–1930 [Lemberger Tagebuch 1842–1930], Bd. 2: 1888–1930, Warschau 2005, S. 251. 69 Maria Kasprowiczowa, Dziennik [Tagebuch], Warschau 1968, S. 151. 70 Wincenty Witos, Moje wspomnienia [Meine Erinnerungen], Warschau 1998, S. 357. 71 Kasprowiczowa, Dziennik, S. 151 72 Die Wiener Propaganda und die österreichfreundliche galizische Presse waren anscheinend sehr erfolgreich. Historiker Jan Dąbrowski beschrieb die Stimmung in Krakau im August 1914 wie folgt: „Alle treten gegen Russland ein. Der Slawophilismus fällt keinem im Traum ein! Das Heer ruhig, durch Krakau zogen Tausende von Soldaten. […] Alle glauben felsenfest, dass Russland geschlagen werden muss.“ Jan Dąbrowski, Dziennik 1914–1918 [Tagebuch 1914–1918], Krakau 1977, S. 33f.
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Konstanty Srokowski, ein polnischer liberaler Demokrat ukrainischer Herkunft, schrieb: „Der Krieg zog einen dicken und undurchdringlichen Vorhang zu und verdeckte damit die Wirklichkeit. […] Durch das Land ziehen unzählige Soldaten. […] Der Krieg kommt wie eine Sintflut-Welle, indem er alle Gefühle und alle Vorstellungen fortreißt. […] An den Waggons [, die an die Front fahren,] befindet sich die ganze Literatur, das ganze Volksepos dieses Krieges, mit all den Religionen, Täuschungen und mit all der Naivität. Ein Schuss – ein Russ, ein Tritt – ein Britt, ein Stoß – ein Franzos! – so äußert ein deutsches Bataillon seine Einstellung zum Krieg. Ein tschechisches Bataillon erzählt Witze über das russische Schwein. […] [Und] so weiter, endlos, Tag und Nacht, Nacht und Tag. Und die Menschen schauen sich das an, hören zu, lesen und wundern sich nicht darüber. […] So agiert die entfesselte Naturgewalt, indem sie alles und alle fortreißt. Irrenhaus, wenn man will, aber dies bedeutet auch den Ausbruch der unbekannten, geheimnisvollen Kräfte, die die Welt in etwas Neues verwandeln.“73
Der russische Sieg bei Lemberg Ende August 1914, die Räumung Lembergs am 2. September 1914 und die anschließende russische Offensive bis vor die Tore Krakaus und in den Karpaten ließen die Siegeszuversicht der meisten Ukrainer, Polen und Juden dahinschwinden. Bis zum 11. September waren 190 000 österreichisch-ungarische Soldaten tot oder verwundet, 130 000 in russische Gefangenschaft geraten. Die Armee sollte sich von diesem Blutzoll nicht mehr erholen. Aus Angst vor den vorrückenden russischen Truppen flohen viele Menschen aus ihren Wohnorten. Gerüchte über Grausamkeiten, die vor allem den Kosaken zugeschrieben wurden, verursachten bereits Ende August eine Massenflucht aus Lemberg. Als russische Verbände in die Stadt einzogen, hängten viele Lemberger russische Fähnchen und weiße Fahnen auf, um die Soldaten milde zu stimmen.74 Nach dem Einmarsch in Lemberg am 3. September verfolgte die russische Militärregierung das Ziel einer Annäherung Galiziens an Russland. Sie ließ die ukrainischen Vereine schließen, ordnete sich die polnische Stadtverwaltung unter und leerte das städtische Waffenlager. Die Russophilen wurden aufgefordert, die Galizier in ihren Zeitungen mit den russischen Verhältnissen vertraut zu machen und die russische Bevölkerung über Galizien zu informieren.75 Neben den Russophilen wollte man auch die polnische Bevölkerung durch Versprechungen für sich gewinnen – beispielsweise in Form eines von Großfürst Romanow verkündeten Manifests.76 Die Lemberger Presse übte sich in Zurückhaltung. So sprach der von der polnischen Volksbewegung getragene Kurier Lwowski sogar von einem ruhigen und hoffnungsvollen Empfang der russischen Militärverwaltung durch die Lemberger Bevölkerung, wobei er die schwierige Lage der Bevölkerung akzentu73 Zitiert nach Pająk, Od autonomii do niepodległości, S. 55f. 74 Mick, Kriegserfahrungen, S. 78 und 81f. 75 Wendland, Die Russophilen in Galizien, S. 551 und 554f.; Józef Białynia-Chołodecki, Wspomnienia z lat niedoli i niewoli. 1914–1918 [Erinnerungen aus den Unglücks- und Gefangenschaftsjahren. 1914–1918], Lemberg 1919, S. 7f.; Andrzej Bonusiak, Lwów w latach 1918– 1939. Ludność – przestrzeń – samorząd [Lemberg zwischen 1918–1939. Bevölkerung – Raum – Verwaltung], Rzeszów 2000, S. 84. 76 Vgl. Stanisław Maciszewski, Rosjanie we Lwowie. szkic z niedawnej przeszłości [Russen in Lemberg. Skizze aus der jüngsten Vergangenheit], Lemberg 1926, S. 9.
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ierte.77 Der Erinnerungsliteratur zufolge war die Atmosphäre äußerst angespannt. So schrieb die Lehrerin Zofia Romanowiczówna am 20. September 1914: „Große, schreckliche Veränderungen sind eingetreten. Wir sind unter der Knute Russlands! […] Patrouillen erschienen auf dem Bernardiner Platz und auf dem Markt. […] Seltsame, unbeschreiblich schwere Tage …, der Kampf fand gleich neben Lemberg statt, an einer unglaublich langen Linie – Hunderttausende Menschen auf beiden Seiten fielen, wurden verletzt und getötet … Schrecklich! Ein Mal anderthalb Tage und die ganze Nacht hörten wir das unendliche Dröhnen der Kanonen und Donnern der Maschinengewehre. Wir fürchteten die Bombardierung der Stadt. […] Die Soldaten benahmen und benehmen sich bisher ganz anständig und höflich. Einige unvermeidliche Exzesse werden sofort bestraft. Es herrscht Ordnung. Die Verordnungen sind vernünftig und meist richtig. [...] Aber diese grausamen Militärgerichte für belanglose Vergehen. […] Überall gibt es an den Wänden immer mehr neue Bekanntmachungen, Befehle, Verbote, in zwei Sprachen.“78
Die russische Besatzung traf die Bewohner Galiziens unerwartet, in ihren Erinnerungen spiegelte sich vielfach die Angst. Viele Bürger Lembergs hatten nicht nur Furcht um sich selbst, sondern auch um ihre Stadt. Die meisten polnischen und ukrainischen Ego-Dokumente berichten jedoch positiv vom Einmarsch der russischen Armee. Dies lag insbesondere daran, dass die russischen Ausschreitungen – meist von Kosaken verübt – vor allem die jüdische und ländliche Bevölkerung außerhalb der Stadt betrafen. Die russische Militärverwaltung registrierte nach der Besatzung Ostgaliziens und Lembergs eine zurückhaltende Einstellung der Ukrainophilen, eine abwartende, aber nicht grundsätzlich feindliche der Polen und Juden.79 Viele Lemberger arrangierten sich mit der schwierigen Situation, indem sie Handelsbeziehungen mit den Russen aufnahmen. Sie verkauften Waren bis nach Kiew und Odessa. Das Schicksal der Lemberger wurde auch durch die fürsorgliche und vermittelnde Haltung des ehemaligen stellvertretenden polnischen Stadtpräsidenten, Tadeusz Rutowski, erleichtert, der nach dem 3. September die Aufgaben des geflohenen Präsidenten übernommen hatte.80 Enttäuscht zeigten sich die Russophilen. Sie konnten sich zwar zu den Siegern zählen, erfuhren aber nur wenig Zuwendung. Die neuen Machthaber nahmen nur wenig Rücksicht auf ihre „jüngeren Brüder“ und bezogen sie bei der Verteilung der Pfründe nicht ein. Dies betraf auch die begehrten Posten in der neuen galizischen Militärverwaltung.81 Polen, Ukrainophile und Russophile mussten sich angesichts der angespannten Beziehungen zwischen Russland und Österreich-Ungarn neu positionieren. Gleichzeitig hatten sie an der vergifteten politischen Kultur mit ihren Pressebeiträgen einen nicht unwesentlichen Anteil. Der Krieg bedeutete für sie die potenzielle Erfüllung ihrer Hoffnungen. Jedoch hing ihre Situation letztlich davon ab, wer gerade die Vormachtstellung in Galizien hatte und wie der bisherige Ruf bzw. die bisherige politische Orientierung der jeweiligen Bevölkerungsgruppe war. 77 78 79 80 81
Kurier Lwowski, 8.9.1914, S. 1. Romanowiczówna, Dziennik lwowski, S. 252. Ebd., S. 84 und 81f. Maciszewski, Rosjanie we Lwowie, S. 12–14. Nowa Reforma [Neue Reform], 26.1.1915, S. 1; Wendland, Die Russophilen in Galizien, S. 551 und 554f.
EINE LÄSTIGE GARANTIE Die belgische Neutralität in den deutschen und französischen Kriegsszenarien Christoph Brüll und Christophe Bechet Ein „Fetzen Papier“ – mit diesem verächtlichen Ausdruck bedachte ein zweifelnder und aufgebrachter Reichskanzler Bethmann-Hollweg den „Vertrag der 24 Artikel“, als er den Grund für den Eintritt Großbritanniens in den Krieg erfuhr. Der am 19. April 1839 in London unterzeichnete Vertrag hatte die belgische Neutralität unter die Garantie der fünf damaligen Großmächte Frankreich, Österreich, Preußen, Russland und Großbritannien gestellt. Die Worte Bethmann-Hollwegs, die der englische Botschafter in Berlin Sir William Edward Goschen überliefert hat,1 wurden von der Kriegspropaganda immer wieder ausführlich bemüht. Waren sie nicht der unwiderlegbare Beweis, dass Frankreich und Großbritannien von Anfang an einen Krieg des Rechts und der Zivilisation gegen die Barbaren von der anderen Rheinseite führten? Sieht man jedoch genauer hin, dann wurde der Vertrag, auf den sich Großbritannien bei seinem Kriegseintritt berief, im Milieu der europäischen Diplomatie und von den Belgiern selbst schon seit Langem als ein recht unklares Dokument betrachtet, das mehrere Interpretationen zuließ. So bestimmte Artikel 7 nur, dass Belgien ein „unabhängiger und dauerhaft neutraler Staat“ und dazu angehalten sei, „diese Neutralität gegenüber allen anderen Staaten zu wahren“,2 während die 24 Artikel in ihrer Gesamtheit unter der „Garantie der erwähnten Majestäten“ standen.3 Der internationale Status des kleinen Königreichs beruhte integral auf diesen wenigen Worten. Wie in zahlreichen Verträgen der damaligen Zeit üblich, hatten die Signatarmächte es nicht für opportun gehalten, die Art der Garantie zu spezifizieren. Bedurfte eine bewaffnete Intervention zum Schutz der belgischen Neutralität der Zustimmung aller Signatarmächte, oder konnte jede Großmacht dieses Recht getrennt – und mehr oder weniger automatisch – für sich in Anspruch neh1
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Goschen an Sir Edward Grey, Berlin, 6.8.1914, in: George Peabody Gooch, Harold Temperley (Hg.), British Documents on the Origins of the War 1889–1914, Bd. XI: The Outbreak of War, Foreign Office Documents. June 28th–August 4th 1914, London 1926, Nr. 671, S. 350– 354, hier S. 351. Traité entre la Belgique et la Hollande, relatif à la séparation de leurs territoires respectifs, signé à Londres, le 19 avril 1839, in: Université de Perpignan, Digithèque des matériaux juridiques et politiques, URL: http://mjp.univ-perp.fr/constit/be1839.htm [6.8.2014]. Traité entre la France, l’Autriche, la Grande-Bretagne, la Prusse et la Russie, d’une part, et les Pays-Bas de l’autre part, relatif à la séparation de la Belgique d’avec les Pays-Bas conclu et signé à Londres le 19 avril 1839, in: ebd.
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men? Mit anderen Worten: Handelte es sich um eine gemeinsame oder eine getrennte Garantie? Die Meinungen dazu gingen je nach Interessenlage auseinander. Auch die für eine unparteiische Expertise hinzugezogenen Juristen lieferten zumeist eine voreingenommene Interpretation.4 Die Politische Abteilung im Brüsseler Außenministerium war von dieser juristischen Unklarheit naturgemäß besonders betroffen. Schließlich ist, nach der umstrittenen Terminologie Carl Schmitts, eine der wesentlichen Aufgaben der politischen Macht, besonders in Krisenzeiten, klar und schnell den Freund vom Feind zu unterscheiden.5 Aufgrund der Unklarheiten über den internationalen Status Belgiens war diese klare Unterscheidung von den militärischen und zivilen Behörden sine die vertagt worden. Schließlich hing sie vollständig von den Kriegsplänen der Großmächte ab, die bis zum letzten Augenblick geheim bleiben würden. Zu dieser Schwierigkeit kam, dass die Form der Garantie unklar war. So fürchtete die Politische Abteilung im Außenministerium, dass Deutschland und Frankreich ihre Garantie als automatisch erachten und sich somit im Recht glauben könnten, ihre Truppen ohne explizite Aufforderung nach Belgien zu schicken. Eine genauso problematische Situation wäre für Brüssel eine doppelte Invasion gewesen, d.h. die ungefähr gleichzeitige Feststellung eines Einmarschs deutscher und französischer Truppen in Belgien. Wie hätten in diesem Fall der Aggressorund/oder Übertreterstaat mit Sicherheit bestimmt werden können?6 DER BELGISCHE PLAN Es mag überraschend erscheinen, aber theoretische Überlegungen zu den verschiedenen Szenarien, denen Belgien sich im Kriegsfall ausgesetzt sehen könnte, gab es erst mit der Krise von Agadir, also sehr spät. Am 16. September 1911 fand dazu in Brüssel eine Sondersitzung statt. Der belgische Außenminister Julien Davignon und seine wichtigsten Mitarbeiter prüften die Haltung, die Belgien im Falle einer deutschen Verletzung seiner Neutralität einnehmen sollte. Fast schon prophetisch war die Annahme der hohen Beamten, dass die kaiserliche Regierung Belgien wahrscheinlich um ein Durchzugsrecht für ihre Truppen ersuchen werde. Für alle Sitzungsteilnehmer war es selbstverständlich, dass ein 4
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Daniel H. Thomas, The Guarantee of Belgian Independence and Neutrality in European Diplomacy. 1830–1930’s, Rhode Island 1983, S. 49f. Zur Auslegung des Neutralitätsvertrags durch die Garantiemächte siehe Horst Lademacher, Die belgische Neutralität als Problem der europäischen Politik. 1830–1914, Bonn 1971; ders., Belgien als Objekt und Subjekt europäischer Außenpolitik, in: Revue Belge d’Histoire Contemporaine 35 (2005) 4, S. 457– 502; Jonathan E. Helmreich, Belgium and Europe. A Study in Small Power Diplomacy, Den Haag 1976. Carl Schmitt, Politische Theologie. Vier Kapitel zur Lehre von der Souveränität, München 1922. Marie-Thérèse Bitsch, La Belgique entre la France et l’Allemagne 1905–1914, Paris 1994; Dimitri Laureys, De ketenen van de neutraliteit. Militaire strategie in België in het licht van een Frans-Duitse oorlog 1905–1914, Masterarbeit, Brüssel 2010.
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derartiges Ersuchen nur abgelehnt werden könne. Damit wäre jedoch nur ein Teil des Problems gelöst. Es bliebe zu bestimmen, wie die Zusammenarbeit mit Frankreich und Großbritannien auszusehen habe, Russland und Österreich seien weitgehend aus dem Spiel. Der Generaldirektor der Politischen Abteilung, Léon Arendt, hielt es für wesentlich, eine Besetzung der belgischen Festungen durch die französische Armee oder eine Präventivbesetzung der Häfen von Antwerpen und Zeebrügge durch die Briten unter dem Scheinvorwand des Schutzes von poor little Belgium zu vermeiden. Alle Teilnehmer drückten den Wunsch aus, dass die Truppen der Garantiemächte das belgische Staatsgebiet nur nach der vorherigen Unterzeichnung verbindlicher Konventionen betreten dürften. Arendt solle dazu eine Denkschrift ausarbeiten, um die Regierung zu einem passenden Zeitpunkt vom Gebot einer solchen Politik der „ungebundenen Hände“ zu überzeugen. Diese 63seitige Denkschrift wurde Ende November 1911 fertiggestellt.7 Arendt bedachte in diesem Dokument ebenfalls die Möglichkeit der doppelten Invasion, die er „wilde Invasion“ nannte. Dabei verwarf er die Idee, dass Belgien sich gegen beide Aggressoren zur Wehr setzen müsse. Ein solches Handeln erschien ihm absurd, da das Land nicht die Mittel für eine solche Politik besaß. Die beste Lösung bestand in seinen Augen in der Errichtung eines defensiven Vorhangs, der die nicht durchquerten Provinzen schützen sollte, und im schrittweisen Rückzug in das réduit national von Antwerpen für den Fall, dass eine der kriegführenden Parteien die Maas überschritt. Um seine politischen Betrachtungen den letzten militärischen Planungsszenarien anzupassen, forderte Arendt vom Kriegsministerium und vom Generalstab einen Vermerk zur Haltung der Armee im Falle eines deutsch-französischen Krieges an. Es gingen ihm zwei Dokumente zu: ein Vermerk des Direktors der militärischen Operationen, Generalmajor Ceulemans, und einer aus der Feder von Oberstleutnant im Generalstab Louis de Ryckel. Ceulemans zählte in seiner Studie neun casus auf, die in drei großen deutschen Angriffsszenarien synthetisiert werden können: durch den Limburger Zipfel bei Maastricht, durch den Luxemburger Zipfel oder über die beiden Maasufer.8 Das zweite Dokument war Teil einer eher unorthodoxen Studie, die de Ryckel schon im Winter 1909/10 angefertigt hatte, als er an einer allgemeinen Denkschrift zur Verteidigung Belgiens arbeitete. Darin hatte er zahlreiche Neuerungen vorgeschlagen. Die Wichtigste war, die Feldarmee nahe der bedrohten Grenze zu konzentrieren. De Ryckel ging davon aus, dass es dank der Informationen belgischer Diplomaten möglich sein werde, im Voraus zu bestimmen, wer der Feind sein würde, und so rasch eine geeig7
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In mehreren maschinengeschriebenen Exemplaren bildete dieses Dokument eine wichtige Arbeitsgrundlage für die verschiedenen Sitzungen Anfang August 1914, an denen König Albert I., seine hochrangigsten Generäle und die Minister teilnahmen. Die Denkschrift wurde ediert und einer minutiösen Analyse unterzogen von Henri Haag, Le mémoire de Léon Arendt et les Conseils des ministres d’août 1914, in: Bulletin de la Commission Royale d’Histoire 174 (2008), S. 167–257. Vermerk von Generalmajor Benjamin-Antoine Ceulemans, Generaldirektor der militärischen Operationen, 24.9.1911, in: Archives du Ministère des Affaires Étrangères, Brüssel (MAEB), Indépendance, Neutralité, Défense (IND), IX.
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nete Position einzunehmen.9 Bezeichnenderweise nahm ein Kriegsszenario gegen Deutschland den meisten Raum in de Ryckels Studie ein. Falls Deutschland Belgien angreifen würde, so würde es sich selbst verteidigen: „Wenn Deutschland die belgischen Truppen übersieht, würden sie in Richtung Aachen marschieren.“10 Arendts Reaktion auf die beiden Vermerke war bemerkenswert. Er betrachtete vor allem den Vorschlag de Ryckels als unrealistisch, eine Offensive gegen Aachen zu starten, wenn die deutschen Truppen die belgische Armee übersehen würden. Darüber hinaus war der Generaldirektor der Politischen Abteilung enttäuscht, keine Referenz an die Möglichkeit eines französischen Angriffs im Hennegau und in Flandern zu sehen, dessen Ziel Brüssel sei.11 Tatsächlich war das Szenario einer französischen Invasion von den belgischen Generalstabsoffizieren seit dem Ende des 19. Jahrhunderts vernachlässigt worden.12 Dieser Mangel an Koordination zwischen den politischen Ansichten im Außenministerium und den Plänen im Generalstab dauerte im Juli 1914 noch an. Zu diesem strukturellen Problem kam ein Mangel an doktrinaler Kohärenz bis in den Generalstab hinein. Dieser war in zwei Denkschulen gespalten: einerseits die Anhänger einer zentralen Position der Feldarmee, in kurzer Distanz zum Lagerplatz Antwerpen, andererseits die Anhänger einer größeren Mobilität der Feldarmee im Hinblick auf bedrohte Grenzabschnitte. Sprecher dieser zweiten Gruppe war niemand anderes als der energische Louis de Ryckel, der im Juli 1914 als stellvertretender Generalstabschef amtierte, also dritter Mann in der militärischen Hierarchie hinter Generalstabschef Generalleutnant Ritter Antoine de Selliers de Moranville und König Albert I. war. Nur zwei Monate nach seiner Ernennung erwies sich Antoine de Selliers de Moranville, anders als sein Stellvertreter, als entschiedener Verfechter des Prinzips der Konzentration der Feldarmee im Landesinneren. Sein Untergebener Louis de Ryckel wurde jedoch vom Militärberater des Königs, Émile Galet, diskret unterstützt. Die Quellen geben keinen expliziten Aufschluss über die Meinung des Königs zum belgischen Kriegsplan. Seinem Berater zufolge tendierte der König aber eher zum Prinzip einer Verteidigung in Grenznähe.13
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Louis de Ryckel, Mémoires du Lieutenant Général Baron de Ryckel, Sous-chef d’État-Major de l’Armée belge en 1914 puis chef de la Mission militaire belge au Grand Quartier Général des Armées impériales de Russie, Paris 1920, S. 126–139. Ebd., S. 131. Bitsch, La Belgique entre la France et l’Allemagne, S. 433–435. Die letzte, in den Archiven entdeckte Studie zu diesem Problem stammt aus den Jahren 1895/96: „Hypothèse d’une invasion directe de notre pays par l’armée française“, in: Musée Royal de l’Armée et d’Histoire Militaire, Brüssel (MRA), Moscou, 1106, Direction supérieure du Corps d’état-major. Für weiterführende Informationen zu den belgischen Plänen, siehe Christophe Bechet, Pre-War Planning in Belgium, in: Oliver Janz, Nicolas Apostolopoulos (Hg.), 1914–1918-Online. International Encyclopedia of the First World War, Berlin, URL: http://www.1914-1918-online.net, im Erscheinen. Die Gegenüberstellung der Erinnerungen von Galet, de Selliers de Moranville und de Ryckel ist eine gute Übung in Quellenkritik. Noch Jahre nach den Ereignissen verteidigten die drei Offiziere mit Zähnen und Klauen ihre damaligen strategischen Entscheidungen. De Ryckel, Mémoires; Antoine de Selliers de Moranville, Contribution à l’histoire de la guerre mondiale
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Die Kontroverse dauerte noch während der ersten Stunden der Mobilmachung an und spitzte sich durch die Unentschiedenheit des Generalstabs bis zum 2. August um 19 Uhr, also bis zur ultimativen deutschen Forderung nach einem Durchzugsrecht, noch zu. Bis zu diesem entscheidenden Zeitpunkt war es unmöglich gewesen, sich kategorisch für die zu verteidigende Grenze auszusprechen und somit für einen Ort, an dem die Armee nach dem Ende der Mobilmachung konzentriert werden sollte. Seit dem 29. Juli war für die Armee die letzte Stufe vor der Mobilmachung – pied de paix renforcé14 – ausgerufen worden. Ohne die Verpflichtungen der Neutralität noch zu beachten, hatte Generalleutnant de Selliers de Moranville am 30. Juli dem König seinen Plan I vorlegt, konzipiert für einen Krieg mit Deutschland.15 Der Plan sah eine Konzentration der Truppen in einer resolut nach Osten ausgerichteten zentralen Position vor, nämlich dem Viereck Sint-Truiden/Eghezée/Hoegaarden/Tienen. Der Generalstabschef erklärte, dass somit „die Feldarmee nicht in Gefahr gerät, im Falle eines plötzlichen Angriffs einer deutschen Armee, der aus der limburgischen Maas (Maastricht) oder aus jedem anderen Punkt der belgischen Maas geführt würde, von Antwerpen abgeschnitten zu werden.“16 Galet kritisierte sehr heftig die „Sorge, die den General umtrieb“,17 die Armee eng im Herzen des Landes zu massieren, um sie einer deutschen Attacke zu entziehen. Sie implizierte die Evakuierung der Hälfte des Staatsgebiets und überließ den Besatzungen der Forts und den Festungsbataillonen die Verteidigung von Lüttich und Namur. Laut de Selliers de Moranville stimmte Albert I. den Prinzipien seines Plans I unter der Bedingung zu, die Position der Konzentration nach Westen zu verlegen, da er sie als zu offensichtlich gegen Deutschland gerichtet betrachtete.18 Die Erinnerung des Generalstabschefs unterscheidet sich an diesem Punkt erheblich von derjenigen des Militärberaters des Königs. Laut Galet habe der König sich bei diesem Gespräch damit begnügt, die Beibehaltung der Divisionen an ihrem Platz zu fordern, bis ein Gegner erkennbar werde. Gleichzeitig habe er de Selliers de
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(1914–1918), Brüssel 1933; Émile Galet, S.M. le Roi Albert, commandant en chef devant l’invasion allemande, Paris 1931. Das kommt einer Teilmobilmachung gleich. In der deutschen Terminologie kann von „Kriegsgefahrzustand“ gesprochen werden. Laut de Selliers de Moranville, dem Chef des Generalstabs, waren noch zwei weitere Pläne vorbereitet worden: ein Plan II für den Fall eines Krieges mit Frankreich und ein Plan III für den Fall der Unsicherheit bezüglich des Aggressors. Die Gründe, die de Selliers de Moranville mehrere Tage vor dem Ultimatum dazu brachten, von einem deutschen Angriff auszugehen, werden in seinen Erinnerungen nicht erörtert. De Selliers de Moranville, Contribution à l’histoire de la guerre mondiale, S. 104f.; ders., Du Haut de la Tour de Babel, Paris 1925, S. 197–201. Ebd., S. 197. Übersetzung der Autoren. Galet, S.M. le Roi Albert, S. 54. De Selliers de Moranville, Contribution à l’histoire de la guerre mondiale, S. 131–135. Es ist überdies nicht unmöglich, dass Albert I. weiterhin eine französische Präventivbewegung im Bereich des Flusses Semois fürchtete. Siehe dazu den Hinweis auf sein Gespräch mit dem deutschen Militärattaché Robert von Klüber im Mai 1914, in: Berliner Monatshefte 8 (1930), S. 795f.
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Moranville geraten, alles zu vermeiden, was vom Kaiserreich als unfreundliche Maßnahme betrachtet werden könne, so z.B. die vorgesehenen Zerstörungsmaßnahmen auf den grenzüberschreitenden Eisenbahnlinien.19 Deshalb sei der König, laut Galet, „fassungslos“ gewesen, als er am 1. August – dem ersten effektiven Tag der belgischen Mobilmachung – den überarbeiteten Plan I erhalten habe, da das vorgesehene Dispositiv20 nunmehr jede Möglichkeit einer schnellen Zusammenziehung der Armee in Richtung der bedrohten Grenze ausschloss. Um jedoch den in Gang gesetzten Ablauf nicht zu beeinträchtigen, habe der König sich entschlossen, den Plan zu akzeptieren, dabei jedoch dessen größten Nachtteil zu korrigieren: Der Chef des Generalstabs erhielt über den Kriegsminister den Auftrag, die 3. Armeedivision in Lüttich und die 4. Armeedivision in Namur zu halten.21 Zu diesem Zeitpunkt war die Spannung in Brüssel auf ihrem Höhepunkt, da der Feind immer noch nicht bekannt war. Die Wolken türmten sich jedoch im Osten auf, da die Wilhelmstraße im Gegensatz zum Quai d’Orsay, der den Respekt der belgischen Neutralität zugesichert hatte, falls diese nicht von einer feindlichen Macht verletzt werde,22 auf dilatorische Maßnahmen setzte.23 Wie dem auch sei, Albert I. „wollte sich keinem Vorwurf aussetzen und seine Haltung nur auf der Grundlage überprüfter Tatsachen anpassen“.24 Darüber hinaus – und dies hat die französische Historiographie oft verschwiegen – wollten Albert I. und die Politische Abteilung im Außenministerium die Neutralitätspolitik auch dann fortsetzen, wenn eine der Signatarmächte sie verletzte. Die offizielle Position – klar definiert im November 1911 in der Denkschrift von Léon Arendt – war, dass die Verletzung der belgischen Neutralität durch eine der Signatarmächte des „Vertrags der 24 Artikel“ nicht automatisch ein Bündnis mit den anderen Mächten, die Belgien zu Hilfe kämen, nach sich ziehen würde.25 Das Ministerium stützte sich unter anderem auf Artikel 10 des ersten Kapitels der Konvention bezüglich der Rechte und Pflichten der Mächte und der neutrale Personen (Schlussakte der zweiten Friedenskonferenz in Den Haag, 1907), der festlegte: „Die Tatsache, dass eine neutrale Macht einen Angriff auf ihre Neutralität, selbst mit Gewalt, zurück19 Christophe Bechet, Traverser la Belgique? De l’Indépendance au Plan Schlieffen (1839– 1905), Diss., Lüttich 2012, S. 939–950. 20 Nämlich: 1. Armeedivision in Tirlemont; 5. Armeedivision in Perwez; 2. Armeedivision in Löwen; 6. Armeedivision in Wavre, 4. Armeedivision bei Namur; 3. Armeedivision bei Tongeren und die Kavalleriedivision in Gembloux. Vgl. de Selliers de Moranville, Contribution à l’histoire de la guerre mondiale, S. 145. 21 Galet, S.M. le Roi Albert, S. 53–56. 22 Der französische Gesandte Antony Klobukowski hatte mündlich eine Einschränkung überbracht: „Sollte diese Neutralität von einer andern macht nicht geachtet werden, so könnte sich die französische Regierung veranlaßt sehen, ihre Stellung zur Sicherung ihrer eigenen Verteidigung zu ändern.“ Davignon an die Königlichen Gesandten in Berlin, Paris und London, 1.8.1914, in: Livre gris belge. Correspondance diplomatique du Ministère des Affaires étrangères du Royaume de Belgique relative à la guerre de 1914, 24 juillet–29 août, Bern 1914, Nr. 15, S. 23f. 23 Ebd., Nr. 13 und 14, S. 23. 24 Galet, S.M. le Roi Albert, S. 39. 25 Haag, Le mémoire de Léon Arendt, S. 212–225.
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drängt, kann nicht als eine feindliche Handlung betrachtet werden.“26 Dies bedeutete konkret, dass Belgien nicht verpflichtet war, dem Aggressor den „Krieg“ zu erklären. Dies tat es dann auch während des gesamten Konflikts nicht und war damit offiziell kein Alliierter der französisch-britischen Entente, sondern einfacher Mitkriegführender (co-belligérant). Diese rigorose Interpretation des Völkerrechts war nach der Versetzung der Armee in den pied de paix renforcé genauestens eingehalten und innerhalb der Truppe verbreitet worden. So erinnerte noch am 31. Juli 1914 der Kabinettschef und diensttuende Kriegsminister Charles de Broqueville gegenüber Generalleutnant Gérard Leman an die praktischen Konsequenzen des Artikels 10: „Es resultiert also daraus, dass ein neutraler Staat, der die Truppen einer ausländischen Macht angreift, die in sein Territorium eingefallen sind, sich nicht im Kriegszustand mit dieser Macht befindet, es sei denn, diese weitet die Kampfhandlungen außerhalb des neutralen Gebietes aus. Die Theorie, nach der wir die Verbündeten einer Macht seien, die unsere Staatsgrenze übertritt, nachdem sie durch eine andere Macht verletzt worden ist, ist also falsch. Folglich ist es notwendig, außer es geht Ihnen ein gegenteiliger Befehl zu, alle Truppen aus unserem Staatsgebiet zu drängen, die in es eingedrungen sind, gleich welche Macht als erste einen Einfall durchgeführt hat.“27
Um den Status eines einfachen Mitkriegführenden zu behalten, waren die belgischen Behörden entschlossen, jede militärische Operation zurückzuweisen, die nicht eng mit der Verteidigung des Staatsgebiets verknüpft war, und jede Besetzung der Forts durch alliierte Truppen zu verhindern. DIE ROLLE DER BELGISCHEN NEUTRALITÄT IN DEN DEUTSCHEN UND FRANZÖSISCHEN KRIEGSPLÄNEN Angesichts der zunehmenden Anspannung während der beiden vorherigen Tage wurde die Übergabe des deutschen Ultimatums am Abend des 2. August in Brüssel mit einer gewissen „Erleichterung“ aufgenommen.28 Auch offiziell wusste man nun, wer der Feind war. Zwar waren die in dem Ultimatum formulierten deutschen Vorschläge für die belgische Seite vollkommen unannehmbar. Dennoch zeugen sie davon, dass man in Berlin noch eine geringe Hoffnung hegte, Brüssel von einem Abkommen zu überzeugen. So spielte der Text unter anderem mit der Ambivalenz des Garantievertrags von 1839:
26 Davignon an die Missionschefs aller Länder, mit denen Belgien diplomatische Beziehungen unterhält, 5.8.1914, in: Livre gris belge, Nr. 44, S. 43f. 27 De Broqueville an Generalleutnant Leman, 31.7.1914, in: MRA, Moscou, 5413. 28 Galet schreibt beispielsweise, dass es für ihn „eine große Erleichterung“ gewesen sei, dass „der Feind seine Maske hatte fallen lassen […] wir konnten ihm nun beherzt entgegentreten.“ Galet, S.M. le Roi Albert, S. 41. Der belgische Diplomat Albert de Bassompierre erwähnt das gleiche Gefühl nervöser Entspannung, dass das Ultimatum bei ihm verursacht habe. Albert de Bassompierre, La nuit du 2 au 3 août 1914 au ministère des Affaires étrangères, Paris 1916, S. 13 und 29.
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Christoph Brüll und Christophe Bechet „Der K. Regierung liegen zuverlässige Nachrichten vor über den beabsichtigten Aufmarsch französischer Streitkräfte an der Maasstrecke Givet-Namur. Sie lassen keinen Zweifel über die Absicht Frankreichs durch belgisches Gebiet gegen Deutschland vorzugehen. Die K. Regierung kann sich der Besorgnis nicht erwehren, daß Belgien trotz besten Willens nicht imstande sein wird, ohne Hilfe einen französischen Vormarsch mit so großer Aussicht auf Erfolg abzuwehren, daß darin eine ausreichende Sicherheit gegen die Bedrohung Deutschlands gefunden werden kann.“29
Die Bestürzung, mit der einige deutsche Diplomaten auf die kategorische Zurückweisung durch die belgischen Regierung reagierten, zeigte, dass man in Deutschland das „stolze und noble“ Festhalten der Belgier an ihrer Neutralität unterschätzt hatte. Der deutsche Gesandtschaftssekretär Ferdinand von Stumm konnte seine Überraschung gegenüber dem Legationssekretär der Vereinigten Staaten in Brüssel nicht verbergen: „Oh, diese armen Narren! Warum gehen sie der Dampfwalze nicht aus dem Weg? Wir wollen ihnen nicht weh tun, aber wenn sie sich uns in den Weg stellen, werden sie dem Erdboden gleichgemacht. Oh, die armen Narren!“30. Die Bedeutung der belgischen Neutralität im eigentlichen deutschen Kriegsplan ist aufgrund der Zerstörung eines Großteils der entsprechenden Quellen am Ende des Zweiten Weltkriegs bis heute von Geheimnissen umgeben. Die Kurzbeschreibungen der vor einigen Jahren in Freiburg entdeckten deutschen Aufmarschpläne31 erlauben es jedoch, die Idee zu relativieren, nach der die Verletzung der belgischen Neutralität in den Plänen Alfred von Schlieffens und seines Nachfolgers Helmuth von Moltke d.J. ein Automatismus geworden wäre. In der Ära Moltke d.J., genau wie in der seines Vorgängers beinhaltete der Aufmarschplan immer eine, manchmal zwei oder drei Varianten. So zog Moltke beispielsweise 1909/10 bei einer seiner Varianten einen „Großen Ostaufmarsch“ in Betracht, d.h. einen massiven Aufmarsch gegen Russland und, in Vorhersage einer französischen Neutralität, ein simples Sicherheitsdispositiv im Westen.32 Er war also weit davon entfernt, seine Vorbereitungen auf eine Offensive auf den Westen zu beschränken. Erst im April 1913, nach der Balkankrise vom Dezember 1912, rückte er, nunmehr offensichtlich vom unverbrüchlichen Charakter des französisch-russischen Bündnisses überzeugt, von der Vorstellung ab, dass ein Krieg auf eine Front beschränkt bleiben würde.33 Letztlich können nur die Pläne 29 Der Staatssekretär des Auswärtigen an den Gesandten in Brüssel, 29.7.1914, in: Max Montgelas, Walter Schücking (Hg.), Die deutschen Dokumente zum Kriegsausbruch. Vollständige Sammlung der von Karl Kautsky zusammengestellten amtlichen Aktenstücke mit einigen Ergänzungen, Bd. 2: Vom Eintreffen der serbischen Antwortnote in Berlin bis zum Bekanntwerden der russischen allgemeinen Mobilmachung, Berlin 1919, Nr. 376, S. 98–100. 30 Hugh Gibson, A Journal from our Legation in Belgium, New York 1917, S. 22. Siehe auch Jean Stengers, Belgium, in: Keith Wilson (Hg.), Decisions for War, 1914, New York 1995, S. 151–174, hier S. 163. 31 Aufmarschanweisungen für die Jahre 1893/94 bis 1914/15, in: Bundesarchiv-Militärarchiv, Freiburg i.Br. (BArch-MA), RH61/v. 96. 32 Aufmarsch 1909/10, in: Hans Ehlert, Michael Epkenhans, Gerhard P. Groß (Hg.), Der Schlieffenplan. Analysen und Dokumente, Paderborn 2006, S. 432–442; Terence Zuber, The Real German War Plan (1904–1914), Stroud 2011, S. 84–89. 33 Hew Strachan, The First World War, Bd. 1: To Arms, Oxford 2003, S. 90.
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1913/14 und 1914/15 als monolithisch bezeichnet werden, da sie mit der Tradition der Varianten brachen und die einzigen sind, die auf der alleinigen Perspektive eines Zweifrontenkriegs aufbauen.34 Im Gegensatz zu der sehr schneidenden Beurteilung Belgiens durch Schlieffen in seiner letzten Denkschrift vom 28. Dezember 191235 war die Meinung Moltkes über die belgische Haltung bei einem Krieg mit Frankreich sehr viel zurückhaltender. Obwohl er sich über den unsicheren Ausgang einer solchen Demarche im Klaren war, hat der Generalstabschef die Möglichkeit eines diplomatischen Arrangements mit Belgien für den Durchzug der deutschen Truppen nicht ausgeschlossen. Die Kurzbeschreibungen der Aufmarschpläne enthielten mehrmals entsprechende Hinweise, z.B. für den Plan 1909/10: „Belgien ist zu ersuchen, die Erlaubnis zum Durchmarsch zu geben.“36 Damit war das Szenario vorgegeben, das im August 1914 Realität wurde und das die führenden Diplomaten im belgischen Außenministerium erwartet hatten. Natürlich war auch Moltke bereit, die Verantwortung für eine Verletzung der Neutralität auf sich zu nehmen, da er den Durchzug durch Belgien als eine unumgängliche strategische Notwendigkeit erachtete. Er hatte dies in einer Denkschrift vom 21. Dezember 1912 verdeutlicht, als er behauptete, nur eine Durchquerung Belgiens würde es ermöglichen, die französische Armee in offenem Gelände anzugreifen und zu besiegen. In diesem Fall würde man, so präzisierte Moltke, zweifellos das britische expeditionary corps und die belgischen Truppen auf seinem Weg finden, „wenn es nicht gelingt, mit Belgien zu einem Vertrage zu kommen.“37 Diese taktische Entscheidung gründete nicht auf einer Laune oder einer untertänigen Treue gegenüber den Ideen des Schlieffenplans, sondern folgte der von Moltke selbst gewonnenen Ansicht, damit einen langen Belagerungskrieg verhindern zu können. Tatsächlich hatte sich die Lage auf dem möglichen westlichen Kriegsschauplatz seit dem Rückzug seines Vorgängers 1906 nicht verändert. Die französischen Befestigungen bildeten zwischen Verdun und Belfort immer noch ein wesentliches Hindernis. Die französische Barriere hatte sich seit der Zeit Schlieffens eher noch verstärkt. Der Stahlbeton, der die französischen Forts bedeckte, war nunmehr drei Meter dick, während die deutschen Kanonen gerade einmal Wände von einem Meter Dicke durchbrechen konnten. Im Vergleich dazu wurden die Forts an der französischen Nordgrenze erst seit 1912 modernisiert, und ein Ende der Arbeiten war 1914 noch nicht absehbar. Das französische Budget war sogar so beschränkt, dass der Standort Lille vernachlässigt worden war – aus diesem Grund wurde er bei Kriegsbeginn sofort deklassiert. Was die 1892 34 Aufmarsch 1913/14 und Aufmarsch 1914/15, in: Ehlert, Epkenhans, Groß (Hg.), Der Schlieffenplan, S. 467–484; Zuber, The Real German War Plan, S. 132–148. 35 Schlieffens Denkschrift vom 28. Dezember 1912, in: Gerhard Ritter, Der Schlieffenplan. Kritik eines Mythos, München 1956, S. 186. 36 Aufmarsch 1909/10, in: Ehlert, Epkenhans, Groß (Hg.), Der Schlieffenplan, S. 432–442, hier S. 434. 37 Denkschrift Moltkes über die militärpolitische Lage und die sich aus ihr ergebenden Forderungen für weitere Ausgestaltung der deutschen Wehrkraft, 21.12.1912, in: BArch-MA, PH3/ 529, Denkschriften über die Kriegsrüstungen Deutschlands, Österreich-Ungarns und der feindlichen Staaten, 1912–1914.
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errichteten belgischen Maasforts (Lüttich und Namur) angeht, so waren sie seitdem nicht mehr entscheidend verbessert worden.38 Die einzelnen Festungsbauten in den Festungsgürteln von Lüttich und Namur waren darüber hinaus dafür bekannt, von zu schwachen Garnisonen bewacht zu werden, die unfähig waren, die Intervalle zwischen den einzelnen Befestigungen zu sichern.39 Aus diesem Grund entwickelte Moltke seit 1908 seinen Handstreich-Plan für Lüttich, um zu verhindern, dass die Position bei Kriegsbeginn noch durch belgische Truppen verstärkt werden könnte. Da er außerdem – im Gegensatz zum Schlieffenplan – darauf verzichten wollte, Truppen durch den Korridor von Limburg zu schicken, erschien die schnelle Einnahme des Verkehrsknotenpunktes Lüttich als eine Notwendigkeit.40 Ein letztes, nicht zu vernachlässigendes Detail: Trotz der 1909 erfolgten Verabschiedung eines Gesetzes, dass den Militärdienst für einen Sohn pro Familie vorsah, hielt Moltke überhaupt nichts von den belgischen Truppen, die zu wenig zahlreich seien und sich schnell zersplittern würden.41 Die gesetzliche Einführung des allgemeinen Wehrdienstes 1913, mit der eine Reorganisation der belgischen Armee einhergehen sollte, war zu spät erfolgt, um 1914 schon die gewünschte Wirkung zu zeigen.42 Eine Rolle bei der Entscheidung Moltkes für einen raschen Einmarsch in Belgien spielte schließlich wohl auch die Befürchtung, die Franzosen könnten präventiv die Linie Namur-Givet besetzen. Denn dies hätte ihnen erlaubt, die Flanken der deutschen Kolonnen zu bedrohen. In den Geheimdienstberichten für 1914/15 wird darauf hingewiesen: „Es ist möglich, daß das I.A.K. sich etwa bei Maubeuge versammelt und vielleicht verstärkt durch Kavallerie, frühzeitig in Belgien einrückt, um die Maaslinie Namur – Givet in Besitz zu nehmen.“43 In einem Geheimdienstbericht vom Vorjahr (1913/14) war sogar davon die Rede gewesen, dass das I. Korps durch das II. Korps verstärkt werden könnte und plötzliche Überfälle der französischen Kavallerie auf belgischem Staatsgebiet nicht auszuschließen seien: „Nach verschiedenen Nachrichten liegt unter Umständen die Absicht vor, mit starker Kavallerie in Belgien und Luxemburg einzufallen.“44 38 Robert T. Foley, The Real Schlieffen Plan, in: War in History 13 (2006) 1, S. 91–115, hier S. 110. 39 Großer Generalstab, 4. Abteilung, Die belgischen und holländischen Befestigungen und die Grundsätze ihrer Verteidigung, mit Karten, 1908, in: BArch-MA, PH3/630; Großer Generalstab, 4. Abteilung, Denkschrift Lüttich, 1912, in: Bayerisches Hauptstaatsarchiv (BayHStA), Kriegsarchiv (KA), GSt. 225. 40 Ritter, Der Schlieffenplan, S. 180. 41 Ebd., S. 179. 42 Jacques Willequet, Appréciations allemandes sur la valeur de l’armée belge et les perspectives de guerre avant 1914, in: Revue internationale d’histoire militaire 20 (1959), S. 630– 641. 43 Großer Generalstab, 3. Abteilung, Aufmarsch und operative Absichten der Franzosen in einem zukünftigen deutsch-französischen Kriege, Mai 1912, Geheim!, in: BArch-MA, PH3/ 628. Hervorhebung im Original. Dieses Dokument enthält zusätzliche Informationen für die Jahre 1913/14 und 1914/15. 44 Großer Generalstab, 3. Abteilung, Aufmarsch und operative Absichten, in: BArch-MA, PH3/ 628.
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Diese Informationen erlauben es, den Ton des deutschen Ultimatums besser zu verstehen, auch wenn sie ihn nicht rechtfertigen. Die erste Version des Ultimatums war von Moltke am 26. Juli präventiv redigiert worden. Deshalb musste die vermeintliche Bedrohung durch französische Kavallerie, die die Belgier beeindrucken sollte, zwangsläufig rein hypothetisch bleiben.45 Zur Entlastung Moltkes kann jedoch vorgebracht werden, dass der Generalstabschef die Umstände nicht ganz erfunden und sich auf die erwähnten Geheimdienstberichte gestützt hatte, um seine Argumentation zu stützen. Letztlich war die deutsche Rechtfertigung für das Ultimatum jedoch sehr ungeschickt und für die belgische Führung gänzlich unannehmbar, ob sie nun auf Tatsachen beruhte oder nicht. Im Gegensatz zu den während und nach dem Krieg zirkulierenden Bildern war der Respekt der Franzosen für die belgische Neutralität kaum ausgeprägter. Die famose „Treue gegenüber dem gegebenen Wort“ war letztlich nur eine sehr vage Erinnerung an die französische Unterschrift in London im Jahr 1839. Joseph Joffre, Chef des französischen Generalstabs, hat nie verborgen, dass er durch Belgien ziehen wollte, selbst wenn dies bedeutet hätte, die Grenze präventiv als erster zu verletzen. Es ist auch bekannt, dass Regierungschef Raymond Poincaré diesen Plan im Januar/Februar 1912 ablehnte.46 Demgegenüber hat sich die Historiographie nur wenig mit den wahren Intentionen Joffres im August 1914 befasst. In seinen 1932 posthum erschienenen Memoiren erklärt Joffre, er habe angesichts der steigenden Wahrscheinlichkeit eines deutschen Durchzugs durch Belgien am Abend des 2. August die Variante II seines Kriegsplans in Gang gesetzt. Diese sah unter anderem die Konzentration der IV. und V. Armeen entlang der belgischen Grenze und eine bedeutende Beobachtungsmission des KavallerieKorps Sordet in Belgien vor. Trotz einer geschickten und für Frankreich vorteilhaften Darstellung der Ereignisse der ersten Augusttage 1914 kann man zwischen den Zeilen erkennen, dass Joffres Entscheidung ohne eine Bestätigung für die Verletzung der belgischen Neutralität durch deutsche Truppen gefallen war: „[…] [M]ehr noch, die Präsenz von Teilen des 8. Deutschen Armeekorps in der Gegend von Malmedy konnte darauf schließen lassen, dass auch das Schlachtfeld Belgien sich bald vor uns öffnete. Ich sah sofort die Möglichkeit, ein Manöver durch Belgien auszuführen, die mir immer als die vorteilhafteste erschienen war, und über die ich die Regierung schon im Februar 1912 informiert hatte. Diese Wahrscheinlichkeit, und die schon bestehenden Möglichkeit, in jedem Fall in Luxemburg zu handeln, zog natürlich eine Veränderung des Aufmarschplans nach sich, da der Schwerpunkt unserer linken Flanke nach Norden verlagert werden musste […]. Am Abend des 2. August gab ich den Befehl, diese Variante auszuführen.“47
45 Annika Mombauer, Helmuth von Moltke and the Origins of the First World War, Cambridge 2001, S. 197–198. 46 Damals hatte Joffre vor der Regierung seinen Standpunkt dargelegt. Poincaré verwarf diese Idee, um das Bündnis mit Großbritannien zu bewahren. Ein Besuch von General Wilson am 27.11.1912 bestätigte ihn in dieser Entscheidung. Vgl. Bitsch, La Belgique entre la France et l’Allemagne, S. 462f.; Joseph Joffre, Mémoires du Maréchal Joffre (1910–1917), Paris 1932, Bd. I, S. 125–127; Guy Pedroncini, Stratégie et relations internationales. La séance du C.S.D.N. du 9 janvier 1912, in: Revue d’histoire diplomatique 91 (1977), S. 143–158. 47 Joffre, Mémoires, Bd. I, S. 231f. Hervorhebungen durch die Verfasser.
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Wie auch immer die Qualität der Informationen war, über die Joffre verfügte – und gab es diese nicht auch auf deutscher Seite? –, es ist offensichtlich, dass die „belgische“ Option sehr früh in Gang gesetzt worden ist, noch bevor die Übersendung des Ultimatums von Berlin an Brüssel bekannt war. Denn an diesem 2. August hegte Frankreich noch erhebliche Zweifel an der belgischen Loyalität gegenüber dem Vertrag von London.48 Demgegenüber könnte man einwenden, dass die Konzentration der Truppen entlang der Grenze nicht mit deren Überschreiten gleichzusetzen ist. Auch hatten die französischen Sicherungstruppen den formellen Befehl erhalten, in einiger Distanz zur belgischen Grenze zu bleiben.49 Aber was wäre passiert, wenn Deutschland – ohne den mit dem geplanten Handstreich in Lüttich gesetzten Stachel – entlang der deutsch-belgischen Grenze abgewartet hätte? Hätte Joffre, in die Zange genommen von den Erfordernissen eines möglichen Bündnisses mit Großbritannien und dem in Moskau gegebenen französischen Versprechen, eine sofortige Offensive zu starten,50 die IV. und V. Armee51 und vor allem das Kavallerie-Korps Sordet52 gewissermaßen in den Startblöcken sitzen lassen? In seinen Erinnerungen notiert Joffre für den 3. August, dass er selbst seinen Generälen seine Absicht verheimlicht habe, in Belgien zu operieren. Der französische General rechtfertigte seine Haltung recht ausweichend als „eine Gleichung mit zu vielen Unbekannten“.53 Zu diesem Zeitpunkt hatte noch kein deutscher Soldat belgischen Boden betreten. 48 Der französische Außenminister wurde über das Ultimatum am Morgen des 3. August informiert. Klobukowski an Außenminister René Viviani, 3.8.1914, in: Documents Diplomatiques Français (1871–1914), 3ème série (1911–1914), Bd. XI: 24 juillet–4 août 1914, Nr. 644, S. 492. Am Vortag hatte Klobukowski noch geschrieben: „Obwohl die belgische Regierung von der deutschen Gesandtschaft keine offizielle Erklärung erhalten hat, scheint sie von dieser Seite Beruhigung erfahren zu haben. Ich bin jedenfalls in der Lage zu erklären, dass sie nicht geprüft hat, ob sie sich im Falle einer deutschen Aggression auf die Garantien der Neutralität berufen wird: Das Ausbleiben einer deutschen Erklärung und das Stillhalten Belgiens verschaffen dem Gerücht Glaubwürdigkeit, dass es ein heimliches Einverständnis zwischen den beiden Ländern gebe.“ Klobukowski an Viviani, 2.8.1914, in: ebd., Nr. 586, S. 455f. Zu den französischen Verdächtigungen, siehe auch den Vermerk von Edmond Baron de Gaiffier d’Hestroy, 3.8.1914, zitiert nach Stengers, Belgium, S. 157. 49 Joffre, Mémoires, Bd. I, S. 230f. 50 Nach der russisch-französischen Militärkonvention waren die französischen und russischen Truppen dazu verpflichtet, „sich vollständig und mit aller Sorgfalt [zu engagieren], damit Deutschland sowohl im Osten als auch im Westen kämpfen muss.“ Gustave Lannes de Montebello, französischer Botschafter in Sankt Petersburg, an Außenminister Alexandre Ribot, 10.8.1892, in: Documents Diplomatiques Français, 1ère série (1871–1900), Bd. IX: 23 août 1891–19 août 1892, Nr. 444, S. 643f., hier S. 644. 51 In seinen Memoiren weist der Kommandeur der V. Armee, General Charles Lanrezac, darauf hin, dass er bis zur letzten Minute nicht über eine genaue Kenntnis des Joffre-Plans verfügte. Charles Lanrezac, Le plan de campagne français et le premier mois de la guerre (2 août– 3 septembre 1914), Paris 1920, S. 65. 52 Die Aufgaben des Kavallerie-Korps Sordet in Belgien für den Fall einer Verletzung der Neutralität durch Deutschland waren einige Monate vor Kriegsausbruch festgelegt worden. Vgl. [Marcel] Boucherie, Historique du corps de cavalerie Sordet. Rédigé sous la haute direction du général Sordet par le colonel Boucherie, Paris 1923, S. 13f. 53 Joffre, Mémoires, Bd. I, S. 236.
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Im Nachhinein darf der Historiker die Frage nach den tatsächlichen Intentionen und Motivationen Joffres stellen, als dieser unumkehrbar die belgische Variante seines Plans in Gang setzte. Der Generalstabschef war sich sicher bewusst, dass dieses Vorgehen zur Verletzung des „Vertrags der 24 Artikel“ führen musste.
MACHT UND EHRE Italien zwischen Neutralität und Intervento Gabriele B. Clemens „Daß uns Italien im Stich lässt! Aber als Todsünde kann ich’s ihm kaum anrechnen; es wäre verloren gegen Englands Flotte, und den Österreichern sind sie ja spinnefeind.“1 Dieser am 5. August 1914 notierte Tagebucheintrag von Victor Klemperer, Romanist und „Italianissimo“,2 spricht gleich mehrere Punkte an, die sowohl Zeitgenossen als auch nachfolgende Historikergenerationen zu heftigen Diskussionen veranlassten. Italien wurde hier einerseits der Verrat am Dreibund mit dem Deutschen Reich und der Habsburgermonarchie vorgeworfen, andererseits sah Klemperer als guter Kenner der italienischen Mentalität die tiefe Kluft zwischen Rom und Wien, die in jahrhundertelanger österreichischer Herrschaft in Norditalien und den Kriegen während des Risorgimento begründet lag. Klarsichtiger als die involvierten Militärs bedachte Klemperer England als wichtigen Faktor, hatten doch viele von ihnen zuvor Szenarien ohne britische Kriegsbeteiligung entworfen. Nachdem der Krieg auch für die Italiener überraschend im Hochsommer 1914 von den Großmächten erklärt worden war und die Mobilisierung der Armeen begonnen hatte, diskutierte und verhandelte die politische Führung monatelang darüber, ob Italien neutral bleiben oder auf Seiten der Entente in den Krieg ziehen sollte. Die militärische Führung hingegen wollte gleich im Juli 1914 aufgrund bestehender Militärkonventionen mit dem Dreibund Truppen gegen Frankreich auf den Weg bringen. Diese insgesamt äußerst komplexe, ja verworrene Situation lässt sich nur verstehen, wenn man die bündnispolitischen Konstellationen der Vorkriegszeit betrachtet, die gesellschaftlichen und politischen Rahmenbedingungen ausleuchtet und dann vor diesem Hintergrund die heftigen politischen Diskussionen über Neutralität, Kriegseintritt und Kriegsziele analysiert. Italien wurde vielfach ungerechtfertigt Verrat am Dreibund vorgeworfen, dabei wunderten sich schon Zeitgenossen weniger darüber, dass Italien auf Seiten der Entente in den Krieg eintrat, als vielmehr darüber, dass es sich 1882 dem Deutsch-Österreichischen Zweibund angeschlossen hatte.3 Die Habsburgermonarchie war in Italien alles andere als beliebt. Rund zwanzig Jahre vor dem Beitritt 1 2 3
Victor Klemperer, Curriculum Vitae. Erinnerungen, Bd. 2, 1881–1918, Berlin 1996, S. 183. Patrick Ostermann, Vom Freund- zum Feindbild in Zeiten des Krieges. Über den Wandel Viktor Klemperers Italienrezeption, in: Leviathan 2 (2003), S. 219–241; Walter Nowojski, Victor Klemperer (1881–1960). Romanist – Chronist der Vorhölle, Berlin 2004. So kurz nach Kriegseintritt Italiens der Journalist Emile Dillon, From the Triple to the Quadruple Alliance. Why Italy Went to War, London 1915, S. 1.
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zum Dreibund hatten piemontesische Truppen sowie Freiwilligenverbände den Truppen des Vielvölkerstaates erbittert im nationalen Befreiungskrieg gegenübergestanden. Doch 1882 war Italien außenpolitisch isoliert und strebte als junger Nationalstaat internationale Bündnisse und Prestige an. Wie die benachbarten europäischen Staaten suchte es zudem Möglichkeiten, in der Kolonialpolitik zu reüssieren. Die politische und militärische Führung dachte an geopolitische Expansion, wobei zunächst Eroberungen in Nordafrika im Fokus standen. Doch 1881 eroberte Frankreich Tunis, das Italien für sich selbst beansprucht hatte. Auch im schwelenden Balkankonflikt auf der Berliner Konferenz 1878 hatte Italien nichts erreicht. Darüber hinaus war die römische Frage immer noch virulent, und die liberalen Politiker befürchteten, dass der Papst etwa von der Habsburgermonarchie unterstützt würde. Außerdem kam es im Juli 1881 in Rom zu tumultartigen Szenen anlässlich der Umbettung von Pius IX. Der Umzug, der seinen Sarg in feierlicher Prozession von St. Peter zur vom Papst gewünschten Grablege in San Lorenzo fuori le mura aus dem Vatikan quer durch die neue Hauptstadt begleitete, wurde von laizistischen Kräften attackiert. Daraufhin wandte sich Papst Leo XIII. mit einem Hilfsgesuch an den österreichischen Kaiser Franz Joseph. In dieser Situation außenpolitischer Isolation und innenpolitischer Unruhen schloss Italien mit dem Deutschen Kaiserreich sowie der Habsburgermonarchie eine defensive Militärallianz.4 Hilfe sollte vertragsgemäß nur geleistet werden, wenn Italien oder Deutschland von Frankreich angegriffen würden. Sollte eine andere Macht angreifen, müsste Neutralität gewahrt werden. 1887 wurde der Bund erneuert. Neu war nun die Anerkennung paritätischer Interessen für Österreich und Italien auf dem Balkan. Zukünftige Eroberungen seien dort nur im gegenseitigen Einverständnis und nach vorherigen Konsultationen möglich. In den Regierungsjahren unter dem prodeutschen Ministerpräsident Francesco Crispi (1887–1891 und 1893–1896) wurden die Beziehungen zu den beiden Kaiserreichen immer enger und zu Frankreich komplizierter.5 Im März 1888 unterzeichnete Crispi eine Militärkonvention, in der sich Italien verpflichtete, für den Fall, dass das Deutsche Kaiserreich von Frankreich und Russland angegriffen wird, fünf bis sechs Armeekorps und zwei bis drei Kavallerietruppen an den Rhein zu schicken. Österreich sollte den Transport der Truppen über den Brenner unterstützen. Vermieden werden sollte so der Durchzug des italienischen Militärs durch das Trentino, da man dort Aktionen der italienischen Nationalisten befürchtete. Mit Frankreich kam es seit den ausgehenden 1880er Jahren wegen Zolltarifen zu einem regelrechten Handelskrieg. Zur weiteren Verschlechterung der Beziehungen trugen zudem die Ausschreitungen von Aigues-Mortes in der Provence bei. 1893 waren dort 30 Italiener von französischen Arbeitern aufgrund von Strei4 5
Enrico Decleva, Il compimento dell’unità e la politica estera, in: Giovanni Sabbatucci, Vittorio Vidotto (Hg.), Storia d’Italia, Bd. 2: Il nuovo stato e la società civile 1861–1887, Rom 1995, S. 113–217. Daniela Adorni, Francesco Crispi. Un progetto di governo, Florenz 1999; Christopher Duggan, Creare la nazione. Vita di Francesco Crispi, Rom 2000; ders., Francesco Crispi 1818– 1901. From Nation to Nationalism, Oxford 2002.
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tigkeiten um Arbeitsplätze und Löhne umgebracht worden.6 Zwei Jahre zuvor hatten die Dreibundkräfte ihren Bund um zwölf Jahre verlängert. Die außenpolitische Bündniskonstellation änderte sich aber aufgrund der imperialistischen Bestrebungen Italiens. Crispi mochte als Prestigepolitiker nicht hinter den anderen europäischen Ländern zurückstehen und nach den zunächst gescheiterten Versuchen, in Tunis Fuß zu fassen, konzentrierte er sich darauf, in Ostafrika Kolonien zu erwerben. Nach ersten Eroberungen im östlichen Abessinien und Somalia wurden 1895 Adua und sein Umland, eine äthiopische Kernlandschaft, annektiert. Frankreich unterstützte hingegen den bedrängten Negus oder Kaiser, Menelik, dem es angesichts der äußeren Bedrohung gelang, die regionalen Fürsten des Landes hinter sich zu bringen. Nach ersten militärischen Erfolgen wurde in Rom eine Verstärkung für das Expeditionskorps bewilligt. Friedensangebote von Menelik lehnte Crispi ab. Obwohl die militärische Führung vor Ort zu defensivem Vorgehen riet, befahl er den Angriff. So kam es dann am 1. März zu der für die Italiener verheerenden Schlacht bei Adua. Es gelang Kaiser Menelik, als einzigem afrikanischen Herrscher, die Unabhängigkeit seines Landes zu bewahren. Für Italien bedeutete es das Ende seiner Pläne, ein ostafrikanisches Kolonialreich zu gründen. Zugleich war dieses italienische Desaster die schwerste Niederlage aller Kolonialländer im langen 19. Jahrhundert überhaupt. 5000 von 16 000 italienischen Soldaten wurden getötet, 1700 gerieten in Gefangenschaft.7 Für die Italiener wurde Adua zum nationalen Trauma. Crispis Rücktrittsangebot wurde vom König sofort angenommen. Deutlich geworden war, dass koloniale Besitzungen in Afrika nur mit englischer und französischer Unterstützung oder zumindest Billigung zu erwerben waren. Italien wandte sich nun zunehmend vom Dreibund ab und den Entente-Mächten zu. Darüber hinaus beobachteten die italienischen Politiker die zunehmenden Feindseligkeiten zwischen dem Deutschen Kaiserreich und England mit Sorge. Das italienische Königreich war von den britischen Kohlelieferungen völlig abhängig und wusste um die Stärke der britischen Flotte im Mittelmeer. 1898 beendeten Frankreich und Italien ihren Handelskrieg und trafen Absprachen bezüglich ihrer kolonialen Interessen in Nordafrika. Frankreich ließ Italien freie Hand in Libyen, wofür Italien die französischen Interessen an Marokko akzeptierte. Vier Jahre später wurde der Dreibundvertrag abermals verlängert, doch im selben Jahr erklärten Frankreich und Italien, neutral zu bleiben, wenn einer der beiden Staaten angegriffen würde. Eine weitere Verschiebung im Kräfteverhältnis brachte die Entente Cordiale 1904 zwischen England und Frankreich, da Italien sich während der gesamten Vorkriegszeit um gute Beziehungen zu England bemühte und Frankreich durch dieses Abkommen als Bündnispartner noch wertvoller wurde. Die erste Marokkokrise der Jahre 1905/06 entwickelte sich zum Test für die italienisch-französischen Beziehungen. Auf der Konferenz von Algeciras 6 7
Francesco Barbagallo, Da Crispi a Giolitti. Lo stato, la politica, i conflitti sociali, in: Sabbatucci, Vidotto (Hg.), Storia d’Italia, Bd. 3: Liberalismo e democrazia 1887–1914, Rom 1995, S. 3–133, hier S. 32. Giorgio Rochat, Il colonialismo italiano, Turin 21988; Nicola Labanca, In marcio verso Adua, Turin 1993; ders., Storia dell’Italia coloniale, Mailand 1994.
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stimmte Italien unter englischem Druck für Frankreich und damit gegen die deutschen Interessen. Außer Österreich-Ungarn standen hier schon alle Großmächte auf Seiten der Entente. 1911/12 gelang unter dem Ministerpräsidenten Giovanni Giolitti Italien mit Billigung Englands – und trotz erheblicher Spannungen auch seitens Frankreichs – die Besetzung und Annexion Libyens als der größte und wertvollste koloniale Gewinn.8 Noch schwerer als die Differenzen in Nordafrika belasteten aber die geopolitischen Interessen der Habsburgermonarchie auf dem Balkan den Dreibund. Die österreichische Annexion Bosnien-Herzegowinas führte 1908 in Oberitalien zu einer Teilmobilmachung und zu heftigen Ausbrüchen antiösterreichischer Stimmung in Italien. Noch schwieriger gestalteten sich jedoch die österreichischitalienischen Verhältnisse aufgrund der Albanienfrage. Um die Jahrhundertwende stand das Land formell noch unter türkischer Herrschaft. Vor allem aufgrund seiner geostrategischen Lage hätte Italien es am liebsten gleich annektiert.9 Beide Mächte vereinbarten aber zunächst den status quo zu erhalten. Wenn dies nicht möglich sei, sollte Albanien unabhängig werden. Die Koordination ihrer Politik schlug fehl, da Rom und Wien versuchten, durch Handelsgeschäfte und Bestechung der lokalen Stammesfürsten Terrain zu gewinnen. Im November 1912 erfolgte dann doch die Unabhängigkeitserklärung, die auf einer Konferenz in London international bestätigt wurde. Die beiden Garantiemächte sollten den Weg des jungen Fürstentums verfassungsrechtlich gegen griechische und serbische Ansprüche unterstützen.10 Als Staatsoberhaupt wurde der weitgehend unbekannte, als unparteiisch geltende Fürst Wilhelm von Wied auserkoren. Fortan intendierten beide Mächte, ihn zu vereinnahmen. Auch flossen riesige Bestechungssummen in das Land, und die Kooperation mündete in eine Konfrontation. Die Tageszeitung L’Idea Nazionale beschrieb die Situation als „adriatisches Schleswig“.11 Vor Sarajewo war Albanien zu einem unentwirrbaren Problem geworden.12 Im Jahr 1914 strebte die italienische Außenpolitik an, zu beiden Blöcken gute Beziehungen zu unterhalten. Doch was sich in der Albanienfrage schon anbahnte, kulminierte in der Julikrise des Jahres 1914. Während sich Italiens Verhältnis gegenüber Frankreich zunehmend entspannte, waren die Beziehungen zwischen Rom und Wien regelrecht gestört. Nach dem Attentat auf den Thronfolger Franz Ferdinand verhandelte Wien ausschließlich mit Berlin und informierte Italien nicht über das Ultimatum, obwohl es dazu gemäß des Dreibundvertrags verpflich8
Holger Afflerbach, Der Dreibund. Europäische Großmacht- und Allianzpolitik vor dem Ersten Weltkrieg, Wien 2002, S. 547–568 und 687–708. 9 Italien verfügte im Gegensatz zu Österreich über keinen erstklassigen Hafen an der Adria. Teile der italienischen Flotte ankerten in Taranto. Vgl. William A. Renzi, In the Shadow of the Sword. Italy’s Neutrality and Entrance into the Great War, 1914–1915, New York 1987, S. 33. 10 Afflerbach, Der Dreibund, S. 751. 11 L’Idea Nazionale, 26.6.1914. 12 Konrad Canis, Der Weg in den Abgrund. Deutsche Außenpolitik 1902–1914, Paderborn 2011, S. 643f.; Peter Hertner, Großmachtrivalität und Kooperation im Adriaraum. Italien, Österreich-Ungarn und das Projekt einer albanischen Staatsbank, 1913/1914, in: Quellen und Forschungen aus italienischen Archiven und Bibliotheken 85 (2005), S. 272–317.
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tet gewesen wäre. Ab Mitte Juli drängten die Preußen die Wiener Politiker, den Bündnispartner doch endlich offiziell über das Ultimatum zu informieren. Am 23. Juli erfuhr der italienische Außenminister Marchese Antonio di San Giuliano in seinem unweit von Rom gelegenen Kurort Fiuggi Fonti vom österreichischen Botschafter endlich, dass es ein Ultimatum an Serbien gab. Als ihm der Wortlaut am darauffolgenden Tag via Telefon mitgeteilt wurde, konnte man den Inhalt ohnehin fast zeitgleich einer Agenturmeldung entnehmen. Der zeitgleich in Fiuggi Fonte anwesende deutsche Botschafter von Flotow kommentierte die österreichischen Forderungen mit: „Vraiment, c’est un peu fort.“13 Die österreichischen Außenpolitiker hatten damit klar gegen Artikel VII des bilateralen Teils des Abkommens verstoßen. Sie konsultierten die Italiener nicht, was gemäß des Vertrags ihre Pflicht gewesen wäre, weil sie nicht zu Unrecht befürchteten, dass Italien im Kriegsfall territoriale Kompensationen in Südtirol oder auf dem Balkan fordern würde. In dieser Situation verständigten sich der italienische Außenminister und sein Ministerpräsident Antonio Salandra darüber, dass keine Bündnispflicht bestehe. Der „casus foederis“ war rechtlich nicht gegeben. Aufgrund der Reisezeit hielt sich König Viktor Emanuel III. ebenfalls nicht in Rom auf. Er wurde schriftlich unterrichtet. Erst am 31. Juli fand eine Kabinettssitzung statt, wo ebenfalls über die Neutralität debattiert und als weiteres Argument angeführt wurde, dass die Habsburgermonarchie als Aggressor auftrete und deshalb ebenfalls kein Bündnisfall vorliege. Als sich Österreich endlich bereitfand, mit Italien zu verhandeln und Kompensationen anzubieten, war es bereits zu spät. Am 1. August billigte der König den Kabinettbeschluss und erklärte die Neutralität Italiens. Vergeblich hatte ihm der deutsche Kaiser zwei Tage zuvor telegrafiert, dass er auf seine Hilfe in den zukünftigen Schlachten vertraue.14 Diese Entscheidung war nun keineswegs auf einhellige Zustimmung getroffen. Bestand bezüglich der zunehmend feindlichen Haltung gegenüber Wien Konsens, so verhielt es sich jedoch anders gegenüber dem Deutschen Reich. Industrielle und adlige Kreise zollten der deutschen Industrie, der Wissenschaft und dem Militär hohe Wertschätzung.15 Die italienischen Offiziere bewunderten das preußische Militärwesen, die Kriegstaktik und den Rüstungsstand.16 Darüber hinaus war der erst seit Mitte Juli ernannte neue Chef der Obersten Heeresleitung, General Luigi Cadorna, bereit, die im Abkommen zugesicherten Truppen an den Rhein zu verlegen. Sein Vorgänger im Amt, General Alberto Pollio, war ein dezidierter 13 Renzi, In the Shadow of the Sword, S. 69. 14 Ebd., S. 78. 15 Otto Weiß, La „scienza tedesca“ e l’Italia nell’Ottocento, in: Annali dell’Istituto storico italogermanico in Trento 9 (1983), S. 8–95; ders., Das deutsche Modell. Zu Grundlage und Grenzen der Bezugnahme auf die deutsche Wissenschaft in Italien in den letzten Jahrzehnten des 19. Jahrhunderts, in: Aldo Mazzacane, Reiner Schulze (Hg.), Die deutsche und die italienische Rechtskultur im „Zeitalter der Vergleichung“, Berlin 1995; Francesco Marin, Die „deutsche Minerva“ in Italien. Die Rezeption eines Universitäts- und Wissenschaftsmodells 1861– 1923, Köln 2010. 16 Patrick Ostermann, Duell der Diplomaten. Die Propaganda der Mittelmächte und ihrer Gegner während des Ersten Weltkrieges, Weimar 2000, S. 60.
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Verfechter des Dreibundes gewesen. Er hatte seinem österreichischen Kollegen Franz Conrad von Hötzendorf im Frühjahr 1914 mehrfach konkret Truppenhilfe zugesagt.17 Dabei konnte sich die Heeresspitze auf breiten Konsens innerhalb der Generalität verlassen, die unisono für die Entsendung von Truppen an den Rhein plädierte. Für sie standen höchste Dinge auf dem Spiel, die vitalsten Interessen des Königreichs seien betroffen.18 Auffallend ist jedoch die Kluft zwischen der militärischen Führung und den politischen Entscheidungsträgern. Die liberalen Politiker Italiens gestanden dem Heer weitgehende Autonomie zu, was dem Generalstab schon in Friedenszeiten große Handlungsspielräume gewährte und dazu führte, dass die Militärs ihre eigene Außenpolitik betrieben. Selbst nach dem Kriegseintritt musste die Heeresleitung ihre Entscheidungen nicht mit der Regierung abstimmen.19 Aber auch die Politiker sahen in der Julikrise keine Veranlassung, Cadorna in ihre Entscheidungsprozesse einzubeziehen, sodass er davon ausging, als Verbündeter der Mittelmächte in den Krieg zu ziehen. Er veröffentlichte noch am 31. Juli 1914 eine Denkschrift über den Einsatz italienischer Truppen an der Vogesenfront.20 Die italienische Neutralitätserklärung überraschte ihn nicht nur, sondern stellte ihn als typischen Vertreter des traditionellen stolzen piemontesischen Militäradels zugleich bloß.21 Dieses Kommunikationsdesaster im Juli 1914 trug nicht zur Verbesserung der Beziehungen zwischen Militär und Heeresleitung bei.22 Im Folgenden sei thematisiert, in welcher politischen, gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Verfassung sich der liberale Nationalstaat bei Ausbruch des Krieges befand. Regiert wurde das Land von einem liberalen Parlament mit einem Zweikammersystem. Der noch junge König, Viktor Emanuel III., zeigte wenig Lenkungskompetenz. Unter dem Ministerpräsidenten Giovanni Giolitti waren grundlegende Reformen im sozialen Bereich und der Schulbildung auf den Weg gebracht worden.23 1913 waren die ersten Wahlen mit einem allgemeinen Männerwahlrecht durchgeführt worden, die eine weiter rechts gerichtete Liberalen17 Afflerbach, Der Dreibund, S. 783. 18 Gian E. Rusconi, Das Hasardspiel des Jahres 1915. Warum sich Italien für den Eintritt in den Ersten Weltkrieg entschied, in: ders., Johannes Hürter (Hg.), Der Kriegseintritt Italiens im Mai 1915, München 2007, S. 13–53, hier S. 20f. 19 Nicola Labanca, Welches Interventionstrauma für welches Militär? Der Kriegseintritt Italiens von 1915 und das italienische Heer, in: ebd., S. 73–85. 20 Das Memorandum findet sich abgedruckt in: Luigi Cadorna, Altre pagine sulla grande guerra, Mailand 1925, S. 15–23. Zu den Militärabkommen des Dreibundes siehe Massimo Mazzetti, L’esercito italiano nella triplice alleanza, Neapel 1974; Fortunato Minniti, Piani di guerra (1870–1940), in: Comitato Tecnico della Società di Storia Militare (Hg.), La storia militare d’Italia 1796–1975, Rom 1990, S. 174–187. 21 Zum Familienstolz der Cadornas: Silvia Cavicchioli, L’eredità Cadorna. Una storia di famiglia dal 18° al 20° secolo, Rom 2001. 22 Labanca, Welches Interventionstrauma, S. 81. 23 Zur positiven Bewertung von Giolittis Leistungen Aldo A. Mola, Giolitti. Lo statista della nuova Italia, Mailand ²2004; kritischer sieht sein innenpolitisches Handeln Johannes U. Müller, Honoratiorenpolitik und Parteiensystem in Italien vor dem Ersten Weltkrieg. Der Partito Giovannile Liberale als kontrafaktisches Beispiel, in: Quellen und Forschungen aus italienischen Archiven und Bibliotheken 85 (2005), S. 241–271.
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gruppierung unter Ministerpräsident Antonio Salandra an die Macht brachten. Gesellschaftlich war das Land tief gespalten. Eine adlig-bürgerliche Notabelngesellschaft dominierte kulturell, ökonomisch und politisch.24 Sozialdemokratie und Gewerkschaften gewannen an Einfluss und Stimmen, was nicht zuletzt darin zum Ausdruck kam, dass sich die Arbeiterschaft in den Städten und auf dem Land zunehmend organisierte. Seit dem ausgehenden 19. Jahrhundert erschütterten gewaltbereite Streikbewegungen das Land.25 Auch den Sommer 1914 prägten während der sogenannten „Roten Wochen“ in der Emilia Romagna zahlreiche linke Unruhen und Aktionen.26 Derartige Ausschreitungen hatten gewiss dazu beigetragen, dass viele Italiener im Prinzip der Industrialisierung ablehnend gegenüberstanden. Die führenden Eliten sahen die sozialen Entwicklungen in England und im Deutschen Reich mit großer Skepsis. Eine Proletarisierung Roms etwa sollte vermieden werden, die Ansiedlung von großen Industriekonzernen war dort unerwünscht.27 Zur vergleichsweise späten Industrialisierung trugen zudem die mangelnden Bodenschätze an Erz und Kohle bei. Zu einem kräftigen industriellen Aufschwung kam es nur im Dreieck Turin, Genua und Mailand.28 Alles in allem blieb der Abstand zu hoch industrialisierten Ländern wie den USA, dem Deutschen Reich und England beträchtlich. Über 50 Prozent der Menschen lebten immer noch von der Landwirtschaft – und dies mehr schlecht als recht. Auf der einen Seite gab es riesige Güter im Norden des Landes und immense Latifundien in Mittel- und Süditalien, auf der anderen das Elend der Tagelöhner und Kleinbauern.29 Diese prekäre Situation führte zu einem geradezu dramatischen Massenexodus italienischer Migranten. Rund 26 Millionen Italiener verließen ihr Land seit der nationalstaatlichen Einigung im 19. Jahrhundert.30 Jene Mehrheit der potenziellen Soldaten aus der Nation fernstehenden bäuerlichen Unterschichten wurde zum großen Problem nach dem Kriegseintritt. Ihre Lebenswelt war bisher kaum von der Politik berührt gewesen und wenn, dann in Form von Steuern und Abgaben. Über ein Drittel der Italiener, im Süden lagen die 24 Gabriele B. Clemens, Malte König, Marco Meriggi (Hg.), Hochkultur als Herrschaftselement. Italienischer und deutscher Adel im 19. Jahrhundert, Tübingen 2011. 25 Zu den brutalsten Auseinandersetzungen zwischen Streikenden und der Polizei kam es 1898 in Mailand, wo 80 Demonstranten getötet und 400 verletzt wurden. Franco della Peruta, Storia dell’Ottocento. Dalla Restaurazione alla „belle époque“, Florenz 1994, S. 460–462. 26 Die Politiker befürchteten, dass der Rekrutenjahrgang von 1891 angesichts dieser Unruhen nicht eingezogen werden könnte. Vgl. Renzi, In the Shadow of the Sword, S. 52. 27 Zur Abwehr des städtischen Bürgertums gegen die Industriemoderne Silvio Lanaro, Nazione e lavoro. Saggio sulla cultura borghese in Italia, Venedig 31988. 28 Siehe den instruktiven Beitrag von Christof Dipper, Mediterrane Industrialisierung – eine Skizze, in: Anna Esposito, Heidrun Ochs, Elmar Rettinger, Kai-Michael Sprenger (Hg.), Trier – Mainz – Rom. Stationen, Wirkungsfelder, Netzwerke. Festschrift für Michael Matheus, Regensburg 2013, S. 379–393. 29 Zur Situation in der Landwirtschaft vgl. Giovanni Montroni, Le strutture sociali e le condizioni di vita, in: Sabbatucci, Vidotto (Hg.), Storia d’Italia, Bd. 2, S. 329–427. 30 Piero Bevilacqua, Andreina De Clementi, Emilio Franzina (Hg.), Storia dell’emigrazione italiana, 2 Bde., Rom 2001f.; Gabriele B. Clemens, Neuere Forschungen zum liberalen Italien. Politische Kultur, Emigration und der Erste Weltkrieg, in: Neue Politische Literatur 50 (2005), S. 69–83 und 235–247.
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Zahlen noch weit höher, waren Analphabeten. Gegenüber dem noch jungen Nationalstaat und seinen Zumutungen bestand schon vor dem Krieg großes Misstrauen. Da er es bisher nicht geschafft hatte, ihre miserablen Lebensumstände zu verbessern, waren die Soldaten auch nicht bereit, ihr Leben für Werte zu opfern, die ihnen fremd waren. Neben dem russischen Heer wies das italienische mit Abstand die größten Desertionszahlen auf.31 Auch die massenhaften Prozesse der italienischen Militärjustiz, die 870 000 Fälle verhandelte, wobei 170 000 Soldaten wegen disziplinarischer Vergehen verurteilt wurden, verweisen deutlich auf mangelnden Patriotismus und geringe Einsatzbereitschaft.32 Trennte in allen beteiligten Heeresgruppen die adligen und bürgerlichen Offiziere und die Mannschaftsgrade ein tiefer Graben, so war er in Italien abgrundtief. Häufig konnten die italienischen Soldaten schon während der Mobilisierung nur unter Androhung drakonischer Strafen eingezogen werden. Kaum mehr motiviert waren die zahlreichen Soldaten aus den städtischen Armenvierteln.33 Der Partito Socialista Italiana verweigerte als einzige bedeutende sozialistische Partei in Europa ihre Zustimmung zum Krieg.34 Doch nicht nur den Landarbeitern oder den Arbeitern fehlte es an Kriegsbegeisterung, auch in den bürgerlichen und adligen Notablenkreisen gab es kein einmütiges Augusterlebnis, keinen Burgfrieden, keine Union Sacrée wie in Frankreich.35 Warum zog Italien dann doch im Frühjahr 1915 in den Ersten Weltkrieg, obwohl die 100 000 Mann in Libyen an der österreichischen Front fehlten, die Truppen nicht auf einen Gebirgskrieg vorbereitet waren, weder genug Lebensmittel noch Geld für die Soldaten zur Verfügung standen und Italien beim Rüstungswettlauf gegen die Mittelmächte nicht mithalten konnte? Wie kam es zu dieser eigentlich unverantwortlichen Entscheidung? Seit dem Sommer 1914 war das Land tief gespalten und die Linie der Befürworter einer Neutralität oder eines Eingreifens in den Krieg auf Seiten der Entente verlief quer durch alle politischen Lager.36 Gegen einen Kriegseintritt sprachen sich im Sommer 1914 die Mehrheit der liberalen Politiker und die Vertreter des politischen Katholizismus aus, dafür waren demokratische Interventionisten (Re31 Neben hunderttausendfachen Fällen von Fahnenflucht kamen hohe Zahlen von Selbstverstümmelung hinzu. Giovanna Procacci, Soldati e prigionieri italiani nella grande guerra, Rom 1993. 32 Enzo Forcella, Alberto Monticone, Plotone di esecuzione. I processi della prima guerra mondiale, Bari 1968. 33 Sandro Fontana, Maurizio Pieretti (Hg.), La grande guerra. Operai e contadini lombardi nel primo conflitto mondiale, Mailand 1980; Mario Isnenghi (Hg.), Operai e contadini nella grande guerra, Bologna 1982. 34 Leo Valiani, Il partito socialista italiano nel periodo della neutralità, 1914–1915, Mailand 1977. Vgl. hierzu auch den Beitrag von Lothar Höbelt in diesem Band. 35 Auch bezüglich der Haltung der Intellektuellen bei Kriegsausbruch ist zu differenzieren: Mario Isnenghi, Il caso italiano. Tra incanti e disincanti, in: Vincenzo Calì, Gustavo Corni, Giuseppe Ferrandi, Gli intelletualli e la Grande Guerra, Bologna 2000, S. 247–263. 36 Diese hitzigen Diskussionen dokumentiert ausführlich in deutschen Übersetzungen: Klaus Heitmann, Das italienische Deutschlandbild in seiner Geschichte, Bd. III: Das kurze zwanzigste Jahrhundert (1914–1989), Teilbd. 1: Italien gegen Deutschland. Der Erste Weltkrieg, Heidelberg 2012.
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publikaner, Radikale, Sozialisten), revolutionäre Anarchisten und Gewerkschafter sowie die Futuristen. An vorderster Front agierten natürlich die Nationalisten. Eine Kriegsbeteiligung an der Seite des Dreibundes rückte nach dem Bekanntwerden der Greueltaten der deutschen Soldaten in Belgien in noch weitere Ferne. Fest steht aber, dass die aggressivsten Nationalisten und Kriegsbefürworter am meisten Lärm und Propaganda machten, Pressekampagnen ohnegleichen veranstalteten und die Piazza, den öffentlichen Raum in den Städten, mit Demonstrationen überzogen. Nicht nur die Entente-Mächte, sondern auch ihre Gegner bestachen die Journalisten mit beträchtlichen Summen, damit sie die Bevölkerung auf ihrer Seite für den Krieg mobilisierten.37 Daher konnte in späteren Zeiten – zunächst während des Faschismus – aus den omnipräsenten, lautstarken Forderungen und Aktionen auf eine überschäumende nationale Kriegsbegeisterung geschlossen werden, die es aber in der Breite so nie gegeben hat. Der Krieg war und blieb bei der Bevölkerung höchst unbeliebt. Die Befürworter für einen Kriegseintritt argumentierten zunächst mit dem Erwerb der „terre irredente“, also jenen „unerlösten“ Gebieten, in denen 750 000 oder 1 000 000 Italiener der Habsburgermonarchie lebten, allen voran im Trentino und in weniger großer Zahl in Triest, wobei die Irredentisten die Zahlen häufig zu hoch ansetzten.38 Eine „Befreiung“ der Italiener Korsikas oder Maltas bzw. im ehemals zum Königreich Sardinien gehörenden Nizza und Savoyen stand im Übrigen nur bei wenigen Irredentisten auf der Agenda.39 Erste Bestrebungen, das Trentino für einen italienischen Nationalstaat zu gewinnen, reichten zurück bis in die 1848er Revolution.40 Nach 1871 waren es dann vor allem italienische Nationalisten im Trentino, die nichts ausließen, um ihre italianità unter Beweis zu stellen und in der Bevölkerung zu stärken. Hierzu nutzten sie das ganze kulturelle und politische Repertoire von Pressepolitik, Publikationen, Vereinsgründungen, Denkmalpolitik, Aufbau italienischer Büchereien, die bis in die letzten Täler verschickt wurden, Wander- und Fahrradtouren, die das Trentino und Norditalien verbanden.41 In Triest bot die Gründung einer italienischen Universität einen langjährigen Zankapfel, und es war nach 1900 wiederholt zu Studentenunruhen in der Habsburgermonarchie gekommen, allen voran an der Universität Innsbruck. Auch im März 1914 demonstrierten italienische Studenten erneut in Triest und Wien. We37 Ostermann, Duell der Diplomaten. 38 Renzi, In the Shadow of the Sword, S. 30 geht von 750 000 aus. Den Begriff terre irredente prägte ein Garibaldiner aus Neapel, Matteo Renato Imbriani-Poerio (1843–1901), der erst 1877 die Associazione in pro dell’Italia irredenta ins Leben gerufen hatte; Giovanni Sabbatucci, Il problema dell’irredentismo e le origine del movimento nazionalista in Italia, in: Storia contemporanea 1 (1970), S. 467–502, und 2 (1971), S. 53–106. 39 Mario Isnenghi, Italien, in: Gerhard Hirschfeld, Gerd Krumeich, Irina Renz (Hg.), Enzyklopädie Erster Weltkrieg. Paderborn 2003, S. 97–104. 40 Gabriele B. Clemens, Deutsche Italienbilder zur Zeit der Nationalstaatsbewegung, in: Norbert Franz, Jean-Paul Lehners (Hg.), Nationenbildung und Demokratie. Europäische Entwicklungen gesellschaftlicher Partizipation, Frankfurt a.M. 2013, S. 63–83. 41 Elena Tonezzer, Il corpo, il confine, la patria. Associazionismo sportivo in Trentino, 1870– 1914, Bologna 2011.
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nig geschickt agierte darüber hinaus der Gouverneur von Triest. 1913 erließ Conrad von Hohenlohe eine Verordnung, nach der alle Beamten in Triest Österreicher sein müssten. Gleichzeitig wurden Einbürgerungsgesuche von Italienern abgelehnt. Obwohl von dieser Maßnahme letztendlich nur 50 Italiener betroffen gewesen wären, löste diese Bestimmung einen riesigen Proteststurm aus. Die italienische Presse empörte sich und warf Österreich eine perfide Politik vor.42 Unterstützt wurde dieses nationale Engagement in Italien vor dem Krieg von nationalistischen Gruppierungen und einzelnen prominenteren Autoren. So proklamierte etwa Ettore Tolomei „natürliche Grenzen“ aufgrund geografischer und historischer Argumente, doch war seiner 1890 gegründeten irredentistischen Zeitschrift La Nazione Italiana kein langer Erfolg beschieden.43 Vor dem Kriegsausbruch fanden Vertreter der neuen Rechten wie Enrico Corradini, Roberto Forges Davanzanti und Maffeo Pantaleoni ihr Sprachrohr in der Tageszeitung Idea nazionale. Und wie in den europäischen Nachbarländern lässt sich auch für Italien ein Aufschwung nationalistischer politischer Ligen und kultureller Vereine mit chauvinistischen Zielsetzungen beobachten, wie etwa die Lega Nazionale44 oder die Società Dante Alighieri. Diese im Jahr 1889 etablierte Gesellschaft, die zunächst viele liberale Politiker und Notabeln in ihren Reihen versammelte, verfolgte das Ziel, die italienische Kultur und Sprache sowohl in Italien als auch im Ausland zu fördern, driftete aber vor und während des Weltkriegs ab in eine aggressive nationalistische Expansionspolitik.45 1910 gehörte der umtriebige Enrico Corradini wiederum zu den Organisatoren des ersten überregionalen Kongresses der nationalistischen Bewegung in Florenz, auf dem die Associazione Nazionalista Italiana (ANI) gegründet wurde. Wenig später veröffentlichte er seinen viel beachteten Roman La patria lontana.46 Literaten wie Gabriele D’Annunzio heizten die Stimmung mit Theaterstücken wie „La nave“ an.47 Selbst im Lager der linken Demokraten kursierten krude nationalistische Ideologien.48 Zu Beginn der Bewegung zielte die irredentistische Bewegung in erster Linie darauf ab, das Trentino und Triest zu „erlösen.“ Dann griffen die Forderungen 42 Renzi, In the Shadow of the Sword, S. 30f. 43 Zu seiner Person: Gaetano Salvemini, Mussolini Diplomatico, Bari 1952, S. 439f. 44 Josef Murr, Die deutsch-italienischen Beziehungen in der Ära des Ersten Weltkrieges (1914– 1922), Göttingen 1977, S. 21. Allgemein zu diesem Phänomen: Francesco Perfetti, Il movimento nazionalista in Italia (1903–1914) Rom 1994; Adriano Roccucci, Roma capitale del nazionalismo (1908–1923), Rom 2001. 45 Beatrice Pisa, Nazione e politica nella Società Dante Alighieri, Rom 1995. 46 Maddelena Carli, Nazione e rivoluzione. Il socialismo nazionale in Italia, Mitologia di un discorso rivoluzionario, Mailand 2001, S. 21–43. Isnenghi analysiert in einer grundlegenden Studie schon Ende der 1980er Jahre die glühenden Ambitionen Corradinis und anderer Gesinnungsgenossen, die mit ihren Publikationen Stimmung für den Kolonialismus, für den Krieg und für das Vaterland machen wollen. Siehe Mario Isnenghi, Il mito della grande guerra, Bologna 21997. 47 Nach der Aufführung des Stückes im Januar 1908 in Rom zogen aufgebrachte Theaterbesucher durch die Stadt und skandierten imperialistische Sprüche; Maria Gazzetti, Gabriele D’Annunzio, Hamburg 1989, S. 77. 48 Mario Isnenghi, Giorgio Rochat, La Grande Guerra, Bologna 32008, S. 38–42.
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weiter, und nun argumentierten ihre radikalen Vertreter, dass Italiens natürliche Grenze die Alpen mit dem Brennerpass seien. Diese Forderung nach einer österreichisch-italienischen Grenze im Alpenraum wurde nach dem Krieg oft als das zentrale Problem bezeichnet. Doch in der zeitgenössischen diplomatischen Korrespondenz fand sie kaum einen Niederschlag. Es spielte sogar eine eher nachgeordnete Rolle, entgegen der Propaganda der Nachkriegszeit und entgegen einiger aufgeregter Irredentisten. Denn dieser Anspruch traf in weiten Teilen Italiens, zumindest bei den verantwortlichen Politikern auf wenig offizielle Begeisterung. Zugleich unterstützten sie die Bewegung heimlich mit Geldern. Mochten die Regierungen auch mit dem Irredentismus sympathisieren, offen zeigen konnten sie es mit Rücksicht auf den Bündnispartner Österreich natürlich nicht.49 In der Forschung wird zunehmend dafür plädiert, die Wirkung der nationalistischen Propaganda europaweit und die Forderungen der Irredentisten in Italien nicht überzubewerten.50 Sehr pointiert vertritt Gian Enrico Rusconi diese These und fokussiert die politischen Entscheidungsträger, die mit beiden Blöcken verhandelten und hoch pokerten, ja Hasard spielten, allein mit dem Ziel, dass Italien zur Großmacht aufsteigen würde.51 Ihnen dabei Verrat am Dreibund vorzuwerfen, sei unsinnig, auch wenn die deutschen und österreichischen Zeitgenossen diesen Vorwurf immer wieder erhoben. Die italienischen Politiker, der Premierminister Salandra und der Nachfolger des gemäßigten Außenministers Marchese di San Giuliano, Sindney Sonino, versuchten möglichst große Gebietsgewinne zu erzielen. Letzterer vertrat nun resoluter Italiens geopolitische Interessen und stimmte völlig überein mit der vom Ministerpräsidenten geprägten Formel vom „sacro egoismo.“52 Auch der König entschied sich dezidiert für den Kriegseintritt. Neben dem Trentino und Triest konzentrierten sich die geopolitischen Interessen auf den Balkan, wo sie sich unweigerlich mit österreichischen Begehrlichkeiten überschnitten. Wollte man bis dato die unerlösten Gebiete befreien, so ging es jetzt zunehmend um den Großmachtstatus. Und natürlich konnten die Entente-Mächte großzügigere Zusagen in genau diesen Räumen machen, da dies ihre eigenen imperialen Ambitionen nicht betraf. Die deutschen Politiker drängten ihre österreichischen Verbündeten immer wieder, Italien Zugeständnisse zu machen, damit es wenigstens neutral bliebe. Und Österreich machte auch zunehmend größere territoriale Zusagen.53 Letztendlich konnte Italien aber in der zentralen Frage der Kompensationen bei der Entente deutlich mehr erreichen. Das Handeln der italie49 Renzi, In the Shadow of the Sword, S. 30. 50 Christopher Clark, Die Schlafwandler. Wie Europa in den Krieg zog, München 2013, S. 302 fragt zudem, wie tief diese extrem chauvinistischen Überzeugungen überhaupt in der Gesellschaft verwurzelt waren. 51 Gian E. Rusconi, L’azzardo del 1915. Come l’Italia decide la sua guerra, Bologna 2005. 52 Salandra benutzte diese Worte anlässlich einer Rede zu Ehren des im Oktober 1914 verstorbenen Du San Giuliano, abgedruckt wurde sie in: Antonio Salandra, La neutralità italiana. Ricordi e pensieri, Mailand 1928, S. 378. 53 Zu diesen unermüdlichen Bemühungen von deutscher Seite ausführlich: Alberto Monticone, La Germania e la neutralità italiana 1914–1915, Bologna 1971. Eine kürzere Version liegt auch in deutscher Sprache vor: ders., Deutschland und die Neutralität Italiens, 1914–1915, Wiesbaden 1982.
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nischen Politiker entsprach der zeitgenössischen Logik nationaler Interessen und den diplomatischen Gepflogenheiten, wobei dies sowohl für die Neutralität als auch für die zähen Verhandlungen vom August 1914 bis in den Mai 1915 galt. Gebietsabtretungen und Entschädigungen waren damals der klassische Gegenstand diplomatischer Konventionen.54 Wenn in der älteren deutschsprachigen und der internationalen Literatur Italien unerhörter und feiger Verrat vorgeworfen wurde,55 so trifft dies nichts ins Schwarze. Es entsprach dem politischen Horizont der Zeit, der Logik der Macht, des Prestiges und der Mentalität der Politiker, Diplomaten und Offiziere. Instrumentelles Denken, Zynismus und Machtstreben waren keine italienische Besonderheit, die elitären Entscheidungsträger der anderen in den Krieg involvierten Länder agierten genauso. Letztendlich ging es auch nicht mehr darum, das Risorgimento zu vollenden und nur die unerlösten Gebiete zu befreien, dies war eine bis lange in die zweite Nachkriegszeit bemühte nationale Legende.56 Italiens politische Führung wollte dem Königreich den Status einer Großmacht sichern. Abschließend sei noch einmal auf die Thesen Rusconis verwiesen, der dieses politische Hasardspiel als einen schweren Fehler bezeichnet.57 Die Regierung und die militärische Führung kommunizierten auch bis zum italienischen Kriegseintritt nicht, und es bleibt festzuhalten, dass Italien nicht auf diesen Krieg vorbereitet war. Der zu Beginn des Jahres 1914 abgesetzte Ministerpräsident Giovanni Giolitti warnte während der heftigen Debatten dieser Monate immer wieder, der junge und im Innern noch nicht gefestigte Nationalstaat sei nicht nur materiell, sondern auch moralisch einer derartigen Belastungsprobe nicht gewachsen.58 Und er sollte Recht behalten. Zwar hielt Italien den Krieg durch und stand am Ende des Krieges auf der Siegerseite. Die katastrophale Niederlage von Caporetto wurde durch die letzten Schlachten an der Piave getilgt. Aber zu welchem Preis? Ein aktueller Beitrag von Alessandra Parodi zeigt, was den Italienern sowohl an der Front als auch an der Heimatfront physisch und psychisch abverlangt wurde. Hunger, Entbehrungen Krankheiten und Gewalt trugen dazu bei, das liberale politische System zu delegitimieren und zu erschüttern. Letztendlich ebnete der Krieg dem Faschismus den Weg.59 Michael S. Neiberg beschreibt in seinem Buch
54 Rusconi, L’azzardo del 1915. Auch die verantwortlichen Politiker und Militärs haben sich von den Kategorien Prestigegewinn und Großmachtstreben in der Julikrise leiten lassen; Stefan Schmidt, Frankreichs Außenpolitik in der Julikrise 1914. Ein Beitrag zur Geschichte des Ausbruchs des Ersten Weltkrieges, München 2009, S. 372f. 55 Afflerbach, Der Dreibund, S. 868. 56 Oliver Janz, Zwischen Konsens und Dissens. Zur Historiographie des Ersten Weltkriegs in Italien, in: Arnd Bauernkämper, Elise Julien (Hg.), Durchhalten! Krieg und Gesellschaft im Vergleich 1914–1918, Göttingen 2010, S. 195–216. 57 Rusconi, Das Hasardspiel des Jahres 1915, S. 42–44. 58 Holger Afflerbach, Vom Bündnispartner zum Kriegsgegner. Ursachen und Folgen des italienischen Kriegseintritts im Mai 1915, in: Johannes Hürter, Gian E. Rusconi (Hg.), Der Kriegseintritt Italiens im Mai 1915, München 2007, S. 53–69, hier S. 65. 59 Zur großen Überforderung der gesundheitlichen Kräfte nicht nur der Soldaten sondern auch der Zivilbevölkerung vgl. Alessandra Parodi, Infizierte Soldaten, hungernde Zivilisten. Die
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„Dance of the Furies“ überzeugend, dass der Kriegsausbruch von kleinen politischen und militärischen Eliten verantwortet wurde, die glaubten, einen kurzen Kabinettskrieg führen zu können.60 Motiviert von Prestigedenken, militärischer Ehre und geostrategischen Planspielen ruinierten sie Europa im ersten maschinellen Massenkrieg. Die Menschen in Europa waren nur partiell kriegsbegeistert und freudig erregt, sondern eher traurig und resigniert.61 Seine Arbeit beruht vor allem auf englischen, deutschen und französischen Quellen. Würde man seine These mit Hilfe von italienischen Egodokumenten prüfen, dürfte das Ergebnis dasselbe sein.
Gesundheitsentwicklung Italiens im Ersten Weltkrieg, in: Medizin, Gesellschaft und Geschichte 31 (2013), S. 67–94. 60 Michael S. Neiberg, Dance of the Furies. Europe and the Outbreak of World War I, Cambridge 2011. 61 Selbst die bürgerlich-adligen Eliten, die zu Beginn noch eine gewisse Begeisterung und Heroismus demonstrierten, wurden nach den ersten Fronteinsätzen sehr rasch gründlich desillusioniert. Dennoch wurde der Opfertod von den Familien verherrlicht. Vgl. hierzu grundlegend Oliver Janz, Das symbolische Kapital der Trauer. Nation, Religion und Familie im italienischen Gefallenenkult des Ersten Weltkrieges, Tübingen 2009.
TO FIGHT OR NOT TO FIGHT? Die „Späteinsteiger“ und ihre Entscheidung für den Krieg Lothar Höbelt Die Verantwortlichkeiten für den Kriegsausbruch 1914 sind in den letzten hundert Jahren erschöpfend und mit immer wieder anderen Gewichtungen behandelt worden. Doch wie immer auch das Urteil ausfällt: Der Verlauf der Julikrise ermöglichte es allen beteiligten Regierungen, den Krieg als einen Verteidigungskrieg darzustellen und damit zumindest eine Zeitlang einen innenpolitischen Schulterschluss zu gewährleisten – mit gewissen Einschränkungen allenfalls im Bereich der Vielvölkerreiche Österreich-Ungarn und Russland. Diese Ausgangsbasis unterschied sich stark von der Situation der Staaten, die erst nach und nach in den Krieg eintraten. Hier mussten außen- und innenpolitische constraints and incentives in einem komplexen Mischungsverhältnis gegeneinander abgewogen werden. Viele dieser schwankenden Neutralen wurden von beiden Seiten umworben. Als Idealtypus darf man dabei vielleicht von folgendem Modell der Interaktion ausgehen: Innenpolitische Voraussetzungen schränkten die Wahl der Diplomaten beträchtlich ein und ließen ihnen im Wesentlichen nur mehr die Wahl zwischen dem Kriegseintritt auf bloß einer der beiden Seiten oder der Beibehaltung der Neutralität. Die Entscheidung für die Gegenpartei schien kaum oder doch nur unter außerordentlichen Umständen möglich. Die Entscheidung für den Kriegseintritt jedoch, die alles entscheidende Wahl des Zeitpunktes, war im wesentlich von außenpolitischen Konjunkturen abhängig. Dieses Modell passt recht gut zum wichtigsten, ausschlaggebenden Neutralen: Trotz der anglophoben Stimmung von Deutsch-Amerikanern und Iren – und dem Ärger über die Blockade – waren sich doch alle Beobachter einig, dass die USA niemals gegen Großbritannien in den Krieg eintreten würden. „Niemand würde [Präsident Woodrow Wilson] glauben, wenn er England mit Krieg bedrohte“, formulierte es der deutsche Botschafter in Washington, Graf Arthur Bernstorff.1 Allenfalls könnten die USA der Entente gegenüber eine weniger wohlwollende Haltung einnehmen, wie sich das übrigens gerade um die Jahreswende 1916/17 ab1
Bernstorff an Reichskanzler Theobald von Bethmann Hollweg, 13.7.1916, in: André Scherer, Jacques Grunewald (Hg.), L’Allemagne et les problèmes de la paix pendant la première guerre mondiale. Documents extraits des archives de l’Office Allemand des Affaires Étrangères, Bd. I: Des origines à la déclaration de la guerre sous-marine à outrance (août 1914–31 janvier 1917), Paris 1962, n° 285, S. 405–407, hier S. 405. Vgl. auch Avner Offer, The First World War, An Agrarian Interpretation, Oxford 1989, S. 76–78; Bernd Stegemann, Die deutsche Marinepolitik 1916–1918, Berlin 1970.
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zeichnete.2 Doch die Proklamation des uneingeschränkten U-Boot-Krieges3 führte zu einer überraschenden Kehrtwendung.4 Was Berlin damit gelungen war, hat ein amerikanischer Historiker pointiert so formuliert: „Germany was snatching defeat from the jaws of victory.“5 Erich Ludendorffs Verzweiflungsschritt bewahrte Großbritannien vor dem drohenden Bankrott, der seine Importkapazität mehr bedrohte als es die deutschen U-Boote taten. Die Versenkung amerikanischer Schiffe, zusammen mit dem Bekanntwerden des deutschen Bündnisangebots an Mexiko, dem sogenannten Zimmermann-Telegramm, wirkte innerhalb der USA außerdem weitgehend konsensstiftend. Weniger gut passt dieses Modell einer einseitig orientierten öffentlichen Meinung, die jedoch erst von auswärtigen Faktoren aktiviert werden musste, bei näherer Betrachtung auf Italien, das sich souverän – und ohne äußeren Anlass – für den Kriegseintritt entschied.6 Selbst die Prämisse erweist sich als irreführend. Es waren nicht innenpolitische Zwänge in Form irredentistischer Strömungen, wie oft befürchtet, die Italien vom Kriegseintritt an Seite seiner Dreibundpartner abhielten, sondern handfeste strategische Überlegungen, wie sie in Gestalt der sogenannten Mancini-Deklaration schon an der Wiege des Dreibundes formuliert worden waren: Italien könne auf Grund seiner ungeschützten Küsten nicht gegen die Royal Navy Krieg führen.7 Neu war bloß der Umkehrschluss, dass Italien – um seine Stellung als Großmacht zu behaupten – in diesem Fall eben notgedrungen auf der anderen Seite andocken müsse.8 Der italienische Außenminister Sidney
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Arthur S. Link, Wilson, Bd. V: Campaigns for Progressivism and Peace. 1916–1917, Princeton 1965, S. viii f. Karl E. Birnbaum, Peace Moves and U-Boat Warfare. A Study of Imperial Germany’s Policy towards the United States, April 18, 1916–January 9, 1917, Stockholm 1958; Paul Halpern, A Naval History of World War I, London 1994, S. 292–365. Justus D. Doenecke, Nothing Less than War. A New History of America’s Entry into World War I, Louisville 2011; Martin Nassua, „Gemeinsame Kriegführung, Gemeinsamer Friedensschluß“. Das Zimmermann-Telegramm vom 13. Januar 1917 und der Eintritt der USA in den 1. Weltkrieg, Frankfurt a.M. 1992. Zur österreichischen Perspektive vgl. Vaclav Horcicka, Austria-Hungary, Unrestricted Submarine Warfare, and the United States’ Entrance into the First World War, in: International History Review 34 (2012) 2, S. 245–269. John Milton Cooper Jr., The Command of Gold Reversed. American Loans to Britain, 1915– 1917, in: Pacific Historical Review 45 (1976), S. 209–230, hier S. 228. Zum italienischen Fall siehe außerdem den Beitrag von Gabriele B. Clemens in diesem Band. Dasselbe galt noch viel mehr von Spanien, wo König Alfons XIII. – einem Neffen Erzherzog Friedrichs – und dem Militär deutliche Sympathien für die Mittelmächte nachgesagt wurden, die sich in Marokko und bei der Internierung deutscher Kolonialtruppen in Zentralafrika manifestierten. Vgl. Francisco J. Romero Salvado, Spain 1914–1918. Between War and Revolution, London 1999. Umgekehrt war schwer vorstellbar, dass Spanien durch einen Kriegseintritt auf Seiten der Westmächte etwas gewinnen könnte. Rein abstrakt formulierte der Vorgänger Sonninos, der 1914 verstorbene Marchese Antonio di San Giuliano, das Ideal der italienischen Politik: Es möchten sowohl Österreich als auch Frankreich geschlagen werden. Vgl. Gian Enrico Rusconi, L’azzardo del 1915. Come l’Italia decide la sua guerra, Bologna 2005, S. 100.
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Sonnino war seiner politischen Vergangenheit nach alles andere als ein Gegner des Dreibundes, aber er erwies sich als ein entschiedener Gegner der Neutralität.9 Aus dieser Perspektive hätte bloß eine überwältigende Abschreckungskulisse, sprich: ein Sieg der Mittelmächte vor dem Frühjahr 1915, Italien von einem Kriegseintritt abhalten können. Italien sah sich entgegen einem weitverbreiteten Vorurteil nicht als opportunistischer „Trittbrettfahrer“, der die Gelegenheit nützte, territoriale windfall profits einzufahren. Vielmehr verstand es sich als Zünglein an der Waage, das den Krieg zu entscheiden berufen war und diese Gelegenheit auch ergreifen musste, um einem österreichischen Revanchefeldzug zuvorzukommen. Innenpolitisch zählte – allen Manifestationen der Straße zum Trotz – vermutlich nicht bloß die „schweigende Mehrheit“ der Katholiken und Sozialisten, sondern auch die Mehrheit der liberalen Kammermehrheit zu den Kriegs-Skeptikern. Der österreichische Botschafter Karl Macchio übertrieb vermutlich nur leicht, wenn er behauptete, es gäbe in Italien „85% schweigsame Neutralitätsfreunde, 15% schreiende Kriegshetzer“.10 Entscheidend ins Gewicht fiel hier die Weigerung des starken Mannes im Hintergrund, des Langzeit-Premiers Giovanni Giolitti, einen Konflikt mit dem König zu provozieren, mit all seinen unabsehbaren Folgen für Dynastie und Verfassung. Der Druck der öffentlichen Meinung machte demnach zwar nicht Viktor Emanuel III. zum Getriebenen, doch seinen Schwiegervater, den Herren der Schwarzen Berge, König Nikola (Nikita) I. von Montenegro. Es wird oft übersehen, dass Montenegro vom Wiener Ultimatum im Juli 1914 ja nicht betroffen war. Zwischen den Petrović und den Karađorđević bestand eine kaum verhüllte Rivalität. Vom rein diplomatischen Standpunkt aus gesehen winkten einem Montenegro, das nach dem Beispiel aller anderen Nachbarn Serbiens von beiden Seiten Angebote einholte, weit bessere Gewinnchancen als sie die reflexartige Solidarität mit Belgrad versprach. Hier war ganz offensichtlich der Primat der Innenpolitik gegeben: Nikola I. hätte eine neutrale Haltung angesichts der Stimmung in der Skupština schwerlich durchhalten können. Um der starken Partei im Lande, die ohnehin schon mit der Vereinigung der beiden Länder liebäugelte, das Wasser abzugraben, musste der König wohl oder übel gute Miene zum bösen Spiel machen.11 In der Hitze des Gefechts wurde übersehen, dass Montenegro nur Österreich-Ungarn, nicht jedoch dem Deutschen Reich den Krieg erklärt hatte – ein Versehen, das der Berliner Diplomatie übrigens erst Ende 1915 auffiel ...12 9
Holger Afflerbach, Der Dreibund. Europäische Großmacht- und Allianzpolitik vor dem Ersten Weltkrieg, Wien 2002, S. 89; William A. Renzi, In the Shadow of the Sword. Italy’s Neutrality and Entrance into the Great War, 1914–1915, New York 1987. 10 Tagebucheintrag Leopold Graf Berchtolds vom 4.1.1915, in: Österreichisches Staatsarchiv, Wien (ÖStA), Haus-, Hof- und Staatsarchiv (HHStA), NL Berchtold 5. 11 John D. Treadway, The Falcon and the Eagle. Montenegro and Austria-Hungary, 1908–1914, West Lafayette 1983, S. 196–199; Mark Cornwall, Between the Wars. King Nikita of Montenegro and the Great Powers, August 1913–August 1914. In: The South Slav Journal 9 (1986), S. 59–75. 12 Gottlieb von Jagow an Heinrich von Tschirschky, 15.1.1916, in: Scherer, Grunewald (Hg.), L’Allemagne et les problèmes de la paix, Bd. I, n° 185, S. 253f.
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Ganz ähnlich hatte Zar Ferdinand I. von Bulgarien schon bei einer früheren Gelegenheit, im Herbst 1912, über seinen Sekretär die Maxime seines Handelns erklären lassen: Selbst eine ehrenvolle Niederlage sei der Revolution im Inneren vorzuziehen.13 1914/15 war Bulgarien jedoch von allen Beitrittskandidaten derjenige, der am besten dem Bild entsprach, das man gemeinhin Italien unterstellte – nämlich das eines Neutralen, der sorgfältig die Angebote beider Seiten einholte, ja, sie zu einem Gebot geradezu aufforderte, bevor es sich letztendlich für den Bestbietenden entschied. Im Falle Bulgariens hatte der Premier diese Offerte am 19. Juni 1915 sogar öffentlich auf einer Pressekonferenz ausgelobt.14 Auch die innenpolitische Lage widersprach dieser Interpretation nicht: Mit Ministerpräsident Wassil Radoslawow war zwar ein Anhänger der Mittelmächte am Steuer, doch sein Rückhalt im Lande war nicht allzu beeindruckend.15 Im Rahmen des Systems des „Rotationismus“, des von oben gesteuerten routinemäßigen Machtwechsels, konnte der König ihm jederzeit die Mehrheit entziehen.16 Die russophile Tendenz war in Bulgarien traditionell stark verankert. Der Feindschaft mit dem russischen Klienten Serbien wegen des Konflikts um Makedonien standen auf der anderen Seite Ansprüche gegenüber dem mit den Deutschen verbündeten Osmanischen Reich (Adrianopel) gegenüber. Wie weit diese Partie wirklich offen war, lässt sich mangels eines wirklich überzeugenden Angebots der Entente nicht mit Sicherheit feststellen. Die Westmächte vermochten in einem bestimmten Moment zwar den Griechen das Angebot zu entlocken, Bulgarien für den Fall eines gemeinsamen Vorgehens gegen Konstantinopel das seit den Balkankriegen umkämpfte thrakische Gebiet um Kavala zu überlassen. Doch Serbien setzte solchen Bemühungen unüberwindbaren Widerstand entgegen. Zu einem Angebot, das hic et nunc operationalisierbar war – und nicht erst bei der Endabrechnung in ferner Zukunft Berücksichtigung finden würde – war der serbische Regierungschef Nikola Pašić nicht bereit.17 Insofern hatten die Mittelmächte im Poker um die Gunst Sofias von Anfang an die besseren Karten. Dennoch ist auch hier der Faktor des timing in Rechnung zu stellen: Ferdinand I. von Bulgarien traf seine Entscheidung für die Entsendung einer Militärmission nach Pleß Ende Juli 1915, zu einem Zeitpunkt, als die Offensive der Mittelmächte nach Tarnów-Gorlice ihren Höhepunkt erreichte. Damals erklärte auch sein griechischer Nachbar König Konstantin, ein Schwager Kaiser Wil-
13 Tagebucheintrag Berchtolds vom 9.10.1912, in: ÖStA, HHStA, NL Berchtold 3. 14 Wolfgang-Uwe Friedrich, Bulgarien und die Mächte 1913–1915, Stuttgart 1985, S. 227. 15 Bei den Wahlen, die für den Regierungsapparat nie verloren gingen, vermochte Radoslawow nur mit Hilfe der muslimischen Pomaken eine knappe Mehrheit zu erringen. Vgl. Richard J. Crampton, Bulgaria, Oxford 2007, S. 449–455. 16 Vgl. Lothar Höbelt, Monarch und Parlament. Der a-symmetrische Sonderweg zur parlamentarischen Monarchie, in: Gerald Khol (Hg.), Parliamentarism in Small States – Parliamentarism and Monarchy = Czasopismo Prawno-Historyczne 61 (2009) 2, S. 167–175, hier S. 168f. 17 Friedrich, Bulgarien und die Mächte, S. 269.
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helms II., den Engländern schadenfroh, man möge doch einfach zur Kenntnis nehmen, dass die Deutschen den Krieg gewonnen hätten.18 Dieses Kalkül hat der österreichisch-ungarische Außenminister István Burián – ein früherer Generalkonsul in Sofia – so ausgedrückt: Die umworbenen Neutralen sahen sich nicht als Zünglein an der Waage, wie das für die USA objektiv, für Italien zumindest subjektiv zutraf, sondern als „Zünglein doch erst an der sich schon stark neigenden Waage“.19 Damit war auch der vielleicht spannendste Fall angesprochen: der geradezu hamletartig, immer wieder hinausgeschobene Kriegseintritt Rumäniens, der so oft vorausgesagt worden war, dass man im August 1916 schließlich schon gar nicht mehr damit rechnete.20 Gemeinhin rechnet man auch Rumänien zu den Staaten, die auf Grund der eindeutigen Sympathien bzw. Antipathien ihrer öffentlichen Meinung nicht in der Lage waren, wirklich alle Optionen auszuloten. Vielleicht lässt sich die Resultante so charakterisieren: Ein Kriegseintritt auf Seiten der Mittelmächte war zwar nicht völlig ausgeschlossen, aber erst zu einem Zeitpunkt möglich, „wenn unser Sieg zweifellos wäre“, wie Graf Ottokar Czernin analysierte. Dann „verlöre“ Rumäniens Hilfe allerdings auch „jeden Wert“.21 Es fehlte allerdings nicht an Stimmen und Projekten, die im Zusammenhang mit einem innenpolitischen Umschwung eine solche Wendung doch noch für möglich hielten, auch zu einem früheren Zeitpunkt. Czernin setzte im Winter 1914/15 auf den Konservativen Petru Carp, ein halbes Jahr später auf dessen Rivalen Alexandru Marghiloman, in Verbindung mit einer „Agrar-Revolution von oben“, angeführt von den Bojaren, die angesichts der Sperre der Meerengen für ihr überschüssiges Getreide, das sich in den Lagerhäusern und Eisenbahnwaggons staute, keinen anderen Käufer hatten als die Mittelmächte.22 Selbst der als Entente-freundlich geltende liberale Premier Ion Brătianu unterließ nicht, Czernin die Möglichkeit eines Kriegseintritts auf Seiten der Mittelmächte zumindest als Eventualität kokett in Aussicht zu stellen.23 Zwischen dem montenegrinischen Fall, in dem die Volksstimmung einer widerwilligen Dynastie keine Wahl ließ, und dem
18 Christos Theodoulou, Greece and the Entente. August 1, 1914–September 25, 1916, Thessaloniki 1971, S. 169. Bezeichnend war, dass der britische Diplomat Eustace Percy diese Einschätzung teilte. Vgl. ebd., S. 206. 19 Protokoll des Ministerrats vom 18.6.1915, in: Miklós Komjáthy (Hg.), Protokolle des Gemeinsamen Ministerrates der Österreichisch-Ungarischen Monarchie (1914–1918), Budapest 1966, Nr. 11, S. 233–266, hier S. 235. 20 Gerhard P. Groß, Ein Nebenkriegsschauplatz. Die deutschen Operationen gegen Rumänien 1916, in: Jürgen Angelow (Hg.), Der Erste Weltkrieg auf dem Balkan. Perspektiven der Forschung, Berlin 2011, S. 143–158, hier S. 150f. 21 Tel. 813, 26.6.1915, in: ÖStA, HHStA, PA I 518, Liasse XLVII/7d; 1.6.1915, in: ÖStA, HHStA, PA I 499, fol. 235. 22 Czernin an Prinz Gottfried Hohenlohe, 8.2.1915, in: Archiv Fischer-Colbrie, Wien; Bericht 69 A-B/P, 17.7.1915, sowie Tel. 904, 27.7.1915, in: ÖStA, HHStA, PA I 518, Liasse XLVII/7d. Vgl. auch Gary Shanafelt, Ottokar Czernin’s Mission to Romania, 1913–1916, in: Austrian History Yearbook 19/20 (1983/84), S. 189–214. 23 5.6.1915, in: ÖStA, HHStA, PA I 499, fol. 239.
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bulgarischen Modell einer primär außenpolitisch motivierten Entscheidungsfindung nahm das rumänische Beispiel wohl eine Zwischenposition ein. Ähnlich wie Bulgarien von Seiten der Mittelmächte, so waren auch Rumänien von Seiten Russlands bereits zu einem relativ frühen Zeitpunkt (1. Oktober 1914) beachtliche Gewinne (Siebenbürgen, ohne Banat und Bukowina) zugesagt worden, allein schon für die Beibehaltung einer wohlwollenden Neutralität.24 Diese Zusicherung erwies sich allerdings als ungeschickter politischer Schachzug, denn sie enthob Rumänien zumindest kurzfristig der Notwendigkeit eigener Anstrengungen. Im Frühjahr 1915 einigte man sich zunächst mit Italien auf einen gemeinsamen Kriegseintritt, doch ließ sich Brătianu von Tarnów-Gorlice abschrecken. Umgekehrt wurde der Entschluss zum Kriegseintritt im Sommer 1916 offensichtlich durch die Erfolge der Brussilow-Offensive ausgelöst, denen freilich zu Beginn des dritten Kriegsjahres kaum mehr jene hypnotisierende Wirkung zugesprochen werden kann wie Tarnów-Gorlice im Jahr davor. Vielmehr kam, so Glenn E. Torrey, die Furcht hinzu, sich bei einer Fortsetzung der bisherigen Hinhaltetaktik zwischen alle Stühle zu setzen. Rumänien lief bei fortgesetzter Neutralität nämlich Gefahr, der Gewinne verlustig zu gehen, die ihm im Herbst 1914 in Aussicht gestellt worden waren – mit dem Zusatz allerdings, dass es sich dabei um eine Holschuld handelte, Rumänien die Gebiete also irgendwann auch tatsächlich selbst in Besitz nehmen hätte müssen. Brătianu war zwar entschlossen, erst einzugreifen, wenn die Siegeschancen mindestens 75% betrugen, wollte aber auch „den Zug nicht verpassen“.25 Territoriale Trinkgelder waren Rumänien als einzigem Land schon während des Krieges in Aussicht gestellt worden, nämlich eine Grenzkorrektur in der österreichischen Bukowina (nicht dem ungarischen Siebenbürgen), im Gebiet von Suczawa, inklusive der Grabstätte Stephans des Großen im Kloster Putna – allerdings nur als Belohnung für den Fall des Kriegseintritts, nicht als Prämie für die Munitionsdurchfuhr in das Osmanische Reich, wie von Deutschland angeregt.26 Diese Offerte stand freilich unter demselben Vorbehalt, wie das halbherzige Angebot einer Überlassung des Trentino, das nach langem Zögern im März 1915 an die Adresse Roms erging. Czernin als k.u.k. Botschafter in Bukarest formulierte ohne Umschweife, es „ginge meine Meinung dahin, diesen Vertrag nach gewonnenem Feldzug einfach nicht zu halten. [...] Mit Falschspielern und Erpressern 24 Die Österreicher beschwerten sich in dem Zusammenhang über die russischen Kreuzer, die angeblich auf der unteren Donau patrouillierten bzw. die Lieferungen, die Serbien auf diesem Wege erreichten – im Gegensatz zur Munitionsdurchfuhr in das Osmanische Reich, die Rumänien verweigerte. Vgl. Brief von Friedrich von Wiesner an Alexander Musulin, 27.7.1915, in: ÖStA, Kriegsarchiv (KA), NL Wiesner. 25 Glenn E. Torrey, Rumania’s Decision to Intervene. Brătianu and the Entente, June–July 1916, in: Rumanian Studies 2 (1973), S. 3–29, hier S. 4 und 11. Vgl. auch V. N. Vinogradov, Romania in the First World War. The Years of Neutrality, 1914–1916, in: International History Review 14 (1992), S. 452–461, hier S. 455. 26 Ulrike Schmidt, Die Beziehungen Österreich-Ungarns zu Rumänien vom 1.VIII.1914 bis zum Kriegseintritt Rumäniens, Diss., Wien 1961, S. 68–77; Gerard E. Silberstein, The Troubled Alliance. German-Austrian Relations 1914 to 1917, Lexington 1970, S. 184–187.
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gibt es keinen ‚Ehrenstandpunkt‘.“27 Zahlreiche Zeugnisse belegen ein ähnliches Kalkül gegenüber Italien. 28 Waren die Österreicher, um die es bei diesen Verhandlungen in erster Linie ging, wenig freigiebig im Umgang mit territorialen Anreizen, so geizten sie nicht mit materiellen Gratifikationen für einzelne Politiker und Journalisten.29 Dies galt insbesondere für Czernin, der solche „Handsalben“ auch anderswo befürwortete.30 Die Erfolge bzw. Misserfolge dieser Bestechungskampagnen sind instruktiv, weil sie die Möglichkeiten und Grenzen derartiger Manöver aufzeigen: Eine Kriegsentscheidung konnte durch sie nicht umgestoßen oder herbeigeführt werden, aber sie wirkten als Katalysator für eine Verzögerung.31 Verständlich war auch, dass die Diplomaten in der Zentrale zu einer geopolitisch determinierten, fatalistischen Sicht der Dinge neigten, während die men on the spot, gefangen im Netz der persönlichen Beziehungen, Sympathien und Antipathien, den Hebel eher bei innenpolitischen Konstellationen ansetzten. Griechenland trat formell erst 1917, nach der Abdankung des Königs, in den Krieg ein. Dabei war vor dem 28. Juni 1914 gerade die Ägäis als der wahrscheinlichste Schauplatz eines kommenden Krieges betrachtet worden. Die Koordinaten der griechischen Außenpolitik wiesen daher seit dem Kriegseintritt des Osmanischen Reiches eindeutig in Richtung einer Bundesgenossenschaft mit der Entente – ganz abgesehen davon, dass ein Kriegseintritt gegen Großbritannien, schlimmer noch als im Falle Italiens, einem Selbstmord gleichgekommen wäre. Die Frage des tatsächlichen Kriegseintritts Griechenlands stellt sich daher in erster Linie als Ergebnis des Ringens zwischen König Konstantin I. und dem liberalen Parteichef Eleftherios Venizelos dar. Doch diese rein innenpolitische Perspektive wurde schon im März 1915 durch eine Intervention von außen ergänzt, als das russische
27 Czernin an Hohenlohe, 2.2.1915, in: Archiv Fischer-Colbrie, Wien. 28 Im Falle Italiens äußerte der ehemalige Ministerpräsident Baron Max Wladimir Beck, er „würde jeden Vertrag mit Italien brechen und die Hostie nehmen“. Tagebucheintrag von Alexander von Spitzmüller, 7./12.5.1915, in: ÖStA, HHStA, NL Spitzmüller. Auch vom Thronfolger und späteren Kaiser Karl I. ist die Aussage überliefert, man könne ruhig „ein Stückel Trentino hergeben […] Einmal werden wir doch über sie [die Italiener] herfallen müssen.“ Tagebucheintrag Berchtolds vom 6.1.1915, in: ÖStA, HHStA, NL Berchtold 5. 29 Rumänien im Ersten Weltkrieg bietet in dieser Beziehung eine Parallele zu Spanien im Zweiten Weltkrieg. Das britische Schatzamt stellte damals nicht weniger als 10 Millionen Pfund für flächendeckende Bestechungsversuche zur Verfügung. Vgl. Richard Wigg, Churchill and Spain. The Survival of the Franco Regime, 1940–45, London 2006. 30 So wollte Czernin 1917 z.B. den spanischen Ministerpräsidenten Graf Romanones, der als „einer der größten Exporteure von Kontrabande“ von Lieferungen an die Entente profitierte, „mit einigen Millionen für uns gewinnen“. In der „Geldfrage“ sah er „kein Hindernis.“ Tel. 63, 7.1.1917, in: ÖStA, HHStA, PA I 952, Liasse 25e. 31 Lothar Höbelt, Kaiser Karl und sein Außenminister Czernin: „Hier stehe ich; ich kann auch anders“, in: Heeresgeschichtliches Museum (Hg.), Kaiser Karl I., Wien 2013, S. 17–36; vgl. Glenn E. Torrey, Rumania and the Belligerents 1914–1916, in: Journal of Contemporary History 1 (1966) 3, S. 171–190, hier S. 180.
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Veto gegen eine griechische Beteiligung am Dardanellen-Unternehmen dem König den Anlass lieferte zur Entlassung des ungeliebten Premiers.32 Auch in Portugal hing zwar nicht die Entscheidung für den Kriegseintritt (immerhin war es Deutschland, das im Februar 1916 den Bruch formalisierte), doch die Gestalt, die dieser Krieg für Portugal annahm, im Wesentlichen von innenpolitischen Kombinationen ab. Sollte sich die portugiesische Beteiligung, wie von der Opposition ins Auge gefasst, auf einen Kolonialkrieg in Afrika beschränken oder in die Entsendung portugiesischer Divisionen an die Westfront münden, wie es Afonso Costas Radikale 1916/17 durchsetzten? Dieser Einsatz blieb freilich unbelohnt – nicht bloß, weil die Reaktion auf die Verluste in Flandern im Herbst 1917 zu einem Umsturz in Portugal führte,33 sondern auch, weil man Portugal – anders als z.B. Belgien – keine Vergrößerung seines Kolonialbesitzes in Form eines Anteils an den deutschen Schutzgebieten zugestand. Allenfalls war hier das Gegenteil von opportunity costs zu konstatieren, nämlich die Vermeidung potenzieller Verluste. Portugal musste sich bei einer Seite, und das konnte in diesem Fall nur heißen: bei England, rückversichern, um nicht Gefahr zu laufen, dass sein Kolonialbesitz als Kompensationsobjekt herhalten musste, wie es in deutsch-britischen Besprechungen der Vorkriegszeit angedacht worden war (und später auch von Wilson aufgegriffen wurde).34 Ähnliche Befürchtungen mögen auch bei der Entscheidung in Konstantinopel Pate gestanden haben.35 Eine gewisse Asymmetrie im Verhältnis zu den Blöcken ergab sich auch hier schon aufgrund der geopolitischen Ausgangsbasis. Das Osmanische Reich mochte als Ausgangspunkt für allerlei phantastische Unternehmungen wie aus „1001 Nacht“ betrachtet werden, bis hin zum „Heiligen Krieg“.36 Ganz prosaisch war es – bei allen Zweifeln – als Verbündeter für die Mittelmächte immerhin interessant als klassische Diversion, solange es gegnerische Energien band.37 Türkische Truppen – oder wenn man so will, vielfach auch bloß die Schwierigkeiten des Terrains – beschäftigten bei Kriegsende immerhin zwei Mil32 Lothar Höbelt, Der Balkan und die Strategie der Entente, in: Angelow (Hg.), Der Erste Weltkrieg auf dem Balkan, S. 57–73, hier S. 59; Theodoulou, Greece and the Entente, S. 119. 33 Douglas L. Wheeler, Republican Portugal. A Political History, 1910–1926, Madison 1978, S. 133–138; Filipe Ribeiro de Meneses, Sidonio Pais, the Portuguese „New Republic“ and the Challenge to Liberalism in Southern Europe, in: European History Quarterly 28 (1998), S. 109–130. 34 Michael Fröhlich, Von Konfrontation zur Koexistenz. Die deutsch-englischen Kolonialbeziehungen in Afrika zwischen 1884 und 1914, Bochum 1990, S. 267f. und 296–310; Link, Wilson, Bd. IV: Confusions and Crises. 1915–1916, Princeton 1964, S. 128 f. 35 In Österreich-Ungarn kam man immer wieder auf die Idee eines Kompromissfriedens auf Kosten der Osmanen zurück. Vgl. die Berichte Pallavicinis 102 und 103 vom 11. und 15.12.1917, in: ÖStA, HHStA, PA I 945, Liasse 21a. 36 Alexander Will, Kein Griff nach der Weltmacht. Geheime Dienste und Propaganda im deutsch-österreichisch-türkischen Bündnis 1914–1918, Köln 2012, S. 230. 37 Die Österreicher legten den Osmanen sogar anstelle einer Offensive im Kaukasus eine amphibische Operation ans Herz, nämlich eine Landung bei Odessa. Vgl. das Protokoll des Ministerrats vom 7.9.1914, in: Komjáthy (Hg.), Protokolle des Gemeinsamen Ministerrates, Nr. 6, S. 172–177, hier S. 174.
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lionen Briten, zumindest der Zahl nach ebenso viele wie an der Westfront. Für die Entente hingegen war einzig und allein die freie Durchfahrt durch die Meerengen wichtig. Dieser Faktor allein machte eine „wahre“ Neutralität für die Osmanen nahezu unmöglich. Enver Pascha hielt daher – wie Sonnino – ein Entweder-oder für unumgänglich. Eine Sperre – wie in Krisensituationen üblich – musste über kurz oder lang Reaktionen der Entente provozieren. Eine Öffnung musste als Entscheidung gegen die Mittelmächte zu Buche schlagen, ohne auf entsprechende Gegenleistungen der Entente rechnen zu können.38 Ein deutscher Sieg war für die Osmanen günstiger als jeder Erfolg Russlands oder selbst Großbritanniens. Anders als die Italiener dürfte Enver Pascha nicht damit geliebäugelt haben, entscheidend zum Kriegsausgang beitragen zu können. Auch als Zünglein an der sich schon neigenden Waage kann seine Entscheidung ganz offensichtlich nicht interpretiert werden. Seine Flucht nach vorne war auch kein klassisches Vabanquespiel. Sie lässt sich besser mit den Kategorien des Bridgespiels erfassen: Wenn man nur bei einer einzigen Verteilung der Karten gewinnen kann, muss man so spielen, als ob sie auch gegeben wäre. Allenfalls mag man argumentieren, dieser Imperativ habe nicht bloß für das Osmanische Reich, sondern auch für die innenpolitische Position Enver Paschas und seiner Clique gegolten. Je nachdem, für wie groß man dieses persönliche Moment hält, wird man deren Putsch im Januar 1913 eine mehr oder weniger große Bedeutung beimessen.39 In der außereuropäischen Welt waren die Motive für den Kriegseintritt (oder die Beibehaltung der Neutralität im Falle Persiens und Afghanistans) einfach zu beschreiben: Man beugte sich dem Druck der Entente und versuchte, das Beste aus der Situation zu machen. Eine Ausnahme bildete hier lediglich Japan, das mit Großbritannien ein Bündnis verband, das zu den Opfern dieses Krieges zählte, weil es nach 1918 nicht mehr erneuert wurde. Doch der eigentliche Grund des Kriegseintritts Japans lag in seiner Agenda in Ostasien, die unter dem Deckmantel eines Engagements gegen Deutschland vorangetrieben werden konnte. Großbritannien versuchte deshalb auch bereits nach wenigen Tagen, seinen anfangs geäußerten Wunsch nach einer japanischen Kriegserklärung an Deutschland wieder zurückzunehmen, allerdings ohne Erfolg.40 In China nahm die Debatte um den Kriegseintritt im Sommer 1917 vordergründig die Form einer Auseinandersetzung zwischen zwei Warlords an, dem pro-japanischen Ministerpräsidenten Tuan Ch’i-jui und dem letztlich unterlegenen
38 Enver Pascha stieß Anfang August mit einem Versuchsballon bei Sazonow wie Grey auf Ablehnung, nicht zuletzt, weil beide Bulgarien mehr Bedeutung zubilligten. Vgl. Mustafa Aksakal, The Ottoman Road to War in 1914, Cambridge 2008, S. 97f. und 127–131. 39 Feroz Ahmad, The Young Turks. The Committee of Union and Progress in Turkish Politics 1908–14, Oxford 1969, S. 107. 40 David Stevenson, The First World War and International Politics, Oxford 1988, S. 42; Chushichi Tsuzuki, The Pursuit of Power in Modern Japan 1825–1995, Oxford 2000, S. 188f. Auffällig war das stärkere Engagement der ersten „parlamentarischen“ Regierung („TaishoDemokratie“) im Vergleich zur skeptischen Haltung der kaiserlichen Berater (genro).
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monarchistischen General Chang Hsün.41 Die Entscheidung Tuans zum Kriegseintritt lässt sich als Ausfluss japanischer Klientelpolitik interpretieren – oder von einem übergeordneten Gesichtspunkt aus als Flucht nach vorne, um diesem Druck zu entgehen und sich mit der Entsendung von über 100 000 Kulis nach Europa das Wohlwollen der übrigen Entente-Mächte zu sichern. Dieses Kalkül scheiterte nicht zuletzt an der russischen Oktoberrevolution, die zu einer Aufwertung Japans im Fernen Osten führte. Afghanistan lehnte alle deutschen Aufforderungen zum Kriegseintritt ab, um paradoxerweise 1919 eine Kriegserklärung gegen Großbritannien auszusprechen. Auf den Schah, über dessen Sympathien kein Zweifel bestehen konnte, setzten die Mittelmächte anfangs große Hoffnungen. Doch auch er entschied sich um die Jahreswende 1915/16 schließlich gegen die unsichere Variante eines Kriegseintritts und einer Flucht aus Teheran – und für eine Unterwerfung unter die Entente, die den Großteil seines Landes besetzt hielt.42 Das umgekehrte Motiv, sich mit dem Kriegseintritt anders gelagerte Schwierigkeiten zu ersparen, lässt sich am Beispiel Brasiliens belegen. Südamerika war natürlich ebenfalls vom uneingeschränkten U-Boot-Krieg betroffen. Die schrittweise Eskalation im Verhältnis zu Deutschland, vom Abbruch der Beziehungen bis zum Eintritt des Kriegszustandes im Herbst 1917, wurde in Rio de Janeiro jeweils mit der Versenkung eines weiteren brasilianischen Dampfers gerechtfertigt. Der U-Boot-Gefahr war mit einer Kriegserklärung allerdings nicht abzuhelfen. Man hoffte jedoch, dass sie beitragen konnte zur Bewältigung der ökonomischen Probleme des Landes, das angewiesen war auf den Export von Kaffee und den Import von Kohle. Denn in beiden Fällen war man vom Wohlwollen der Entente abhängig.43 Das neutrale Argentinien, mit seiner Ausfuhr an Fleisch und Getreide, befand sich hier in einer viel günstigeren Position. Die Engländer benötigten 1917/18 dringend Nahrungsmittel, die auf dem Transport weniger lang Schiffsraum banden als australische Lieferungen. Doch auf Kaffee konnten die Tee-Trinker zur Not verzichten ... Was lässt sich als Fazit dieses gerafften Überblicks festhalten? Zunächst sollte vielleicht vor der ideologischen Schablone gewarnt werden, vor einer Überschätzung von Sympathien und Antipathien. Es gab keinen Kriegseintritt aus bloßer weltanschaulicher oder ethnischer Sympathie. Selbst Radoslawow oder Brătianu, die als „Überzeugungstäter“ hätten gelten können, überlegten lange (manche würden sagen: zu lange), bevor sie die Gelegenheit beim Schopfe packten. Nur in Montenegro war die vox populi entscheidend. In Griechenland gab es zwar eine sehr enge Wechselwirkung zwischen Innen- und Außenpolitik, doch galt hier der „Primat der Außenpolitik“: Nicht Venizelos Sieg brachte die Intervention auf Seiten der Entente, sondern die Intervention der Entente war verantwortlich für Veni41 Jonathan Fenby, The Penguin History of Modern China. The Fall and Rise of a Great Power, 1850–2009, London 2008, S. 139f.; Immanuel C. Hsü, The Rise of Modern China, Oxford ²1975, S. 585. 42 In Kermanschah bildete sich im Januar 1916 eine „weitgehend machtlose provisorische“ Gegenregierung. Will, Kein Griff nach der Weltmacht, S. 261 und 281–283. 43 Joseph Smith, Unequal Giants. Diplomatic Relations between the US and Brazil, 1889–1930, Pittsburgh 1991, S. 111–116.
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zelos Sieg. Für Bulgarien und Rumänien, die am längsten und hartnäckigsten umworbenen „Späteinsteiger“ dieses Krieges – für die Kleinen, die sich am riskanten Spiel der Großen beteiligten – ging es darum, sich die größtmöglichen Vorteile zu sichern, den richtigen Zeitpunkt zu wählen und zum Zünglein an einer sich schon neigenden Waage zu werden. Für Großmächte oder solche, die sich dafür hielten – denn der Status der (europäischen) Großmacht war selbst vom Verlauf des Krieges abhängig –, ist ein anderes Kalkül in Rechnung zu stellen.44 Dies gilt zunächst für das Osmanische Reich, das als zumindest einstige Großmacht am unteren Ende dieser Skala angesiedelt war. Seine prinzipielle Entscheidung für das Bündnis mit den Mittelmächten erfolgte im Zuge der Julikrise, als noch keine greifbaren Indizien für eine Einschätzung der Erfolgschancen beider Parteien vorlagen. Für Italien lässt sich vor allem Selbstüberschätzung, aber auch das Gegenteil eines opportunistischen Kalküls im engeren Sinne ausmachen. Denn Italien ging davon aus, sich die Mittelmächte, zumindest aber Österreich-Ungarn, allein schon durch seine Neutralität zu einem Gegner gemacht zu haben, dessen Erfolg deshalb verhindert werden müsse. Im Falle der USA ist immer wieder argumentiert worden, diese hätten, ob nun aus ideologischen oder finanziellen Beweggründen, in den Krieg eingegriffen, ja eingreifen müssen, um eine britische Niederlage oder einen deutschen Sieg zu verhindern.45 Doch diese Annahme erweist sich nicht als stichhaltig. Man wird bestenfalls den amerikanischen Außenminister Robert Lansing – wie Brătianu – in die Schublade der prinzipiell pro-alliierten Politiker stecken können. Doch die Politik Wilsons, der noch am 22. Januar 1917 die Briten mit seiner Rede über einen Frieden „ohne Sieger und Besiegte“ vor den Kopf stieß, folgte einer anderen Logik. Wilson und Lansing verfolgten um die Jahreswende 1916/17 ganz offensichtlich Strategien, die einander widersprachen, ähnlich, wie das bei Reichskanzler Bethmann Hollweg und seinem Staatssekretär Zimmermann der Fall war.46 Doch als entscheidend erwiesen sich Anfang 1917 nicht die Intrigen Lansings, sondern der Entschluss Ludendorffs.47 44 Stevenson, The First World War and International Politics, S. 64, formuliert es am Beispiel der USA so: „It could afford to disregard the preliminary question of which side was the more likely to win, as it could bestow victory on either.“ 45 Diese Auffassung war bei deutschen Militärs populär. Vgl. A. von Cramon, Unser österreichisch-ungarischer Bundesgenosse im Weltkriege. Erinnerungen aus meiner vierjährigen Tätigkeit als bevollmächtigter deutscher General beim k.u.k. Armeeoberkommando, Berlin 1920, S. 97f. und 116. Neuerdings hat Jay Winter hat auf einer Tagung in Leeds im Juni 2009 dieselbe Ansicht vertreten. 46 Doenecke, Nothing Less than War, S. 234: „Seldom in American history had a cabinet official so undercut a president.“ Zum deutschen Pendant vgl. Nassua, „Gemeinsame Kriegführung, Gemeinsamer Friedensschluß“, S. 10f. 47 Stevenson, The First World War and International Politics, S. 64 und 76, betont zwar, „breaking off relations was by no means a commitment to declaring war.“ Er räumt aber ein: „In reality, there is little evidence that Germany had an opportunity to pursue unrestricted submarine warfare while avoiding hostilities with the USA.“ Für Wilson persönlich stellte die Aussicht, als Kriegführender auch die Friedensordnung stärker mitgestalten zu können, ein zusätzliches Motiv dar.
ABSTURZ KONKURRIERENDE DEUTUNGEN, FEINDBILDER UND MILITÄRISCHER ILLUSIONISMUS
SEXUALMORAL UND GESCHLECHTERHIERARCHIE Rückwirkungen des Ersten Weltkriegs in Deutschland und Frankreich Malte König „Am Anfang des Kriegs, als der Sturm der vaterländischen Begeisterung durch die deutschen Lande fuhr und Gott wieder im Herzen von Tausenden aufwachte, die ihn verloren hatten, da schien es, als würde nun vieles vom Faulsten, das an der körperlichen und geistigen Gesundheit unseres Volkes zehrte, weggefegt [...]“, verkündete Professor Paul Wurster im Oktober 1915 auf einer Konferenz der Inneren Mission. „Man rief in Berlin den Dirnen, die sich noch zeigten, zu, sie mögen sich schämen und arbeiten, wo alles opfere; man konnte es nicht mehr ertragen, daß Tausende von den Töchtern unseres Volks faul vom Laster lebten, wo unsere Söhne auszogen, um zu siegen oder zu sterben.“1 Ähnliche Hoffnungen wurden auf französischer Seite gehegt, wie aus einer Erklärung Kardinal Alfred Baudrillarts hervorgeht. Erfreulich nannte dieser im August 1914 die Umstände des Kriegsausbruchs. Seit vierzig Jahren habe er auf diesen Augenblick gewartet: Frankreich richte sich auf, allein durch die reinigende Wirkung des Krieges könne es wieder zu Kräften kommen.2 Insbesondere in konservativen Kreisen finden sich Stimmen, die hier wie dort mit einer sittlichen Erneuerung der Nation rechneten, welche dem Zerfall alter Moralvorstellungen und Werten Einhalt gebieten würde. Im „Stahlbad des Krieges“ werde die Gesellschaft Sühne leisten und ihr Urteilsvermögen sowie ihre Willenskraft wiederfinden, um gestärkt aus der Prüfung hervorzutreten.3 Den Sozialwissenschaftler Gustave Le Bon erinnerte das Ereignis gar an die Französische Revolution, es handele sich um einen dieser historischen Momente, in dem „die Menschen ihre Ideale, ihre Prinzipien und auch ihre Eliten“ austauschten.4 1
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Paul Wurster, Die Prostitutionsfrage im Lichte des Krieges. Referat auf der Arbeitskonferenz der südwestdeutschen Konferenz für Innere Mission am 20. Oktober 1915 in Heidelberg, Karlsruhe 1917, S. 5. Ich danke Robert Sommer für den Hinweis auf dieses Dokument. Vgl. Bruno Grabinski, Weltkrieg und Sittlichkeit. Beiträge zur Kulturgeschichte der Weltkriegsjahre, Hildesheim 1917, S. VI, 49 und 88f. Jean-Jacques Becker, Les Français dans la Grande Guerre, Paris 1980, S. 34. Vgl. Jean-Yves Le Naour, Misère et tourments de la chair durant la Grande Guerre. Les mœurs sexuelles des Français, 1914–1918, Paris 2002, S. 24–30; Kurt Flasch, Die geistige Mobilmachung. Die deutschen Intellektuellen und der Erste Weltkrieg, Ein Versuch, Berlin 2000, S. 19–23, 77–79, 195–198. Gustave Le Bon, Enseignements psychologiques de la guerre européenne, Paris 1920 (Erstausgabe 1915), S. 6f.
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Wie im Falle des „Augusterlebnisses“, nach dem die Volksmassen 1914 angeblich einhellig in die Kriegsbegeisterung einstimmten, dürfen auch diese Hoffnungen einiger Intellektueller nicht kritiklos verallgemeinert werden. Nicht allein, dass die Bevölkerung in beiden Ländern ein breiteres Spektrum an Stimmungen und Reaktionen aufwies, als von der Propaganda konstruiert und verbreitet.5 Auch an der regenerierenden Kraft des Krieges regten sich von Anfang an Zweifel. Um diese nämlich zu erhoffen, musste vorab die Dekadenz, welche der Epoche unterstellt wurde, als gegeben akzeptiert werden. In Frankreich waren sich Sozialisten und Radikale durchaus bewusst, dass sie den Feinden der Republik zuarbeiteten, wenn sie ins gleiche Horn stießen. Die kriegsbedingte Einigung in der Union Sacrée dürfe nicht dazu führen, eine reaktionäre Philosophie zu übernehmen, hieß es. Der moralisierende Effekt des Kampfgeschehens wurde von dieser Seite daher früh bezweifelt.6 Enttäuschung aber machte sich bald auch unter den Konservativen breit, die konstatieren mussten, dass der Krieg das Volk nicht im Positiven verändert habe: Weder eine „Reinigung“ des öffentlichen Lebens, noch eine Erneuerung der Männerwelt sei feststellbar.7 Stattdessen habe der Krieg in kürzester Zeit eine „radikale Umwälzung aller Werte“ mit sich gebracht,8 einen „Umsturz der Sitten“,9 die europäische Zivilisation sei vom Wege abgekommen10 – Vorwürfe, die sich nicht zuletzt gegen die deutschen und französischen Frauen richteten. Was aber bedeutete dies konkret? Die sexuellen Sitten und Gebräuche lockerten sich in den Kriegsjahren zweifellos, und Hauptprofiteur dieser Veränderung waren die Frauen, denen sich plötzlich Freiheiten auftaten, die Männer schon lange innehatten. Der Erste Weltkrieg trennte die Geschlechter und stellte sie neu auf; er gab Raum zu einer Neudefinition. Welchen Niederschlag fand dies in Bild und Selbstbild der Frau, welche Auswirkungen hatten die Kriegsjahre auf die Geschlechterhierarchie?
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Sowohl in Frankreich als auch in Deutschland ist der Mythos der allumfassenden Kriegsbegeisterung von den Historikern in Frage gestellt und differenziert worden. Vgl. z.B. JeanJacques Becker, 1914. Comment les Français sont entrés dans la guerre, Contribution à l’étude de l’opinion publique printemps-été 1914, Paris 1977; Jeffrey Verhey, Augusterlebnis, in: Gerhard Hirschfeld, Gerd Krumeich, Irina Renz (Hg.), Enzyklopädie Erster Weltkrieg, Paderborn 2004, S. 357–360. 6 Le Naour, Misère et tourments, S. 30–34. 7 Wurster, Die Prostitutionsfrage, S. 7; Grabinski, Weltkrieg und Sittlichkeit, S. 49–96. 8 Charles Ferdinand Ramuz, Le grand printemps, Genf 1986 (Erstausgabe 1917), S. 21. 9 Louis Fiaux, L’Armée et la Police des Mœurs. Biologie sexuelle du Soldat, Paris 1916, S. VI. 10 Vgl. Julia Drost, La Garçonne. Wandlungen einer literarischen Figur, Göttingen 2003, S. 127–132.
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DER KRIEG: SCHRITTMACHER DER EMANZIPATION? Dass der Erste Weltkrieg von der Forschung zunächst als „Schrittmacher der Frauenemanzipation“11 wahrgenommen wurde, ging auf deren auffällige Präsenz in Männerberufen zurück. Durch den Einsatz in der Rüstungsindustrie überschritten Frauen die gesellschaftlich gesetzten Grenzen der Weiblichkeit, durch ihre neue Allgegenwart als Postbotin, Schaffnerin, Straßenreinigerin oder gar Kranführerin erweckten sie nicht nur in den Augen der Kriegsheimkehrer den Eindruck, ersetzt worden zu sein. Die Annahme, dass es zu einem enormen Anstieg der Frauenarbeit gekommen war, lag auf der Hand.12 In den 1980er Jahren wurde dieses Bild für Deutschland revidiert, als Ute Daniel anhand der Mitgliederzahlen der Krankenkassen nachwies, dass die Zunahme der weiblichen Erwerbsarbeit im Vergleich zu den Vorkriegsjahren relativ gering ausfiel.13 Daniel argumentierte, dass ein Großteil der Frauen zwischen 1914 und 1918 lediglich den Beruf gewechselt habe, das heißt, von einer Beschäftigung in Textilindustrie oder Bekleidungsgewerbe in die Rüstungsindustrie gewechselt war. Die Zeitgenossen hätten weniger die Abwanderung aus den traditionellen Frauenbranchen registriert, als das Auftauchen der Arbeiterinnen in typischen Männerberufen.14 In Frankreich hingegen ließen sich die Frauen nicht im gleichen Maße mobilisieren, was jedoch hauptsächlich daran lag, dass die weibliche Beschäftigungsquote mit 32 Prozent schon vor 1914 einen hohen Stand erreicht hatte. Ende 1917 sollten die Frauen hier 40 Prozent der Erwerbstätigen ausmachen.15 Ob die emanzipatorische Wirkung der kriegsbedingten Frauenarbeit folglich niedriger veranschlagt werden muss, bleibt allerdings diskussionswürdig. Denn ein deutlicher Zuwachs fand ja statt. Irreführend an Ute Daniels Darstellung ist die Betonung der Steigerungsrate, wodurch die absoluten Zahlen der neubeschäftigten Frauen in den Hintergrund rücken. Tatsächlich erfassten die Krankenkassen zwischen 1889 und 1893 nur 353 763 weibliche Neumitglieder, zwischen 1914 und 1918 aber 593 735; in Daniels Steigerungsrate liest sich das umgekehrt: 30 Prozent (1893) Zuwachs stehen 17 Prozent (1918) gegenüber.16 Einfluss entfaltete zudem nicht die Statistik, sondern die Wahrnehmung der Zeitgenossen. Hierbei spielte es sicher eine wichtige Rolle, dass im Juli 1914 in dem zugrunde liegenden 11 Susanne Rouette, Frauenarbeit, Geschlechterverhältnisse und staatliche Politik, in: Wolfgang Kruse (Hg.), Eine Welt von Feinden. Der Große Krieg 1914–1918, Frankfurt a.M. 1997, S. 92–126, hier S. 92. 12 Ebd., S. 92f.; Françoise Thébaud, Der Erste Weltkrieg. Triumph der Geschlechtertrennung, in: Georges Duby, Michelle Perrot, Geschichte der Frauen, Bd. 5: 20. Jahrhundert, Frankfurt a.M. 1995, S. 33–91, hier S. 34f. 13 Zwischen 1889 und 1893 waren über 30 Prozent neue Mitglieder von den Krankenkassen als erwerbstätig beschäftigte Frauen vermerkt worden, zwischen 1914 und 1918 nur 17 Prozent. 14 Ute Daniel, Arbeiterfrauen in der Kriegsgesellschaft. Beruf, Familie und Politik im Ersten Weltkrieg, Göttingen 1989, S. 36–50 und 259–265. 15 Thébaud, Der Erste Weltkrieg, S. 42f. 16 Vgl. Daniel, Arbeiterfrauen in der Kriegsgesellschaft, S. 39–41, 43, Tabelle 2 und 3. Es soll nicht vorenthalten werden, dass 682 976 weibliche Neumitglieder zwischen 1909 und 1913 verzeichnet wurden, eine höhere Zahl als im Krieg.
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Krankenkassenbericht 1,87 Männer auf eine arbeitende Frau kamen, im Juli 1918 jedoch nur 0,96.17 Zwar mussten viele Frauen nach 1918 ihren Arbeitsplatz wieder räumen,18 doch von großem Gewicht war die Symbolik, die von den Kriegsjahren ausstrahlte: Aufgrund der strukturellen Veränderungen hatten die Frauen die Möglichkeit ökonomischer und sozialer Unabhängigkeit erlebt. Aus diesem Wissen, frei und unabhängig gehandelt zu haben und handeln zu können, verblieb ihnen ein neues gesteigertes Selbstwertgefühl.19 Als James MacMillan 1981 die Neucodierung der Geschlechter erstmals in Zweifel zog und betonte, dass die traditionelle Rollenverteilung durch den Krieg vielmehr verfestigt worden sei, gab er der Forschung eine Richtung vor, die prägend wirken sollte. Die Verwirklichungschancen, welche das Kriegsgeschehen den Frauen bot, fielen demnach gering aus und waren von kurzer Reichweite, wenn man sie mit der „Ideologie der Häuslichkeit“ und dem weiblichen Modell der Hausfrau und Mutter verglich, welche sich im Rahmen der Notsituation durchsetzte.20 Fast archaisch nahm sich das Bild aus: Der Mann verteidigte Heim und Familie an der Front, während die Frau Haus und Kinder in der Heimat versorgte – für die europäischen Emanzipationsbewegungen ein unfassbarer Rückschritt. Dass die Einführung des Frauenwahlrechts 1922 in Frankreich scheiterte, scheint MacMillans Interpretation zu bestätigen.21 In der Weimarer Republik – wo der systemische Umbruch freilich umfassender war, weil zeitgleich das Kaiserreich aufgelöst wurde – trifft diese Deutung jedoch nicht zu: Im November 1918 erhielten die deutschen Frauen das aktive und passive Wahlrecht.22 Insgesamt, muss man wohl festhalten, sind die Auswirkungen, welche das Kriegsgeschehen auf die Geschlechterhierarchie zeitigte, komplexer, als dass sie emanzipatorisch mit einem Schritt nach vorn oder zurück beschrieben werden könnten.
17 Reichsarbeitsblatt 16 (1918) 9, S. 656–661: Über die Entwicklung der Anzahl der Beschäftigten während des Krieges. Auf Grund der Feststellungen bei einem Teil der Krankenkassen, hier S. 657f., Übersicht 1. Die Zahlen entsprechen sicher nicht den realen Verhältnissen, geben aber einen Trend wieder. 18 Stefan Bajohr, Die Hälfte der Fabrik. Geschichte der Frauenarbeit in Deutschland 1914 bis 1945, Marburg 1979, S. 158–167; Steven C. Hause, More Minerva than Mars. The French Women’s Rights Campaign and the First World War, in: Margaret R. Higonnet, Jane Jenson, Sonya Michel, Margaret C. Weitz (Hg.), Behind the Lines. Gender and the Two World Wars, New Haven 1987, S. 99–113, hier S. 105f. 19 Birthe Kundrus, Geschlechterkriege. Der Erste Weltkrieg und die Deutung der Geschlechterverhältnisse in der Weimarer Republik, in: Karen Hagemann, Stefanie Schüler-Springorum (Hg.), Heimat-Front. Militär und Geschlechterverhältnisse im Zeitalter der Weltkriege, Frankfurt a.M. 2002, S. 171–187, hier S. 174–176. 20 James F. MacMillan, Housewife or Harlot. The Place of Women in French Society 1870– 1940, Brighton 1981, S. 189–192. 21 Patricia Latour, Monique Houssin, Madia Tovar, Femmes et citoyennes. Du droit de vote à l’exercice du pouvoir, Paris 1995, S. 45; Hause, More Minerva than Mars. 22 Gisela Notz, Christl Wickert, Frauenwahlrechtskämpfe – Misserfolge und Erfolge, in: Elke Ferner (Hg.), 90 Jahre Frauenwahlrecht! Eine Dokumentation von Ursula Birsl, Gisela Notz, Inge Wettig-Danielmeier und Christl Wickert, Berlin 2008, S. 11–40, hier S. 11 und 28.
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KRIEGS- UND HEIMATFRONT: DIE TRENNUNG DER GESCHLECHTER Hauptfaktor der Veränderung war die langfristige Trennung der Geschlechter, die Aufteilung in eine männliche Kriegs- und eine weibliche Heimatfront. Eheleute erlebten den Weltkrieg in so unterschiedlicher Weise, dass sie während Heimaturlauben und nach Kriegsende einander wie entfremdet begegneten.23 Aufgrund der strengen Zensur und der Sprachlosigkeit angesichts des Erlebten erreichten die Gräuel des Frontgeschehens die Daheimgebliebenen allenfalls in geschönter oder gemilderter Form. Erschüttert kehrten Soldaten aus Gebieten zurück, in denen die Lebenserwartung nur wenige Monate betrug, und stießen – fernab von Schlamm, Ratten, Geschrei und Gestank – auf eine Welt, die ihnen im Vergleich unwirklich und luxuriös erscheinen musste. Die Nöte der Heimat waren diesen Männern schwer zu vermitteln; im Gegenteil, insbesondere das Leben in den Großstädten schockierte und empörte manchen Heimkehrer: zu entspannt, zu ausgelassen verlief der Alltag der zivilen Bevölkerung.24 Aus Paris berichteten Soldaten von einem ausschweifenden Nachtleben, die Restaurants seien übervoll. Zum Teil habe sich der Amüsierbetrieb in luxuriöse Privatwohnungen zurückgezogen; bei Tanzveranstaltungen sei derzeit der „Grabentanz“ en vogue, bei dem die Teilnehmer unter tief hängenden Quasten und Glöckchen tanzen mussten.25 Dass die „anständige Hausfrau“ während der Kriegsjahre absolut in der Überzahl war und für Feiern dieser Art weder Zeit noch Geld hatte, ging angesichts von Sichtbarem und Gerüchten bisweilen unter.26 In den Fokus der männlichen Wahrnehmung drängte sich vielmehr das „Unerhörte“, sodass Misstrauen und Unsicherheit gegenüber den Daheimgebliebenen wuchsen. Unbegründet war dieses Misstrauen nicht, auch wenn die kolportierten Exzesse wohl kaum stattfanden. Wie die Soldaten an der Front, litten auch die Frauen in der Heimat „in ihrer sexuellen Versorgung“, wie der Arzt Isaak Spier-Irving 1917 vermerkte.27 Der Männermangel war eklatant. Ende 1914 wurde Paris von einem Kriegsberichterstatter als „Stadt der Frauen“ bezeichnet.28 Statistiken zufolge kamen auf deutschem Gebiet vier bis sechs Frauen auf einen Mann.29 In Frankreich,
23 Vgl. Le Naour, Misère et tourments, S. 384 sowie die zeitgenössischen Karikaturen in Magnus Hirschfeld, Andreas Gaspar, Sittengeschichte des Ersten Weltkrieges, Hanau 1965, S. 97 und 309. 24 Mary L. Roberts, Civilization without Sexes. Reconstructing Gender in Postwar France, 1917–1927, Chicago 1994, S. 21–26; Kundrus, Geschlechterkriege, S. 174. 25 Roberts, Civilization without Sexes, S. 23f.; Hirschfeld, Gaspar, Sittengeschichte des Ersten Weltkrieges, S. 312–315; Grabinski, Weltkrieg und Sittlichkeit, S. 220–222. 26 Zahlenmäßig überwog in der „Grabenpresse“ – selbst gedruckten Frontblättern – das Bild der anständigen Mutter und Ehefrau. Vgl. Stéphane Audoin-Rouzeau, 14–18. Les combattants des tranchées, Paris 1986, S. 151–153. 27 Isaak Spier-Irving, Irrwege und Notstände des Geschlechtslebens im Krieg, München 1917, S. 30. 28 Roberts, Civilization without Sexes, S. 21. 29 Spier-Irving, Irrwege und Notstände, S. 31.
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wo seit dem Krieg 1870/71 der Geburtenrückgang diskutiert wurde,30 entstand das Drohgebilde einer „sterilen Nation“, in der eine Generation „alter Jungfern“ entstünde. Nicht zufällig fand der Ratgeber „Comment trouver un mari après la guerre?“ ab 1915 reißenden Absatz. Zugleich prägte sich der Begriff „veuve blanche“ aus. Die „weißen Witwen“ hatten zwar noch einen Ehemann gefunden, blieben aber kinderlos, weil sich dieser im Krieg befand.31 An der Front wuchs angesichts dieser Umstände die Angst, vergessen zu werden. Da deutsche wie französische Soldaten vom Militär mit Bordellen versorgt wurden,32 lag die Befürchtung nahe, dass die Ehefrauen in der Heimat mit demselben Verlangen zu kämpfen hatten und vergleichbare Lösungen finden würden. Seit dem 19. Jahrhundert war in beiden Ländern – im Rahmen der Prostitutionsgesetzgebung – diskutiert worden, ob sexuelle Enthaltsamkeit möglich sei oder sogar krank mache. Obgleich unter Medizinern umstritten, hatte sich vor dem Krieg die Ansicht durchgesetzt, dass ein abstinentes Leben für die große Mehrheit der Männer schwierig, aber gesundheitlich unbedenklich sei.33 Frauen waren bei den Umfragen nicht berücksichtigt worden, vermutlich weil Konsens herrschte, dass der männliche Geschlechtstrieb weit stärker ausfalle als der weibliche.34 Anstatt sich Sorgen über eine Gesundheitsgefährdung zu machen, schrieb das deutsche Kaiserreich Lehrerinnen und Beamtinnen die Ehelosigkeit sogar vor.35 Dass Bürgerstöchter zudem jungfräulich in die Ehe gehen sollten, belegt sowohl für Deutschland wie für Frankreich, dass man den weiblichen Geschlechtstrieb für bezähmbar hielt. Kritiker meldeten sich allerdings früh zu Wort. Dem Sozialistenführer August Bebel zufolge sagte die Heiratspolitik der Mittel- und Oberschicht mehr über die Gesellschaft aus als über das Ausmaß des weiblichen Triebs: Frauen würden lediglich genötigt, ihr Verlangen gewaltsam zu unterdrücken.36 In Frankreich schil30 Vgl. Malte König, Geburtenkontrolle. Abtreibung und Empfängnisverhütung in Frankreich und Deutschland, 1870–1940, in: Francia 38 (2011), S. 127–148. 31 Le Naour, Misère et tourments, 111–113. 32 Lutz Sauerteig, Militär, Medizin und Moral. Sexualität im Ersten Weltkrieg, in: Wolfgang U. Eckart, Christoph Gradmann (Hg.), Die Medizin und der Erste Weltkrieg, Pfaffenweiler 1996, S. 197–226, hier S. 205 und 215–221; Le Naour, Misère et tourments, S. 201–218. 33 Adolphe-Louis Esquier, La continence est-elle nuisible?, Diss., Bordeaux 1911; Andreas Hill, Medizinische Debatten über sexuelle Abstinenz in Deutschland von 1903 bis 1918. Ein Beitrag zur Geschichte der Sexualwissenschaft und der Geschlechtskrankheiten, Diss., Lübeck 1996, S. 54–90. Vgl. die Umfrageergebnisse in: La Chronique médicale 13 (1906) 19, S. 643–656 (1.10.1906), sowie 22 (1906), S. 738–768 (15.11.1906), sowie Ludwig Jacobsohn, Die sexuelle Enthaltsamkeit im Lichte der Medizin, in: St. Petersburger Medicinische Wochenschrift 11 (1907), S. 97–103. 34 Vgl. etwa Richard von Krafft-Ebing, Psychopathia Sexualis. Eine klinisch-forensische Studie, Stuttgart 1886, S. 9–12; Christian Ströhmberg, Die Prostitution. Ein Beitrag zur öffentlichen Sexualhygiene und zur staatlichen Prophylaxe der Geschlechtskrankheiten, eine socialmedicinische Studie, Stuttgart 1899, S. 17–35. 35 Hill, Sexuelle Abstinenz, S. 136f. Bei einer Heirat riskierten Frauen ihre Entlassung aus dem öffentlichen Dienst, bei der Geburt eines unehelichen Sohnes verloren sie ihren Arbeitsplatz. 36 August Bebel, Die Frau und der Sozialismus, Berlin 1950 (Erstausgabe 1879), S. 245.
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derte der Marquis Boyer D’Argens schon 1762 in einem erotischen Roman die typischen Entzugserscheinungen, denen eine junge Frau aufgrund ihrer „unnatürlichen Lebensweise“ ausgesetzt war.37 Der Erste Weltkrieg löste die traditionellen Kontrollmechanismen nun vielerorts auf. Aufgrund der Abwesenheit von Vätern, Ehemännern und Brüdern lockerten sich die Familienbande. Wurde dadurch einerseits der gewohnte Schutz aufgehoben, gewannen die Frauen andererseits an Bewegungsfreiheit hinzu: Der Anblick von Damen, die alleine reisten, selbstständig ein Theater oder Restaurant besuchten, gehörte bald zum Alltag. Schutzlosigkeit wie neue Freiheiten förderten dabei frühzeitige und außereheliche Liebeserfahrungen. Nur zum Teil basierten diese auf sexueller Abenteuerlust; in ärmeren Schichten war es schlicht materielle Not, die manche Ehefrau und Mutter in die Arme eines Fremden trieb.38 In allen kriegführenden Ländern ließ sich beobachten, dass die öffentlich reglementierte Prostitution abnahm, während die heimliche Gelegenheitsprostitution aufblühte.39 SEXUALMORAL: EINE UMKEHRUNG DER BEGRIFFE Hinsichtlich der Sexualmoral markierte der Krieg aber vor allem für das Bürgertum eine Zäsur. In der Unterschicht waren die Hürden zu vorehelichen Beziehungen stets niedriger gesetzt als in den höheren Klassen der Gesellschaft. Die Proletarierin wurde weniger idealisiert, und die Trennungslinie zwischen „ehrbarer Frau“ und Prostituierter nicht mit gleicher Schärfe gezogen. Anders als die Bürgerstöchter verfügten Arbeiterinnen über ihr eigenes Einkommen, was ihnen innerhalb der Geschlechterhierarchie einen anderen Stand gab. Sexuelle Kontakte vor der Ehe waren in diesem Milieu nicht ungewöhnlich und wurden moralisch kaum verurteilt.40 Im Anschluss an Karl Marx kritisierten die Sozialisten beider Länder schon vor 1914, dass die bürgerliche Ehe nur funktionieren könne, wenn das Proletariat den jungen Bürgersöhnen eine gewisse Zahl an Prostituierten zur Verfügung stelle. Nur so könne die Jungfräulichkeit der höheren Töchter gewähr-
37 Boyer d’Argens, Thérèse philosophe ou Mèmoires pour servir à l’histoire du P. Dirrag et de Mlle Eradice, Brüssel 1992 (Erstausgabe 1762), S. 17f. und 23. 38 Hirschfeld, Gaspar, Sittengeschichte des Ersten Weltkrieges, S. 308f.; Spier-Irving, Irrwege und Notstände, S. 64 und 27; Le Naour, Misère et tourments, S. 156–160; Susanne Michl, Im Dienste des „Volkskörpers“. Deutsche und französische Ärzte im Ersten Weltkrieg, Göttingen 2007, S. 155–162. 39 Wolfgang Sorge, Geschichte der Prostitution, Berlin 1920, S. 398f.; Fiaux, L’Armée, S. VI– VII. 40 Stefan Bajohr, Lass dich nicht mit den Bengels ein! Sexualität, Geburtenregelung und Geschlechtsmoral im Braunschweiger Arbeitermilieu 1900 bis 1933, Essen 2001, S. 63–68; Carola Lipp, Die Innenseite der Arbeiterkultur. Sexualität im Arbeitermilieu des 19. und frühen 20. Jahrhunderts, in: Richard van Dülmen (Hg.), Arbeit, Frömmigkeit und Eigensinn. Studien zur historischen Kulturforschung, Frankfurt a.M. 1990, S. 214–259, hier S. 242–249.
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leistet werden.41 Schon vor 1914 hatten radikale Denker wie etwa der Neomalthusianer Paul Robin, der Sozialist Léon Blum, die Feministin Helene Stöcker oder der Sexualwissenschaftler Iwan Bloch eine Liberalisierung der Ehe bzw. die gesellschaftliche Akzeptanz der „freien Liebe“ gefordert42 – und sich damit unmissverständlich an das Bürgertum gewandt. Gedanken wie diesen brach der Erste Weltkrieg nun plötzlich die Bahn, wenn auch anders als gedacht. Eine regelrechte „Umwandlung der Begriffe“ konstatierte Spier-Irving: „Der Männermangel machte jedes einzelne maskuline Subjekt zu einem begehrten Artikel. [...] Häßliche und unscheinbare Männer wurden erfolgreich. Sie konnten von seltsamen Abenteuern mit schönen und früher umworbenen Frauen erzählen. [...] Männer wurden beschenkt, statt Frauen Zuwendungen zu machen; Männer wurden mit Korrespondenzen überhäuft, sie erhielten Einladungen und Aufforderungen.“43
Zu 80 Prozent seien die französischen Ehefrauen untreu, schätzte 1916 der Schriftsteller Anatole France – eine Ziffer, die in dieser Höhe von den Zeitgenossen zwar nicht geteilt wurde, die aber zweifellos eine Tendenz beschrieb.44 Die Presse bezeichnete die untreuen Frauen als „Deserteure“. Erzählungen und Romane verwiesen auf die Verantwortung, in welcher diese gegenüber ihrem Mann und dem Vaterland stünden. Da mit einer demoralisierenden Wirkung auf die Stimmung an der Front gerechnet wurde, war die Treue der Soldatenfrauen eine Frage von nationaler Bedeutung. Durch Propagandaschriften versuchte das preußische Kriegsministerium etwa, die Daheimgebliebenen zur Ordnung zu rufen. Haft- und Geldstrafen für Ehebruch fielen in Frankreich wie Deutschland weit höher aus, wenn der Betrogene an der Front diente. Schwiegermütter und Nachbarn übernahmen die soziale Kontrolle, etwa indem sie die Rotlichtlampe einer maison de tolérance, eines öffentlichen Bordells, vor das Haus einer Fremdgängerin montierten.45 Doch die Kriegsumstände und das daraus resultierende Verhalten ließen sich durch Maßnahmen wie diese nicht ändern. Auf beiden Seiten des Rheins notierten männliche Beobachter ein gesteigertes Liebesbedürfnis beim anderen Geschlecht. Ärzte wie Louis Huot oder Max Hirsch lieferten gar medizinische Erklärungen für eine angebliche „Kriegsnymphomanie“ bzw. nervöse Leidenschaftlichkeit der Frauen.46 Und da man – zumindest im Kaiserreich – zur gleichen Zeit 41 Charles Andler, Introduction historique et commentaire, in: Karl Marx, Friedrich Engels, Le Manifeste communiste, Bd. 2, Paris 1901, S. 5–209, hier S. 150–153; Édouard Dolléans, La police des mœurs, Paris 1903, S. 89f. und 95f.; Bebel, Die Frau und der Sozialismus, S. 245f. 42 Alain Corbin, Les filles de noce. Misère sexuelle et prostitution au XIXe siècle, Paris 2010 (Erstausgabe 1978), S. 361; Hill, Sexuelle Abstinenz, S. 185–187; Michelle Perrot, The New Eve and the Old Adam. Changes in French Women’s Condition at the Turn of the Century, in: Higonnet, Jenson, Michel, Weitz (Hg.), Behind the Lines, S. 51–60, hier S. 56. 43 Spier-Irving, Irrwege und Notstände, S. 32. 44 Roberts, Civilization without Sexes, S. 37f. und 240, Anmerkung 102. 45 Le Naour, Misère et tourments, S. 226–229 und 241–244; Daniel, Arbeiterfrauen in der Kriegsgesellschaft, S. 139f. und 144; Grabinski, Weltkrieg und Sittlichkeit, S. 166–210. 46 Le Naour, Misère et tourments, S. 384–388; Max Hirsch, Über Kriegspsychose des Weibes, in: Deutsche Strafrechts-Zeitung 3 (1916) 3/4, Sp. 134–137, hier Sp. 135f.; Hirschfeld, Gaspar, Sittengeschichte des Ersten Weltkrieges, S. 53f.
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viele Fälle von „Kriegsamenorrhoe“, eines stress- oder ernährungsbedingten Ausbleibens der Menstruation,47 registrierte, lag die Annahme nicht fern, dass sich die erschwerten Lebensbedingungen auch anderweitig auf den weiblichen Körper auswirkten. In Deutschland beobachteten Zeitgenossen, wie einheimische Mädchen garnisonierenden Soldaten in die Arme liefen. Diese bräuchten sich um ein Verhältnis für die Dauer ihres Aufenthaltes gar nicht zu bemühen; das Angebot sei größer als die Nachfrage. Anwohner von Lazaretten klagten, dass diese „in abendlichen Stunden von Vertretern des weiblichen Geschlechtes umschlichen oder umlagert“ würden.48 Die Krankenversorgung, hieß es in Paris, habe für gewisse Frauen „den Fünf-Uhr-Tee ersetzt, manche [fänden] daran genauso viel Gefallen wie an einem fortgeschrittenen Flirt“.49 1917 berichtete ein deutscher Mediziner über einen Fall weiblicher Notzucht gar mit der Begründung, dass „infolge des starken Männermangels“ die Vergewaltigung von Männern „jetzt und in Zukunft keine so ganz seltene Erscheinung sein“ würde.50 KRIEGSMODE UND ANSTAND Empörung rief gleichermaßen die Kriegsmode hervor, die nicht bescheidener und sparsamer ausfiel als vor 1914, sondern luxuriöser und aufwändiger. Analysen französischer Feldpost ergeben, dass die Entwicklung von den Soldaten als Beleidigung all derer aufgefasst wurde, die im Krieg starben oder verletzt worden waren.51 Beiderseits des Rheins schien das Ziel der Damenwelt darin zu bestehen, sich reizvoller denn je zu kleiden: „Ganz kurze Röcke, welche die Beine zeigten. Weite fliegende Röcke, welche pikant die Formen enthüllten. Dazu hohe Stöckelschuhe, welche die Füßchen so ins rechte Licht setzten und den feinen Spann, die Wade ausprägen. Dazu die eleganten Frisuren, die reizvollen Hüte nebst all den andren Zutaten.“52
Der Krieg dauere zwar lang, scherzte der Volksmund, aber die Kleider der gnädigen Frauen würden immer kürzer.53 Vielerorts machte sich jedoch vor allem Groll 47 Karin Stukenbrock, Der Krieg in der Heimat. „Kriegsamenorrhoe“ im Ersten Weltkrieg, in: Medizinhistorisches Journal 43 (2008), S. 264–293; Michl, Im Dienste des Volkskörpers, S. 171–173. 48 Planmäßiger Kampf gegen Würdelosigkeit im weiblichen Geschlecht. Ein Beispiel neuer Seelsorgsaufgaben und ein Beitrag zu ihrer Lösung nach dem Krieg, von einem Beobachter am Wege, Hamm 1916, S. 5. 49 Frédéric Masson, Les Femmes et la Guerre de 1914, Paris 1915, S. 16. Übersetzung des Autors. Vgl. Hirschfeld, Gaspar, Sittengeschichte des Ersten Weltkrieges, S. 121–138. 50 Hans Menzel, Notzucht von Frauen an Männern, in: Zeitschrift für Sexualwissenschaft 4 (1917) 1, S. 31f. 51 Le Naour, Misère et tourments, S. 65f. 52 Spier-Irving, Irrwege und Notstände, S. 53f. 53 Hirschfeld, Gaspar, Sittengeschichte des Ersten Weltkrieges, S. 86; Roberts, Civilization without Sexes, S. 24.
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breit: „Menschen, die jetzt so herumliefen, müssten eigentlich torpediert werden“54. Nicht nur Bischöfe, auch Frauen- und Modezeitschriften kritisierten die anstößige Kleidertracht. In Frankreich forderte die Ligue contre les exagérations de la mode die Behörden auf, Maßnahmen zu ergreifen, und in Deutschland erließen einige Städte entsprechende Kleidervorschriften.55 Obwohl der Krieg die Welt in zwei sich bekämpfende Lager teilte, setzte die Pariser Haute Couture weiterhin grenzübergreifend die Maßstäbe.56 Kennzeichnend für die Damenmode war dabei eine Ambivalenz, in der zwei Strömungen gegeneinander und ineinander flossen: die bereits beschriebene Betonung der Weiblichkeit auf der einen Seite und die Tendenz ins Maskuline auf der anderen. Die Verwendung von Frauen in Männerberufen brachte nämlich pragmatische Einflüsse wie etwa das Tragen hoher Schnürstiefel mit sich; gleichzeitig wurden Elemente von Militäruniformen spielerisch aufgegriffen.57 Beide Strömungen sollten in den 1920er Jahren den Stil der „Neuen Frau“ bzw. der garçonne prägen, die durch ihr maskulines, aber modebewusstes Auftreten die Männerwelt verunsicherte. In vielerlei Hinsicht war die Moderevolution der années folles ein Resultat des Ersten Weltkriegs: der Verzicht auf das Korsett, die Verwendung von Makeup, die kurzen Röcke, der praktische Bubikopf, aber auch die Übernahme männlicher Verhaltensweisen wie Rauchen, Autofahren oder unmäßiger Konsum alkoholischer Getränke58 – all dies waren „Auswüchse“ einer Entwicklung, die in den Kriegsjahren ihren Anfang genommen hatte. DIE „NEUE FRAU“: WANDEL DER GESCHLECHTERHIERARCHIE Doch welches Ausmaß, welche Tragweite hatten „Auswüchse“ dieser Art tatsächlich? Ebenso wie man hinsichtlich des Weltkriegs vermuten könnte, dass sich in der beschriebenen Verschiebung weiblicher Sexualmoral eher männliche Ängste widerspiegelten als die Realität, stellte die Forschung die glamouröse „Neue
54 Planmäßiger Kampf gegen Würdelosigkeit, S. 4. 55 Grabinski, Weltkrieg und Sittlichkeit, S. 149–152; Le Naour, Misère et tourments, S. 65; Spier-Irving, Irrwege und Notstände, S. 55. 56 Hirschfeld, Gaspar, Sittengeschichte des Ersten Weltkrieges, S. 84; Grabinski, Weltkrieg und Sittlichkeit, S. 147–153. 57 Le Naour, Misère et tourments, S. 64; Hirschfeld, Gaspar, Sittengeschichte des Ersten Weltkrieges, S. 90. 58 Drost, La Garçonne, S. 233–235; Hanna Vollmer-Heitmann, Wir sind von Kopf bis Fuß auf Liebe eingestellt. Die zwanziger Jahre, Hamburg 1993, S. 7–11; Gesa Kessemeier, Sportlich, sachlich, männlich. Das Bild der „Neuen Frau“ in den Zwanziger Jahren, Zur Konstruktion geschlechterspezifischer Körperbilder in der Mode der Jahre 1920 bis 1929, Dortmund 2000; Christine Bard, Les Garçonnes. Modes et fantasmes des années folles, Paris 1998; Ingrid Loschek, Mode im 20. Jahrhundert. Eine Kulturgeschichte unserer Zeit, München 1988, S. 57–96; vgl. Stephanie Bung, Margarete Zimmermann (Hg.), Garçonnes à la mode im Berlin und Paris der zwanziger Jahre, Göttingen 2006.
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Frau“ der 1920er in den Verdacht, ein reines Medienphänomen gewesen zu sein.59 Nur eine verschwindend geringe Zahl der städtischen Bevölkerung habe diesem Bild entsprochen; es handele sich um einen Mythos, der von Presse, Modeindustrie, Konservativen und jungen Frauen konstruiert und hochgespielt worden sei und der wenig über den tatsächlichen Stand von Emanzipation und Geschlechterhierarchie aussage.60 Vergleichbares ergibt sich, wenn man zum Ersten Weltkrieg die Publikationen weiblicher Zeitgenossen konsultiert. Sexualmoral spielt darin kaum eine Rolle. Der Schwerpunkt dieser Zeugnisse liegt auf der Leistung, Zuverlässigkeit und Leidensfähigkeit, welche Frauen im Kriege zeigten. Fälle von Untreue und „Frivolität“ finden allenfalls am Rande Erwähnung und werden als Ausnahmen bezeichnet61 – eine Tatsache, die freilich kaum überrascht, musste doch der eigene Beitrag zum Krieg gebührend herausgestellt werden. Ebenso wenig wie das Phänomen der „Neuen Frau“ sich kleinreden lässt,62 kann man jedoch ihre Vorläuferin als Legende abtun. Beide verweisen vielmehr aufeinander und zeugen von einer Veränderung der Geschlechterhierarchie, bei der zwar kein eklatanter Umbruch stattfand, aber wohl eine Verschiebung der Gewichte. Sie bilden die Spitze des Eisbergs, über die – weil weithin sichtbar – gestritten und diskutiert wurde. Der Wandel der großen Mehrheit fand unauffällig statt. Nicht von ungefähr stieg die Scheidungsrate in beiden Ländern nach Kriegsende rasant an. Im Jahr 1918 entschied ein einziges Berliner Landgericht innerhalb von vier Monaten über 700 Scheidungen. Hatte in der Vorkriegszeit noch männliche Untreue als Hauptmotiv der Prozesse firmiert, nahm in der Nachkriegszeit der Schuldanteil der Frauen deutlich zu.63 Dass der Erste Weltkrieg keine völlige Neuordnung der sexuellen Sitten nach sich zog, ist nicht von der Hand zu weisen. MacMillan weist für Frankreich zu Recht darauf hin, dass die Jungfräulichkeit von Bürgerstöchtern nach 1918 weiterhin einen hohen Stellenwert einnahm.64 Tatsache aber ist, dass mit der garçonne ein neues Rollenmodell in die Öffentlichkeit trat, das nicht übersehen werden wollte und allein durch seine Präsenz einen alternativen Wertmaßstab für Sexualverhalten und Partnerschaft setzte. Selbst als reines Medienphänomen entfaltete 59 Vgl. z.B. Detlev J. K. Peukert, Die Weimarer Republik. Krisenjahre der Klassischen Moderne, Frankfurt a.M. 1987, S. 104f. 60 Cornelie Usborne, The New Woman and Generational Conflict. Perceptions of Young Women’s Sexual Mores in the Weimar Republic, in: Mark Roseman (Hg.), Generations in Conflict. Youth Revolt and Generation Formation in Germany 1770–1968, Cambridge 1995, S. 137–163, hier S. 137f. und 161. 61 Comtesse [R.] de Courson, La Femme Française pendant la Guerre, Paris 1916, S. 75; Marie de La Hire, La Femme Française. Son activité pendant la guerre, Paris 1917, S. 48; vgl. Hirschfeld, Gaspar, Sittengeschichte des Ersten Weltkrieges, S. 98. 62 Usborne, The New Woman, S. 161f.; Atina Grossmann, Eine „neue Frau“ im Deutschland der Weimarer Republik?, in: Helmut Gold, Annette Koch (Hg.), Fräulein vom Amt, München 1993, S. 136–161. 63 Dirk Blasius, Ehescheidung in Deutschland 1794–1945. Scheidung und Scheidungsrecht in historischer Perspektive, Göttingen 1987, S. 157–162; Le Naour, Misère et tourments, S. 245–247; Hirschfeld, Gaspar, Sittengeschichte des Ersten Weltkrieges, S. 96. 64 MacMillan, Housewife or Harlot, S. 169.
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die „Neue Frau“ bereits Wirkung: Geschlechterrollen und -hierarchien wurden in Frage gestellt, homosexuelles Begehren diskutabel. Da die femme moderne nicht mit den Frauenrechtlerinnen der Vorkriegszeit in Verbindung gebracht wurde, erreichte ihr Image Schichten, die sich politisch niemals engagiert hätten. Die Veränderung der Arbeitswelt sorgte zudem dafür, dass die Entwicklung des Ersten Weltkriegs tiefere Wurzeln schlug: Der wachsende Dienstleistungssektor und die Etablierung der Fließbandarbeit erweiterten bald wieder das Feld der weiblichen Erwerbsmöglichkeiten. Insbesondere im Bürgertum war der Anteil arbeitender Frauen so hoch wie nie zuvor. Der Zug zur Selbstständigkeit blieb infolgedessen gewahrt, die traditionelle Rolle als Ehefrau und Mutter verlor an Attraktivität, und die Klagen über unsittliches Verhalten nahmen zu.65 Bevölkerungs- und somit sexualpolitisch schlugen Berlin und Paris nach dem Krieg unterschiedliche Wege ein. Während sich die Weimarer Republik eher liberal und reformfreudig zeigte, versuchte Frankreich, den Bevölkerungsschwund mit repressiven Mitteln zu bekämpfen. Wurden diesseits des Rheins Sexualberatungsstellen eröffnet, der Verkauf von Verhütungsmitteln legalisiert und der Abtreibungsparagraph entschärft, wählte die französische Regierung einen pronatalistischen Kurs, der die sexuellen Freiheiten von Frauen einschränkte. Das Abtreibungsgesetz wurde strenger, und die Verbreitung empfängnisverhütender Mittel unterbunden.66 Den Wunsch nach Selbstbestimmung konnten diese Gesetzgebung und das propagierte Mutterbild jedoch nicht unterdrücken. Wie in Deutschland, brach auch in Frankreich die Geburtenrate Mitte der 1920er Jahre ein.67 Die Kriegsehen hingegen, die häufig aus dem Moment geboren waren, sollten sich als Wegbereiter der modernen Partnerschaft erweisen, in der nicht mehr nach Heiratsvoraussetzungen und Formalitäten gefragt, sondern aus Liebe geheiratet wurde.68 Kriegserlebnisse und Neuanfang hatten nicht nur einen Frauentypus geschaffen, der durch sein Selbstbewusstsein Ängste wie Bedürfnisse auslöste und die Geschlechterhierarchie infrage stellte. Sie verringerten auch die Unterschiede zwischen den Klassen, indem sie Frauen der Ober- und Mittelschicht sexuelle Freiheiten in Aussicht stellten, die einfache Arbeiterinnen längst hatten.
65 Grossmann, Eine neue Frau, S. 136–143; Roberts, Civilization without Sexes, S. 120–124 und 155–159; MacMillan, Housewife or Harlot, S. 162–168; Usborne, Frauenkörper, S. 115– 127 und 130f.; Florence Tamagne, Histoire de l’homosexualité en Europe. Berlin, Londres, Paris 1919–1939, Paris 2000, S. 483–531. Vgl. zu Frankreich den Skandal, welchen 1922 der Roman „La Garçonne“ von Victor Margueritte auslöste: Drost, La Garçonne. 66 König, Geburtenkontrolle, S. 136–144 und 147f. 67 Anne-Claire Rebreyend, Intimités amoureuses. France 1920–1975, Toulouse 2008, S. 27; Josef Ehmer, Bevölkerungsgeschichte und historische Demographie 1800–1900, München 2004, S. 44 und 46. 68 Thébaud, Der Erste Weltkrieg, S. 55; Rebreyend, Intimités amoureuses, S. 29f.; Hirschfeld, Gaspar, Sittengeschichte des Ersten Weltkrieges, S. 95–97; Cornelie Usborne, Frauenkörper – Volkskörper. Geburtenkontrolle und Bevölkerungspolitik in der Weimarer Republik, Münster 1994, S. 121.
VOM PRESTIGEOBJEKT ZUM GEWALTINSTRUMENT Militärischer Illusionismus der Kaiserlichen Marine Guntram Schulze-Wegener I. „Tirpitz, heute geht’s los, die Engländer sind bei Helgoland. Heute kommt die große Seeschlacht.“1 Der Erste Wachoffizier des Kleinen Kreuzers S.M.S. „Mainz“, Oberleutnant zur See Wolf von Tirpitz, stürzte auf diese Nachricht des funktechnischen Offiziers aus seiner Koje und machte sich klar zum Gefecht. Plötzlich gab es allgemeine Aufregung, Befehle wurden gerufen, und schließlich hieß es: „Anker lichten“. Die S.M.S. „Mainz“ verließ die Borkum-Reede. „Wir alle“, so von Tirpitz, „standen unter dem Eindruck, in einer Aktion verwandt zu werden, die im Zusammenhang mit einer großen Gesamtaktion der Flotte stand.“2 Doch was sich an jenem 28. August 1914 ereignete, war keine „Gesamtaktion der Flotte“, nicht die große, lange ersehnte, ja vorgezeichnete Seeschlacht zwischen beiden Nationen, die Wolfs Vater, der Großadmiral und Flottenbaumeister des Deutschen Reiches, als seestrategisches Konzept gegen die Grand Fleet ausgegeben hatte. Es war eine erbärmliche Hasenjagd, in deren Verlauf englische Zerstörer und Kreuzer der „Städteklasse“ mit 15-cm-Geschützen den deutschen Kleinen Kreuzer vor Helgoland waidwund schossen und schließlich versenkten. Tirpitz kam davon, wurde zusammen mit Kameraden von der H.M.S. „Liverpool“ aufgenommen und vernahm dort den Funkspruch des englischen Befehlshabers, Admiral David Beatty: „Ich bin stolz, so tapfere Offiziere an Bord meines Geschwaders zu begrüßen.“3 Möglicherweise half diese hohe Geste des Feindes über die maßlose Enttäuschung hinweg, die erhoffte Entscheidungsschlacht, auf die sich Offiziere und Mannschaften der Kaiserlichen Marine seit Jahren akribisch vorbereitet hatten, nicht erlebt zu haben. Sie sollten sie in diesem Krieg auch nicht mehr erleben. Zufallsereignisse, Einzeltaten, dann der uneingeschränkte U-BootKrieg: Das war der Seekrieg 1914 bis 1918, der für die Marine in stigmatisierendrevolutionären Umtrieben und mit der – nach damaligem Selbstverständnis ehren 1 2 3
Wolf von Tirpitz, Der Untergang der „Mainz“ am 28. August 1914, in: Eberhard von Mantey (Hg.), Auf See unbesiegt. Erlebnisse im Seekrieg erzählt von Mitkämpfern, Bd. 2, München 1922, S. 18–25, hier S. 18. Ebd., S. 19. Ebd., S. 25.
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vollen – Selbstversenkung in Scapa Flow endete, um symbolisch zu retten, was nicht mehr zu retten war. Als im Spätsommer 1914 die ersten Heeresoffiziere mit Eisernen Kreuzen geziert „Unter den Linden“ flanierten, müssen sich ihre Kameraden von der Marine, die mangels Einsatzmöglichkeiten nicht viel erreicht hatten, in ihrem schönen blauen, aber blanken Rock des Kaisers ziemlich elend gefühlt haben. Diese Regung mag uns nach 100 Jahren absurd und unverständlich erscheinen. Sie prägte aber unzweifelhaft eine Generation, die im Glauben aufgewachsen und militärisch erzogen worden war, einst einen „Platz an der Sonne“ zu erstreiten – mit Schiffen, versteht sich. Kein Waffensystem hat Militär und Politik im Reich Kaiser Wilhelms II. mit einer so überwältigenden und letztlich zerstörerischen Kraft bestimmt wie das moderne Kriegsschiff, das in die Zukunft weisen sollte, aber doch unweigerlich in den Untergang führen musste, weil die größte seegoing nation herausgefordert war, die sich dem Emporkömmling aus Deutschland niemals gebeugt hätte. Dabei war diese Todfeindschaft zur See, der maritime turn des Deutschen Reiches gegen England, keineswegs absehbar. Nachfolgend wird die Entwicklung von der passiven deutschen Küstenmarine über eine respektable Prestigeflotte bis zum politisch relevanten, aggressiven Instrument nachgezeichnet, um die ausweglose maritime Situation des Jahres 1914 verständlich werden zu lassen. II. „Zu Ehren des geeinigten Deutschlands! Zu seinem fortschreitenden Wohle! Zum Zeichen seiner Macht und Stärke!“4 Als Kaiser Wilhelm I. am 30. Juni 1887 mit diesen Worten und unter drei wuchtigen Hammerschlägen die feierliche Grundsteinlegung des 98,65 Kilometer langen Kaiser-Wilhelm-Kanals (später: NordOstsee-Kanal) beging, verfügte seine Marine bereits über eine beachtliche Stärke und besaß die drittgrößte Flotte nach Frankreich und Großbritannien.5 Es schien, als sei man dem Anraten Generalfeldmarschall Helmuth von Moltkes gefolgt, der in seiner legendären „Totenrede“ vor dem Reichstag 1873 die Notwendigkeit eines solchen Kanals vehement in Abrede gestellt und gefordert hatte, statt dessen lieber „eine zweite Flotte zu bauen“.6 In eine ähnliche Richtung wies Reichskanz 4 5
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Zitiert nach Ulrich Troitzsch, Die Baugeschichte des Kaiser-Wilhelm-Kanals 1887–1945, in: Rainer Lagoni, Hellmuth S. Seidenfus, Hans-Jürgen Teuteberg (Hg.), Nord-Ostsee-Kanal 1895–1995, Kiel 1995, S. 111–161, hier S. 116f. 1883 besaß Deutschland gemäß dem Flottenbauprogramm von 1873 (in erster Linie zur Küstenverteidigung und für den Kreuzerdienst zum Schutz überseeischer Handelsinteressen) 13 der 14 geplanten Panzerschiffe, 13 Korvetten und eine stattliche Anzahl ungepanzerter Korvetten für den Einsatz in Übersee. Vgl. Rolf Hobson, Maritimer Imperialismus. Seemachtideologie, seestrategisches Denken und der Tirpitzplan 1875 bis 1914, München 2004, S. 125. Zitiert nach Hans-Jürgen Teuteberg, Matthias Oelke, Der Nord-Ostsee-Kanal im Licht der nationalen Einigung und in den Debatten des Norddeutschen und Deutschen Reichstages bis
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ler Otto von Bismarck, als er in einem Kommentar zum Flottenbauprogramm im Jahre 1872 anmerkte: „Wir müssen allen Seemächten zweiten Ranges überlegen sein“.7 Der ersten Seemacht, Großbritannien, könne man also durchaus unterlegen sein. Moltke, Bismarck und auch Kriegsminister Albrecht von Roon wünschten eine starke Marine dabei nicht aus rein militärischem Kalkül. Denn das Reich war bekanntlich für saturiert erklärt worden. Vielmehr galt sie ihnen als diplomatisches Faustpfand in den Verhandlungen um ein europäisches Gleichgewicht, um gegebenenfalls Großbritannien, Frankreich und Russland gegeneinander ausspielen zu können. Die Marine war seit der Reichsgründung Seestreitkraft einer (Land-)Macht im Herzen Europas. Ihr Selbstbewusstsein war entsprechend gestiegen. Von 1872 bis 1883 stand mit General der Infanterie und Admiral à la suite des Seeoffizierkorps Albrecht von Stosch ein ehrgeiziger Chef an ihrer Spitze,8 der zum Schutz deutscher überseeischer Interessen auf eine Vermehrung auswärtiger Aufgaben auf den Weltmeeren drängte. Es war, nebenbei bemerkt, nicht diese Frage, die Bismarck gegen Stosch in Stellung brachte, sondern dessen allzu ehrgeiziges Engagement in Wirtschaft und Politik. Stosch dankte, auf Druck des Kanzlers, letztlich im März 1883 ab.9 Sein Nachfolger wurde Generalleutnant Leo von Caprivi, der die Marinerüstung nach dem Vorbild der französischen Jeune École ausrichtete und in erster Linie Torpedoboote favorisierte. Man war sich einig: Eine respektable, aber zweitrangige Marine ganz in der Tradition der 1848er Flotte sollte es sein.10 Von einem Instrument für etwaige Großmachtphantasien konnte zu dieser Zeit keine Rede sein. Die erfolgreichste Armee der Welt brauchte keine Schiffe, mit denen sich weder das nach seiner katastrophalen Niederlage wiedererstarkende Frankreich11 noch Russland oder Österreich-Ungarn besiegen ließen. Technisch für eine klassische Seeschlacht gar nicht ausgelegt, diente die Flotte allein zum Erlaß des Kanalgesetzes 1886, in: Lagoni, Seidenfus, Teuteberg (Hg.), Nord-OstseeKanal, S. 87–109, hier S. 92. 7 Zitiert nach Hobson, Maritimer Imperialismus, S. 124. 8 Dass Kaiser Wilhelm I. Marineminister Albrecht von Roon von seiner Stellung entband und am 1.1.1872 Stosch im Rang als preußischen Staatsminister ohne Portefeuille an die Spitze der neu errichteten Kaiserlichen Admiralität stellte, entsprach von Roons erklärtem Willen. Vgl. Guntram Schulze-Wegener, Albrecht von Roon. Kriegsminister, Generalfeldmarschall, Ministerpräsident, Berlin 2011, S. 227. 9 Vgl. Guntram Schulze-Wegener, Deutschland zur See. Illustrierte Marinegeschichte von den Anfängen bis heute, Hamburg ³2010, S. 47. Eine moderne Biografie über Albrecht von Stosch fehlt, obwohl die Quellenlage gut ist. Die letzte Lebensbeschreibung stammt von 1939 und ist deutlich ideologisch ausgerichtet: Ernst Schröder, Albrecht von Stosch, der General-Admiral Kaiser Wilhelms I. Eine Biographie, Berlin 1939. 10 Vgl. Jörg Duppler, Der Juniorpartner. England und die Entwicklung der Deutschen Marine 1848–1890, Herford 1985, S. 27 und 31. 11 Zu den deutsch-französischen Beziehungen und der deutschen Politik der 1870er Jahre siehe Johannes Janorschke, Bismarck, Europa und die „Krieg-in-Sicht“-Krise von 1875, Paderborn 2010.
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zum Schutz der Küsten – dies hatten die Kriege gegen Dänemark gezeigt12 – und der Wahrnehmung polizeilicher Aufgaben im Überseehandel. Das waren Zweck und politischer Wille der deutschen Kriegsmarine, obwohl sich die Flotten in den 1860er Jahren allmählich zum Taktgeber des volkswirtschaftlichen Entwicklungsund Leistungsstandes entwickelten.13 Insofern müssen die deutschen Marinen (Preußens bis 1867, des Norddeutschen Bundes ab 1867, dann des Deutschen Reichs) bis zum Regierungsantritt Kaiser Wilhelms II. und dem mit ihm zweifellos einhergehenden, vielschichtigen Paradigmenwechsel als pragmatisch-auftragsgebundenes Instrument von nachrangiger militärischer Bedeutung im institutionellen, finanziellen, strategischen und gesellschaftlichen Schatten der übermächtigen Armee eingestuft werden – trotz der namentlich unter Roon betriebenen maritimen Propaganda. Seemacht war in jener Epoche weder Prestige noch „Ideologie“.14 Folgerichtig waren Schiffe weder Prestigeobjekte noch Ideologieinstrumente, und seestrategisches Denken lag den Deutschen so fern wie ihnen der berühmte Rote Faden im englischen Tauwerk fremd war. In Großbritannien hingegen fiel der Marine angesichts der existentiellen Abhängigkeit von Nahrungs- und Rohstoffimporten traditionell eine zentrale militärstrategische sowie außen- und innenpolitische Rolle zu (Blue Water School).15 Seine Flotte war Träger und Erhalter jener Besitzungen und Stützpunkte, die sich die Engländer in Jahrhunderte währenden Eroberungen aufgebaut hatten. Sie benötigten ungestörte Verbindungen zu den Einzelstaaten des Empires, um leben und überleben zu können. So war die seebeherrschende Stellung ein wesentlicher, wenn nicht sogar der alles bestimmende Aspekt britischer Politik. 12 In diesem Bewegungszusammenhang stand nach dem Ersten Schleswig-Holsteinischen Krieg gegen Dänemark (1848–1851) der Flottengründungsplan von 1862, der den Bau von zwei Kriegshäfen, vier Panzerfregatten, zwölf Korvetten, 16 Panzerkanonenboote und 36 andere Schiffe projektierte und, überwölbt vom Verfassungskonflikt, im preußischen Landtag scheiterte. Als 1864 der Krieg gegen Dänemark ausbrach, verfügte Preußen nur über einige Kanonenboote. Vgl. Wolfgang Petter, Deutsche Flottenrüstung von Wallenstein bis Tirpitz, in: Militärgeschichtliches Forschungsamt (Hg.), Handbuch zur deutschen Militärgeschichte 1648– 1938, Bd. 4, Abschnitt VIII: Deutsche Marinegeschichte der Neuzeit, München 1977, S. 13– 262, hier S. 76–79. 13 Im Krim-Krieg (1853–1856) kristallisierte sich die operative Überlegenheit des dampfgetriebenen Kriegsschiffes heraus. Die Einführung eiserner Granaten mit Aufschlagzünder zwang zur Panzerung der Schiffe, und seit dem Stapellauf der französischen Panzerfregatte „Gloire“ begann 1859 eine Art Wettlauf zwischen Geschützkalibern und Panzerstärken. Das Gefecht bei Hampton Roads am 9. März 1862 zwischen „Monitor“ und „Virginia“ bewies die Wirksamkeit ihres eisernen Schutzes. 14 Den (zu Recht gebrauchten) Begriff „Seemachtideologie“ für den Imperialismus namentlich der 1890er Jahre führte offenbar erstmals der norwegische Historiker Rolf Hobson ein. Vgl. Hobson, Maritimer Imperialismus; ders., Zur Ideologie von Seemacht, in: Jürgen Elvert, Sigurd Hess, Heinrich Walle (Hg.), Maritime Wirtschaft in Deutschland. Schifffahrt – Werften – Handel – Seemacht im 19. und 20. Jahrhundert, Stuttgart 2012, S. 170–175. 15 Hobson, Maritimer Imperialismus, S. 92–103.
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In Frankreich verhielt es sich insofern anders, als die Jeune École eine strikte Abkehr von schweren zugunsten schneller und wendigerer Einheiten verlangte, um dem Anspruch einer (bewusst) nachgeschalteten Seemacht gerecht zu werden.16 Im Gegensatz zu Großbritannien und mit Abstrichen zu anderen traditionellen Seemächten wie den Niederlanden, Frankreich, Spanien und Portugal waren Marine und Deutschland, vor allem wegen dessen geostrategisch ungünstiger Lage zwischen West und Ost, keine einander bedingenden Größen (ähnlich wie in Russland). Berlin erkannte zwar durchaus schon vor Wilhelm II. den Wert einer starken Marine – zumal in einer sich dramatisch verändernden Welt, in der technischer Fortschritt, wirtschaftlicher Aufschwung und gesellschaftlicher Wandel zunehmend die Politik bestimmten. Man forcierte daher die Zusammenarbeit mit der Royal Navy, die sie dankend annahm.17 Noch aber mangelte es am entscheidenden Impuls in Deutschland, tatsächlich eine Seemacht sein zu wollen, also die wachsenden Ressourcen und technischen Möglichkeiten mit konkreten politischen Optionen zu verknüpfen. Doch „[d]ie kaum versteckte Lehre, das angebliche historische Naturgesetz lautete, daß nur Seemächte die wahren Mächte in der Vergangenheit seien und es unzweifelhaft auch in Zukunft sein würden.“18 III. Wann aber etablierte sich jener Seemachtgedanke in Deutschland, der das Reich schließlich in einen verhängnisvollen Gegensatz zu Großbritannien manövrierte und damit zu einer der maßgeblichen Ursachen für den Ausbruch des Ersten Weltkriegs werden sollte? Ist eine klare Bruchstelle auszumachen, die den Übergang vom rein kontinentalen zum maritimen und daher globalen deutschen Denken markiert? Gibt es sogar ein singuläres Ereignis, ein Datum, das den Seemachtgedanken gebar, von dem aus es nur ein kleiner Schritt zum Weltmachtgedanken war?19 Um es vorweg zu nehmen: Ein datierbarer Ausgangspunkt ist nicht feststellbar. Geschichte vollzieht sich stets in einer losen, schwer determinierbaren Abfolge von Kontinuitäten und Brüchen und vor allem in einem Kosmos ver 16 Ebd., S. 103–118; Volkmar Bueb, Die „junge Schule“ der französischen Marine. Strategie und Politik 1875–1900, Boppard 1971. 17 „Bei der Durchführung [...] bzw. bei der Durchsetzung von gemeinsamen Interessen waren in allen Fällen Seestreitkräfte der Kaiserlichen Marine und der Royal Navy in joint actions beteiligt; d.h. sie setzten nach vorheriger Absprache und nach verabredeten Weisungen ihrer Regierungen die von diesen beschlossenen Maßnahmen durch, so daß das militärisch-maritime Vorgehen in Spanien, China und Ostafrika eine politisch-maritime Wendung erhielt.“ Duppler, Der Juniorpartner, S. 304. 18 Michael Salewski, Deutschland als Seemacht, in: ders., Jürgen Elvert, Jürgen Jensen (Hg.), Kiel, die Deutschen und die See, Stuttgart 1992, S. 21–34, hier S. 21. 19 Zum Seemachtgedanken siehe Andrew Lambert, Seemacht und Geschichte. Der Aufbau der Seemacht im kaiserlichen Deutschland, in: Elvert, Hess, Walle (Hg.), Maritime Wirtschaft in Deutschland, S. 190–209.
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schiedenster Einflüsse und Unwägbarkeiten. Dennoch ragen unter den zahlreichen Komponenten, die den Normenrahmen bilden, drei besonders heraus, da sich in ihnen die neuen Ideen wie in einem Brennglas bündeln: die Person des ab 15. Juni 1888 regierenden Kaisers Wilhelm II., das 1890 erschienene, offensichtlich epochemachende Werk „The Influence of Sea Power upon History“ des amerikanischen Kapitäns Alfred T. Mahan20 und die „Dienstschrift IX“ von 1894 – dem Jahr der Seeschlacht vor der Yalu-Mündung,21 die aus Sicht Wilhelms II. „das ersehnte aktuelle Beispiel für die Bedeutung der Seemacht in der modernen Zeit“22 lieferte. In diesen sechs Jahren entstand die nicht nur theoretische, sondern – wie am Yalu zu sehen war – auch praktisch anwendbare Formel „Seemacht = Weltmacht“.23 Wilhelm II., der von Kindesbeinen an eine uneingeschränkte Zuneigung zur Marine hegte, war begeistert. Er entwickelte im Lauf der Jahre ein schon fast erotisches Verhältnis zur Flotte und ihren Männern, denen er liebevolle Zuneigung schenkte: Zu Ostern versteckte Seine Majestät bunte Eier an Bord, zu Weihnachten ließ er teure Gaben unter den Matrosen verteilen. Und er war ihnen sogar geistlicher Beistand, wenn er persönlich an Bord Sonntagsgottesdienste feierte und predigte. Wilhelm II. galt den Deutschen als Verkörperung der jungen, ehrgeizigen Nation, die zu Höherem berufen war als nur zum Dasein unter vielen Gewöhnlichen. Und wenn er sprach, dann ließ er eine erstaunliche Begabung für die freie Rede erkennen, schien seine Worte aus einem unendlichen Repertoire zu schöpfen und fügte seine Silben gekonnt aneinander – wenngleich seine Reden auf Nachgeborene etwas übertrieben und monströs wirken.24 Mit Wilhelm II., der in einem ganz ungewöhnlichen Umfang die politische Kultur seiner Epoche prägte und verkörperte, setzte das durchaus nachvollziehbare Streben nach Weltgeltung und einer Großmachtstellung ein, was nicht zu verwechseln ist mit Weltherrschaft. Kaiser und Volk forderten die Achtung der Welt, eben auch einen „Platz 20 Alfred T. Mahan, The Influence of Sea Power upon History, 1660–1783, New York 1890. 21 Am 17.9.1894 konnte die japanische Flotte die chinesische während des ersten japanischchinesischen Krieges in erster Linie mit schnell feuernden, bis zu 20 Knoten laufenden Kreuzern entscheidend besiegen und bestätigte mit ihrem Einsatz das Prinzip Seemacht. Vgl. Elmar B. Potter, Chester W. Nimitz, Seemacht. Eine Seekriegsgeschichte von der Antike bis zur Gegenwart, Herrsching 1986, S. 259–262. 22 John C. G. Röhl, Wilhelm II. Der Aufbau der Persönlichen Monarchie 1888–1900, München 2001, S. 1113. 23 So der Titel eines Aufsatzes von Michael Epkenhans, Seemacht = Weltmacht. Alfred Thayer Mahan und sein Einfluß auf die Seestrategie des 19. und 20. Jahrhunderts, in: Elvert, Jensen, Salewski (Hg.), Kiel, die Deutschen und die See, S. 35–47. 24 Zum Beispiel taufte Wilhelm II. am 27.6.1892 das Panzerschiff „Heimdall“ mit den Worten: „Du sollst den Namen erhalten des Gottes, dem als Hauptaufgabe die Abwehr übertragen war, desjenigen, dem es oblag, die goldenen Tore Walhallas vor jedem bösen Eindringling zu beschützen und zu bewahren. Wie jener durch sein goldenes Horn weithin schallend, wenn Gefahr im Anzuge, die Götter zum Streit in der Götterdämmerung und durch sein Horn Verwirrung und Verderben in die Reihen seiner Feinde brachte, so sei es auch mit dir!“ Zitiert nach Schulze-Wegener, Deutschland zur See, S. 50.
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an der Sonne“, und die Flotte wurde als Wundertechnologie allerhöchster Stolz und größte Hoffnung des euphorisierten deutschen Patriotismus.25 John C. G. Röhl löst in seiner monumentalen Wilhelm-Biografie das Rätsel, wie „die marottenhafte Leidenschaft Wilhelms für die See zum Ausgangspunkt eines tödlichen Rüstungswettlaufs zwischen den Nachbarländern an der Nordsee“ werden konnte. Er fragt: „Was bezweckte der Kaiser mit dieser eindeutig von ihm persönlich eingeleiteten und entschieden gegen den Willen des Parlaments, der Staatsmänner der Wilhelmstraße und selbst des Offizierskorps durchgesetzten ,uferlosen‘ Flottenpolitik?“26 War es allein eine besonders ausgeprägte und sich steigernde Repräsentationsliebe, die den Monarch zu den Schiffen trieb, also eine den realen wirtschaftlichen und finanziellen Gegebenheiten entrückte und zudem unsystematische Spielerei? Oder war es ein auf staatsmännischer Berechnung beruhendes Kalkül, selbst im Widerstreit mit dem Parlament eine starke Flotte durchzusetzen, um aus dem übergroßen Schatten seiner Vorgänger herauszutreten – so aus dem des „Soldatenkönigs“, der einst mit der Armee die Grundlage für Preußens Aufstieg geschaffen hatte,27 oder aus dem seines Großvaters, des „Heldenkaisers“ Wilhelm I., der sich im Verfassungskonflikt der 1860er Jahre erfolgreich gegen die Opposition im preußischen Landtag durchgesetzt hatte?28 Anzunehmen ist eine Schnittmenge aus beiden Motivationen. Und bezieht man Wilhelms unsteten, reizbaren, in vielem sprunghaften Charakter mit seinen zeitweise fast kindlich anmutenden Phantasien sowie seine schizophrene Hassliebe zu „Greater Britain“ mit ein, erhält man eine Summe von inkohärenten und unbeständigen Faktoren. So befand sich der Kaiser, in dessen Adern bekanntlich englisches Blut floss, von Beginn an in einem unauflösbaren Gegensatz zum Gegenstand seiner Begierde. Denn Schiffe sind aufgrund ihrer langen Bauphasen immer ein Wechsel auf die Zukunft, die langfristige politische, wirtschaftliche und strategisch-militärische Planungssicherheit daher eine conditio sine qua non. Doch unter Kaiser Wilhelm II. gab es diese Planungssicherheit zu keinem Zeitpunkt! Am Anfang seiner Regierungszeit stand eine heterogene, aus verschiedenen, nicht aufeinander abgestimmten Schiffstypen unterschiedlicher Klassen bestehende Flotte, die nur noch Rang fünf in der Welt belegte und in diesem Zustand alles andere als respektabel war. Zwar wurden in den Etat von 1889 vier neue Groß 25 Vgl. Heinrich Walle, Schlachtflottenbau und Flottenenthusiasmus. Technischer Fortschritt, militärische Macht, nationale Identifikation, in: Volker Plagemann (Hg.), Übersee. Seefahrt und Seemacht im deutschen Kaiserreich, München 1988, S. 211–215. 26 Röhl, Wilhelm II., S. 1109. 27 So bemerkte der spätere Kanzler Bernhard von Bülow gegenüber Wilhelm II.: „Sie haben mir oft selbst gesagt, Ihr Ideal wäre, wie Friedrich Wilhelm I. vorzuarbeiten, das Rüstzeug zu schmieden, das einst Ihr Sohn, noch besser Ihr Enkel brauchen soll.“ Bernhard Fürst von Bülow, Denkwürdigkeiten, Bd. 2: Von der Marokko-Krise bis zum Abschied, Berlin 1930, S. 65. 28 Vgl. Schulze-Wegener, Albrecht von Roon, S. 153–173.
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kampfschiffe aufgenommen, die Strategie des Oberkommandos29 aber blieb zunächst bei der gewohnten Küstenverteidigung mit Torpedobooten und Avisos (kleine, meist zu Aufklärungszwecken eingesetzte, schwach gepanzerte und armierte Schiffe). Um seine rein theoretische Marinepassion in real existierendes, schwimmendes Potenzial umzuwandeln, benötigte der Kaiser zum einen stimmige geistige Grundlagen und eine darauf aufbauende strategisch-operative Neuausrichtung, die sein Umfeld und vor allem die Parlamentarier von der Notwendigkeit eines Flottenausbaus überzeugen würden. Zum anderen musste er seinen eigenen, selbstbewussten30 maritimen Fanatismus in das Volk tragen. Denn war der Funke der Begeisterung in breiten Gesellschaftsschichten erst entfacht und vermochte er die Stimmung der Öffentlichkeit31 auf seine Seite zu bringen, dann hatte er leichteres Spiel, im Reichstag die Vergrößerung der Flotte durchzusetzen. Es war der bereits genannte amerikanische Kapitän und spätere Admiral Alfred T. Mahan, der mit „The Influence of Sea Power upon History“ – 1896 in deutscher Sprache erschienen32 – Wilhelm II. die Vorlagen gab: „Ich lese gerade nicht nur, sondern ich verschlinge das Buch von Kapitän Mahan, und ich versuche es auswendig zu lernen. Es ist ein erstklassiges Werk und klassisch in allen Punkten.“33 Wilhelm hatte antike Klassiker wie Thukydides studiert, zu seinem Amüsement Seemannsschnulzen gelesen und war auch von William James’ „Naval History of Great Britain“34 zutiefst beeindruckt. Doch Mahan war es, der mit seiner Studie erstmals den Nachweis zu erbringen schien, dass der Weg zur Weltmacht allein über die See führe, sich die Macht zur See seit jeher auf die Geschichte großer Staaten ausgewirkt habe und kleine Nationen, die keine Kriegsmarine unterhielten, zwangsläufig zum Untergang verurteilt seien. Seine simple wie klare Botschaft lautete: „Seemacht = Weltmacht“. „Indem Mahan ,nachwies‘, daß, und dies war das Entscheidende, ,Seemacht‘ eben nicht das historisch zufäl 29 Zum Jahreswechsel 1888/89 wurde die Admiralität in einzelne (nicht ganz spannungsfreie) Abteilungen unterteilt: ein Oberkommando für alle strategisch-operativen Planungen, ein Reichsmarineamt für Marinepolitik und Verwaltung sowie ein Sekretariat als Umschlagplatz für die Weisungen des Kaisers, das er feierlich „Marinekabinett“ nannte und das er zunächst Kapitän zur See Gustav von Senden-Bibran unterstellte. Vgl. Walther Hubatsch, Der Admiralstab und die obersten Marine-Behörden in Deutschland 1848–1945, Frankfurt a.M. 1958. 30 Kritik an seinen Flottenplänen soll der Kaiser in Latein gekontert haben: „Naves esse aedificandas“. Zitiert nach Röhl, Wilhelm II., S. 1112. 31 Zur maritimen Propaganda und „Navalismuswelle“ unter Wilhelm II. siehe Rüdiger Bergien, Flotte und Medien, in: Werner Rahn (Hg.), Deutsche Marinen im Wandel. Vom Symbol nationaler Einheit zum Instrument internationaler Sicherheit, München 2005, S. 143–160, sowie Rolf Hobson, Die Besonderheiten des wilhelminischen Navalismus, in: ebd., S. 161–193. 32 Alfred T. Mahan, Der Einfluss der Seemacht auf die Geschichte, Berlin 1896. 33 Wilhelm II. in einem Brief an den befreundeten US-Schriftsteller und Journalisten Poultney Bigelow im Mai 1894, zitiert nach Epkenhans, Seemacht = Weltmacht, S. 36. Zu den Grundlagen von Mahans Strategie siehe Hobson, Maritimer Imperialismus, S. 182–189. 34 William James, The Naval History of Great Britain from the Declaration of War by France in 1793 to the Accession of George IV in January 1820. With an Account of the Origin and Progressive Increase of the British Navy, 5 Bde., London 1820–1822.
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lige Resultat der Heldentaten wagemutiger Seefahrer, sondern die Summe rationaler Faktoren war, zeigte er einer – wenn auch saturierten – Weltmacht wie England, wie es das unbewußt entsprechend seinen Prinzipien erworbene Empire bewahren, aufstrebenden Großmächten wie Deutschland, Japan und den USA, wie sie nach dem Vorbild Englands Weltmacht werden konnten.“35 Es liegt auf der Hand, dass Wilhelm II. diese „Bauanleitung“ für ein deutsches Großreich mit Hilfe einer starken Flotte begeistern musste. Er versah sie mit zahlreichen Anmerkungen und legte sie seinen Marineoffizieren wärmstens ans Herz. Die Marine-Enthusiasten begriffen Mahans Buch als eine Art Bibel, aus der sie ihre Lehre, ihren Glauben schöpften.36 Produktion, Expansion und Schifffahrt waren die magnetischen Anziehungspunkte einer Seemacht, die mit Weltmacht unmittelbar einherging. Nach Mahan konnte jede Nation Seeherrschaft erlangen, wenn sie nur powerful, also stark genug, war. Dies ließ sich nicht mit kleinen Kreuzern, Torpedobooten und Avisos erreichen, sondern nur mit einer Schlachtflotte, deren Kern Großkampfschiffe bilden sollten. Dann ließen sich traditionelle, lediglich ihr Reich erhaltende Mächte wie England jederzeit herausfordern. Seegeltung wurde zur Lebensfrage einer Nation und spielte die wichtigste Rolle im ewigen Kampf der Völker um Sein oder Nichtsein. Andere Möglichkeiten sah der Amerikaner nicht – was ihm durchaus auch Kritik eintrug: „Aus Mahans Sicht war der Handelskrieg keine Alternative, da weder Kreuzer noch Torpedoboote jemals in der Lage sein würden, die Seeherrschaft zu erringen oder die ozeanischen Verbindungen des Gegners entscheidend zu bedrohen.“37 Seemacht war dabei weit mehr als Qualität und Quantität einer Flotte: Nur in Verbindung mit ausgedehnten geografischen Räumen, Stützpunkten und dem Willen der Regierung zu bedeutungsvoller maritimer Politik konnte eine nationale Marine ihre ganze Kraft und Wirkung entfalten. Zunächst zeigte sich der deutsche Kaiser beim Gedanken an eine reine Schlachtflotte jedoch reserviert38 und eher den Ideen der Jeune École zugetan. Tatsächlich boten kleinere Einheiten flexiblere Möglichkeiten, Schwarz-Weiß-Rot auf die Meere der Welt zu tragen. Das belegte die Effizienz der Kreuzer zur Wahrung und Durchsetzung deutscher Interessen in Übersee ab 188539 – allerdings zu einem Zeitpunkt, als das Kaiserreich beim Versuch um nachhaltigen kolonialen Erwerb längst ins Hintertreffen geraten 35 Epkenhans, Seemacht = Weltmacht, S. 37f. 36 Vgl. Holger H. Herwig, Der Einfluß von Alfred Th. Mahan auf die deutsche Seemacht, in: Werner Rahn (Hg.), Marinen im Wandel, S. 127–142. 37 Michael Epkenhans, Flotten und Flottenrüstung im 20. Jahrhundert, in: Elvert, Hess, Walle (Hg.), Maritime Wirtschaft in Deutschland, S. 177. 38 Nach Röhl, Wilhelm II., S. 1115, war er damals „noch weit davon entfernt, mit einem Schlachtflottenbau dem englischen Weltreich den Fehdehandschuh hinwerfen zu wollen.“ 39 Vgl. Heiko Herold, Reichsgewalt bedeutet Seegewalt. Die Kreuzergeschwader der Kaiserlichen Marine als Instrument der deutschen Kolonial- und Weltpolitik 1885 bis 1901, München 2013, sowie Heinrich Walle, Das deutsche Kreuzergeschwader in Ostasien 1897 bis 1914. Politische Absichten und militärische Wirkung, in: ders. (Hg.), Der Einsatz von Seestreitkräften im Dienst der auswärtigen Politik, Herford 1983, S. 32–60.
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war. Seinen zweiten Blick richtete der Monarch auf den französisch-russischen Zweibund und stellte halb anerkennend, halb resignierend fest, „wie enorm sich die französische und russische Kriegsflotte entwickelt“ hätten.40 IV. Aus dieser Einsicht leitete Wilhelm II. das Postulat einer kraftvollen, gegen die kontinentalen Flügelmächte gerichteten Flotte ab, die mit insgesamt 36 Schiffen für eine erfolgreiche Seeschlacht geeignet wäre. Basis für seine taktische Kehrtwendung von kleineren zu größeren Einheiten mit Zielrichtung Entscheidungsschlacht war die berühmte „Dienstschrift IX“ vom 16. Juni 1894, in der Kapitän Alfred Tirpitz in seiner Eigenschaft als Chef der Ostseestation aus ManöverErfahrungen eine neue, offensive und mit imperialen Erfordernissen korrespondierende deutsche Marine präsentiert hatte.41 Die „Dienstschrift IX“ setzte mit der stringent in vier Schiffsklassen gegliederten Bau-Forderung, die Mahans Theorien in geradezu idealtypischer Weise adaptierte, zweifellos neue Maßstäbe. Die darin gemachte Aufstellung war unterteilt in eine Schlacht- und eine Aufklärungskomponente und ging von 17 Linienschiffen, sechs Panzerkreuzern und zwölf Panzerdeckkreuzern sowie einer Anzahl Torpedobooten und Hilfsschiffen aus. Tirpitz forcierte erstmals das Prinzip Seeherrschaft, weswegen Rolf Hobson sehr richtig von „Seemachtideologie in der Dienstschrift IX“ mit klar definierten operativen Doktrinen spricht: „Die Dienstschrift stellte die deutlichste Darlegung der grundlegenden Prinzipien einer Seestrategie dar, die so angelegt war, daß sie den deutschen Verteidigungsbedürfnissen in einem Krieg gegen den Zweibund gerecht werden konnte.“42 Von der passiven maritimen Abwehr einer potenziellen Bedrohung und dem Schutz des überseeischen Engagements bis zur Herausforderung der Englands war es nur noch ein kurzer Weg. Diesen beschritt der Kaiser um die Jahreswende 1895/96, als er verschiedene Gelegenheiten wahrnahm, um die Dringlichkeit einer schlagkräftigen Kriegsmarine zu unterstreichen43 – so etwa 40 Wilhelm II. in einem Vortrag an der Königlichen Kriegsakademie am 8.2.1895, zitiert nach Röhl, Wilhelm II., S. 1117. 41 Vgl. Michael Salewski, Tirpitz. Aufstieg – Macht – Scheitern, Göttingen 1979, S. 40–44; Franz Uhle-Wettler, Alfred von Tirpitz in seiner Zeit, Hamburg 1998, S. 72–81; Hobson, Maritimer Imperialismus, S. 215–227. 42 Ebd., S. 223. 43 Im Januar 1896 forderte Wilhelm II. die Aufnahme einer Anleihe von mehreren Millionen Reichsmark zur Finanzierung der Flotte: „Seine ,uferlosen‘ Flottenpläne erzeugten noch im März 1896 eine ,etwas unheimliche Stimmung‘ in Berlin, zumal man weiterhin aus diesem Anlaß eine Auflösung des Reichstags befürchtete. ,Daß der Kaiser sein Ziel konsequent verfolgen wird, daran zweifle ich keinen Augenblick‘, schrieb [Generalfeldmarschall und Chef des Generalstabes Alfred Graf von] Waldersee unterm 3. März 1896. Selbst innerhalb des Marineoffizierskorps sei man ,getheilter Ansicht‘, da zahlreiche ,angesehene Officiere eine so starke Vermehrung für kaum ausführbar‘ hielten.“ Zitiert nach Röhl, Wilhelm II., S. 1128.
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die heftige Reaktion auf die so genannte Krüger-Depesche oder den „verpatzten britischen Versuch, die burischen Republiken von Südafrika niederzuwerfen“.44 Noch aber konnte er den Widerstand des Reichstags nicht überwinden. Mit Tirpitz, der die stärkere Einflussnahme der Marine auf sämtliche Bereiche des öffentlichen Lebens beständig und sehr erfolgreich forcierte,45 ernannte der Kaiser 1897 nicht nur einen technisch versierten und erfahrenen Seeoffizier zum Staatssekretär des Reichsmarineamtes, sondern vor allen Dingen einen kongenialen Partner bei dem nunmehr unumstößlich festgeschriebenen Flottenwachstum. Admiral Tirpitz war der eigentliche Schöpfer der deutschen Flotte, der Schiffsbaumeister des Deutschen Reiches.46 Er befuhr konsequent die Gewässer, die Wilhelm II. ihm zuwies, tat sich als Antreiber und Visionär hervor, war Mahner und Warner zugleich und in seinem ganzen Wesen der maritimen Zukunft des Reiches zugewandt. Er erkannte die schier überwältigenden Möglichkeiten von Technik, Wissenschaft und Wirtschaft und setzte sie in Beziehung zum (maritimen) Machtgeflecht der Nationen, von denen die einen gesättigt, die anderen noch hungrig waren.47 Tirpitz sah deutlich, dass die Großstaaten mit ihren Interessen künftig scharfen Kurs gegeneinander nehmen würden und Deutschland, eben wegen seiner Mittellage, bei der kleinsten Unachtsamkeit Gefahr liefe, zwischen ihnen zerrieben zu werden. Um nicht unterzugehen, müsse Deutschland also zur Supermacht werden, und Supermacht konnte Deutschland nur mit einer Hochseeflotte sein, der Tirpitz somit existentiell politische neben ihrer rein militärischen Bedeutung beimaß. Fatal an dieser Einschätzung war, dass deutsche Großkampfschiffe allein schon aus Mangel an Stützpunkten und infolge des viel zu geringen Aktionsradius, also wegen eklatanter technischer Unzulänglichkeiten, nicht in der Lage waren, nach Kriegsausbruch 1914 die Fernblockade zu verhindern und die seewärtigen Zufuhren, auf die das Reich dringend angewiesen war, zu gewährleisten. Ein ebenso fataler Irrtum war auch Tirpitz’ vehement verfochtene Meinung, mit einer starken Schlachtkomponente die Bündnisfähigkeit des Reiches stärken und Deutschland 44 Lambert, Seemacht und Geschichte, S. 190. 45 Stellvertretend dafür mögen die Gründung des Flottenvereins 1898 sowie die ab Mitte der 1890er Jahre zahlreich erschienenen maritimen Publikationen stehen z.B. Georg Wislicenus, Deutschlands Seemacht sonst und jetzt, Leipzig 1896; Ernst von Halle, Die Seemacht in der deutschen Geschichte, Leipzig 1907; Rudolf von Werner, Deutschlands Ehr’ im Weltenmeer, Leipzig 41908. 46 Eine neue, aktuelle Forschungen einbeziehende Tirpitz-Biografie fehlt, so dass nach wie vor Salewski, Tirpitz, und Uhle-Wettler, Alfred von Tirpitz in seiner Zeit, uneingeschränkt Geltung haben. 47 Tirpitz in einem Brief an seine Tochter Blanca vom 18.7.1897: „Das Zusammenballen von Riesennationen Panamerika, Greater Britain, das Slawentum und möglicherweise der mongolischen Rasse mit Japan an der Spitze werden Deutschland im kommenden Jahrhundert vernichten oder doch ganz zurückdrängen, wenn Deutschland nicht eine politische Macht auch über die Grenzen des europäischen Kontinents hinaus wird. Die unerläßliche Grundlage hierfür in dieser Welt, wo die Dinge hart aufeinanderstoßen – ist eine Flotte.“ Zitiert nach Salewski, Tirpitz, S. 52.
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zu einem attraktiven Partner machen zu können. Grund dafür war die damals weit verbreitete, explizit sozialdarwinistisch unterfütterte These, schwächere Seemächte würden sich im Kriegsfall per se den stärkeren andienen, um im Idealfall unter Deutschlands Führung die übermächtige englische Seestellung zu zertrümmern. Tirpitz’ Planung beruhte von Anfang an auf dem Konzept einer siegreichen Entscheidungsschlacht gegen die Grand Fleet, wenn die Briten von einer starken deutschen Flotte nicht ohnehin abgeschreckt und daher den Kampf um jeden Preis meiden würden: Verfügte Deutschland über eine Hochseeflotte, würde England keine Schlacht riskieren, um seine kostbaren Schiffe nicht in Gefahr zu bringen. Zudem hat die Forschung in dem durch Tirpitz mit dem ersten Flottengesetz 1898 angestoßenen Schiffsbau eine Art innenpolitische Krisenstrategie ausgemacht, die dazu diente, durch langfristige Auftragsvergabe Arbeiter zufriedenzustellen, der Rüstungsindustrie zu nachhaltigem Aufschwung zu verhelfen und dadurch die Stellung der alten Eliten im Reich dauerhaft zu sichern.48 Dazu kam die gewaltige psychologische Wirkung, die „des Kaisers schimmernde Wehr“ im nationalen Selbstverständnis entfachte. Diesen durchweg positiven Gesichtspunkten konnte sich auch der Reichstag nicht mehr verschließen, der den Aufbau der Schlachtflotte fortan mehrheitlich durch Gesetze (1898,49 190050) und Novellen (1906, 1908) unterstützte – sieht man einmal von der letzten von 1912 ab. Die Zahl der Großkampfschiffe sollte bis 1920 von 19 auf 55 Einheiten steigen. Aber erst mit dem zweiten Flottengesetz vom 14. Juni 1900 – auf den Tag genau 52 Jahre nach Gründung der ersten deutschen Flotte – verschob sich das Kräfteverhältnis von 1:2 (erstes Flottengesetz) auf 2:3 gegenüber der Marine Großbritanniens, das sich nun bedrängt sah und seinerseits mit einer breit angelegten Rüstung reagierte, um die qualitative und quantitative Überlegenheit der Royal Navy zu sichern. Mit der Dreadnought-Klasse (All Big Gun Ship) entwickelten die Briten eine neue Schiffskategorie. Zudem gelang die Isolierung Deutschlands durch Annäherung an die Seekonkurrenten USA (1901) und Japan (1902) sowie die Entente Cordiale mit Frankreich (1904), der drei Jahre später auch Russland beitrat. 48 Vgl. Hobson, Maritimer Imperialismus; Röhl, Wilhelm II., S. 1128–1152; Michael Epkenhans, Die wilhelminische Flottenrüstung 1908–1914. Weltmachtstreben, industrieller Fortschritt, soziale Integration, München 1991; Volker R. Berghahn, Der Tirpitz-Plan. Genesis und Verfall einer innenpolitischen Krisenstrategie unter Wilhelm II., Düsseldorf 1971. 49 Das erste Flottengesetz legte im Einzelnen fest: Schlachtflotte – zwei Geschwader zu je acht Linienschiffen, zu denen ein Flottenflaggschiff und zwei Reserveeinheiten hinzukamen; Aufklärungs- und Auslandskomponente – acht Küstenpanzerschiffe, zwölf Große und 30 Kleine Kreuzer. Die Schiffe sollten nach Fertigstellung auf 25 Jahre in Dienst gehalten und danach automatisch durch Neubauten ersetzt werden, so dass diese Ersatzbauten nicht neu beantragt werden mussten, sondern der Reichstag zur Bewilligung der nötigen Mittel gezwungen war. Vgl. das „Gesetz, betreffend die deutsche Flotte“, in: Reichsgesetzblatt, 10.4.1898, Nr. 15, S. 165–168. 50 Das zweite Flottengesetz verfügte eine Verdoppelung der deutschen Flotte: zwei Flottenflaggschiffe und vier Geschwader zu je acht Linienschiffe plus vier Reserveschiffe. Die Zahl der Kreuzer wuchs auf 14 Große und 38 Kleine. Vgl. das „Gesetz, betreffend die deutsche Flotte“, in: Reichsgesetzblatt, 14.6.1900, Nr. 21, S. 255–259.
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V. Dass die aggressive deutsche Flottenrüstung die verheerende außenpolitische Konstellation des gegen das Deutsche Reich gerichteten Bündnisblocks mit verursacht hat, ist mittlerweile eine Konstante in der Forschung zur Vorgeschichte des Ersten Weltkriegs.51 Trotz aller Anstrengungen war Tirpitz nicht in der Lage, die erhebliche Lücke zwischen Hochseeflotte und Grand Fleet zu schließen, weil Finanzen und Wirtschaftsressourcen dem Reich allzu enge Grenzen setzten. Die nachfolgende Aufschlüsselung zeigt die überdeutliche maritime Unterlegenheit der Mittelmächte gegenüber den Entente-Staaten: Stärkevergleich der acht größten Seemächte (Mai 1913)52 Land Deutschland Österreich-Ungarn Italien Großbritannien Frankreich Russland USA Japan
Land Deutschland Österreich-Ungarn Italien Großbritannien Frankreich Russland USA Japan
Budget
Personaletat
Wasserverdrängung
467,36 RM 155,26 RM 205,39 RM 944,71 RM 369,03 RM 473,88 RM 590,72 RM 202,85 RM
66 183 19 000 37 500 124 640 64 500 50 000 62 200 50 000
1 273 617 ts 287 100 ts 558 740 ts 2 857 340 ts 1 003 440 ts 732 860 ts 1 054 620 ts 735 870 ts
Großkampfschiffe53
Linienschiffe
Panzerkreuzer
26 4 9 42 18 11 14 12
41 16 22 78 37 19 39 20
16 3 10 44 22 10 15 17
Geschützte Große TorKreuzer pedoboote 47 11 15 106 16 16 18 18
154 51 74 283 87 140 76 55
U-Boote 2354 14 24 95 75 55 50 15
51 Christian Stachelbeck, Deutschlands Heer und Marine im Ersten Weltkrieg, München 2013. 52 Aus: Georg von Alten, Hans von Albert (Hg.), Handbuch für Heer und Flotte. Enzyklopädie der Kriegswissenschaften und verwandter Gebiete, Bd. 5, Leipzig 1913, S. 654. Bei den Angaben über Wasserverdrängung und Anzahl der Schiffe, Torpedo- und Unterseeboote sind die im Bau befindlichen nicht mitgerechnet. Marinebudget und Personaletat beziehen sich auf das Haushaltsjahr 1913/14. 53 Moderne Linienschiffe und Schlachtkreuzer. 54 Fertiggestellt.
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Die Führung war sich dabei völlig im Klaren, dass man bei einem langjährigen Schlagabtausch hochgerüsteter Industriepotenziale unterliegen würde, und richtete ihre Militärstrategie demgemäß auf eine schnelle Entscheidung aus (Schlieffenplan55): „Als die deutsch-englischen Verhandlungen im Frühjahr 1912 endgültig gescheitert waren und das scheinbar unvermeidliche Schicksal seinen Lauf hin zum Krieg nahm, weigerte sich Tirpitz entschieden, die Schuld an dieser Entwicklung bei sich und seiner Marinepolitik zu suchen, im Gegenteil: allein diese Politik der ,Friedensbewahrung‘ habe die Option der deutschen Weltmacht offengehalten.“56 Gewiss war es für den Großadmiral, der am 15. März 1916 resigniert seinen Abschied nahm, eine erschütternde Erkenntnis, dass keiner seiner drei strategischen Grundpfeiler – Risikobindung, Entscheidungsschlacht, Bündnisfähigkeit – gehalten hat. Sie sind eingestürzt, weil ihre Konstruktion auf fehlerhaften Berechnungen beruhte. Bei Kriegsausbruch verfügte das Deutsche Reich über einsatzbereite 19 Großkampfschiffe, Großbritannien über 29. Für die deutsche Seekriegsführung waren die Flotten Frankreichs und Russlands uninteressant. Ein Kräftemessen mit der Royal Navy war das Maß aller Dinge. Doch diese tat den Deutschen den Gefallen einer engen Blockade der deutschen Häfen nicht, gegen die man die Schlachtflotte oder zumindest einen Teil von ihr hätte einsetzen können. Sie beließ es bei einer mit dem damaligen Seerecht übrigens nicht in Einklang stehenden weiter abgesetzten Sperre der Nordseeausgänge.57 Dass die Kaiserliche Marine 1914 nur spärliche Erfolge einfahren konnte – etwa mit dem Unterseeboot U9 (Kapitänleutnant Otto Weddigen) oder dem Kreuzergeschwader vor Coronel, das allerdings bei den Falklandinseln vernichtet wurde –, wirkte sich verheerend auf das Selbstverständnis des Offizierskorps aus. Die Flotte, seit Jahren das politische und militärische Schwergewicht, schien mit einem Mal nutzlos zu sein, eine quantité négligeable, deren stolze Schiffe sich als Menschen und Material verzehrende Riesenspielzeuge eines egomanischen, herrisch auf die See fixierten Monarchen entpuppten. Tirpitz’ fulminantes Urteil, die Deutschen hätten die See nicht verstanden,58 wurde 1914 zur bitteren Wahrheit.
55 Hans Ehlert, Michael Epkenhans, Gerhard P. Groß (Hg.), Der Schlieffenplan. Analysen und Dokumente, Paderborn 2006. 56 Salewski, Tirpitz, S. 84. 57 Vgl. Schulze-Wegener, Deutschland zur See, S. 82–84. 58 Vgl. Salewski, Deutschland als Seemacht, S. 26.
„THE HUN IS AT THE GATE“ Der Wandel nationaler Stereotypisierungen vor 1914 und die Perzeption des Deutschen Kaiserreichs durch die Entente-Mächte Lauritz Wichmann Aus Sicht der kulturwissenschaftlichen Forschung sind die Bilder und Vorstellungen, die sich Nationen im Laufe der Geschichte voneinander gemacht haben, Konstruktionen gedachter Ordnungen. Nation und Nationalcharakter existieren nicht an sich, sondern nur als Imagination von Menschen, die daran glauben wollen.1 In der Regel werden Nationalcharaktere aus einem Bündel positiver und negativer Wesens- und Verhaltensmerkmale gebildet und kursieren in simplifizierter Darstellung häufig in Form von nationalen Stereotypen. Da sie in der Vergangenheit oftmals als Erklärungsmuster für zwischenstaatliche Beziehungen herangezogen worden sind, zum Beispiel in kriegerischen Konflikten, wird die wissenschaftliche Auseinandersetzung mit Nationalcharakteren in der modernen Forschung bislang abgelehnt. Kritisiert wurde zu Recht die mit dem Glauben an die Existenz von Nationalcharakteren verbundene Annahme, die ihnen zugeschriebenen Eigenschaften seien den Angehörigen einer Nationsgemeinschaft inhärent – so, als handelte es sich bei einer Nation um einen homogenen Körper mit einer regelrechten „Volkspsyche“. Dies anzunehmen wäre völliger Irrglaube. Dennoch sind diese zu Stereotypen vereinfachten Vorstellungswelten „nicht einfach als negativer Auswuchs menschlicher Einbildungskraft zu verstehen“.2 Sie sind auch keine willkürlichen oder rein manipulativen Erfindungen politischer oder intellektueller Eliten.3 Vielmehr erfüllen Stereotype vielschichtige gesellschaftliche Funktionen, die für das menschliche Handeln höchst praktisch und auch wichtig sind. Indem sie „Charakteristika und Gesetzmäßigkeiten unter mehreren Erscheinungen festhalten“, reduzieren sie die Komplexität kultureller Vielfalt und ersetzen 1 2
3
Vgl. Benedict Anderson, Die Erfindung der Nation. Zur Karriere eines folgenreichen Konzepts, Frankfurt a.M. ²2005. Berit Pleitner, Die „vernünftigen“ Deutschen. Deutsche Identitätskonstruktionen in den 1850er und 1860er Jahren, in: Michael Einfalt, Joseph Jurt, Daniel Mollenhauer, Erich Pelzer (Hg.), Konstrukte nationaler Identität. Deutschland, Frankreich und Großbritannien (19. und 20. Jahrhundert), Würzburg 2002, S. 171–188, hier S. 174. Wolfgang Höpken, Staatlichkeit, Ethnogenese und Kultur. Narrative und symbolische Muster nationaler Identitätskonstruktionen auf dem Balkan im 18. und 20. Jahrhundert, in: Dietmar Willoweit, Hans Lemberg (Hg.), Reiche und Territorien in Ostmitteleuropa. Historische Beziehungen und politische Herrschaftslegitimation, München 2006, S. 405–449, hier S. 405.
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„schnell und ohne großen Aufwand differenziertes Wissen“.4 Dadurch gehören sie in den Bereich der sozialen Kommunikation und sind „nicht nur Hindernisse, sondern auch wichtige Brücken des Verstehens in der Begegnung mit einer fremden Kultur und in der Verständigung über sie“.5 Darüber hinaus fällt ihr Verwendungszweck in den Prozess der Sinnproduktion sozialer Systeme.6 Denn nationale Stereotype sind simplifizierte, zumeist bildhafte oder textuelle Übersetzungen diskursiver Wahrnehmungsmuster, die in der kulturellen Vergleichsbetrachtung entstehen und hilfreich dafür sind, das jeweils „Eigene“ vom vermeintlich „Fremden“ zu unterscheiden. Auf diese Weise dienen sie der eigenen Identitätsbestimmung, bieten Orientierung und Sicherheit im sozialen Umgang und vermitteln ein subjektives Gefühl kollektiver Zugehörigkeit. Lassen sich Stereotype zu Feindbildern funktionalisieren, sind sie begrifflich zunächst nicht mit Urteilen oder Haltungen gleichzusetzen. Da sie jedoch mit Worten und Begriffen verbunden sind, die an gesellschaftliche Normen und Werte gekoppelt sind, sind sie selektive Wahrnehmungsmuster, die jeweils positiv als auch negativ konnotiert sein können.7 Nationale Stereotype sind daher gruppenspezifisch und wirklichkeitsbezogen angenommene Kollektiveigenschaften, die unabhängig von persönlicher Erfahrung, aber in Verbindung mit einem WortNamen – zum Beispiel dem Wort „deutsch“ – bestimmte Empfindungen hervorrufen. Dabei handelt es sich um emotionale Reaktionen auf einen durch diesen Wort-Namen signalisierten gesellschaftlichen Inhalt.8 Hatte die Deutsche Rundschau 1909 beispielsweise feststellen müssen, dass das Bild der Deutschen im internationalen Vergleich so schlecht wie das keiner anderen Nation sei,9 legten jüngste, nach Sympathiepunkten bewertete Studien nahe: Deutschland sei das beliebteste Land der Welt.10 In diesem Fall sind die klischeehaften Vorstellungen, die über den Prototypen eines Deutschen weltweit vorherrschen – er ist „pünktlich, detailbesessen und gewissenhaft, liebt Ordnung und Regeln jeder Art“ 11 usw. – zwar immer noch die gleichen, wie vor einhundert Jahren. Ihr Werteinhalt unterlag jedoch einer grundlegenden Veränderung, so dass sich die Auffassung vom Archetypus eines Deutschen in sein Gegenteil verkehrte. 4
Daniel Gredig, Dekadent und gefährlich. Eine Untersuchung zur Struktur von Stereotypen gegenüber sozialen Randgruppen, Weinheim 1994, S. 14 und 20. 5 Ruth Florack, Bekannte Fremde. Zu Herkunft und Funktion nationaler Stereotype in der Literatur, Tübingen 2007, S. 1. 6 Pleitner, Die „vernünftigen“ Deutschen, S. 171. 7 Regi Schnepper, Nationenbilder im Wandel. Zur Entwicklung von Deutschlandbildern in Großbritannien, Diss., Duisburg 1990, S. 22–25. 8 Adam Schaff, Stereotypen und das menschliche Handeln, Wien 1980, S. 31f. 9 Vgl. Manfred Koch-Hillebrecht, Das Deutschenbild. Geschichte, Gegenwart, Psychologie, München 1977, S. 14. 10 Vgl. URL: http://www.handelsblatt.com/politik/international/bbc-umfrage-deutschland-dasbeliebteste-land-der-welt/8247658.html [6.8.2014]. 11 Leila Behrens, Konservierung von Stereotypen mit Hilfe der Statistik. Geert Hofstede und sein kulturvergleichendes Modell, Köln 2007, S. 104.
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Zweifelsohne stehen die Bilder, die sich Nationsgemeinschaften von anderen nationalen Kollektiven machen, in einem engen Wechselverhältnis zur inneren und äußeren Disposition von Gesellschaften. So können beispielsweise politische, soziale oder wirtschaftliche Umbrüche zur Modifikation von Stereotypen beitragen und damit auf die äußere Wahrnehmung einer Nation einwirken. Im Zentrum dieses Beitrages steht daher die Frage, unter welchen Voraussetzungen und mit welchen Folgen sich der Blick der drei späteren Hauptkriegsgegner Großbritannien, Frankreich und Russland auf das Deutsche Reich im Vorfeld des Ersten Weltkriegs verändert hat. Dabei zeigt sich vor allem eines: dass die Gründung des Deutschen Reiches 1871 einen entscheidenden Impuls für den Wandel sozialer, politischer und ökonomischer Bedingungen im europäischen Staatengefüge gab, mit dem eine Veränderung der internationalen Wahrnehmung Deutschlands einherging. Eine vormals positive Sicht wurde nun durch eine zunehmend negative ersetzt, die sich im August 1914 nur noch in einseitigen Feindbildern artikulierte. Um dies deutlich zu machen, werden alte Völkerstereotype ebenso in die Darstellung einfließen, wie deren Interpretationen und Umdeutungen in den letzten Jahrzehnten vor 1914. Interkulturelle Nationenbilder dürfen allerdings keinesfalls so verstanden werden, als zeichneten sie ein in sich geschlossenes Bild. Vielmehr bilden sie die Summe aller individuellen, subjektiven und oft sehr widersprüchlichen Bilder, so dass oftmals mehrere unterschiedliche Nationenbilder nebeneinander existieren können.12 * Dass nationale Wahrnehmungen stets von mindestens zwei Bildern geprägt sind, lässt sich deutlich am Wandel der britischen Deutschlandperzeption nachvollziehen. Denn die englische Geistesgeschichte transportierte über die Jahrhunderte ein sehr ambivalentes Bild, das von Verachtung für alles Deutsche „als Träger einer rohen, plebejisch-barbarischen Lebensform“13 bis hin zur Vorstellung vom „deutschen Vetter“14 reichte. Hob die frühe englische Literatur noch betont das kriegerisch Barbarische als vermeintlichen Charakterzug des „deutschen Wesens“ hervor, so vermischte sich dieses Bild im 19. Jahrhundert mit Attributen „deutscher Gelehrsamkeit“. In der Folge formte sich daraus das zwiespältige Bild des Stiefel und Säbel tragenden deutschen Professors, zu dem sich weitere Charakteristika wie die noch heute gängige Vorstellung vom Deutschen als „a man of duty“ gesellten.15 Bis weit ins 19. Jahrhundert wurde britische Deutschlandwahrnehmung 12 Wolfgang Leiner, Das Deutschlandbild in der französischen Literatur, Darmstadt 1991, S. 2. 13 Vgl. Äußerungen Bedas, Alkuins und Bonifatius’, zitiert nach Koch-Hillebrecht, Das Deutschenbild, S. 184f. 14 Vgl. die im Roman „Euphormio“ von Johann Barclay erwähnte „Vorliebe für Deutschland“ als die „große Wiege unserer Vorfahren“, zitiert nach ebd., S. 185. 15 Zitiert nach ebd., S. 186–188.
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hauptsächlich durch die Eliten geprägt.16 Das gegenseitige Interesse war dabei vor allem im Bereich der historisch-wissenschaftlichen Auseinandersetzung außerordentlich hoch und von beiderseitiger Anerkennung geprägt. „Wechselseitige Wahrnehmungen und Transfers“ galten als „Ausdruck transnationaler Homogenität“ und als Resultat eines „gemeinsamen germanischen Erbes“.17 An der Schwelle zum 20. Jahrhundert lässt sich allerdings ein deutlicher Umbruch in der beiderseitigen Wahrnehmung feststellen, wobei der Wunsch der Deutschen, sich mit den Briten zu messen und es ihnen gleich zu tun, schwer dazu beitrug, dass einstige Sympathien in Ressentiments und Entfremdung umschlugen. Bereits 1895 hatte Max Weber auf das Konkurrenzverhältnis zur britischen Handels-, Kolonial- und Seemacht hingewiesen, welchem man nur gewachsen sei, wenn man gleichzeitig von England lerne.18 Deshalb bleibt für das deutschbritische Verhältnis der Vorkriegszeit kennzeichnend, dass sich der zuspitzende Konflikt vor allem an der deutschen Flottenfrage maß. Seit den 1890er Jahren entwickelte sie sich zum Dreh- und Angelpunkt eines politischen Diskurses, der sich durch alle gesellschaftlichen Schichten und Themenbereiche zog. Folgenschwer wog hier vor allem die starke Medialisierung des gegenseitigen Wettrüstens in der Öffentlichkeit,19 was zu einer enormen Emotionalisierung der Massen und zu einer geradezu pathologischen Zuspitzung in der beiderseitigen Wahrnehmung führte. Denn in Reaktion auf die deutschen Flottennovellen wurde die britische Öffentlichkeit von einer massiven Invasions- und Spionagefurcht erfasst, aus der ein ganz eigenes Genre der „Literature of Action“ hervorging.20 Bereits vor 1900 hatte es in der britischen Unterhaltungsliteratur vereinzelt Invasionsromane gegeben, in denen aber noch Russen und Franzosen als traditionelle Feinde der Briten aufgetreten waren. Mit Erskine Childers 1903 erschienen Roman „The Riddle oft the Sand“ entfaltete das Genre nun jedoch seine volle Popularität. Childer skizzierte darin ein Bedrohungsszenario, in dem Deutschland seinen aggressiven Expansionismus, nach einem Sieg über Russen und Franzosen, auf die britischen Inseln auszudehnen begann.21 Vor dem Hintergrund des deut 16 Magnus Brechtken, Kaiser, Kampfschiffe und politische Kultur. Britannias Bild von Wilhelms Deutschland, in: Bernd Heidenreich, Sönke Neitzel (Hg.), Das Deutsche Kaiserreich 1890–1914, Paderborn 2011, S. 201–220, hier S. 202. 17 Peter Wende, Perzeption und Transfers. Zur gegenseitigen Wahrnehmung deutscher und britischer Geschichtswissenschaft im 19. Jahrhundert, in: Gerhard Ritter, Peter Wende (Hg.), Rivalität und Partnerschaft. Studien zu den deutsch-britischen Beziehungen im 19. und 20. Jahrhundert, München 1999, S. 13–28, hier S. 20. 18 Vgl. Gregor Schöllgen, England als Vorbild. Max Weber und die deutsche Verfassungsdiskussion 1917/18, in: ebd., S. 133–144, hier S. 133. 19 Vgl. Brechtken, Kaiser, Kampschiffe und politische Kultur, S. 211f. Siehe auch den Beitrag von Guntram Schulze-Wegener in diesem Band. 20 Andreas Rose, Zwischen Empire und Kontinent. Britische Außenpolitik vor dem Ersten Weltkrieg, München 2011, S. 83. 21 Vgl. Lothar Reinermann, Der Kaiser in England. Wilhelm II. und sein Bild in der britischen Öffentlichkeit, Paderborn 2001, S. 291–293.
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schen Flottenbauprogramms sowie der enormen wirtschaftlichen, militärischen und demographischen Ressourcen des Reiches ließ sich die literarische Ausgestaltung einer deutschen Bedrohung jedoch real in das tagespolitischen Geschehen einordnen. Childers Entwurf basierte auf einer reinen Fiktion. Doch allein die Vorstellung eines möglichen deutschen Angriffs beschwor in der britischen Presse das Schreckgespenst von der Invasionsgefahr herauf, so dass dies entsprechende Forderungen nach sicherheitspolitischen Maßnahmen mit sich zog, die sich lautstark durchzusetzen begannen. So nutzten die liberalen Imperialisten die öffentliche Stimmung während des Doggerbank-Zwischenfalls22 von 1904 aus, um innere Widerstände gegen die Erhöhung des Marineetats zu überwinden und die „Entente cordiale“ innenpolitisch abzusichern. Und anstatt pressepolitische Maßnahmen gegen die Invasionshysterie zu ergreifen, ließ man einer Aufheizung der jetzt dezidiert antideutschen Stimmung freien Lauf. So entstanden infolge des publizistischen Erfolges von „The Riddle of the Sands“ zahlreiche weitere Romane, in denen Großbritannien deutschen Angriffen zu widerstehen hatte – mal zur See, mal durch einen heimtückischen Überfall mit Hilfe eines Geheimtunnels, wieder ein anderes Mal durch Zeppeline. Unter diesen erzielte William Le Queux’ 1906 erschienenes Werk „The Invasion of 1910“ die wohl nachhaltigste Wirkung, da seine durch die Daily Mail finanzierten militärischen Recherchen einen seriösen Bezug zur Wirklichkeit vermittelten.23 War schon während Burenkriege immer eindringlicher vor der „deutschen Gefahr“24 gewarnt worden, vollzog sich nun im Klima von Massenhysterie und Invasionspsychose die schrittweise Annäherung Großbritanniens an Frankreich 1904 und Russland 1907. Diese Entwicklungen und das Aufbauschen nationaler Erregung in der beiderseitigen Presse trugen nicht unwesentlich dazu bei, dass sich die Möglichkeiten, zu einer sachbezogenen Kommunikation zu finden, zusehends verstellten. Griffen Alldeutsche im Tenor von Wettrüsten und „englischer Einkreisung“ auf antideutsche Pressepolemik in England zurück, um ihrerseits vor dem „Krämervolk“25, dem „perfiden Albinion“26, zu warnen, blieben solcherlei Äußerungen in England wiederum nicht unbeantwortet und provozierten im Verlauf der Ersten Marokkokrise die Schlagzeilen von „The German Peril“, „blood and iron“ oder „Deutschland über alles“.27 Die zunehmende Entfremdung zwischen Briten und Deutschen entstand jedoch nicht allein wegen der Rivalität im Flottenbau, und am wenigsten lässt sie sich auf die Fiktion einer deutschen Invasion zurückführen. Vielmehr ist die von 22 1904 kam es auf der Doggerbank zum versehentlichen Beschuss britischer Fischer durch russische Kriegsschiffe. Die Presse deutete den Zwischenfall als deutsche Intrige mit der Absicht, England in einen Krieg mit Russland zu verwickeln, vgl. ebd., S. 290f. 23 Ebd., S. 293. 24 Dietrich Aigner, Das Ringen um England. Das deutsch-britische Verhältnis, Die öffentliche Meinung 1933–1939, Tragödie zweier Völker, München 1969, S. 16. 25 Ebd., S. 15. 26 Thomas Lindemann, Die Macht der Perzeption von Mächten, Berlin 2000, S. 122. 27 Aigner, Ringen um England, S. 17.
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den Briten wahrgenommene deutsche Aggression in der wilhelminischen Weltpolitik zu lokalisieren, welche die verspätete deutsche Industrialisierung ohne Einschränkung aufzuholen versprach und die britische Handelsmacht durch das Bekenntnis: „Wir wollen niemanden in den Schatten stellen, aber wir wollen auch einen Platz an der Sonne“28, in eine nie zuvor gekannte wirtschaftliche Rivalität zu Deutschland manövrierte. Paradoxerweise hatte sich das neue Reich auch zu einem der wichtigsten Handelspartner des Empires entwickelt. Bis zum Ausbruch des Ersten Weltkriegs war Großbritannien sogar der größte Abnehmer für deutsche Exportgüter. Und selbst auf den internationalen Absatzmärkten hätte es nicht zwangsweise zu handelspolitischen Überschneidungen kommen müssen. Denn während Großbritannien bis 1910 nahezu monopolartig die von ihm abhängigen Kolonien versorgte, beschränkte Deutschland einen Großteil seiner Exporte auf die europäischen Industriestaaten. Doch die Freihandelspolitik, die Sättigung außereuropäischer Märkte und die Zunahme des innereuropäischen Handels bewirkten einen signifikanten Strukturwandel innerhalb des Welthandels, in dessen Folge Deutschland Großbritannien zu Beginn des 20. Jahrhunderts aus der Position der wichtigsten Handelsmacht verdrängte.29 Dazu kam die Erkenntnis, dass die deutsche Flotte nicht als Kreuzerflotte zum Schutz der deutschen Kolonien konzipiert worden war, sondern als Schlachtflotte mit Schwerpunkt im Nordseeraum. Im Konfliktfall war diese nicht nur eine strategisch-militärische Gefahr für die britischen Inseln, sondern eine Gefahr für die überseeischen Verbindungslinien des englischen Mutterlandes zu seinen Kolonien und damit eine existenzielle Bedrohung der wichtigsten Lebensader des Empires überhaupt: des Überseehandels. Die deutsche Flottenpolitik erschwerte daher nicht nur die beiderseitige Kooperation. Für Großbritannien war sie schlichtweg unannehmbar. Und sie entwickelte sich zum permanenten Reizthema einer emotionalisierten Öffentlichkeit. So ging mit der Herausforderung des wirtschaftlichen und politisch-militärischen Kräfteverhältnisses durch das Deutsche Reich auch die Veränderung seiner Wahrnehmung einher. Denn hatte Deutschland im 19. Jahrhundert aus britischer Sicht noch als willkommenes Gegengewicht zu den traditionellen Rivalen Frankreich und Russland gegolten, blockierten nun Handelsrivalität und Schlachtflottenbau das deutsch-britische Verhältnis und ermöglichten die politische Öffnung Englands gegenüber seinen ehemaligen Hauptfeinden. Die Folge war die Aufgabe der britischen splendid isolation, doch schien die Annäherung an die französischrussische Allianz weit weniger risikobehaftet, als das Verhältnis zu einem unsicheren „deutschen Vetter“. In diesem Sinne folgte „dem Wechsel der Allianzen […] der Wechsel der erlebten Ähnlichkeit“.30 Hatten große Teile der englischen 28 Reichskanzler Bernhard von Bülow, zitiert nach Schnepper, Nationenbilder im Wandel, S. 103. 29 Vgl. Günther Schulz, Großbritannien und Deutschland im Welthandel (1871–1939), in: Klaus Schwabe, Francesca Schinzinger (Hg.), Deutschland und der Westen im 19. und 20. Jahrhundert, Stuttgart 1994, S. 19–39, hier S. 19–29. 30 Koch-Hillebrecht, Das Deutschenbild, S. 250.
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Presse noch bis in die 1890er Jahre Wert auf die Betonung der ethnischen Verwandtschaft beider Nationen gelegt,31 entdeckten die Briten nun plötzlich ihre keltischen Ursprünge. Kurz nach Abschluss des Vertrages mit Frankreich 1904 stellte Charles Doughty in „The Dawn of Britain“ das Keltentum als das verbindende Element der britischen Frühgeschichte heraus.32 Allein aufgrund der gegenseitigen Stimmungsmache lassen sich nur schwer Rückschlüsse auf eine kontinuierliche Verschlechterung des Verhältnisses ziehen. Bis zuletzt und trotz heftiger publizistischer Wortschlachten während der Zweiten Marokkokrise 1911 hatte es immer wieder Verständigungsbemühungen gegeben.33 Doch angesichts der Fülle an publizistischer Scharfmache fiel es selbst kritischen Beobachtern zunehmend schwer, trennscharf zwischen Fiktion und Realität zu unterscheiden.34 Aus Misstrauen geboren und von einer unsachlichen Berichterstattung geprägt, blieben die Bilder des „kriegslüsternen Preußen und ungeschliffenen Tölpels“35 grundlegend für die britische Deutschlandwahrnehmung bis zum Ausbruch des Krieges. Dadurch vollzog sich die Abkehr vom einstigen Gefühl der Verbundenheit so radikal, dass die „Teutonic race“ als Selbstzuschreibung der Briten völlig verschwand. Der Revision der vermeintlichen deutschangelsächsischen Blutsverwandtschaft folgte im August 1914 der Abbruch jeglichen Austauschs.36 War die transnationale Kommunikation vor 1914 noch auf allen Gebieten des wirtschaftlichen, politischen und geistig-kulturellen Lebens möglich, so blieb die gegenseitige Perzeption mit dem Kriegsausbruch von monotoner Feindseligkeit gekennzeichnet. In Großbritannien war der Deutsche nun nicht mehr „Vetter“, sondern „Aggressor“ und „Hunne“: „For all we have and are/ For all our children’s fate/Stand up and take the war/The Hun is at the gate.“37 ** Ähnlich der britischen Deutschlandwahrnehmung lassen sich auch in der französischen Sicht auf Deutschland sehr früh zwei getrennte Entwicklungslinien nachvollziehen. Aufgrund der benachbarten Lage war das deutsch-französische Verhältnis jedoch seit jeher von Rivalitäten geprägt. Sie wurden nicht nur territorial,
31 Vgl. Reinermann, Der Kaiser in England, S. 97. 32 Koch-Hillebrecht, Das Deutschenbild, S. 252. 33 Vgl. Jürgen Angelow, Der Weg in die Urkatastrophe. Der Zerfall des alten Europa 1900– 1914, Berlin 2010, S. 50. 34 Reinermann, Der Kaiser in England, S. 298. 35 Aigner, Ringen um England, S. 19. 36 Vgl. Wende, Perzeption und Transfers, S. 18. 37 Im August 1914 von der Times veröffentlichtes Kriegsgedicht, zitiert nach Koch-Hillebrecht, Das Deutschenbild, S. 191.
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sondern auch auf kultureller Ebene38 ausgetragen und fanden ihren Niederschlag im Topos von der deutsch-französischen „Erbfeindschaft“.39 Im Zeichen militärisch-kultureller Hegemonie beschränkte sich die französische Wahrnehmung lange Zeit auf die vermeintliche Rückständigkeit der deutschen Kultur, so dass als „deutsch“ bezeichnete Eigenschaften oft die Negativfolie zur eigens empfundenen Überlegenheit abgaben.40 Von einem durchgängig negativen Deutschlandbild kann jedoch keine Rede sein. Angesichts innerer sozialer Konflikte kam es bereits im Frankreich des 18. Jahrhunderts zu einer Neudefinition gesellschaftlicher Werte, für deren Ausformulierung ausgerechnet auf deutsche Stereotype Bezug genommen wurde. Ursprünglich negativ konnotierte Eigenschaftscharaktere wie deutsche „Grobschlächtigkeit“, „Wildheit“ und „Rückständigkeit“ wurden nun in „Schlichtheit“ und „Natürlichkeit“ uminterpretiert und zum Ideal einer unverdorbenen Gesellschaft erhoben. Während der Französischen Revolution konnte „deutsch“ sogar „Ausdruck einer politischen Gesinnung“ sein, was beispielsweise Montesquieu dazu veranlasste, sich auf die Suche nach einem gemeinsamen Ursprung keltischer und germanischer Völker zu begeben.41 Die prägnanteste und populärste Ausgestaltung dieses Bildes von einem zwar kriegerischen, aber verträumten und langsamen Deutschland der Wälder, des Gefühls und der Phantasie findet sich bei Madame de Staël.42 Ihr Buch „De l’Allemagne“ aus dem Jahr 1813 galt in seinen antithetischen Vergleichen zwischen dem deutschen und dem französischen Nationalcharakter ursprünglich der inneren Kritik am napoleonischen System und einer damit verbundenen „Erlahmung des französischen Geistes“.43 Bis auf wenige Ausnahmen blieb das Bild eines „unpolitischen Volkes der Dichter und Denker“,44 das Madame de Staël in Anlehnung an Goethe und Schiller entwarf, bis zum Krieg 1870/71 wirksam.45 Die Erfahrung von 1870/71 führte aber bei vielen Franzosen zum emotionalen Bruch mit Deutschland und somit zu einer erneuten Modifikation des Deutschlandbilds. Deutschlands Auftreten als brutale Militärmacht beförderte die Zuspitzung des alten Stereotyps vom „deutschen Barbaren“, das im August 1914 von der Kriegspropaganda mit voller Wucht ins Feld geführt wurde. Die Kriegslitera 38 Martin Wrede, Der Kaiser, das Reich, die deutsche Nation – und ihre „Feinde“. Natiogenese, Reichsidee und der „Durchbruch des Politischen“ im Jahrhundert nach dem Westfälischen Frieden, in: Historische Zeitschrift 280 (2005), S. 83–116, hier S. 104f. 39 Vgl. Franz Bosbach, Der französische Erbfeind. Zu einem deutschen Feindbild im Zeitalter Ludwigs XIV., in: ders. (Hg.), Feindbilder. Die Darstellung des Gegners in der politischen Publizistik des Mittelalters und der Frühen Neuzeit, Köln 1992, S. 117–140, hier S. 124. 40 Vgl. Koch-Hillebrecht, Das Deutschenbild, S. 168–171. 41 Ebd., S. 174. 42 Vgl. ebd. 43 Ingo Kolboom, Deutschlandbilder der Franzosen. Der Tod des Dauerdeutschen, in: Günter Trautmann (Hg.), Die hässlichen Deutschen. Deutschland im Spiegel der westlichen und östlichen Nachbarn, Darmstadt 1991, S. 212–243, hier S. 217. 44 Helmut Berschin, Deutschland im Spiegel der französischen Literatur, München 1992, S. 19. 45 Vgl. Leiner, Das Deutschlandbild in der französischen Literatur, S. 126–128.
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tur beschwor von nun an den „Hass gegenüber den Horden, den Wandalen, den Wilden aus dem Norden“,46 die Frankreich hinterlistig überfallen hätten. Zwar hatte der Krieg von 1870/71 das idealisierte Deutschlandbild nicht ganz verdrängt, aber um einen Gegenpol ergänzt. Die Deutschen besaßen demnach eine „Doppelmoral oder, anders gesagt, zwei Gewissen: eines für die Universitäten, das andere für die Kasernen […] [;] man könnte auch sagen, dass es zwei Deutschland [gäbe], ein idealistisches und verträumtes, und ein anderes, das in dieser Welt nur verbissen seinen Vorteil sucht, materialistisch bis zum letzten und nach Beute gierend.“47
Diese Sichtweise verband sich mit der Annahme eines moralischen Verfalls der Deutschen. Sie schloss ein klares Feindbild ein, das sich weniger gegen Deutschland an sich, als vielmehr gegen Preußen richtete. Preußen hatte demnach das geistige Deutschland für sich vereinnahmt und repräsentierte nun das neue, militaristische Deutschland der Kanonen, der Fabriken und Pickelhauben. So fanden zahlreiche Darstellungen vom „neuen Deutschland“ ihren Eingang in die Literatur und die zeitgenössischen Barbaren-Karikaturen.48 Ausgestattet mit preußischen Attributen traten Deutsche darin als zerstörungswütige Vandalen und Diebe auf.49 Damit enthielt die französische Nachkriegsliteratur von 1870/71 bereits alle wesentlichen Elemente, die für das Deutschlandbild bis zum Ersten Weltkrieg kennzeichnend bleiben sollten und mit deren Hilfe die Erinnerung an die militärische Demütigung und den Verlust von Elsass und Lothringen wachgehalten wurde. Es wurde darauf verwiesen, dass von einer geradlinigen Feindschaft zwischen 1870/71 bis 1914 keine Rede sein könne. So habe der Revanchegedanke in Frankreich seit 1900 „kaum noch signifikanten Einfluss auf Kultur und Politik“ besessen. Mit nur kurzer Unterbrechung durch die Erste Marokkokrise seien Deutschland und Frankreich bis 1910 eher in eine Phase der „unaufgeregten Nichtbeziehung“ getreten.50 Vor dem Hintergrund zeitweiliger politischer Entspannung ist diese Argumentation nachvollziehbar. Dennoch unterlag die wechselseitige Wahrnehmung permanenten Schwankungen. Auf Entspannung folgte stets Spannung, und den geistig-moralischen Anspruch auf Elsass-Lothringen gab Frankreich tatsächlich nie auf. War der französische Ton um die Jahrhundertwende gedämpfter, so resultierte dies zunächst auch aus einer auf Vorsicht bedachten französischen Außenpolitik. Angesichts der wirtschaftlichen und militärisch-technischen Über 46 Victor Hugo, L’année terrible, zitiert nach ebd., S. 149. 47 Elme-Marie Caro, 1870, zitiert nach Helmut Berschin, Deutschland im Spiegel der französischen Literatur, S. 22. 48 Vgl. Beate Gödde-Baumanns, Ansichten eines Krieges. Die „Kriegsschuldfrage“ von 1870 in zeitgenössischem Bewusstsein, Publizistik und wissenschaftlicher Diskussion 1870–1914, in: Eberhard Kolb (Hg.), Europa vor dem Krieg von 1870. Mächtekonstellation – Konfliktfelder – Kriegsausbruch, München 1987, S. 175–202. 49 Vgl. Michael Jeismann, Vaterland der Feinde. Studien zum nationalen Feindbegriff und Selbstverständnis in Deutschland und Frankreich 1792–1918, Stuttgart 1992, S. 223. 50 Gerd Krumeich, Frankreichs Sicht des deutschen Kaiserreiches 1890–1914, in: Heidenreich, Neitzel (Hg.), Das Deutsche Kaiserreich, S. 241–254, hier S. 242 und 246f.
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legenheit des Deutschen Reiches hätte Frankreich einen Krieg im Alleingang jedenfalls niemals wagen können. Die Bemühungen um die Entente-Abkommen mit Großbritannien 1904 und Russland 1907 verweisen aber darauf, dass Frankreich beständig danach bestrebt war, ein gegen Deutschland gerichtetes Bündnis zustande zu bringen. Zudem wurde Deutschlands Forderung nach dem „Platz an der Sonne“ auch in Frankreich mit allergrößter Skepsis verfolgt. Deshalb blieb das Deutschenbild, trotz zwischenzeitlicher Phasen der scheinbaren Entspannung, in weiten Teilen der französischen Öffentlichkeit tendenziell negativ. Das Bild des „seelenlosen deutschen Räubers“, des „kulturlosen Barbaren“ und der „brandschatzenden Hunnen“, wie es sich im August 1914 in ungekannter Heftigkeit entlud, war seit drei Jahrzehnten aufbereitet und den Franzosen über Presse und Literatur vermittelt worden. Allein die Zahl der Romane und Erzählungen, die sich mit dem Krieg und der deutschen Besatzung 1870/71 auseinandersetzten, beläuft sich nach offiziellen Schätzungen auf über 5000 Werke.51 Diese Tradition blieb bestehen, und so setzten sich auch die Bilder des von Jules Verne 1879 veröffentlichten Erfolgsromans „Les cinq cents millions de la Bégum“ in prophetischer Manier und ähnlich der britischen Invasionsromane, mit zukünftigen deutschen Angriffsfiktionen auseinander. Verne stellte darin zwei antagonistische Staatenmodelle vor, die er anhand bekannter Stereotype allegorisierend auf Deutschland und Frankreich übertrug. Während das eine Modell, Frankreich, all seine Anstrengungen und Ressourcen in den Dienst des Fortschritts und Humanismus stellt, ist das andere, Deutschland, unablässig darauf bedacht, die Zerstörung seines Pendants durch den Bau von Fabriken und Kanonen vorzubereiten. Die historischen und tagespolitischen Implikationen einer solchen Gegenüberstellung waren den Lesern seit 1870/71 bestens bekannt und reflektierten das deutschfranzösische Spannungsverhältnis auf fiktionaler Ebene.52 1914 schienen sich diese Bilder schließlich zu bewahrheiten. So speisten sich die Unnachgiebigkeit und Härte, mit der die französischen Kultureliten seit dem Kriegsausbruch zu Felde zogen, aus einem breiten Repertoire, welches das alte Stereotyp des „deutschen Barbaren“ in seinen schillerndsten Farben variierte. Kennzeichnend für die steigende Intensität des Hasses ist die Popularisierung des Wortes boche. Abgeleitet von caboche (Quadratschädel) hatte es alle bisherigen Negativstereotype in sich vereint und sollte fortan in endlosen Varianten und Darstellungen zur Bezeichnung alles Deutschen werden: „Frankreich empfindet Abscheu gegenüber diesen Barbaren, es hat für sie den Namen Boches gefunden […] [.] Hunnen, Vandalen sind nichts als Beleidigungen […]. Sie nur Barbaren nennen, das genügte nicht […] [,] das Bild der neuen Barbarei festzulegen […]. Hier ist sie: viereckiger Kopf mit Brille; Rohling mit Erfinderpatenten; Doktor der Mordkunst, […] des Feuerlegens; der menschgewordenen Anmaßung der Zerstörungswut […]. Der Barbar mit dem Kopf eines Deutschen, das ist Boche […].“53
51 Berschin, Deutschland im Spiegel der französischen Literatur, München 1992, S. 20. 52 Vgl. Leiner, Das Deutschlandbild in der französischen Literatur, S. 194–203. 53 Zitiert nach ebd., S. 184f.
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*** Russland und Deutschland standen seit Peter dem Großen in enger Wechselbeziehung.54 Parallel zur politisch-wirtschaftlichen und zur dynastisch-familiären Geschichte gab es hier einen geistig-kulturellen Austausch auf allen wichtigen Gebieten der Philosophie, der Wissenschaft, der Literatur und Musik sowie der bildenden und darstellenden Künste.55 Dieser Kulturtransfer war anfangs relativ einseitig, blieb jedoch nicht ohne Rückwirkungen und verlief an der Schwelle zum 20. Jahrhundert auch in umgekehrte Richtung.56 Doch trotz Kulturtransfers und politisch-familiärer Brückenschläge waren die deutsch-russischen Beziehungen bald von tiefer Ambivalenz gezeichnet. Denn die Herausbildung radikaler, ethnisch orientierter Nationalismen um die Mitte des 19. Jahrhunderts führte dazu, dass die stereotypen Bilder eine deutliche Zuspitzung erfuhren, die auch hier die beiderseitige Wahrnehmung akzentuierte. Existierte in Deutschland bis zum Ersten Weltkrieg kein homogenes Bild von Russland und seiner Bevölkerung, so war dies vor allem eine Folge von Unkenntnis über das riesige Vielvölkerreich.57 So vermischte sich das deutsche Russenbild zumeist mit pauschalisierenden Vorstellungen über die „slawischen Völker“ und verwies auf den Topos einer ökonomischen und sozialen Rückständigkeit Russlands. „Barbarisch“ und „asiatisch“ mit „mongolischem Bluteinschlag“ – das waren die gängigsten Attribute, entlang derer das Bild des „moskowitischen“ Landstreichers mit geschlitzten Augen, spärlichem Bart und breiten Backenknochen gezeichnet wurde.58 Auch auf russischer Seite hatten sich frühzeitig Negativstereotype festgesetzt, die sich meist spöttelnd über die saubere und akkurate deutsche „Spießbürgerlichkeit“ und „Kleinkrämerei“ erhoben. Als tüchtig galten sie, die Deutschen, aber sie waren ohne „Esprit“ und „Größe“. Ihre Tagesabläufe glichen denen von Maschinen. In „Der Spieler“ (1867) äußerte sich Dostojewski über die Deutschen wie folgt: „Alle leben in vollkommener Hörigkeit und in widerspruchlosem Gehorsam […]. Sie arbeiten wie die Hornochsen und sparen wie die Juden.“ Wiederum Gontscharow analysierte das deutsche Wesen in „Oblomow“ (1859) so: „brauch 54 Vgl. die entsprechenden Beiträge in: Stiftung Ostdeutscher Kulturrat Bonn (Hg.), Tausend Jahre Nachbarschaft. Russland und die Deutschen, München ²1989. 55 Vgl. Assen Ignatow, Der deutsche Einfluss auf die russische Philosophie, in: ebd., S. 195– 208. 56 Vgl. Jan Kusber, Feindliche Nähe. Russische Perzeptionen des deutschen Kaiserreiches an der Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert, in: Heidenreich, Neitzel (Hg.), Das Deutsche Kaiserreich, S. 271–284, hier S. 277. 57 Vgl. Claudia Pawlik, „Ein Volk von Kindern“. Russland und die Russen in den Geographiebüchern der Kaiserzeit, in: Mechthild Keller (Hg.), Russen und Russland aus deutscher Sicht, Teil 4: 19./20. Jahrhundert. Von der Bismarckzeit bis zum Ersten Weltkrieg, München 2000, S. 349–380. 58 Maria Lammich, Vom „Barbarenland“ zum „Weltstaat“. Russland im Spiegel liberaler und konservativen Zeitschriften, in: ebd., S. 146–198, hier S. 153f. und 168.
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bar für grobe Arbeiten, krämereifriger Gelderwerb, lächerliche Ordnung, langweilige Regelmäßigkeit in der Lebensführung und pedantische Pflichterfüllung“.59 Abfällige Bemerkungen über Deutsche lassen sich in der russischen Literatur des 19. Jahrhunderts allerdings ebenso zahlreich auffinden wie positive. Doch wenn sich Deutsche in der Überzeugung von der Überlegenheit der eigenen Kultur dazu berufen sahen, den „barbarischen Osten“ der abendländischen Kultur zuzuführen,60 führte dies auch zur Verschärfung sozialer, kultureller und nationaler Gegensätze. Dies konnte sich in den deutschbesiedelten Randgebieten Russlands als besonders konfliktträchtig erweisen. Soziale Differenzen, die nationale Ab- und Ausgrenzungsmechanismen entfalteten, resultierten hier schon aus den wirtschaftlichen und politischen Privilegien, die Russlanddeutsche seit den großen Kolonisationen besaßen und die von anderen Bevölkerungsgruppen als ungerechtfertigt kritisiert werden konnten.61 Zwar war die Nationalitätenpolitik des multiethnischen Zarenreichs traditionell „von Kooperation mit nichtrussischen Eliten“ und „von Toleranz gegenüber fremden Wertesystemen“62 geprägt. Mit der Thronbesteigung Alexanders III. 1881 setzte aber eine Tendenz der politischen Zentralisierung und der kulturellen Vereinheitlichung ein, die insbesondere die kulturelle Selbstbestimmung der Deutschen erheblich einzuschränken begann. Ablehnende Haltungen gegenüber Deutschen waren daher nun nicht mehr nur die Sache eines dezidiert deutschfeindlichen Panslawismus. Von der Regierung und von großen Teilen der Öffentlichkeit wurden sie vielfach mitgetragen. Dies umso mehr, wenn es um die Behauptung nationalökonomischer und politischer Interessen ging.63 Kulturelle Zentralisierung und deutschfeindliche Entwicklungen in Russland lassen sich allerdings nur aus einem komplexen Zusammenwirken sich stark verändernder innerer und äußerer Bedingungen erklären. Denn aufgrund des enormen Modernisierungs- und Industrialisierungsprozesses ab der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts war es zu zwei wichtigen Verschiebungen innerhalb des europäischen Großmachtgefüges gekommen, die sich innen- wie außenpolitisch stark auf Russland auswirkten: erstens durch den Krimkrieg 1853–1856 und zweitens durch 59 Beide zitiert nach Koch-Hillebrecht, Das Deutschenbild, S. 199–201. 60 Lammich, Vom „Barbarenland“ zum „Weltstaat“, S. 149. 61 Vgl. dazu die Beiträge von Günter Trautmann, Deutsche und Deutschland aus (sowjet-)russischer Sicht, in: ders. (Hg.), Die häßlichen Deutschen? Die Deutschen im Spiegel der westlichen und östlichen Nachbarn, Darmstadt 1991, S. 126-144, hier S. 129; Alfred Eisfeld, Die Rußlanddeutschen, in: Stiftung Ostdeutscher Kulturrat Bonn (Hg.), Tausend Jahre Nachbarschaft, S. 120–143, hier S. 128; Ulrike von Hirschhausen, die Grenzen der Gemeinsamkeit. Deutsche, Letten, Russen und Juden in Riga 1860–1914, Göttingen 2006, S. 167–172. 62 Vgl. Hirschhausen, die Grenzen der Gemeinsamkeit, S. 274. 63 Vgl. Helmut Altrichter, „… und ganz unter dem Schweif stehen Lessing und Kant …“ Das Deutsche Reich aus russischer und sowjetischer Sicht, in: Klaus Hildebrand (Hg.), Das Deutsche Reich im Urteil der großen Mächte und europäischen Nachbarn, München 1995, S. 179–202, hier S. 191; Andrea Hermann, Zum Deutschlandbild der nichtmarxistisch russischen Sozialisten. Analyse der Zeitschrift „Russkoe Bogatstvo“ von 1880 bis 1904, München 1974, S. 7.
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den Übergang der kontinentalen Machtkonzentration von Frankreich auf Deutschland. Durch den Krimkrieg hatte Russland seinen übergewichtigen Einfluss in Mittel- und Südosteuropa eingebüßt und damit die bedeutende Rolle, die es seit 1815 in Europa besaß. Vor allem aber hatte der Krimkrieg gezeigt, dass das Zarenreich mit seinem veralteten politischen System im gesamteuropäischen Vergleich sowohl wirtschaftlich als auch militärisch weit zurückgefallen war. Um den Anschluss an die europäischen Mächte nicht zu verlieren, bedurfte es deshalb weitreichender Reformen in Wirtschaft, Militär und Sozialstruktur.64 Darüber hinaus hatte man versucht, starken innenpolitischen Triebkräften entgegenzuwirken, indem man diesen durch Abmilderung der Pressezensur mehr Raum zur freien Meinungsäußerung zugestand. Dies hatte jedoch zur Folge, dass sich die Presse zu einem wichtigen gesellschaftlichen Instrument entwickelte, das „die Funktion eines Parlaments in gewisser Weise ersetzte und die gewichtigen Interessen von Industrie, Adel, Beamtennobilität und Intelligenz zum Ausdruck brachte“.65 Letztlich aber setzte dies auch innere Widerstände frei, die sich auf die Außenpolitik auszuwirken begannen, da sich außenpolitische Entscheidungen nun vor einer neu entstandenen Öffentlichkeit zu rechtfertigen hatten.66 Innere Widersprüche zwischen Regierungshandeln und Öffentlichkeit äußerten sich so auch bei der russischen Zurückhaltung zur deutschen Reichsgründung 1871. Keineswegs hatte man in Sankt Petersburg der deutschen Reichsgründung vorbehaltlos zugestimmt. Da aber Russland außenpolitisch überhaupt nicht in der Lage gewesen wäre, diese durch militärisches Eingreifen zu unterbinden, hatte sich in Regierungskreisen der Gedanke durchgesetzt, dass sich ein Bündnis mit einem starken Deutschland dazu nutzen ließ, den im Krimkrieg verloren gegangenen Einfluss auf Südosteuropa wieder herzustellen.67 In der russischen Öffentlichkeit verhärtete sich die Haltung gegenüber den Deutschen ab 1871 jedoch maßgeblich.68 Auf besondere Ablehnung stieß vor allem die deutsche Belagerung von Paris, die als krasser Gegensatz zum unpolitischen Deutschland der „Dichter und Denker“ empfunden wurde. Außerdem schien die Annexion Elsass-Lothringens symbolhaft offenzulegen, dass der intellektuelle Anspruch Deutschlands, weltweit anerkannter Vorreiter in Literatur, Philosophie und Wissenschaft zu sein, einer rücksichtslosen, preußisch-militaristischen Machtpolitik zum Opfer gefallen war. Bismarck wurde polemisch zu „Attila“ stilisiert und die Deutschen mit „Hunnen“ verglichen.69 Im Prinzip lag hier der gleiche Topos von den „zwei Deutschland“ vor wie in Frankreich oder England. 64 Dietrich Beyrau, Russische Orientpolitik und die Entstehung des Deutschen Kaiserreiches 1866–1870/71, Wiesbaden 1974, S. 15f. 65 Ders., Russische Interessenszonen und europäisches Gleichgewicht 1860–1870, in: Eberhard Kolb (Hg.), Europa vor dem Krieg von 1870, München 1987, S. 65–76, hier S. 65. 66 Ebd., S. 66. 67 Vgl. ebd., S. 71–75. 68 Vgl. Altrichter, „… und ganz unter dem Schweif stehen Lessing und Kant …“, S. 184–191. 69 Vgl. Hermann, Analyse der Zeitschrift „Russkoe Bogatstvo“, S. 87, 94, 170 und 172f.
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Aber abgesehen davon, dass die deutsche Einigung durch Krieg und Eroberung vollzogen worden war und dies Befürchtungen heraufbeschwor, dass sich eine deutsche Aggression auch nach Osten richten könnte,70 war ein Bündnis mit Deutschland in den Augen der Öffentlichkeit gerade einmal so viel Wert, wie es im Stande war, die russischen Interessen auf dem Balkan durchzusetzen. Als sich aber nach dem Berliner Kongress 1878 abzeichnete, dass Deutschland den russischen Einfluss zunehmend zugunsten Österreich-Ungarns einschränken würde, verlor die deutsch-russische Allianz substanziell an Rückhalt. Vor allem jedoch setzte sich die nüchterne Erkenntnis durch, dass es trotz Reformen noch immer nicht gelungen war, den industriellen und militärischen Abstand gegenüber den Westmächten aufzuholen, während in unmittelbarer Nachbarschaft zu Randgebieten, die „national als unzuverlässig“ galten und die kulturell noch nicht vollständig integriert waren, ein neues Machtzentrum entstanden war.71 Militärisch gesehen blieb Russland weiterhin verletzbar, und die zaristische Regierung geriet zunehmend unter Legitimationsdruck. Außenpolitische Erwägungen gegenüber einem als zu mächtig empfundenen deutschen Nachbarn trugen deshalb dazu bei, dass die innere Homogenisierung mehrheitlich auf Zuspruch stieß. In diesem Zusammenhang ist die Akkulturationspolitik Alexanders III. zu deuten. Denn mit Blick auf die wirtschaftlichen Erfolge im Deutschen Reich unterlag man nicht nur in slawophilen Kreisen der Befürchtung, dass mit dem anhaltenden Zustrom deutscher Kolonisten, die weder die russische Staatsbürgerschaft anzunehmen, wohl aber die Untertanenpflicht gegenüber Preußen zu erfüllen bereit waren,72 nicht auch die Germanisierung der russischen Grenzprovinzen einhergehen würde.73 Im Zuge der seit den 1880er Jahren verstärkt einsetzenden Russifizierungsprogramme erfolgten daher zahlreiche Maßnahmen wie das Verbot der deutschen Sprache an Schulen und Universitäten oder die Einschränkung des Grund- und Immobilienerwerbs für Ausländer.74 Zusammen mit der Sperrung des deutschen Kapitalmarktes für Russland 1887, der Nichtverlängerung des Rückversicherungsvertrages 1890 und dem deutsch-russischen Zollkrieg 189375 bewirkten diese Entwicklungen jedoch, dass sich die bilateralen Beziehungen zusehends verschlechterten und dass sich der Tonfall in den beiderseitigen Presseverlautbarungen verschärfte. Verunglimpfte die alldeutsche Rhetorik das russische Vorgehen in den deutschbaltischen Gebieten als „Invasion der Tartaren“,76 gossen die Gründungen zahlloser Deutscher Vereine sowie Versuche, deutsche Regie 70 71 72 73 74
Vgl. Altrichter, „… und ganz unter dem Schweif stehen Lessing und Kant …“, S. 187. Beyrau, Russische Interessenszonen, S. 67. Eisfeld, Die Rußlanddeutschen, S. 128f. Vgl. Altrichter, „… und ganz unter dem Schweif stehen Lessing und Kant …“, S. 186. Eisfeld, Die Rußlanddeutschen, S. 129; Irene Neander, Die baltischen Deutschen und Russland, in: Stiftung Ostdeutscher Kulturrat Bonn (Hg.), Tausend Jahre Nachbarschaft, S. 175–194, hier S. 184 und 192. 75 Horst Glassl, Russland und die deutschen Staaten im 19. Jahrhundert, in: ebd., S. 46–58, hier S. 56. 76 Irmin Schneider, Die deutsche Rußlandpolitik 1890–1900, Paderborn 2003, S. 56.
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rung und Wirtschaft stärker an den baltischen Raum zu binden,77 zusätzlich Öl ins Feuer und beschworen in Russland die gegensätzliche Formel vom „deutschen Drang nach Osten“. Der Russisch-Japanische Krieg brachte das Fass schließlich zum Überlaufen. Bemühungen der zaristischen Regierung, innenpolitische Konflikte durch außenpolitische Erfolge zu kompensieren, waren mit der russischen Niederlage fehlgeschlagen. 1905 vermischten sich nationale und soziale Motive und führten zum Aufstand, der sich gegen die bestehende Ordnung, im baltischen Raum, aber vor allem gegen Deutsche richtete.78 Zwar ließ sich die alte Ordnung unter Zugeständnissen wiederherstellen. Doch konnte dies die vorherrschenden Spannungen nur mittelfristig überdecken. Außenpolitisch gesehen hatte der Russisch-Japanische Krieg aber vor allem eins bewirkt: dass infolge des russisch-britischen Ausgleichs in Asien 1906 nun nicht mehr Großbritannien, sondern Deutschland als Hauptrivale wahrgenommen wurde und dass Russland seine Interessen fortan wieder auf Südosteuropa konzentrierte. Die negative Tendenz in der öffentlichen Beurteilung des Deutschen Reiches wurde durch die außenpolitische Wende von 1906 jedenfalls nur noch bestärkt und gewann im letzten Jahrzehnt vor dem Ersten Weltkrieg zusätzlich an Auftrieb.79 So führten die Vorgänge am Bosporus während der Annexionskrise 1908 und der Balkankriege 1912/13 zu erneuten deutschfeindlichen Ausfällen, und das Frühjahr 1914 endete in der deutsch-russischen Pressefehde. Bis zum August 1914 glätteten sich die Wogen kaum. Als der Historiker und Herausgeber der Preußischen Jahrbücher, Hans Delbrück, seinen russischen Historikerkollegen Pawel Mitrofanow anlässlich einer Pressefehde um seine Einschätzung zum deutsch-russischen Verhältnis bat, bezeugte dieser, dass die Abneigung gegenüber den Deutschen in jedermanns „Seele und Munde“ sei: „Fremd waren den Russen nicht nur die Regierungsformen, fremd waren ihnen auch die Namen der unverständlichen Behörden, fremd die Kleider, in denen man die Beamten steckte, fremd die Kanzleisprache und Fremde saßen auch in den Kanzleien; viele davon waren Deutsche, sie schauten überheblich auf alles Russische herab, ganz wie der baltische Baron auf den russischen Rekruten“.80 Am Vorabend des Ersten Weltkriegs stand das russische Vielvölkerreich keineswegs in sich geschlossen da. Nicht einmal die Differenzen zwischen den slawischstämmigen Bevölkerungsgruppen hatten sich überbrücken lassen. Ob in der Außen-, Wirtschafts-, Nationalitäten-, oder Innenpolitik: Die Spannungen zwischen den unterschiedlichen Interessensgruppen waren enorm. Einig war man sich lediglich in der Gegnerschaft zu Deutschland, die immer mehr vom Kampf 77 78 79 80
Neander, Die baltischen Deutschen und Russland, S. 193. Vgl. ebd., S. 193. Kusber, Feindliche Nähe, S. 284. Paul von Mitrofanov, Offener Brief über das Verhältnis von Russland und Deutschland, zitiert nach Altrichter, „… und ganz unter dem Schweif stehen Lessing und Kant …“, S. 191.
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des „Slawentums“ gegen das „Germanentum“ bestimmt wurde.81 Der deutschen Kriegserklärung folgten postwendend tätliche Übergriffe auf deutschstämmige Angehörige, und am 18. August 1914 traten die Liquidationsgesetze in Kraft, die die Vertreibung von 200 000 Deutschen zur Folge hatten und den Gebrauch der deutschen Sprache unter Strafe stellten.82 **** Zeiten, die von größeren gesellschaftlichen Umbrüchen und Veränderungen geprägt sind, fördern eine intensivere Bedrohungswahrnehmung und tragen zur Verfestigung von kollektiven Einstellungsmustern bei. Zudem gibt es verschiedene Faktoren, die eine stärkere Verbreitung negativer Stereotype begünstigen. Dazu gehören: vertikale Mobilität, schnelle soziale Veränderungen, starke ethnische Vielfalt in engen sozialen Räumen, Ungewissheit und Kommunikationsbarrieren sowie Rivalitäten und Konflikte.83 Mit der Reichsgründung von 1871 traten all diese Faktoren stärker in Erscheinung. Denn das Reich hatte sich in einer Epoche konsolidiert, die enorme technische und geistige Modernisierungsschübe ermöglichte, gleichzeitig aber auch tiefgreifende Umwandlungen gewachsener sozialer und demographischer Strukturen zur Folge hatte. Zwar durchliefen die europäischen Staaten aufgrund von Industrialisierung und gesellschaftlicher Neuformation einen schon länger anhaltenden sozialen, politischen und ökonomischen Transformationsprozess. Doch mit dem Auftritt des Deutschen Reiches wurde dieser Prozess lokalisier- und zugleich sichtbar. Denn die Situation, die sich an der Schwelle des 20. Jahrhunderts zeigte, war, dass sich Deutschland, in der Weltpolitik bis dahin von kaum ernstzunehmender Bedeutung, seit der Reichsgründung anschickte, sich an die Spitze der führenden Industriemächte Europas zu setzen. Galt deutsches Wissen auf allen Sektoren der Technologie als federführend, stieg die Kohleproduktion zwischen 1870 und 1913 um das siebenfache. Die Stahlproduktion erhöhte sich sogar um das fünfzehnfache, während sich die Bevölkerung im gleichen Zeitraum mehr als verdoppelte. Doch mit dem ungebremsten demographischen und wirtschaftlichen Wachstum ging ein ebenso rasanter gesellschaftlicher Modernisierungsschub einher. Während sich deutsche Bürokratie und Militär als äußerst effizient erwiesen und zum internationalen Maßstab entwickelten, brachte das Reich das erste Sozialversicherungssystem der Welt hervor. Das deutsche Bildungssystem genoss hohes Ansehen, und die deutsche Wissenschaft gab im Bereich der Medizin, der Natur- und der Geisteswissenschaften international den Ton an.84 Kurz: Das Deutsche Reich war um 1900 eine der sich am schnellsten verändernden Gesellschaf 81 82 83 84
Ebd., S. 191f. Eisfeld, Die Rußlanddeutschen, S. 130. Gredig, Dekadent und gefährlich, S. 22f. Vgl. Roger Chickering, Das Deutsche Reich und der Erste Weltkrieg, München ²2005, S. 11f.
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ten der Welt und stand im Mittelpunkt des internationalen Diskurses, der zwischen Bewunderung und Unverständnis schwankte. In sozialer, politischer und ökonomischer Hinsicht waren die Jahrzehnte vor dem Weltkrieg starken Veränderungen unterworfen. Unsicherheiten und das Gefühl der ökonomischen Benachteiligung schufen Raum für imperialistischen Handelsneid, Großmachtdenken und einen ausgeprägt ethnisch orientierten Nationalismus. Nicht zuletzt, da diese Veränderungen unmittelbar mit dem Aufstieg und der Existenz des Deutschen Reiches in Verbindung gebracht werden konnten, ließen sich auch internationale Bedrohungsängste auf das Reich projizieren. Dies galt umso mehr, als eine Reihe diplomatischer Krisen, die infolge undurchsichtiger Manöver deutscher Außenpolitik ausgelöst wurden, deutsches Wachstum und deutsche Weltmachtgeltung zunehmend als internationale Unsicherheitsfaktoren erscheinen ließ. In der Konsequenz verstellte sich der Blickwinkel auf das Reich. Ursprüngliche Faszinationen für seine kulturellen und geistigen Leistungen wichen mehr und mehr einer Wahrnehmung, die nun in Verbindung mit der unberechenbaren Außenpolitik einer wirtschaftlich und militärisch erstarkenden Macht stand.85 In diesem Zuge wandelten sich den Deutschen ursprünglich zugewiesene positive Eigenschaftskombinationen in absolute Negativismen. Unter der Aura einer symptomatisch gewordenen „deutschen Gefahr“ stand das Reich permanent unter dem Verdacht, es wolle seine wissenschaftlichtechnischen Fähigkeiten sowie den „deutschen Hang zur Effizienz und Rationalisierung von Arbeitsvorgängen“ einzig zur Unterwerfung der „freiheitsliebenden Völker“ nutzen. Die Bilder, die sich in diesen Vorstellungen materialisierten, waren jedoch keine neuen, sondern lagen längst parat und fanden sich in den Entwürfen eines Jules Verne oder Erskine Childer wieder. Die martialisch-militaristischen Eigenschaftscharaktere überwogen darin eindeutig, und Beweise für das kriegerische deutsche Wesen gab es mehr als genug. Schließlich wurde das Reich 1870/71 auf dem Schlachtfeld geboren; seine Armee war eine der modernsten der Welt, und die zentrale Bedeutung des Militärs und seiner Werte spiegelte sich in allen Bereichen der deutschen Gesellschaft wider.86 Je nach politischer Konjunktur und Interessenlage der Entente-Mächte blieb die Deutschlandwahrnehmung allerdings noch bis zum Sommer 1914 wechselhaft. Langfristig gesehen aber überwog schon vorher die negative Perzeption, die sich etappenartig durch die Krisen zog und sich letztlich im Kriegsausbruch gerechtfertigt sah.
85 Ebd., S. 13. 86 Ebd., S. 12.
WER ÜBERSCHRITT 1914 DEN RUBIKON? Österreich-Ungarische und deutsche „Entscheidungen“ für den „Dritten Balkankrieg“ Ralph Sowart 1915, im zweiten Jahr des „Großen Krieges“, veröffentlichte Sigmund Freud seine Abhandlung über „Das Unbewußte“. Bereits 1914 hatte sein Schüler Isidor Sadger eine erste psychoanalytische Studie zum Phänomen des Schlafwandelns publiziert.1 Hermann Broch nahm dies später als Topos auf, um den Erlösungswunsch der vom Wertezerfall bedrohten Vorkriegsgesellschaft zu charakterisieren.2 Es verwundert daher zunächst nicht, dass Christopher Clark den „Schlafwandler“ als griffige Metapher für die Männer wählt, die den „Großen Krieg“ auslösten. Hinter diesem Bild verbirgt sich ein akteursorientierter Ansatz, der den Weg zum Krieg als eine Kette von Entscheidungen zu beschreiben versucht. Erstaunlich ist allerdings, dass sich die Entscheidungsträger auf dem Weg in die Katastrophe in wachsamen, kalkulierten und rationalen Schritten bewegt haben, aber gleichzeitig von Befürchtungen und Ahnungen, Arroganz und Angeberei geleitet gewesen sein sollen.3 Dieser Kontrast zwischen Begriff und Inhalt reflektiert ungewollt einen inneren Widerspruch der neueren Forschung zum Ausbruch des Ersten Weltkriegs. Die Trennlinie zwischen bewussten Entscheidungen zum Krieg4 und irrationalen, emotionsgeleiteten Akteuren, die sich in einem „Reich des Absurden“ bewegten,5 kann aber in ein Handlungsmodell integriert werden.6 Rationalität und Emotionalität, Vernunft und Psyche lassen sich nicht nur funktional aufeinander beziehen. Sie können in einer Abfolge von Handlungsmodi verbunden werden.7 Zunächst werden sie aber als Akteurstypen analytisch getrennt. 1 2 3 4 5 6 7
Isidor Sadger, Über Nachtwandeln und Mondsucht. Eine medizinisch-literarische Studie, Leipzig 1914. Hermann Broch, Die Schlafwandler, Bd. 2: 1903. Esch oder die Anarchie, München 1931. Christopher Clark, The Sleepwalkers. How Europe Went to World War I, London 2012, S. xxvvii–xxvviii. Zuletzt Thomas G. Otte, July Crisis. The World’s Descent into War, Summer 1914, Cambridge 2014, S. 7. Stellvertretend Stig Förster, Im Reich des Absurden. Die Ursachen des Ersten Weltkrieges, in: Bernd Wegner (Hg.), Wie Kriege entstehen. Zum historischen Hintergrund von Staatskonflikten, Paderborn 2000, S. 211–252. Grundsätzlich Jonathan Mercer, Rationality and Psychology in International Politics, in: International Organization 59 (2005) 1, S. 77–106. Dominic D. P. Johnson, Dominic Tierney, The Rubicon Theory of War. How the Path to Conflict Reaches the Point of No Return, in: International Security 36 (2011) 1, S. 7–40.
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Als Gegenstück zum allein von Emotionen geleiteten Akteur dient in diesem Beitrag ein rationaler Akteur, der als „Realist“ bezeichnet werden soll. Rationalität wird hier nicht als Normalfall, sondern als möglicher Handlungstypus verstanden.8 Dabei wird zwischen offensiven und defensiven „Realisten“ unterschieden. Der „offensive Realist“ symbolisiert einen in hohem Maße rationalen Akteur mit starker Tatdisposition. Der „defensive Realist“ dagegen schreckt aufgrund eines negativen Situationskalküls vor dem Kriegsrisiko zurück. Hier soll überprüft werden, ob in Wien und Berlin während der Julikrise „Realisten“ den Rubikon überschritten oder eher von Emotionen beeinflusste Akteure. Zentral ist dabei, dass sich emotional und rational fundierte Handlungssequenzen abwechseln können. Also: In welchem Entscheidungsmodus wurde der Weg in den Krieg beschlossen? * Zunächst nach Wien: Über die Entscheidungsvorgänge in der Habsburgermonarchie bietet die Literatur eine rationale „Erzählung“. Ein „Entscheidungskollektiv“ um Außenminister Leopold Graf von Berchtold habe die günstige Situation erkannt, um den ohnehin für notwendig erkannten Schlag gegen Serbien auszuführen.9 Nach dem Attentat seien somit eine Reihe von bewussten und kalkulierten Entscheidungen im Hinblick auf einen Krieg mit Serbien getroffen worden.10 Ein klarer Anreiz, eine Bedrohungsanalyse und darauf abgestimmte Entscheidungen führten demnach zum Krieg. Tatsächlich pflichtet die Forschung den Wahrnehmungen und Erinnerungen der Beteiligten bei, nach denen sehr schnell eine Grundhaltung für ein militärisches Vorgehen gegen Serbien vorhanden gewesen sei. Diese war – auch ohne klaren Entscheidungsprozess – bereits am 29. Juni etabliert.11 So berichtete der deutsche Botschafter am 30. Juni über eine entsprechende Handlungsdisposition selbst bei „ernsten Leuten“. Es müsse „einmal gründlich mit den Serben abgerechnet werden. Man müsse den Serben zunächst eine Reihe von Forderungen stellen, und, falls sie diese nicht akzeptierten, energisch vorgehen.“12 Das klingt nicht nur nach einem grundsätzlichen Handlungswillen, sondern bereits nach der groben Skizze eines Plans. 8
Alex Mintz, Karl DeRouen, Understanding Foreign Policy Decision Making, Cambridge 2010, S. 57–67. 9 Stellvertretend Hugo Hantsch, Leopold Graf Berchtold. Grandseigneur und Staatsmann, Graz 1963, S. 644f. 10 Richard F. Hamilton, Holger H. Herwig, Decisions for War, 1914–1917, Cambridge 2004, S. 59f. 11 Vgl. z.B. Günther Kronenbitter, „Nur los lassen“. Österreich-Ungarn und der Wille zum Krieg, in: ders., Johannes Burkharde, Josef Becker, Stig Förster, Lange und kurze Wege in den Ersten Weltkrieg. Vier Augsburger Beiträge zur Kriegsursachenforschung, München 1996, S. 159–188, hier S. 163f.; Eric A. Leuer, Die Mission Hoyos. Wie österreichisch-ungarische Diplomaten den ersten Weltkrieg begannen, Freiburg 2011, S. 91. 12 Heinrich von Tschirschky an Theobald von Bethmann Hollweg, 30.6.1914, in: Max Montgelas, Walter Schücking (Hg.), Die Deutschen Dokumente zum Kriegsausbruch 1914. Vollständige Sammlung der von Karl Kautsky zusammengestellten amtlichen Aktenstücke mit ei-
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Wie war diese „schnelle“ Tatdisposition fundiert? Als rationales Motiv erscheint die diplomatische und innenpolitische Schwäche der Habsburgermonarchie, auf die man in einer günstigen Situation offensiv reagieren wollte. Zwang trifft Gelegenheit.13 Was aber war an der Situation aus Wiener Sicht günstig? Die bündnispolitische Lage auf dem Balkan war unsicher. Dies war ja gerade eine Ursache der „Balkanängste“. Die deutsche Unterstützung war noch keineswegs gesichert. Die Annahme, dass Russland noch nicht bereit oder durch den Kriegsanlass und die monarchische Solidarität gehemmt sei, war bloße Spekulation. Zugespitzt formuliert: Das signifikanteste Merkmal der Entscheidungsprozesse in Wien war wohl das Versäumnis, die Möglichkeit einer russischen Intervention ernsthaft einzukalkulieren.14 Weder über das Verhalten der Verbündeten noch über das des „entscheidenden“ Gegners waren also klare Aussagen möglich. Die günstige Situation konnte somit bestenfalls auf „gefühlten“ Annahmen beruhen. Dennoch wird die Ausnutzung des Attentats als eine in hohem Maße rationale Strategie, als kaltblütige Instrumentalisierung gedeutet.15 Die Auffassung, dass das Attentat angesichts des ungeliebten Opfers in Wien auf wenig Mitgefühl und sogar Erleichterung traf, lenkt aber vom Kern des Problems ab. Sehr schnell begann die Sinnaufladung zu einer Existenzfrage.16 Wesentliche Teile der Eliten sahen die Monarchie gedemütigt und damit ihre eigene Identität. Nicht nur im dem Thronfolger nahestehenden Belvedere-Kreis war man „ins Herz getroffen […] als Österreicher und Soldat“.17 Nicht eingeweihte Militärs erwarteten unmittelbar nach dem Ultimatum an Serbien mit „fieberhafter Sehnsucht“ eine „gewaltige militärische Freudendemonstration“, um endlich den „Meuchelmörderstaat zu demüthigen“.18 Hier sind nicht nur die Emotionen von Interesse, sondern die Sehnsucht nach einer – wenn auch externen – Entscheidung. Am Ballhausplatz war die persönliche Betroffenheit von Sektionschef Johann Graf Forgách nur der Gipfel einer sich rasch im engeren Zirkel einstellenden Konsenses. Dabei nahm man die Verbindung der Attentäter zur serbischen Politik sehr schnell als Tatsache. Mitunter war sogar vom „System der russisch-serbischen
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nigen Ergänzungen, Neuauflage, 6 Bde., Berlin 1929 (fortan: DD), Bd. 1: Vom Attentat in Sarajevo bis zum Eintreffen der serbischen Antwortnote in Berlin, Nr. 7, S. 12f. Jürgen Angelow, Kalkül und Prestige. Der Zweibund am Vorabend des Ersten Weltkrieges, Köln 2000, S. 448. Samuel R. Williamson, Vienna and July 1914. The Origins of the Great War Once More, in: ders., Peter Pastor (Hg.), Essays on World War I. Origins and Prisoners of War, New York 1983, S. 9–36, hier S. 27. Angelow, Kalkül und Prestige, S. 444. Clark, The Sleepwalkers, S. 376–381. Brosch an Auffenberg, zitiert nach Kronenbitter, „Nur los lassen“, S. 164. Josef Redlich, der die Gleichgültigkeit der Öffentlichkeit und das Aufatmen in politischen Kreisen schildert, betont angesichts des „furchtbare[n] Ereigniss[es]“ plötzlich seine politischen Hoffnungen in Franz Ferdinand. Fritz Fellner, Doris A. Corradini (Hg.), Schicksalsjahre Österreichs. Die Erinnerungen und Tagebücher Josef Redlichs, 1869–1936, Bd. 1: Erinnerungen und Tagebücher 1869–1914, Wien 2011, S. 608f. So General Michael von Appel, der Kommandant des 15. Armeekorps in Sarajewo, zitiert nach: Kronenbitter, „Nur los lassen“, S. 159.
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Gewalttäter“ die Rede.19 Außenminister Berchtold sprach „sehr bitter über die serbischen Anzettelungen“ und wies sofort darauf hin, dass gegen jugendliche Attentäter „nur [eine] mildere Strafe verhängt werden könne“.20 Im Kriegsministerium empfand man symbolische Zustimmungen zum Attentat als Kränkung der heiligsten Gefühle der Truppe und als „Beleidigung“.21 Dem serbischen Botschafter wurden „aufreizende und beleidigende Flugblätter“ vorgehalten.22 Der amtierende Vertreter in Belgrad, Legationsrat Wilhelm Ritter von Storck, zeigte sich zunächst so geschockt von der „gestrigen Katastrophe“, dass es ihm schwer fiel, mit der „nötigen Fassung, Sachlichkeit und Ruhe das blutige Drama in Sarajewo von hier aus entsprechend zu beurteilen“.23 Storck verlangte von Wien eine „Entscheidung“ und begründete das letztlich mit der Existenzfrage der Monarchie. Am Anfang steht aber etwas anderes, die Reaktion auf „serbische Unverschämtheiten“. Die akkumulierten Demütigungen der letzten Jahre werden aktiviert und verbunden mit dem Argument der Existenzsicherung, aber auch mit „Konsiderationen“ über konkrete Gewinne – eine in mehrfacher Hinsicht eingeschränkte Rationalität.24 Die Sicherheitsanalyse steht am Ende der Argumentation, nicht am Anfang. Storcks Aufforderung zum Handeln „nachdem schon einmal kaiserliches Blut geflossen“, wird dann auch durch ein Rachemotiv gegen „die aus frechen Angriffen und feigem Kneifen bestehende serbische Politik“ begründet.25 Dies heißt nicht unbedingt, dass Emotionen direkte Handlungsmotive darstellten. Zumeist dürfte die Situation nach dem Attentat zur Aktivierung eines Bündels latenter Bilder und Rechtfertigungen für eine militärische Tat geführt haben: Nachholen des versäumten Krieges gegen Serbien, Prestigegewinn, Wiedergewinnen kriegerischen Geists, ernster Kampf um die eigenen Interessen statt Genuss, „Kraftäußerung“ zur Besitzstandswahrung. Das Verhalten der serbischen Politik und Bevölkerung verstärkte dies noch.26 Es entfachte noch am Tage des Attentats eine „Pein sondergleichen“.27 Die Kompensation negativer Emotionen (von Angst und mehr noch Demütigung), von emotionalen Zumutungen wird somit zum Auslöser, zum Instrument der aktiven Begegnung von Bedrohungsängsten wie rationaler Befürchtungen. Letzteres ist aber bereits Teil der Selbstlegitimation. Der Vertreter in Konstantinopel, Johann Markgraf von Pallavicini, vollzog am 6. Juli 19 Rudolf Eiswaldt an das Auswärtige Amt, 1.7.1914, in: DD, Bd. 1, Nr. 6a, S. 11. Vgl. auch das Telegramm Oskar Potioreks, 29.6.1914, in: Ludwig Bittner, Alfred F. Pribram, Heinrich Srbik, Hans Uebersberger (Hg.), Österreich-Ungarns Aussenpolitik. Von der Bosnischen Krise 1908 bis zum Kriegsausbruch 1914, Diplomatische Aktenstücke des Österreichisch-Ungarischen Ministeriums des Äussern, 9 Bde., Wien 1930 (fortan: ÖUA), Bd. 8, Nr. 9948, S. 214. 20 Tschirschky an Bethmann Hollweg, 30.6.1914, in: DD, Bd. 1, Nr. 7, S. 12f. 21 Note des Kriegsministeriums, 2.7.1914, in: ÖUA, Bd. 8, Nr. 9996, S. 270f. 22 Tagesbericht, 2.7.1914, in: ebd., Nr. 9981, S. 249f. 23 Bericht von Storcks, 29.6.1914, in: ebd., Nr. 9943, S. 210–212. 24 Bericht von Storcks, 30.6.1914, in: ebd., Nr. 9951, S. 218f. 25 Bericht von Storcks, 1.7.1914, mit zwei Beilagen, in: ebd., Nr. 9964, S. 232–234. 26 Clark, The Sleepwalkers, S. 387. Nicht zufällig wurde ja in Punkt 9 des Ultimatums gefordert, „Aufklärung zu geben über die nicht zu rechtfertigenden Äußerungen hoher serbischer Funktionäre […]“ nach dem Attentat. 27 Bericht Heinrich Hoflehners, 6.7.1914, in: ÖUA, Bd. 8, Nr. 10084, S. 325f.
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die grundsätzlichen Motive und Mechanismen nach: symbolisch signifikante und emotional aufgeladene Ereignisse (Sarajewo), die Steigerung der Bedrohungs- zu Untergangsszenarien (Kette, Isolation), der Wille zur Tat.28 Den ersten entscheidenden Schritt zum Krieg gingen somit keine Realisten, sondern in hohem Maße emotionalisierte Akteure. Die Emotionalität des ersten Augenblicks bewirkte keine kurzzeitige Hemmung des politischen Kalküls,29 sondern fungierte vielmehr als dessen Ansporn und Katalysator. Es erfolgte eine Aktivierung und Aufladung latenter, aber keineswegs alternativloser Bilder. Diese wurden dann aber nach einem diffusen Handlungsentschluss auf die getroffene „Entscheidung“ hin geordnet, strukturiert, rationalisiert. Rationalisierungszwänge gab es, wenn der „Entschluss“ die engere Gruppe verlassen und nach außen legitimiert und vertreten werden musste. Dies betraf vor allem den wichtigsten Bündnispartner. Somit erhielt Berchtolds Kabinettschef, Alexander Graf Hoyos, sehr schnell nach dem Attentat den Auftrag, ein Handschreiben von Kaiser Franz Joseph an Wilhelm II. zu verfassen. Dieses zielte auf eine Dramatisierung der Bedrohungsszenarien und die Schärfung des bündnispolitischen Balkankonzepts. Das Attentat wurde als direkte Folge der panslawistischen Agitation gezeichnet, deren „einziges Ziel die Schwächung des Dreibundes und die Zertrümmerung meines Reiches“ sei. Der Handlungswille gegen Serbien bleibt mit dem außenpolitischen Konzept einer grundsätzlichen Umgestaltung der Balkanbündnisse verbunden: die Unterstützung und Bindung Bulgariens; Druck auf Rumänien, sich von Serbien ab- und offen wieder dem Zweibund zuzuwenden; die Verhinderung eines neuen antiösterreichischen Balkanbundes und letztlich die Konstruktion eines eigenen Balkanbundes unter der „Patronanz des Dreibundes“. Im zweiten Teil wird die Argumentationsweise aber deutlich modifiziert. Die „Isolierung und Verkleinerung Serbiens“ wird zum Staatsziel erhoben, um damit im Kampf gegen die „panslawistischen Hochflut“ den „Angelpunkt der panslawistischen Politik“ als Machtfaktor am Balkan auszuschalten. Rumänien soll Serbien als Schlüssel der Balkankonstellation ablösen. Der Kontext des Attentats änderte die Argumentationsweise in dieser Frage grundlegend, obwohl sich an der Machtposition Serbiens eigentlich nichts verändert hatte. Die neue Ausrichtung hätte nicht nur eine starke Schwächung und Verkleinerung Serbiens bezweckt, sondern eine völlige Dominanz des Zweibundes auf dem Balkan. Wie hätte das ohne Konflikt mit Russland möglich sein sollen? Zudem kommt am Ende die emotionale Aufladung noch deutlich zum Ausdruck. Mit Serbien sei „nach dem jüngsten furchtbaren Geschehnisse“ eine Versöhnung unmöglich. Die erhaltende Friedenspolitik aller europäischen Monarchen sei bedroht, solange „dieser Herd von verbrecherischer Agitation in Belgrad ungestraft fortlebt.“30 Dies traf sich mit den parallel erfolgten Modifikationen im soge28 Bericht Pallavicinis, 6.7.1914, in: ebd., Nr. 10080, 321f. 29 Manfred Rauchensteiner, Der Tod des Doppeladlers. Österreich-Ungarn und der Erste Weltkrieg, Graz 1993, S. 67–69. 30 Handschreiben Kaiser Franz Josephs I. an Wilhelm II., 2.7.1914, in: ÖUA, Bd. 8, Nr. 9984, S. 250–252.
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nannten Matscheko-Memorandum. Diese bestätigten zunächst eine Grundannahme der österreichischen Politik seit Mitte 1913. Sie bekräftigten die Auffassung von einer „hartnäckigen, unversöhnlichen und aggressiven Feindschaft Serbiens“ entgegen den deutschen Forderungen einer Annäherung. Das ist eigentlich politische Kontinuität. Umso verräterischer ist auch hier der Tonfall des letzten entscheidenden Satzes. Dieser dramatisiert nochmals die Gefahr der Einkreisung. Vor allem zeigt er in emotional-pathetischer Sprache die Gewaltbereitschaft: „Umso gebieterischer tritt an die Monarchie die Notwendigkeit heran, mit entschlossener Hand die Fäden zu zerreißen, die ihre Gegner zu einem Netz über ihrem Haupte verdichten wollen.“31 Eine gebieterische Notwendigkeit bietet keine Handlungsalternativen. Die Erarbeitung dieser Konzeption gegenüber Deutschland war ein Akt der Rationalisierung des Vorgehens, ohne eine konsistente Strategie zu formulieren. Immerhin erfolgte bei der Umsetzung ein erhebliches Maß zielgerichteter Aktivität.32 Die Ausrichtung eines Teils der Offensive auf Wilhelm II. entsprach spezifischen Erfahrungen der österreichischen Diplomatie, einem „kalkulierbaren Gestus“ des Kaisers.33 Wie aber waren die Voraussetzungen auf deutscher Seite? ** Die deutsche Politik in der Julikrise erscheint in hohem Maße ambivalent: zwischen Defensivempfinden und offensiver Strategie, zwischen „Angst und Anmaßung“.34 In Berlin scheint aber unmittelbar nach dem Attentat keine akute Krisenstimmung geherrscht zu haben. Als „früheste Äußerung“ der deutschen Seite gilt das Gespräch des Publizisten Victor Naumann mit Hoyos. Hier spiegeln sich aber nicht „gezielte Sondierungen einer auf Krieg setzenden Gruppe in der Reichsleitung“,35 sondern eher allgemeine Stimmungen in Berlin vor dem Attentat, persönliche Einschätzungen Naumanns und die spezifischen Wahrnehmungen von Hoyos.36 Selbst der Verweis auf die Position des wichtigen Dirigenten der politischen Abteilung, Wilhelm von Stumm, der „sehr ernst“ von der russischen Gefahr gesprochen und den Krieg, „den Deutschland haben könne, wann es wolle“, als nicht unmöglich bezeichnet hatte, bezieht sich wohl auf Gespräche von Ende Mai.37 Als das Attentat in Deutschland bekannt wurde, befand sich Stumm nicht 31 32 33 34
Denkschrift vom 1.7.1914, in: ebd., Beilage zu Nr. 9984, S. 253–261. Leuer, Die Mission Hoyos, S. 91f. Ebd., S. 88. Klaus Hildebrand, Julikrise 1914. Das europäische Sicherheitsdilemma, Betrachtungen über den Ausbruch des Ersten Weltkrieges, in: Geschichte in Wissenschaft und Unterricht 36 (1985) 7, S. 469–502, hier S. 470. 35 So Imanuel Geiss, Das Deutsche Reich und die Vorgeschichte des Ersten Weltkriegs, München 1985, S. 176f. 36 Vgl. selbst Fritz Fischer, Krieg der Illusionen. Die deutsche Politik von 1911–1914, Düsseldorf 1987, S. 686. 37 Stephen Schröder, Die englisch-russische Marinekonvention, Göttingen 2006, S. 588f.
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in Berlin, sondern auf der Bilanzsitzung des Familienunternehmens. Dort soll er die Anwesenden beruhigt haben. Es bestehe keine „Wahrscheinlichkeit, die Mordtat werde weitere Kreise ziehen“.38 Am 2. Juli erhielten die Gesandten wichtiger deutscher Bundesstaaten – teilweise von Unterstaatssekretär Arthur Zimmermann persönlich – entsprechende Informationen. Dem sächsischen Gesandten wurden dabei zwar Nachteile des Attentats für die „inneren Verhältnisse“ der Habsburgermonarchie angedeutet. Nachteilige Folgen für Europa drohten demnach aber nicht, vielmehr sei mit einer Klärung der Verhältnisse und einer baldigen Beruhigung zu rechnen. Dies gelte auch für den Zweibund. Natürlich wusste man bereits, dass Österreich ein „energisches Vorgehen gegen Serbien wegen des Mordes“ plane. Allerdings glaubte man, dass Serbien einlenken würde und damit ein Krieg vermieden werden könnte. Dies mag dafür sprechen, dass man zunächst nur mit einer Satisfaktionsaktion Wiens rechnete. Die Einschätzung, „dass es zu einem Kriege zwischen Österreich und Serbien nicht kommen wird“, wurde jedenfalls ausdrücklich wiederholt. Dies war mehr als taktisches Understatement. Immerhin waren die Eskalationsgefahren offensichtlich. Es drohe ein bulgarisch-griechischer Krieg, „Russland würde mobilisieren, und der Weltkrieg würde nicht mehr aufzuhalten sein“. Hier wird die Differenz zwischen den auf den Präventivkrieg drängenden Militärs und dem Auswärtigen Amt deutlich. Zudem glaubte der sächsische Vertreter, der Kaiser werde sich nicht zu einem Krieg „verleiten lassen“. Die Wilhelmstraße zeichnete zudem kein besonders dunkles Bild der aktuellen Beziehungen zur Entente: „Kommt es daher nicht zu einem Kriege zwischen Serbien und Österreich, so glaubt mein Gewährsmann, dass uns der Friede erhalten bleibt“.39 Kehrt man das Argument um, bedeutet es aber akute Gefahren im Falle eines solchen Krieges. Zudem scheint Zimmermann gegenüber Russland eher in dem Sinne agiert zu haben, Serbien zurückzuhalten und einen Konflikt zu verhindern.40 Demnach müssen dessen Worte des über die „90% Wahrscheinlichkeit für einen europäischen Krieg, wenn Sie etwas gegen Serbien unternehmen“, nicht unbedingt fordernd gewesen sein. Eher waren sie eine Risikoabschätzung bzw. ein Verweis auf die Konsequenzen. Sollte es tatsächlich, wie Hoyos „interpretierte“, der Sinn gewesen sein, dass man „in Berlin einen energischen Schlag gegen Serbien von uns erwarte und entschlossen sei, uns die erforderliche Rückendeckung zu gewähren“, wäre das Zimmermanns Privatmeinung gewesen.41 Am 4. Juli hatte Zimmermann jedenfalls dem Wiener Botschafter Ladislaus Graf Szögyény mitgeteilt, er „fände ein energisches, entschiedenes Vorgehen der Monarchie […] gegen Serbien ganz begreiflich, doch würde er diesbezüglich große Vorsicht empfehlen und raten, an 38 Richard von Kühlmann, Erinnerungen, Heidelberg 1948, S. 382f. 39 Ernst Freiherr von Salza und Lichtenau an Graf Christoph Vitzthum, 2.7.1914, in: Imanuel Geiss (Hg.), Julikrise und Kriegsausbruch. Eine Dokumentensammlung, Bd. I, Hannover 1963 (fortan: Geiss, Bd. I), Nr. 12, S. 71f. 40 Bericht Graf Hugo von Lerchenfelds, 2.7.1914, in: Pius Dirr (Hg.), Bayerische Dokumente zum Kriegsausbruch und zum Versailler Schuldspruch, München 1922 (fortan: BAD), Nr. 4, S. 117f. 41 Zitiert nach Fellner, Die „Mission Hoyos“, S. 413.
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Serbien keine demütigenden Forderungen zu stellen.“42 Es gibt zudem keine Belege, dass man im Auswärtigen Amt eigene Konzepte entwickelte, wie man aus der Situation Kapital schlagen konnte. Bis zu diesem Zeitpunkt wünschte man sich eine diplomatisch aktive, aber militärisch vorsichtige Strategie des Partners. Hier waren defensive Realisten am Werk. Dies entsprach der Politik während der vergangenen Balkankrisen. Die erste Reaktion der deutschen Diplomatie war grundsätzlich friedlich.43 Dies gilt zunächst auch für den als advocatus diaboli geltenden deutschen Botschafter in Wien, Heinrich von Tschirschky.44 Seine Prämissen waren klare Zielvorgaben, Kalkül gegen Gefühl, Chancenabwägung und die Klärung der Bündniskonstellation.45 Bestenfalls nahm er eine Zwischenposition ein, die eines abwägenden Mediators zwischen offensiven und defensiven Realisten. Angesichts dieser Unentschiedenheit der Positionen erscheint die Ausrichtung der Berliner Führung als Schlüssel. Es wurde bereits erwähnt, dass sich die österreichische Strategie wohl bewusst auf den Kaiser richtete. Dessen Wahrnehmung war – durch seine Bindung an Franz Ferdinand – emotional gefärbt und im Einklang mit den Empfindungen, die Wien übermittelte.46 Immerhin wurde die Entrüstung Storcks auch von deutscher Seite wahrgenommen und vom Kaiser begrüßt.47 Die nach Aktivität, Handlung, Offensive schreienden Marginalien des Kaisers („Jetzt oder nie […] Mit den Serben muss aufgeräumt werden und zwar bald.“) könnten eine stärkere emotionale Basis gehabt haben als seine übliche Kraftmeierei.48 Sie werden als das „entscheidende Signal gewertet, das nach anfänglichem Zögern zu der Festlegung der amtlichen deutschen Politik auf einen harten anti-serbischen Kurs geführt hat“.49 Bei Wilhelm II. lagen aber verschiedene Selbstsichten im ständigen Konflikt: die des Militärs und die des Staatsmannes. Selbst in seinen Marginalien zum Telegramm Tschirschkys zeigt Wilhelm nicht nur emotionale Handlungsantriebe. Aufgebracht war Wilhelm am 3./4. Juli vor allem darüber, dass sich Tschirschky in die souveränen Fragen kaiserlich-österreichischer Politik einmischte. Zudem sind ein latentes Bündniskalkül und eine Abwälzung der Verantwortung erkennbar, „wenn es schief geht“. Vor allem aber setzt er für eine Entscheidung Wiens die von Tschirschky geforderten abwägenden Mechanismen nicht außer Kraft. 42 Szögyény an Berchtold, 4.7.1914, in: ÖUA, Bd. 8, Nr. 10039, S. 295. 43 So auch Konrad H. Jarausch, The Illusion of Limited War. Chancellor Bethmann Hollweg’s Calculated Risk, July 1914, in: Central European History 2 (1969) 1, S. 48–76, hier S. 54f. 44 Jürgen Angelow, Der Weg in die Urkatastrophe. Der Zerfall des alten Europa 1900–1914, Berlin 2010, S. 122f. 45 Tschirschky an Bethmann Hollweg, 30.6.1914, in: DD, Bd. 1, Nr. 7, S. 12f. 46 Sean McMeekin, July 1914. Countdown to War, New York 2013, S. 42. 47 Julius Adolf Griesinger an Bethmann Hollweg, 2.7.1914, in: Politisches Archiv des Auswärtigen Amtes, Berlin (PAAA), R 19865. 48 Die Form der Marginalien spricht jedenfalls für eine besondere emotionale Aufladung. Die Schrift ist sehr schwungvoll mit deutlichen Größenunterschieden. Das Ausrufezeichen wird besonders groß ausgeführt. Vgl. das Original in: ebd. Vgl. auch John C. G. Röhl, Wilhelm II. Der Weg in den Abgrund, München ²2009, S. 1080f. 49 Ebd., S. 1075f.
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Diese „Binsenwahrheiten“ verstünden sich alle von selbst.50 Als Handlungstypus waren Kaiser und Botschafter zunächst gar nicht so weit voneinander entfernt. Doch bestand zu diesem Zeitpunkt bereits eine klare Handlungsdisposition? Eine kurze „operative“ Demütigung Serbiens schien für Wilhelm II. ohne unerwünschte Konsequenzen größerer Tragweite für den europäischen Frieden möglich zu sein.51 Dies deutet wiederum darauf hin, dass man in Berlin zunächst an eine reflexartige, begrenzte „Lektionserteilung“ zur Prestigewahrung des Partners dachte. Die Gradation des Gewaltfaktors von der „Ohrfeige“ zu einem Lokalkrieg zur Niederwerfung Serbiens und darüber hinaus wurde ja von Kaiser und Diplomatie durchaus reflektiert, aber nicht „entschieden“. Somit stand die Haltung des Kaisers am 5. Juli auf des Messers Schneide zwischen der eines offensiven und der eines defensiven Realisten. Was brachte die Entscheidung? In Wien glaubte man berechtigt zu sein, einen Erwartungsdruck gegenüber Deutschland aufzubauen.52 Diese Erwartungshaltung lebte durchaus von der emotionalen Aufladung der Ereignisse: „Auch das frevelhafte Attentat von Sarajewo müsste doch endlich die Machthaber in Berlin sehend machen; denn dieses Verbrechen scheint mir nichts anderes, als das Resultat des bis zum Paroxismus gesteigerten serbischen Grössenwahns.“53 In diesem Sinne übergab Szögyény dem Kaiser persönlich das „ganz auf die Psyche des Kaisers“54 berechnete Handschreiben von Franz Joseph und das Grundsatzmemorandum. Eine gewisse menschliche Bindung Wilhelms an den langgedienten Vertreter der Monarchie scheint es trotz dessen schwindender Kräfte gegeben zu haben.55 Der Bericht nach Wien aber zeigt den Kaiser in der ersten Phase nicht nur als formal korrekten, sondern auch als abwägenden Staatsmann. Wilhelm II. habe die Dokumente „mit größter Aufmerksamkeit“ gelesen. Dann versicherte er, „dass er eine ernste Aktion unsererseits gegenüber Serbien erwartet habe, doch müsse er […] eine ernste europäische Komplikation im Auge behalten […] und [wolle] daher vor einer Beratung mit [dem] Reichskanzler keine definitive Antwort erteilen“. Zunächst fällt hier der Unterschied zwischen einer „ernsten Aktion“ gegen Serbien und einem militärischen Vorgehen mit „ernste[r] europäische[r] Komplikation“ auf.56 Wilhelm dürfte also realisiert haben, dass es um mehr ging als um eine kurze Strafaktion. Nach dem Dejeuner folgte aber eine entscheidende Wende. Ob diese fast „spontane Zusage“ durch Wilhelms Ehrbegriff,57 seine Verbun50 Tschirschky an Bethmann Hollweg, 30.6.1914, in: DD, Bd. 1, Nr. 7, S. 12f. 51 Der Kaiser soll sich im Gegensatz zu den Militärs für die „Erhaltung des Friedens“ ausgesprochen haben. Traugott Freiherr Leuckart von Weißdorf an Adolph von Carlowitz, 3.7.1914, in: Geiss, Bd. I, Nr. 15, S. 75. 52 So Hoyos gegenüber Zimmermann. Vgl. Fellner, Die „Mission Hoyos“, S. 414. 53 Pallavicini an Berchtold, 6.7.1914, in: ÖUA, Bd. 8, Nr. 10083, S. 323f. 54 Röhl, Wilhelm II., S. 1081. 55 Über dessen Abgang war er jedenfalls „missgestimmt“. Gottlieb von Jagow an Tschirschky, 11.6.1914, geheim, in: PAAA, Botschaft Wien, Bd. 6/II. 56 Szögyény an Berchtold, 5.7.1914, in: ÖUA, Bd. 8, Nr. 10058, S. 306f. 57 Lüder Meyer-Arndt, Die Julikrise 1914. Wie Deutschland in den Ersten Weltkrieg stolperte, Köln 2006, S. 27.
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denheit mit dem österreichischen Kaiserhaus oder seine Abscheu gegen die Serben hervorgerufen wurde, kann nicht rekonstruiert werden. Sie reagierte aber mit ziemlicher Sicherheit auf eine unterschwellig emotionale Ansprache. Allerdings war Szögyény zufolge die Verbindung mit einem politischen Argument – dem „Ernst der Situation“ – entscheidend. Emotion und Kalkül wirkten zusammen. Die Konsequenz war eine Aktivierung latenter Wahrnehmungsmuster des Kaisers, aber auch eine Modifikation des Gesamtbildes. Am schnellsten wirkte sicher das Motiv der Bundestreue. Die Zusage, dass man „auch in diesem Falle auf die volle Unterstützung Deutschlands rechnen“ könne, war zunächst eine fast reflexartige Wiederholung früherer Versprechen. Damit war allerdings der Vorbehalt einer Zustimmung des Kanzlers nahezu entwertet. Dann kommt der „Sprung“: Plötzlich drängt der Kaiser auf eine Aktion zu. Vor allem aber werden antirussische Stereotypen aktiviert, die bei Wilhelm besonders stark ausgeprägt waren. Der Blick auf Serbien tritt plötzlich hinter den auf die russischen Ambitionen zurück. Bemerkenswert ist dabei eine neue, noch schwankende Risikoabwägung: „Russlands Haltung werde jedenfalls feindselig sein, doch sei er hierauf schon seit Jahren vorbereitet, und sollte es sogar zu einem Krieg zwischen Österreich-Ungarn und Russland kommen, so könnten wir davon überzeugt sein, dass Deutschland in gewohnter Bundestreue an unserer Seite stehen werde.“58 Dies entspricht einer Balkan-Version des an sich „unvermeidlichen Krieges“ gegen Russland.59 Diese russische Aggressivität wird nun mit dem von den Militärs vermittelten Bild russischer Kriegsvorbereitungen verbunden – allerdings im Sinne einer Risikoabwertung. Russland sei noch nicht kriegsbereit und werde sich deshalb hüten, an die Waffen zu appellieren. Die russische Aggressivität war ja mit der (durch das österreichische Memorandum suggerierten) Einmütigkeit der Entente mit Blick auf den Balkan verbunden. Russland werde jedenfalls dort hetzen und das Feuer schüren. Die Schlussfolgerung bestärkt klar den offensiven Realisten: Habe man die „Notwendigkeit einer kriegerischen Aktion gegen Serbien erkannt“, solle man den so günstigen Moment nicht ungenutzt lassen.60 Die Aktivierung der negativen Russlandbilder verweist aber auch auf einen weiteren Zusammenhang. Denn nach der Entscheidung versucht Wilhelm sich auch von seinem Ruf als „Wilhelm der Furchtsame“ zu befreien, betont ausdrücklich den Tatmenschen als Gegenbild zum „Zauderer“. Wenn die wiederholte kaiserliche Zusage, dass er „nicht umfalle“, auf den Gesprächspartner „sogar fast komisch“ wirkte, spricht das wohl für kompensatorische Motive.61 58 Szögyény an Berchtold, 5.7.1914, in: ÖUA, Bd. 8, Nr. 10058, S. 306f. 59 Im Februar hatte Wilhelm II. der russischen Seite unterstellt, dass sie einen „Neuen Balkankrieg“ wolle. Vgl. Tschirschky an Bethmann Hollweg, 11.2.1914, in: Johannes Lepsius, Albrecht Mendelssohn Bartholdy, Friedrich Thimme (Hg.), Die große Politik der Europäischen Kabinette 1871 bis 1914. Sammlung der Diplomatischen Akten des Auswärtigen Amtes, 40 Bde., Berlin 1922–1927 (fortan: GP), Bd. 38, Nr. 15534, S. 323f. 60 Szögyény an Berchtold, 5.7.1914, in: ÖUA, Bd. 8, Nr. 10058, S. 306f. 61 So in einem Gespräch mit Gustav Krupp von Bohlen und Halbach am Abend des 6.7.1914 in Kiel. Fritz Fischer, Griff nach der Weltmacht. Die Kriegszielpolitik des kaiserlichen Deutschland 1914/18, Nachdruck, Düsseldorf 1984, S. 51.
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Gerade beim Tatwillen gegen Serbien vollzieht Wilhelm aber eine (wiederholte) Wendung. Hatte er kurz zuvor noch eine pro-Serbian bias gezeigt62 und gegen die österreichische Politik gewütet, die eine Vereinigung Serbiens und Montenegros verhindern wollte, forderte er in der Folgezeit österreichische Eroberungen genau aus diesem Grund.63 Im Frühjahr hatte er die österreichischen Forderungen, die serbisch-montenegrinische Union zu verhindern, als „unglaublich!“ und eine „große Dummheit“ bezeichnet. Sie beschwöre „die Gefahr eines Krieges herauf mit den Slawen, der uns ganz kalt lassen würde“.64 Bei Wilhelm führte diese Situation also zu einer Aktivierung, Fokussierung und Umgruppierung vorhandener Muster.65 Der Tatmensch Wilhelm siegt in einem entscheidenden Augenblick über den gerade noch dominierenden „Staatsmann“. Nun war der Kaiser nicht das Reich. Dennoch wurde das Verhalten gegenüber dem Zweibundpartner nicht vorher in der Reichsleitung abgestimmt. Der Kanzler war zwar allgemein über das Anliegen informiert. Vor der Übergabe der Dokumente durch Szögyény habe man aber von den österreichischen Anliegen nichts Konkretes gewusst und es deshalb nicht für nötig erachtet, Staatssekretär Gottlieb von Jagow aus den Flitterwochen zu holen.66 Dass es eben keinen „Kronrat“ gab, spricht nicht nur gegen die Annahme einer geplanten Kriegspolitik. Es spricht auch gegen eine angemessene Verfahrensrationalität. Zwar suggerierte Reichskanzler Theobald von Bethmann Hollweg diese in seinen Erinnerungen, indem er eine Übereinstimmung der Positionen konstatierte.67 Im Gegensatz zu der Version, dass Wilhelm den Kanzler und Zimmermann auf einem Spaziergang im Schlosspark über sein Gespräch mit Szögyény informierte.68 Der Konsens, den Zweibundpartner nicht zurückzuhalten, könnte authentisch sein. Auch könnte es durchaus sein, dass der Kanzler zu diesem Zeitpunkt eher an eine diplomatische Offensive dachte oder die wirkliche Kriegsbereitschaft Wiens gering einschätzte.69 Hier aber ist entscheidend, dass er der Position des Kaisers ohne weitere Beratungen oder Diskussionen einfach zustimmte. Statt einer Modifikation oder Präzisierung gab es nur Ablehnung oder Zustimmung. Wilhelm II. hatte den weiteren Verlauf jedenfalls entscheidend präjudiziert.70 Für den Kanzler mag die Zustimmung politisch weitgehend alternativlos gewesen sein. Entweder wäre der Kaiser oder der Bündnispartner desavouiert worden. Allerdings scheint 62 Clark, The Sleepwalkers, S. 400. 63 Randbemerkung zu Tschirschky an Auswärtiges Amt, 24.7.1914, in: DD, Bd. 1, Nr. 155, S. 152f. 64 Griesinger an Bethmann Hollweg, 11.3.1914, in: GP, Bd. 38, Nr. 15539, S. 331–335. 65 Das Treffen mit dem Militärattaché in Bukarest, Günther Bronsart von Schellendorf, könnte die antirussischen Muster begünstigt haben, kaum aber eine Hinwendung zu Bulgarien. Vgl. Röhl, Wilhelm II., S. 1081. 66 Dieser äußerte in der Erinnerung, dass er sich darüber beschwert habe. PAAA, NL Jagow, Bd. 8/II, Bl. 76. 67 Vgl. Geiss, Bd. I , Nr. 22, S. 85. 68 Fischer, Griff nach der Weltmacht, S. 50. 69 Vgl. Kriegsminister Erich von Falkenhayn an Generaloberst Helmuth von Moltke, 5.7.1914, in: DD, Bd. 1, S. XII. 70 Jarausch, The Illusion of Limited War, S. 73.
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der Gesamtablauf auch keine Abwägung von Argumenten, Zielen und Risiken zugelassen zu haben. Als der Kanzler am Nachmittag in Berlin ankam, traf er sich mit dem Kaiser und Zimmermann. Eine analysierende und kalkulierende Debatte im Kollektiv hätte kaum der politischen Kultur des Kaiserreichs und dem Naturell Wilhelms entsprochen. Allerdings war es gängige Praxis, den Kaiser im direkten Gespräch von einer politischen Linie zu überzeugen. In den Quellen ist davon aber nichts bekannt. Zimmermann war ohne Probleme auf die offensive Seite gewechselt. Er soll sich gerühmt haben, er habe „den schwankenden Kanzler stark gemacht“.71 Stark gemacht, aber nicht überzeugt oder überredet. Es war jedenfalls ein „entscheidender“ Unterschied, ob man selbst einen Entschluss fällte oder „den Dingen ihren Lauf“ ließ.72 Eine Lesart mit einem scheinbar geringen Risiko hatte der Kaiser wohl schon vorgegeben: eine schnelles und begrenztes Vorgehen gegen Serbien. Letztlich aber dürfte dem Kanzler nach den Gesprächen am 5. Juli klar gewesen sein, dass eine kriegerische Aktion im Vordergrund stand. Generaloberst Hans von Plessens Tagebucheintrag erscheint deutlich: „Bei uns herrscht die Ansicht, dass die Österreicher je früher je besser gegen Serbien losgehen und dass die Russen – obwohl Freunde Serbiens – doch nicht mitmachen.“73 Dieses Zitat spricht aber nicht für einen durch „Absprache“ erzielten Konsens, sondern für die offizielle Position der Reichsleitung bzw. die Lesart des Kaisers, die wenigen Eingeweihten vor der Nordlandreise mitgeteilt wurde. Dabei führte das Bewusstwerden der Kriegswahrscheinlichkeit zu einer partiellen Verharmlosung der Risiken. Zimmermann sah nun die Situation als „sehr günstig“ an, um einen „Rachezug“ gegen Serbien zu unternehmen, und glaubte „bestimmt, es würde gelingen, den Krieg zu lokalisieren“. Zugleich aber konnte er einen „großen Kontinentalkrieg“ und sogar eine Beteiligung Englands nicht ausschließen.74 Bethmann Hollweg sprach gegenüber seinem Privatsekretär Kurt Riezler von „schweren Entscheidungen“ und der „Umwälzung alles Bestehenden“ im Kriegsfalle.75 Zugleich hoffte er wohl auf eine „diplomatische und politische Aktion“, die in schnellen, kurzen Schlägen ausgeführt werden würde.76 Riezler bestätigte etwas später die gewagte Mischung von Offensive und Verständigung: „Ein schnelles fait accompli, und dann freund-
71 Meyer-Arndt, Die Julikrise 1914, S. 35–38. 72 Klaus Hildebrand, Das vergangene Reich. Deutsche Außenpolitik von Bismarck bis Hitler, Stuttgart 1996, S. 303. 73 Mit „[b]ei uns“ waren aber wohl nicht die beteiligten Personen gemeint, sondern Deutschland. Tagebucheintrag Plessens, 5.7.1914, in: Geiss, Bd. I, Nr. 24, S. 87. Anders Clark, The Sleepwalkers, S. 414; Röhl, Wilhelm II., S. 1084–1086. Es gibt allerdings wohl keinen Quellenbeleg für einen wirklichen Meinungsaustausch. Die Dokumente wurden vorgelesen und die Position des Kaisers mitgeteilt. 74 Geschäftsträger Hans von Schoen an den bayerischen Ministerpräsidenten Georg Graf von Hertling, 9.7.1914, in: BAD, Nr. 8, S. 123f. 75 Kurt Riezler, Tagebücher, Aufsätze, Dokumente, hg. von Karl Dietrich Erdmann, Göttingen 1972, 11.7.1914, S. 182f. 76 Einen solchen Kommentar der Frankfurter Zeitung vom 9.7.1914 bezeichnete er als „sehr gut“. Vgl. PAAA, R 19865.
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lich gegen die Entente, dann kann der Choc ausgehalten werden.“77 Dies mag Riezlers Theorie des „kalkulierten Risikos“ entsprochen haben. Kalkuliert wurde das Risiko hier aber gerade nicht, sondern in eine binäre Entscheidungssituation gewandelt, welche das letzte Wort dem Gegner überließ.78 Hier schwingt zudem wieder die (Ab-)Stufung des Gewaltfaktors mit. Obwohl die Möglichkeit eines Krieges klar gesehen wurde, konnte das österreichische Vorgehen ja auf eine begrenzte Strafaktion reduziert bleiben. Trotz des Bewusstseins, dass dies der Knackpunkt sein konnte, blieben die Vorstellungen über die österreichische Aktion diffus. Der Schwebezustand zwischen einer „Züchtigung Serbiens“ und der bewussten Herbeiführung eines „Dritten Balkankrieges“ ermöglichte in den folgenden Tagen die Verbreitung eher optimistischer Annahmen über die Vermeidbarkeit eines großen Krieges.79 Auch im deutschen Fall gab es also eine sehr schnelle „Entscheidung“ für eine Unterstützung des Bündnispartners. Dies steht im Widerspruch zu den fundamentalen Konsequenzen. Die spätere Kritik Bernhard von Bülows, dass der „gewissenhafte“ Kanzler nicht als rationaler Akteur gehandelt habe, ist nicht völlig abwegig.80 Gerade wenn sich der Kanzler vor einer russischen Bedrohung sorgte, hätten zwei Fragen gestellt werden müssen: Wie ist die aktuelle Kriegsbereitschaft Russlands einzuschätzen? Und welche Konsequenzen hätte eine erfolgreiche Demütigung oder gar Zerschlagung Serbiens auf das künftige Verhalten Russlands? Die erste Frage war keineswegs trivial und entsprach durchaus dem üblichen Procedere der Wilhelmstraße.81 Natürlich gab es vollständige Erwartungssicherheit.82 Allerdings verzichtete man nicht nur darauf, die genannten Fragen zu stellen, man kommunizierte bis zur Übergabe des Ultimatums fast überhaupt nicht mit der Vertretung in Petersburg.83 Die Berichte der deutschen Botschaft zwischen Attentat und Ultimatum bieten ein ambivalentes Gesamtbild, sie blieben lange inhaltsleer und wurden letztlich ignoriert.84 Stattdessen beschränkte man sich auf optimistische Annahmen. Die Haltung Bethmann Hollwegs nach dem 6. Juli verweist letztlich auf sein Streben nach kognitiver Konsistenz im umfassenden Sinne, als Versuch, Überzeugungen, Gefühle, Handlungen und Erkenntnisse in Einklang zu 77 Das waren aber wohl Riezlers Gedanken. Riezler, Tagebücher, Aufsätze, Dokumente, S. 185. 78 Andreas Hillgruber, Riezlers Theorie des kalkulierten Risikos und Bethmann Hollwegs politische Konzeption in der Julikrise 1914, in: Historische Zeitschrift 22 (1966), S. 333–351, hier S. 345f. 79 Schoen an Hertling, 18.7.1914, in: BAD, S. 4–12. 80 Theodor Wolff, Tagebücher 1914–1919. Der Erste Weltkrieg und die Entstehung der Weimarer Republik in Tagebüchern, Leitartikeln und Briefen des Chefredakteurs am „Berliner Tageblatt“ und Mitbegründers der „Deutschen Demokratischen Partei“, hg. von Bernd Sösemann, Bd. 1, Boppard a.Rh. 1984, 15.12.1914, Nr. 66, S. 139f. 81 Jagow an Friedrich Graf von Pourtalès, 2.2.1913, und Pourtalès an Jagow, 6.2.1913, in: PAAA, NL Pourtalès, Bd. 1. 82 Clark, The Sleepwalkers, S. 418. 83 Bethmann Hollweg an die Botschafter in Petersburg, Paris und London, 21.7.1914, in: DD, Bd. 1, Nr. 100, S. 113–115; vgl. auch ebd., Nr. 143, S. 144. 84 Pourtalès an Bethmann Hollweg, 30.6.1914, in: GP, Bd. 39, Nr. 15885, S. 634–636; Pourtalès an Bethmann Hollweg, 13.7.1914, in: ebd., Nr. 53, S. 73–75.
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bringen85 und sein Selbstbild als verantwortlicher, vernünftiger Akteur nach einer schnellen und bestenfalls bedingt rationalen „Entscheidung“ aufrechtzuerhalten. Seine Äußerungen zeigen deutlich die Probleme eines solchen Akteurs, wenn er nicht zur Komplexitätsreduktion in der Lage ist. Seine vielzitierten Äußerungen gegenüber Riezler sind Ausdruck von „Rationalisierung“, nicht von rationalen Entscheidungen.86 Dies zeigt auch die Entwicklung in Wien. *** Zunächst der berühmte „Blankoscheck“: Dahinter verbarg sich zunächst eine eher routinemäßige Bestätigung der Bundestreue im Falle eines Krieges mit Russland. Beim Kriegsfall Serbien wird Wilhelm II. etwas offensiver. Wenn man die „Notwendigkeit einer kriegerischen Aktion gegen Serbien erkannt“ habe, würde er es bedauern, wenn „wir den jetzigen, für uns so günstigen Moment unbenützt ließen“. Hier bekommt ein offensiver Realist eine rational begründete Ermutigung durch seinen Partner.87 Dies wird am Folgetag bestätigt. Österreich jedenfalls müsse selbst beurteilen, wie das Verhältnis zu Serbien zu klären sei. Man könne jedenfalls mit Sicherheit sagen, dass Deutschland in jedem Falle „als Bundesgenosse und Freund der Monarchie“ hinter ihr stehe. Sowohl Kaiser und Kanzler sahen demnach ein „sofortiges Einschreiten“ gegen Serbien als „radikalste und beste Lösung unserer Schwierigkeiten am Balkan“ an.88 Das hieß wohl: Wollt ihr wirklich das serbische Problem militärisch lösen, dann tut es jetzt. Das Vorgehen gegen Serbien war die eine Seite, die Bündniskonstellation bei einem europäischen Krieg aber die andere. Angesichts der Gefahren eines Weltkriegs, der Befürchtungen um den Bündniswert des Partners und des häufigen Klagens über die österreichischen Alleingänge schienen „bestimmte Abmachungen“ zu bündnispolitischen Fragen mit Wien zwingend notwendig.89 Immerhin hatte der Kanzler wenige Wochen zuvor eine „klare Aussprache“ in Wien über die Balkanpolitik und das Bündnis mit Italien für notwendig erachtet: „Wien beginnt sich in seiner gesamten Politik etwas stark von uns zu emanzipieren und muß meo voto rechtzeitig am Zügel gehalten werden.“90 Das wurde nun, in einer weitaus 85 Ned Lebow, Kognitive Blockierung und Krisenpolitik. Deutsche Entscheidungsträger im Juli 1914, in: Reiner Steinweg (Hg.), Kriegsursachen, Frankfurt a.M. 1987, S. 191–247, hier S. 192. 86 Hier wird nur darauf verwiesen, dass Riezler am 7.7.1914 über den Ernst der Lage „ganz erschrocken“ war. So hatte sich der Kanzler ihm gegenüber wohl noch nie geäußert. Die Bedrohungsmotive werden gegenüber den Äußerungen aus der ersten Jahreshälfte nochmals verstärkt, vor allem aber wird Deutschland als reagierend dargestellt, der Handlungszwang verstärkt, Alternativen bis zum Ultimatum nicht mehr reflektiert, obwohl das Risiko des „Weltkrieges“ nicht verdrängt werden konnte. Riezler, Tagebücher, Aufsätze, Dokumente, S. 182–184. 87 Telegramm Szögyènys, 5.7.1914, in: ÖUA, Bd. 8, Nr. 10058, S. 306f. 88 Telegramm Szögyènys, 6.7.1914, in: ebd., Nr. 10076, S. 319f. 89 Hans von Flotow an Tschirschky, 16.7.1914, in: PAAA, Botschaft Wien, Bd. 6/II. 90 Aufzeichnung Bethmann Hollwegs, 8.5.1914, in: GP, Bd. 38, Nr. 15549, S. 349.
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kritischeren Situation, gar nicht erst versucht. Der Unterschied bestand weniger in deutscher Fahrlässigkeit als in einer Situationsdefinition: Der Partner, eine Großmacht, reklamierte Prestige und vitale Interessen. Der eigentliche Erfolg der österreichischen Initiative lag aber in der deutschen Zusage, den Zweibund zu einer Kooperationsgemeinschaft im Sinne der Wiener Balkanpolitik zu machen. Ohne Zweifel gehörten die Festigung des gegnerischen Dreierverbandes und die Schwäche des österreichischen Bündnispartners Mitte 1914 zu den vorrangigen Sorgen deutscher Außenpolitik.91 Abgesehen von den moderaten Bemühungen zur Verhinderung einer russisch-englischen Marinekonvention blieb dies jedoch zunächst ohne Konsequenzen. Es gab keine ernsthafte Beratung, geschweige denn ein deutsches „Matscheko-Memorandum“. Die Führungsspitze ging ganz normal in die Sommerferien. Jagow sogar in die Flitterwochen. Frühere Gelegenheiten zu einer engeren Kooperation mit dem Zweibundpartner und damit seiner Stärkung waren weitgehend ungenutzt verstrichen.92 Dies kontrastierte mit dem im Juli oft genannten Motiv, den einzigen Bündnispartner stützen und aufwerten zu müssen. So wurde zu Recht betont, dass das neue Maß an Unterstützung einen „grundsätzlichen Wandel der deutschen Politik“ im Zweibund, eine „plötzliche Kursschwenkung“ darstellte.93 Diese Wende geschah eben nicht als mittelbare Reaktion auf die Bedrohungsängste oder unmittelbare Reaktion auf die Geheiminformationen zur russisch-englischen Marinekonvention, sondern als Reaktion auf die direkte österreichische Initiative am 5. Juli 1914. Dies bedeutete eine reale Wende zugunsten Österreichs, vor allem auf dem Balkan. Ein Ausgleich mit Serbien war für Bethmann Hollweg nach den jüngsten Ereignissen „nahezu ausgeschlossen […]; dieser Tatsache sollte auch Rumänien Rechnung tragen“. Damit war eines der zentralen politischen Ziele der österreichischen Diplomatie seit Mitte 1913 realisiert. Der „Blankoscheck“ wurde dann fast beiläufig ausgestellt.94 Österreich jedenfalls hatte einen Doppelsieg erzielt. In der bündnispolitischen Perspektive wie beim konkreten Vorgehen gegen Serbien.95 Aus Hoyos’ Sicht war die Mission jedenfalls „in höchstem Maße erfolgreich“. Er kehrte in „gehobener Stimmung nach Wien zurück“. Deutschland hatte sich nach seiner Auffassung bewusst „fremder Führung“ überlassen.96 Es war aber noch keineswegs klar, wohin Wien die Partner „führen“ würde. Das Verhältnis der diplomatisch-militärischen Parallelkonzepte blieb insgesamt unklar. Auch eine Rückbesinnung auf den Vorrang diplomatischer Mittel blieb denkbar.
91 Jagow zweifelte am Bündniswert Österreichs, das „von Jahr zu Jahr passiver“ werde, vor allem aber an einer Allianz mit der Türkei. Vgl. Jagow an Tschirschky, 11.6.1914, geheim, in: PAAA, Botschaft Wien, Bd. 6/II. 92 Dies zeigt nicht nur die bündnispolitische Kooperation auf dem Balkan, sondern auch die wirtschaftspolitische. Vgl. PAAA, R 4705, 4706 und 5753-1. 93 Schröder, Die englisch-russische Marinekonvention, S. 656f. 94 Telegramm Szögyènys, 6.7.1914, in: ÖUA, Bd. 8, Nr. 10076, S. 319f.; Clark, The Sleepwalkers, S. 414f. 95 Geiss, Bd. I, Nr. 22, S. 85, sowie Nr. 31, S. 95. 96 Fellner, Die „Mission Hoyos“, S. 416f.
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Die Frage ist also, ob an dieser Stelle nicht eine erneute Umbewertung der Gesamtsituation möglich war. Konnte der bündnispolitischen Wende in Berlin eine konzeptionelle in Wien folgen? Konnte wieder auf eine längerfristige Strategie umgeschaltet werden? Positive Signale gab es durchaus.97 Oder war der Rubikon in Wien zum damaligen Zeitpunkt bereits überschritten? Aufschluss darüber könnten die Abläufe im Vorfeld des folgenden Ministerrats geben. Die Forderung nach der Einberufung eines Ministerrats rührte aus der zwar mit scharfen, aber zunächst durchaus sachlichen Argumenten geführten Debatte über die angespannte Situation in Bosnien und Herzegowina.98 Die „Sanierung“ der dortigen „innerpolitischen Übelstände“ wurde denn auch von Berchtold als eigentlicher Anlass des Ministerrats genannt. Zunächst aber wollte man sich Klarheit darüber verschaffen, „ob der Moment nicht gekommen sei, um Serbien durch eine Kraftäußerung für immer unschädlich zu machen“. Auch wenn der Kriegsfall Serbien zunächst euphemistisch „verkleinert“ wird, blieb Berchtolds Risikokalkül noch einigermaßen realistisch. Denn ein Eingreifen Russlands hielt er für möglich. Dieses Risiko müsse man jedoch in Kauf nehmen, da Russlands Politik doch „auf lange Sicht berechnet“ den Zusammenschluss der Balkanstaaten zum Zweck habe, um diese dann im geeigneten Moment gegen die Monarchie ausspielen zu können. Man müsse sich „Rechenschaft“ ablegen, ob sich die eigene Situation nicht immer weiter verschlechtere und „untätiges Gewährenlassen“ bei den eigenen Völkern nicht als Zeichen der Schwäche ausgelegt werde. Die nichtmilitärische Alternative wird dabei genau mit den Stigmata belegt, die seit 1912 an Berchtold hafteten: Untätigkeit und Schwäche. Den eigenen Entschluss zum Präventivkrieg aber stellt er als rational zwingende, „logische Folge“ dar.99 Berchtold nutzte seine diplomatischen Erfolge in Berlin also nicht, um seine nichtmilitärische Konzeption der letzten Jahre noch einmal ins Gespräch zu bringen. Genau das aber machte der ungarische Ministerpräsident István Graf Tisza, der am entschiedensten gegen eine militärische Lösung eintrat. Die Interessen von „Groß-Ungarn“ und seiner konservativen agrarischen Eliten waren dabei ohne Zweifel zentral. Vor allem aber besaß Tisza aus ungarischer Perspektive ein höheres Risikobewusstsein für die möglichen Konsequenzen eines Krieges.100 Hier ist zunächst von Bedeutung, dass der schnelle Konsens in Wien durch „ungarische“ Perspektiven aufgebrochen wurde. Die oft kontraproduktive Verfassungskonstruktion führte hier zu einem Abstimmungszwang und zur Abwägung von Argumenten. Dabei präsentierte sich Tisza wieder als Realtypus des abwägenden defensiven Realisten.101 Eine militärische Aktion gegen Serbien schloss er – wie 97 So war von einem Frontwechsel Montenegros die Rede. Vgl. ÖUA, Bd. 8, Nr. 10062, S. 308. 98 Vgl. Hamilton F. Armstrong, A Letter of Count Tisza’s, in: Foreign Affairs 6 (1928) 3, S. 501–504, Abdruck des Briefes auf S. 502; ÖUA, Bd. 8, Nr. 10090, S. 328f., und Nr. 10030, S. 291f. 99 Protokoll des Ministerrats, 7.7.1914, in: ebd., Nr. 10118, S. 343–351. 100 Norman Stone, Hungary and the Crisis of July 1914, in: Journal of Contemporary History 1 (1966) 3, S. 153–170, hier S. 159 und 163. 101 Vortrag des ungarischen Ministerpräsidenten an den Kaiser, 1.7.1914, in: ÖUA, Bd. 8, Nr. 9978, S. 248f.; Armstrong, A Letter of Count Tisza’s, S. 502.
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bereits im Oktober 1913 und März 1914 – keineswegs grundsätzlich aus. Seine Einwände mit Blick auf die Wahrnehmung Österreich-Ungarns in „Europa“ und den Balkanstaaten erscheinen zunächst eher taktischer Art. Natürlich spielte die ungarische Einstellung gegen eine Erweiterung der Monarchie eine Rolle. Tisza bewertete positive Trends allerdings auch positiv: „Jetzt, wo Deutschland erfreulicherweise die Bahn zum Anschluß Bulgariens an den Dreibund freigegeben habe, eröffne sich uns ein vielversprechendes Gebiet zu einer erfolgreichen diplomatischen Aktion am Balkan, indem wir durch den Zusammenschluß Bulgariens und der Türkei und deren Anschluß an den Dreibund, ein Gegengewicht gegen Rumänien und Serbien schaffen und dadurch Rumänien zur Wiederkehr zum Dreibunde zwingen könnten.“ Außerdem müsse man auch die Stärkung der deutschen Position gegenüber Frankreich beachten. Die Möglichkeit einer Verbesserung der Bündniskonstellation sollte jedenfalls bei einer „verantwortungsvollen Entschließung“ beachtet werden.102 Dies entsprach im Wesentlichen der längerfristigen Politik des Außenministers, deren „kühle Vernunft“ noch im März auf Berchtolds Zustimmung gestoßen war.103 So konstatierte Berchtold abschließend, dass auch die Vorschläge Tiszas „zu der von ihm und den übrigen Mitgliedern der Konferenz für notwendig gehaltenen kriegerischen Auseinandersetzung mit Serbien führen werden.“104 Auch alle anderen Teilnehmer des Ministerrats standen nun hinter der Absicht, einen Krieg gegen Serbien zu provozieren. Lediglich Tisza verteidigte seine Position weiter – mit dem Verweis auf die strategischen Gefahren und die Möglichkeiten zur Verbesserung der eigenen Positionen für einen möglichen „Entscheidungskampf“. Er könne „nach peinlich-gewissenhafter Überlegung die Verantwortung für die in Vorschlag gebrachte Aggression gegen Serbien nicht mittragen.“105 Trotz des vielfältigen Drucks blieb er ein defensiver Realist. Dass Tisza schließlich doch in die Kriegsphalanx einschwenkte, kann nicht zuletzt auf den Einsatz des „deutschen Knüppels“ im Ringen zwischen Wien und Budapest zurückgeführt werden. 106 Tatsächlich stieß das österreichische Lavieren mit dem Termin des Ultimatums in Berlin auf Unverständnis. Man drängte auf ein rasches Handeln, wobei eine militärische Reaktion weder explizit gefordert noch ausgeschlossen wurde. Beides lag wohl am dominierenden Bild über den Zweibundpartner, dem man den „Schneid“ für einen „solchen Schritt“ nicht zutraute.107 Ein Übergehen der Initiative und der Entscheidungshoheit auf die deutsche Sei-
102 Protokoll des Ministerrats, 7.7.1914, in: ebd., Nr. 10118, S. 343–351. 103 Vgl. die Marginalien Berchtolds zu einer Denkschrift Tiszas, 15.3.1914, in: ÖUA, Bd. 7, Nr. 9482, S. 974–979. 104 Protokoll des Ministerrats, 7.7.1914, in: ÖUA, Bd. 8, Nr. 10118, S. S. 343–351. 105 Als Grund nannte er seine Einschätzung der strategischen Situation im Falle eines Krieges gegen Russland. Vortrag Tiszas an den Kaiser, 8.7.1914, mit Beilage, in: ebd., Nr. 10146, S. 371–375. 106 Stone, Hungary and the Crisis of July 1914, S. 166f. 107 Tschirschky an Jagow, 11.7.1914, in: DD, Bd. 1, Nr. 34a, S. 53f.; Szögyény an Berchtold, 12.7.1914, in: ÖUA, Bd. 8, Nr. 10215, S. 407–409.
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te108 war das allerdings nicht. Jedoch führte das deutsche Drängen zu einer Stabilisierung des Kriegswillens in Wien. Berchtold reagierte prompt und erreichte eine „vollkommene Übereinstimmung“ mit den Ministerpräsidenten über die Forderungen an Serbien.109 Tschirschky zufolge konnte nun nicht mehr „von einem Zögern oder einer Unschlüssigkeit“ die Rede sein. Tisza habe nun sogar in manchen Punkten eine Verschärfung eingebracht.110 Mit der „Entscheidung“ war auch ein Wahrnehmungswechsel Tiszas verbunden. In seiner Selbstsicht hatte er sich durch den schweren Entschluss vom Mahner zur Vorsicht zu einem von der Notwendigkeit Überzeugten gewandelt. Allerdings übernahm er dabei auch die Argumentationsmuster des „energischen Entschlusse[s]“ und der „Lebenskraft“. An Tschirschky gerichtet sagte er schließlich: „Wir wollen nun vereint der Zukunft ruhig und fest ins Auge sehen.“ Der Wechsel zur Offensive imponierte Wilhelm II. natürlich: „na doch mal ein Mann!“111 Die Rationalisierung des ursprünglichen Entschlusses und die Planung des Vorgehens waren in Wien zu einer Einheit gelangt. **** Was bedeutet diese Analyse aber für das Verhältnis von Rationalität und Emotionalität, für den Charakter der Entscheidungen und für die Handlungsabfolge? Das österreichische und deutsche Verhalten zu Beginn der Julikrise, bei den ersten zentralen Entscheidungen für einen Krieg, lässt sich weder allein mit rationalen noch mit nichtrationalen Handlungsmodellen ausreichend beschreiben. Weder Kalkül noch Emotionen, weder Prestige noch strategische Überlegungen bieten allein eine hinreichende Erklärungsbasis. Dabei gab es durchaus defensive Realisten, in Berlin dominierten sie zunächst sogar. Sie wurden aber erstaunlich schnell isoliert, überzeugt und umgedreht. Die offensiven Akteure waren dagegen im Moment der „Entscheidung“ keineswegs kalkulierende, reflektierende Realisten. Vielmehr erfolgte eine Aktivierung und Selektion von Entscheidungsmustern im Rahmen einer spezifischen Situation. Nicht „reale“ Machtverschiebungen führen dazu, den Krieg gegen Serbien (und Russland) als notwendiges oder „richtiges“ Handeln durchzusetzen, sondern ein kontingentes Ereignis von hoher Symbolkraft. Dies verweist auf die vielfältigen Funktionen von Emotionen:112 Sie sind Signale, dienen der Aktivierung, Bewertung, Selektion kognitiver Muster und Identitäten. Damit ermöglichen sie Entscheidungen und Kooperation.113 Andererseits können sie zur Verzerrung oder Deformation solcher Muster beitragen. Hier 108 109 110 111 112
So Angelow, Kalkül und Prestige, S. 449. Vortrag Berchtolds an den Kaiser, 14.7.1914, in: ÖUA, Bd. 8, Nr. 10272, S. 447f. Tschirschky an Bethmann Hollweg, 14.7.1914, in: DD, Bd. 1, Nr. 50, S. 71f. Tschirschky an Bethmann Hollweg, 14.7.1914, in: ebd., S. 70f. Vgl. Peggy A. Thoits, The Sociology of Emotions, in: Annual Review of Sociology 15 (1989), S. 317–342; Neta C. Crawford, The Passion of World Politics. Propositions on Emotion and Emotional Relationships, in: International Security 24 (2000) 4, S. 116–156. 113 Mercer, Rationality and Psychology in International Politics, S. 92–94.
Wer überschritt 1914 den Rubikon?
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soll auf zwei Funktionen emotionaler Faktoren hingewiesen werden. Zunächst handelt es sich um affektive Markierungen, die diesen Mustern eine besondere Bedeutung zuweisen. Dies betrifft vor allem das Serbienbild, das Russlandbild und die zunehmend dramatisierten Einkreisungsphobien. Das bedeutet, dass konstruierte Wahrnehmungsmuster einen emotionalen Status, eine – wenn auch veränderliche – Aufladung erhalten können. Sie sind dann im kognitiven Prozess besonders verfügbar und relevant. In diesem Sinne entwickelten Einkreisungsund Untergangsszenarien einen besonderen – zuletzt handlungsrelevanten – Status. Dies korrespondiert mit der zweiten Ebene: Die affektiven Markierungen ermöglichen externe Impulse, die handlungsrelevante Emotionen hervorrufen können. Dies verweist auf ein Modell, das Emotionen eine trigger-Funktion für Kriegsentscheidungen zuweist. Dabei geht es nicht um unmittelbare Handlungsmotive, sondern um einen starken Impuls, der bestimmte (bereits emotional besetzte) Wahrnehmungs- und Handlungsmuster aktiviert und im Sinne einer Handlungsbereitschaft gruppiert. Ein frustration-anger-agression-Mechanismus eignet sich gut für die Erklärung der schnellen Handlungsbereitschaft in Wien.114 Plausibel wird diese als eine Reaktion auf gefühlte Demütigung, Schwäche und Beleidigungen. Diese wiederum aktivieren die latenten, aber nicht unbedingt dominierenden und in dieser Logik zusammengefügten Begründungen für ein militärisches Vorgehen gegen Serbien. Dabei wird das Gesamtrepertoire an Schemata rekonfiguriert (v.a. der Vorrang von innerer Stärkung oder Krieg gegen Serbien, das perspektivische Verhältnis zu Russland, die Offenheit oder Geschlossenheit der Situation, die Chancen eines veränderten Bündnissystems). Entscheidend ist dabei die Frage, ob die Akteure bei der Informationsverarbeitung „offen“ bleiben oder ob sie Hypothesen zu „Tatsachen“ umdeuten. Genau das ist bei Berchtold nachweisbar. Vor allem war die Wiener Führung nicht in der Lage, die seit Mitte Juli grundsätzlich verbesserte Situation zu reflektieren und zu einer politischen Lösung zurückzufinden. Zentral ist aber auch, auf welcher Ebene solche Mechanismen wirken, nämlich außerhalb des Reiches bewusster Kontrolle und jenseits von deliberate conscious choice.115 In Wien – und mehr noch in Berlin – spricht vieles für „intuitive“ oder „halbbewusste“ Entscheidungen. Allzu oft werden solche durch die späteren „Beobachter“ wie die Akteure im Nachhinein rationalisiert. Rationalisierung ist aber nicht Entscheidungsrationalität. Diese ist zum erheblichen Teil nachgeordnet, ist auf ein emotional-kognitives Gleichgewicht gerichtet, das sich als Teil des Entscheidungsprozesses einpendelt. Dieses Gleichgewicht begünstigt dann eine Stabilität der getroffenen Entscheidung. Der hohe Grad kognitiver Dissonanzen, die von reflektierenderen Akteuren rationalisiert werden mussten, führt nicht selten zu einer Externalisierung von Entscheidungen und zu Bemühungen, die „Verantwortung“ zu delegieren. Die Reaktionen der potentiellen Gegner wur114 William J. Long, Peter Brecke, The Emotive Causes of Recurrent International Conflicts, in: Politics and the Life Sciences 22 (2003) 1, S. 24–35, hier S. 27–29. 115 David G. Winter, Asymmetrical Perceptions of Power in Crises. A Comparison of 1914 and the Cuban Missile Crisis, in: Journal of Peace Research 40 (2003) 3, S. 251–270, hier S. 253.
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den daher nicht angemessen kalkuliert, der Rubikon des „Großen Krieges“ nicht zufällig hinter einem veil of ignorance gehalten. Zwar können Akteure ihre Annahmen verändern, wenn abweichende Informationen ausreichend stark und evident erscheinen.116 Während der Rationalisierungsprozess der getroffenen Entscheidung läuft oder gerade abgeschlossen ist, ist das aber nur schwer möglich. Als Ende Juli solche Informationen wahrgenommen wurden, war es wohl bereits zu spät. Dies lag aber auch an der eingeschränkten Prozessrationalität. Diese war vor allem in Deutschland erstaunlich gering, während in Wien die duale Struktur der Monarchie Korrektivmöglichkeiten eröffnete. Allerdings führte der emotionale trigger in Wien zu einer Form von Groupthink.117 Der schnelle – emotional fundierte – Konsens der engeren Führungsgruppe ermöglichte Entscheidungen und war zugleich ein Hemmnis für einen differenzierteren Entscheidungsprozess. Emotional getragene Entscheidungen verstärkten die Identität der Gruppe und die Distanz zum Gegner,118 isolierten andere Positionen und stabilisieren letztlich die ursprüngliche Entscheidung. Die Grundmechanismen der Handlungssequenz könnten somit folgendermaßen systematisiert werden: Vor der geschilderten Sequenz stehen Musterselektion (Lernen) und emotionale Aufladung der Bedrohungsmuster (Affektmarkierung), ohne dass die so bevorzugten Muster bereits konkurrenzlos werden. Dies führt erst in einer spezifischen Situation zur Aktivierung starker Emotionen (trigger) bzw. zu einer diffus fundierten Entscheidung von stark begrenzter Rationalität (Intuition). Dabei werden nicht nur aktuell verfügbare Handlungsmuster aktiviert, sondern ihre Beziehungen auch grundlegend verändert (Rekonfiguration). Dies geht über in einen Prozess eines emotional-kognitiven balancings (Rationalisierung). Dabei werden nicht nur relevante Fragen der Risikoabschätzung nicht gestellt. Es werden auch ganze Handlungsoptionen, obwohl im Prozess angestrebt und stark verankert, ausgeblendet. Die geringe Prozessrationalität ermöglicht eine weitere Stabilisierung der Entscheidungen innerhalb der Entscheidungszirkel (Groupthink). Als sich auf deutscher Seite einige Annahmen als fehlerhaft erwiesen, konnte der Prozess nicht mehr rückgängig gemacht werden. Vor allem die kognitiv-emotionalen Kosten wären zu hoch gewesen. Dies skizziert natürlich nur den Kern des Entscheidungsprozesses. Dieser ist verbunden mit anderen Analyseebenen, mit sich ändernden Machtstrukturen, Interaktionen der Akteure, politischen Kulturen, Mentalitäten, vor allem aber mit institutionellen Korrektiven. Entscheidungsprozesse können jedenfalls nicht mit einer vagen Metapher wie der des „Schlafwandelns“ erfasst werden. Ohne ein neues handlungstheoretisches Reflexionsniveau ist das Überschreiten des Rubikons in der Julikrise nicht zu erklären.
116 Jack S. Levy, Political Psychology and Foreign Policy, in: David O. Sears, Leonie Huddy, Robert Jervis (Hg.), Oxford Handbook of Political Psychology, New York 2003, S. 253–284, hier S. 265. 117 Irving L. Janis, Victims of Groupthink, Boston 1972. 118 Mercer, Rationality and Psychology in International Politics, S. 97.
AUSBLICK
1914 ALS EUROPÄISCHER ERINNERUNGSORT? Geteiltes, paralleles und gemeinsames Gedenken an den Beginn des Ersten Weltkriegs Johannes Großmann Das kleine Museum im Schloss des tschechischen Städtchens Velké Meziříčí (auf Deutsch: Groß Meseritsch) verwahrt ein makabres Andenken: Es handelt sich um das Batist-Taschentuch, mit dem Franz Graf von Harrach dem tödlich getroffenen Erzherzog und Thronfolger Franz Ferdinand von Österreich-Este am 28. Juni 1914 in Sarajevo das Blut von den Lippen wischte. Das Tuch mit dem „ersten im Ersten Weltkrieg vergossenen Blut“ präsentiert Jan bzw. Johann von PodstatzkýLichtenstein, ein Enkel Graf Harrachs, seinen Besuchern mit einer Mischung aus Ehrfurcht, Nostalgie und Stolz. Die durch den Ersten Weltkrieg angestoßenen radikalen geopolitischen und soziokulturellen Umbrucherscheinungen sollten das Leben Podstatzkýs nachhaltig prägen, obwohl er erst dreiundzwanzig Jahre nach dem Attentat von Sarajevo geboren wurde. Denn als der Krieg 1919 endete, gab es jenes Staatswesen nicht mehr, dem Graf Harrach so treu gedient hatte und dessen Kaiser der ermordete Franz Ferdinand einmal hätte werden sollen. Johann und seine Geschwister wuchsen in der neu geschaffenen Tschechoslowakischen Republik auf. Nach der Abtrennung der Sudetengebiete, dem Einmarsch der Wehrmacht und der Errichtung des Protektorats Böhmen und Mähren wurde die Familie, die einem alten böhmischen Adelsgeschlecht entstammte, unter Androhung der Deportation zur Annahme der deutschen Staatsangehörigkeit gezwungen. Jedoch hielten die Podstatzkýs bis zum Kriegsende engen Kontakt zum tschechischen Untergrund.1 Der Gutsbesitz der Familie wurde erst durch die Enteignungswelle der Nachkriegsjahre gefährdet. Nach dem Februarputsch der Kommunisten 1948 sah sich die Familie zur Emigration gezwungen. Ihre Odyssee führte über Österreich, die Schweiz, Rom und Schweden bis nach Chile. Dort schlugen sich Vater und Mutter zunächst als Barkeeper und Küchenhilfe durch. Später arbeiteten sie für ein US-amerikanisches Bergbauunternehmen. Nach dem Wahlsieg des Sozialisten Salvador Allende verließen die Podstatzkýs Chile, kehrten nach Europa zurück und ließen sich in der Bundesrepublik nieder. Johanns Vater starb 1982 in Wien.
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Eagle Glassheim, Noble Nationalists. The Transformation of the Bohemian Aristocracy, Cambridge 2005, S. 206f.
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Nach dem Zusammenbruch des Kommunismus und der „Samtenen Revolution“ 1989 erhielt die Familie Teile ihres Grundbesitzes und das enteignete Schloss zurück. Aus kommunistischer Zeit geblieben ist lediglich die Autobahnbrücke, die sich unweit des Schlosses über das Tal spannt und das Stadtbild von Velké Meziříčí dominiert.2 Das Taschentuch mit dem Blut des Thronfolgers – aus Sicht der Kommunisten ein Sinnbild für den Untergang der alten Ordnung und den Auftakt zur Weltrevolution – scheint zum Symbol geworden für die Irrwege des 20. Jahrhunderts und zu einem Mahnmal gegen Gewalt und Krieg. * Dieser Beitrag skizziert die Phasen und die Fixpunkte der über Jahrzehnte hinweg gespaltenen, aber immer auch wieder geteilten, parallelen und gemeinsamen Erinnerung an das Jahr 1914 und fragt danach, ob und inwiefern der Ausbruch des Ersten Weltkriegs nach 100 Jahren zum Referenzpunkt einer nationalstaatlichen Grenzen überschreitenden europäischen Erinnerung geworden ist. Zunächst sollen das Konzept der „kollektiven Erinnerung“, die Funktion von Gedenkorten und -jahren und der Begriff „Erinnerungsort“ sowie seine Übertragbarkeit auf eine europäische bzw. transnationale Ebene erläutert werden. Anschließend werden die zeitlichen „Konjunkturen“ der Erinnerung an den Kriegsausbruch und die ersten Kriegsmonate im (west-)europäischen Raum herausgearbeitet. Schließlich sollen drei konkrete Beispiele aus der „Erinnerungslandschaft“ des Jahres 1914 näher beleuchtet werden: das Attentat von Sarajevo, der „Burgfriede“ bzw. das „Augusterlebnis“ sowie der sogenannte „Weihnachtsfriede“. Im Zentrum steht also nicht die Ereignisgeschichte des Jahres 1914 und des „Großen Krieges“, sondern vielmehr jene „zweite Geschichte“ des Ersten Weltkriegs, die in der Erinnerung und im Gedenken an die Jahre 1914 bis 1918 zum Ausdruck kommt. Diese „zweite Geschichte“ war gezeichnet von gegensätzlichen nationalen, politischen und sozialen Deutungsmustern, Stilisierungen und Überzeichnungen, von Zeiten der offenen geschichtspolitischen Auseinandersetzung und des einvernehmlichen Stillschweigens, in denen unterschiedliche Akteure und Medien „kollektiver Erinnerung“ miteinander kommunizierten und konkurrierten. Der oftmals missverstandene Begriff der „kollektiven Erinnerung“ bzw. des „kollektiven Gedächtnisses“ soll dabei keine grundsätzliche Übereinstimmung, Deckungsgleichheit oder Gleichförmigkeit von individuellen Erinnerungen suggerieren. Er bezieht sich vielmehr auf die Einsicht, dass Erinnerung immer in einen gesellschaftlichen Bezugsrahmen eingebunden ist, medial – d.h. z.B. in Form von Sprache, Schrift, Bild oder rituellen Handlungen – vermittelt wird und erst im kommunikativen Austausch entsteht.3
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Zur Familiengeschichte der Podstatzký-Lichtensteins vgl. Frank Rothe, Marias Rückkehr, in: Die Welt, 3.9.2003. Vgl. Maurice Halbwachs, Das Gedächtnis und seine sozialen Bedingungen, Berlin 1966.
1914 als europäischer Erinnerungsort?
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In den hundert Jahren, die seit dem Ausbruch des Ersten Weltkriegs vergangen sind, gehörte die Nation zu den wirkmächtigsten sozialen Bezugsrahmen von Erinnerung. Dass der Schwerpunkt dieses Beitrags auf nationalen Erinnerungsdiskursen liegt, scheint daher gerechtfertigt – zumal diese auch das größte Hindernis für die Entwicklung einer gemeinsamen europäischen Erinnerung darstellen. Soziale und ideologische Differenzen sowie der Gegensatz zwischen Front und Heimatfront, zwischen alt und jung, zwischen Männern und Frauen oder zwischen Stadt und Land nahmen zwar ebenso Einfluss auf die Herausbildung und den Wandel von Erinnerungsmustern. Sie spielten jedoch im Vergleich zu nationalen Kategorien und Narrativen zumindest bis in die 1970er Jahre eine untergeordnete Rolle. Daher ist auch der Hinweis angebracht, dass die Erinnerungen an den Ersten Weltkrieg höchst unterschiedliche nationale Erfahrungswerte als Ausgangspunkt hatten. Dazu zählt die fundamentale Unterscheidung zwischen Gewinnern und Verlierern ebenso wie die Einsicht, dass der Erste Weltkrieg bzw. die „Grande Guerre“ beispielsweise in Frankreich tiefere Wunden geschlagen und Narben hinterlassen hat als in Deutschland, Russland oder Ostmitteleuropa, wo er außerdem von der Erfahrung des Zweiten Weltkriegs, der nationalsozialistischen Gewaltherrschaft und der kommunistischen Machtübernahme überlagert wurde. Erinnerung ist auf Fixpunkte, Stützen und Träger angewiesen, an denen sie sich festmachen, auf die sie sich beziehen und mit deren Hilfe sie an künftige Generationen weitergegeben werden kann. Es ist kein Zufall, dass sich die Begriffe „Andenken“ und „Souvenir“ im deutschen und französischen Sprachgebrauch sowohl auf den Vorgang des Erinnerns als auch auf das Erinnerungsstück als konkreten Speicher von Erinnerung beziehen. Durch die Schaffung von Gedenkorten – seien es konkrete Orte wie Friedhöfe, Erinnerungstafeln und Mahnmale oder bewegliche Objekte wie Bücher, Gedenkmünzen und Briefmarken – wird dieser Zusammenhang bewusst instrumentalisiert. Das Kriegerdenkmal soll Erinnerungen wachhalten und das Andenken für die Nachwelt bewahren. Ähnliches gilt für Gedenkveranstaltungen, Gedenktage und Gedenkjahre, die Erinnerung an einem bestimmten, willkürlich gesetzten Zeitpunkt festmachen – so z.B. am hundertsten Jahrestag des Kriegsbeginns von 1914. Meistens werden Jubiläums- und Gedenkveranstaltungen – wie die jährliche Zeremonie vor dem Beinhaus von Douaumont in Verdun – am Ort des früheren Geschehens abgehalten, um Vergangenes durch die suggestive Einheit von Raum und Zeit mit dem Gegenwärtigen in Bezug zu setzen. Mit der „Verdinglichung“ bzw. „Verräumlichung“ eines historischen Narrativs wird auch ein Anspruch auf Objektivität erhoben. So funktionieren Gedenkorte und Gedenkjahre nach dem Prinzip einer „doppelten Objektivierung“ von Erinnerung: Als Objekt machen sie Erinnerung einerseits greifbar und fassbar. Andererseits machen sie Erinnerung begreifbar und erfassbar, indem sie sich als authentische, verbindliche und vermeintlich objektive Zeugen bzw. Speicher des Vergangenen präsentieren. Sie legen fest, was und wie erinnert werden soll, und sie klammern – oft unbemerkt – aus, was und wie nicht erinnert werden soll. Erinnerungsorte rekurrieren ebenfalls auf den Zusammenhang von Objekt und Erinnerung. Doch während ein Gedenkort gezielt geschaffen wird, um sich verflüchtigende Erinnerungen einzufangen und festzuschreiben, entsteht ein Erinne-
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rungsort von selbst, als Kristallisationspunkt und Konkretisierung einer sich verdichtenden Erinnerung. Das blutige Taschentuch Franz Graf von Harrachs ist kein Gedenkort, da es nicht zum Zwecke des Gedenkens geschaffen wurde. Aber es ist ein Erinnerungsort, an dem sich die Erinnerung an den Ausbruch des Ersten Weltkriegs festmacht. Das Museum im Schloss von Velké Meziříčí hingegen ist ein Gedenkort, da es gezielt dafür eingerichtet wurde, an den Ausbruch des Ersten Weltkriegs zu erinnern. Pierre Nora definiert den Begriff des Gedächtnis- bzw. Erinnerungsortes als „bedeutsame Einheit, ideeller oder materieller Art, die durch menschlichen Willen oder durch das Werk der Zeiten zu einem symbolischen Element des Gedächtnis-Erbes irgendeiner Gemeinschaft gemacht worden ist.“4 Étienne François und Hagen Schulze wiederum betonen vor allem den identitätsstiftenden, dynamischen Charakter von Erinnerungsorten als „langlebige, Generationen überdauernde Kristallisationspunkte kollektiver Erinnerung und Identität, die in gesellschaftliche, kulturelle und politische Üblichkeiten eingebunden sind und die sich in dem Maße verändern, in dem sich die Weise ihrer Wahrnehmung, Aneignung, Anwendung und Übertragung verändert.“5 Pierre Nora zufolge zeichnen drei Eigenschaften einen Überrest als Erinnerungsort aus.6 Die erste Eigenschaft ist seine materielle Qualität, wobei „materiell“ nicht zwangsläufig „gegenständlich“ heißen muss. So kann der Überrest ein konkreter geographischer Ort, ein Zeitpunkt, eine historische Persönlichkeit oder ein Text sein, aber auch ein fiktiver Ort, ein imaginäres Ereignis oder eine Legende. Dem Überrest muss zweitens ein symbolischer Wert zugemessen sein. Er muss also in einem sozialen Bezugsrahmen „für etwas stehen“ und dabei, drittens, einen funktionalen Gehalt haben, also auf die jeweilige Gegenwart bezogen sein. Dieser funktionale Gehalt kann sich wandeln und dadurch auf den symbolischen Wert des Erinnerungsortes zurückwirken. Das blutige Taschentuch im Schloss von Velké Meziříčí besitzt zweifelsfrei materielle Qualität. Es dürfte wohl von den meisten Besuchern als ein Symbol für den Ausbruch des Ersten Weltkriegs und seine katastrophalen Folgen verstanden werden. Und seine Ausstellung im Museum erfüllt gleich mehrere auf die Gegenwart bezogene Funktionen, indem es beispielsweise vor neuen kriegerischen Auseinandersetzungen warnt und die frühere Zugehörigkeit der Region Mähren zum Habsburgerreich illustriert. Noras Konzept der Erinnerungsorte wurde rasch auf andere Länder übertragen. Gleichzeitig kritisierten Historiker die Fixierung Noras auf nationale Erinnerungsdiskurse und versuchten, die Existenz von regionalen, lokalen und milieubezogenen Erinnerungsorten, von epocheneigenen, grenzüberschreitenden, binatio4
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Pierre Nora, Comment écrire l’histoire de la France?, in: ders. (Hg.), Les lieux de mémoire, Teil III: Les France, Bd. 1: Conflits et partages, Paris 1992, S. 9–32, hier S. 20. Deutsche Übersetzung nach Tilmann Robbe, Historische Forschung und Geschichtsvermittlung. Erinnerungsorte in der deutschsprachigen Geschichtswissenschaft, Göttingen 2009, S. 135. Étienne François, Hagen Schulze, Einleitung, in: dies. (Hg.), Deutsche Erinnerungsorte, Bd. I, München 2000, S. 9–24, hier S. 18. Vgl. Pierre Nora, Zwischen Geschichte und Gedächtnis. Die Gedächtnisorte, in: ders.: Zwischen Geschichte und Gedächtnis, Berlin 1990, S. 11–42, hier S. 32.
1914 als europäischer Erinnerungsort?
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nalen, transnationalen und europäischen Erinnerungsorten nachzuweisen.7 Dabei können geteilte, parallele und gemeinsame Erinnerungsorte unterschieden werden.8 Ein geteilter Erinnerungsort (im doppelten Sinne von „aufgeteilt“ und „miteinander geteilt“) ist demnach ein und derselbe materielle Bezugspunkt, dessen symbolischer Wert und dessen funktionaler Gehalt jedoch in verschiedenen Ländern und Kontexten unterschiedlich ausfallen. Ein Beispiel dafür ist der deutschfranzösische Erinnerungsort „Verdun“. In materieller Hinsicht nahmen sowohl Franzosen als auch Deutsche nach dem Krieg auf das gleiche historische Ereignis Bezug. Jedoch wurde „Verdun“ in Frankreich zum Symbol für die erfolgreiche Verteidigung der Heimat unter großen Opfern und diente der Beschwörung der nationalen Einheit und der Rechtfertigung einer vorrangig defensiven Militärstrategie, ehe es über den zum „Helden von Verdun“ stilisierten Oberkommandierenden Philippe Pétain schließlich zum Referenzmythos des Vichy-Regimes wurde.9 In Deutschland hingegen stand „Verdun“ für die Tapferkeit des einsamen, von der Heimat im Stich gelassenen Frontsoldaten und bildete folglich einen Bezugspunkt für die „Dolchstoßlegende“. Zumindest in der Zwischenkriegszeit entwickelte sich „Verdun“ daher zu einem geteilten Erinnerungsort. Parallele Erinnerungsorte sind zwei in materieller Hinsicht verschiedene Erinnerungsorte, die aber im jeweiligen nationalen bzw. gruppenspezifischen Gedächtnis einen ähnlichen bzw. vergleichbaren symbolischen und funktionalen Gehalt aufweisen. Als Beispiel für einen parallelen Erinnerungsort könnte man die Marneschlacht und die Schlacht bei Tannenberg gegenüberstellen. Zwar handelte es sich dabei offensichtlich um zwei getrennte Ereignisse. Beide wurden jedoch schon rasch Symbole für einen aufopferungsvollen und heldenhaften Kampf sowie für eine unverhoffte Kriegswende. Die Erinnerung an beide Schlachten konnte folglich – bis weit über das Ende des Krieges hinaus – für die Mobilisierung patriotischer Gefühle und die Vermittlung einer nationalen Aufbruchsstimmung instrumentalisiert wurden. Ein gemeinsamer Erinnerungsort ist schließlich ein einziger materieller Bezugspunkt, dessen symbolischer Wert und dessen funktionaler Gehalt in verschiedenen nationalen Erinnerungskulturen ganz oder weitgehend übereinstimmen. Gemeinsame Erinnerungsorte entstehen oft erst nach langwierigen Aushandlungsprozessen. Ein Beispiel dafür ist wiederum „Verdun“, das sich in der zweiten
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Vgl. zusammenfassend Robbe, Historische Forschung und Geschichtsvermittlung, insbesondere S. 113–227. Siehe außerdem Pim den Boer, Heinz Duchhardt, Georg Kreis, Wolfgang Schmale (Hg.), Europäische Erinnerungsorte, 3 Bde., München 2012. Diese begriffliche Unterscheidung findet sich auch bei Hans Henning Hahn, Robert Traba (Hg.), Deutsch-Polnische Erinnerungsorte, 5 Bde., Paderborn 2012ff. Vgl. zum Nachfolgenden außerdem Johannes Großmann, Der Erste Weltkrieg als deutsch-französischer Erinnerungsort? Zwischen nationalem Gedenken und europäischer Geschichtspolitik, in: Cahiers d’Études Germaniques 66 (2014), S. 207–220. Vgl. Antoine Prost, Verdun, in: Nora (Hg.), Les lieux de mémoire, Teil II: La Nation, Bd. 3: L’idéel, Paris 1986, S. 111–141; Pierre Servent, Le mythe Pétain. Verdun ou les tranchées de la mémoire, Paris 1992.
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Hälfte des 20. Jahrhunderts von einem geteilten zu einem gemeinsamen deutschfranzösischen – womöglich sogar europäischen – Erinnerungsort entwickelt hat.10 ** Für die Zeit unmittelbar nach dem Ersten Weltkrieg lässt sich in den meisten kriegsbeteiligten Ländern eine tiefe Kluft zwischen der Erinnerung der Frontsoldaten und der Erinnerung der übrigen Bevölkerung beobachten. So beruhte das Bild, das sich die breite Bevölkerung von der Front machte, auf einer mangelnden Kenntnis der Kriegswirklichkeit und der „zu guten Teilen auf reinem Wunschdenken basierende[n] Propaganda“.11 In Deutschland und Österreich konnte sich daher kein allseits akzeptiertes Erinnerungsnarrativ entwickeln. Veteranenverbände radikalisierten sich, stellten die neue politische Ordnung in Frage und führten den „Krieg im Frieden“12 weiter gegen „Erfüllungspolitiker“, „Kriegsgewinnler“, „Bolschewisten“ und „Juden“.13 Auch in den Siegerstaaten war die Erinnerung der Soldaten alles andere als deckungsgleich mit den Erfahrungen an der „Heimatfront“. Beide Gruppen konnten sich jedoch im Narrativ der aufopferungsvollen und letztlich erfolgreichen Verteidigung oder Wiedererweckung der Nation wiederfinden. Die meisten Veteranenverbände in Frankreich und Großbritannien, aber beispielsweise auch in der Tschechoslowakei und Polen, huldigten einem republiktreuen Antimilitarismus, Pazifismus und Internationalismus, der auch die politischen Entscheidungsprozesse nachhaltig beeinflusste.14 Im öffentlichen Diskurs blieb die Kriegsschuldfrage das dominierende Thema. Im Auftrag ihrer Regierungen erarbeiteten Historiker „Farbbücher“, um den eigenen Anteil am Ausbruch des Krieges zu bagatellisieren und die Verantwor-
10 Gerd Krumeich, Verdun. Ein Ort gemeinsamer Erinnerung?, in: Horst Möller, Jacques Morizet (Hg.), Franzosen und Deutsche. Orte der gemeinsamen Geschichte, München 1996, S. 162–184; ders., Verdun, in: den Boer, Duchhardt, Kreis, Schmale (Hg.), Europäische Erinnerungsorte, Bd. 2: Das Haus Europa, S. 437–444. 11 Gerd Krumeich, Konjunkturen der Weltkriegserinnerung, in: Rainer Rother (Hg.), Der Erste Weltkrieg 1914–1918. Ereignis und Wirkung, Berlin 2004, S. 68–74, hier S. 69. 12 Bernd Ulrich, Benjamin Ziemann (Hg.), Krieg im Frieden. Die umkämpfte Erinnerung an den Ersten Weltkrieg, Quellen und Dokumente, Frankfurt a.M. 1997. 13 Eine Ausnahme waren sicherlich die sozialdemokratischen Veteranen mit ihrer pazifistischen und republiktreuen Kriegserinnerung. Siehe dazu neuerdings Benjamin Ziemann, Veteranen der Republik. Kriegserinnerung und demokratische Politik 1918–1933, Bonn 2014. 14 Siehe dazu Antoine Prost, Les anciens combattants et la société française, 1914–1939, Bd. 3: Mentalités et idéologies, Paris 1977; Niall Barr, The Lion and the Poppy. British Veterans, Politics, and Society, 1921–1939, New York 2005; Natali Stegmann, Kriegsdeutungen – Staatsgründungen – Sozialpolitik. Der Helden- und Opferdiskurs in der Tschechoslowakei 1918–1948, München 2010, insbesondere S. 63–191; Julia Eichenberg, Kämpfen für Frieden und Fürsorge. Polnische Veteranen des Ersten Weltkriegs und ihre internationalen Kontakte, 1918–1939, München 2011. Vgl. außerdem in europäischer Perspektive dies., John Paul Newman (Hg.), The Great War and Veteran’s Internationalism, New York 2013.
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tung der Gegenseite zuzuschieben.15 Was interessierte, war nicht der Krieg selbst, sondern seine Vorgeschichte. Wenn überhaupt, dann wurde der Krieg in erster Linie als militärgeschichtliches Phänomen betrachtet. Weitgehend unabhängig vom Rest Europas entwickelte sich die „zweite Geschichte“ des Ersten Weltkriegs in der Sowjetunion, wo sich die Kriegserinnerung von Beginn an mit der Erinnerung an die Revolution und den Bürgerkrieg vermischte und sich während der 1920er und 1930er Jahre im ständigen Spannungsfeld zwischen staatlicher Gedenkkultur und gesellschaftlicher Parallelerinnerung, zwischen Förderung, Duldung, Verdrängung und Verbot bewegte.16 In Deutschland wurden die Erinnerungen der Frontsoldaten erst unter dem Nationalsozialismus Teil des staatlichen Diskurses über den Weltkrieg. Doch waren es nicht die nachdenklichen Töne, sondern die „mythische[n] Beschwörungen“ vermeintlich heroischer Episoden, denen die Nationalsozialisten Gehör verschafften.17 Diese Erinnerung an den Ersten Weltkrieg war hochgradig selektiv. Sie stand im Dienste der Machtsicherung und der „Wehrhaftmachung“ – weshalb das Thema nach 1945 anrüchig erschien und die Erforschung des Krieges „in den ersten Jahrzehnten nach dem Zweiten Weltkrieg in Deutschland nahezu obsolet war.“18 In Frankreich wiederum verlor die Erinnerung an den Ersten Weltkrieg durch die Niederlage von 1940 und den Wandel des Weltkriegshelden Philippe Pétain zum Erfüllungsgehilfen der deutschen Besatzungsmacht ihre Funktion als Kitt politischer, sozialer und ideologischer Gegensätze. Auch hier trat der Erste Weltkrieg als geschichtspolitischer Referenzpunkt und als Thema der Forschung nach 1945 vorerst in den Hintergrund.19 Dieser stillschweigende Konsens brach erst 1961 unter dem Eindruck der sogenannten Fischer-Kontroverse auf. Diese löste eine „zweite internationale Erinnerungswelle“20 aus, die sich vor dem Hintergrund der voranschreitenden Entkolonialisierung beispielsweise in Frankreich, Großbritannien und Belgien mit einer Debatte über die Verfehlungen des imperialistischen Zeitalters verband. Da gesellschaftliche und politische Widerstände eine offene Auseinandersetzung mit der jüngsten Vergangenheit behinderten, konzentrierte sich diese Debatte zunächst auf die Entwicklungen des 19. und des frühen 20. Jahrhunderts.21 15 Sascha Zala, Geschichte unter der Schere politischer Zensur. Amtliche Aktensammlungen im internationalen Vergleich, München 2001, insbesondere S. 47–91. Vgl. hierzu und zur Historiographiegeschichte auch den Beitrag von Jürgen Angelow in diesem Band. 16 Vgl. Karen Petrone, The Great War in Russian Memory, Bloomington 2011. 17 Gerhard Hirschfeld, Der Erste Weltkrieg in der deutschen und internationalen Geschichtsschreibung, in: Aus Politik und Zeitgeschichte B 29–30/2004, S. 3–12, hier S. 5. 18 Krumeich, Konjunkturen, S. 71f. 19 Vgl. auch Antoine Prost, Jay Winter, Penser la Grande Guerre. Un essai d’historiographie, Paris 2004, insbesondere S. 15–50. 20 Hannes Leidinger, Verena Moritz, Der Erste Weltkrieg, Wien 2011, S. 16. 21 Siehe dazu emblematisch: Henri Brunschwig, Mythes et réalités de l’impérialisme colonial français, 1871–1914, Paris 1960; Bernard Porter, Critics of Empire. British Radical Attitudes to Colonialism in Africa, 1895–1914, London 1968; Jean Stengers, Belgique et Congo. L’élaboration de la charte coloniale, Brüssel 1963.
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In den Vordergrund rückten nun außerdem die wirtschaftlichen und sozialen Zusammenhänge des Krieges, die zunehmend in vergleichender Perspektive untersucht wurden.22 Dass diese Hinwendung zur Struktur- und Gesellschaftsgeschichte in den 1960er und 1970er Jahren alles andere als unpolitisch war, verdeutlichen die Auseinandersetzungen über die eng mit der Weltkriegshistoriographie verbundene These vom deutschen „Sonderweg“.23 Allerdings verliefen die Konfliktlinien nunmehr weniger entlang nationaler Grenzen, sondern entlang politischer Einstellungen und ideologischer Überzeugungen. Eine Entkrampfung der Diskussion ließ sich erst seit den späten 1970er Jahren beobachten, als alltags- und mentalitätsgeschichtliche Deutungsmuster einen anderen Blick auf den Ersten Weltkrieg ermöglichten. Zumindest im westeuropäischen Raum wurde der Kampf zwischen Mensch und Maschine vor der grauen Kulisse kraterübersäter Mondlandschaften zur vorherrschenden Meistererzählung vom Ersten Weltkrieg – illustriert durch Fotografien von zerschundenen Körpern, zerschossenen Bäumen und endlosen Schlachtfeldern. Kriegstagebücher, Feldpostkarten und Zeitzeugen wurden von der Forschung als neue Quellen entdeckt. Sie zeugten von der Inhumanität des industriellen Krieges und vom Zynismus der Armeeführung gegenüber den „einfachen“ Soldaten.24 Das individuelle Gedenken der noch lebenden Veteranen erhielt dadurch einen neuen Stellenwert. Die dritte und bislang letzte Phase der Erinnerung begann mit dem friedlichen Umbruch von 1989/91. Sie ist gekennzeichnet durch den Tod der letzten verbliebenen Zeitzeugen und damit durch jenen Übergang vom „kommunikativen“ zum „kulturellen Gedächtnis“, an der die vormals alltagsnahe, sprachgebundene und „lebendige“ Erinnerung „auskristallisiert in die Formen der objektivierten Kultur“ und zur identitätsstiftenden „Erinnerungsfigur“ wird.25 Tatsächlich lässt sich seit etwa 25 Jahren beobachten, wie die alltags- und mentalitätsgeschichtliche Perspektive – zumindest in Westeuropa – internalisiert wird und die alten nationalen Meistererzählungen in Schulbüchern und Museen, in Zeitung, Film und Fernsehen ersetzt. Eine vergleichende bzw. europäische Darstellung des Krieges, wie im 1992 eröffneten Historial de la Grande Guerre in Péronne26 oder im 2008 erschienenen zweiten Band des deutsch-französischen Geschichtsbuchs,27 gilt inzwischen geradezu als geschichtspolitisches Gebot.
22 Hirschfeld, Der Erste Weltkrieg, S. 7. 23 Siehe zusammenfassend Hans-Peter Ullmann, Politik im Deutschen Kaiserreich, 1871–1918, München ²2005, S. 53–62. 24 Vgl. Hirschfeld, Der Erste Weltkrieg, S. 8–10. 25 Jan Assmann, Kollektives Gedächtnis und kulturelle Identität, in: ders., Tonio Hölscher (Hg.), Kultur und Gedächtnis, Frankfurt a.M. 1988, S. 9–19, hier S. 11f. 26 Siehe Sophie Wahnich, Antoine Tisseron, „Disposer des corps“ ou mettre la guerre au musée. L’historial de Péronne, un musée d’histoire européenne de la guerre de 1914–1918, in: Tumultes 16 (2001), S. 55–81. 27 Daniel Henri, Guillaume Le Quintrec, Peter Geiss (Hg.), Histoire/Geschichte. Deutsch-französisches Geschichtsbuch, Gymnasiale Oberstufe, Bd. 2: Europa und die Welt vom Wiener Kongress bis 1945, Stuttgart 2008, insbesondere S. 187–231.
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Gleichzeitig reicht der Blick auf den Ersten Weltkrieg und das Epochenjahr 1914 immer stärker über den europäischen Tellerrand hinaus, indem nach den überseeischen Schauplätzen des Krieges, seinen Folgen für die globale Ordnung und seinen emanzipatorischen Effekten für die Bevölkerung in den Kolonien und Protektoraten gefragt wird. So zeigt das Beispiel der britischen Dominions in Kanada, Australien und Neuseeland, wie sehr Krieg, Migration, Erinnerung und die Festigung des Nationalstaats ineinandergriffen und wie der Erste Weltkrieg den Charakter des britischen Empire nachhaltig veränderte.28 Diese globale Dimension kommt z.B. in der komplexen Erinnerung an die Schlacht von Gallipoli zum Ausdruck, in der britische und französische zusammen mit australischen, neuseeländischen, neufundländischen und indischen Truppen von Februar 1915 bis Januar 1916 unter hohen Verlusten um den Zugang zu den Dardanellen kämpften.29 Der Trend hin zur Europäisierung und Globalisierung der Erinnerung kollidiert jedoch mit einer Re-Politisierung und Re-Nationalisierung der Erinnerung in Ost- und Ostmitteleuropa seit dem Fall des Eisernen Vorhangs. Denn seit den 1990er Jahren wird die Geschichte der „vergessenen“30 Ostfront in den vormals kommunistisch regierten Ländern auf die geschichtspolitische Agenda gesetzt. Nicht selten wird dabei die Erinnerung an den Ersten Weltkrieg instrumentalisiert, um neu erwachten ethnischen, nationalen und hegemonialen Forderungen Nachdruck zu verleihen.31 Der in siebzig Jahren ausgehandelte westeuropäische Erinnerungskonsens sieht sich dadurch erneut in Frage gestellt. Parallel dazu lässt sich eine Re-Individualisierung und Diversifizierung der Erinnerung im Internet und in neuen sozialen Medien beobachten,32 die einen Resonanzraum für nationale Animositäten, Mystifizierung und historische Halbwahrheiten bildet und sich der Einbindung in einen europäischen Erinnerungskonsens entzieht. *** Ist das Jahr 1914 nun ein europäischer Erinnerungsort? Oder zutreffender formuliert: Hat das Jahr 1914 europäische Erinnerungsorte hervorgebracht? Drei Beispiele sollen die Vielschichtigkeit der europäischen „Erinnerungslandschaft“ zum
28 Jay Winter, Remembering War. The Great War between Memory and History in the Twentieth Century, New Haven 2006, insbesondere S. 154–180. 29 Jenny Macleod (Hg.), Gallipoli. Making History, London 2004. Für eine globale Perspektive auf die Weltkriegserinnerung siehe außerdem Martin Bayer, Der Erste Weltkrieg in der internationalen Erinnerung, in: Aus Politik und Zeitgeschichte B 16–17/2014, S. 47–53 30 Gerhard P. Groß (Hg.), Die vergessene Front – der Osten 1914/15. Ereignis, Wirkung, Nachwirkung, Paderborn 2006. 31 Vgl. z.B. Deniza Petrova, Der Rumänienfeldzug 1916/17 in der bulgarischen Kriegserinnerungskultur, in: Jürgen Angelow (Hg.), Der Erste Weltkrieg auf dem Balkan. Perspektiven der Forschung, Berlin 2011, S. 257–269. 32 Gundula Bavendamm, Der Erste Weltkrieg im Internet, in: Groß (Hg.), Die vergessene Front, S. 373–391.
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Ersten Weltkrieg verdeutlichen. Das erste Beispiel, das Attentat auf den österreichisch-ungarischen Thronfolger Franz Ferdinand am 28. Juni 1914, verweist sicherlich auf einen geteilten Erinnerungsort. So handelt es sich einerseits um den gleichen materiellen Bezugspunkt: das tödliche Attentat als Auslöser der „Julikrise“ und Anlass des Kriegsausbruchs. Andererseits unterschieden sich dessen symbolischer Wert und dessen funktionaler Gehalt in den Sieger- und Verliererstaaten lange Zeit voneinander. So stand „Sarajevo“ in Österreich-Ungarn und im Deutschen Reich symbolisch für die serbische Aggression und wurde funktionalisiert, um die Verantwortung für den Kriegsausbruch von sich zu weisen bzw. die „Nibelungentreue“ gegenüber dem Bündnispartner zu rechtfertigen. In Frankreich und Großbritannien galt „Sarajevo“ als Symbol für den Anachronismus des habsburgischen „Völkerkerkers“ und den hegemonialen Drang des Deutschen Kaiserreichs und konnte somit ebenfalls zur Rechtfertigung des eigenen Verhaltens in der „Julikrise“ funktionalisiert werden. In Serbien wiederum symbolisierte „Sarajevo“ das nationale Aufbegehren gegen den österreich-ungarischen Imperialismus. Dem aus dem Vertrag von Trianon hervorgegangenen Königreich Jugoslawien diente „Sarajevo“ als Integrationsmythos, den großserbischen Nationalisten als Begründung für ihren Führungsanspruch innerhalb dieses neu entstandenen Vielvölkerstaates. Später entwickelte sich der geteilte scheinbar zu einem gemeinsamen Erinnerungsort: „Sarajevo“ stand nun für das unheilvolle Aufeinanderprallen nationaler und hegemonialer Interessen und den „Untergang des alten Europa“.33 In der Zeit des Kalten Krieges erfüllte diese symbolische Deutung jedoch höchst unterschiedliche Funktionen. Während sie im Westen als Mahnung gegen eine neuerliche Spaltung Europas und als Warnung vor der Zerstörungskraft revolutionärer Gewalt verstanden werden konnte, sahen die Kommunisten in ihr einen Beleg für die Gültigkeit der Lenin’schen Imperialismustheorie. Nach dem Ende des Kalten Krieges und vor dem Hintergrund des jugoslawischen Bürgerkriegs entfaltete die symbolische Deutung „Sarajevos“ als Ausdruck der Selbstzerstörung Europas eine neue funktionale Wirkung. „Sarajevo“ wurde – in bewusster Parallelisierung mit der aktuellen Entwicklung – zum Warnzeichen für eine durch ethnische Konflikte drohende Rückkehr des Krieges nach Europa.34 Dass durch diesen erinnerungsgeschichtlichen Rekurs auch alte nationale Ressentiments zu neuem Leben erwachten, illustriert die damals gerade in Frankreich und Großbritannien, aber auch in Russland kursierende Furcht vor einem, durch die USA gestützten, neuen deutschen Hegemonialstreben in (Ost-) Europa.35 Die jüngsten Meldungen über die von der serbischen Regierung geplante Errichtung eines Denkmals für Gavrilo Princip, den Attentäter des 28. Juni 1914, 33 Volker R. Berghahn, Sarajewo, 28. Juni 1914. Der Untergang des alten Europa, München 1997. 34 Vgl. z.B. Theo Sommer, Europa zwischen Mythen und Zeiten, in: Die Zeit, 1.1.1993; Daniel Vernet, Contorsions Européennes, in: Le Monde, 31.1.1993. 35 Vgl. exemplarisch Pierre-Marie Gallois (Hg.), Guerres dans les Balkans. La nouvelle Europe germano-américaine, Paris 2002.
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verdeutlichen, dass die Deutungskämpfe um den Erinnerungsort „Sarajevo“ weiter anhalten. So zweifelt Karl von Habsburg-Lothringen, der Enkel des letzten österreich-ungarischen Kaisers Karls I., die EU-Tauglichkeit Serbiens an, während die Süddeutsche Zeitung behauptet, Serbien habe „nicht begriffen […], dass Europa nicht nur Fördertöpfe für den Straßenbau bedeutet, sondern zum Beispiel auch einen aufgeklärten Umgang mit der Geschichte.“36 Der Erinnerungsort „Sarajevo“ dürfte also auch in Zukunft noch ein fester Bestandteil europäischer Identitätsdiskurse bleiben. Den Mythos einer spontanen Welle des Patriotismus und einer nationalen Einmütigkeit im Angesicht des Kriegsausbruches gibt es in fast allen beteiligten Ländern. In Deutschland z.B. lässt er sich an den Begriffsprägungen „Augusterlebnis“ und „Burgfrieden“ ablesen, während in Frankreich vom „Esprit de 1914“ und von der „Union Sacrée“ die Rede ist. Dieser Mythos mag möglicherweise der Erfahrung bürgerlich-intellektueller, politischer, militärischer, urbaner und männlicher Eliten entsprochen haben. Die Realität war jedoch wesentlich komplexer und differenzierter, als es das weit verbreitete und gerne angenommene Bild von den kriegslüsternen Massen suggeriert. Tatsächlich gab es viele Menschen, die – wie die Bewohner von Grenzregionen und ländlichen Gegenden, Frauen und ältere Menschen, Arbeiter und überzeugte Sozialisten – nicht mit Begeisterung und Euphorie, sondern sehr zurückhaltend auf die Nachricht vom Ausbruch des Krieges reagierten. Aber diese Realität wurde mehrfach überformt: durch die Pressezensur, durch die diskursive Dominanz national gesinnter Meinungsführer, durch die verkürzte Wahrnehmung im feindlichen Ausland, nicht zuletzt aber durch gezielte politische Intervention.37 Die Arbeit an diesem Mythos begann bereits in den ersten Kriegstagen. Und sie hat ihn zu einem parallelen europäischen Erinnerungsort werden lassen. Zwar handelte es sich bei der in Frankreich von Staatspräsident Raymond Poincaré am 4. August 1914 verkündeten, wenig später durch den Regierungseintritt sozialistischer Politiker besiegelten „Union Sacrée“ im Zeichen der militärischen Bedrohung unzweifelhaft um ein anderes historisches Ereignis als um den am gleichen Tag von Kaiser Wilhelm I. für das Deutsche Reich proklamierten „Burgfrieden“, also die Zurückstellung aller ideologischen, sozialen und konfessionellen Konflikte für die Dauer des Krieges. Doch waren der symbolische Wert und der funktionale Gehalt dieser zwei Erinnerungsorte in den jeweiligen nationalen Kontexten vergleichbar. Sowohl die Verkündung der „Union Sacrée“ als auch die des „Burgfriedens“ waren von vornherein als symbolische Akte konzipiert, und die Erinne36 Oliver Das Gupta, Florian Hassel, Österreichs Kaiser-Enkel hinterfragt EU-Tauglichkeit Serbiens, in: Süddeutsche Zeitung, 7.2.2014. 37 Vgl. z.B. Christian Geinitz, Kriegsfurcht und Kampfbereitschaft. Das Augusterlebnis in Freiburg, Eine Studie zum Kriegsbeginn 1914, Essen 1998; Jeffrey Verhey, Der „Geist von 1914“ und die Erfindung der Volksgemeinschaft, Hamburg 2000; Jean-Jacques Becker, 1914. Comment les Français sont entrés dans la guerre, Paris 1977; Catriona Pennell, A Kingdom United. Popular Responses to the Outbreak of the First World War in Britain and Ireland, Oxford 2012.
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rung daran wurde weit über den Krieg hinaus für die Wahrung der nationalen Einheit, die Disqualifizierung politischer Gegner und die Ruhigstellung revolutionärer Kräfte funktionalisiert.38 Allerdings gab es von Beginn an auch eine pazifistische bzw. „antiimperialistische“ Gegenerinnerung, welche die nationalen „Augusterlebnisse“ und die „Burgfrieden“-Politik als Symbole für das Versagen der sozialistischen Parteien in der „Julikrise“ deutete. Diese Gegenerinnerung war aufs Engste mit der Spaltung der europäischen Linken in ein reformistisches und ein revolutionäres Lager verbunden und stand Pate bei der Entstehung der späteren Kommunistischen Internationale.39 Heutzutage hat sich die Erinnerung an den August 1914 jedoch weitgehend von ihren nationalistischen und revolutionären Traditionslinien gelöst und ist, wie das Attentat von Sarajevo, in einer gemeinsamen europäischen Erinnerung an die „Urkatastrophe“ und die verblendeten Illusionen des Jahres 1914 aufgegangen. Die „wahre“ Geschichte des sogenannten „Weihnachtsfriedens“ ist schnell erzählt: Am Heiligabend 1914 und in den darauffolgenden Tagen kam es insbesondere an den festgefahrenen Frontabschnitten in Flandern rund um Ypern zu zeitlich befristeten Waffenpausen, zur friedlichen Begegnung von deutschen mit britischen, französischen und belgischen Soldaten und zu Szenen der spontanen Verbrüderung. Tote Soldaten, die seit Tagen und Wochen unbestattet im Niemandsland zwischen den Schützengräben gelegen hatten, wurden beerdigt. Man sang Weihnachtslieder, spielte Fußball, machte Gruppenfotos, tauschte Lebensmittel, Zigaretten und Andenken aus. Feldpostbriefe, Fotografien und zeitgenössische Presseberichte belegen, dass die Rede vom „Christmas Truce“ keine reine Erfindung war, sondern auf tatsächlichen Erlebnissen beruhte.40 Allerdings war dieser „Weihnachtsfrieden“ lokal begrenzt und ohne Einfluss auf den Fortgang des Krieges. So blieben die Schilderungen der beteiligten Soldaten lange Zeit unbeachtet und fanden zunächst keinen Eingang in übergreifende Erinnerungsdiskurse. Erst mit dem Aufkommen der Alltags- und Mentalitätsgeschichte, der „Oral History“ und der Erzählung des Ersten Weltkriegs als Geschichte von unten wurde der „Christmas Truce“ seit den 1960er Jahren „neu entdeckt“. Dies geschah zuerst in Großbritannien, von wo aus er dann später in andere nationale Erinnerungsland-
38 Siehe dazu im deutsch-französischen bzw. deutsch-britischen Vergleich: Thomas Raithel, Das „Wunder“ der inneren Einheit. Studien zur deutschen und französischen Öffentlichkeit bei Beginn des Ersten Weltkrieges, Bonn 1996; Wolfram Pyta, Carsten Kretschmann (Hg.), Burgfrieden und Union sacrée. Literarische Deutungen und politische Ordnungsvorstellungen in Deutschland und Frankreich 1914–1933, München 2011; Sven Oliver Müller, Die Nation als Waffe und Vorstellung. Nationalismus in Deutschland und Großbritannien im Ersten Weltkrieg, Göttingen 2002. 39 Vgl. Robert Craig Nation, War on War. Lenin, the Zimmerwald Left, and the Origins of Communist Internationalism, Durham 1989. 40 Sylvia Paletschek, Der Weihnachtsfrieden 1914 und der Erste Weltkrieg als neuer (west-) europäischer Erinnerungsort. Epilog, in: dies., Barbara Korte, Wolfgang Hochbruck (Hg.), Der Erste Weltkrieg in der populären Erinnerungskultur, Essen 2008, S. 213–220, hier S. 213.
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schaften (re-)importiert wurde: nach Belgien, nach Frankreich und nach Deutschland. Begleitet wurde die überwiegend journalistische „Entdeckung“ des „Weihnachtsfriedens“ von Ressentiments gegen die historische Forschung, die dem Ereignis bis dahin kaum Aufmerksamkeit gewidmet hatte.41 Von der „Entdeckung“ des „Weihnachtsfriedens“ bis zu seiner Inszenierung als gemeinsamer europäischer Erinnerungsort war es kein weiter Weg mehr: Das Flanders Fields Museum in Ypern widmet dem Ereignis seit seiner Neueröffnung 1998 einen ganzen Raum an zentraler Stelle des Besucherparcours. Eine von History Channel produzierte Dokumentationssendung griff das Thema kurze Zeit später ebenfalls auf und machte den „Weihnachtsfrieden“ damit einem breiteren Fernsehpublikum bekannt. Den Höhepunkt erreichte diese rückwirkende Erfindung einer vermeintlichen europäischen Traditionslinie mit der Ausstrahlung des 2005 in europäischer Koproduktion gedrehten Kinohits Merry Christmas/Joyeux Noël.42 So kann die „Popularisierung des Weihnachtsfriedens“ als Ausdruck einer weiterreichenden Entwicklung verstanden werden, steht sie doch „für die derzeitige erinnerungskulturelle Wieder- und Neuentdeckung des Ersten Weltkriegs, für ein vornehmlich von einer pazifistischen Antikriegshaltung geprägtes Interesse am Grande Guerre und seine Indienstnahme im Kontext der europäischen Verständigung und eines zusammenwachsenden Europas.“43 Dennoch lassen sich gerade an der medialen Inszenierung des „Weihnachtsfriedens“ auch die Grenzen einer gesamteuropäischen Erinnerung an das Jahr 1914 und den Ersten Weltkrieg aufzeigen. So droht der Erste Weltkrieg zur Kulisse einer europäischen Seifenoper zu verkommen, die keinerlei Erklärung und Hinweise mehr dafür bietet, wie es zum Krieg kommen konnte und was seine mittel- und langfristigen Folgen waren. Außerdem entspringt die Inszenierung des „Weihnachtsfriedens“ einem in erster Linie auf das westliche Europa beschränkten Erinnerungs- und Denkhorizont. Einen „Weihnachtsfrieden“ an der deutschrussischen Front oder auf dem Balkan gab es nicht. Eine solch einseitige und auf punktuelle Ereignisse reduzierte Darstellung von Geschichte birgt Gefahren. Denn wenn über den „Weihnachtsfrieden“ die Einigung Europas als eigentliche Lehre des Ersten Weltkriegs verkauft wird, liegt der Umkehrschluss nicht fern, diejenigen zu potentiellen Anstiftern eines neuen Weltkriegs zu erklären, die dem europäischen Projekt kritisch gegenüberstehen. Gerade deshalb sollten wir uns vor historischen Analogien hüten, die im Jahr 2014 die Krisenkonstellation des Jahres 1914 heraufbeschwören wollen.44 Denn Erinnerungsorte mögen zwar helfen, sich im Dickicht der Vergangenheit zu orientieren und Geschichte zu erfassen. Als Wegweiser für Gegenwart und Zukunft eignen sie sich aber nicht.
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Ebd., S. 213–216. Ebd., S. 216–219. Ebd., S. 213. So aber z.B. Herfried Münkler, 1914, 2014. Was der Beginn des Ersten Weltkriegs mit dem derzeitigen Konflikt in Europa zu tun hat, in: Die Zeit, 15.3.2014.
Dieser Band widmet sich der Scharnier- und Umbruchfunktion des Jahres 1914 und betont dabei die unterschiedlichen Geschwindigkeiten historischen Wandels im zeitlichen Umfeld des Kriegsausbruchs. Die Autoren unterstreichen Kontinuitäten und grenzüberschreitende Verflechtungsprozesse, verdeutlichen die Wechselbeziehung zwischen kollektiven Mentalitäten und individuellen Entscheidungen und verknüpfen unterschiedliche thematische, räumliche und methodische Perspektiven. Die Beiträge setzen den globalen Wandel von Wahrnehmungs-, Verhaltens- und Kommunikationsmustern in Bezug zu nationalen, regionalen und lokalen Diskursen und Entscheidungszwängen in der „Julikrise“. Sie fragen nach der Bedeutung politischer, militärischer und zivilgesellschaftlicher Transnationalisierungsprozesse und konfrontieren diese mit den politischen Visionen, den militärischen Illusionen und den nationalistischen Reflexen des Sommers 1914. Zwei Beiträge zur Historiographie- und Erinnerungsgeschichte rahmen den Band ein.
ISBN 978-3-515-10913-0
www.steiner-verlag.de Franz Steiner Verlag