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German Pages [178] Year 2016
Parahuman
Schriften des Deutschen Hygiene-Museums Dresden herausgegeben von Gisela Staupe Band 12
Parahuman Neue Perspektiven auf das Leben mit Technik Herausgegeben von Karin Harrasser und Susanne Roeßiger
2016 BÖHLAU VERLAG KÖLN WEIMAR WIEN
Die Publikation entstand im Rahmen des Verbundprojektes „Anthropofakte. Schnittstelle Mensch. Kompensation, Extension und Optimierung durch Artefakte“. Ein Forschungsprojekt des Deutschen Hygiene-Museums und der Technischen Universität Berlin, gefördert vom Bundesministerium für Bildung und Forschung im Programm „Die Sprache der Objekte – Materielle Kultur im Kontext gesellschaftlicher Entwicklungen“.
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek: Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://portal.dnb.de abrufbar.
Umschlagabbildung: Elektrodenträger eines Cochlea-Implantates © Institut für Mechatronische Systeme, Leibniz Universität Hannover
© 2016 by Böhlau Verlag GmbH & Cie, Köln Weimar Wien Ursulaplatz 1, D-50668 Köln, www.boehlau-verlag.com Alle Rechte vorbehalten. Dieses Werk ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist unzulässig. Lektorat: Karin Harrasser, Johannes Schütz Redaktion: Ute Meckbach, Johannes Schütz Umschlaggestaltung: büro quer kommunikationsdesign, Dresden Druck und Bindung: Finidr, Cesky Tesin Gedruckt auf chlor- und säurefreiem Papier Printed in the EU ISBN 978-3-412-50518-9
Inhalt
Gisela Staupe Vorwort .............................................................................................................................................. 7 Karin Harrasser, Susanne Roeßiger Einführung ........................................................................................................................................ 9
WISSEN WIR, WAS EIN TECHNOKÖRPER VERMAG? Zwischen Inklusion und Upgradekultur Klaus Birnstiel Unvermögen, Technik, Körper, Behinderung. Eine unsystematische Reflexion ............................................................................................... 21 Petra Gehring Pille oder Prothese, Pharmakon oder Symbiont. Zwei widerstreitende Fassungen für den menschlichen Technokörper ................... 39 Dierk Spreen Der Körper in der Upgradekultur und die Grenzen des neuen Technokonservatismus ............................................................................................................... 49
GERÄTE ZUM HÖREN Ko-Evolution, Teilhabe, Zumutung Jürgen Tchorz Elektrisches Hören. Technik, Möglichkeiten und Grenzen von Cochlea-Implantaten .............................. 69 Beate Ochsner Das Cochlea-Implantat oder: Versprechen und Zumutungen sozialer Teilhabe ............................................................................................................................................. 78
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Inhalt
Ulrike Bergermann Hören, eine Trajektorie. „Auditiver Kolonialismus“ und Deaf Ethnicity ................................................................. 91 Geräte zum Hören. Ko-Evolution, Teilhabe, Zumutung. Ein Gespräch ................................................................................................................................... 105
WIE SPRECHEN WIR ÜBER TECHNOLOGIEN? WIE BLICKEN WIR AUF KÖRPER? Neue Erzählungen und Bilder von Körpern und Technologien Christoph Asmuth Der verklärte Leib. Singularität und Technoromantik ............................................................................................ 121 Kenny Fries Die Geschichte meiner Schuhe und die Evolution von Darwins Theorie .............. 130 Enno Park Weil es geht. Hacking the Body .......................................................................................................................... 143 training ............................................................................................................................................... 155 Thomas Macho Enge Beziehungen. Über die Arbeiten von hoelb/hoeb ........................................................................................ 159 Josef Barla Verschränkungen von Gewicht. Von Verbindungen zu Un/Bestimmtheiten ......................................................................... 164
Verzeichnis der Autorinnen und Autoren ............................................................................ 175 Nachweis der Bilder .................................................................................................................... 180
Gisela Staupe
Vorwort
Das Deutsche Hygiene-Museum versteht sich als ein Ort, an dem die wissenschaftlichen Debatten und gesellschaftlichen Auseinandersetzungen um den menschlichen Körper und seine historisch veränderliche Gestalt und Wahrnehmung zusammenlaufen. Mit diesem zwölften Band der Reihe „Schriften des Deutschen Hygiene-Museums“ greifen wir einen aktuellen Aspekt dieser Fragestellung auf, der sich aus der zunehmenden Interaktion zwischen Mensch und Technik ergibt. Angesichts der schon heute bestehenden Möglichkeiten und erkennbaren Zukunftspotentiale körperassoziierter Technologien müssen wir kritisch über den Umgang mit diesen Hilfsmitteln nachdenken. Anders als die einfachen historischen Prothesen dient moderne Hightech nämlich nicht nur der Wiederherstellung fehlender Körperfunktionen, sondern zielt mehr noch darauf ab, körperliche Eigenschaften und Fähigkeiten des Menschen zu erweitern. Das Schlagwort von der Enhancement-Gesellschaft bringt diese Entwicklung zu einer umfassenden Verbesserung aller Lebensbereiche – und damit auch des Körpers – schlüssig auf den Punkt. An dieser Problemlage setzte das breit angelegte Forschungsprojekt „Anthropofakte. Schnittstelle Mensch“ an, das vom Deutschen Hygiene-Museum im Verbund mit der TU Berlin durchgeführt und vom Bundesministerium für Bildung und Forschung großzügig gefördert wurde. Die Prothetik-Sammlung des Deutschen Hygiene-Museums, die mehr als 700 Körperersatzteile aus dem 20. und 21. Jahrhundert umfasst, stellte den Ausgangspunkt und die materielle Grundlage dieses Projekts dar. Der umfangreiche Objektbestand erlaubte es, die Geschichte der Prothetik und gleichzeitig die neueren Entwicklungen der technischen Körpermodifikationen zu betrachten. Somit war es möglich, die damit verbundenen sozialen, politischen und kulturellen Körperbilder und Körperwahrnehmungen in den Blick zu nehmen und die Fragen nach der Hybridisierung des Körpers durch Technik zu reflektieren. Vor diesem Hintergrund fand die Tagung „Parahuman. Neue Perspektiven auf das Leben mit Technik“ statt, mit der das Gesamtprojekt abgeschlossen wurde. Die orientierende Frage „In welcher Weise können wir zwischen den Erwartungen der Fortschrittsgläubigen und den Bedenken der Skeptiker über den Technokörper oder den Körper 2.0 sprechen?“ war für das Deutsche Hygiene-Museum insbesondere auch mit Blick auf sein eigenes Selbstverständnis und Menschenbild von großer Bedeutung. Denn der Übergang eines bloßen Artefakts zu dem, was man als Biofakt bezeichnen könnte, stellt für die Sammlungs- und Ausstellungsstrategie eines Museums, das sich als „Museum
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Vorwort
vom Menschen“ versteht, einen so faszinierenden wie beunruhigenden und in seiner Bedeutung noch nicht wirklich verstandenen Paradigmenwechsel dar. Dass die Tagung „Parahuman“ von so vielen differenzierten Betrachtungen und anregenden Diskussionen geprägt war, geht vor allem auf die kluge konzeptionelle Vorarbeit der Tagungsleiterin Karin Harrasser von der Kunstuniversität Linz zurück, der ich an dieser Stelle herzlich danken möchte. Danken möchte ich auch Susanne Roeßiger, Sammlungsleiterin am Deutschen Hygiene-Museum, und Christoph Asmuth von der TU Berlin für die wissenschaftliche Leitung des Forschungsprojektes „Anthropofakte. Schnittstelle Mensch“. Ohne ihren Einsatz und das Engagement ihrer Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter wären das Projekt und die Abschlusstagung nicht denkbar gewesen.
Karin Harrasser, Susanne Roeßiger
Einführung
Neodym-Magnet und RFID-CHIP in der Museumssammlung Am 20. Februar 2016 übergab Stefan Greiner dem Deutschen Hygiene-Museum für seine Sammlung zwei sehr persönliche Gegenstände. Das Mitglied des Berliner Cyborgs e.V. schenkte dem Museum zwei aus Metall und Kunststoff gefertigte Implantate, die vormals in seinen Körper eingepflanzt waren. Es handelt sich dabei um einen NeodymMagneten mit einem Durchmesser von 0,4 cm und einer Höhe von 0,3 cm. Außerdem schenkte er dem Museum einen fast ebenso kleinen RFID-Chip. Bevor Chip und Magnet nach etwa einem Jahr entfernt wurden, waren sie in die Hände des Nutzers implantiert. Der Magnet befand sich im linken Ringfinger und der Chip war zwischen Daumen und Zeigefinger der rechten Hand verortet. Die Implantate hatten vor allem einen Zweck: Mit diesen technischen Elementen wollte Stefan Greiner die Grenzen seines Körpers aufbrechen und neue Möglichkeiten der sinnlichen Wahrnehmung austesten. Dem Magneten kommt hier eine größere Rolle zu. Mit Hilfe dieses Gegenstandes ist es für Greiner möglich gewesen, elektromagnetische Felder aufzuspüren. Vor allem in öffentlichen Verkehrsmitteln und in der Nähe von elektronischen Diebstahlsicherungen konnte er das, was die Cyborgs ihren sechsten Sinn nennen, erfahren: Ein Vibrieren des Magneten machte die sonst unsichtbaren Magnetfelder sinnlich wahrnehmbar. Der Chip hingegen diente zur Speicherung von Daten, war vor allem aber ein Test, wie sich der Datenaustausch durch die Haut hindurch realisieren ließ. Auch wenn der offensichtliche Nutzen auf den ersten Blick relativ gering erscheint, so bieten diese winzigen, unscheinbaren Objekte eine großartige Projektionsfläche für Zukunftsvisionen und Fantasien, die um den menschlichen Körper kreisen. Gibt es einen natürlichen Menschenkörper oder wird er nicht immer schon geformt? Welche Grenzen sind diesen menschlichen Eingriffen gesetzt? Gibt es überhaupt diese Grenzen? Welche Rolle spielt die zunehmende Technisierung unserer Umwelt für die gängigen Körperbilder und wie könnte sich das perspektivisch verändern? Stefan Greiner denkt deshalb bereits über neue Projekte nach, mit denen er seinen Körper technisch erweitern kann. Seine Körpermodifikationen bringen ihn mit anderen ins Gespräch, etwa über die Veränderbarkeit des Körpers und die Grenzen menschlicher Freiheit, über zunehmend in den Körper wandernde Alltagstechnik und über Erwar-
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Karin Harrasser, Susanne Roeßiger
tungen, die sich für die Zukunft daraus ableiten lassen. Diese Objekte generieren neue Vorstellungen vom Körper. Chip und Magnet sind deshalb für das Deutsche Hygiene-Museum hochwillkommene Unruhestifter. Denn für eine Institution, die sich anhand von unterschiedlichsten thematischen Schwerpunkten, Perspektiven und Formaten mit der Frage „Wie wollen wir leben?“ beständig auseinandersetzt, ist es an der Zeit, sich den neuen Perspektiven auf das Leben mit Technik zu widmen.
Das Projekt „Anthropofakte“ und das Thema der Abschlusstagung: Parahuman Das dreijährige Forschungsprojekt „Anthropofakte. Schnittstelle Mensch“ analysierte anhand des umfangreichen Prothesenbestands des Museums die Schnittstelle zwischen dem menschlichem Körper und seinen technischen Hilfsmitteln. Im Unterschied zur klassischen medizin- bzw. technikhistorischen Fokussierung werden in Dresden die Prothetik-Objekte gesammelt, um Spuren zur Rekonstruktion historischer Alltagserfahrungen des Körpers zu sichern. Dabei werden Fragen nach den Gebrauchsweisen und den Beziehungen der Menschen zu ihren Prothesen gestellt: Was macht die Prothese mit dem Menschen? Was macht der Mensch mit der Prothese? Zwar manifestiert sich in den Prothetik-Objekten vorrangig die Vergangenheit und die Forscher_innen nehmen eine retrospektive Sicht ein, aber das Projekt wollte von Anfang an die Untersuchungen bis in die Gegenwart ausdehnen. Dementsprechend wurden im laufenden Forschungsprojekt auch prothetische Referenzobjekte der Gegenwart – wie etwa die beiden Implantate von Stefan Greiner – akquiriert. Schließlich nahm die Tagung „Parahuman. Neue Perspektiven auf das Leben mit Technik“, die am 17. und 18. März 2016 im Deutschen Hygiene-Museum in Dresden stattfand, die aktuelle Debatte über technische Körpermodifikationen und die widerstrebenden Perspektiven auf die technische Erweiterbarkeit des Körpers in den Blick. Sie begab sich auf die Suche nach neuen Narrativen und Bildern eines guten Lebens mit Technologien und fungierte nach den Tagungen „Die Mobilisierung des Körpers“ (Dresden 2014) und „Just do it. Leistung durch Prothetik“ (Dresden 2015) als Abschlusstagung des Verbundprojekts „Anthropofakte. Schnittstelle Mensch“. Gegenwärtige Debatten zur technischen Körpermodifikation oszillieren zwischen Extremen: Der Optimierungsimperativ als Ausweitung und Privatisierung des kontrollierenden Zugriffs auf den Körper, das Recht auf „morphologische Selbstbestimmung“ und dasjenige auf Imperfektion sind umstrittene Beschreibungen der Körpergegenwart. Wie im Projekt „Anthropofakte“ steht dabei die Natur/Kulturgrenze, die Bestimmung von menschlichen und nicht-menschlichen Anteilen im Alltagshandeln und auch die Frage von Selbst- und Fremdbestimmung zur Disposition. Aus verschiedenen Blickwinkeln konstellieren sich die Problemfelder sehr unterschiedlich: Aus der Perspektive behinderter Menschen sind Technologien zunächst enabler, die Teilhabe ermöglichen,
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sie können aber auch zum Normalisierungs- und Anpassungsinstrument werden. Aus der Perspektive der Gesundheitsagenturen sind Technologien Teil eines ganzen Ensembles von Praktiken der Sorge. Als Effekt einer immer stärkeren Durchdringung von wohlfahrtsstaatlichen und ökonomischen Interessen erscheinen Technologien jedoch zunehmend als effizienteste Lösung und verdrängen andere Akteure aus dem Ensemble, das Diagnose, Therapie und Pflege ausmacht. Die breite Verfügbarkeit von hochleistungsfähigen Technologien befeuert aber auch ihre selbstbewusste Aneignung, etwa durch die neuen Cyborgs oder quantified-self-Bewegten. Zum anderen ist ein stärkeres Auseinanderdriften von techno-rich und techno-poor, von Verfügbarkeit, zu beobachten, gerade im Gesundheitsbereich. Verfügbarkeit und Teilhabe strukturieren sich im komplexen Zusammenwirken von Gender, ökonomischer Ungleichheit, kultureller Zugehörigkeit, Alter und abledness. Wie können wir unter diesen Bedingungen sinnvoll über die immer schmiegsamere, unauffälligere Einhegung des Körpers durch biopolitische Agenturen (von der Krankenkasse bis zum Fitnesszentrum und Wellnesshotel) sprechen? Und wie konzeptionalisieren wir die motley crew der involvierten technischen und humanen Akteure? Ist eine klare Ausrichtung der regulierenden und steuernden Prozesse, etwa in Richtung Gesundheit, Leistungssteigerung, „Schönheit“ überhaupt ausmachbar? Verglichen mit der Industriemoderne wissen wir nicht mehr so genau, was ein Technokörper vermag, aber es wird auch unklarer, wie er sich den (uneinheitlichen) Imperativen entziehen kann. Wenn es um Körper und Technik geht, ist man also mit hochgradig widersprüchlichen Szenarien konfrontiert: Die einen sehen in technischen Modifikationen des Leibs unendliche, vielversprechende neue Möglichkeiten auftauchen; bis hin zu Szenarien der Überwindung der Endlichkeit und Verletzbarkeit des Menschen mittels Technik, wie sie vom Transhumanismus lanciert werden. Man muss aber nicht Transhumanist sein, um die Interventionskraft des Technischen im Sozialen hoch anzusetzen. Viele sehen eher ein Szenario der Kontrolle (inklusive Steigerung der Selbstkontrolle) oder auch des Konformismus und der Zurichtung als wahrscheinliches Szenario an. Für wieder andere ist die Technik lediglich ein Mitspieler unter vielen. Technologien werden dann tendenziell als Werkzeuge oder Interventionsinstrumente mit einem abgegrenzten Einflussbereich auf den individuellen Leib oder auf das Zusammenleben entworfen. Der schillernde Ausdruck Parahuman nimmt keine Zwischenposition ein – zwischen einem Humanismus in der Tradition der Aufklärung und dem Post- oder Transhumanismus –, sondern möchte aus den verschiedenen Szenarien Richtiges weiterverfolgen, aber auch einiges kritisch aussortieren, etwa einen überzogenen Futurismus, der auf die Gegenwart wie ein Fluch wirkt, oder Narrative der Überwindung und Teleologien der Verbesserung. Der vorliegende Band geht diesen Komplikationen mittels der Untersuchung von Fallbeispielen nach, sucht aber auch neue Narrative und Bilder eines Lebens mit Technologien. Als Kompass dient uns dabei der Begriff Parahuman, den Zoë Sofoulis bereits vor 15 Jahren vorgeschlagen hat, um das Ineinander von technischer und humaner Agentialität zu charakterisieren. Es ist auffällig, dass diese über- oder unterschätzt
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werden, wenn uns Technik nahe rückt. Entweder verändert sie alles (die Wahrnehmung, die Kommunikation, das Soziale) oder aber man glaubt ihren Eingriff begrenzen und in seiner Instrumentalität verstehen zu können. Damit verbleibt man in einem Voluntarismus, der alles Wirken vom Menschen ausgehen sieht. Mit dem Titel Parahuman wird eine andere Perspektive eröffnet: Ein Durcheinander und Nebeneinander (para heißt auch neben) von Technischem und Leiblichem, ein Fokus auf Gegenstrebiges und Benachbartes gleichermaßen und ein Verständnis von Technik als Prozess und Praxis. Wichtig scheint uns dabei, trotz aller Hybridität von Mensch-Maschine-Ensembles nicht zu unterschlagen, dass organische Leiblichkeit und Technik über je unterschiedliche Zeiten und Daseinsweisen verfügen. Technologien sind häufig dauerhafter als der menschliche Leib, sie sind in vielen Bereichen inzwischen schneller als Bio-Akteure, sie tragen Geschichte und Geschichten, und damit Normen, in sich. Sie sind also gebaute Metaphern und konstruierte Gesellschaft.
Zu den Beiträgen Ein Nachdenken, eine Auseinandersetzung mit der Lage in der Gegenwart und den sich daraus ergebenden Optionen für die Zukunft hinsichtlich der immer zahlreicheren, aber auch komplexeren und anspruchsvolleren Möglichkeiten von technischen Körpermodifikationen ist mehr als angebracht. Die technischen Möglichkeiten zur Körperunterstützung und Körpererweiterung werden immer größer bzw. sind leichter verfügbar, daraus ergibt sich eine Spannung zwischen dem Recht auf Teilhabe (sowohl an Technik als auch an Gesellschaft) und einer impliziten Normativität von Überschreitungsoptionen. Wir schreiben derzeit das Skript und setzen den Rahmen für ein noch nicht vorhersehbares Regelwerk, das die Erweiterung des menschlichen Körpers einst festschreiben wird. Es gilt vieles zu bedenken und zu besichtigen, von dem wir bisher nur vage Vorstellungen haben. Wir hoffen, dass dieses Buch dafür neue Denkanstöße geben kann und die darin versammelten Beiträge in der gegenwärtigen Debatte, die auch mehr und mehr von einer breiteren Öffentlichkeit wahrgenommen und geführt wird, eine stimulierende und ermunternde Wirkung entfalten werden. Eine erste Gruppe an Beiträgen diskutiert philosophisch und soziologisch wie sich das zeitgenössische Verhältnis von Körper und Technik unter den aktuellen ökonomischen und gesellschaftlichen Voraussetzungen denken lässt. Wissen wir überhaupt, was ein Technokörper ist oder sein könnte? Der Literaturwissenschaftler Klaus Birnstiel, die Philosophin Petra Gehring und der Soziologe Dierk Spreen offerieren dazu theoretische Untersuchungen. Sie zeigen, wie sich das Thema gegenwärtig komplex, ja paradox, weiträumig und mit ungewissem Ausgang entfalten lässt. Klaus Birnstiel packt den Stier bei den Hörnern und diskutiert das Verhältnis von Technik und Leib im philosophischen Gegensatzpaar von Vermögen und Unvermögen. Er zeigt, wie sehr die Technikphilosophie einen Diskurs beerbt, der den Menschen von seinen sinnlich-kognitiven Fähig-
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keiten her denkt und nicht von seiner Endlichkeit und Negativität, d.h. auch von seinem Unvermögen her. Technik kann das Unvermögen nicht aus der Welt schaffen, auch weil sie eigensinnig und bis zu einem gewissen Grad unvorhersehbar ist und sich neue Vermögen gleichzeitig mit neuen Unvermögen herstellen. Dabei positioniert sich Birnstiel nicht in Ablehnung zu technischen Möglichkeiten. Vielmehr versucht er aus einer Anthro pologie des Unvermögens und einem prozessualen Verständnis von Technik, den Horizont des Technokörpers zu weiten: Wir können nicht wissen, was ein Technokörper vermag (und „unvermag“), deshalb ist weder naiver Fortschrittsglaube noch Dystopie angebracht, wenn wir uns seine möglichen Zukünfte vor Augen führen. Die neueste Prothesentechnik kompensiert nicht einfach nur, sondern stiftet radikal neue Erfahrungen, Wahrnehmungen, Beziehungen, Erfahrungs- und Handlungsspielräume. Diese sind nicht etwas, das fehlte, sondern sie haben überhaupt nicht existiert. In diesem Sinn werden neue Vermögen und Unvermögen (an der Grenze der Beschreibbarkeit) etabliert. Ein Rest von Unvermögen lässt sich, das wäre der ethische Einsatz Birnstiels, offenbar nicht tilgen, so eröffnet Technik neben oder seitlich zu den bekannten Erfahrungsräumen, ganz neue Räume. Petra Gehring untersucht die aktuell geführte Enhancement-Debatte, die vielfältige Optimierungen des Menschen zum Gegenstand hat: extreme Selbstveränderungen zugunsten von Leistungssteigerung mittels Pille oder Prothese. Sie befragt die schiere Möglichkeit einer Grenzziehung: Was ist Therapie und medizinisch rechtfertigbar und wo fängt eine Menschenveränderung bedenklichen Ausmaßes an? Pharmazeutische und prothetische Eingriffe folgen einer spezifisch modernen Biopolitik, jener der Intensivierung des Lebens. In diesem Kontext ist Medizin längst nicht mehr die Heilung von Krankheit, eine Praxis, in der der Arzt mit einer Krankheit kämpft, sondern ein positives Projekt, in dem das Produkt Gesundheit hergestellt wird. Ob wir es wollen oder nicht: Wir werden bei der Arbeit an unserer Gesundheit unterstützt. Verbesserung, Verlängerung des Lebens. Vor dieser Folie wird deutlich, dass sich eine innere (qualitative oder quantitative) Grenze nicht wird ziehen lassen. Es wird essentiell sein, die Frage nach Körper und Technik als eine politische zu stellen: Was verlieren wir, wenn wir Möglichkeiten gewinnen? Dierk Spreens Beitrag widmet sich der „Upgradekultur“. Diese, samt ihrem Selbstverbesserungsimperativ, bildet den Rahmen für die medizintechnischen Fragen. Aus soziologischer Perspektive erhellt er den systematischen Bezug zwischen Privatisierung des (Gesundheits-)Risikos und Optimierungslogik (z.B. der quantified-self-Bewegung). Studien zur Geschichte der Prothetik (z.B. von Sabine Kienitz) haben gezeigt, dass dieser Nexus im Nachhall des 1. Weltkrieges und seiner Kriegsverletzten geschnürt wurde: Wohlfahrt und Prothetik kreierten ein neues Körperparadigma, in dem Normalisierung (mittels Prothesen) und Selbstsorge zusammenkamen. So ließen sich alle Körper in einem kontinuierlichen Mangel- und Erweiterungsdispositiv verorten, kombiniert mit Anreizen zur Selbstregulierung und Selbstoptimierung: Der Veteran als „Überwinder“ seiner körperlichen Schwäche ist der wahre Neue Mensch. Der prothetische Diskurs im Kontext des 1. Weltkrieges markiert eine Verschiebung im medizinischen Paradigma. Prothesen stehen nicht im Dienst der Heilung, sondern im
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Dienst der sozialen Passung durch Erweiterung der körperlich-individuellen Möglichkeiten – Kompetenzen erweitern, Reserven aktivieren, alles, was uns gegenwärtig in einer Rhetorik des Unternehmerischen, des Auftrags sich selbst zu machen, entgegenschlägt. Der zweite Abschnitt des Buchs widmet sich der Debatte einer konkreten Technologie: Am Beispiel der Diskussion um das Cochlea-Implantat lässt sich zeigen, wie tief technisch-medizinische und kulturell-mediale Fragen ineinandergreifen: Da es möglichst früh eingesetzt werden soll, um optimal zu funktionieren, sind Eltern häufig dazu gezwungen, für ihr Kind eine Entscheidung zu fällen, die auch die Frage betrifft, zu welchem Grad es Teil der Gehörlosenkultur, der community der Gebärdensprache sein wird. Diese verfügt über ein elaboriertes Kommunikations- und Zeichensystem, über ein hoch ausdifferenziertes Medium, das nun in Konkurrenz zu einer medizinisch-technischen „Lösung“ steht. Jürgen Tchorz widmet sich dem Cochlea-Implantat als Hörgeräteakustiker. Er betont, dass es eine wichtige Möglichkeit der Versorgung hochgradig schwerhöriger oder gehörloser Menschen ist, und macht in seinem Beitrag deutlich, dass ein Erfolg für den Einzelnen von vielerlei Faktoren abhängig ist. Das CI ist für ihn eine Möglichkeit, die individuell abgewogen werden muss, die aber auch eine Herausforderung für die betroffenen Personen und ihr Umfeld darstellt. Die Ausstattung mit einem CI zieht einen langwierigen Lernprozess nach sich, umfassende Nachsorgeangebot sind deshalb essentiell. Tchorz macht klar, dass CI-Hören zwar ein Ersatz für das „normale“ Hören sein kann, dass jedoch die Höreindrücke völlig anders und eingeschränkt sind. Beate Ochsner analysiert en détail die Gegenstrebigkeit des Versprechens auf Teilhabe („Normalität“) des CI und der Eigendynamik des CI-Hörens. Sie stellt die Prozessualität und wechselseitige Passung zwischen Organischem und Technischem heraus, die Rückkopplungsprozesse zwischen CI, Implantiertem und seinem/ihrem In-der-WeltSein. Sie betont weiters die im CI eingebauten kulturellen Wertesysteme, z.B. die Privilegierung lautsprachlicher Kommunikation, die damit die Potentiale des gemeinsamen Lernens von Gehirn und CI einschränken. Im CI stecke aber auch das Potential des Widerstandes, die Möglichkeit eines anderen Hörens außerhalb der institutionalisierten Praktiken des „Normalhörens“. Ulrike Bergermann regt an, über das Hören mit oder ohne CI als über eines mit noch gar nicht wahrnehmbaren Optionen nachzudenken. Sie zeigt auf, wie verengend – in ganz unterschiedliche Richtungen: identitär, biologistisch, normalisierend, aisthetisch – viele der aktuellen Positionen in der Debatte für und wider CI sind und plädiert stattdessen für Vielfalt von Hörstatusgruppen und für Mehrsprachigkeit in alle Richtungen. Ihr Vorschlag eines CI-Borg knüpft an Donna Haraways Cyborg-Idee insofern an, als auch diese das Ungefüge, Uneinordenbare techno-organischer Konstellationen betont hat. Die anschließende Debatte hat gezeigt, was alles noch nicht mitgedacht worden ist: Für gehörlose Kinder existieren häufig nur sehr eingeschränkte Optionen. Die Frage nach einem guten Leben ist nicht mit der Entscheidung für oder gegen ein CI beantwortet, da jede Abzweigung multiple Konsequenzen nach sich zieht: Findet z.B. ein Kind überhaupt eine Schule, um zweisprachig (gebärdend und lautsprachlich) kommunizieren zu können? Wäre es nicht längst angebracht, dass mehr
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Hörende die Gebärdensprache lernten, sodass Zweisprachigkeit von beiden Seiten kultiviert wird? Wie ist eine gemeinsame Welt von Hörenden und Nichthörenden machbar, die Vielfalt, Teilhabe, Miteinander, aber auch Streit ermöglicht? Im dritten Teil fragen wir nach neuen Erzählungen und Bildern von Körpern und Technologien. Es ist notwendig, mit Technologien, aber auch mit Narrativen und Imaginationen zu üben und zu experimentieren: Das verbindet den/die Cyborg mit dem Künstler. Christoph Asmuth nimmt uns auf eine Reise zum Frühchristentum mit. Die Menschen dort hätten definitiv „andere Körper“ als unsere besessen: einen sterblichen, der überwunden werden sollte, und einen unsterblichen, der in die Ewigkeit eingehen würde. Überraschend taucht die Frage nach der Ewigkeit des Leibes dann beim Arzt, Naturwissenschaftler und Philosophen Bernard Nieuwentijt wieder auf, der sich fragt, welcher Leib es denn sei, der auferstehe, und ob der Leib einem denn gehöre, setzte er sich doch aus Bestandteilen zusammen, die aus der Umwelt gewonnen werden. Wäre der Körper eines Menschenfressers, der sich zeitlebens von Menschen ernährt hat, sein eigener? Die beiden historischen Episoden eröffnen überraschende Perspektiven auf die – sich freilich als atheistisch gerierende – Theologie des Transhumanismus. Kenny Fries’ Erzählungen schildern lakonisch und gleichermaßen poetisch wie sich ein Leben mit Zwischengliedern (orthopädischen Schuhen, Rampen, Rollstühlen) entfaltet. Er kultiviert zudem eine Auslegung des Darwinismus, derzufolge fitness nicht generalisierbar ist: Angepasst ist der Organismus an ein je bestimmtes Milieu, und so kann auch ein ungewöhnlicher Körper, ausgestattet mit den richtigen Schuhen, überraschend „effizient“ werden: beim Klettern auf Klettersteigen und einer Kanufahrt durch den Grand Canyon. Enno Park plädiert in seinem Beitrag für die Öffnung von Technologien, für ihre Demokratisierung im Sinne der Hacker-Ethik. Um den Cyborg-Begriff kreisend erläutert er die Ethik der Body Hacker: Sie manipulieren Prothesen, Implantate und ihre eigenen Körper und sehen sich somit in der Tradition der Hacker, die ein System modifizierten, um es zu verbessern (oder um seine Schwächen zu demonstrieren). Sie möchten ein System auf kreative Art und Weise, manchmal auch nicht zielorientiert, bearbeiten, um es einerseits zu verstehen oder gegen die Gebrauchsvorschrift zu verwenden. Heutige Implantate und Prothesen sind von großem Interesse. Es handelt sich um Systeme, die programmierbar und mit Sensoren ausgestattet sind und die über menschliche Wahrnehmungsvermögen hinausgehen (z.B. Magnetismus fühlen, akustische in optische Signale verwandeln etc.). Das Künstlerduo hoelb/hoeb beschäftigt sich in ihrem Projekt training mit physischen Transformationsprozessen und Körperbildern an der Schnittstelle von Mensch, Tier und Robotik. Im Zentrum der vielschichtigen Installation stehen körperliche Verwandlungen, die aus Krankheit und Behinderung resultieren. Wenn Medizintechnik in einem Kunstraum ausgestellt wird, also außerhalb des Funktionszusammenhangs, aktiviert das auf andere Art und Weise Denken und Fühlen. Die intimen und subtilen Beziehungen zwischen Technik, Körper und Emotionen werden dadurch wahrnehmbar. Josef Barla bringt die Arbeit von hoelb/hoeb mit Fragen der nichtmenschlichen Agentialität zusammen. In der Installation werde das Zusammenspiel menschlicher und
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nichtmenschlicher Kräfte als Intra-Aktion ausgestellt. Es wird ein Ganzes sichtbar, welches in seinen Grenzen, Eigenschaften und Bedeutungen von den jeweiligen Apparaten der körperlichen Produktion (bei ihm die Orte/die Versammlung all dieser Komponenten) gemeinsam hervorgebracht wird. Er nennt die Apparate der körperlichen Produktion Orte einer „machtvollen Praxis“. Thomas Macho sieht in der Arbeit training die Möglichkeit einer Begegnung mit dem Sprachlosen, dem Kranken und damit mit der eigenen Verletzlichkeit und Sterblichkeit, die aber nicht vereinzelt, sondern gemeinsam erfahren werden kann. Das Unvermögen ist auch hier ein Existential, wird aber gleichzeitig zum Ausgangspunkt des „zusammen Redens“. Dazu trägt hoffentlich auch dieses Buch bei.
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Dank An erster Stelle geht unser herzlicher Dank an die Referent_innen der Tagung und Autor_innen des Bandes. Ein besonderer Dank gilt Gisela Staupe für die Aufnahme des Bandes in die „Schriften des Deutschen Hygiene-Museums Dresden“. Für die überaus anregenden, lebhaften und durchaus kritischen Diskussionen bedanken wir uns bei den Teilnehmerinnen und Teilnehmern an der Tagung. Sie haben ebenso wie die Vortragenden und Moderierenden für eine gleichermaßen anspruchsvolle, konzentrierte und interessierte Gesprächsatmosphäre gesorgt, die wesentlich zum Gelingen der Tagung beigetragen hat. An der professionellen Vorbereitung und Durchführung der Tagung waren zahlreiche Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter des Museums beteiligt. Ihnen allen gilt unser Dank. Johannes Schütz mit seiner in jeder Hinsicht umsichtigen Assistenz zur Tagung und zum Tagungsband gebührt an dieser Stelle ein besonders herzlicher Dank, der auch Ute Meckbach gilt. Beide unterstützten uns geduldig und sehr professionell bei der Vorbereitung der Veröffentlichung, für die ein äußerst knappes Zeitbudget zur Verfügung stand. Dieser Herausforderung hat sich auch der Böhlau Verlag gestellt. Last but not least bedanken wir uns deshalb bei dem Hersteller des Buches, das in bewährter Weise in guten Händen lag.
Artur Żmijewski: „An Eye for an Eye“, 1998. Color photograph. 100 x 100 cm
Klaus Birnstiel
Unvermögen, Technik, Körper, Behinderung. Eine unsystematische Reflexion
Die Frage nach der Bedeutung der Möglichkeit technischer Kompensation und Erweiterung körperlichen Vermögens und Unvermögens, insbesondere im Hinblick auf als behindert beschriebene Körper, führt in eine komplexe philosophische Problemlage. Zwar ist es insbesondere ein Zug der modernen Auffassung von Technik, diese als prinzipiellen Überwinder somatischer Defizite zu beschwören, und es ist ein geläufiger Strang im modernen Denken, Technik als Dispositiv zu begreifen, das menschliche Kräfte von ihren physischen Beschränkungen erlöst und damit das Menschliche an sich aus den Restriktionen der eigenen Konstitution befreit. Die tradierte abendländische Conditio-humana-Diskussion aber kolportiert schon seit ihren Ursprüngen ein Menschenbild, welches den Begriff des Menschen und des Menschlichen substantiell an die ihm zukommenden Vermögen gebunden sieht – und den Menschen und das Menschliche von Anfang an auf den Werkzeuggebrauch verweist: als Homo faber (Henri Bergson/ Max Scheler), der beständig gegen die eigene Unbehaustheit im Dasein anarbeitet, ist der Mensch notwendig auf den Gebrauch des Werkzeugs, der Technik, angewiesen.1 Seine eigene, defizitäre Grundausstattung zwingt ihn dazu, somatisches Unvermögen durch technische Vermögen auszugleichen zu suchen. Technik und ihr Gebrauch erscheinen so als innerweltliches Heilversprechen, welches sich insbesondere immer dann gibt, wenn behinderte Körperlichkeit zum Problem wird: „die Blinden sehen und die Lahmen gehen, die Aussätzigen werden rein und die Tauben hören, die Toten stehen auf und den Armen wird das Evangelium gepredigt“, lässt Jesus im Evangelium nach Matthäus (Mt 11,5) dem zweifelnden Johannes dem Täufer ausrichten. Heute aber verspricht das „Evangelium der Technik“2, vom Glaubenstext zur profanen Lektüre herabzukommen, zur Einkaufsliste und zum Lebensratgeber. Behinderte Körperlichkeit sieht sich dabei mit zunehmender Dringlichkeit vor die Frage gestellt, wie technisch optimierte Vermögen körperliche Unvermögen verändern und infrage stellen. Doch will es scheinen, dass der technikphilosophische Diskussionsstand der Moderne im Moment ihres historischen 1 Der Begriff des „homo faber“ wird zu Beginn des 20. Jahrhunderts in verschiedenen Zusammenhängen erprobt, so namentlich bei Henri Bergson 1907: L’évolution créatrice. Paris; und bei Max Scheler 1928: Die Stellung des Menschen im Kosmos. Darmstadt. 2 Karl Barth 1914: Die Hilfe (Rez.). In: Die christliche Welt Nr. 33, 774–778, hier 776.
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Verblassens, in der „breiten Gegenwart“3 vielfältigster Handlungsoptionen und schwacher normativer Postulate, noch immer kaum über das Plateau des 18. und 19. Jahrhunderts hinausreicht. Weiterhin wird Technik als anthropologisch motivierte Defizitkompensation begriffen, und noch immer ruht das Nachdenken über die Technik einem philosophisch kruden und epistemologisch armen Anthropologem vom Menschen als einem Mängelwesen auf – dessen innerweltliche Perfektibilität qua Technik gleichwohl tröstlicherweise als in Reichweite liegend ausgegeben wird.4 Die Spuren dieser Diskussionen führen zunächst in das 19. Jahrhundert und dann weit dahinter zurück. So schreibt etwa der von einem bestimmten Filiationszweig der Technik- und Medienphilosophie zum Gründervater stilisierte Ernst Kapp 1877 in seiner grundlegenden Arbeit über den Gebrauch von Werkzeugen und die Entwicklung der Technik:5 „So stehen wir nunmehr vor dem Menschen, wie er sich aus dem ursprünglichen Zustand unablässiger Vertheidigung gegen blutdürstiges Raubgethier zu Angriff und Vertilgung in Stand setzt durch Anwendung von mit eigener Hand gefertigten, die natürliche Arm- und Handkraft mächtig steigernden Vorrichtungen und Werkzeugen.“6 Der Werkzeuggebrauch ist es, der das esse humanum als solches kenntlich macht, und erst mit ihm beginnt die eigentliche, vom Evolutionären ins Historische voranschreitende Menschheitsgeschichte: Hier ist die eigentliche Schwelle unserer Untersuchung, nämlich der Mensch, der mit dem ersten Geräthe – seiner Hände Werk – sein historisches Probestück ablegt, dann überhaupt der historische, im Fortschritt des Selbstbewusstseins befindliche Mensch. Dieser ist der einzig sichere Ausgangspunkt aller denkenden Betrachtung und Orientierung über die Welt. Denn das absolut Gewisseste für den Menschen ist zunächst nur er selbst.
3 Die Diagnose von der post-historischen Zeit als einer breiten Gegenwart entfaltet Hans Ulrich Gumbrecht 2010: Unsere breite Gegenwart. Berlin. 4 Nicht nur die philosophische Anthropologie des 18. Jahrhunderts und der Hochmoderne hat den Mängelwesentopos zur Grundfigur ihres Denkens kultiviert. Er bestimmt auch und vor allem das philosophisch-anthropologische Denken der (west)deutschen Nachkriegszeit – welches seine grundlegenden Bestimmungen aus der Diskurslage der Zwischenkriegszeit und des Zweiten Weltkrieges gewinnt: So findet sich die Bestimmung des Menschen über den ihm zugesprochenen Mangel nicht nur bei Helmut Plessner (Helmut Plessner 1928: Die Stufen des Organischen und der Mensch. Einleitung in die philosophische Anthropologie. Berlin, Leipzig), sondern auch bei Arnold Gehlen (Arnold Gehlen 1940: Der Mensch. Seine Natur und seine Stellung in der Welt. In: Arnold Gehlen Gesamtausgabe. Hg. von Karl-Siegbert Rehberg. Bd. 3 (zwei Teilbände), Frankfurt a.M., 1983) und, in nachkriegszeitlich ernüchterter und deutlich weniger strikter Form, in diversen Arbeiten von Odo Marquard, wobei Marquard selbst die Rolle der philosophischen Anthropologie im Gedankenhaushalt der Moderne kritisch reflektiert, vgl. Odo Marquard 1973: Zur Geschichte des philosophischen Begriffs „Anthropologie“ seit dem Ende des achtzehnten Jahrhunderts [ED 1965]. In: Ders.: Schwierigkeiten mit der Geschichtsphilosophie. Frankfurt a.M., 122–144. 5 Vgl. Friedrich A. Kittler 2000: Eine Kulturgeschichte der Kulturwissenschaft. München, 203 ff. 6 Ernst Kapp 1877: Grundlinien einer Philosophie der Technik. Zur Entstehungsgeschichte der Cultur aus neuen Gesichtspunkten. Braunschweig, 39.
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Die Mitte einnehmend zwischen den Zielen der Forschung, den geologischen Anfängen und der teleologischen Zukunft, ist der Mensch der feste Punkt, von dem aus das Denken nach rückwärts und nach vorwärts die Grenzen des Wissens erweitert und zu dem es aus den Verirrungen subjectiver Ausdeutung solcher Gebiete, welche jeder Forschung unzugänglich sind zu erneuter Gesundung zurückkehrt.7
Der werkzeugmachende und -gebrauchende, der technische Mensch also ist das Maß aller Dinge, mit dem sich die Dimensionen seiner eigenen Entwicklung allererst bemessen lassen: So lautet Kapps epistemologisches Credo, von welchem aus er ansetzt, die technische Entwicklung auf ihren philosophischen Begriff zu bringen. Im Fortgang der Darlegungen entwickelt Kapp seine berühmt gewordene These von der „Organprojection“8, wonach technische Dispositive organförmig gegebene menschliche Vermögen gleichsam externalisieren und dadurch ihre beklagenswerten Mängel kompensieren. So weit, so bekannt. Kapps Argument lässt sich aber, so möchte ich nahelegen, nicht nur verstehen als Variation des endlos wiederholten abendländischen Themas vom Mängelwesen, das der Mensch doch sei, sondern recht eigentlich als Anthropologie der Behinderung. Denn für Kapp sind menschliche Körper, gleichgültig ob versehrt oder unversehrt, offenkundig unzureichende somatische Arrangements, biologisch schlicht nicht hinreichend ausgestattet, um ihre Insassen vor den Anbrandungen der Lebenswelt adäquat zu beschützen. Erst die Entwicklung technischer Werkzeuge, Verfahren und Dispositive stellt für Kapp so etwas wie Chancengleichheit und schließlich die Siegchance im darwinistischen Daseinskampf her: Mensch gegen Wetter, Mensch gegen Landschaft, Mensch gegen tierische Mitbewohner. – Wer da gewinnen will, wer die Schranken seiner missgünstigen biologischen Ausstattung hinter sich lassen und die Begrenztheit seiner Behinderungen vergessen machen will, braucht Technik als prothetische Agentur, die ihm beständig unterstützend zur Seite springt. Von ‚Behinderung‘ spricht Kapps extremistisches Glaubensbekenntnis der Technik nicht; das Wort würde auch nicht dem Sprachgebrauch im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts entsprechen. Doch drängt sich der uns geläufige Begriff geradezu auf, bedenkt man Kapps Anthropologie recht: Schließlich ist menschliche Existenz für ihn nicht der je individuellen Bedrohung gradueller Behinderung – angeboren oder erworben – ausgesetzt, nein, sie ist an und für sich, a priori und auf immer, Behinderung: ärgerliche somatische Beschränkung der an sich unbegrenzten menschlichen Vermögen zu freier Entfaltung unumschränkt rationaler Geistigkeit, beständige Erinnerung an das himmelschreiende Unvermögen, welches menschliches Dasein von Anfang bis Ende bedeutet. Diese kursorische Lektüre von Kapps technikphilosophischem Klassiker ist sicherlich keine gerechte. Doch geht es hier nicht darum, Kapps wirkmächtige OrganprojektionsThese noch einmal zu wiederholen oder umfassend zu kritisieren. Hinzuweisen ist 7 Kapp 1877: Grundlinien einer Philosophie der Technik, 39. 8 Ebd., passim. Vgl. Kittler 2000: Eine Kulturgeschichte der Kulturwissenschaft, 203–214.
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lediglich auf die bei Kapp sichtbar werdende – an sich vielleicht ebenfalls nicht sonderlich überraschende – intrikate Verbindung technikphilosophischer Grundfiguren mit der alteuropäischen Auffassung des Menschen als eines Mängelwesens, eines Behinderten also, der technischer Unterstützung bedarf. Jahrhunderte-, ja eigentlich jahrtausendelang entwirft die europäische Anthropologie ein Bild von ἄνθρωπος als einer wesenhaft unterbestimmten Figur, deren eigentliche Qualität, menschlich zu sein, allererst erhellt aus den Vermögen, über die jener ἄνθρωπος (man darf mit großer Sicherheit annehmen, dass es sich um einen Mann handelt), verfügt: das Vermögen der Zeugung, das Vermögen des aufrechten Gangs, das Vermögen der Sprache, das Vermögen des Werkzeuggebrauchs usw. Mit diesen Vermögen einher geht die Gefahr ihrer Abwesenheit, das Risiko eines Unvermögens also, welche das beständig Prekäre menschlicher Existenz ausmacht. Technik erscheint in dieser Anthro pologie der Behinderung – oder, vielleicht besser gesagt, in dieser behinderten Anthropologie – als ebenso probates wie einziges Mittel, dem beständigen Rückfall in das Dunkel des Unvermögens zu wehren. Insbesondere im Zusammenhang mit tatsächlich behinderter Körperlichkeit wird Technik damit von einer materiellen oder instrumentellen Frage zu einer Frage des Geistes und der Lebensphilosophie. Während die moderne philosophische Anthropologie Max Schelers, Helmut Plessners oder Arnold Gehlens die Mängelwesenhypothese zur Grundbestimmung menschlichen Daseins nobilitiert,9 begreift etwa der Pionier der deutschen Behindertenfürsorge Hans Würtz das Problem der Behinderung 1932 als Aufgabe des Willens, wenn er seiner Darlegung der „Krüppel=Probleme der Menschheit“ den folgenden, bei Epiktet entlehnten „Leitspruch“ voranstellt: „Die Krankheit ist ein Hindernis des Körpers, aber nicht des Willens. Eine Lähmung ist ein Hindernis des Schenkels, aber nicht des Willens.“10 Aus Mängelwesen also werden Willensmenschen – und welche Mittel böten sich diesen an, ihre behinderten Vermögen zu optimieren, ihr Unvermögen zu überwinden, wenn nicht die Mittel der Technik?
I. Technik der Vermögen / Vermögen der Technik Diese große Erzählung von menschlichem Vermögen und Unvermögen bedürfte keines weiteren Kommentars, ja nicht einmal der gerafften Nacherzählung, würde ihr weltliches Substrat, auf das sie sich bezieht, nicht gegenwärtig einen radikalen Wandel erfahren, welcher die Bedingungen der Möglichkeit einer solchen Erzählung gehörig durcheinanderwirbelt. Weder hat die moderne Technik seit ihren Anfängen auch nur ansatzweise das ihr unterstellte Versprechen eingelöst, menschliches Unvermögen in ausreichender 9 Vgl. Fußnote 4. 10 Hans Würtz 1932: Zerbrecht die Krücken. Krüppel = Probleme der Menschheit. Schicksalsstiefkinder aller Zeiten und Völker in Wort und Bild. Leipzig, 3.
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Weise zu kompensieren, noch scheint, und dieser Punkt ist gravierender, ihre innere Zieldrift überhaupt darin zu bestehen, Unvermögen zu reparieren und Vermögen zu optimieren. Gegenwärtige Technik füllt zunehmend weniger die Lücken in der anthropologischen Grundausstattung an sich selbst verzweifelnder Mängelwesen, sondern stellt dieser Grundausstattung neue, ehedem unvorstellbare sensorische Möglichkeiten zur Seite, gesellt den hergebrachten menschlichen Erfahrungsräumen neue bei und erschließt und bewirtschaftet grundsätzlich andere, neuere Vermögen als die bisher bekannten. Ist sie tatsächlich als Kompensation apriorischer Behinderung zu denken? Ist das Unvermögen behinderter Körper ihr Muster- und Modellfall? Oder sind behinderte Körper und die Verbindungen, die sie mit technischen Dispositiven eingehen, nur spezifische Variationen auf den übergreifenden, wortwörtlich zu verstehenden IkarusKomplex, der menschliches Dasein in der Gegenwart bestimmt?11 Die prophetischen Reden der 90er Jahre des vergangenen Jahrhunderts, in welchen das ehedem analoge Publikum auf die Verheißungen, die Entfremdungen und die Verwerfungen einer ‚digitalen Revolution‘ eingestimmt werden sollte, sie sind in der multimodal vernetzten technischen Gegenwart mittlerweile beinahe verstummt. Angesichts der unhintergehbaren Omnipräsenz netzbasierter elektronischer Anwendungen tritt die Technikphilosophie heute in einen Denkmoment ein, in dem technische Innovationen nicht mehr als Versprechen einer zu gewinnenden Zukunft erscheinen, sondern als einfache gegenwärtige Gegebenheit.12 Aus der menschheitsgeschichtlichen Prophetie der technischen Erlösung wird deshalb die Frage nach der alltäglichen Lebenskunst – einem technikphilosophischen Ethos also, welches unser Sein in der technischen Welt beschreibt, bestimmt und begleitet. Der Übergang zur neuen, nachindustriellen technischen Welt wird in dieser Hinsicht bereits vielfach konstatiert und kommentiert. Insbesondere rücken dabei die sich verändernden Verhältnisse von Technik und Körper in den Blickpunkt. In einem vor wenigen Jahren auch in deutscher Übersetzung erschienenen Essay setzt der französische Philosoph Michel Serres den „kleinen Däumlingen“ der jüngeren Generation, die ohne Mühe und wie selbstverständlich mit elektronischer Apparatur hantieren, ein ebenso erstauntes wie bewunderndes Denkmal: „Ohne daß wir dessen gewahr wurden“, schreibt Serres, „ist in einer kurzen Zeitspanne, in jener, die uns von den siebziger Jahren trennt, ein neuer Mensch geboren worden. Er oder sie hat nicht mehr den gleichen Körper und nicht mehr dieselbe Lebenserwartung, kommuniziert nicht mehr auf die gleiche Weise, nimmt nicht mehr dieselbe Welt wahr, lebt 11 Mit ‚Ikarus-Komplex‘ meine ich nicht die (veraltete) psychologische Diagnose eines überambitionierten Charakters und damit einer Form von narzisstisch-egozentrischer Persönlichkeitsstörung, sondern die einfache Tatsache, dass gegenwärtiges menschliches Dasein in stets zunehmender Weise in Verbindung tritt mit technischen Dispositiven der Optimierung einerseits, der existentiellen Gefährdung andererseits. 12 Vgl. zum Folgenden auch Klaus Birnstiel 2016: Das Wahr-werden der technischen Welt oder Prolegomena zur Philosophie des iGestells. In: Marie-Hélène Adam, Szilvia Gellai, Julia Knifka (Hg.): Technisierte Lebenswelt. Über den Prozess der Figuration von Mensch und Technik. Bielefeld, 259–276.
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nicht mehr in derselben Natur, nicht mehr im selben Raum.“13 Nimmt man Serres’ Überlegungen so ernst, wie sie es verdienen, dann wird es zunehmend fraglich, technische Dispositive als schlichte Verbesserungen menschlicher Grundausstattung und die Entwicklung der Technik als den bloßen Versuch der Befriedigung gegebener, aber mangels adäquater somatischer Vermögen unerfüllter Bedürfnisse zu sehen. Welches Organ, welcher Sinn wird denn ‚erweitert‘, wenn Menschen Stunden und Tage in den Weiten elektronischer Netzwerke, künstlicher Spielumgebungen und virtueller Realitäten verbringen? Sind diese Erfahrungen nicht vielmehr so neu, so radikal anders, dass mit ihrem Auftreten ebenso neue, radikal andere Vermögen erscheinen, die nicht zurückzurechnen sind auf die vermeintlich natürlich gegebene anthropologische Grundausstattung? ‚Erweitert‘ etwa ein direkt in die Hörschnecke eingebrachtes und mit den entsprechenden Nerven verbundenes Cochlea-Implantat14 die beschränkten Hörfähigkeiten eines Menschen mit angeborener oder erworbener Hörbeeinträchtigung? Oder führt es nicht zu einem jeweilig vollkommen neuen Welteindruck und Seinsgefühl, das für Normalhörige allenfalls in metaphorisch-bildlicher Rede anzunähern ist? Ist die Maschine, welche für die Luft auf den muskelschwachen Stimmbändern des Verfassers dieser kleinen Besinnungsübung sorgt, wirklich ein ‚Be-Atmungsgerät‘, welches einfach eine ausgefallene Organfunktion kompensiert, oder ist es nicht vielmehr so, dass Mensch – Birnstiel – und Maschine – Typ Elisee 150, Hersteller Saime, frühes 21. Jahrhundert – zusammen ein Drittes geben, die Einheit einer systemischen Differenz von Mensch und Maschine also zugleich garantieren und übersteigen? Ist es überhaupt sinnvoll, an der althergebrachten Redeweise von Vermögen, Unvermögen und Technik festzuhalten? Und weiter: Spielt Unvermögen in der technischen Gegenwart und Zukunft überhaupt noch irgendeine Rolle, sei es als ärgerliche Tatsache, sei es als erkenntnisleitende Kategorie? Ist ‚Behinderung‘ und ihr Verhältnis zur Technik überhaupt weiterhin eine als offen zu bezeichnende Frage menschlicher Existenz? Oder rechnet die Gegenwart nicht längst mit ihrer endgültigen, über-menschlichen Überwindung durch die Technik?
II. Anthropologie der Vermögen Die Kaskade an Fragen, welche die philosophische Berührung mit der technischen Gegenwart auslöst, lässt es sinnvoll erscheinen, einige Schritte zurückzugehen – und sich dann wieder vorwärtszutasten. Die Technikphilosophie Ernst Kapps und anderer, wie sie die Hochmoderne ausgeprägt hat, sieht den Menschen offensichtlich gestellt in eine Bedingung generell beschränkter Vermögen. Diese grundsätzlich beschränkten 13 Michel Serres 2013: Erfindet euch neu! Eine Liebeserklärung an die vernetzte Generation [EA 2012]. Aus dem Französischen von Stefan Lorenzer, Berlin, 15. 14 Vgl. dazu die Aufsätze von Ulrike Bergermann, Beate Ochnser, Jürgen Tchorz und Enno Park in diesem Band.
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menschlichen Vermögen werden durch die technischen Dispositive, derer sich der Mensch im Lauf seiner Entwicklung zunehmend bedienen kann, optimiert. Menschliches Unvermögen erscheint in dieser Hinsicht einfach als Mangel an Vermögen, dem auf die eine oder andere Weise prothetisch beizukommen ist. Unvermögen als solches ist in dieser Perspektive dem menschlichen Dasein also eigentlich nicht konstitutiv, sondern lässt sich lediglich als abgeleiteter Begriff begreifen – abgeleitet eben aus dem Mangel an eigentlich vorhandenem Vermögen. Ihren historischen Einsatzpunkt findet diese Anthro pologie der Vermögen in der griechischen Antike. Im neunten Buch, dem Buch Θ der Metaphysik begreift Aristoteles menschliche und andere Vermögen als bestimmt von einem Wechselverhältnis von Potentialität und Aktualisierung. Ein gegebenes Vermögen ist als Potential auch dann gegeben, wenn es im Moment nicht aktualisiert wird. Die Aktualisierung verändert zwar seine Erscheinungsform in der Welt, nicht aber seinen Begriff. Unvermögen ist in dieser Lesart schlicht als Entgegensetzung zu verstehen, als Wegnahme von Vermögen: καὶ ἡ ἀδυναμία καὶ τὸ ἀδύνατον ἡ τῇ τοιαύτῃ δυνάμει ἐναντία στέρησίς ἐστιν, ὥστε τοῦ αὐτοῦ καὶ κατὰ τὸ αὐτὸ πᾶσα δύναμις ἀδυναμία. (Aristoteles Met. IX 1 1046a) Unvermögen und unvermögend ist die einem solchen Vermögen entgegengesetzte Privation; jedes Vermögen ist ein Unvermögen für dasselbe und hinsichtlich desselben.15
Damit ergibt sich eine quasi symmetrische Anthropologie von Vermögen und Unvermögen; beide sind begrifflich vollständig voneinander abhängig und bestimmen sich wechselweise. Betrachtet man sie materialiter, das heißt ihrem Gehalt nach, konzentriert sich die aristotelische Anthropologie im Weiteren allerdings beinahe ausschließlich auf die Seite des Vermögens: Interessant am Gehör ist ihr selbstverständlich das Vermögen des Hörens in all seinen Einzelheiten, nicht das Unvermögen des Nichthörens; dieses bedarf keiner weiteren differenzierenden Ergründung. Die Einzelheiten der aristotelischen Seelen- und Vermögens-Anthropologie können hier nicht weiter verfolgt werden.16 Festzuhalten ist aber, dass die aristotelische Grundlegung der Anthropologie der Vermögen und des Unvermögens über zwei Jahrtausende hinweg wirkmächtig geblieben ist: Entsprechende Reflexe finden sich in der christlichen Anthropologie der Patristik, bei Thomas von Aquin, bei Spinoza und anderen. Doch sind es erst die experimentellen Arrangements der Anthropologie in der klassischen Episteme des 18. Jahrhunderts, in denen auf der Basis eines robusten wissenschaftlichen Positivis15 Die Übersetzung folgt Dirk Setton 2012: Unvermögen. Zur Potentialität der praktischen Vernunft. Zürich, 7. 16 Vgl. aber Ludger Jansen 2002: Tun und Können. Ein systematischer Kommentar zu Aristoteles‘ Theorie der Vermögen im neunten Buch der „Metaphysik“. Frankfurt a.M. sowie Christoph Hubig 2006: Die Kunst des Möglichen I. Grundlinien einer dialektischen Philosophie der Technik. Technikphilosophie als Reflexion der Medialität. Bielefeld, 48–53.
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mus versucht wird, die philosophische Anthropologie der Vermögen in eine praktische Wissenschaft zu verwandeln.17 Es sind Denker wie der französische Geistliche und Philosoph Étienne Bonnot de Condillac (1740–1780), die sich um eine möglichst vollständige Aufzählung und Erläuterung der menschlichen Vermögen bemühen, um das Wesen des Menschen in enzyklopädisch explikativer Vollständigkeit zu beschreiben. Besondere Aufmerksamkeit erhalten dabei einerseits die verschiedenen Vermögen der sinnlichen Wahrnehmung, andererseits die geistigen Vermögen der Erkenntnis; ein zusätzlich privilegierter Platz kommt dem Sprachvermögen zu, welches die spezifische Differenz des Menschen zu den anderen Bewohnern der Welt ausmacht. Um der Frage nachzuspüren, ob es diesseits der ihm zukommenden Vermögen und Unvermögen einen stabilen Kern des Menschlichen gibt – Descartes hatte diesen in der absoluten Gewissheit des Selbstbewusstseins als einem kognitiven Vermögen gesehen –, sinniert Condillac über die menschlichen Vermögen in additiven und subtraktiven Versuchsanordnungen: Was passiert, wenn man einem Menschen den Sehsinn nimmt? Wie nimmt jemand wahr, der nur über den Geruchssinn verfügt? Ändert sich dadurch etwas am menschlichen Grundvermögen der Erkenntnis, und wenn ja, an der Bestimmung des Menschlichen an und für sich? Als hypothetischer Materialist des 18. Jahrhunderts entwickelt Condillac in seinem 1754 erstmals erschienenen „Traité des sensations“ hierzu das Gedankenexperiment einer „Statue“, der er nach und nach Sinnesvermögen zu- und wieder abspricht, um von dort aus auf die Qualität ihrer Erkenntnisvermögen zu reflektieren: La statue bornée à l’odorat, ne peut connoître que des odeurs Les connaissances de notre statue bornée au sens de l’odorat, ne peuvent s’étendre qu’à des odeurs. Elle ne peut pas plus avoir les idées d’étendue de figure, ni de rien qui soit hors d’elle, ou hors de ses sensations, que celles de couleur, de son, de saveur. § 1. Die auf den Geruchssinn beschränkte Statue kann nur Düfte kennen Wenn unsere Statue auf den Geruchssinn beschränkt ist, so können sich ihre Kenntnisse nur auf Düfte erstrecken. Sie kann ebensowenig Vorstellungen von Ausdehnung, Gestalt und etwas außer ihr oder ihren Empfindungen Seiendem haben, wie von Farbe, Ton, Geschmack.18
17 Auch die Geschichte der Anthropologie des 18. Jahrhunderts kann hier nur in Schlagworten aufgerufen werden. Zur Geschichte der Disziplin im engeren Sinn vgl. Mareta Linden 1976: Untersuchungen zum Anthropologiebegriff des 18. Jahrhunderts. Bern, Frankfurt a.M. u.a. sowie Marquard 1973: Zur Geschichte des philosophischen Begriffs „Anthropologie“ seit dem Ende des achtzehnten Jahrhunderts (wie Fußnote 4). Zur epistemischen Disposition der Anthropologie im 17. und 18. Jahrhundert vgl. Michel Foucault 1966: Les mots et les choses. Une archéologie des sciences humaines. Paris, passim. 18 Étienne Bonnot de Condillac 1984: Traité des sensations [1754 u.ö.]. Paris, 15. Die Übersetzung folgt Étienne Bonnot de Condillac 1983: Abhandlung über die Empfindungen. Auf der Grundlage der Übersetzung von Eduard Johnson neu bearbeitet, mit Einleitung, Anmerkungen und Literaturhinweisen versehen und herausgegeben von Lothar Kreimendahl. Hamburg, 1.
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Mutet dieser apodiktisch vorgebrachte Vermögenspositivismus zunächst arg reduktiv an, so leitet Condillac aus seiner hypothetischen Versuchsanordnung doch eine inte ressante Anschlusshypothese ab. Denn aus der Beschränktheit der Sinnesvermögen seiner „Statue“ ergibt sich in Condillacs Gedankenexperiment eine korrespondierende Zunahme anderer Vermögen, hier namentlich der „Einbildungskraft“: Son imagination plus active que la nôtre Mais on a lieu de présumer que son imagination aura plus d’activité que la nôtre. Sa capacité de sentir est toute entière à une seule espèce de sensation, toute la force de ses facultés s’applique uniquement à des odeurs, rien ne la peut distraire. Pour nous, nous sommes partagés entre une multitude de sensations et d’idées, dont nous sommes sans cesse assaillis ; et ne conservant à notre imagination qu’une partie de nos forces, nous imaginons foiblement. § 31. Ihre Einbildungskraft ist tätiger als die unsere Allein man darf annehmen, dass ihre Einbildungskraft tätiger sein wird als die unsere. Ihre Empfindungsfähigkeit ist ganz und gar auf eine einzige Art von Empfindungen gerichtet, alle Kraft ihrer Fähigkeiten wendet sich einzig den Düften zu, nichts kann sie zerstreuen. Wir dagegen sind zwischen einer Menge von Empfindungen und Vorstellungen geteilt, von denen wir beständig bestürmt werden; und da wir für unsere Einbildungskraft nur einen Teil unserer Kräfte behalten, imaginieren wir nur schwach.19
Condillacs Arithmetik der Vermögen operiert also in subtraktiven und additiven Modi. In der Logik der Wegnahme der Vermögen erprobt sie eine reductio ad essentiam des Menschlichen – und kommt zu dem Schluss, dass eine solche Reduktion das Menschliche verfehlt: Die Essenz des Menschlichen bestimmt sich gerade über die Vermögen, die ihm zukommen oder nicht, und diese Vermögensausstattung ist nicht vollständig stabil, sondern von einer Fülle einander korrespondierender Einflussfaktoren abhängig, welche die Form der je individuell vorhandenen Vermögen bis zu einem bestimmten Grad als plastisch erscheinen lassen. Die europäische Hochaufklärung bleibt diesen Konzeptionen zunächst verpflichtet; in einer endlosen Reihe anthropologischer Rechnungen bestimmt sie das Menschliche beziehungsweise die Gradationen des Menschlichen, die verschiedenen Klassen von Lebewesen zukommen, je nachdem, über welche Vermögen sie verfügen oder nicht. Der Diskurs betrifft den Menschlichkeitsgrad der Monstren und der Verrückten (sc. der Behinderten), vor allem aber der höherentwickelten Tiere, der außereuropäischen Völker und der Frauen. Je nachdem, welche Vermögen ihnen zugeschrieben werden können, sind sie auf der anthropologischen Tafel näher oder weniger nah an den Mann-Mensch heranzurücken, und daraus bestimmt sich ihre Schutzwürdigkeit beziehungsweise ihr bürgerlicher Status. Vermögensanthropologie ist 19 Condillac 1984: Traité de sensations, 30 f.; Condillac 1983: Abhandlung, 15.
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eine intellektuelle Obsession des 18. Jahrhunderts, der bevorzugte Ort reflexiven Selbstbezugs dieser Zeit. In seinem berühmten „Lettre sur les aveugles, à l’usage de ceux qui voient“ (Brief über die Blinden, zum Gebrauch für die Sehenden) entfaltet Denis Diderot die reduktive Logik der Vermögen zunächst ganz ähnlich wie Condillac – um sie ganz am Ende implodieren zu lassen. Diderot geht dabei anfangs von der gängigen Beobachtung aus, dass Menschen, denen das Sehvermögen fehlt, ein erhöhtes taktiles Vermögen entwickeln. Wie bei Condillac muss die Nicht-Gegebenheit eines Vermögens aber auch Kosten haben, die in der anthropologischen Buchführung nicht unterschlagen werden dürfen. Anders als Condillac bedient sich Diderot aber nicht einer simplen Additions- und Subtraktionsrechnung, sondern einer doppelten Buchführung:20 in Diderots Darstellung korrelieren sinnliche Vermögen mit moralischen; was auf der einen Seite als Mangel zu Buche schlägt, ist auf der anderen Seite ebenfalls anzuschreiben, und zwar, wie Diderot erst spät bemerkt, mit umgekehrtem mathematischem Vorzeichen. Aus dem mangelnden Sehvermögen resultiert für Diderot zunächst zwangsläufig ein mangelndes Mitleidsvermögen der entsprechenden Person – welches selbst wiederum wesentliches Merkmal von Menschlichkeit ist. Diderots Argument lautet so: Comme de toutes les démonstrations extérieures qui réveillent en nous la commisération et les idées de la douleur, les aveugles ne sont affectés que par la plainte; je les soupçonne en général d’inhumanité. […] Nous-mêmes, ne cessons-nous pas de compatir, lorsque la distance ou la petitesse des objets produit le même effet sur nous, que la privation de la vue sur les aveugles ? Tant nos vertus dépendent de notre manière de sentir, et du degré auquel les choses extérieures nous affectent! […] Ah! Madame, que la morale des aveugles est différente de la nôtre? Da von allen Kundgebungen, die in uns Mitleid und Ideen über den Schmerz hervorrufen, allein die Klage einen Eindruck auf die Blinden machen kann, vermute ich, dass Blinde im allgemeinen inhuman sind. […] Hört unser Mitleid nicht ebenfalls auf, sobald die Entfernung oder Kleinheit der Gegenstände auf uns dieselbe Wirkung ausübt wie der Mangel des Gesichtssinnes auf die Blinden? Sosehr sind unsere Tugenden abhängig von unserer Empfindungsweise und von dem Grad, in dem die äußeren Dinge uns affizieren! […] Ach Madame, wie verschieden ist die Moral der Blinden doch von der unsrigen!21
20 Zur Geschichte der Buchführung als epistemisches Dispositiv vgl. Jane Gleeson-White 2012: Double Entry: How the Merchants of Venice Created Modern Finance. New York; sowie Jacob Soll 2014: The Reckoning. Financial Accountability and the Making and Breaking of Nations. Philadelphia. 21 Denis Diderot 1978: Lettre sur les aveugles a l’usage de ceux qui voient. [EA 1749] In: Oeuvres complètes de Diderot. Tome IV: Le nouveau Socrate. Idées II. Édtion critique et annotée. Présentée par Yvon Belaval, Robert Niklaus, Jacques Chouillet, Raymond Trousson, John S. Spink avec les soins de Jean Varloot. Paris, 15–89, hier 27. Die Übersetzung folgt Denis Diderot 2013: Philosophische Schriften. Herausgegeben von Alexander Becker. Berlin, 21 f.
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Diderots Korrespondenztheorie der Vermögen verknüpft sinnliche Vermögen also auf das Engste mit moralischen Vermögen. Die gesamte philosophische Anthropologie des 18. Jahrhunderts basiert auf solchen Korrespondenzen. Die Analogien werden dabei dem menschlichen Körper selbst eingeschrieben: Baumgarten, Herder, Kant und andere entwerfen eine Anthropologie, in der die ‚unteren Vermögen‘ tatsächlich den unteren Körperregionen zugeordnet sind, während die ‚oberen Vermögen‘ den oberen Körperregionen zugeschrieben sind:22 Sinne
Anthropologie
menschliche Vermögen
Seinsbereiche
höhere: Sehen, Hören
Kopf
höhere: Wille, Vernunft, Urteilskraft, Gewissen, Moral, Erkenntnis, Verstand, Genie*, Witz, Scharfsinn
Geisterreich
niedere: Schmecken, Riechen, Tasten
Herz
niedere: Phantasie, Einbildungskraft, Wille*, Seelenempfindungen, Affekte, Gefühl, Leidenschaften, Neigungen, Triebe, Instinkt
Mensch (Misch-& Sonderklasse)
Tierreich
Lebenskraft
Reiz
Pflanzenreich
Elementarreich
Motorik: „wandern“
* menschliche Vermögen die im oberen und im unteren Bereich lokalisiert werden
Schema: Anthropologie der oberen und unteren Vermögen23
Soweit das wissenschaftliche Tableau. Doch kehren wir für einen kurzen Moment zurück zu Denis Diderot. Schließlich bleibt dessen Einschätzung des Humanitätsdefizits der Blinden nicht sein letztes Wort in dieser Sache. In einem etliche Jahrzehnte später verfassten Nachtrag zum Brief über die Blinden, in dem er sich vor allem auf Mélanie de 22 Auch hier müssen erneut kursorische Hinweise genügen, so zunächst auf Alexander Gottlieb Baumgarten: Ästhetik (1750–1758). Lateinisch-deutsch. Übersetzt, mit einer Einführung, Anmerkungen und Registern herausgegeben von Dagmar Mirbach. 2 Bände. Hamburg 2007. Baumgarten entwickelt seine Grundlegung der philosophischen Ästhetik konsequent aus den vermögensanthropologischen Grundannahmen seiner Zeit. Herder (Johann Gottfried Herder: Ideen zur Philosophie der Geschichte der Menschheit. 4 Bde., 1784–1791, vgl. Herders Sämmtliche Werke. Hg. von Bernhard Suphan. Bd. 5, Berlin 1891) argumentiert ähnlich, während Kants Systematisierungen die philosophische Anthropologie endgültig zur akademischen Disziplin erheben, vgl. Immanuel Kant 1907: Anthropologie in pragmatischer Hinsicht. Sämtliche Werke Bd. 7, Berlin. 23 Für die Erstellung der Grafik danke ich Jelena Engler. Sie stellt eine überarbeitete Version der Darstellung von Volker Hoffmann dar, dem ich für die freundliche Erlaubnis zur Übernahme der wesentlichen Gehalte danke, vgl. https://volker.hoffmann.userweb.mwn.de/Schema_Vermoegensmanderl. pdf. Foto: Werner Lieberknecht.
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Salignac, eine Nichte von Sophie Volland, die seit ihrem zweiten Lebensjahr erblindet war, bezieht, korrigierte Diderot jedoch seine frühere Einschätzung, dass „Blinde im allgemeinen inhuman sind“ – schließlich beweisen die Vernünftigkeit und das Feingefühl der jungen Dame das Gegenteil: „Elle avait un grand fonds de raison, une douceur charmante, une finesse peu commune dans les idées, et de la naïveté.“24 Mélanie de Salignac war bereits 1765 oder 1766 in ihren frühen Zwanzigern verstorben. Dass Diderot noch 1782 auf ihre Geschichte zurückkommt, mag bekräftigen, wie sehr ihn die Begegnung mit ihr beeindruckt hatte. Über mehrere Seiten hinweg schildert Diderot das mathematisch-geometrische Talent Mélanie de Salignacs und ihre außergewöhnliche Bildung und Begabung, zu der die moralische Qualität wie selbstverständlich hinzugerechnet wird. Die persönlichen Einzelheiten der Faszination des zum Zeitpunkt der Niederschrift des Nachtrags über siebzigjährigen Diderot können hier außer acht bleiben. Diderots implizite philosophische Leistung im ‚Nachtrag‘ aber liegt darin, menschlich-moralische Vermögen von körperlichen Vermögen zu trennen, also einer diskursiven Entkoppelung das Wort zu reden, welche die körperlichen Vermögen deskriptiver Rede zugänglich macht, die moralischen Vermögen hingegen der (gelockerten) normativen Rede unterwirft. Der gesamte (Rechts-)Gleichheitsdiskurs der europäischen Hoch- und Spätaufklärung, wie er sich zeitgenössisch in den politischen Postulaten der Amerikanischen und der Französischen Revolution niederschlägt, findet sich in Diderots Anthropologie der Blindheit und anderer Behinderung wieder. Das Nachdenken über die Technik aber schließt auf erstaunliche Weise an die moralisch konnotierte Anthropologie der Körperzonen und die ihr aufruhende Vermögenstheorie an, die mit dem Schaffen der französischen Aufklärer wie Condillac und Diderot eigentlich an ihr inneres Ende gelangt war. Bemerkenswerterweise lässt sich beobachten, dass sich der technik optimistische Fortschrittsglaube der europäischen und nordamerikanischen Moderne aus den Schichtungen und Korrespondenzverhältnissen der älteren Körperzonenanthro pologie herleitet: In den klassisch gewordenen Sozial- und Technikutopien des 18. und des 19. Jahrhunderts übernimmt Technik nicht nur die niederen Arbeiten der wirtschaftlichen und physischen (i.e. sexuellen) Reproduktion; sie setzt darüber hinaus die oberen Vermögen in nicht gekannter Weise frei – und ermöglicht dadurch intellektuelle, philosophische und künstlerische Höchstleistungen.25 Ihre Anhänger träumen den Traum einer auf ewig nicht behinderten Anthropologie, in welcher das Unvermögen keine
24 Diderot 1978: Appendice, 98. 25 Vgl. Matthias Löwe 2012: Idealstaat und Anthropologie. Problemgeschichte der literarischen Utopie im späten 18. Jahrhundert. Berlin, New York. Zu den Wechselverhältnissen von Anthropologie und Geschichtsphilosophie vgl. außerdem Lucas Marco Gisi 2007: Einbildungskraft und Mythologie. Die Verschränkung von Anthropologie und Geschichte im 18. Jahrhundert. Berlin, New York, Kap. 6: Geschichtsphilosophie und Anthropologie, 318–91; sowie Andreas Heyer 2006: Zum Verhältnis von Utopie und Geschichtsphilosophie in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts. In: Romanische Forschungen 118, 200–220.
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bedenkenswerte Rolle mehr spielt, und die unteren Vermögen zugunsten der Entfaltung der oberen Vermögen zunehmend aus dem Blick geraten.
III. Enhancement Doch was hat all dies nun mit der Entwicklung der Technik und ihrem Verhältnis zum behinderten Körper zu tun, von dem hier die Rede sein soll? Mit ihrer beständigen Selbstüberbietung immer neuer Techniken des Enhancements scheint die technische Entwicklung seit Beginn der Moderne die alteuropäische Vermögensanthropologie in ihrem Grundsatz zu bestätigen.26 Technik erweitert und optimiert die sensorischen, motorischen und kognitiven Vermögen ohne inhärente Grenze. Sie entlastet von den Beschwerlichkeiten der unteren Vermögen und befreit die oberen. In unserer Gegenwart lässt sich dabei eine zunehmende Konvergenz utopischer Ideen mit den tatsächlich gegebenen technischen Möglichkeiten beobachten, ohne dass die zugrundeliegenden anthropologischen Annahmen irgendeiner Form von Überprüfung unterzogen würden. Weite Teile der gegenwärtigen Theoriedebatte um Enhancement erscheinen denn auch auf den ersten Blick wie eine vulgarisierte Fortsetzungsgeschichte zur Anthropologie des 18. Jahrhunderts mit ihren additiven und subtraktiven Vermögenstheorien – plus ultra. Doch sind es gerade die in Rede stehenden allerneuesten Techniken, die sich, so will es scheinen, nicht mehr ohne weiteres in die Tableaus dieser pseudopositivistischen Vermögensanthropologie fügen. Modernste technische Entwicklungen wie das bereits erwähnte Cochlea-Implantat, exoskeletale Prothetik, pharmakologische Interventionen im Sinne des Neuroenhancement oder immersive Virtual-Reality-Applikationen kompensieren nicht einfach organisch bedingten Erfahrungsmangel, sondern stiften radikal neue, diskontinuierliche Erfahrungen. Als Prothesen ohne organisches Korrelat supponieren sie Erfahrungen ohne somatische Basisvermögen – sie sind, in gewissem Sinne, absolute Prothesen: Die je neuen Vermögen, die sie etablieren, sind nicht mehr restlos zurückzurechnen auf körperlich gegebene Vermögen oder Unvermögen. In der Gegenwart der absoluten Prothese stößt die Denkfigur, technische Entwicklungen als selbstläufiges Enhancement zu begreifen, an die Grenzen ihrer Beschreibungskraft. Technische Dispositive etablieren neue Vermögen, die kaum extrapolierbar sind aus der Grundausstattung menschlicher Vermögen, wie sie die Anthropologie des 18. Jahrhunderts in ihren endlosen tabellarischen Diskussionen verzeichnet hatte. Sie kompensieren nicht einfach verlorene oder niemals entwickelte Vermögen, sondern eröffnen radikal neue Wahrnehmungen, Erfahrungs- und Handlungsräume, die bisher nicht lediglich unzugänglich 26 Zum Begriff vgl. Johann S. Ach, s.v. enhancement. In: Eike Bohlken, Christian Thies (Hg.) 2009: Handbuch Anthropologie. Der Mensch zwischen Natur, Kultur und Technik. Stuttgart, Weimar, 107–114.
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gewesen sind, sondern sensu strictu gar nicht existiert haben. Was aber passiert mit den Erfahrungen und Bedingungen des Unvermögens? Verschwindet Unvermögen gänzlich aus dem Tableau? Die unmittelbare Lebenserfahrung schafft sofort Gegenevidenzen. Erfahrungen des Unvermögens bleiben präsent. Nicht nur ist es nicht der Fall, dass technische Adaptionen jegliches menschliche Unvermögen kompensieren könnten: Weder stehen uns biotechnische Verfahren zur Verfügung, welche jeglichem Sinnesdefizit Heilung versprechen, noch ist es uns auf absehbare Zeit möglich, das Schicksal der Gattung komplett in die eigene Hand zu nehmen. Ohne einer quasireligiösen Demut vor der Schöpfung beziehungsweise Einrichtung der Welt, wie sie uns gegeben ist, das Wort reden zu wollen, so legt der schlichte Fortbestand menschlichen Unvermögens also doch nahe, dessen Platz in einem gegenwärtigen Menschenbild erneut zu reflektieren: Ein Rest von Unvermögen lässt sich offenbar nicht tilgen aus der Lebenserfahrung menschlicher Wesen. Er lässt sich nicht nur nicht tilgen aus der Erfahrung von Subjekten, die, diesseits jeglichen technischen Enhancements, als ‚behindert‘ beschrieben werden, sondern lässt sich auch nicht wegstreichen aus dem Erfahrungsregister der able-bodied person, die noch immer das Referenzsystem biopolitischer Diskurse bildet.27 Schlicht gesagt: Wer laufen kann, kann zwar laufen, aber das mit dem Fliegen ist noch immer so eine Sache. Was aber kann – eben diesseits der Leerformeln metaphysischer Beteuerung der Unverzichtbarkeit der Erfahrung menschlichen Unvermögens in der Begrenzung, im Leid und im Tod – der anthropologische Erkenntniswert der Erfahrung des Unvermögens sein? Lässt sich eine Perspektive auf die Berührung der Grenzen menschlicher Vermögen von innen her entwickeln, die dem Unvermögen einen eigenen Platz zuweist? Es lohnt sich ein zweiter Blick auf Aristoteles, auf dieselbe Stelle am Ende des „Buchs Θ der Metaphysik“, die wir bereits gelesen haben. Hier noch einmal die Stelle, im Griechischen und im Deutschen, wie ich sie weiter oben präsentiert habe: καὶ ἡ ἀδυναμία καὶ τὸ ἀδύνατον ἡ τῇ τοιαύτῃ δυνάμει ἐναντία στέρησίς ἐστιν, ὥστε τοῦ αὐτοῦ καὶ κατὰ τὸ αὐτὸ πᾶσα δύναμις ἀδυναμία. Unvermögen und unvermögend ist die einem solchen Vermögen entgegengesetzte Privation; jedes Vermögen ist ein Unvermögen für dasselbe und hinsichtlich desselben.
Es handelt sich hierbei allerdings um eine korrumpierte Version: In etlichen Fassungen des griechischen Textes, etwa in den Kodizes Laurentianus, Vindobonensis und Parisinus, fehlt ein kleiner Strich, genauer gesagt das dem letzten Buchstaben des Wortes ἀδυναμία im zweiten Satzteil untergeschriebene ι, das sogenannte iota subscriptum. Dadurch ändert sich der Kasus vom Dativ zum Nominativ, und heraus kommt die bereits oben verwen-
27 Vgl. Fiona A. Kumari Campbell 2009: Contours of Ableism. The Production of Disability and Abledness. New York.
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dete Übersetzung. Restituiert man den Text aber um das verloren gegangene iota subscriptum, müssten griechischer Text und deutsche Übersetzung eigentlich wie folgt lauten: καὶ ἡ ἀδυναμία καὶ τὸ ἀδύνατον ἡ τῇ τοιαύτῃ δυνάμει ἐναντία στέρησίς ἐστιν, ὥστε τοῦ αὐτοῦ καὶ κατὰ τὸ αὐτὸ πᾶσα δύναμις ἀδυναμίᾳ. Unvermögen und das Unvermögende ist die einem so beschaffenen Vermögen entgegengesetzte Privation; daher gehört zu einem Unvermögen immer ein Vermögen für dasselbe und hinsichtlich desselben.28
In dieser Lesart verschiebt sich der Sinn der Aussage: Während die geläufige Textversion Vermögen und Unvermögen quasi-symmetrisch aufeinander bezieht und daran anschließend das Primat des Vermögens zu behaupten scheint, so legt die zweite Variante einen nicht-derivativen Begriff des Unvermögens nahe, in welchem das Unvermögen nicht als Mangel eines Vermögens erscheint, sondern eher, um in den Worten Dirk Settons zu reden, bestimmt von „einer Art konstitutiver Negativität.“29 Spinnt man diesen Gedanken weiter, so meint Unvermögen nicht mehr nur ein gerade, im gegebenen Moment, nicht aktualisiertes Vermögen, sondern einen Bereich eigentlicher Abwesenheit, der dem Vermögen als sein irreduzibles Anderes gleichsam eingeschrieben bleibt. Unvermögen in diesem Sinne verstanden ist nicht der Möglichkeit seiner Aktualisierung anheimgestellt, sondern verbleibt als Konstituens belebter Erfahrung. Es öffnet damit einen Raum der Reflexion des Scheiterns, des Nicht-Gelingenden und der Unmöglichkeit, der in diesen pejorativen Termini kaum angemessen gefasst werden kann. Verlängern wir den Gedanken ins Technische, in die Anthropologie des Technischen, und in die technische Gegenwart: Wenn es sich so verhält, dass ein eigentlicher Aspekt des Unvermögens dem Dasein lebendiger Wesen mit Notwendigkeit zukommt, dann entzieht sich dieses Unvermögen notwendig dem optimierenden Zugriff technischer Aktualisierung. In dieser Perspektive kann Technik auf zweierlei Weise in der Welt sein: einerseits, so wie Kapp und die klassische Technikphilosophie es deuten, als Verbesserung gegebener menschlicher Vermögen – besser sehen, mehr hören, weiter laufen, und so fort. Andererseits gesellt Technik, und das war die Perspektive, die weiter oben bereits eingeführt wurde, den gegebenen Vermögen neue, bisher ungekannte bei. Sie eröffnet neben oder seitlich zu den bekannten Erfahrungsräumen zusätzliche, noch ungekannte Erfahrungsräume, zu deren Ausmessung wir je neu anzusetzen haben. Was Technik allerdings nicht vermag, ist eine Heilung, eine (mit Hegel gesprochen) Aufhebung menschlichen Unvermögens dem Begriffe nach. Sie optimiert und ergänzt, und das auf vielfältig eindrückliche Weise, ja, doch erlöst sie nicht aus der grundsätzlichen Conditio 28 Die Übersetzung entspricht Setton 2012: Unvermögen, 7. 29 Ebd., 8. Wesentliche der hier vorgebrachten Überlegungen zum Begriff des Unvermögens bei Aristoteles gehen auf Settons Untersuchung zurück.
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humana, nach der dem Menschen nicht nur eine individuell je anders angemessene Bandbreite an Vermögen und Unvermögen zukommt, sondern derzufolge Erfahrungen des Unvermögens ebenso zu den Wechselfällen menschlichen Daseins zählen wie Erfahrungen vorgeblich grenzenloser Vermögen. Die emergenten Vermögen insbesondere der gegenwärtigen Technik lassen die Bereiche des Unvermögens in den Schatten treten, vermögen sie aber nicht restlos zu erhellen. Technik erlöst nicht von der Bedingung des Unvermögens an sich als Existential; wohl arbeitet sie auf der Seite der beständigen Verbesserung der Vermögen; nicht aber ist es ihr gegeben, menschliches Unvermögen ein für allemal aus der Welt zu schaffen. Wissen wir also, was ein Technokörper vermag? Wohl kaum. Noch viel weniger aber wissen wir, was ein Technokörper nicht vermag, und im Lichte der hier gemachten Ausführungen könnte es lohnend erscheinen, diesem Unvermögen näher nachzugehen. Damit bestätigt sich nicht unbedingt die optimistische Technikphilosophie Ernst Kapps und seiner Nachfolger in all ihren Einzelheiten, die uns Heutigen anmuten wie eine vergangene Zukunft, wohl aber die ihr implizite Anthropologie der Behinderung. Was auch immer ein Technokörper vermag – wir haben von dieser Frage eigentlich gar nicht gehandelt: Er vermag den Menschen nicht aus einer ganz prinzipiellen Liaison mit dem Unvermögen zu befreien, zumindest solange nicht, wie dieser eine somatische, das heißt lebendige Existenz führt. Mit dieser nüchternen Einsicht in die Verfasstheit des Gegebenen ist, das sei ausdrücklich betont, kein technikethischer Appell zur Mäßigung oder Aufruf zur Beschränkung technischer Vermögensoptimierung verbunden. Sie weist lediglich hin auf die schlichte Tatsache, dass keine technische Optimierung die Grundbedingung allen Seins aus der Welt schafft, mit einem bewegten Bereich, einer existentiellen Dimension des Unvermögens ebenso rechnen zu müssen wie mit einem Bereich wie auch immer optimierbarer Vermögen. ‚Behinderung‘ ist in diesem Licht ein epistemisches Werkzeug: Sie erlaubt es, Fragen an Technik, Körper und Technokörper zu stellen, die in anderen Arrangements weniger deutlich konturiert sind. Diese Fragen in den Zusammenhängen von Vermögen und Unvermögen, Technik und Körperlichkeit – und nicht zuletzt die damit verbundenen Fragen nach den existentiellen Dimensionen von Behinderung – sind dabei keine, die (nur) am philosophischen Schreibtisch zu lösen sind. Sie sind Fragen der Lebenspraxis, Fragen der Lebenskunst.
IV. Schluss: Unvermögen oder Auch eine Bedingung der Möglichkeit zur Liebe Schließen wir mit einem kurzen Ausflug in literarische Gefilde. In seinem 2008 erschienenen phantastischen Roman „Die Abschaffung der Arten“ entwirft der Schriftsteller Dietmar Dath, im Hauptberuf Feuilletonist bei der Frankfurter Allgemeinen Zeitung, selbsterklärter Kommunist und nebenamtlicher Sozial- und Technikphilosoph, eine Erzählung
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am Ende des Anthropozäns:30 Genetisch oder anderweitig manipulierte, sich zur Sprachfähigkeit erhoben habende Tiere, die sogenannten „Gente“, haben sich des menschlichen Herrschaftsanspruchs über die Schöpfungsordnung entledigt. Sich der biotechnischen Dispositive aus der Spätzeit der menschlichen Epoche bemächtigend, begeben sich die Tiere auf einen Weg beständig transformativer Selbstoptimierung ihrer somatischen Ausstattung: „Wir machen aus der Evolution das schlechthin Willentliche“, heißt es an einer Stelle.31 Daths biopolitische Phantasie entwirft eine radikalisierte Moderne, in der die Lebenden – es sind, wie gesagt, Tiere, um die es geht, nicht Menschen – die vollständige Kontrolle über die somatischen Grundlagen des Lebendigen zu erlangen scheinen. Am Ende aber sind es ganz menschliche Probleme, mit denen sie sich konfrontiert sehen, und die sich der technischen Optimierbarkeit entziehen: Es geht um das Vermögen der Liebe. Darum entspinnt sich eine politische Kontroverse zwischen dem Löwen, dem Inhaber der Herrschaftsgewalt, und seinem äffischen Widersacher. Im Vermögen zur Liebe sieht der Affe den Grund für den Untergang des Menschengeschlechts gelegt: Einige, vor allem Affen, hatten noch im Frühjahr geglaubt, es hätte vielleicht etwas mit der Liebe zu tun gehabt: „Das hatten sie nämlich immer am Hals“, erklärte der Affe Stanz seinen Bewunderern vor einem Gemälde, das er zur Illustration dieses Sachverhaltes gemalt hatte, „diesen Schmus mit der Liebe. Nichts als Ärger. Uns plagt das, wenn ich‘s richtig sehe, nicht.“ Der Löwe hatte dem Affen auf allen Foren widersprechen lassen (durch die Libelle – er war sich längst zu wichtig geworden, selbst vor die Gente zu treten): „Wir haben Liebe, wie wir Sprache haben. Wir nennen‘s vielleicht anders – wobei die Wölfe es schon wieder Liebe nennen, und warum auch nicht? Es ist derselbe Zug zum Schönen, dieselbe Leidenschaft, derselbe lebensnotwendige, heilige Quatsch.“32
So weit, so kitschig die apodiktische Bestimmung in Daths posthumaner Versuchsanordnung. Als Menschen der technischen Gegenwart und ihres antizipierten Danach scheint es uns aufgegeben, über die technische Optimierung und Erweiterung unserer Vermögen in einer Weise nachzudenken, die sich löst von der althergebrachten Rückbindung der Vermögen an vordem bestehendes Unvermögen. Auch in unserer technik skeptischen Gegenwart sind die mittelfristigen Aussichten technischer Optimierbarkeit und Erweiterung grandios. Vielleicht wird eines Tages ein Muskeldystrophiker über diese Erde wandeln, ohne je die Bedingung seines Unvermögens tatsächlich in actu erfahren zu haben. Vielleicht wird es Hörende und Sehende geben, die akustische und 30 Dietmar Dath 2008: Die Abschaffung der Arten. Frankfurt a.M. Für eine erste Einschätzung der philosophischen Gehalte des Romans vgl. Florian Kappeler, Sophia Könemann 2011: Jenseits von Mensch und Tier. Science, Fiction und Gender in Dietmar Daths Roman „Die Abschaffung der Arten“. In: Zeitschrift für Medienwissenschaft 4, H. 1, 38–47. 31 Dath 2008: Die Abschaffung der Arten, 35. 32 Ebd., 14.
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visuelle Erfahrungen machen, die weit jenseits dessen liegen, was wir uns unter ‚Hören‘ und ‚Sehen‘ zu begreifen angewöhnt haben. Dem Begriff nach aber lässt sich Unvermögen als das inhärente Andere des Vermögens nicht eliminieren, und aus der Lebenswelt ist es ohnehin nicht wegzudenken. Einer ernstzunehmenden Anthropologie der Behinderung und der Technik müsste es also weniger darum gehen, ständig über die Optimierung der Vermögen nachzudenken, als vielmehr auf die Potentiale des Unvermögens zu reflektieren: Am Ende ist es die Liebe, welche Daths posthumane Figuren erneut zueinander finden lässt. Und ist es nicht gerade die Liebe selbst, die Begegnung mit der Liebe, die letztlich immer auch die Erfahrung mit einem Unvermögen, die Begegnung mit dem Unvermögen selbst bedeutet – und in der sich jede Behinderung dem Begriffe nach aufhebt?
Petra Gehring
Pille oder Prothese, Pharmakon oder Symbiont. Zwei widerstreitende Fassungen für den menschlichen Technokörper
Es bedarf keiner großen Distanz, um über aktuell unter Schlagworten wie Human Enhance ment geführte Debatten zu staunen. Die Überlegungen, an denen sich Bio- und Kulturwissenschaften sowie Recht und Ethik gleichermaßen beteiligen, haben die Optimierung des Menschen zum Gegenstand. Gemeint sind extreme Selbstveränderungen zugunsten von physischer oder psychischer Leistungssteigerung. Thematisiert werden einerseits die Einnahme von Tabletten und anderen Pharmaprodukten sowie weitere Eingriffe in die Stoffwechselphysiologie – und auf der anderen Seite die Nutzung von Prothesen, mechanischen oder elektronisch arbeitenden Implantaten sowie anderen Hilfsmitteln aus dem Bereich klassischer Gerätetechnik oder auch digitaler Technologie. Pille oder Prothese? Damit ist von zwei unterschiedlichen Zugriffsformen auf den menschlichen Körper die Rede. Ich werde der Frage nachgehen, ob und warum diese zusammengehören: Wie kann der Gesichtspunkt der gesteigerten Leistung zum gemeinsamen Nenner einer Debatte werden und auch der Phänomene, auf welche diese sich richtet? Eine weitere Frage schließt sich an. Sie greift die Unruhe und Besorgnis auf, die das Nachdenken über Enhancement antreibt. Man will wissen, wo beginnt, was mehr ist als nur Therapie oder bloßer Ersatz. Wie lassen sich Grenzen zwischen Formen einer mehr oder weniger normalen – etwa: einer medizinischen – Körperbehandlung und einer Menschenveränderung bedenklichen Ausmaßes ziehen? Wo beginnt der Schritt hinein in eine „parahumane“ Welt von morgen? Für eine Antwort auf die erste Frage werde ich einen Umweg gehen. Es gilt, einen im historischen Ausmaß veränderten Sinn ins Auge zu fassen, den nicht nur konkrete Technologien gewonnen haben, sondern auch das, was wir „Körper“, „Leistung“ oder auch – so wie sie uns heute produktförmig neu zuzuwachsen scheinen – „neue Möglichkeiten“ nennen. Nicht die Art des Einflusses von Artefakten auf den Körper oder einer mimetischen Einpassung in oder an Körperfunktionen, sondern umgekehrt: Eine veränderte Erwartung an Körperlichkeit, ein bemerkenswert steigerbares, geradezu entgrenzungsgieriges Körperverständnis, lässt uns – sei es interessiert, sei es sorgenvoll – über Enhancement nachdenken. Erst nämlich auf der Grundlage eines modernen Körperund Körpertechnik-Konzepts, welches im Körper dessen vitale Leistungsfähigkeit und
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überhaupt das Leben zum Eigentlichen erhebt, kann Enhancement zum Dachbegriff oberhalb sehr heterogener Körpertechniken werden. Auf die zweite Frage gebe ich eine negative Antwort. Für die Suche nach der Grenze zum Enhancement kann es zwar Anhaltspunkte geben. Ich denke hier an das für die Exploration von bloßen Möglichkeiten typische Merkmal des ergebnisoffenen Ausprobierens. Jenseits zielgerichteter Verbesserungspfade beziehen Enhancement-Szenarien den menschlichen Körper zunehmend in spielerisch-experimentelle Angebote einer möglichen Selbstvervollkommnung ein. Dennoch kommt man, jedenfalls wenn man vom heutigen Körperschema ausgeht, nicht zu einer klaren Unterscheidbarkeit von lediglich kompensatorischen, unterstützenden Körperbehandlungen und leistungssteigernden Technologien. Die entscheidenden Schwellenwerte stecken vielmehr im Erwartungshorizont selbst: Unterwerfen wir den eigenen oder fremden Körper einer Technisierungserwartung, die darauf hinausläuft, ihm zugunsten einer bestimmten oder unbestimmten (Höchst-)Leistung auf der anderen Seite vertraute Möglichkeiten und überhaupt seine Vertrautheit zu nehmen? Die Frage zu bejahen heißt, sich einem freilich uneingelösten Imaginären zu überantworten.1 Alternativ hält man in der einen oder anderen Form an der Idee einer multiplen und gewissermaßen ungeschmälerten, auch undefinierten, dafür aber in puncto „neue Möglichkeiten“ auch weniger spektakulär zugerichteten Leiblichkeit fest. Angebote auszuschlagen, etwas neu, kraftvoller, besser oder auch nur freier wählbar möglich zu machen, wirkt in unseren Tagen fast irrational. Das Problem bleibt also, das Vertraute an unserem Körper mehr zu lieben als das, was er noch nicht kann, aber können soll.
I. Damit zum ersten Punkt, dem nämlich, wie erstaunlich es ist, so unterschiedliche Dinge wie das Medikament, das ich einnehme, in Tablettenform oder flüssig – und dann aber den mechanischen Behelf, die Brille, das Hörgerät oder den Neopren-Anzug in denselben Zusammenhang einer Optimierungstechnologie gerückt zu sehen. Inzwischen betrachten wir Pille wie auch Prothese unter dem Gesichtspunkt einer gleichermaßen entfesselten Anwendbarkeit – über bloß im einen Fall klinische, im anderen Fall den Alltag kompensatorisch unterstützende Funktionen hinaus. Heute sind wir geneigt zu sagen, das eine sei potentiell Doping, das andere führe auf den Weg des Cyborg, des durch künstliche Glieder oder andere technische Zutaten optimierten Menschenkörpers.
1 Vgl. hierzu meinen ersten Versuch zu prothetischen Fragen: Petra Gehring 2016 (im Druck): Tablette, Sensor, Schrittmacher: Prothetik als Regulation. In: Alexandre Métraux, Jürgen Straub u.a. (Hg.): Prothetische Transformationen des Menschen. Ersatz, Ergänzung, Erweiterung. Bochum: Westdeutscher Universitätsverlag.
Pille oder Prothese, Pharmakon oder Symbiont
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In philosophischer Hinsicht möchte ich zunächst klarstellen: Was wir heute als künstliche Manipulation bezeichnen, gehörte immer zum Menschenkörper dazu, denn Leiblichkeit ist Resultat kultureller Formung, der menschliche Körper war niemals nur Natur. Nach allem, was wir wissen, reichen Kulturen der Manipulation des menschlichen Körpers bis in die Frühzeit der Menschwerdung zurück. Training, Verzierungen, rituelle Verstümmelungen, feinste Vorkehrungen gegen Schmerzen und für die Lust – und selbstverständlich auch die Einnahme von nur ausnahmsweise erlaubten Lebensmitteln, etwa Rauschdrogen: Im Kulturvergleich lassen sich vielfältigste Formen solcher Körpertechniken und somit Technokörper finden und bestaunen. Menschliche Körper sind, könnte man also sagen, stets und überall Schreib-, Gestaltungs- und Produktionsinstrumente gewesen – niemals reine Natürlichkeit, sondern Mittel, Medium, Werkzeug und Instrument. Dennoch bleibt es beim Staunen über das Differente. Ein Heilmittel, das ich ausnahmsweise zu mir nehme, das ich wohl aber nur unter Anraten eines Heilkundigen anwende, weil es besondere Wirkungen hat – dies gab es schon in der antiken Medizin. Beschrieben wird das Medikament freilich nicht als potentieller Teil des Körpers, sondern als ambivalente Sache für den Sonderfall. Mit der Nahrung richtig umzugehen, nämlich eine ausbalancierte – z.B. nicht zu trockene, nicht zu feuchte etc. – Diät zu wählen: das ist ein zentrales Thema altgriechischer Ratgeberliteratur. Wer sich nicht richtig ernährt, schwächt seinen Körper und das kann gefährlich werden, denn Krankheiten hat der Körper dann zu wenig entgegenzusetzen – soweit das Alltagswissen. Wird man aber krank, ist ein Pharmakon gefragt, ein Mittel gegen die Erkrankung: ein besonderes Mittel, etwas, das gerade kein Lebensmittel ist, sondern die Kraft hat, die Krankheit zu vertreiben. Bei der Krankenbehandlung kann der Körper geschädigt werden. Denn Krankheiten „besetzen“ Körper, und die ärztliche Intervention greift ebenfalls von außen an. Traditionell korrespondiert die ärztliche Aktivität daher mit der Krankheit, nicht aber mit dem Körper, über dessen Belange hinweg gleichsam eine Schlacht zwischen der Krankheit und dem Arzt ausgetragen wird. „Krankheit und Körper“, so fasst der Medizinhistoriker Michel Foucault die klassische Sicht der vormodernen Heilkunde zusammen, „besitzen keinen vorgängig definierten gemeinsamen Raum.“2 Das Pharmakon ist somit ein heilsamer Stoff, aber es ist zugleich ein zusätzliches Agens und sogar ein potentielles Gift, nicht bloß ausgleichende Nahrung im Rahmen eines normalen Körperhaushalts, welcher seine Eigenstärke aufbauen oder verlieren kann. Gesundheit und Tüchtigkeit bzw. Tugend, so hat der Philosoph Jacques Derrida die Rede vom Heilmittel bei Platon kommentiert, „gehen immer von innen aus. Indem das Pharmakon stets von draußen hereinbricht und sich selbst als das Draußen aufführt, wird es niemals seine eigene definierbare Tüchtigkeit haben.“3 Auf dieser Linie bewegt sich 2 Michel Foucault 1988: Die Geburt der Klinik. Eine Archäologie des ärztlichen Blicks (1973), übers. von Walter Seitter. Frankfurt a.M.: Fischer, 27. 3 Jacques Derrida 1989: Dissemination (1972), übers. von Hans-Dieter Gondek. Wien: Passagen, 113.
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die europäische medizinische Tradition, einschließlich der Humoralpathologie, erstaunlich lang. Sowohl die Vorstellung, dass Krankheiten sich, autonomen Geschöpfen gleich, von außen auf den ebenfalls autonomen Körper legen und durch den Arzt gleichsam vertrieben werden müssen, beherrscht die Medizin noch um 1800, als auch die entsprechende Vorstellung vom Medikament. Das Pharmakon bleibt eine ambivalente, heikle Substanz, die man ebensowenig als gesunde Person (gar täglich) zu sich nehmen würde, wie man auf die Idee käme, sie in ihrer Menge und Wirkung immer weiter zu steigern. Sofern der Körper ein im Wesentlichen fertig geformtes Ganzes ist, gibt es dazu auch überhaupt keinen Grund. Die Prothese hat in vormodernen Zeiten ebenfalls, soweit ich sehe, einen klar umgrenzten, wenngleich völlig anderen Sinn. Sie dient nicht der Behandlung einer Krankheit, sondern soll den Alltag unterstützen und ergänzt hierzu den Körper. Sie ist ein Substitut. Den Ersatz von Gliedmaßen hat man bereits für älteste Zeiten nachgewiesen. So ist eine altägyptische Holzzehe überliefert, die einen Frauenfuß ergänzt, ihn aber wohl auch geschmückt hat. Finger, Hände, Arme, Beine: Eine Prothese wird als Behelf gebraucht, wo etwas sinnfällig fehlt. Das prothetische Konstrukt selbst wiederum gleicht einem Werkzeug, einem Organon, das dem Körper-Organ (im vorbiologischen Sinne ja ebenfalls ein Werkzeug) in seinen Funktionen mindestens nahekommen kann. Die Prothese ist ein Handwerksprodukt, das idealerweise als Symbiont fungiert, ein dem Körper sich anverwandelnder Begleiter. Je meisterlicher es gearbeitet ist, desto mehr stellt das Kunstglied auch wohl ein Stück körperlicher Ganzheit wieder her. Zumindest auf der Ebene des optischen Anscheins ist eine Prothese im Grenzfall sogar Schmuck. Freilich führt sie den Menschen nicht über sich hinaus. Pharmakon oder Symbiont, Stoffwechsel oder Mechanik, Krankenbett oder öffentliches Körperbild, Ausnahme oder Alltag, Remedium oder Behelf, situativ gefährlicher Wirkstoff gegen die Krankheit oder aber Zutat, die den versehrten Körper einem unversehrten möglichst ähnlich macht: Trotz dieser Gegensätzlichkeit finden beide Dispositive nach 1800 schrittweise gemeinsam Eingang in die Welt derjenigen Anthropotechniken, welche die moderne Arbeits- und Leistungsgesellschaft dann vervielfältigen und neu gruppiert einsetzen wird. Das Pharmakon, im 19. Jahrhundert standardisiert, dann als Tablette zum Industrieprodukt geworden, welches Apotheken lediglich noch ausliefern, beginnt seine Karriere als Gesundheit sicherndes Vorbeugewerkzeug. Mit Themen wie Dauermedikation, Impfung und der medikamentösen Stärkung von „Abwehrkräften“ löst sich das Pharmaprodukt aus der Krankenbehandlung im engeren Sinne heraus. Die Prothese wiederum wird am Industriearbeitsplatz als willkommene Mensch/Maschine-Schnittstelle entdeckt. – Für die Zwischenkriegszeit hat Karin Harrasser das in vorbildlicher Weise untersucht.4 Prothesen werden jetzt auch technisch derart verfeinert, dass man sie zwar 4 Karin Harrasser 2009: Passung durch Rückkopplung. Konzepte der Selbstregulierung in der Prothetik des Ersten Weltkriegs. In: Stefan Fischer, Erik Maehle, Rüdiger Reischuk (Hg.): Informatik 2009. Im
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nicht im Privatleben freiwillig tragen würde, aber doch im beruflichen Zusammenhang zunehmend selbstverständlich als Spitzenleistung garantierende High-Tech-Ausrüstung akzeptiert, z.B. als verbesserte Augen (Präzisionswerkzeuge, Nachtsichtgeräte, Pilotenbrillen) oder verlängerte und verstärkte Arme (Schutzanzüge, Telemedizin). So erscheint es spektakulär, aber doch folgerichtig, dass im Jahr 1962 auf dem berühmten CIBASymposium Man and his Future der Genetiker J.B.S. Haldane und der Molekularbiologe Joshua Lederberg den Vorschlag der absichtsvollen Schaffung von Cyborgs unterbreiteten, um Weltraumpiloten oder Tiefseetaucher besser auf ihre beruflichen Anforderungen einzustellen. Haldane schlug vor, hierzu auf amputierte Unfallopfer zurückzugreifen, ein dem Thalidomid ähnliches Medikament einzusetzen, das nur auf die Beine und nicht auf die Arme wirken dürfe, oder auf biologische Mutationen zu setzen.5 Darauf Lederberg: „Wenn wir einen Menschen ohne Beine benötigen, müssen wir ihn nicht züchten, wir können sie ihm absägen; wenn wir einen Menschen mit einem Schweif brauchen, werden wir eine Möglichkeit finden, ihn ihm aufzupfropfen.“6
II. Ist die Pille irgendwie ein Nachfahr des Pharmakon – die moderne Prothese hingegen ein Erbstück eines handwerklich-äußeren Anpassens von Gegenständen ans Körperschema? Ich hatte gefragt, wie es dazu kommt, dass wir die beiden so unterschiedlichen Mittel heute unter einem und demselben Schema der anthropotechnischen Verbesserung zusammenbringen, sie inzwischen also analog wahrnehmen und auch analog bewerten. Meine Antwort erfolgt in Teilschritten und leitet dann auch zur Frage über, wo ein allgemein gefasstes Enhancement denn nun eigentlich beginnt. Zunächst ist wichtig, sich klarzumachen, wie sehr sich die Medizin und mit ihr unser Verständnis dessen, was wir den menschlichen Körper nennen, mit der Moderne – also seit etwa 1800 mit der Entstehung einer physiologischen Anthropologie und dann dramatisch ab 1900 mit der Natur und Kultur gleichermaßen in sich fassenden Generalisierung des Konzeptes „Leben“7 – verändert hat. Wir leben nicht mehr in einer Welt, in der die Medizin nur Krankheiten vertreibt. Heute ist Medizin ein positives Projekt: Sie stellt am Individuum das volkswirtschaftliche, nicht zuletzt statistisch gemessene Focus das Leben. Bonn: Köllen, 788–801. http://subs.emis.de/LNI/Proceedings/Proceedings154/ gi-proc–154–33.pdf [13.3.2016]. 5 Vgl. J.B.S. Haldane 1988: Biologische Möglichkeiten für die menschliche Rasse [mit Diskussion]. In: Robert Jungk/Hans Mundt (Hg.): Das umstrittene Experiment: der Mensch. Siebenundzwanzig Wissenschaftler diskutieren die Elemente einer biologischen Revolution. Dokumentation des CibaSymposiums „Man and His Future“ 1962 (1966). Frankfurt a.M., München: Schweitzer, 367–411, hier 384. Thalidomid wurde bekannt als der Wirkstoff des Schlaf- und Beruhigungsmittels Contergan. 6 Ebd., 392 (Diskussionsbeitrag Joshua Lederberg). 7 Vgl. Petra Gehring 2011: Naturalisierung und Biomacht: Das Leben verschaltet Natur mit Kultur. In: Zeitschrift für Kulturphilosophie 1/2011, 121–136.
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Produkt „Gesundheit“ her. Auch unser Verständnis des Krankwerdens ist ein ganz anderes geworden: Heute kommen die Krankheiten nicht auf uns, sondern aus uns heraus. Sie sind sozusagen ein lediglich fehlbalanciertes Gesundsein – und die Abwehrlage, das Immunsystem, etwas an uns selbst jedenfalls erfordert Behandlung. Ärzte sind folglich rund um die Uhr tätige Humanexperten, die das Körper- und Seelenwohl gleichermaßen begleiten. Man ruft sie nicht lediglich, um Krankheiten zu vertreiben. Und so ist Medizin inzwischen prospektive (also vorausschauende) und präventive (also vorausbehandelnde) Biomedizin geworden, eine Lebensmedizin also, die auch die Fürsorge für Wellness-, Schönheits- und Fitnessdienstleistungen mit umfasst. Wir „arbeiten“ alle gleichsam lebenslang an unserer Gesundheit. Der Tod ist unter diesen Bedingungen ab etwa 1900 zum Lebensende geworden und dieses Ende immer weiter hinauszuschieben (oder aber in lebensdienlicher Weise eintreten zu lassen) gehört ebenfalls zu den großen Projekten der Lebensmedizin. In diesem umfassenden Blickwinkel nun aber – einer auf Leben und auch auf Leben als Wert gerichteten Anstrengung – sind das, was früher bloße Medizin war, und die Verbesserung, Verlängerung, Optimierung des Lebens gleichsam von sich aus eins. Biomedizinische Eingriffe zielen am Körper, im Körper und (mit Phänomenen wie Organ- und Gewebetransfer) auch über Körpergrenzen hinweg auf eine regelrechte Ökonomie des Lebens. Diese verspricht Mehrwerte durch Lebensqualitätsgewinn und Lebenszeitgewinn, ohne dass es da prinzipiell Grenzen geben zu müssen scheint. Der Umbruch ist epochal und zeitigt heute konkrete Folgen. Was die Pille angeht, ist der Unterschied zwischen Arznei und Lebensmittel längst verwischt. Zwar kennen wir in Deutschland noch das apothekenpflichtige Produkt, aber ein deutlich umgreifenderes pharmakotechnisches Dispositiv lässt uns Tabletten in allen Lebensphasen und für diverse Zwecke (Fitness, Schönheit, Wachbleiben) nehmen. Wir kaufen sie im Netz, finden sie im Drogeriebereich des Lebensmittelsdiscounters oder auch im Süßigkeitenregal. Hier lenke ich das Augenmerk besonders auf Süßigkeiten für Kinder, in denen ebenfalls (man nehme Smarties oder Jelly Beans) Tablettentechnologie steckt. Etwas langsamer hat sich auch die Prothese aus ihrer vergleichsweise schlichten Funktion emanzipiert. Jenseits von Funktionsanforderungen der Arbeitswelt haben sich Konzepte eines Körperzusatzes, der keineswegs Ersatz sein muss, mit der Freizeit- und Unterhaltungssphäre verbunden. Dort versprechen Prothesen dann ganz generell neue Möglichkeiten und damit Antworten auf die Frage nach dem körperlichen Optimum überhaupt. Ein sinnfälliges Beispiel sind Carbonfeder-Laufprothesen, mittels derer Beinamputierte Geschwindigkeitsleistungen prothesenloser Läufer übertreffen können. Zunehmend werden auch Exoskelette entworfen, die Soldaten und Hobbysportler in vergleichbarer Weise zur Ausdauerstärkung verwenden können. Aus der Prothetik ist so eine allgemeine Nutzgeräteforschung geworden. Es war Peter Sloterdijk, der hellsichtig aus Dokumenten der Behindertenbewegung des beginnenden 20. Jahrhunderts eine transhumane biopolitische Vision herauslas. Programmatisch stellte man zu dieser Zeit erstmals heraus, dass unter Leistungsgesichts-
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punkten der versehrte Körper der eigentlich vitalere und leistungsfähigere sein kann als der bloß im normalen Sinne gesunde.8 Im behinderten Körper, der von vornherein die Normalität sprengt, steckt die Möglichkeit zum übermenschlichen Extrem. Aus dieser Sicht erweist sich das Ja zu einer symbiotischen Technik, die den behinderten Körper weiter nach vorn bringt, geradezu als Chance: Abseits der Suche nach Ersatz beginnt der Weg zu radikal neuen Fähigkeiten. Wer die Filmbilder von der Abschlussveranstaltung der Paralympischen Spiele in London 2012 verfolgte, konnte eine ästhetische Inszenierung sehen, die genau dies feierte.9 Nun kommen die vormals sogenannten Behinderten, die Freaks, der Welt als fröhliche Parade neuer Wesen entgegen. Man mag sagen: Das ist ein Signal gegen Diskriminierung – ganz sicher. Aber mindestens ebenso sehr wird die Symbiose von Körper und Artefakt in Szene gesetzt: Metalle, Hochleistungsmaterialien, maßgeschneiderte apparative Schnittstellen, keine kaschierenden Abdeckungen mehr, stattdessen ins Bizarre überhöhte Funktionsbauteile. Körper, denen die Zukunft gehört, sind anthropotrop, aber nicht mehr anthropomorph, und damit wachsen uns nie geahnte Möglichkeiten zu, so lautet die Botschaft. Wir müssen nur mit leuchtenden Augen und mit eisernem Willen alles nehmen, was wir von Geräten kriegen können. Das paralympische Fest gilt dem Menschenkörper selbst, und dieser feiert seine Neugeburt als Hybrid. So lässt sich die Perspektive umreißen, aus der die beiden so verschiedenen technologischen Pfade – Pille und Prothese – konvergieren und Technologien funktional ähnlich werden oder gar gleich: Beide Formen der Intervention haben ihre jeweils spezielleren Kontexte verloren und werden unter dem allgemeinen Gesichtspunkt der „Lebensverbesserung“ erprobt und geführt. Beide übersteigen ein spezifisches Ziel, das Körpereingriffe rechtfertigt (Krankheit beseitigen, Ersatz schaffen für etwas, das fehlt) und kommen formlos zur Ermöglichung – als eine Art Spielzeug – in Verwendung. Und beide scheinen allenfalls unter dem Verdacht der Künstlichkeit noch kritisierbar zu sein – wobei der „natürliche“ Körper erkennbar eine lediglich nostalgische und im Grunde fiktionale Größe bleibt.
III. Damit gelangt die Überlegung zum eingangs angekündigten zweiten Punkt. Was meint überhaupt Enhancement und von wo an beginnen wir, wenn es um manipulative Eingriffe am Menschenkörper geht, von optimierter Leiblichkeit oder von Technokörpern zu reden? Die gängigen Definitionen bleiben zumeist auffällig unbestimmt. Sie heben darauf 8 Peter Sloterdijk 2009: Du mußt dein Leben ändern. Über Anthropotechnik. Frankfurt a.M.: Suhrkamp. 9 Ein wenig ausführlicher hierzu Petra Gehring 2013: Mensch, paralympisch. In: Tumult VJS 1/2013, 25–27.
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Petra Gehring
ab, dass in irgendeiner Weise zum Körper hinzutretende – und gegebenenfalls mit diesem auch quasi fest verbundene, in ihn eindringende, ihn verändernde – Technik zum Einsatz kommt. Zugleich wird betont, dass nur der Einsatz am „gesunden“ bzw. „normalen“ Körper den Tatbestand des Enhancements erfüllt. So definiert die Bioethikerin Bettina Schöne-Seifert das Enhancement als den „Einsatz pharmakologischer, chirurgischer oder biotechnischer Eingriffe zur Verschönerung, Verbesserung oder Leistungssteigerung bei Gesunden – also jenseits von Krankheitslinderung, -heilung oder -prävention“10 bzw. als „Einsatz biomedizinischer Mittel zur Leistungssteigerung oder Verbesserung gesunder Menschen“11, und die Medizinethiker Joachim Boldt und Giovanni Maio unterscheiden (nicht auf der Basis von Maßnahmen, sondern nach deren Zielstellung): „Während es das Ziel der Therapie ist, aus Kranken Gesunde zu machen, wird beim Enhancement die Verwandlung von Gesunden in ‚verbesserte Gesunde‘ angestrebt.“12 Man sieht sofort das Problem: Zum einen geht es nicht um eine trennscharfe Grenze, sondern allenfalls um ein Mehr-oder-Weniger an Verbesserungseffekten und um veränderte technische Mittel bzw. darum, wie hoch der Anteil des Artefakts an „normaler“ Körperlichkeit ist.13 Und zum anderen kehrt sich das Vorzeichen der ethischen Bewertung entlang der ebenfalls unklaren Grenzlinie des Therapeutischen um: Soll nur ein krankheitsbedingt hilfsbedürftiger Körper behandelt werden, oder ist als Therapie gerechtfertigt, was andernfalls womöglich als Enhancement gilt? Wir können zwar mit dem Alltagsverstand durchaus einen Bereich unterscheiden, der weder therapie- noch enhancementverdächtig ist: Das Fahrrad, den Nordic-Walking Stick, das große Kindervergnügen der Stelzen, aber auch die Krücke und den Rollator wird man kaum als parahumane Optimierungsmaßnahme am Menschenkörper werten, sondern als ganz normales, im Detail ja auch neue Handlungsmöglichkeiten erschließendes Hilfsmittel14 – wie etwa den Kochhandschuh, das Mikrophon oder die Geige. Ebenso würden wir Injektionen und Tabletten, wenn jemand krank ist, wahrscheinlich auch dann noch als Teil einer Therapie und nicht als Optimierungsanstrengung einordnen, wenn die Person dabei nur Vitamine oder Stärkungsmittel erhält: Sie muss sich eben erholen. Gleichwohl kennen wir auch das Maß, in dem die Alltagsevidenz, etwas 10 Bettina Schöne-Seifert 2007: Grundlagen der Medizinethik. Stuttgart: Kröner, 99. 11 Bettina Schöne-Seifert, Davinia Talbot 2009: Enhancement. Die ethische Debatte. Paderborn: Mentis (Klappentext Buchrückseite). 12 Joachim Boldt, Giovanni Maio 2009: Neuroenhancement. Vom technizistischen Missverständnis geistiger Leistungsfähigkeit. In: Oliver Müller, Jens Clausen, Giovanni Maio (Hg.): Das technisierte Gehirn. Neurotechnologie als Herausforderung für Ethik und Anthropologie. Paderborn: Mentis, 383–397, hier 385. 13 Vorsicht ist allerdings geboten, wenn Bioethik behauptet, abgesehen von einer Veränderung der Mittel würden „Ziele dieser Art“ (also von Enhancement) aber „seit Jahrtausenden verfolgt“, so SchöneSeifert 2007: Grundlagen der Medizinethik, 99. 14 So hat sich der Rollator bekanntlich nicht nur als Gehhilfe, sondern auch als mobile Sitzgelegenheit, als Verkehrs- und Transportmittel sowie als Statussymbol bei seinen Nutzerinnen und Nutzern beliebt gemacht.
Pille oder Prothese, Pharmakon oder Symbiont
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sei bloß therapeutisch wirksam, verschwimmen kann. Und dass man mit dem „Therapieren“ aufhört, solange doch auch das Gesunde besser werden kann, leuchtet längst nicht mehr ein. Vor dem Hintergrund dessen, was ich zur Entgrenzung des pharmakologischen und des symbiontischen Dispositivs gesagt habe, werden wir weder sicher sagen können, ob die Einnahme von gedächtnisfördernden Mitteln oder von Viagra, die Botox-Spritze, das gelaserte Auge oder die Implantation eines Hormonstäbchens als Verhütungsmittel eine Therapie ist, noch fällt es leicht, der Marathonläuferin zu erklären, ab welchem Schwellenwert aus der Einnahme von Mineral- und Eiweißstoffen eine Optimierungsmaßnahme wird oder dem Cochlea-Implantierten eine Grenze für mögliche Experimente mit den über das Normalhören hinausreichenden Optionen seiner eigenen Prothese zu setzen. Also bleiben zur Diskussion über gut und schlecht nur klassische TechnikfolgenArgumente. Was nicht gefährlich ist, ist erlaubt. Oder: Was man sehenden Auges an Gefahren für sich selbst in Kauf nimmt, muss man gerichtsfest dokumentieren, um vielleicht dann auch etwaige Folgekosten selbst zu tragen. Hier begegnen wir freilich inzwischen einem recht weit gespannten Autonomiegedanken, der ironischerweise aus der Medizinethik ausgewandert ist: Warum soll ich nicht freiwillig auch meinen eigenen Körper schädigen dürfen? So wie der Kunde auch in anderer Hinsicht kaufen können soll, was er will, lässt ein liberaler Markt für Pharma- und Prothetikprodukte und -dienstleistungen auch kürzer oder mittelfristig schädliche Produkte zu. So sind bioethische und das Enhancement betreffende Diskussionen heute dadurch gekennzeichnet, dass dem Kritiker/der Kritikerin neuer Technologien die Beweislast dafür zufällt, warum der Wunsch nach etwas, das doch machbar scheint, nicht legitim ist: Was spricht gegen den wirksamen Stoff, das inkorporierte Gerät? Warum nicht Gesunde noch fitter therapieren? Warum Selbstschädigung verbieten?
IV. Mein Fazit ist daher ein negatives. An den Technologien selbst oder den Absichten und Zielen bei ihrer Handhabung lässt sich so etwas wie ein Übergang zu Optimierung, Selbstverbesserung nicht klar aufweisen. Und wo freiwillige Selbstschädigung etwa im Sport oder Freizeitbereich akzeptiert sind, lassen sich auch mittels Blick auf die Folgen von Optimierungsversuchen nur schwer Grenzen ziehen. Dass das Kantische WürdeArgument leerläuft, wenn das Risiko, neue Möglichkeiten ausprobieren zu wollen, aus freien Stücken mehrheitlich derart klar bejaht wird, dass kaum jemand mehr vor Instru mentalisierung warnen möchte, liegt ebenfalls auf der Hand. Und hinzu kommt ein eigenartiger Nexus zwischen übermäßigem Wunsch und dann doch auch wieder therapeutisch begründbarem Anspruch aufs biotechnisch Neue. Denn in einer medikalisierten Gesellschaft wie der unseren lässt sich ja sogar auf dem Umweg über das „psychische Leiden“ daran, etwas nicht zu können oder nicht zu haben, eine pathologische Störung
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Petra Gehring
daraus gewinnen, eine Möglichkeit nicht zu besitzen – die dann wieder behandelbar ist. Beispiele hierfür bieten die Karriere des sogenannten unerfüllten Kinderwunsches, der vor einem guten Jahrzehnt zur regulär therapierbaren Krankheit wurde, oder des seit einiger Zeit ebenfalls als Therapiegrund anerkannten Wunsches danach, mittels Hormontherapie und chirurgischer Maßnahmen das eigene Körpergeschlecht zu wechseln. Ethik wird im Diskurs über Enhancement und Leistung nichts klar abgrenzen können. Hier bleibt kein Halt. Das, was man heute im Selbst- und Fremdversuch mit Körpern machen möchte, könnte allenfalls in einem umfassenderen Sinne zur politischen Streitsache werden. Und was wäre dann zu hinterfragen? Jedenfalls das konkrete Produktversprechen, es werde da bei Kauf, Konsum, Nutzung einer biomedizinischen „Leistung“ etwas „besser“ werden. Die Enhancement-Debatte selbst ist womöglich in Teilen Vermarktungsprosa. Nicht selten nämlich verlaufen Körperexperimente schlichtweg enttäuschend und lassen, trotz punktueller Wirkung auch einiges schlechter werden. Noch genereller sollte überhaupt der Innovationsdiskurs, die auf unbekannte Zukünfte vorgreifende Rede von den neuen Möglichkeiten, unter Verdacht gestellt werden. Neue Möglichkeiten kommen ja gar nicht einfach zu den alten hinzu, so als summierte sich Mögliches quasi bugwellenartig, in der Art eines wachsenden Geldbetrages auf. Neue Möglichkeiten sorgen vielmehr vielfach für neue Unmöglichkeiten, spätestens wenn man sie nutzt. Welche Möglichkeiten verlieren wir also, wenn wir uns auf neue Möglichkeiten einlassen – und womöglich mit Haut und Haar?
Dierk Spreen
Der Körper in der Upgradekultur und die Grenzen des neuen Technokonservatismus
I. Was bedeutet Upgradekultur? Die Upgrade- oder Optimierungskultur ist die Kultur einer dynamischen und flexiblen, aber auch unzufriedenen und ungenügsamen Gesellschaft. Alle Individuen, ob jung oder alt, ob männlich, weiblich oder hybrid, ob beschäftigt oder arbeitslos haben sich in jeder denkbaren Hinsicht ständig zu optimieren. Nichts ist gut genug. Eigentlich ist gar nichts gut, weil alles immer noch besser sein kann. Festgelegte Kriterien gibt es folglich nicht, vielmehr kreist alles um Kompetenzen oder Möglichkeiten – mithin um Kategorien, denen eine gewisse Unbestimmtheit eigen ist, die aber auf jeden Fall immer ‚nach oben offen‘ sind. Verbunden mit dieser Kultur ist das Leitbild des menschlichen Cyborg. Technologie wandert in den Leib ein, optimiert, aus welchen Gründen und in welcher Hinsicht auch immer, seine Funktionen. Wenn aber Technik im Möglichkeitshorizont des sozialen Alltags zum Moment humaner Leiblichkeit wird, dann ist die Zeit der Demut vor der Natur oder vor mitgegebenen Begabungen vorbei. Die sozialpolitisch ernst zu nehmenden Schattenseiten bzw. Herausforderungen der Upgradekultur liegen jedoch jenseits des Verlustes der Demut vor dem Gegebenen, wie er seitens kulturkritischer Autoren beklagt wird.1 Eine dieser Herausforderungen resultiert aus der dynamischen Unbestimmtheit der Upgradekultur. Wenn es keine klar bestimmten Kriterien gibt und es per definitionem immer jemanden geben muss, der ‚besser‘ ist, dann können Entscheidungen über Jobs oder Positionen leicht intransparent werden. Zu den Schattenseiten zählen ebenso Überforderungsphänomene. Etwa die neuerdings diskutierten „Burnout-Kids“. Dazu kann es kommen, wenn Eltern „doch nur das Beste“ wollen und damit ihre Kinder in einen Optimierungstunnel schicken, wo selbst ‚sehr gut‘ nicht gut genug ist.2 Hintergrund hierfür ist eine keineswegs irrationale elter1 So etwa Michael J. Sandel 2008: Beherrschung und Gabe. Plädoyer gegen die Perfektion. In: Die politische Meinung, Heft 467, 26–32. 2 http://www.welt.de/vermischtes/article152811110/Wenn-die-Foerderwut-der-Eltern-die-Kinderkrank-macht.html. [03.03.2016].
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liche Angst um die Zukunft ihrer Kinder – eine Angst, die die Möglichkeit reflektiert, dass sie nicht mithalten könnten. Insbesondere kann die Wertebasis der Upgradekultur zu einer funktionalistisch-technokratischen Perspektive verleiten. Menschen werden dann nur im Hinblick auf ihren Nutzen für systemische Zwecke beurteilt. Wer stören könnte, fällt schon heraus. Und von denen, die ‚drin‘ sind, verlangen greedy institutions, dass sie ‚alles geben‘. Die Upgradekultur verweist also auf handfeste gesellschaftspolitische Risikodimensionen. Aber wie kann den in diese Kultur implantierten sozialen Risiken entgegengewirkt werden? – Die Voraussetzung für jede Antwort auf diese Frage ist, dass man diese Kultur erst einmal versteht. Nur hierzu soll und kann im Folgenden ein Beitrag geleistet werden.3 Um verbreiteten kulturkritischen Reflexen und manchmal nur im neuen Gewand daherkommenden, dennoch ganz traditionellen ‚geisteswissenschaftlichen‘ Vorbehalten gegen den technisch-wissenschaftlichen Fortschritt vorzubeugen, sei gleich gesagt, dass eine prinzipielle Ablehnung der Verbesserung der Menschen keinen Sinn macht. Ein prinzipielles Argument gegen das Upgrade des Humanum lässt sich nicht rechtfertigen, weil es die Möglichkeiten der Lebensrealisierung des Menschen sowohl auf individueller Ebene wie auf Gattungsebene dogmatisch einschränken würde. Es spricht, anthropologisch gesehen, schlichtweg nichts dagegen, z.B. Sinneserfahrungen zu erweitern, das Leben zu verlängern, schneller und nachhaltiger zu lernen, Wohlbefinden und Gesundheit zu fördern, Leistungen zu verbessern oder neue Räume zu erschließen. Es muss daher vor allem darum gehen, soziale Risiken oder Probleme, die sich durch die biotechnologische Hybridisierung und durch die Upgradekultur verschärfen oder überhaupt erst ergeben, zu erkennen und zu thematisieren.
II. Zur Genealogie der Upgradekultur Das Konzept des technologischen Körper-Enhancements zur Optimierung des Menschen in spezifischen Zweckkontexten hat eine ganze Reihe von Ursprüngen. Ich beschränke mich hier auf den Prothetisierungsdiskurs nach dem Ersten Weltkrieg. Durch die Untersuchung dieses exemplarischen Kontextes wird deutlich, wie der Körper in den Fokus einer Optimierungsperspektive kommen konnte. Weitere Bereiche, in denen die leibliche Verfassung des Menschen prinzipiell zum Problem wird, wären etwa Krieg und Militär, Leistungs- und Parasport, Weltraumfahrt oder Science-Fiction. Prothesen sind zunächst nur Ergänzungen des Körpers, die in der Regel dann genutzt werden, wenn dieser ein handicap aufweist. Das können Kriegsverstümmelungen, Unfallschäden, altersbedingte Einschränkungen der Sehkraft, angeborene oder genetisch ver3 Weiterführend Dierk Spreen 2015: Upgradekultur. Der Körper in der Enhancement-Gesellschaft. Bielefeld: transcript.
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ursachte Behinderungen etc. sein. In solchen Fällen versucht man, mittels künstlicher Ersatzglieder oder -organe diesem Mangel abzuhelfen oder ihn zumindest abzumildern. Schon zwischen dem 15. und 17. Jahrhundert waren eiserne Handprothesen keine vereinzelten Phänomene. Ein Beispiel ist die durch Goethe bekannt gemachte eiserne Hand des Götz von Berlichingen. Heute verwachsen mit porösen Titanlegierungen beschichtete Prothesen mit den Knochen, und Biochips, Elektroenzephalographie oder kybernetische Mensch-MaschineSysteme sorgen für ein zunehmend besseres Zusammenspiel von Körper und Technik. Das Leitbild der Prothese hat sich während dieses Fortschritts im 20. und 21. Jahrhundert grundlegend transformiert. Statt als Mangelersatz erscheint die Prothese zunehmend als Verbesserung eines an sich mangelhaften Körpers, dessen Einpassung in produktive Kontexte optimiert werden kann und soll. Sichtbar wird dieser Paradigmenwechsel schon im und nach dem Ersten Weltkrieg. Der Krieg löste einen regelrechten kulturellen Boom prothetischer Kunstglieder aus. Dabei ging es darum, kriegsbedingte Versehrungen auszugleichen und im zivilen und werktätigen Nachkriegsalltag besser zurechtzukommen. Die Prothesen waren als Lebensund Arbeitshilfe konzipiert und stellten eine technisch-mechanische Form der Wiedereingliederung der Kriegsversehrten in die Gesellschaft dar. Interessant ist der Streit darüber, ob die Prothese möglichst der natürlichen Funktion der Hand nachgebildet sein sollte, oder ob ihre Form an ihrer Funktion im Arbeitsprozess auszurichten sei. Soll sie ein Armersatz oder ein Ersatzarm sein? Ersatzarme konnten mit passenden Werkzeugfortsätzen ausgestattet werden, sodass Körper und industrielles Instrument zu einem neuen Dritten verschmelzen konnten. Gerade im Kontext der Idee des Armersatzes versuchte man die kinetischen Prothesen „direkt in den lebendigen Körper zu implementieren“.4 Dieses Leitbild zielte darauf ab, die künstliche Prothese so an die menschliche Muskulatur anzubinden, dass sie „zum Teil des Körpers“ wird.5 Schon seinerzeit wurde die Prothesentechnologie als „Wunder“ gepriesen und gab Anlass zu „Träumereien bezüglich der Unvollkommenheit der natürlichen Ausstattung des menschlichen Körpers“.6 Jenseits solcher Spekulationen wurden die Körper für die Prothese passend gemacht. Faktisch hieß das, dass Versehrte mehrere Operationen über sich ergehen lassen mussten, bis der Amputationsstumpf die optimale Form hatte, um mit der kinetischen Apparatur eine Verbindung einzugehen. Und je mehr Prothesen
4 Sabine Kienitz 2001: „Fleischgewordenes Elend“. Kriegsinvalidität und Körperbilder als Teil einer Erfahrungsgeschichte des Ersten Weltkrieges. In: Nikolaus Buschmann und Horst Carl (Hg.): Die Erfahrung des Krieges. Erfahrungsgeschichtliche Perspektiven von der Französischen Revolution bis zum Zweiten Weltkrieg. Paderborn: Schöningh, 215–237, hier 231. 5 Ebd. 6 Gerd Krumeich 1990: Verstümmelungen und Kunstglieder. Formen körperlicher Verheerungen im 1. Weltkrieg. In: Sozialwissenschaftliche Informationen, H. 2, 97–102, hier 99.
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technisch normiert wurden, umso mehr musste „auch der menschliche Körper auf operativem Wege diesen Standardisierungen angepasst werden“.7 Mit dem prothetischen Ersatzarm kam etwas Neues ins Spiel. Es ging nicht mehr nur um die medizinische Behandlung eines irgendwie beschädigten oder benachteiligten Körpers, sondern es konstituierte sich eine neue Perspektive, die sich im Gefolge der technisch erstaunlich erfolgreichen Möglichkeiten einstellte, lebendige Körper prothetisch zu verbessern: Nun gibt es „nur noch ein Kontinuum verbesserungsfähiger und verbesserungswürdiger Körper, die prothetisch mit ihren Umwelten verschaltet sind“.8 Der gesunde und unversehrte Körper befindet sich nicht außerhalb dieses Kontinuums: „Der Normale erscheint nunmehr als ‚potentieller Krüppel‘, der Krüppel hingegen ist keiner, solange er produktiv ist.“9 Für Prothesen konnte offen in Anzeigen, Ausstellungen oder auf Messen geworben werden. Dies erscheint erstaunlich, denn immerhin wurden dadurch die grausamen Kriegsfolgen offensichtlich, während ansonsten die mediale Berichterstattung der Zensur unterlag, um eine Beeinträchtigung der ‚Moral‘ zu verhindern. Der Grund für diesen scheinbaren Widerspruch könnte in jenem neuen Körperparadigma liegen: Es ging in diesem Diskurs eigentlich gar nicht um Kriegsfolgen, sondern um eine Normalisierung der Prothese, mithin um die zumindest implizite Verortung aller Körper in einem Mangelund Erweiterungsdispositiv. Die betreffenden Deutungseliten – Mediziner, Hersteller und Vertreter der zuständigen Sozialbehörden – priesen die Prothesen folgerichtig als innovativen Fortschritt bzw. als Zeichen deutscher Schaffenskraft und versuchten, sie aus ihrem Ursprungskontext – dem Ausnahmezustand des Krieges – herauszulösen. Ihr Diskurs konstruierte den Prothesenmenschen als Normalisierungsphänomen, wodurch Technologie und Soziales zu einem unproblematischen Funktionsganzen verschmolzen werden konnten. Eine Konsequenz dieses aufkeimenden sozialen Kybernetismus ist, dass das diszi plinarische Dispositiv der Bildung von Körper-Maschine-Komplexen durch Anreize zur Selbstregierung und Selbstoptimierung ergänzt wird. Kybernetische Modelle arbeiten mit den Paradigmen der Selbstreferenz, Selbststeuerung und Selbstverbesserung. Daher ist es kein Wunder, dass den Kriegsversehrten auch Techniken zur Selbstregulierung ihres neuen Lebens anempfohlen wurden. Psychologen diskutierten, ihnen „eine unternehmerische Laufbahn zu ermöglichen“.10 Schon hier begann man damit, die Problemfälle der Gesellschaft mit Subjektivierungsprogrammen zu traktieren, die sie in Unternehmer ihrer selbst verwandeln sollten. Betroffenen wurde „hartes Training“ und ein „starker Willen“ anempfohlen, um ihre körperlichen Nachteile mittels des technischen Ersatzes auszugleichen. Die Prothese hindere nicht an einem erfolgreichen Leben – 7 Kienitz 2001: „Fleischgewordenes Elend“, 231. 8 Karin Harrasser 2013: Körper 2.0. Über die technische Erweiterbarkeit des Menschen. Bielefeld: transcript, 95. 9 Ebd. 10 Ebd., 92.
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vielmehr sei sie eine Herausforderung, mittels der der Einzelne über sich hinauswachsen könne. Das Diskursmodell, das an die Betroffenen herangetragen wurde, ist das des männlichen „Überwinders“ von Schwächen bzw. Widerständen.11 Optimierungsgesichtspunkte spielten also bereits nach dem Ersten Weltkrieg eine Rolle. Auf die wirklichen Erfahrungen der ‚Prothesenmenschen‘ wurde von den genannten Deutungseliten und den zuständigen Behörden wenig Rücksicht genommen. Im Rahmen des normalisierenden Reintegrationsdiskurses wurde der Bezug zur Kriegserfahrung möglichst unterschlagen, und die spezifischen Bedürfnisse der Versehrten erschienen als „nachrangig“ oder sogar als „Störfaktor“.12 Die Erfahrungen der Versehrten wurden abgewertet und negiert, d.h. sie wurden z.B. als neurotische Phantastereien oder Betrugsabsichten abgetan. Im Zuge der Umstrukturierung des Sozialversicherungssystems wurden Arbeitsunfall, Behinderung und Kriegsbeschädigung gleichgestellt. „Mit dieser Gleichstellung versuchte man, die Symbolik des Krieges aus dem Bewusstsein der Nachkriegsgesellschaft zu tilgen: Der Kriegsbeschädigte sollte unsichtbar werden.“13 Im Kontext der prothetischen Diskurse während und nach dem Ersten Weltkrieg lässt sich also eine gravierende Verschiebung im medizinischen Paradigma konstatieren. Die Prothetik steht nicht mehr nur im Dienste der Heilung, sondern vielmehr auch im Dienste der Erweiterung der körperlich-individuellen Möglichkeiten. Die Optimierungsimperative werden letztlich an alle Individuen herangetragen und drängen auf selbstgesteuerte Erweiterung zwecks Integration in das soziale Gefüge bzw. seine spezifischen Formationen. In der gegenwärtigen Sport- und Sinnesprothetik sowie in der Schönheitschirurgie setzt sich dieser Trend fort. Der Behinderte wird „zum Vorläufer“ des „überrüsteten Gesunden“14 und einer produktiven Form der Selbstführung.
III. Sozialer Wandel und Upgradekultur Die Umgestaltung, die in den verschiedenen Problematisierungskontexten, von denen der prothetische Nachkriegsdiskurs nur einer ist, anempfohlen wird, ist eine technische Optimierung. Es handelt sich um eine künstliche Rekonstruktion, die die Körper für besondere Anforderungen fit macht. Die Sichtweise der Technokaten und medizinischen Experten nimmt dabei den Übergang vom kriegsversehrten zum normalen Körper 11 Sabine Kienitz 2010: Prothesen-Körper. Anmerkungen zu einer kulturwissenschaftlichen Technikforschung. In: Zeitschrift für Volkskunde, Jg. 106, Bd. 2, 137–162, hier 151, 157. 12 Helmut Fries 1997: Vorbild oder Spiegelbild? Kriegsbeschädigtenfürsorge in Deutschland 1914–1919. In: Wolfgang Michalka (Hg.): Der Erste Weltkrieg. Wirkung, Wahrnehmung, Analyse. Weyarn: Seehamer, 563–580, hier 571 f. 13 Sabine Kienitz 2008: Beschädigte Helden. Kriegsinvalidität und Körperbilder 1914–1923. Paderborn: Schöningh, 294. 14 Paul Virilio 1994: Die Eroberung des Körpers. Vom Übermenschen zum überreizten Menschen. München: Hanser, 164.
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ebenso vorweg wie künstlerische Utopien und Produktionen. Dennoch bleibt es erklärungsbedürftig, wie aus letztlich randständigen Problematisierungsweisen des Körpers eine allgemeine Upgradekultur erwachsen kann. Der Begriff der Upgradekultur adressiert ja die beobachtbare Tendenz, Optimierung und Enhancement in eine allgemeine Werttatsache zu verwandeln, d.h. in der entsprechenden Kultur sollen sich alle aktiv verbessern und jeder soll jederzeit an der Selbstoptimierung arbeiten. In der zeitgenössischen Upgradekultur machen sich allerorten und jederzeit Optimierungsimperative geltend: Kompetenzen sind zu erweitern, Leistungen zu optimieren, die Fähigkeiten zu steigern, die körperliche Fitness und Erscheinung sowie geistige Präsenz zu verbessern. Reserven sind zu mobilisieren, Potentiale zu aktivieren. Bei diesem Streben nach rollenspezifischer Exzellenz geht es um Kompetenzen, Fähigkeiten, Ausdruck, Körperlichkeit, Präsenz sowie um Selbstaktivierung und Motivation – mithin nicht um Äußerlichkeiten, sondern um Modalitäten der jeweils individuellen Existenz. Daher ist es kein Zufall, dass in der Upgradekultur die körperliche Dimension eine auffällige Bedeutung gewinnt: Die Optimierungsimperative beziehen sich nicht auf Äußerlichkeiten, sondern sie gehen in die ‚Tiefe‘, sie zielen auf das Sein – und damit auf den Leib, d.h. auf das, was man ist und nicht einfach nur hat. Die körperliche Dimension des Upgradings wiederum involviert die technologischen Methoden des Enhancements: Gendiagnostik und -optimierung durch pränatale Selektion, Steigerung der Konzentrationsfähigkeit durch cognitive enhancement etwa mittels Ritalin, Arbeit an körperlicher und geistiger Leistungsfähigkeit durch Fitnesstraining und Eiweißdoping, von mobilen Apps gesteuerte Körperverhältnisse oder Schönheitsprothetik. Im Kontext der Upgradekultur wird Technologie zu einem „intimen“ Aspekt menschlicher Leiblichkeit, wie Donna Haraway anmerkt.15 Erklärt sich also der Wertewandel zu einer generalisierten Upgradekultur, dann erklärt sich die Invasion der Cyborgs in den Alltag praktisch mit, denn die Motivation zum technischen Enhancement des Körpers ist in dieser Kultur mitenthalten. Die Generalisierung des Upgradings lässt sich mithilfe des soziologischen Konzepts der kulturellen Normalisierung erklären. Prozesse kultureller Normalisierung sind rückgebunden an den großen sozialstrukturellen Wandel, der sich in den westlichen Gesellschaften nach dem Zweiten Weltkrieg vollzogen hat und der unter dem Stichwort „Individualisierung“ diskutiert wird. Im Zeitalter der Individualisierung tritt die Verantwortung des Einzelnen für sein Leben und sein persönliches Lebensrisiko an die Stelle des Standes- oder Klassenschicksals. Dieser Wandel wird von dem Verlust der Einbindung in traditionale Orientierungssysteme und Rollenidentitäten und in hergebrachte schichtspezifische Solidargruppen und -kulturen begleitet. Giddens spricht auch von der „Entbettung“ des Individuums.16 15 Donna Haraway 1995: Monströse Versprechen. Coyote-Geschichten zu Feminismus und Technowissenschaft. Hamburg: Argument, 182. 16 Anthony Giddens 1996: Konsequenzen der Moderne. Frankfurt a.M.: Suhrkamp.
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In einer entbetteten Gesellschaft gibt es – zumindest idealtypisch gesehen – keine überkommenen Antworten auf Fragen danach, wer man sein soll, welche soziale Position man einnehmen soll und was man tun soll. Es gibt keine tradierten Rollenbilder für die Identitätsbildung, keine vorgefertigten sozialen Platzanweisungen und sicheren Biographiepfade und keine a priori verbindlichen Muster für die Handlungs- und Wert orientierung. Mit der Entbettung aus fraglosen Kollektivnormen reicht die Gesellschaft Sicherheitsund Orientierungsfragen an die Individuen weiter. In der soziologischen Theorie wird diese Perspektivenverschiebung unter dem Begriff der „Autonomiezumutung“ diskutiert.17 Von einer Zumutung ist deshalb die Rede, weil die Menschen gerade in den modernen Individualisierungsgesellschaften fundamental auf institutionelle Rahmen angewiesen sind, die sich ihrem individuellen Einfluss aber nahezu vollständig entziehen. Auch aufgrund dieser Zumutung von Verantwortung sprach Beck von einer „Risikogesellschaft“. 18 Gerade die mit der Entbettung des Individuums aus traditionell-kollektiven Verbindlichkeiten einhergehende Orientierungsunsicherheit ist für das Aufkommen eines neuen normativen Modus verantwortlich zu machen, der der Risiko- und Individualisierungsgesellschaft entspricht. Dabei handelt es sich nicht um einen Werteverfall, sondern um einen neuen Weg, Werte und Orientierung zu generieren. In einer individualisierten Gesellschaft müssen Orientierung und Werte durch Anschauung der Anderen und Beobachtung der Gesellschaft gewonnen werden – also a posteriori. Vom Individuum aus gesehen geht es nicht einfach darum, sich an Bewährtem auszurichten, sondern darum, überhaupt erst festzustellen, was als Bewährtes gelten könnte. Dieses Phänomen aktiver Orientierung und Selbstadjustierung bei gleichzeitiger permanenter Beobachtung der Identitätsmuster, Biographiekonzepte und Wertorientierungen der Anderen konnten David Riesman und seine Mitarbeiter bereits Mitte des 20. Jahrhunderts in der amerikanischen Mittelklasse diagnostizieren. Sie sprachen vom Amerikaner als einem other-directed character und meinten damit eine generelle Orientierung der Individuen aneinander.19 In der neueren Sozialtheorie wird die von Riesman und seinen Mitarbeitern beschriebene Entwicklung als kulturelles Normalisierungsphänomen gedeutet. Normalisierung heißt, dass die offenen Fragen nach Identität, sozialer Karriere und Werten nicht einer Tradition entnommen werden können, sondern in einem gesellschaftsumspannenden kybernetischen Regelkreis aus Beobachtung, Handeln und Rückmeldung erst generiert werden. Die aus traditionalen Gesellungen freigesetzten Individuen informieren sich bei 17 Thomas Kron 2006: Individualisierung – von der Entbettung und Entfremdung über die riskante Autonomie zur „Schaumgeborgenheit“. In: Bernd Dollinger (Hg.): Individualität als Risiko? Soziale Pädagogik als Modernisierungsmanagement. Berlin: Lit, 97–123. 18 Ulrich Beck 1986: Risikogesellschaft. Auf dem Weg in eine andere Moderne. Frankfurt a.M.: Suhrkamp. 19 David Riesman, Reuel Denney und Nathan Glazer 1958: Die einsame Masse. Eine Untersuchung der Wandlungen des amerikanischen Charakters. Hamburg: Rowohlt.
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ihrer Suche nach Orientierung zunächst mithilfe der Medien über kulturell zirkulierende Sinnangebote, um Aspekte dieses Sinnangebots anschließend selektiv-eigensinnig zu internalisieren.20 Normalisierung funktioniert also als Wechselspiel aus Selbst- und Fremdbeobachtung sowie Selbst- und Fremdbewertung. Sie verspricht Identität, Anschluss und Erfolg, Orientierung, kurz: Sie vergesellschaftet. Aber Entbettung, Individualisierung und kulturelle Normalisierung summieren sich auf zur Generalisierung des Optimierungsgebotes. Denn „die Schranken, die dem menschlichen Handeln früher gesetzt waren – die Gebote von Gott und Natur, Herkunft und Stand –, werden immer weiter zerrieben. Die Folge ist, dass bei der Definition von Zielen keine Unterbrecher, keine Stoppregeln mehr eingebaut sind. Was stattdessen zur Handlungsnorm wird, ist das Gebot der Steigerung: Noch schneller! Noch größer! Noch schöner!“21 Daher zielt die kulturelle Normalisierung inzwischen nicht mehr lediglich auf Ausrichtung am verallgemeinerten Anderen, sondern vielmehr auf permanente und flexible Selbstadjustierungsprozesse, die sich differenzierend und optimierend auf ein soziales Vergleichsfeld beziehen. Die Individuen haben sich andauernd mit anderen zu vergleichen und sich selbst ständig kritisch zu befragen. Sie müssen allzeit bereit sein, sich neu auszurichten und im Konkurrenzfeld besser aufzustellen. Kurz: In die ‚Selbstbestimmung‘ ist eine innere Optimierungsstrategie eingeschrieben. Die auf dem permanenten sozialen Vergleich beruhenden Selbstadjustierungsprozesse münden in einen Selbstverbesserungsimperativ: „Selbstverwirklichung“ ist in individuelle „Produktivkraft“ umzumünzen.22 Der konkurrierende soziale Vergleich ist das Vergesellschaftungsmodell, das am Ende bleibt, wenn Solidaritätsformen wie Gemeinschaft, Stand oder Klasse im Zuge des fortschreitenden individualisierenden Modernisierungsprozesses aufgehoben werden. Den Feldern Markt, Krieg, Spiel und Sport werden deshalb bevorzugt die Metaphern entnommen, mithilfe derer die Gegenwart beschrieben wird. Vor diesem Hintergrund ist es auch kein Wunder, dass sich der Optimierungsgedanke von konkreten Zwecken zunehmend löst und zum Selbstzweck bzw. zu einem kulturellen Wert wird. Die „Kultur der Optimierung“ hat sich „auf eine Art und Weise verselbständigt, dass nicht mehr die Veränderung und der Versuch einer Verbesserung der Begründung bedürfen, sondern nun vielmehr begründet werden muss, dass eine Optimierung unterlassen wird“.23 Man 20 Jürgen Link 1998: Versuch über den Normalismus. Wie Normalität produziert wird. 2., aktualisierte und erweiterte Auflage. Opladen: Westdeutscher Verlag. 21 Elisabeth Beck-Gernsheim 1990: Freie Liebe, freie Scheidung. Zum Doppelgesicht von Freisetzungsprozessen. In: Ulrich Beck, Elisabeth Beck-Gernsheim: Das ganz normale Chaos der Liebe. Frankfurt a.M.: Suhrkamp, 105–134, hier 124. 22 Hannelore Bublitz 2005: In der Zerstreuung organisiert. Paradoxien und Phantasmen der Massenkultur. Bielefeld: transcript, 153. 23 Christian Lenk 2006: Verbesserung als Selbstzweck? Psyche und Körper zwischen Abweichung, Norm und Optimum. In: Johann Ach, Arnd Pollmann (Hg.): No body is perfect. Baumaßnahmen am menschlichen Körper. Bioethische und ästhetische Aufrisse. Bielefeld: transcript, 63–78, hier 66.
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arbeitet nicht an sich selbst, um ein bestimmtes Ziel zu erreichen, sondern man setzt sich Ziele, um sich zu optimieren. Die optimierende Normalisierung verweist also auf die kulturelle Generalisierung des konkurrierenden sozialen Vergleichs. In dieser Kultur des ständigen Wetteiferns und Verbesserns fallen Individualisierungs- und Vergesellschaftungsprozess zusammen.
IV. Medien und Körper Wie aber funktioniert die optimierende Normalisierung? Wie ist es möglich, in modernen Gesellschaften ein solches kulturelles Modell zu implementieren? – Von entscheidender Bedeutung sind hierbei die Medien und zwar sowohl in ihrer informierenden als auch in ihrer unterhaltenden Gestalt. Sie entnehmen der Gesellschaft Informationen zur Subjektbildung und ermöglichen damit die Verwandlung dessen, was ist, in das, was immer ein bisschen besser sein soll. In dieser Normalisierungsordnung gewinnen die Extreme, Spitzen und Abweichungen eine neue Bedeutung, denn sie werden selbst normalisiert, d.h. für die normale Subjektbildung bedeutsam. Und dies in dreierlei Hinsicht: Erstens liefert das Wissen über das Abnormale und Diskriminierte Informationen darüber, was nicht mehr in das Normalitätsspektrum fällt. Was muss ich vermeiden, um nicht als pathologischer oder asozialer Fall stigmatisiert zu werden? Zweitens beinhaltet das Wissen über Leistungs- und Motivationsspitzen, die ja ebenfalls eine Abweichung darstellen, Hinweise und Anregungen zu den Selbsttechniken, die man beherrschen muss, um aktiv und sozial merkbar den Exzellenz-Pfad zu beschreiten. Und drittens stellt das Wissen über die Identitätskrisen, Selbstzweifel und kleinen Abnormitäten der Anderen Informationen bereit, die es erlauben, die eigene Abweichung zu kalkulieren. Denn es bedarf ja einer gewissen Individualität und Besonderheit, um unverwechselbar zu bleiben. Wie aber kann verhindert werden, dass man dabei unbeabsichtigt über die Stränge schlägt? Alle drei Varianten versorgen die Individuen mit Wissen und fordern sie zur Aktivität auf. Individualisierung bedarf also, gerade weil sie auf einer umfassenden sozialen Entbettung beruht, einer kulturellen Normalisierung. Diese versieht die individualisierten Menschen – Frauen, Männer und Dritte aller Art, wie zum Beispiel Cyborgs – mit den notwendigen Orientierungen, die es ihnen gestatten, sich flexibel und dynamisch im Raum der institutionellen Abhängigkeiten zu positionieren, wobei das Risiko der Bruchlandung immer den Hintergrund bildet. Dabei beinhaltet der Individualisierungsprozess der Gegenwart systematisch Strategien der Selbstoptimierung. Es geht um soziale Anschlussfähigkeit und das Streben nach persönlichem Herausragen gleichzeitig – und zwar für alle.
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Entsprechend der existentiellen Adressierung des Individuums im Kontext der optimierenden Normalisierung gerät der Körper ins Visier der Verbesserungsimperative. Mittels mobiler Gesundheits-Apps, intelligenter Waagen, Schlafsensoren, Schrittzähler etc. kann sich das Individuum laufend Feedback über seinen körperlichen Fitness- und Gesundheitszustand geben und die Wege zu weiterer Verbesserung weisen lassen. Inzwischen finden sich Optimierungs-Apps auf jedem neuen Smartphone. Sie eröffnen die technische Option, den eigenen Körper umfassend zu vermessen und ihn im Abgleich mit den bereits gewonnen Daten zu verbessern (self monitoring). Das Ganze kann darüber hinaus auf Webplattformen veröffentlicht werden, sodass ein sozialer Vergleich möglich wird. Individuelle Optimierung und soziale Rückversicherung werden so verkoppelt. Die körperbezogenen Optimierungstrends lassen sich gut mit der Autonomiezumutung in Zusammenhang bringen. Denn der Individualisierungsprozess erzeugt ein „entbettetes“ Selbst, dem die gesamte Verantwortung für seinen Lebensverlauf aufgebürdet wird. Damit liegt es aber auch nahe, dass neue technische Möglichkeiten, die es dem Individuum erlauben, sein Leben – und stellvertretend dafür: seinen eigenen Körper – zu kontrollieren, entsprechend genutzt werden. Durch die Körper- und Selbstoptimierung übernehmen die Einzelnen eben jene Verantwortung, die zugemutet wird. Während der großgesellschaftliche Rahmen sich zunehmend den subjektiven Einflussmöglichkeiten entzieht, kann ihnen der Leib mittels neuer Technologien unterworfen werden. Am Körper zeigt sich, dass man die Optimierungsimperative lebt, dass man aktiv ist. Der Körper signalisiert die richtige Einstellung und wird damit zur Bedingung sozialer Integration. Passend dazu stellt die Vernetzung der verdateten Körper Möglichkeiten des sozialen Vergleichs und der sozialen Einbettung bereit. Das alles funktioniert verstärkt auch dann, wenn der Körper behindert ist – es muss nur sichtbar werden, dass nicht das handicap den Körper regiert, sondern der Wille zur Selbstverbesserung. Damit erweist sich das optimierende Körperverhältnis als Symptom des Individualisierungsprozesses. – In Bezug auf den Körper kann Autonomie eingelöst und zugleich sozial rückgebunden werden.
V. Funktionalität und Dysfunktionalität von Risiken Da Upgrading und Enhancement im Kontext einer kybernetischen Gesellschaft stehen, in der es vor allem darum geht, dass Funktionen erfüllt werden und sich zum Zwecke der Funktionserfüllung zu verbessern, werden von dem Risiko der Exklusion alle jene bedroht, die Sand ins Getriebe streuen könnten. Aber: Nobody is perfect. – Es gibt also gegen jeden immer ein Argument. Vorurteilsbelastete Kollektivkategorien – Rasse, Herkunft, Geschlecht, Alter – oder Codes der Sozialdimension (‚kenn ich‘ /‚kenn ich nicht‘ bzw. ‚empfohlen‘/‚nicht-empfohlen‘) können dann entscheidend werden. Exklusion, Rassismus im weitesten Sinne, Stigmatisie-
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rung, Mobbing, ‚Vitamin B‘– das sind folglich Praktiken, in denen sich auch die inhärenten Risiken der Upgradekultur zeigen. Sozialstrukturell betrachtet, treffen diese Exklusionsrisiken bestimmte soziale Gruppen besonders stark, aber sie bedrohen alle Gesellschaftsmitglieder. Wir sind alle nur Kandidatinnen und Kandidaten. Die funktionalistische Upgradekultur enthält somit einen Selbstwiderspruch. Aufgrund der im Optimierungsdiskurs angelegten Wert- und Urteilsdiffusion beruht die Entscheidung über Ein- oder Ausschluss faktisch häufig auf Kriterien, die mit individuellen Potentialen wenig zu tun haben. Diese inhärente Widersprüchlichkeit ist aber durchaus funktional, denn in der Integrationszone zeitigen die generalisierten Exklusionsrisiken einen ‚positiven‘ Rückkopplungseffekt. Das Risikowissen erhöht die Motivation zur normalistischen Selbstoptimierung und wirkt daher ganz im Sinne dieser Normalisierung. Außerdem wird die Parole ausgegeben, dass auch die sozialen Kompetenzen und Netzwerke zu optimieren sind – entweder um Exklusion zu vermeiden oder um Inklusion zu erreichen. Diese Entparadoxierung erlaubt es, soziale Exklusionsrisiken als Ausdruck mangelnder sozialer Vernetzung etc. zu individualisieren und eben dadurch wieder funktional zu wenden. Wenn das faktische Auswahlsystem allerdings Leistungs-, Kompetenz- und Bildungskriterien zu parodieren droht, dann kann sich eine generelle anomische Situation ergeben. In einer solchen Situation sind Orientierungen und Werte zwar noch vorhanden, aber den Akteuren wird zunehmend unklar, welche Kriterien ‚denn nun eigentlich‘ gelten. Alternative Modelle kommen ins Spiel, Selbstverständlichkeiten verlieren ihre Bedeutung, öffentliche Darstellungen erscheinen zunehmend unglaubwürdig, soziale Werte werden als Hypermoral verunglimpft, Verschwörungstheorien und Unsicherheitsgefühle nehmen zu. Dann kommen Zweifel auf, welche Realität real ist. Resümierend kann also festgehalten werden, dass die Generalisierung der Upgradeund Cyborg-Kultur sich aus einem Prozess kultureller Normalisierung erklärt, dessen Funktion in der Substitution fragloser traditionaler Normen und Werte besteht. Die im Zuge der Modernisierung entbetteten Individuen beziehen ihre Wertorientierungen aus dem ständigen Vergleich. Dabei lässt sich die Normalisierung nicht auf eine bloße Gleichmacherei herunterbrechen, da in sie ein aktivierendes und optimierendes Konkurrenzmodell eingeschrieben ist, das differenziert und exkludiert. Im Zuge dieses Wertewandels wird der Körper zum sichtbaren Marker der Optimierungskultur. An ihm zeigt sich, dass man die Ideologie teilt und bereit ist, das tägliche Passiergefecht aufzunehmen. Mit andern Worten: Die Upgradekultur ist die Kultur der Individualisierungsgesellschaft. Mit ihr entsteht eine hegemoniale kulturelle Hybridation.
VI. Grenzen des neuen Technokonservatismus In Angesicht der Upgradekultur liegt es nahe, mit Bruno Latour zu argumentieren. Der verbreitete sozialtheoretische Rückgriff auf Latour liegt natürlich in der zunehmenden
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Bedeutung von Hybridität begründet, in der Latour eine positive normative Bedeutung sieht. Für Latour sind die Dinge, die Maschinen und die Technologien letztlich der moralische Kitt, der die Gesellschaft zusammenhält. Technik ist „stabilisierte Gesellschaft“.24 Latour und die mit seinem Namen verbundene Actor-Network-Theory (ANT) bieten eine technikorientierte Sozialtheorie, die ebenfalls auf die Individualisierungsgesellschaft und die Bedeutung des Körpers abzielt. Aus der soziologischen Perspektive, die die Upgradeund Optimierungsdynamik der Individualisierung herausstellt, erweist sich Latours Sozialtheorie allerdings als nicht zureichend. Zugleich aber kann die Resonanz, die Latours Diskurs im intellektuellen Feld erfährt, als eine technokonservative Antwort auf diese Dynamik verstanden werden. Zeitdiagnostisch konstatiert Latour ganz konservativ eine soziale Desintegration, die sich als Verfall handlungsleitender kollektiver Normen, also als Werteverfall, äußere: „Im Übrigen scheinen sich heutzutage Männer und Frauen durch nichts mehr disziplinieren zu lassen; sie weigern sich zu lernen, die Tür bei Kälte geschlossen zu halten. […] wir alle wissen, dass die Menschen auf nichts mehr achten, wenn man sie nicht mit immer härteren Maßnahmen zur Ordnung ruft.“25 Latour zufolge sind es nicht mehr Werte und Traditionen, sondern vielmehr die Dinge, die Maschinen und die Technologien, die soziale Ordnung konstituieren. Gesellschaft ist keine soziale Veranstaltung, sondern eine „soziotechnische“.26 Erst die Netzwerke aus menschlichen und nicht-menschlichen Akteuren erzeugen Gesellschaft, weil sie materialisierte Moral ins Spiel bringen. Der beschwerte Schlüsselanhänger, der die Hotelgäste daran erinnert, beim Verlassen des Hotels den Schlüssel an der Rezeption abzugeben, der Berliner Schlüssel, dessen technische Konstruktion die Mieter zwingt, das Haus beim Verlassen oder Betreten wieder zu verschließen, der ‚schlafende Polizist‘, der Kraft seiner Materialität die Autofahrer dazu nötigt, die Geschwindigkeitsbegrenzung einzuhalten, der Personalcomputer, dessen nervös blinkender Curser sanft aber penetrant an die Pflicht zur Arbeit mahnt, oder die Eieruhr, die in der Küche ein strenges Zeitregime errichtet. – Alles Technologien, denen eine normierende Funktion zukommt: „Es ist uns gelungen, an nicht-menschliche Wesen nicht nur Kraft, sondern auch Werte, Pflichten und eine Ethik zu übertragen.“27
24 Bruno Latour 2006: Technik ist stabilisierte Gesellschaft. In: Andréa Belliger und David J. Krieger (Hg.): ANThology. Ein einführendes Handbuch zur Akteur-Netzwerk-Theorie. Bielefeld: transcript, 369–397. 25 Bruno Latour 1996: Der Berliner Schlüssel. Erkundungen eines Liebhabers der Wissenschaften. Berlin: Akademie, 80. 26 John Law 2006: Monster, Maschinen und soziotechnische Beziehungen. In: Andréa Belliger und David J. Krieger (Hg.): ANThology. Ein einführendes Handbuch zur Akteur-Netzwerk-Theorie. Bielefeld: transcript, 343–367. 27 Latour 1996: Der Berliner Schlüssel, 68.
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Im Kern kehrt Latour das Argument Emile Durkheims, wonach intelligible moralische Tatsachen „soziale Dinge“28 seien, einfach um: Für ihn werden die Dinge zu materiellen moralischen Größen. Innerhalb dieser Verkehrung ist die „symmetrische Anthropologie“, wonach Menschen und Nicht-Menschen in derselben Ebene zu verorten sind und gleichberechtigte Mitglieder der Gesellschaft darstellen, nur konsequent, weil die Unterscheidungen zwischen Intelligibilität und Materialität, zwischen praktischer Vernunft und Sachzwängen und zwischen Freiheit und Naturzwang, die für das moderne Denken konstitutiv sind, eingeebnet werden.29 Aus der ANT-Sicht sind „Maschinen mit denselben analytischen Prozeduren zu behandeln wie Menschen“.30 Vivian Sobchack entschlüsselt diese symmetrische Sichtweise als Technoanimismus und -fetischismus. Der ANTDiskurs belebe die Prothesen und lasse sie die Kontrolle übernehmen.31 Das nicht länger durch innere Einsicht und praktische Vernunft geleitete Individuum der Individualisierungsgesellschaft – schon David Riesman spricht vom „außen-geleiteten Charakter“ – wird von den Maschinen sozialisiert und im gesellschaftlichen Verbund gehalten. Anstelle internalisierter kollektiver Werte und Normen wird Technik zur Konstitutionsbedingung sozialen Verkehrs und sozialer Interaktion, Gesellschaft erscheint als ein hybrides Arrangement menschlicher und nicht-menschlicher Aktanten. Diese heterogenen Arrangements sind der „die soziale Welt mehr oder weniger stabil zusammenhaltende […] ‚Kleber‘“.32 Und der Körper? – Im Rahmen von ANT erscheint der Leib als ein vernetztes System aus organischen und technischen Entitäten. Wir sind alle „zum Teil Maschinen“, bemerkt daher John Law unter Referenz auf Donna Haraways „Cyborgs“.33 Die Inkorporierung von Technologie und instrumentellen Dispositiven (Skripts) ist immer eine „innere Disziplinierung“34 und impliziert damit – in Latour’schen Kategorien gedacht – ebenfalls eine moralisch-technische Sozialisationsleistung. Dieses technisierte normative Moment, das Latour und ANT hervorheben, machen aus dieser Techniksoziologie auch eine Technikethik – und zwar eine konservative, was der Rückgriff auf den Topos des Werteverfalls schon nahelegt.35 Damit lanciert Latour 28 Emile Durkheim 1980: Die Regeln der soziologischen Methode. Hg. und eingeleitet von René König. Frankfurt a.M.: Suhrkamp, 125 f. 29 Bruno Latour 1998: Wir sind nie modern gewesen. Versuch einer symmetrischen Anthropologie. Frankfurt a.M.: Fischer. 30 Law 2006: Monster, Maschinen und soziotechnische Beziehungen, 351. 31 Vivian Sobchack 2004: Carnal Thoughts. Embodiment and Moving Image Culture. Berkeley: University of California Press, 205–225. 32 Law 2006: Monster, Maschinen und soziotechnische Beziehungen, 350. 33 Ebd., 360. 34 Dierk Spreen 2000: Cyborgs und andere Technokörper. Ein Essay im Grenzbereich von Bios und Techne. 2. Auflage. Passau: edfc, 46. 35 Wolfram Bergande 2012: Der Exot der Immanenzebene. Eine Kritik der Akteur-Netzwerk-Theorie als Ideologie. In: Klaus Bernsau, Thomas Friedrich und Klaus Schwarzfischer (Hg.): Management als Design? Design als Management? Intra-, inter- und transdisziplinäre Perspektiven auf die Gestaltung von ökonomischer, ästhetischer und moralischer Lebenswelt. Regensburg: InCodes, 195–212.
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einen konservativen Ordnungsdiskurs. Es geht ihm um die Stabilisierung der gesellschaftlichen Dynamik. Ihn treibt die Angst vor der sozialen Anomie und vor dem Gebrauch der Freiheit. In der Konsequenz seiner symmetrisierenden Denkbewegung geht es immer um die Eingliederung der menschlichen Akteure ins technisch stabilisierte Gefüge oder in Kollektive mit nichtmenschlichen Wesen. Dieser Technokonservativismus kann aber nicht zum Kern der gegenwärtigen Upgradekultur vordringen. Mit Latours Konzept lässt sich nur schwer die Dynamik der optimierenden Normalisierung erklären. In der Upgradekultur geht es nicht um Stabilisierung, sondern um Steigerungsbewegungen, um den konkurrierenden Vergleich, um Flexibilität, Aktivierung und Kreativität. In diese Kultur ist Verbesserung eingeschrieben und genau diese Norm lässt sich im ANT-Konzept nicht darstellen, weil Maschinen eben funktionieren oder nicht funktionieren, weil sie sich nicht verbessern, sondern vielmehr der Wartung oder Ausbesserung bedürfen. Bezüglich der Maschinen lautet die Leitunterscheidung ihrer Beobachter ‚heil/kaputt‘ oder ‚fehlerfrei/fehlerhaft‘. Dieser Beobachtungskontext drückt „besondere Interessen an der Aufrechterhaltung regelmäßiger Verläufe“ aus.36 Maschinen sind also konservativ – und genau das ist es, was Latour so an ihnen schätzt. Der Drang zur nächsten, besseren Version aber kommt nicht aus den Maschinen und Apparaturen selbst, sondern stammt aus den Logiken der Konkurrenz, des Wettkampfes oder des Krieges – Logiken, die das steuernde Prinzip der optimierenden Normalisierung ausdrücken. Zwar ist die Upgradekultur konstitutiv technisch-medial vermittelt, weil ohne Medien der konkurrierende soziale Vergleich unmöglich ist und ohne EnhancementTechnologien jedes Körper-Upgrading nur symbolisch bleibt, aber die sie auszeichnende Dynamik ist eine soziale und kulturelle, keine technische. Die Dynamik der Optimierungskultur setzt Akteure voraus, die die Freiheit innehaben, sich im handelnden Selbstund Fremdbezug zu verändern, um sich selbst zu verbessern. Maschinen sind zu sehr gewohnheitsorientiert. Ein solches Streben ist ihnen fremd. Mit anderen Worten: Eine soziale und kulturelle Ordnungsstruktur wie die optimierende Normalisierung basiert konstitutiv auf sinnhaft handelnden Wesen, also auf einem Typus von Akteuren, die im Vergleich zu den Anderen an ihrem Selbst- und Körperbild arbeiten, die sich also sinnlich-produktiv und sinnhaft-kognitiv auf den Blick der Anderen beziehen, die ebenso verfahren, und die dabei alle gemeinsam dem Prinzip der Führung durch Selbstführung unterworfen sind.37 Diese sinnhaft handelnden Akteure können selbstverständlich auch human cyborgs sein.38 Die phänomenologische Plausibilität, die den Rückgriff auf Latour 36 Niklas Luhmann 1990: Die Wissenschaft der Gesellschaft. Frankfurt a.M.: Suhrkamp, 263. Hervorhebung von mir. 37 Michel Foucault 1987: Das Subjekt und die Macht. In: Hubert L. Dreyfus und Paul Rabinow: Jenseits von Strukturalismus und Hermeneutik. Weinheim: Beltz, 241–261. 38 Dierk Spreen 2014: Not Terminated. Cyborgized Men still remain Human Beings. In: Jos de Mul (Hg.): Plessner’s Philosophical Anthropology. Perspectives and Prospects. Cambridge: Cambridge Scholars Publishing, 425–442.
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in der gegenwärtigen Debatte zum Körper-Enhancement zum Teil sicher erklärt, entpuppt sich damit als zumindest voreilig. Denn die soziokulturelle Dynamik dieses Enhancements bleibt unverstanden. Ist es vielleicht gerade dieser im Kern konservative Charakter von ANT, der diese Theorie so beliebt macht? Sie formuliert ja ein normatives Motiv, das den verbreiteten Wunsch zum Innehalten und zur Entschleunigung anspricht. Latour bietet ein ‚kritisches‘ Raster zur Bewertung der Upgradekultur und ihrer zum Teil hysterischen Effekte und Imperative an, ohne dass man ihm naive Maschinenstürmerei vorwerfen könnte. Wenn man an Überlastungsphänomene wie die oben erwähnten Burnout-Kids denkt, erscheint das nur zu verständlich. „Passiv werden, Objekt werden, das sind“, so Karin Harrasser unter Rückgriff auf ANT, „interessante Optionen in einer vor Vitalität nur so strotzenden politischen Ökonomie.“39 Allerdings ist der Preis für diese sowohl theoretische als auch politische Entscheidung hoch, denn was man neben den soziologischen Erklärungsmängeln mit einkauft, sind eine überzogene Angst vor sozialer Anomie und vor der Individualisierungsgesellschaft sowie die hochproblematische Dekonstruktion subjektiver Entscheidungsfreiheit. Harrasser verweist darauf, dass ANT „Teilsouveränität“, „Depotenzierung des Selbst“ oder sogar „Objektwerdung“ als konzeptuelle Strategien gegen den Aktivierungs- und Optimierungsdruck nahelegt. Im Kern handelt es sich hier um eine Anempfehlung von Unmündigkeit, weshalb sie diese Konzepte in der folgenden Diskussion auf den Prüfstand stellt.40 „Immer besteht die Gefahr“, so Harrasser in der kritischen Wendung, „dass in einer, wie auch immer heterogen zusammengesetzten Assoziation die Möglichkeit der Widerrede, der Artikulation von Unbehagen und Dissens getilgt ist.“41 Legt man dagegen eine anthropologische Perspektive wie die Helmuth Plessners zugrunde, dann kommt es immer auf das an, was Menschen individuell und kollektiv aus den techno-sozialen Bedingungen machen, unter denen sie leben. Menschen sind nicht bloße Funktionen ihrer Umwelt bzw. einer umgebenden soziotechnischen Struktur. Der Mensch wird von Plessner als ein welt- und gestaltoffener Akteur verstanden. Das heißt auch, dass er an keine bestimme normale oder natürliche Gestalt oder Sozialform gebunden ist.42 Somit geht es um unsere Erfahrungen als human cyborgs, um individuelle und kollektive Entwicklungschancen sowie um soziale Risiken wie Exklusion oder Funktionalisierung. Nicht sind die subjektiven Möglichkeiten der Lebensgestaltung zu dekonstruieren, sondern vielmehr sind diese Möglichkeiten zu schützen und zu fördern. Weltoffenheit und Cyborgisierung schließen sich nicht aus, wohl aber entstehen mit der Upgradekultur neue Risiken der Einschränkung des offenen Zugangs zur Welt
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Harrasser 2013: Körper 2.0, 119. Ebd., 111–131. Ebd., 127. Helmuth Plessner 1975: Die Stufen des Organischen und der Mensch. Einleitung in die philosophische Anthropologie [EA 1928], 3. Auflage. Berlin: de Gruyter.
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und zum eigenen Leben. Diese Risiken gilt es zu thematisieren, um ihnen entgegenzuwirken. Zudem sei angemerkt, dass die aus Latour’scher Sicht anzuempfehlende Objektwerdung des Subjektaktanten ihm etwa bei der Konfrontation mit dem Jobcenter als jener Aktivierungsinstitution, die die Werte der Upgradekultur im sozialstaatlichen Kontext widerspiegelt, überhaupt nicht weiterhilft, weil die Codes dieses Sozialprogramms genau darauf anspringen. Die Depotenzierung des Selbst bestätigt vielmehr die offizielle Erwartung und führt zu paternalistischen Aktivierungsinterventionen. Aus Plessner’scher Sicht gibt es in Bezug auf den hier diskutierten Kontext grundsätzlich zwei Risikotypen, nämlich erstens Technologienutzungen und -entwicklungen, die die Weltoffenheit des Individuums und der Gattung bedrohen und zweitens eine strukturelle Behinderung des Fortschritts, die die technologischen Möglichkeiten zur Entfaltung des Einzelnen und der Gattung oder technologische Optionen zur Sicherung des Überlebens der Menschheit abweist. In beiden Fällen wird das Charakteristikum des Humanum – seine aktive Weltoffenheit – eingeschränkt. Persönlich habe ich Bruno Latour vor allem als Hinweis auf das zweite Risiko gelesen; seinen technologisch-ökologischen Konservatismus dagegen halte ich für statisch und weder der Dynamik der Moderne im Allgemeinen noch der der Upgradekultur im Besonderen für angemessen.
Cochlea-Implantat aus der Sammlung des Deutschen Hygiene-Museums
Jürgen Tchorz
Elektrisches Hören. Technik, Möglichkeiten und Grenzen von CochleaImplantaten
Cochlea-Implantate sind seit mehr als 30 Jahren kommerziell verfügbar und mittlerweile nicht mehr als Möglichkeit zur Versorgung hochgradig schwerhöriger oder gehörloser Menschen wegzudenken. In dieser Zeit hat sich die Technik der künstlichen elektrischen Stimulation des Hörsinns stetig weiterentwickelt. Gleichzeitig hat sich der Indikationsbereich für ein Cochlea-Implantat deutlich verschoben. Während zu Beginn nur vollkommen ertaubte Personen für eine Implantation infrage kamen, ist heute ein noch vorhandenes Resthörvermögen kein Ausschlusskriterium mehr. Dieser Beitrag beleuchtet die technische Entwicklung von Cochlea-Implantaten sowie deren Möglichkeiten und Grenzen, welche sehr stark von der Dauer und dem Zeitpunkt des Einsetzens der Schwerhörigkeit abhängen.
I. Ein kurzer Überblick über den Hörsinn Um die Funktionsweise von Cochlea-Implantaten verstehen zu können, ist ein grober Überblick über das Gehör sinnvoll. Schall versetzt das Trommelfell in Schwingungen, welche über die Gehörknöchelchen des Mittelohrs ins schneckenförmig gewundene Innenohr (die Cochlea) übertragen werden. In der Cochlea verlaufen von der Basis bis hinauf zur Spitze mehrere parallele flüssigkeitsgefüllte Kanäle, die durch eine dünne Membran voneinander getrennt sind. Diese sogenannte Basilarmembran hat die wichtige Eigenschaft, dass hohe Töne an ihrer Basis und tiefe Töne an ihrer Spitze Schwingungen hervorrufen. Verschiedene Frequenzen bilden sich also an verschiedenen Stellen ab. Entlang der Basilarmembran befinden sich insgesamt ca. 20.000 feine Haarsinneszellen, welche die Schwingungen der Membran an der jeweiligen Stelle in Nervenimpulse umwandeln, die über den Hörnerv ans Gehirn weitergeleitet werden. Auf diese Weise sprechen die verschiedenen Hörnervenfasern nur an, wenn die jeweils zugeordnete Frequenz im Schall enthalten ist. Durch eine komplexe Weiterverarbeitung der Nervenimpulse auf den verschiedenen Stufen der Gehörbahn im Gehirn wird
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schließlich das Wahrnehmen von Tönen, die Unterscheidung und Ortung von Geräuschen sowie das Verstehen von Sprache ermöglicht.
II. Schwerhörigkeit und ihre Folgen Ein ganz erheblicher Anteil der Kommunikation im Alltag erfolgt lautsprachlich und erfordert den Hörsinn. Zu den größten Beeinträchtigungen, unter denen Schwerhörende leiden, gehören dementsprechend soziale Einschränkungen. Größere Veranstaltungen oder Treffen mit Freunden werden mitunter gemieden, weil in akustisch schwierigen Situationen mit Lärm und Nachhall nur unter großer Anstrengung oder gar nichts mehr verstanden werden kann. Eine zunehmende soziale Isolation der Betroffenen ist oft die Folge. Nach einer Studie der Weltgesundheitsorganisation zählen Hörstörungen in den Industrieländern zu den sechs Erkrankungen, welche die Lebensqualität am meisten beeinträchtigen.1 Eine Schwerhörigkeit kann viele Ursachen haben. Sie kann schon bei der Geburt vorhanden sein, etwa durch vererbte oder neu auftretende genetische Veränderungen, sowie durch Infektionen oder andere Komplikationen während der Schwangerschaft. Eine Schwerhörigkeit kann auch erst nach der Geburt im Kleinkindalter auftreten, z.B. in Folge einer Menningitis-Erkrankung. Sie kann durch Medikamente (z.B. bestimmte Antibiotika) ausgelöst werden oder die Folge von Lärmeinwirkung sein. Auch Durchblutungsstörungen, beispielsweise als Folge von Diabetes oder Rauchen können das Hörvermögen beeinträchtigen. Der Anteil schwerhörender Menschen steigt mit dem Alter an.2 Die sogenannte Altersschwerhörigkeit kann eine Folge veränderter physiologischer Prozesse im Innenohr und akkumulierter Belastung durch Lärm und andere Faktoren sein. In den meisten Fällen betrifft eine Schwerhörigkeit die hohen Frequenzen in einem stärkeren Maß als die tiefen und mittleren Frequenzen. Der Grad einer Schwerhörigkeit reicht von einem geringen Hörverlust, der sich im Alltag nur wenig auswirkt, über einen mittleren Hörverlust, bei dem unter günstigen akustischen Bedingungen Sprachverstehen auch ohne Hörhilfen gegeben ist, bis hin zu hochgradigen Schwerhörigkeiten und Ertaubungen, bei denen auch starke Hörgeräte kein ausreichendes Sprachverstehen mehr ermöglichen. Schwerhörigkeiten gehören zu den weit verbreiteten Erkrankungen. Nach epidemiologischen Studien liegt die Prävalenz von Hörstörungen in Deutschland bei ca. 19 Prozent,
1 World Health Organization (Hg.) 2008: The global burden of disease: 2004 update. 1. Cost of illness. 2. World health statistics. 3. Mortality trends. 2 Ein schwaches Gehör wird teilweise geradezu als Sinnbild des Altseins gesehen. Dies ist ein Grund dafür, weshalb eine beginnende Schwerhörigkeit von den Betroffenen oft verdrängt wird („Ich bin doch noch nicht alt!“), und der Gang zum Hörgeräteakustiker bisweilen eher gescheut wird.
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und betrifft damit etwa 15 Millionen Menschen.3 Die weitaus meisten Schwerhörigkeiten werden durch eine Schädigung im Innenohr hervorgerufen. Therapiemöglichkeiten für eine Heilung gibt es in diesen Fällen nicht. Eine technische Rehabilitation erfolgt je nach Indikation durch ein Hörgerät oder ein Cochlea-Implantat (CI). Ein kleinerer Anteil an Schwerhörigkeiten wird durch Schädigungen im Mittelohr hervorgerufen, die in einigen Fällen auch ursächlich behandelbar sind. Besondere Aufmerksamkeit gilt Neugeborenen und Kindern mit einem Hörverlust. Ein adäquates Hörvermögen ist fundamental wichtig für den Lautspracherwerb und dessen Entwicklung sowie für eine optimale schulische Entwicklung in Regelschulen. In vielen Ländern weltweit wurde mittlerweile ein flächendeckendes NeugeborenenHörscreening eingeführt. Durch neue diagnostische Verfahren können Hörstörungen bereits direkt nach der Geburt erkannt werden. Dadurch kann bereits in den ersten Lebensmonaten mit Rehabilitationsmaßnahmen begonnen werden, und es verstreichen nicht wertvolle Jahre, bis eine Hörschädigung auffällt.
III. Vom passiven Trichter zum CI: Eine kleine Geschichte der Hörhilfen Schwerhörigkeit ist keine Zivilisationserscheinung, sondern begleitet die Menschheit von Anbeginn. Die Hand hinter dem Ohr gilt als die älteste Hörhilfe der menschlichen Geschichte. Von den alten Ägyptern bis in die heutige Zeit finden sich bildliche Darstellungen von Menschen, die sich ihre Hand hinter die Ohrmuschel legen, um ihr Hören zu verbessern.4 Und tatsächlich verstärkt diese Geste den Schall in den für Sprache besonders wichtigen Frequenzen um ca. 14 Dezibel, ein nicht zu vernachlässigender Wert. Die ersten technischen Hörhilfen waren Hörrohre, die nach dem gleichen Prinzip wirken wie die Hand hinter dem Ohr. Bereits Ende des 19. Jahrhunderts wurden die ersten elektrischen Hörgeräte entwickelt, die aber zunächst noch sehr klobig und unpraktisch waren. Durch Entwicklung des Transistors wurden Hörgeräte im Laufe der 1950er Jahre sehr viel kleiner und konnten hinter dem Ohr oder im Ohr getragen werden. Mitte der 1990er Jahre kamen die ersten digitalen Geräte auf den Markt, die eine sehr viel komplexere Schallverarbeitung erlauben als ihre analogen Vorgänger. Eine automatische Erkennung und Unterdrückung von Störschall, adaptive Richtmikrofone, die sich automatisch der Richtung von Nutz- und Störschall anpassen, eine Unterdrückung von störenden Rückkopplungsgeräuschen („Pfeifen“) oder die drahtlose Übertragung der Stimme von Gesprächspartnern aus dem Smartphone in die Hörgeräte sind nur einige 3 Wolfgang Sohn 2001: Schwerhörigkeit in Deutschland. Repräsentative Hörscreening-Untersuchung bei 2000 Probanden in 11 Allgemeinpraxen. Z Allg Med 77, 143–147. Kriterium für Schwerhörigkeit in dieser Studie: Minderung des Hörvermögens um mindestens 40 dB in mindestens einer von fünf Testfrequenzen zwischen 0,5 und 4 kHz. 4 Rainer Hüls 1999: Die Geschichte der Hörakustik: 2000 Jahre Hören und Hörhilfen. Heidelberg: Median-Verlag.
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der features in modernen Hörgeräten. Doch obwohl Hörgeräte in vielen Situationen hilfreich sind und die Lebensqualität der Nutzer steigern können, sind ihre Möglichkeiten dennoch begrenzt. Bestimmte Störungen, die mit einer Hörschädigung einhergehen, können durch Hörgeräte nicht ausgeglichen werden. Dazu gehört unter anderem das verschlechterte Frequenzauflösungsvermögen bei einer Innenohrschwerhörigkeit. Dies führt, auch mit Hörgeräten, zu unzureichendem Sprachverstehen in akustisch schwierigen Situationen mit Störschall und Nachhall. Bei hochgradigen Schwerhörigkeiten schließlich liefern Hörgeräte nur noch einen begrenzten oder gar keinen Beitrag mehr zum Sprachverstehen. Dies ist nicht verwunderlich, da Hörgeräte nur den Schall verstärken, der danach noch durch das geschädigte Innenohr verarbeitet werden muss. Dies ist bei Cochlea-Implantaten anders, denn diese „umgehen“ die Haarsinneszellen, indem die Hörnervenfasern direkt von Elektroden gereizt werden, ohne dass eine Wandlung von akustischen Schwingungen in elektrische Reize durch die Haarsinneszellen erforderlich wäre. Die Entdeckung, dass mit elektrischen Strömen ein unmittelbarer Höreindruck erzeugt werden kann, geht über 200 Jahre zurück, nämlich auf Alessandro Volta, den Erfinder der Batterie. In einem unerschrockenen Selbstversuch steckte er sich zwei unter Strom stehende Drähte in die Ohren. Er nahm ein schockartiges Zischen und Knistern wahr. Er wiederholte dieses Experiment nie wieder. In den 1930er Jahren war bekannt, dass die Cochlea mechanische Schwingungen in elektrische Signale umwandelt und diese über den Hörnerv in das Gehirn weitergeleitet werden. Obwohl zu diesem Zeitpunkt noch viel zu wenig über die physiologischen Zusammenhänge erforscht war, stand bereits damals die Hoffnung im Raum, dass ertaubte Menschen durch künstliche elektrische Reize wieder hören könnten.5 Im Februar 1957 operierten Charles Eyres und André Djourno in Paris einem durch eine Erkrankung ertaubten erwachsenen Patienten ein elektrisches Hörimplantat. Der freigelegte Hörnerv wurde mit einer einzelnen Elektrode gereizt, die über ein Kabel mit einem stationären Apparat verbunden war, welcher Mikrofonsignale in Elektrodenströme umwandelte. Der Patient konnte damit Geräusche wahrnehmen und durch intensive Übungen sogar einzelne, wenn auch wenige Wörter verstehen, jedoch überlagert durch ein dauerhaftes metallisches Hintergrundgeräusch. Trotz anfänglicher Euphorie beendete der Patient nach etwa einem Jahr das Experiment, da sich trotz intensiver Bemühungen keine weiteren Verbesserungen einstellten und sich seine ursprünglichen Hoffungen auf ein gutes Sprachverstehen nicht erfüllten. Die Forschungen und Experimente im folgenden Vierteljahrhundert drehten sich unter anderem um die Frage nach der besten Positionierung der Elektroden (außerhalb oder innerhalb der Cochlea), die Zahl der benötigten Kanäle (Elektroden), die Art der Reizströme sowie die Entwicklung kleinerer, tragbarer Geräte. Als erstes kommerzielles Gerät wurde 1984 ein einkanaliges Gerät der Firma 3M von der amerikanischen Food and Drug Association (FDA) zugelassen, welches maßgeblich von William House, einem 5 M.H. Lurie 1972: Participant remarks. In: Annals of Otology 81, 513.
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US-amerikanischen Chirurgen, entwickelt wurde. Mit diesen Geräten waren für viele Patient_innen die Detektion und Unterscheidung von verschiedenen Umweltgeräuschen und Sprachlauten und teilweise auch die Unterstützung des Lippenlesens möglich. Offenes Sprachverstehen wurde nur ansatzweise von wenigen Patienten erreicht.6 Bis 1988 waren in den USA ca. 3.000 Patient_innen mit einem Cochlea-Implantat versorgt.7 Heutige Implantate sind ausschließlich Multi-Kanal-Geräte mit einer Positionierung der Elektroden in der Cochlea. Die Geräte beinhalten externe und implantierte Komponenten. Der externe Teil besteht aus einem Gehäuse (meist hinter dem Ohr getragen, wie ein Hörgerät), welches die Batterien, Mikrofone und den Sprachprozessor enthält, sowie einer Sendespule, die hinter dem Ohr auf den Kopf gelegt wird. Unter der Schädeldecke ist dort die Empfängerspule positioniert, welche die elektrischen Signale per induktiver Übertragung aufnimmt (also drahtlos, ohne dass Keime in das Schädelinnere eindringen können). Von dort aus werden die elektrischen Signale per Kabel zu einem dünnen Elektrodenträger geleitet. Dieser besteht aus biegsamem Silikon, mit, je nach Hersteller, zwölf bis 22 elektrischen Kontakten an der Außenseite. Dieser Elektrodenträger wird in die Cochlea eingeführt. Die verschiedenen Elektroden sind unterschiedlichen Frequenzen zugeordnet. Fast alle Geräusche und Klänge um uns herum sind ein Gemisch verschiedener Frequenzen. Die Elektroden an der Spitze des Elektrodenträgers übertragen grob die mittleren Frequenzen, die weiter in Richtung Schneckenbasis liegenden Elektroden übertragen die hohen Frequenzen. Die tiefen Frequenzen werden bei intaktem Gehör an der Spitze der Cochlea in elektrische Impulse umgewandelt. – Da sich der Elektrodenträger jedoch nicht in die vollen zweieinhalb Windungen der Hörschnecke einführen lässt, können tiefe Frequenzen nicht durch ein CI übertragen werden. Die elektrischen Kontakte reizen die Hörnervenfasern, welche in der Cochlea beginnen. Wo im intakten Ohr Tausende von Haarsinneszellen elektrische Reizpotentiale an die Hörnervenzellen weiterleiten, steht im CI also lediglich ein gutes Dutzend Elektroden zur Verfügung. Abhängig vom Schall, der auf das Mikrofon des Implantats trifft, geben diese Elektroden im Innenohr unterschiedlich starke Strompulse ab. Ein Cochlea-Implantat erzeugt also auf völlig andere Art und Weise Höreindrücke als ein übliches Hörgerät. Diese Höreindrücke klingen zunächst sehr fremd und ungewohnt. Das Gehirn kann unter bestimmten Voraussetzungen aber lernen, aus den zur Verfügung stehenden Reizen sinnvolle Informationen zu ziehen, Sprachlaute zu erkennen und von Hintergrundgeräuschen zu unterscheiden. Weltweit tragen derzeit ca. 300.000 Menschen ein CI. Die Implantation dauert etwa zwei Stunden und gilt als eine nicht sonderlich risikoreiche Operation. Für Patient_innen, deren Hörnerv zum Beispiel durch einen Tumor geschädigt ist, kommt ein CI nicht in Frage. Für sie gibt es Implantate, bei denen ein Elektro6 Jeffrey L. Danhauer et al. 1990: Performance of 3M/House Cochlear Implant Users on fists of Speech Perception. In: J Am Acad Audiol 1, 236–239. 7 National Institutes of Health 1988: Consensus Development Conference Statement on Cochlear Implants. DHHS Publication Vol. 7, No. 2. Bethesda, MD.
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denträger im Stammhirn implantiert wird, also auf einer Hörbahn-Stufe hinter dem Hörnerven. Aktuell wird an Systemen geforscht, bei denen alle Komponenten implantiert sind, also auch die Teile, die heute noch von außen sichtbar sind.
IV. Indikation für ein Cochlea-Implantat Nicht alle hochgradig schwerhörenden oder ertaubten Personen würden von einem CI profitieren. Vor einer möglichen Implantation müssen eine Reihe von Fragen geklärt und Abwägungen getroffen werden. Neugeborene, die mit einer Hörschädigung zur Welt kommen, können bereits nach wenigen Monaten mit Hörgeräten versorgt werden. Wenn absehbar ist, dass mit Hörgeräten keine zufriedenstellende Sprach- und Hörentwicklung möglich sein wird, kann ein CI eine Option sein. Implantationen werden regelmäßig im Alter von ca. zwölf Monaten und früher durchgeführt. Dies ist unter anderem möglich, weil die Cochlea schon vor der Geburt ausgewachsen ist und sich dadurch die Position der Elektroden nach der Implantation nicht mehr ändert. Wenn die sensible Phase des Spracherwerbs, die von der Geburt bis etwa zum vierten Geburtstag reicht, hörend durchlebt wird (durch natürliches Hören, durch ein Hörgerät oder ein CI), dann stehen die Chancen gut, dass die Folgewirkungen der Hörstörung begrenzt bleiben. Die Erfolgsaussichten einer Implantation sinken jedoch drastisch, wenn bei prälingualer Ertaubung diese Phase verpasst wird. Ab etwa vier Jahren schließt sich ein Fenster der Entwicklung des auditorischen Kortex.8 Eine Implantation bei einem Jugendlichen oder Erwachsenen, der seit Geburt gehörlos ist, wäre fast aussichtslos bezüglich eines erhofften Sprachverstehens. Bei postlingual ertaubten Patienten spielt der Zeitraum der Gehörlosigkeit eine wichtige Rolle. Je länger der Zeitraum ohne akustische Reize war, desto mehr wird das Hören verlernt und desto eher kommt es zu organischen Veränderungen. Daher ist grundsätzlich eine möglichst baldige Versorgung anzustreben. Aber immer geht es um eine individuelle Abwägung: Ist das Hörvermögen mit bestmöglicher Hörgeräteversorgung „ausreichend schlecht“ und ist die Wahrscheinlichkeit, dass ein CI mehr leistet, ausreichend hoch? Aufgrund der erheblichen Fortschritte in der CI-Entwicklung der letzten Jahre wird längst nicht mehr nur bei vollständiger Ertaubung implantiert, sondern auch bei hochgradiger Schwerhörigkeit, bei der auch Hörgeräte noch einen Nutzen bringen würden, aber an ihre Grenzen kommen. Eine häufige Variante sind zudem sogenannte bimodale Versorgungen, bei denen auf der einen Seite ein CI und auf der anderen Seite ein Hörgerät getragen wird. Oft wird dadurch eine subjektiv empfundene Klangverbesserung erreicht (durch die tiefen Frequenzen aus dem Hörgerät) oder auch eine Ver8 Anu Sharma, Michael F. Dorman, Anthony J. Spahr 2002: A sensitive period for the development of the central auditory system in children with cochlear implants: Implications for age of implantation. In: Ear & Hearing 23(6), 532–539.
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besserung des Richtungshörens gegenüber der einseitigen Versorgung.9 Ein Sonderfall ist die sogenannte elektro-akustische Stimulation, bei der das CI auch gleichzeitig Hörgerät ist: Die Cochlea wird sowohl elektrisch gereizt, als auch akustisch (an der hinteren Windung der Schnecke, zu der die Elektroden nicht reichen). Voraussetzung dafür ist ein noch ausreichendes Hörvermögen bei den tiefen Frequenzen sowie eine Opera tionstechnik, bei der das noch vorhandene Hörvermögen möglichst nicht beeinträchtigt wird. Neben den bereits genannten Kriterien müssen vor einer Implantation noch weitere Fragen geklärt werden. Neben den anatomisch-physiologischen Voraussetzungen (z.B.: Ist die Cochlea frei von Verknöcherungen? Ist der Hörnerv intakt?) werden auch psychologische und pädagogische Punkte untersucht: Gibt es starke kognitive Einschränkungen? Ist die Bereitschaft gegeben, im postoperativen Training mitzuarbeiten? Ist Unterstützung durch Familie und Freundeskreis zu erwarten?
V. Prozessoreinstellung und Nachsorge Nach Verheilung der Wunde findet in der HNO-Klinik die Ersteinstellung des Sprachprozessors statt. Dabei wird für jede einzelne Elektrode der „Arbeitsbereich“ festgelegt. Die individuellen Stromstärken werden so eingestellt, dass leise Schalle gerade eben hörbar sind (und nicht als laut empfunden werden) und laute Schalle nicht zu einer unangenehmen Empfindung führen. Bei älteren Kindern und Erwachsenen sind deren Rückmeldungen zu den Klangeindrücken sehr wichtig, um zu einer optimalen Sprachprozessoreinstellung zu gelangen. Dieser Prozess erstreckt sich in der Regel über mehrere Monate. Dabei werden laufend standardisierte Hörtests zur Verlaufskontrolle durchgeführt. Bei Kleinkindern, die noch keine Rückmeldung zum Klang und zur Lautheit geben können, werden objektive Verfahren wie die Registrierung des Stapediusreflexes oder die Messung von elektrischen Potentialen des Gehirns verwendet, um eine Orientierung für die richtige Einstellung des Prozessors zu erhalten. Die elektrischen Signale, mit denen die Hörnerven über ein CI gereizt werden, sind völlig anders als die „natürlichen“ Aktionspotentiale, die im Gehör entstehen. Der Klangeindruck mit einem CI wird daher von Patienten, die postlingual ertaubt sind und noch eine Erinnerung an das Hören ohne CI haben, zunächst oft als „unnatürlich“ beschrieben.10 Das Gehirn gewöhnt sich jedoch im Lauf der Zeit an diese ungewohnten Reize, und der Klang wird nach einigen Monaten oft als „normal“ bezeichnet.
9 E. Offeciers et al. 2005: International consensus on bilateral cochlear implants and bimodal stimulation. In: Acta Oto-Laryngolocia 125, 918–919. 10 Anekdotisch beschrieb eine Studentin dem Autor den ersten Klangeindruck ihres CIs, welches ihr mit Anfang 20 eingesetzt wurde, „wie Mickey Mouse auf LSD“.
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Die Nachsorge spielt eine wichtige Rolle auf dem Weg vom Wahrnehmen von Geräuschen und Stimmen mit dem CI hin zum Erkennen und Verstehen von Sprache. Dieses ist aber ein anspruchsvoller Lernprozess, und der Erfolg einer Cochlea-Implantation hängt unter anderem auch von der Motivation und der Mitarbeit der Betroffenen ab. Bei Kindern umfasst die Rehabilitation neben der fortlaufenden Feineinstellung des Sprachprozessors eine regelmäßige Hör- und Sprachförderung in der Klinik und eine umfassende Elternberatung. Am Wohnort ist die Rehabilitation individuell angepasst und kann neben logopädischen Maßnahmen auch eine Ergotherapie umfassen. Hörpädagogische Einrichtungen unterhalten Schulen für Schwerhörige und beraten Eltern und Lehrkräfte beim Besuch von Regelschulen (die überwiegende Mehrheit der früh implantierten Kinder besucht Regelschulen11). Erwachsene erhalten in den CI-Zentren der Kliniken ein Hörtraining und Übungen zur Kommunikationstaktik. Beim Hörtraining geht es zunächst darum, Alltagsgeräusche und verschiedene Töne zu unterscheiden. Nach und nach wird die Schwierigkeitsstufe erhöht, wenn möglich bis zu offenem Sprachverstehen und Telefonieren.
VI. Wie gut kann mit einem CI gehört und verstanden werden? Die ersten, Mitte der 80er Jahre kommerziell eingesetzten Geräte ermöglichten zwar ein Wahrnehmen von Geräuschen und Stimmen, aber nur in sehr begrenztem Maß ein Verstehen von Sprache. Seitdem wurden erhebliche Fortschritte bei der Hardware und der Sprachcodierung erzielt, so dass mit CIs in vielen Fällen ein gutes bis sehr gutes Sprachverstehen ohne Lippenablesen erreicht werden kann. Über 75 Prozent aller Implantierten bezeichnen den Erfolg als „ausgezeichnet“ oder „gut“.12 Dieser Erfolg kann jedoch im Einzelfall nicht sicher vorhergesagt werden. Ein wichtiger Faktor ist die Krankheitsgeschichte. Die Nutzung der vom CI bereitgestellten Information setzt Fähigkeiten des Gehirns voraus, die nur während der sensiblen Phase des natürlichen Sprach erwerbs in der frühen Kindheit erworben werden können. Wer in dieser Phase nicht über ein ausreichendes Gehör verfügt oder keine ausreichende Förderung bekommt, für den ist der Spracherwerb zu jedem späteren Zeitpunkt außerordentlich schwer oder gar unmöglich. Die Sprachentwicklung von gehörlosen Kindern, die rechtzeitig implantiert werden, verläuft jedoch häufig vergleichbar wie bei gut hörenden Altersgenoss_innen. Aber auch bei optimalen Voraussetzungen ersetzt ein CI nicht das natürliche Hören, dafür sind die technischen Möglichkeiten zu begrenzt: Ein gutes Dutzend Elektroden kann nicht ohne Abstriche die Funktion mehrerer tausend Haarsinneszellen ersetzen. 11 Heide Schulze-Gattermann 2002: Kosten-Nutzen-Analyse der Cochlea-Implantation bei Kindern. Berlin: Springer. 12 Norbert Dillier 2013: Schweizerisches Cochlear Implant Register (Zwischenbericht bis 31.12.2013, Version 27.6.2014).
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Die Information, die dem Gehirn vom CI zur Verfügung gestellt wird, ist lückenhaft und muss kognitiv ausgeglichen werden. Das erfordert hohe Konzentration und stellt anstrengende geistige Arbeit dar – auch in Situationen, in denen Normalhörenden ein müheloses Sprachverstehen möglich ist. In akustisch schwierigen Umgebungen mit vielen Störgeräuschen, in denen Normalhörende nur mit großer Anstrengung verstehen können, wird dies mit einem CI vielfach nicht mehr möglich sein. Eine weitere Einschränkung besteht bezüglich der Lokalisation von Schallquellen. Dafür ist beidohriges Hören erforderlich, da Richtungsinformationen in den Unterschieden beider Seiten enthalten sind (beim der Schallquelle zugewandten Ohr kommt der Schall eher und in der Regel auch lauter an als auf dem anderen Ohr). Da CI-Versorgungen in vielen Fällen nur einseitig durchgeführt werden, fehlen diese Informationen, und ein Richtungshören ist so nicht möglich. Zusammengefasst bestehen bei passender Indikation gute Voraussetzungen, um mit einem CI nicht nur Geräusche und Stimmen zu hören, sondern auch zu unterscheiden und Sprache sehr gut zu verstehen. Damit wird den Betroffenen der Zugang zur lautsprachlichen Kommunikation eröffnet. Sowohl im privaten, schulischen als auch beruflichen Bereich kann sich so das Spektrum der Möglichkeiten für den Einzelnen ganz erheblich erweitern. Gleichwohl ersetzt ein Implantat auch im Idealfall nicht das natürliche Hören und ein individueller Erfolg kann nicht garantiert werden. Die Entscheidung für oder gegen ein Implantat ist stets die Abwägung verschiedener Aspekte und erfordert eine umfassende Information der Betroffenen.
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Das Cochlea-Implantat oder: Versprechen und Zumutungen sozialer Teilhabe
I. Ausgangslage und Fragestellungen „Bionisches Ohr lässt Taube hören“1, „Hightech-Implantate lassen Taube wieder hören“2, „Sogar Taube können wieder hören“3, „Danke Implantate. Wie Taube nach Jahrzehnten wieder hören“4, „Wie Taube wieder hören können“5 – So und so ähnlich lauten zahlreiche Titelüberschriften zu Hoffnung verkündenden Meldungen, die sich seit dem Ende der 1990er Jahre in unterschiedlichen Medien mantraartig wiederholen. Es scheint selbstverständlich, dass das von der Bundeskanzlerin in ihrer Neujahrsansprache 2013 als „medizinisches Wunder“ bezeichnete Cochlea-Implantat (im Folgenden CI genannt) stets aufs Neue mit dem Versprechen verbunden wird, wieder oder erstmalig hören und damit erneut oder zum ersten Mal aktiv am Leben teilhaben zu können: „CI – das (T) Ohr zu meiner Welt“ – so lautet denn auch der Slogan des 10. bundesweiten CI-Aktionstages der Deutschen Cochlea Implantat Gesellschaft e.V. im Juni 2015.6 Einige wenige Zahlen mögen das Bild komplettieren: Per 31. Dezember 2011 wies das Statistische Bundesamt weltweit rund 300.000 CI-Träger_innen aus, davon leben laut einer Schätzung der Deutschen Cochlea Implantat Gesellschaft etwa 30.000 in Deutschland. Die höchste Anzahl von Implantationen lag im Jahr 2013 bei Patient_innen im Alter zwischen ein bis fünf, respektive 70 bis 75 Jahren. Für das gleiche Jahr war eine Gesamtzahl von 3.555 1 2 3 4 5
Bild der Wissenschaft, 02.08.2001. http:www.welt.de. [06.12.2011]. http:www.tz.de. [26.11.2013]. http:www.express.de. [14.01.2015]. http:www.focus.de. [15.03.2016]. Ich kann aus Platzgründen an dieser Stelle nicht auf berechtigte Diskussionen um die ‚korrekte‘ Begrifflichkeit – taub, gehörlos, schwerhörig, etc. – eingehen, möchte aber auf die Begriffserläuterungen auf der Website des Deutschen Gehörlosen-Bundes verweisen, vgl. http://www.gehoerlosen-bund.de/index.php?option=com_content&view=article&id=1548%3 Aglossar&catid=83%3Ameinkind&Itemid=129&lang=de. [22.03.2016] sowie derjenigen des GMU (Gehörlosenbund München und Umland), vgl. http://www.gmu.de/wiruber-uns/gehorlose-welt/ definitionen/ [22.03.2016]. 6 CI – Das (T)Ohr zur Welt. Taub und trotzdem hören. 10. bundesweiter CI-Aktionstag der Deutschen Cochlea Implantat Gesellschaft e.V. https://dcig.de/informationen/ci_tag/ [22.03.2016]. Das Motto des CI-Aktionstages 2016 lautet „Ich bin taub – Sprich mit mir“.
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Operationen im Kontext des CIs zu notieren, wobei es sich in 70 Fällen um die – aus unterschiedlichen Gründen – vollzogene Entfernung des Implantats handelte.7 Doch auch wenn erfolgreiche Implantationen weniger mit einem „kleine[n] medizinische[n] Wunder“,8 denn mit harter Arbeit verbunden sind, so ist es doch genau diese Botschaft, die in den globalen Netzgemeinschaften ankommt. Will man der Website Know Your Meme glauben, so sind die so genannten „Cochlear-Implant-Activation-Videos“9 gar als viral zu bezeichnen, d.h. die zumeist kurzen, nicht-professionell erstellten filmischen Dokumentationen der Erstaktivierung verbreiten sich sehr schnell und ohne weitere Einwirkung ihrer Produzent_innen über soziale Medien, E-Mails oder ähnliche elek tronische Kommunikationsformen.10 Die Betreiber der Know Your Meme-Website werden erstmals auf die Videos aufmerksam, als YouTuber Kwilinski im Januar 2007 die Erstaktivierung des sechs Monate alten Oliver unter dem Titel Oliver’s Cochlear Implant Activation hochlädt. Der Clip verzeichnet bis heute knapp 60.000 Views, 84 Likes und 21 Unlikes. Absoluter Spitzenreiter ist das Aktivierungsvideo Sarah (Sloan) Churmans mit dem Titel 29 Years Old And Hearing Myself For The First Time, das seit seiner Veröffentlichung am 26. September 2011 über 25 Millionen Views, 250.000 Likes und (nur) 3.700 Unlikes verbucht. Die Amerikanerin unterhält darüber hinaus einen eigenen erfolgreichen Blog über ihre Erfahrungen mit dem CI und hat 2012 ihre Autobiographie unter dem Titel Powered On11 veröffentlicht. Der Erfolg dieser Aktivierungsvideos ist jedoch weniger auf ein bestehendes bzw. zunehmendes Interesse am CI als techno-medizinischer Neuroprothese oder an einer realistischen Berichterstattung zur Implantation bzw. der langwierigen und nicht immer problemlosen Anpassungsphase zurückzuführen. Vielmehr steht das Wunder des – wie auch in den Medien vielfach angepriesenen – „First-Time-Hearing“ im Vordergrund (mit einem auffallenden Höhepunkt in 2012), wie eine Überprüfung der Stichworte „First-Time-Hearing“, „Cochlear Implant“, „Cochlear Implant Activation“ oder „Cochlear Implant Activation Videos“ bei Google Trends Suchanfragen bestätigt.12 Im Kontext 7 Vgl. die fallpauschalenbezogene Statistik (DRG-Statistik) des Jahres 2013, ausgestellt vom Statistischen Bundesamt, H 1 Gesundheit, zur Verfügung gestellt von der Deutschen Cochlea Implantat Gesellschaft e.V. 8 So die Bundeskanzlerin Merkel in ihrer Neujahrsansprache 2013, http://www.hna.de/politik/bundeskanzlerin-angela-merkel-neujahrsansprache-wortlaut–2682195.html. [24.03.2016]. 9 Vgl. Beate Ochsner 2016: Documenting Neuropolitics: The Setting of Cochlear-Implant-Activation Videos. In: Helen Hughes and Catalin Brylla (Hg.): Documentary and Disability. London: Palgrave Macmillan (im Erscheinen). 10 Vgl. http://knowyourmeme.com/ bzw. http://knowyourmeme.com/memes/cochlear-implantactivation-videos. [22.03.2016]. Vgl. dazu den kritischen Kommentar von Emily Howlett: The media should question whether viral cochlear implant videos reflect most people’s experiences, geposted am 02.04.2014, vgl. http://limpingchicken.com/2014/04/02/emily-howlett-the-media-should-question-whether-viral-cochlear-implant-videos-reflect-most-peoples-experiences/ [22.03.2016]. 11 Sarah Churman 2012: Powered On. The Sounds I choose to Hear & the Noise I don’t. Pensacola, FL: Indigo River Publishing. 12 Vgl. Google Trends, https://www.google.de/trends/hottrends. [16.04.2016].
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einer allgemeinen Websuche hingegen wird die Stichwortkombination „Cochlear Implant“ am häufigsten verwendet. Während Mediziner_innen, Gerätehersteller_innen wie auch die Medien das CI gemeinhin als enormen Fortschritt und Basis für Inklusion und soziale Teilhabe loben, werden immer wieder Proteste aus der Gehörlosengemeinschaft laut, die mit der zunehmenden Verbreitung des CIs um den Verlust der Gebärdensprache und das Verschwinden ihrer kulturellen Identität fürchtet. Der folgende Beitrag kann nicht klären, ob das CI ein „kleine[s] medizinische[s] Wunder“ oder ein „tool of genocide“13 darstellt, noch können an dieser Stelle medizinische, kulturelle, soziale oder ethische Empfehlungen für oder gegen CIs ausgesprochen werden. Vielmehr möchte ich nach den Ein- bzw. Ausschlussbedingungen von Teilhabe fragen, die im Bezug auf das CI im Bereich des Hörens (bzw. Nicht-Hörens) liegen: Wer oder was ruft gehörlose oder schwerhörige Menschen zur Teilhabe auf, und wie können bzw. sollen sie zum Hören befähigt werden? Mit welchen Begründungsstrategien wird das Recht auf Teilhabe mit der Fähigkeit zum Hören bzw. dem Versprechen verbunden, gehörlose oder schwerhörige Menschen in hörende Subjekte zu transformieren? Inwieweit verfertigt das Inklusionsversprechen dabei gleichzeitig diejenigen Zumutungen mit, die die Adressierbarkeit von Subjekten an die Norm eines ‚normalen‘ Hörens und das Verstehen von Lautsprache koppeln, und in welchem Maße wird das CI in diesen Prozessen zu einer Art technopolitischem Mediator, der Gehörlose und Schwerhörige zu potentiell ansprechbaren Subjekten macht bzw. sie auffordert, solche zu werden? Ausgangspunkt dieser Fragestellungen bildet die medientheoretische Überzeugung, dass das CI nicht als zeitresistentes, medizintechnisches Instrument mit reiner Rezeptions- oder Transferfunktion betrachtet werden kann, sondern vielmehr als „agent […] in social interaction“,14 als Operator und „Mittler“15 begriffen werden muss, der Handlungen bindet, an ihnen partizipiert und Akteure, Wissen, Praktiken und Techniken konfiguriert und umgekehrt: von jenen geformt wird. So kann anhand der verschiedenen Praktiken und Diskurse nicht nur das Versprechen auf Teilhabe, sondern es können auch die damit einhergehenden Widerstände, Störungen sowie die Macht- und Kontrollmechanismen untersucht werden, die in medialen Teilhabeprozessen hergestellt werden. Damit wird zudem ein spezifisches Wissen über Gehörlosigkeit, Hören und/oder CIHören hervorgebracht. Die Neuroprothese stellt Teilhabe am sozialen Leben in Aussicht, diesem Versprechen wird jedoch im Prozess der Subjektivierung die Aufforderung zur 13 Hayagreeva Rao 2009: Market Rebels. How Activists Make or Break Radical Innovations. Princeton, Oxford: Princeton University Press, 9. 14 John Pickering 1997: Agents and Artifacts. In: Social Analysis. The International Journal of Social and Cultural Practice. 41.1.: Technology as Skilled Practice, 46–63, hier 59. 15 Bruno Latour 2007: Eine neue Soziologie für eine neue Gesellschaft. Einführung in die Akteur-Netzwerk-Theorie. Frankfurt a.M.: Suhrkamp, 70. Vgl. hierzu auch Erhard Schüttpelz 2011: Elemente einer Akteur-Medien-Theorie. In: Erhard Schüttpelz und Tristan Thielmann (Hg.): Akteur-MedienTheorie. Bielefeld: transcript, 9–67.
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Selbstsorge und Kollaboration eingeschrieben, der sich die CI-Träger_innen ‚freiwillig‘ beugen müssen.
II. Hör-Übungen Auf die chirurgische Implantation der Prothese folgt in aller Regel ein langwieriger Adaptationsprozess, in dessen Rahmen sich die CI-Träger_innen, das CI wie auch die auditorische Umwelt wechselseitig transformieren, um zu einer spezifischen Daten- und Wissensproduktion zu gelangen. Dabei wird eine Art des Hörens produziert, die Michele Friedner und Stefan Helmreich wie folgt beschreiben: A person with a cochlear implant wears a hearing-aid-like device that features a microphone, a processor, and a transducer. The processor manipulates what the microphone captures and sends a signal to the transducer, usually worn just behind the ear. The transducer changes the signal from electrical to a magnetic, a signal that can be received through the skin by the implanted receiver. The receiver then stimulates the probe in the cochlea, causing ‚hearing‘.16
‚Hearing‘ – so die Autoren weiter – wird dabei in transduktive Prozesse der SelbstPräsenz oder -Präsentmachung („the making of self ‚presence‘“) eingelassen, die nahtlos operieren und auf diese Weise „invisible, inaudible, intactile supports for imagined ‚unmediated‘ experience“ ermöglichen.17 Auf diese Weise, d.h. durch die Aktivierung des CIs, kann die akustische Dimension der Welt (wieder) an Bedeutung gewinnen und die CI-Träger_innen werden zu an ihr Teilhabenden. Die Situation der CI-Träger_innen, ihr akustisches In-der-Welt-Sein wird durch CI-induzierte Rückkopplungsprozesse zwischen Mensch und Welt in einem medientechnologischen Sinne neu konfiguriert.18 Dies mag auch den vielfach von CI-Träger_innen geäußerten Eindruck erklären, dass sich das anfänglich piepsige, elektronische Hören im Laufe der Zeit ‚normalisiere‘ und außerhalb dessen auch nicht/s mehr gehört werde.19 Im Anschluss an Michel Foucault beschreibt Christoph Menke zweierlei Formen der Übung, in denen es einerseits um das Erlernen bestimmter Fertigkeiten (abilities) geht, 16 Michele Friedner und Stefan Helmreich 2012: Sound Studies Meets Deaf Studies. In: The Senses and Society 7.1, 72–86, Herv. B.O. Zitiert nach der Online-Version unter: http://dx.doi.org/10.2752/17458 9312X13173255802120. [14.03.2016]. 17 Ebd., vgl. Stefan Helmreich 2007: An Anthropologist Underwater: Immersive Soundscapes, Submarine Cyborgs, and Transductive Ethnography. In: American Ethnologist 34(4), 621–641, hier 627 f. 18 Vgl. Beate Ochsner und Robert Stock 2014: Das Hören des Cochlea-Implantats. In: Historische Anthropologie. Thema: Sound, 22(3), 408–425, hier 416–417. 19 Vgl. hierzu Karin Harrasser und Jürgen Tchorz 2016 (im Druck): Geräte zum Hören und Kulturen der Behinderung. Ein Gespräch zwischen Karin Harrasser (KH) und Jürgen Tchorz (JT). In: Beate Ochsner und Robert Stock (Hg.): senseAbility. Mediale Praktiken des Sehens und Hörens. Bielefeld: transcript (im Erscheinen).
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die die Beziehung zu sich selbst regulieren und mit Machtgewinn verbunden sind, andererseits um körperliche Techniken, die im Kontext einer lebenslangen (Selbst-) Optimierung zu begreifen sind.20 Dabei entsteht einerseits ein Zuwachs an Autonomie, andererseits aber gerät die Selbstbestimmung im disziplinierenden Modus zu einer Art ‚freiwilligen‘ Selbstunterwerfung. In unserem Zusammenhang bedeutet dies, dass Hörfähigkeit zum einen handlungsfähig macht, die Handlungsmöglichkeiten jedoch zum anderen den soziotechnischen Bedingungen und Praktiken ‚normalen‘ Hörens unterliegen. Dies zeigt sich z.B. daran, dass im z.T. langwierigen Prozess des audiologischen Mappings die Einsicht zu vollziehen ist, dass der Erfolg der Implantation wesentlich von der individuellen Motivation und Eigenleistung der CI-Träger_innen abhängt. Die verschiedenen und z.T. anstrengenden Hör- und Sprechübungen sind mithin als eine Art Foucault’scher Selbsttechnologie zu verstehen, im Rahmen derer gleichermaßen eine Zunahme an Selbstbestimmung zu verzeichnen ist, diese jedoch die Anpassung an bzw. die (freiwillige) Unterwerfung unter die Norm der hörenden Welt verlangt. Auf diese Weise werden – dies zeigt sich u.a. an Erfahrungsberichten im Netz, den von Herstellern veröffentlichten Testimonials wie auch den Autobiographien einzelner CI-Träger_innen – Erwartungshaltungen relativiert und ein großer Teil der Verantwortung auf die Träger_innen übertragen:21 Success with a CI is really dependent on oneself, especially how committed one is to practicing listening after the operation. This also gave me confidence, because I am a fighter and I knew it just had to work for me. The possibility of better hearing was solidly in my mind and wouldn’t let go. Deep inside of me I knew that I already decided to go this direction and nothing would stop me. 22
Das Implantat ist in diesem Zusammenhang als ein im Werden begriffenes Medium zu verstehen,23 dessen Effizienz von den Fähigkeiten und dem Willen seiner User_innen bzw. den reziproken Transformationsprozessen abhängt. Wie ebenfalls aus Selbstbeschreibungen hervorgeht, strukturieren die Übungen bzw. die damit verbundenen Bedingungen nicht nur große Teile des Tagesablaufes von CI-Träger_innen, gleichzeitig sind 20 Vgl. Christoph Menke 2004: Zweierlei Übung. Zum Verhältnis von sozialer Disziplinierung und ästhetischer Existenz. In: Axel Honneth (Hg.): Michel Foucault. Zwischenbilanz einer Rezeption. Frankfurt a.M.: Suhrkamp, 283–299. 21 Die gleiche Forderung der Selbstsorge wiederholt sich in den weiter unter erwähnten affirmativen Diskursen um die Neurowissenschaften: „[I]n the era of the neuromolecular and plastic brain, those who advocate such strategies of prediction and pre-emption think of neurobiology not as destiny but opportunity and the imperative to intervene, not as coercion but a duty of self-care, a somatic ethic.“ Vgl. Nikolas Rose und Joelle Abi-Rached 2014: Governing through the Brain, 15. 22 Anja: Anja’s Diary. In: Med-El. Testimonials. http://www.medel.com/us/support-testimonials-anja/ [16.03.2016], vgl. Ochsner und Stock 2016: senseAbility, 420. 23 Vergleichbar dem „Medien-Werden“ nach Joseph Vogl 2001: Medien-Werden. Galileis Fernrohr. In: Archiv für Mediengeschichte 1, 115–123.
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daran bestimmte Haltungen und Situationen geknüpft. So verbinden sich CI-Träger_innen z.B. direkt mit Musikabspielgeräten, um auf diese Weise alle Nebengeräusche zu isolieren; eine Übung, die William Mager anschaulich beschreibt: When I plug myself directly into the headphone socket, all the outside noises go away and it’s just me, an iPad, and someone telling me a story that I’ve heard before, but I don’t mind hearing again and again. […] This is all part of my long term training montage – but is it working? I think it is. […] Behind the scenes, my brain is pedalling furiously on an exercise bike, a couple of earbuds jammed into its ears.24
Fiona Bollag hingegen beschreibt intensive Trainingseinheiten mit ihrer Sprachtherapeutin, die ihr immer wieder Geschichten erzählte, die Fiona rein lautsprachlich verstehen und wiederholen sollte, bis sie sie letztlich so weit verinnerlicht hatte, dass sie sie mit geschlossenen Augen und nur mittels ihrer Ohren, d.h. ohne die Mimik oder die Lippenstellungen der Erzählerin sehen zu können, in sich „aufnehmen durfte“.25 Womöglich erinnert dies an die eigene Kindheit, in der man mit geschlossenen Augen den Stimmen der Eltern folgte, die die Gutenachtgeschichte vorlasen. Die Wiederholung der Regularien ‚Normalhörender‘ – wie im Falle der geschichtenerzählenden Audiologin Fiona Bollags –, die ihnen und ihren Objekten (z.B. den Vorlesebüchern oder den Musikgeräten) eingeschriebenen „Skripte“26 und die daraus resultierende subjektivierende Selbst-Verortung in der Welt der Hörenden überschreiben eine u.U. lange Jahre andauernde andere akustische Erfahrung. So wird im soziotechnischen CI-Handlungsfeld eine Bestimmung dessen erzeugt, was als Hören bzw. als Hörbarkeit verstanden wird und/ oder werden soll. Das „Hören des CI“27 bzw. durch das CI wird um die Reflexion des (Normal-)Hörens und seine Gesetzmäßigkeiten ergänzt bzw. ersetzt und lässt – nach einer gewissen (Übungs-)Zeit bzw. je nach Erfolg oder Misserfolg – nichts (mehr) hören, was nicht auch das ,Normalhören‘ hören ließe.
24 William Mager: Billy 2.0. Learning to read again. In: The Limping Chicken, 02.04.2013. http://limpingchicken.com/2013/04/02/william-mager-billy–2–0-learning-to-read-again/ [17.03.2016]. 25 Fiona Bollag, Peter Hummel, Angela Kuepper 2006: Das Mädchen, das aus der Stille kam. Bergisch Gladbach, 166–167. 26 Madeleine Akrich geht davon aus, dass technische Objekte – wie das CI – am Bau heterogener Netzwerke wie das oben beschriebene Handlungsfeld der Übungen teilnehmen. Wie ein Filmskript definieren sie dabei in Interaktion mit den anderen Akteuren den Rahmen sowie den Raum, in dem agiert wird. Dieses die Interaktionen determinierende bzw. den Akteuren eingeschriebene Film- oder Handlungsskript, so die Autorin, kann deskriptiert werden, d.h. wir müssen kontinuierlich zwischen „der im Objekt inskribierten Welt und der durch deren Verschiebung beschriebenen Welt hin- und zurückgehen“, um die Programme und Praktiken beschreiben zu können. Vgl. Madeleine Akrich 2006: Die De-Skription technischer Objekte. In: Andréa Belliger und David J. Krieger (Hg.): ANThology. Ein einführendes Handbuch zur Akteur-Netzwerk-Theorie. Bielefeld: transcript, 407–428, hier 412. 27 Vgl. Ochsner und Stock 2016: senseAbility.
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III. ‚Neuro-Gouvernementalität‘28 oder: Zur Plastizität des Gehirns Die an der Schnittstelle zwischen Medienwissenschaft und Disability Studies forschende Mara Mills beschreibt dieses komplexe Zusammenspiel verschiedener Akteure im CI-Handlungsfeld als „cross-purpose collaboration“, der bestimmte technopolitische „ability“-Skripte eingeschrieben sind: So werde die Befähigung zur Sprache und das Sprachverständnis über den Musikgenuss gestellt, die direkte lautsprachliche face-to-faceKommunikation über die Telekommunikation, und die Grundlage der audiologischen Schulungen bilden häufig die im Alltag eher seltenen „quiet listening situations“ anstelle von ,normal‘ lauten Umgebungen. Darüber hinaus verweigere die im CI geblackboxte Technologie mit ihren standardisierten Operationen die Möglichkeiten einer „self-customizable technology“, wie sie u.a. der Cyborg (bzw. „CI-Borg“29) Enno Park fordert.30 Diese Praxis, so Mills weiter, führe dazu, dass andere sozial, medial oder politisch nicht gewollte Fähigkeiten überschrieben oder schlicht abgeschaltet werden, was das CI von Anfang an als politischen Akteur markiere: „From the outset, then, implants and their electroacoustic signals had ‚politics‘.“31 Als Mikropolitiken schreiben sich diese Praktiken in eine seit einiger Zeit zu beobachtende Tendenz ein, die Nikolas Rose und Joelle Abi-Rached als „[g]overning through the brain“32 bezeichnen. In ihrem gleichnamigen Artikel verfolgen die Autor_innen den Ende der 1990er Jahre mit der „Decade of the Brain“ und dem folgenden „Century of the Brain“ gestarteten Siegeszug der Neurowissenschaften, denen – so Michael Hagner und Cornelius Borck – eine zunehmend proleptische (Weisungs-)Struktur zugesprochen werde.33 Dies geschehe vor allem auf der Grundlage, dass die Hirnforschung fähig scheint, endgültige Antworten auf drängende Fragen zu geben. Gleichzeitig seien ihre zentralen Fragestellungen in einem epistemologisch eher unbeweglichen Rahmen zu situieren, 28 Zum Begriff der Neuro-Gouvernementalität vgl. Sabine Maasen 2010: Neuro-Governmentality Ahead? Diskursanalytische Untersuchungen am Beispiel des Experimentalsystems Neuropädagogik. In: Johannes Angermüller und Silke van Dyk (Hg.): Diskursanalyse meets Gouvernementalitätsforschung: Perspektiven auf das Verhältnis von Subjekt, Sprache, Macht und Wissen. Frankfurt a.M.: Campus, 183–207. Zu Fragen der Relevanz von Neurowissenschaften vgl. Rose und Abi-Rached 2014; dies. 2010: The Birth of the Molecular Gaze. In: History of the Human Sciences 21(1), 11–36. 29 Vgl. u.a. ‚Karen the CI Borg‘ unter http://nowwown1.blogspot.de/ [25.03.2016] oder auch ‚Deaf Irish‘ unter http://deaf-irish.blogspot.de/2008/09/intro.html. [26.03.2016]. Erwähnenswert auch die Baseballcap mit dem Aufdruck „My Daughter is a CI-Borg. Resistance is futile“, Teddybären mit der Aufschrift „CI-Borg“ und viele weitere CI-Borg-Dinge, zu erwerben bei Cafepress. http://www. cafepress.ca/+ciborg_resistance_daughter_cap,683227641. [26.03.2016]. 30 Mara Mills 2012: Do Signals Have Politics? Inscribing Abilities in Cochlear Implants. In: Trevor J. Pinch and Karin Bijsterveld (Hg.): The Oxford handbook of Sound Studies. New York u.a.: Oxford University Press, 320–346, hier 323. Zu Enno Park, vgl. seinen Blog „Die Ennomane“ unter http:// www.ennomane.de/ [25.03.2016]. 31 Mills 2012: Do Signals Have Politics?, 327. 32 Vgl. Rose und Abi-Rached 2014: Governing through the Brain. 33 Michael Hagner und Cornelius Borck 2001: Mindful Practices. On the Neurosciences in the Twentieth Century. In: Science in Context 14, 507–510.
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die Dynamik des Forschungsdiskurses ergäbe sich demzufolge weniger aus theoretischen Erkenntnissen als aus der medizinischen Praxis und ihren Technologien.34 Bereits 1999 wurde die Neuroprothese im Hastings Center Report als „stage“35 für Neuroenhancement bezeichnet. Die Verflechtungen zwischen neurologischen Störungen und ökonomischen Termini sowie zwischen neurologischem Wissen und Subjektivierungspraktiken werden dabei mit Bezug auf eine molekulare Ebene gefasst, auf der die Struktur und die Prozesse des Gehirns bzw. des zentralen Nervensystems als Interaktionen zwischen Molekülen und Synapsen beschreibbar werden.36 Im Kontext dieses Zusammenspiels verschiedener Akteure spielt die Plastizität des Gehirns eine entscheidende Rolle: „Plasticity was to become one of the key dimensions of the matrix that linked the laboratory, the corporation, the self, and the everyday world.“37 Bestes Beispiel ist das sogenannte Remapping nach Verletzungen, das die Offenheit des Gehirns für environmentale Inputs und modifizierte Situationen beweist. An diesem Punkt setzen zahlreiche aktuelle Forschungen zum Cochlea-Implantat ein, die das Mapping auditorischer Funktionen untersuchen. Einer klinischen Studie aus dem Jahr 1999 zufolge ist bewiesen, dass in den ersten sechs Lebensjahren von einer hohen neuronalen auditorischen Plastizität und mithin der aussichtsreichsten Zeit für eine Implantation auszugehen ist. Außerhalb eines kritischen Zeitfensters kann die auditorische Stimulation mit einem CI – so die Studie – den Verlust der neuralen Plastizität nicht kompensieren.38 Alle klinischen Studien gehen dabei (zumeist implizit) davon aus, dass mit ‚Erfolg‘ die Befähigung zu lautsprachlicher Kommunikation gemeint ist. In einer Studie aus dem Jahr 2001 legt die Entwicklungspsychologin Gisela Szagun überraschende Ergebnisse in Bezug auf die Frage nach der bereits angesprochenen sensitiven Phase für den Spracherwerb vor: So konnte sie zeigen, dass das Alter der Implantation nicht den einzigen und vor allem nicht den wichtigsten Faktor für den Erfolg im Spracherwerb darstellt. Für schwerhörige CI-Träger_innen müsse z.B. das präoperative Hören als entscheidender Faktor gewertet werden, ebenso spiele die individuelle Fähigkeit zur Sprachwahrnehmung eine wesentliche Rolle. Letztlich könne auch bei Implantationen vor dem vierten Lebensjahr erst zwei bis zweieinhalb Jahre später über den Erfolg entschieden werden. In einer späteren Untersuchung verweist die Autorin erneut auf die sehr breite Variabilität in Bezug auf den Spracherwerb, der 34 Vgl. Michael Hagner 2006: Der Geist bei der Arbeit. Historische Untersuchungen zur Hirnforschung. Göttingen: Wallstein Verlag. 35 G. Q. Maguire und Ellen M. McGee 1999: Implantable Brain Chips? Time for Debate. In: Hastings Center Report 29, 7–14, hier 9. 36 Zur Ablösung des von Foucault beschriebenen „klinischen“ durch den „molekularen Blick“, vgl. Rose und Abi-Rached 2010: The Birth of the Neuro-molecular Gaze. In: History of the Human Sciences 23(1), 11–36; vgl. ebenso Michel Foucault 1988: Die Geburt der Klinik. Eine Archäologie des ärztlichen Blicks. Frankfurt a.M.: Fischer. 37 Rose und Abi-Rached 2014: Governing through the Brain, 13. 38 Vgl. u.a. Manuel Manrique u.a. 1999: Cerebral auditory plasticity and cochlear implants. In: International Journal of Pediatric Otorhinolaryngology 49.1, 193–197.
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nicht nur vom Alter der Implantation, sondern gleichermaßen von der sozialen Situation oder der Ausbildung der Eltern abhänge, was auf die Relevanz epigenetischer Faktoren für die sogenannte sensitive Phase verweist. Vor diesem Hintergrund stellt sich freilich erneut die Frage nach den Grundlagen der sprachlichen Ausbildung. Szagun schlägt an dieser Stelle vor, sich besonders im Falle prälingual ertaubter CI-Träger_innen jeglichen Alters an Ländern wie den USA, Großbritannien oder Israel zu orientieren, die neben lautsprachlichem Training auch Gesten und Gebärdensprache als wesentliche Komponenten in der kognitiven Gesamtentwicklung einbeziehen.39 Eine klinische Studie aus dem Jahr 2001 untersucht erneut die verschiedenen Formen von Plastizität, die mit einer CI-Implantation verbunden sind. Bei prälingualer Ertaubung partizipiere der auditorische Kortex an der Gebärdensprache, d.h. das Gehirn reagiere zumeist cross-modal. Dies – so die Autor_innen Giraud, Truy und Frackowiack – sei jedoch nur ein besonderer Aspekt der Plastizität des Gehirns in Verbindung mit Sinnesdeprivation. Erst die visuelle Darstellung des Gehirns von CI-Träger_innen erlaube eine genaue Identifikation und Charakterisierung weiterer Formen von Plastizität, die mit dem Fehlen eines Sinnes bzw. dem Fehlen bestimmter sensorischer Impulse assoziiert werden. Im Allgemeinen – so das Ergebnis der Studie – spare die aufgrund von Taubheit resultierende kortikale Plastizität die primären auditorischen Regionen aus und affiziere die sekundären Kortizes. Die Reorganisation dieser und anderer Regionen variiere in Abhängigkeit zu den Stadien der Sprachentwicklung. Bei prälingualer Ertaubung verhindere die cross-modale Affizierung die Partizipation an oraler Kommunikation, im Falle postlingualer Ertaubung sei die Kompensation weniger relevant bzw. reversibel.40 So gilt auch hier im Wesentlichen das Implantationsprinzip: Je früher, desto besser. Kral und Tilleil bestätigen diesen Befund, da das adäquate Prozessieren sensorischen Inputs und mithin die Befähigung zur Lautsprache von der „ability of the naïve auditory cortex and subcortical auditory structures“ abhänge.41 Giraud, Truy und Frackowiack konnten aufzeigen, dass auch nach der Implantation zeitabhängige Veränderungen funktionaler Spezialisierungen in den auditorischen Kortizes beobachtbar sind. Die Implantation bringe eine flexible Redistribution supramodaler kognitiver Ressourcen mit sich, in Bezug auf das Lautsprachverständnis korrespondiere dies mit einer Neuorganisation auf der Ebene der Aktivität zwischen neuronalen Aufmerksamkeits- und Erinnerungsregionen und semantischen Prozessen. Interessant erscheint hier, dass der wiederholte 39 Gisela Szagun 2001: Language Acquisition in Young German-Speaking Children with Cochlear Implants: Individual Differences and Implications for Conceptions of a ‚Sensitive Phase‘. In: Audiology. Neuro-Otology, 6, 288–297. Vgl. ebenso die von Szagun in 2006 erstellte Broschüre „Sprachentwicklung bei Kindern mit Cochlea-Implantat“. http://www.schwerhoerigenforum.de/faq/szagun_CI_ Spra_Final.pdf. [20.03.2016]. 40 Zu cross-modaler Plastizität vgl. D. Bavelier und H.J. Neville 2002: Cross-modal plasticity: where and how? In: Nature Reviews Neuroscience 3, 443–452. 41 Andreij Kral und Jochen Tillein 2006: Brain Plasticity under Cochlear Implant Stimulation. In: A.R. Möller (Hg.): Cochlear and Brainstem Implants. Advances in Otorhinolaryngology 46, Basel: Karger, 89–108, hier 103.
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Gebrauch bestimmter kognitiver Strategien die kortikale Plastizität nicht einzuschränken scheint, sondern sie sogar erhöht. Wenn nun – so die Autor_innen – die Information durch das CI durch verschiedene Elemente anderer sensorischer Modalitäten komplettiert werde, so könnten cross-modale Effekte Sehen und Hören wechselseitig verstärken: „The dynamics of these cross-modal effects suggest that restoring auditory input provokes a mutual reinforcement of vision and hearing rather than a rapid return to segregation between the senses.“42 Es kann in diesem Artikel und in Anbetracht der medizinischen Inkompetenz der Autorin nun freilich nicht darum gehen, zwischen diesen Positionen zu entscheiden, auffallend jedoch erscheint die Verwendung des Begriffes von Plastizität im Hinblick auf die Untersuchungsrichtungen und -ziele. Während Szaguns Interesse an einer umfassenden kognitiven Ausbildung die neuronale Argumentation kaum bemüht, leiten Kral und Tilleil mit Verweis auf die nachlassende Plastizität (in die dann das neue Sprach- und Hörprogramm nicht mehr ein- und festgeschrieben werden kann!) die Existenz fester Zeitfenster für erfolgreiche Implantationen ab. Angesichts der in Bezug auf die lautsprachlichen Fähigkeiten nach wie vor sehr unterschiedlichen und individuellen Ergebnisse von CI-Implantierten beschäftigt sich die Gruppe um Giraud mit der Frage, inwiefern Visualisierungen neuronaler Organisationsstrukturen Prognosen für den funktionalen Erfolg liefern können. Dabei vertreten sie die These, dass die Dynamik cross-modaler Effekte die Plastizität eher stärke als schwäche. Welche Konsequenzen diese Erkenntnisse für eine grundlegende sprachliche Ausbildung bzw. die alltäglichen Hörsituationen von CI-Träger_innen zeitigen, erläutern weder Kral und Tilleil noch Giraud, Truy und Frackowiack. Die französische Philosophin Catherine Malabou verfolgt einen Ansatz, der die soziopolitische Dimension des neurowissenschaftlichen Paradigmas zum Ausdruck bringt: Auf Hegels Konzept von Plastizität rekurrierend, geht Malabou von einem plastischen Subjekt aus, dessen neuronale Organisationsstruktur die dezentralisierte und höchst flexibilisierte kapitalistische Gesellschaft ebenso widerspiegele, wie sie von ihr geprägt werde.43 Um reduktionistische Tendenzen zu vermeiden, konstatiert sie, dass das neuronale Subjekt einerseits fügsam, formbar und adaptiv, andererseits jedoch auch widerstands- und rebellionsfähig sei. Dies verdanke sich einer relationalen Transsubjektivation, wie Foucault sie in seiner Hermeneutik des Subjekts beschrieben hat. Dieser Prozess besteht in einer Trajektorie im Selbst, wobei man sich nicht in etwas anderes verwandelt oder die Differenz absorbiert, vielmehr eröffnet die Transsubjektivation einen Raum zwischen zwei Formen des Selbst. So handelt es sich um eine Reise des Subjektes in sich selbst, die als Produkt der Transformation zu verstehen ist. Diesen internen Orga42 Anne Lise Giraud, Eric Truy und Richard Frackowiak 2001: Imaging Plasticity in Cochlear Implant Patients. In: Audiology & Neuro-Otology 6, 381–393. 43 Vgl. auch im Folgenden Catherine Malabou 2003: Que faire de notre cerveau? Paris: Bayard (dt. Übersetzung: Was tun mit unserem Gehirn? Berlin: diaphanes 2006).
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nisationsprozess des Subjekts bezeichnet Malabou als Plastizität. Das Selbst bestehe demzufolge nicht aus einer vorgängigen neuronalen Substanz, sondern werde in autoaffektiven neuronalen Prozessen verfertigt. Plastizität eröffnet mithin nicht nur die Möglichkeit rigider sozialer Ordnungsbildung, gleichzeitig – und dies ist das Argument, das Malabou auch gegen eine kapitalistische Vereinnahmung des Subjekts ins Feld führt – kann durch die Transsubjektivierungsbewegungen erstarrten Strukturen entgegengewirkt werden.44 In ähnlicher Weise wendet Marie-Luise Angerer den Begriff der Plastizität an, wobei sie diesen bzw. die neue Relevanz der Neurowissenschaften im Rahmen aktueller medialer Kontrollpolitiken untersucht, um den Begriff des Lebens unter medientechnologischen Bedingungen neu zu definieren.45 Während Giraud mit Hilfe ihrer Untersuchungsmethode versucht, das aktive Gehirn zu visualisieren, um Vorhersagen bezüglich des Implantationserfolges zu treffen, dienen Angerer zufolge die Visualisierungen darüber hinaus dazu, die Gehirnaktivität direkt zu übersetzen: „Here, neurology, media technologies, and affect have entered into a powerful alliance whose impact is now becoming increasingly clear.“46 Im Unterschied zu Gilbert Simondon, der noch zwischen der Plastizität der Maschine und derjenigen des Menschen unterscheidet – die Maschine trennt Inhalt und Code, während beim Menschen jeder neue Inhalt zu einem formatierenden Code gerät –, stellt Angerer die berechtigte Frage, ob diese Trennung zwischen Form und Inhalt in der zeitgenössischen medientechnologischen Umgebung noch möglich ist. Handelt es sich – so wäre zu fragen – im Falle des CI-Hörens um eine kortikale Reorganisation, die mentale Selbstreferenz in Richtung einer medientechnologisch kontrollierten Relation verschiebt?47 Ivelin Sardamov zufolge zielt der audiologische Adaptationsprozess auf ein ‚brainwiring‘, das im Übergang von Biomacht zu Neuropolitik demonstriert, dass Subjekte im medien- bzw. soziotechnologischen Handlungsfeld CI nur begrenzt als selbstregulierend zu beschreiben sind, werden sie doch gleichzeitig soziokulturellen, ökonomischen und sensorischen Diziplinarpraktiken unterworfen.48 Dabei wären jedoch die nicht von außen kommenden, sondern im Inneren des Handlungsfeldes artikulierten Forderungen Enno Parks und anderer CI-Träger_innen, die Quellcodes der CI-Software zugänglich zu machen, im Sinne der Malabou’schen Widerständigkeit zu begreifen. Denn, wie medizinische Untersuchungen bestätigen, besitzt das zentrale auditorische System auch 44 Vgl. Ebd.; Malabou 2011: Souffrance cérébrale, souffrance psychique et plasticité. In: Etudes: Revue de culture contemporaine 414.4, 487–498; dies. 2012: The new wounded, from neurosis to brain damage. Bronx, USA: Fordham University Press. 45 Marie-Luise Angerer 2014: Affective Knowledge. Movement, Interval, Plasticity. In: Dies., Bernd Bösel und Michaela Ott (Hg.) 2013: Timing of Affect. Epistemologies, Aesthetics, Politics. Zürich, Berlin: diaphanes, 103–118. 46 Angerer 2014: Affective Knowledge, 113. 47 Vgl. ebd., 111. 48 Vgl. Ivelin Sardamov 2012: From ‚Bio-Power‘ to ‚Neuropolitics‘: Stepping beyond Foucault. In: Techné: Research in Philosophy and Technology 16.2, 123–137.
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im Erwachsenenalter noch eine bemerkenswerte Kapazität für plastische Veränderungen in Relation zu selbstbestimmten wechselnden Inputs. Doch die Mehrzahl der audiologischen Studien begrenzt dieses Potential gleichermaßen zeitlich wie auch in Bezug auf eine normalisierende Produktion hörender Praktiken, während sich Enno Park zum Beispiel vorstellt andere Hörfähigkeiten, wie z.B. diejenigen einer Fledermaus, zu erlangen.49
IV. Conclusio In ihrer Studie mit dem Titel „Precarious Plasticity. Neuropolitics, Cochlear Implant and the Redefinition of Deafness“ bestätigt Laura Mauldin, dass Gehörlosigkeit seit kurzem nicht mehr in sensorischen, sondern in neuronalen Termini definiert werde.50 Doch werde dabei nicht nur der Glaube an Transformabilität des Gehirns gestärkt, gleichzeitig wachse der Druck auf die Träger_innen (bzw. ihre Eltern), da der Erfolg nun nicht (mehr) nur an den persönlichen Einsatz, sondern direkt an die Fähigkeit des Gehirns gekoppelt wird, sich dem ‚normalen‘ Hören anzupassen. Diese – wie Mauldin formuliert – „neuro-self-governance“51 mit und durch das CI macht aus dem Hören nicht nur einen neurotechnologischen Prozess, sondern stellt die Frage nach einer somatischen Ethik und Selbstverantwortung,52 die von den Sinnen ins Gehirn verlegt wird.53 Das der Plastizität – so zumindest Malabou – gleichermaßen innewohnende Potential des Widerstandes bzw. die Möglichkeit eines anderen Hörens wird dabei von institutionalisierten Praktiken des ,Normalhörens‘ formatiert. Doch warum muss Hören stets mit ,Normalhören‘ bzw. mit dem Verstehen von Lautsprache verbunden werden? Warum nicht von soundanthropologischen Ansätzen ausgehen, wie u.a. Stefan Helmreich sie beschreibt? 49 Vgl. hierzu Beate Ochsner und Robert Stock 2015: Neuro-Enhancement: Digitaler Lifestyle und Musikgenuss mit einem Cochlea-Implantat. In: Ylva Söderfeldt und Dominik Groß (Hg.): Überwindung der Körperlichkeit. Historische Perspektiven auf den künstlichen Körper. Kassel: kassel university press, 123–137. 50 Laura Mauldin 2014: Precarious Plasticity. Neuropolitics, Cochlear Implants and the Redefinition of Deafness. In: Science, Technology & Human Values 39.1, 130–153. 51 Ebd., 133. 52 „[A] duty of self-care“, Nikolas Rose und Joelle Abi-Rached 2014: Governing through the Brain. Neuropolitics, Neuroscience and Subjectivity. In: Cambridge Anthropology 32(1), 3–23, hier 15. 53 Vgl. „A range of new practices is emerging around the governing of human ‚embrained‘ existence – new experts advising us how to live with, manage and improve our brains; biopolitical activism and identity formation around capacities or disorders located in the brain; new modes of responsibilization urging individuals to care for their brain; and a new consumerization of the brain, offering us all manner of products, devices, exercises and the like to keep our brains healthy and maximize our brain power. In what some have termed ‚the age of neurological reflexivity‘ we are urged to recognize not only that our brains shape us, but also that we can and should act on our brains through our conscious decisions: reshaping our brains to reshape ourselves.“ Rose and Abi-Rached 2014: Governing through the Brain, 16.
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Diese werden weniger von selbstdisziplinierender Verantwortung, denn „by an auditorily inspired attention to the modulating relations that produce insides and outsides, subjects and objects, sensation and sense data“ inspiriert. Die transduktiven Mechanismen, die in Technologien wie dem CI (aber auch dem Telefon oder dem Radio) verbaut sind, sind als universelle Infrastruktren einer vielfältigen Kultur des Hörens zu begreifen, die das ,Normalhören‘ als eine auditorische Wahrnehmungsform unter anderen begreift. Die Praxis audiologischer Schulung wie auch medizinische Forschungsansätze scheinen nach wie vor auf das ,Normalhören‘ ausgerichtet, das akustische Erfahrung direkt auf das Verstehen von Lautsprache überspringt und potentiell offene Prozesse von Teilhabe auf diese Weise schließt.
Ulrike Bergermann
Hören, eine Trajektorie. „Auditiver Kolonialismus“ und Deaf Ethnicity
Was würde eine „auditive Epistemologie“ über die Implikationen des Cochlea-Implantats (CI) in Wissenschaft und Kultur herausbekommen, wenn sie die Angleichung einer gehörlosen Minderheit an die hörende Mehrheitsgesellschaft für normal hält? Um etwas über diese Technologie, aber auch über die bestehenden Wissensformen zu lernen, müssen die entsprechenden Selbstverständlichkeiten wahrgenommen und kritisch gewendet werden.1 Der Protest gegen das CI rückt die geläufigen aisthetischen und akademischen Axiome in ein kritisches Licht. Diese Kritik beginnt im letzten Viertel des 20. Jahrhunderts, zur Zeit des Kampfs um die Anerkennung der Gebärdensprache als gleichberechtigter Sprache, der Entwicklung einer Gehörlosenkultur, wissenschaftlicher Studiengänge, einer auch in Klubs, Theatern und Vereinsheimen etablierten community, mit dem Kampf um bilinguale Erziehung, Dolmetschen, Untertitelungen, mediale Repräsentanz etc. Wenn Gebärdensprache und die Gehörlosenkultur gleichwertig mit Lautsprachen und der entsprechenden Mehrheitskultur sind, dann sind Gehörlose, ebenso wie Schwerhörige oder CI_Träger_innen, nicht durch ein Defizit gekennzeichnet, nicht durch einen Mangel, sondern sie stellen eine Minderheitenkultur innerhalb einer dominanten Kultur dar. Wenn Gehörlosigkeit kein impairment ist und noch nicht mal eine disability, sondern eine Variante, Teil einer Kultur, dann stünde zur Debatte, warum gehörlose Kinder implantiert werden. Implantierten Kindern, so die Kritik am CI, werde die Möglichkeit genommen, mit Gebärdensprache aufzuwachsen und damit in eine Gemeinschaft und Kultur hineinzufinden, in der sie eben nicht als defizitär wahrgenommen werden und ihre Potentiale in ihren eigenen Kommunikationsformen voll entfalten können. Die Gegner erwidern, wenn die Kinder nicht früh implantiert würden, wäre kostbare Zeit 1 Zwei Beispiele liefern etwa Beate Ochsner und Robert Stock mit einer Erweiterung der theore tischen Figur der Interpellation (Althusser) um ein nichtsemantisches Hören mit dem CI, die Möglichkeiten des Ein- und Ausschaltens usw. Hiermit kommen die klassische (hörende) Philosophie und die Besonderheit des Denkens mit und um nicht/nur/hörende Settings auf Augenhöhe: Beate Ochsner und Robert Stock 2014: Das Hören des Cochlea-Implantats. In: Historische Anthropologie, 22(3), 408−425, bes. 424, sowie mit einem weiteren Fokus auf die Einsprüche verschiedener Körper an anthropologische, philosophische, mediale Wissensformen: Karin Harrasser 2013: Körper 2.0. Über die technische Erweiterbarkeit des Menschen. Bielefeld: transcript.
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für das Erlernen der Lautsprache verloren (auch wenige Monate später nehme der Lernfortschritt schon rapide ab; das gilt allerdings für den Gebärdenspracherwerb gleichermaßen). Warum nun angesichts des CIs Begriffe wie „Kolonialismus“ und „Deaf genocide“2 benutzt werden, ist zu fragen; warum eine ‚taube Ethnie‘ postuliert wird, während Ethnien global an vielen Stellen Autonomie verlangen und/oder in Nationalismen umschlagen; warum von Kolonialismus und Genozid gesprochen wird, während ein halbes Jahrhundert nach der Dekolonisierung jetzt erst die Restitutionsforderungen der kolonisierten Länder an die alten imperialen Mächte an Nachdruck gewinnen. Haben solche rhetorischen Parallelen das Potential, – auch wenn die Vergleiche hinken (was sie notwendigerweise immer tun) – das geläufige Verständnis von Macht und Dominanzkultur zu erschüttern? Ein „Volk“ stützt seine Zusammengehörigkeit auf Verwandtschaft und die Weitergabe von Traditionen. Die Weitergabe der Gehörlosenkultur ist ein zentrales Thema für die Gehörlosengemeinschaft. Nach nur wenigen Jahrzehnten, in denen sich diese Kultur etabliert, eigene Traditionsformen und Vergemeinschaftungspraktiken entwickelt hat, die ebenso körperlich begründet wie gerade nicht durch Verwandtschaft bestimmt sind, minimiert sich nun der körperliche Teil dieser Grundlage durch die neuen Technologien.
I. Biopolitik 2.0: Deaf Ethnicity Die starke identitätspolitische Position, derzufolge Gehörlose nicht nur eine eigene kulturelle und sprachliche Identität haben, sondern aufgrund dieser Kultur, der Sprache und einem eigenen sozialen Zusammenhalt ein eigenes „Volk“ bildeten, ein Deaf people, eine Deaf world, eine eigene Ethnie (Deaf ethnicity), ist am Ende des 20. Jahrhunderts im Bereich der wissenschaftlichen und aktivistischen Deaf Studies entwickelt worden. Da implantierte Kinder in einer Lautsprachkultur aufwachsen (sollen), Schulen für Gehörlose teilweise schließen müssen und der Gehörlosengemeinschaft der Nachwuchs fehlt, vor allem aber: Da Gehörlosigkeit nicht als Behinderung gesehen wird und daher nach Ansicht der Aktivist_innen gesunde Kinder einer Operation unterzogen werden, ohne dass diese sich dafür entscheiden könnten, werden gemäß dieser Logik die Begriffe von „Kolonialismus“ und „Genozid“ benutzt, um ein „Aussterben“ eines „Volks“ als euge nische Strategie einer audistischen Dominanzgesellschaft anzuklagen. Die Bezeichnungen der gehörlosen community changieren zwischen politisch motivierten Begriffen wie „Deaf world“ oder metaphorisch-poetischen wie „visual people“ bis zu Aneignungen eth2 Mit Bezug auf die UN-Menschenrechte und das Konzept der „linguistic human rights (LHRs) of the Deaf “: Tove Skutnabb-Kangas 2003: Linguistic genocide and the Deaf [Vortrag beim World Congress of the World Federation of the Deaf, Juli 2003]. In: deafzone, http://www.deafzone.ch/file/file_pool/ action/download/file_id/1379. [21.02.2016]. („Oralism in the education of Deaf children is linguistic genocide“).
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nologischer Konzepte. Ihre begriffliche Inkonsistenz ist lesbar als Kritik an einer Theorieproduktion, die zwischen wissenschaftliche Definitionen und politische Realität einige Übersetzungsschritte eingebaut hat. Sie muss sich schon durch diese Vermischungen provoziert fühlen, erst recht natürlich durch den Vorwurf des „Völkermords“. Harlan Lane ging 2005 von einer eigenen, abgegrenzten „Welt“ der Gehörlosen aus3 und bezeichnet sie als eigenes „Volk“4 mit einer „natürliche[n] visuell-gestische[n] Sprache“.5 Schon dieses Kriterium ist allerdings problematisch, denn die (nationalen) Gebärdensprachen haben sich eben nicht „natürlich“ in einer Gemeinschaft von Gehörlosen entwickelt, sondern gehen zurück auf die „künstlichen Gebärden“, die signes méthodiques des französischen Seelsorgers Abée de l’Epée im 18. Jahrhundert, erfunden in Anlehnung an Beobachtungen gehörloser Kinder (vor allem zweier Schwestern); die Französische Gebärdensprache wurde der Ausgangspunkt für die Entwicklung der amerikanischen ASL (American Sign Language) und anderer. In jedem Fall ist die Erzählung vom „natürlichen Ursprung“ nicht so einfach zu halten (‚angeboren‘ ist im übrigen keine Gebärdensprache, so wenig wie irgendeine Lautsprache). Interessant ist der Bezug zu der für die Ethnologie zentralen Größe „Verwandtschaft“, signifikant sind aber auch die bei anderen Autor_innen überbordenden Vergleiche mit dem Status anderer Minoritäten, mit den Juden, Aborigines, den kolonisierten Völkern, Homosexuellen usw. Ein weiterer Typus von Vergleich ist der mit der Kategorie „race“. Alle Vergleiche zielen auf die Debatte um Konstruiertheit oder Natürlichkeit: Was ist den jeweiligen Gruppen ‚eigen‘, was eine Zuschreibung? Was ist körperlich und vorgängig, was wird nur durch gesellschaftliche Hegemonien überhaupt zu einem Merkmal? Solche Fragen sind besonders brisant, wenn gleichzeitig die Konstruiertheit von Merkmalen konstatiert wird, etwa mit diesen Begründungen: ‚Behindert‘ sind Körper nur insofern, als dass sie durch die Mehrheitsgesellschaft dazu gemacht werden, so argumentiert man in der Verwendung des Begriffs disability anstelle von impairment; „race“ existiert nicht in einer biologischen, aber als soziale Wirklichkeit; die Geschlechtsiden3 Harlan Lane 2005: Ethnicity, Ethics, and the Deaf-World. In: Journal of Deaf Studies and Deaf Education, 10:3, Summer 2005, 291–310, http://jdsde.oxfordjournals.org/content/10/3/291.full. [21.02.2016]; ebenfalls in: Linda Komesaroff (Hg.) 2007: Surgical consent. Bioethics and Cochlear Implantation. Washington DC: Gallaudet University Press, 42–68, hier 291. Als Kriterien für eine Ethnie der Gehörlosen zählt Lane auf: A collective name, feeling of community, norms for behavoir, values, knowledge, kinship, customs, social structure, language, art forms, history. Lane 2005: Ethnicity, 292. Mit der Ausnahme von Sprache und Geschichte könnte man das für sehr viele Gruppen bis hin zu Scientology in Anschlag bringen. 4 Eine ausführliche Literaturliste der 1990er Jahre bietet Robert Sparrow 2005: Defending Deaf Culture. The Case of Cochlear Implants. In: The Journal of Political Philosophy, Bd. 13, Nr. 2, 135–152, v.a. 135. Sparrow listet hier bereits Definitionskriterien für „Deaf culture“ auf (shared history, unique language (or dialect), distinctive art, music, literature or cuisine, own institutions to serve its cultural needs, 140) – Deaf culture kommt den Kriterien für ethnische Kultur jedenfalls schon nahe, denn sie hat im Gegensatz zu Subkulturen ihre eigene(n) Sprache(n), ein eigenes Vokabular und eigene Grammatik sowie shared experiences, shared history, distinct set of institutions, own schools, clubs, meeting places, etc. 5 Und „a visual people“. Lane 2005: Ethnicity, Ethics, and the Deaf-World, 291.
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tität entsteht durch performative Akte, die auch zuallererst den Blick auf die Anatomie bestimmen – auch ein Bezug auf die Realitätsmächtigkeit von imagined communities wird durchaus in Anspruch genommen, um die Konstruiertheit, also Veränderbarkeit von gesellschaftlichen Kategorien aufzuzeigen.
I.I Natural trajectories Gehörlose sind selten miteinander verwandt (95% aller gehörlosen Kinder haben hörende Eltern), ihre Verwandtschaft (kinship) bestimmt Lane daher als „[w]hat is involved is a sense of tribal belonging, not necessarily genetic and blood ties.“6 Hörende Kinder hätten in der Regel eine andere „ethnocultural identity“ als ihre Eltern – was impliziert, die Kinder hätten bereits eine Identität.7 Wer die Gehörlosen nicht als Ethnie anerkenne, laufe Gefahr, ihren „ethnocide and even genocide“ nicht zu sehen.8 Am liebsten hält sich Lane im Bereich der race-Vergleiche auf, wohl deshalb, weil er sich hier auf eine gefühlte Parallele antirassistischer political correctness beziehen möchte. Um „Deaf Eugenics Today“9 zu veranschaulichen, zitiert er zunächst den berühmten ersten gehörlosen Präsidenten der Gallaudet Universität Washington, I. King Jordan, der auf die Frage im Fernsehinterview, ob er lieber hörend wäre, antwortete: „Das ist so, also würden Sie eine schwarze Person fragen, ob sie lieber weiß wäre… Ich betrachte mich nicht als jemanden, dem etwas fehlt“.10 Hier geht es noch um eine Selbsteinschätzung, bei der man sich darüber streiten mag, ob jeder für sich beurteilen soll oder kann, inwieweit er benachteiligt ist oder nicht. Jordan macht durch die Parallele in einem vertrauteren diskursiven Terrain eine implizite Diskriminierung in der Frage deutlich und nimmt sich gleichzeitig die Freiheit heraus, sich über die hegemonialen Bewertungen zu stellen. Das gilt allerdings nicht mehr für 6 Ebd., 293. 7 Ebd., 294, 296. 8 Ebd., 302. Lane und andere verweisen an dieser Stelle auf die eugenische Politik Alexander Graham Bells und anderer Oralisten seit dem 19. Jahrhundert, die Gehörlosen das Kinderkriegen untersagten, bis hin zur Sterilisation durch die Nationalsozialisten. Auch das Überleben der indianischen Ureinwohner sei durch Gesetzgebungen seit über einhundert Jahren bedroht (zuletzt noch dem U.S. Indian Child Welfare Act von 1978: Bei wem dürfen native american children aufwachsen?), das ließe sich auf Gehörlose übertragen, 306. Weitere Vergleiche verweisen auf Pygmäen oder schwarze Kinder bei weißen Adoptiveltern, 305. Auch Alkoholismus oder Homosexualität sei lange beurteilt worden, als könnten die Betroffenen das verhindern, schreibt Lane und zeigt damit nicht nur seine latente Homophobie (anders als Ladd ist er auch gegen eine Bündnispolitik mit dem Queer movement), sondern vor allem seinen wilden und in sich inkohärenten Versuch, alle möglichen und unmöglichen argumentativen Raster zu ziehen, auch wenn sie sich gegenseitig widersprechen. 295. – Von ethnocide und linguicide spricht auch: Maartje De Meulder 2016: Sign Language Recognition: Tensions between Specificity and Universalism in International Deaf Discourses. In: Michele Friedner und Annelies Kusters (Hg.): It’s a small world. International deaf spaces and encounters. Washington DC: Gallaudet University Press, 160–171. 9 Lane 2005: Ethnicity, Ethics, and the Deaf-World, 303. 10 Ebd., 296, zitiert Fine & Fine, 1990.
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die folgenden race-Parallelen Lanes, die nicht individuell, sondern universalisierend argumentieren. Normalisierung sei schlicht „unethisch“: „Even if children destined to be members of the African American, Hispanic American, Native American, or Deaf American cultures could be converted with biopower into white, Caucasian, hearing males – even if society could accomplish this, it should not.“11 Denn ethnische Vielfalt und die individuelle Wahl einer Ethnie seien ein Menschenrecht. Gesellschaften seien lernfähig, man habe Indianer früher als Wilde betrachtet, Schwarze als Eigentum und Frauen als unselbständig12, nun sollten Gehörlose unter den gleichen internationalen juristischen Schutz fallen wie andere, etwa unter die UN-Erklärung der Menschenrechte für nationale, ethnische, religiöse und sprachliche Minderheiten (2003).13 Der geforderte Minderheitenschutz und die geforderte Wahlfreiheit haben allerdings da ihre Grenzen, wo die Deaf World bedroht ist. Sich ‚seine Ethnie‘ frei auszusuchen, ist in einer hegemonialen Kultur nicht möglich; man ist nicht immer Präsident in seiner Ethnie. Lane meint, ein neugeborenes, gehörloses Kind sei entsprechend seiner Ausstattung, seines natürlichen Rechts und seiner kulturellen Zugehörigkeit gehörlos: „[T]he child’s life trajectory is surely headed there [to the Deaf-World].“14 Es geht um die trajectory. Die schon im Abwurf angelegte Flugbahn, die Bewegungsrichtung, die im Anfang der Entwicklung schon inhärente Zukunft, die Laufbahn. Hier wird mit Mitteln der Biologie und Natürlichkeit (der Entfaltung des Kindes) gegen Biologie und Natürlichkeit (der Blutsverwandtschaft) argumentiert, mit ethischen Normen und Vorstellungen von Normalität gegen andere ethische Normen/Normalismen. Auch hier werden Behauptungen aufgestellt für andere Menschen, die man nicht zu ihren Wünschen hat befragen können, und deren Vergleichspersonen nur rückblickend Auskunft über ihr mögliches Wahlverhalten im Kindesalter geben können (viele Gehörlose geben an, ihre Zugehörigkeit zur Gehörlosengemeinschaft gegenüber einem Leben mit CI zu bevorzugen; es handelt sich um ein spekulatives Sprechen, das die Relativität des eigenen Standpunkts nicht berücksichtigt15). Was nach Abzug all dieser kritischen Erwägungen übrig bleibt, ist der grundsätzliche Einspruch dieser Deaf Studies gegen die Logiken bestehender Gruppendefinitionen (mit ihren Beziehungen auf ‚die Natur‘ oder ‚die Kultur‘), eine eigene Behauptung dessen, was Natur sei, und der unbedingte Wunsch, einer Minderheit zu Rechten zu verhelfen, deren Grundlage der Autor wohl von einer gewissen Quantität der Minderheit abhän11 12 13 14
Lane 2005: Ethnicity, Ethics, and the Deaf-World, 304. Ebd., 306. Ebd., 295. Ebd., 306: „… given its makeup, its natural right and heritage […] the new born Deaf child is culturally Deaf “. 15 Allerdings sind die Selbstaussagen auch von einzelnen CI-Träger_innen wie z.B. Chorost, der die Gehörlosen um ihre Community, ihre Zusammengehörigkeit, ihre geteilte Sprache beneidet, sehr überzeugend. Michael Chorost 2005: Rebuilt. How Becoming Part Computer Made Me More Human. Boston, New York: Houghton Mifflin, 85, 127 f.
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gig sieht. Allerdings argumentiert er nicht in solchen Abwägungen, sondern universalistisch. Die tendenzielle Gleichsetzung von Unterdrückung mit Vernichtung kann als Provokation Debatten anstoßen. Der Mangel an kritischer Selbstreflexion und an Differenziertheit im Argument ist einem Manifest vielleicht angemessen, für einen wissenschaftlichen und wissenschaftspolitischen Beitrag kann es jedoch nicht dabei bleiben.
I.II Kolonialismus und Endlösungen Kurz nach Lane veröffentlichte Paddy Ladd seinen Text über „Colonialism and Deaf Rights“, in dem er die Gehörlosen mit kolonisierten Völkern gleichsetzt und „Sign Language Peoples“ (SLP) nennt.16 Ihre Kolonisierung finde hauptsächlich sprachlich, kulturell und im Sozialstaatswesen statt. Die historisch kolonisierten Völker hätten es mit Missionaren, Goldsuchern, Soldaten, Anthropologen und Sozialarbeitern zu tun gehabt, SLPs mit neuen Missionaren. Die konventionelle postkoloniale Theorie nehme audistischen Kolonialismus allerdings kaum wahr, da er in einem ungewöhnlichen Bereich, dem der Biomedizin, stattfinde. Dabei habe auch der konventionelle Kolonialismus biomedizinische Züge getragen. Bekanntestes Beispiel sind wohl die Schädelvermessungen, anhand derer die Unterschiede zwischen Kolonisierenden und Kolonisierten legitimiert/untermauert/markiert wurden.17 Daher schreibt Ladd selbst die eingeforderte Geschichte des audistischen Kolonialismus, des Widerstands dagegen, sowie des Neokolonialismus. Hierzu geht er von einem idealisierten Zustand aus: Seit den 1760er Jahren seien gehörlose Kinder gemeinsam unterrichtet worden, ein Jahrhundert lang, „in their native (signed) languages“18 – das ist allerdings historisch, wie bereits ausgeführt, so nicht ganz richtig. Der Oralismus seit der Mailänder Konferenz 1880 habe diese Szene dann kolonisiert.19 Erst ein Jahrhundert später habe die „Dekolonisierung“ begonnen, die Akzeptanz von Gebärdensprachen zugenommen, eine Radikalisierung für Deaf Rights in den 1980er Jahren eingesetzt. Die Oralisten seien in die Behörden verschwunden, wo sie dann etwas später für das Cochlea-Implantat Politik gemacht hätten.20 In den 1990er Jahren sei das CI als miracle cure (bionic ear) beworben worden. Die Times habe die Abschaffung der Taubheit verkündet, alle britischen Medien hätten das CI unkritisch begrüßt, und kein investigativer Journalismus habe je das juristische Manko thematisiert, dass es keine Vorgabe für die Firmen oder Ärzte gebe, die medizinischen Komplikatio-
16 Paddy Ladd 2007: Cochlear Implantation, Colonialism and Deaf Rights. In: Linda Komesaroff (Hg.): Surgical consent. Bioethics and Cochlear Implantation. Washington DC: Gallaudet University Press, 1–29. 17 Ebd. 18 Ebd., 3. 19 Ebd. 20 Ebd., 6–11.
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nen zu registrieren.21 Es gibt keine Datenerhebungen über die Nebenwirkungen oder Gefahren der Implantation außer vereinzelten Informationen, die die Firmen selbst geben. Die weltweite „multimillion dollar industry“ finanziere nicht nur große Marketingkampagnen, sondern auch Konferenzen, auf denen u.a. das Militär sich über das Enhancement des menschlichen (soldatischen) Hörens informiere (was gehörlose Kinder zu Versuchskaninchen mache).22 Auch neuere „liberale“ Diskurse, die bilinguale Erziehung mit CI unterstützten, führten zur Schließung von Schulen und zu einer „colonization of the mind“23. Implantierte kehrten teilweise von normalen Schulen wieder auf die für Gehörlose zurück (diese hätten Probleme wegen eines höheren Prozentsatzes mehrfachbehinderter oder demotivierter Schüler_innen). CI-Träger_innen seien zunächst von der Gehörlosengemeinschaft ausgeschlossen worden und könnten in keiner der Kulturen wirklich zuhause sein; eine „schwierige rite de passage“ nennt Ladd das, ohne den Ausschluss der CI-Träger_innen wirklich zu kritisieren oder für eine Vielfalt von Hörstatusgruppen zu plädieren.24 Nach den neokolonialen Wellen des Mainstreaming und des CI drohe eine genetische Modifikationswelle, die potentiell eine „oralistische Endlösung“ (sic!) darstelle.25 Auf die Argumentationsstragien der ‚natürlichen Sprache‘ und der Unterdrückungsgeschichte folgen weitere kulturpolitische Register.
I.III Sensory Politics, Cyborgisierung, Deaf Gain Kurz darauf schrieben Joseph Michael Valente, H-Dirksen Bauman und Benjamin Bahan über „Sensory Politics“, um der gängigen Gegenüberstellung von „biopower authorities/ science and technology“ und „culture/tiny linguistic minority“, Technomacht und Ludditen entgegenzutreten.26 Dazu verwiesen sie erstens auf die historisch variable Bewertung der Sinne (und entsprechende epistemologische Verschiebungen seit Aristoteles), zweitens auf die unterschiedlichen, auch nichtwestlichen Zählweisen der Sinne (nicht immer sei fünf die ‚normale‘ Anzahl gewesen, manche Kulturen zählten auch mehr), drittens seien Sinne nicht für alle immer mit einem Organ verbunden, viertens zeige Bourdieu, dass die Beurteilung der Sinne dem Abgrenzen von Klassen diene („Geschmack“, 1995), fünftens seien Sinne sozial konstruiert (und Indianerkinder in weißen Internaten ihrer Sinne beraubt worden), sechstens seien gerade Sehen und Hören seit Jahrhunder21 Ebd., 13 f. 22 Ebd., 15 f. 23 Ebd., 21. 24 Ebd. 25 Ebd. Der Rest des Beitrags umfasst dann sehr konkrete politische Handlungsempfehlungen, Argumentationsstrategien und Bündnisoptionen. 26 Joseph Michael Valente, Benjamin Bahan und H-Dirksen Bauman 2011: Sensory Politics and the Cochlear Implant Debates. In: Raylene Paludneviciene und Irene W. Leigh (Hg.): Cochlear Implants. Evolving Perspectives. Washington DC: University of Gallaudet Press, 245–258.
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ten besonderen Disziplinierungen unterworfen (Phonozentrismus, Okularzentrismus), und schließlich hätten siebtens die Gebärden überhaupt erst den Weg zur Sprache geebnet.27 Im gleichen Jahr publizierte Valente seinen Text gegen die „Cyborgisierung“ gehörloser Kinder und platzierte das CI in eine direkte Linie von den „Auslöschungsphantasien“ Bells durch Genozid und „Linguizid“28 bis in heutige kolonialistische, phonozentrische und verbrecherische Praktiken hinein – dies sei kein Kolonialismus des Landraubs, sondern eines hyperkapitalistischen Raubs „of young deaf bodies and minds“.29 Nötig sei eine Dekolonisierungsstrategie gegen das „Cochlear implantation empire“. Ein drittes Konzept sei noch angeführt: Im Jahr 2014 erschien ein umfangreicher Band mit dem Titel Deaf Gain (als Gegenbegriff zu „Hearing loss“), in dem Gehörlosigkeit nicht aus einer Perspektive des Mangels, sondern des Gewinns dargestellt wird. Gehörlose könnten differenzierter sehen, fühlen, visuelle Daten kognitiv besser verarbeiten, eigene Architektur, Design, Literatur, Kunst oder Deaf music produzieren, Vorteile bilingualen Lernens ebenso vorweisen wie bessere Gesichtserkennung, besseres Erinnerungsvermögen und motion processing: Gehörlos-Sein sei „a great brain excercise“.30 Neben dem Egalitäts- und Überbietungsdiskurs besteht hier besonders der Anspruch, Kultur und Biologie zu verbinden, auf jede denkbare Weise. Vielfalt sei in jeder Hinsicht, in genetischer oder sprachlicher, „gesund“, Monokulturen seien „krank“ (Ameisen hätten auch 12.000 Arten). Es gebe eine tiefe Verbindung zwischen linguistischer und biologischer Diversität, daher sei Forschung zur biocultural diversity nötig. In quasi naturwissenschaftlicher Argumentation folgt die Rede vom Verlust der Artenvielfalt (Linguisten schätzten, dass 50 bis 90 Prozent der Weltsprachen im 20. Jahrhundert ausgestorben seien) – es gehe um die Gesundheit von Ökosystemen, Sprachensterben destabilisiere die Zukunft des menschlichen Gedeihens, die Aborigines hätten diese Verbindungen von biologischer und kultureller Vielfalt bereits gekannt, und jede Sprache enthielte eigene Wissensformen, Wissenskorpora und Weltanschauungen. Das gelte zumal für eine visuell-kinetische Sprache. Die Sprache schlechthin habe sich aus Gebärden entwickelt (David Armstrong), Gehörlose hätten einen eigenen Beitrag zur Geschichte der Menschheit vorzuweisen, bei technologischen Innovationen seien Gehörlose als Entwickler an der Spitze. Evolutionsbiologisch betrachtet seien Gehörlose eine Art unter vielen (und wäre Gehörlosigkeit nur eine negative Mutation, wäre das entsprechende Gen schon lange ausgestorben). Der Text schließt mit der Aussage, in einer Welt, in der multinationale Konzerne den 27 Valente et al. 2011: Sensory Politics and the Cochlear Implant Debates, 246–249. 28 Ebd., 642 f. 29 Joseph Michael Valente 2011: Cyborgization. Deaf Education for Young Children in the Cochlear Implantation Era. In: Qualitative Inquiry, 17 (7), 639–652, hier 642 f. 30 H-Dirksen Bauman und Joseph J. Murray (Hg.) 2014: Deaf Gain. Raising the Stakes for Human Diversity. Minneapolis, London: University of Minnesota Press, hier 143. Siehe auch dies. 2014: Deaf Studies im 21. Jahrhundert. ‚Deaf-gain‘ und die Zukunft der menschlichen Diversität. In: Das Zeichen, Zeitschrift für Sprache und Kultur Gehörloser, Nr. 96, 18–41.
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Amazonas ausraubten, seien marginale Wissensformen zentral für das Überleben der Menschheit und wer die Vielfalt ausrotte, lösche die Menschheit aus.31 Es wirkt, als spielten die Autoren: Der Topf hatte kein Loch, und ich habe ihn gar nicht gesehen! Sie argumentieren in Registern, deren Begründungslogiken sich eigentlich ausschließen oder die zumindest nicht alle gleichzeitig in Anschlag gebracht werden können (mal sei die Medizin pro, dann contra der Deaf world anzusehen, mal seien die Institutionen der hörenden Welt eugenisch, dann wieder nicht, mal gilt die kapitalistische Ökonomie als pro, dann als contra Deaf world).32 Vor allem bleibt die Begründung einer eigenen gehörlosen Identität widersprüchlich und unbestimmt, besonders, was die Frage der Konstruktion von Identität angeht. Mal verweist man auf die Debatte um diversity, derzufolge ein nicht ‚normaler‘ Körper nicht defizitär ist. Es sei erst die Normierung der Mehrheitsgesellschaft, die ihn sein Leben als defizitär erleben lasse (wären alle Gehwege abgeschrägt, könnten sich alle Rollstühle problemlos fortbewegen etc.). Behinderung (disability) als gesellschaftliches Konstrukt: Diese Logik wird akzeptiert. Gleichzeitig lehnen die Deaf Studies es ab, deafness als Teil von disability zu sehen und entsprechende politische Bündnisse einzugehen.33 Natürlichkeitskriterien werden in einem Atemzug angerufen und abgelehnt.34 Lineare Geschichtsschreibung in Riesenmaßstäben wird in Frage gestellt, aber auch selbst betrieben.35 Normalitätskriterien sollen im Deaf Gain kritisiert werden, aber werden in diesem Überbietungsdiskurs letztlich bestätigt.
II. Universalität und Ethnologisierung Die strategische Übertragung von Begriffen auf den Gehörlosenkontext beeindruckt oder verärgert aus verschiedenen Gründen. Aber man muss zunächst davon ausgehen, dass sich subalterne Stimmen nie korrekt in einem ‚alternen‘ System werden artikulieren können. Sagt gerade das Unpassende, der Moment der Störung etwas aus? Was könnte
31 Bauman, Murray 2014: Deaf Gain, xxxix. 32 Ebd., xx-xxix. 33 Valente 2011: Cyborgization, 647. Die Autoren machen zwar bei vielen Philosophen Anleihen, aber die Performativitätstheorien der Gender Studies, deren Differenzierung von sex und gender beim Betrachten von disability und impairment helfen könnte, wurden bislang ignoriert. 34 Bauman, Murray 2014: Deaf Gain, xxxiix. „What is ‚natural‘ is the adaptation of human communities to difference“ – dann müssten sich ja ggf. auch die Gehörlosen anpassen. Vgl. weiter: Susan Burch und Alison Kafer (Hg.) 2010: Deaf and Disability Studies. Interdisciplinary Perspectives. Washington DC: Gallaudet University Press. 35 Bauman, Murray 2014: Deaf Gain, xx. „Placing deaf studies within the frame of biocultural diversity provides a frame of reference that predates the frame of normalcy by some tens of thousands of years; it also expands the frame of biocultural diversity, which has yet to consider the epistemological and physical diversity inherent in the wider spectrum of minds and bodies to encompass the full range of human flourishing.“
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man etwa am Beispiel der Ethnizität über dieses Konzept, seine biopolitischen Fassungen, seine wissenschaftshistorischen und -politischen Einsätze erfahren? Die Kategorie Ethnizität wird seit ihrer Erfindung, die in die Zeit der Herausbildung von Nationalstaaten fällt, immer wieder als „menschliche Universalie“ gehandelt.36 Allerdings erscheint Ethnizität immer weniger definierbar (abgrenzbar etwa von Religion, Nationalität etc.); sie überlagert sich mit anderen Kategorien. Mit den Migrationserfahrungen und der Multikulturalität seit den 1970er Jahren wird das Ideal ethnischer Homogenität in Frage gestellt und die Kategorie dehnbar. Wo man gerade in Deutschland langsam wahrnimmt, dass man über Rassismus sprechen müsste, das Wort Rasse allerdings seit dem Nationalsozialismus vermieden wird, dient die Kategorie der Ethnie wie ein Ersatz für die ungesagte der „race“.37 Zudem haben sogar die Kriterien des territorialen und verwandtschaftlichen Zusammenhangs an Definitionsmacht verloren. Die Ideen nicht nur einer „imagined nation“, sondern auch einer „invention of tradition“ beziehen sich auf immer mehr Gruppen.38 Frederick Holst plädiert für die Verwendung des Begriffs „Ethnisierung“, auch „ethnisierter Gruppen“ (statt „ethnischer Gruppen“).39 Wenn er vom Trend spricht, den Ethnizitätsbegriff (oder gar eine „language of ethnicity“) auch im Zusammenhang immer weiterer Minderheitenpolitiken bis hin zu sozialen Bewegungen zu beanspruchen, hätte er die Deaf World Language miteinschießen können.40 Die Ethnologin Anne C. Uhlig hat die Gehörlosen beim Wort genommen41 und eine klassisch ethnologische Monografie, die „Ethnografie der Gehörlosen“, vorgelegt.42 Wie 36 Christian Büschges 2015: Politicizing ethnicity – ethnicizing politics. Comparisons and entanglements. In: University of Cologne Forum Ethnicity as a Political Resource (Hg.): Ethnicity as a Political Resource. Conceptualizations across Disciplines, Regions, and Periods. Bielefeld: transcript, 107–133, hier 109. 37 Auch die Mitglieder des Forschungsnetzwerks blenden es aus, selbst dort, wo man es erwarten würde. Wo es etwa um Intersektionalität geht, zählt Becker als Perspektiven einer intersektionalen Analyse auf: class, gender, power [sic! nicht race], Anja Katharina Becker 2015: Ethnicity as a political resource in different academic disciplines, in: University of Cologne Forum Ethnicity as a Political Resource, 11–24, hier 20; und selbst Frederick Holst schreibt, Kategorien der Analyse seien: class, gender, state power [sic, nicht race] und center-periphery-relations, Frederik Holst 2015: More than meets the eye. Analytical frameworks beyond race and ethnicity. In: University of Cologne Forum Ethnicity as a Political Resource (Hg.): Ethnicity as a Political Resource. Conceptualizations across Disciplines, Regions, and Periods. Bielefeld: transcript, 39–55, hier 54. 38 Holst 2015: More than meets the eye, 109. 39 Ebd., 50, 54. 40 Ebd., 114 (verweist auf Joanna Pfaff-Czarnecka 2012: Zugehörigkeit in der mobilen Welt. Politiken der Verortung. Göttingen: Wallstein, 63–76. 41 Oder Harlan Lane: „The challenge to the professions that seek to be of service to Deaf children and adults is to replace the normativness of medicine with the curiosity of ethnography.“ Lane 2005: Ethnicity, Ethics, and the Deaf World, 307. 42 Anne C. Uhlig 2012: Ethnographie der Gehörlosen. Kultur – Kommunikation – Gemeinschaft. Bielefeld: transcript, 93. Carol Erting beschrieb bereits 1978 den Zusammenhang zwischen Sprachpolitik und Ethnizität der Gehörlosen in den USA. 2003 betonte Paddy Ladd im Begriff Deafhood den ethnischen Charakter der Gehörlosengemeinschaft.
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bei einem ‚Stamm‘ untersucht Uhlig Zeichensysteme, visuelle Kultur, Begegnungspraktiken, Festzyklen sowie Status- und Prestigeerwerb am Beispiel der deutschen Gehörlosengemeinschaft; das traditionelle Konzept der Verwandtschaft spielt ebenfalls eine zentrale Rolle.43 Die Rolle der Sprache und die Frage nach „Verwandtschaft“ werden hier anders akzentuiert: Gehörlose seien, erstens, in erster Linie durch Gebärdensprache als Ethnie bestimmt.44 Die Gehörlosengemeinschaft sei, zweitens, durch eine besondere, erweiterte Art von Verwandtschaft gekennzeichnet – biologische Kennzeichen seien hier ebenso bestimmend wie soziale und emotionale Verbundenheit.45 Letztlich versteht Uhlig die Ethnizität der Gehörlosen als eine des Werdens: Sie seien „nicht von Geburt an ethnisch gehörlos, sondern nehmen diese ethnische Identität erst beim Heranwachsen an, wenn sie sich von der Identitätsvorgabe durch ihre hörenden Eltern lösen und sich der gehörlosen Gemeinschaft zuordnen“.46 Eine Strategie des Umgangs mit dem Begriff der Ethnie wäre also seine Aufweichung, seine Prozessualisierung. CI-Gegner befestigen allerdings ihre neu besetzten Begriffe eher, als sie selbst variabel zu halten. Der Hörstatus ist entsprechend solcher Kategorien wie gehörlos, schwerhörig, implantiert, spätertaubt oder eine Kombination von mehreren nicht nur im Laufe eines individuellen Lebens veränderlich, sondern die entsprechenden Gruppen und Gemeinschaften, die sich aus allen zusammensetzen – inklusive den Hörenden – sind es auch. In seiner Auseinandersetzung mit dem Theaterwissenschaftler Rafael Ugarte Chacón, der „Theater und Taubheit“ untersucht, hat Tomas Vollhaber die Trennung von hörenden und gehörlosen Theatermacher_innen kritisiert: „Zuallererst müsste in diesem [untersuchten Theater] jenes dichotome Konstrukt eine radikale Kritik erfahren, das von einer ‚Welt der Gehörlosen‘ und einer ‚Welt der Hörenden‘ ausgeht“, nicht aber von einer „grundsätzlich verschiedene(n) Welterfahrung von Hörenden und Gehörlosen“
43 Ihre Methoden sind die teilnehmende Beobachtung, Videointerviews und schriftliche Umfragen, Datenerhebungen „im Feld“ und im Internet; sie untersucht mediale Konzepte von „Oralität, Literalität und Signalität“ (Uhlig 2012: 126, 144 f.) bei Gehörlosen, Schwerhörigen CI-Träger_innen und Codas (als „Schwellenwesen“). Ihre „Fallbeispiele“ umfassen verschiedene Fälle von Elternschaft in juristischen Situationen (zwei gehörlose Mütter in den USA, die einen gehörlosen Samenspender suchen, und die Debatte um gezielte Behinderung oder Differenzgemeinschaft (52), das britische Gebot der Selektion von in vitro gezeugten Embryonen und der Kritik an dieser eugenischen Rechtsprechung (54), Schlagzeilen von 2008 wie „Deaf demand right to designer deaf children“ oder um „Holocaust with genetic cleansing“ (55 f.).) Da Körper immer biologisch und kulturell geprägt seien, wäre das gehörlose Körperbild anders konstruiert als ein hörendes – es gelte, „die Körperwahrnehmung Gehörloser [zu] hinterfragen und so dem indigenen Bild auf die Spur [zu] kommen.“ (91) Vermutlich ist das „Selbstbild“ gemeint, das als „indigen“ bezeichnet wird: Hier also unternimmt eine hörende Forscherin die Übertragung von Kategorien zwischen den Disziplinen oder Körper-/Zugehörigkeitsdefinitionen (Gehörlose als Indigene, Eingeborene in ihrem eigenen Land). 44 Uhlig 2012: Ethnographie der Gehörlosen, 94 f. 45 Ebd., 16 f. (durch patrimony wie auch paternity). 46 Ebd., 113.
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wie Chacón.47 Biographien Gehörloser zeigten eher, dass ihre differenten Welterfahrungen aus unterschiedlichsten sprachlichen, kulturellen und sozialen Quellen schöpften, zu denen unter anderem die Gehörlosigkeit zähle. „Gewiss, Taubheit bringt in einer Welt, die fast nur aus Hörenden besteht, viele Probleme mit sich, dennoch will dieses taube Leben gelebt werden, und es ist nicht nur die Taubheit, die dieses Leben schwierig und angenehm und abenteuerlich und frustrierend und was sonst noch alles macht. Ein Leben allein auf Taubheit oder Hören zu reduzieren, ist eine Farce. Vielmehr sollte sich das Theater, das den aesthetics of access folgt, auf eine präzise Darstellung seiner hörenden und gehörlosen Protagonisten konzentrieren; und in der Analyse dieses Theaters sollte die Präzision dieser Theaterarbeit gewürdigt werden.“48 Es gehe darum, jede Figur in ihrem So-Sein, in Stärken und Schwächen, im Scheitern und Durchhalten zu sehen.49 Eine solche Ethik der Singularität lässt sich nicht im Blick auf Universalien, sondern nur jeweils im Kontext realisieren – etwa hier durch den Bezug auf die konkrete Theaterarbeit. Es bleibt die Frage: Lässt sich keine Aussage über Hörwelten machen, die nicht partikular ist? Einzelne Theoretisierungen versuchen sich durchaus an nichtpartikularen, allgemeinen Einschätzungen des CI. Der Politikwissenschaftler Fabian Rombach etwa hat die Normierungsdiskurse rund um das CI auf verschiedenen Ebenen untersucht und eine Studie zu deren normalistischen Argumentationen (juristisch, medizinisch, in der Elternberatung) vorgelegt. Sein Fazit lautet, dass für CI-Träger_innen die „Disziplinierung des Selbst einen lebenslangen Prozess darstellt und die Selbstnormalisierung zugleich der medizinisch-therapeutischen Wissensgenerierung dient. Damit werden die einzelnen CI-Nutzer_innen Teil der techno-wissenschaftlichen Wertschöpfungskette und zum gewinnbringenden Objekt.“50 Die Behauptung, der/die Patient_in oder das Elternteil könne die Wahl treffen, entlaste den biotechnisch-therapeutischen Apparat aus seiner Verantwortung.51 Das scheinbar individualisierte Narrativ einer einzelfallorientierten Ethik sei eine an der Masse orientierte „Ethik des normalistischen Heilens“ und befördere letztlich Konformität und Nützlichkeit statt Unterschiedlichkeit und Würde.52 47 Tomas Vollhaber 2015: Die Entpolitisierung des Theaters – Rafael Ugarte Chacóns Untersuchung eines Theaters von und für Gehörlose und Hörende. In: Das Zeichen, Nr. 101, 29. Jg., November 2015, 510–519 (Review von: Rafael Ugarte Chacón 2015: Theater und Taubheit. Ästhetiken des Zugangs in der Inszenierungskunst. Bielefeld: transcript), hier 512. 48 Ebd. 49 Vollhaber 2015: Die Entpolitisierung des Theaters, 518. David Serlin hat Entsprechendes für die Epistemologie formuliert: „The sensorial and intersubjective dimensions of disability may produce cripistemologies for which disability is but one differential of identity, not its sole form.“ In: Robert McRuer und Merri Lisa Johnson 2014: Proliferating Cripistemologies. In: Journal of Literary & Cultural Disability Studies, 8.2, 149–169 (Liverpool UP), hier 150. 50 Fabian Rombach 2015: Körperdifferenz. Taube zwischen Normierung und Normalisierung. In: Das Zeichen, Nr. 101, 398–409, hier 403. 51 Ebd., 404. 52 Ebd., 407.
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Beides überzeugt. Aber weder im Einzelfall noch im Kontext der Gouvernementalitäten alleine lassen sich diese Verschränkungen von Unterdrückung, empowerment, Eigenem und Allgemeinem durchdenken. Gerade ist in den Kultur- und Sozialwissenschaften die Denkfigur des Netzwerks angekommen, die auch Subjektivitäten aus Umgebungen von kulturellen, technischen, körperlichen etc. Elementen bestimmt. Prozesse der Identifikation und Zugehörigkeit versprechen damit vielfältig, beweglich, individualisierbar und in einer Auswahl von Möglichkeiten zu bestehen. Dass diese Wahlfreiheiten durch die unsichtbare Hand des ideologischen Mehrheitenmarkts mitgeformt sind, ist weniger sichtbar. Dass Normalisierungsdruck auf Separatismus und Essentialismus trifft, verhilft keiner Variante von diversity zur Entfaltung. In jedem Fall wäre es besser, die Trajektorien des akustischen und visuellen Zeichengebrauchs prinzipiell offen zu halten. Ein neues trajektorisches Modell wäre das des CI-Borg. Die Borg sollten für die kapitalistische Science Fiction eine kommunistische Horrorvision von gleichgeschalteten Individuen sein. Deren Zusammengehörigkeit allerdings könnte auch modellhafte Züge einer Deaf Community tragen, die eine von der Dominanzkultur unverstandene Kommunikation teilt und teilweise unheimliche Adaptions-Elemente an die Mehrheitskultur aufweist (ein passing als Mainstream, Lippenlesen, phantasmatische Unterwanderungsbilder…). Wenn Hörende und Gehörlose sich auch und unter anderem des CIs wie der Gebärdensprache bedienen könnten, switching in and out of languages and codes, könnten sie die Föderation besiegen. Die Föderation wäre gut beraten, selbst mehr Sprachen zu lernen. Hegemony is futile.
Röntgenbild des Kopfes eines Kleinkindes mit Cochlea-Implantat
Geräte zum Hören. Ko-Evolution, Teilhabe, Zumutung. Ein Gespräch
Christoph Asmuth: In den drei Beiträgen sind sehr unterschiedliche Aspekte zum Tragen gekommen. Ich möchte mit Frau Bergermann und ihrem Vortrag „Auditiver Kolonialismus“ und Deaf Ethnicity anfangen. Ich fand Ihren Vortrag spannend, aber auch unbefriedigend, weil Sie uns einer gewissen Ratlosigkeit ausliefern: Wir sind einer ganzen Fülle von Unterschieden und einem großen Druck ausgesetzt, Unterschiede zu machen und Unterschiede zu behaupten, aber gleichzeitig wollen wir sie eigentlich wieder kassieren. Mit diesen Unterschieden markieren wir körperliche Dispositionen, Ausstattungen, Fertigkeiten, Unterschiede, die wir einerseits brauchen, um adäquat zu reagieren, die wir andererseits aber zumindest zum Teil für diskriminierend halten. Was für eine Strategie könnte man entwickeln, um diesem Dilemma zu entkommen? Ulrike Bergermann: Ich würde natürlich nicht für die Abschaffung von Differenzen plädieren, sondern für eine Vervielfältigung und im Sinne von Beate Ochsner für eine Anerkennung vieler verschiedener Hörweisen und Sprachen. Das müsste man auf allen möglichen Ebenen durchdiskutieren: Wie kann so etwas technologisch, bei den Krankenkassen, in den Schulen, in der Wissenschaft, in der Kategorienbildung usw., jeweils realisiert werden? Was ich natürlich nicht gemacht habe, ist, eine Entscheidung vorzuschlagen, ob man sich implantieren lassen sollte oder nicht. Das ist ein anderes Register. Beate Ochsner: Ich möchte das genau so bekräftigen. Ich glaube nicht, dass es darum gehen kann, in diesen hochkomplexen Feldern jetzt neue Entscheidungen basierend auf älteren, vielleicht sogar alten, womöglich auch neuen Dichotomien zu treffen. Es wäre meine Vorstellung, dass es in unserer sensorischen Ökologie Vielfältigkeiten gibt. Diese werden mit unterschiedlichsten Motivationen, durch unterschiedlichste Diskurse und durch unterschiedlichste, sehr stark auch ökonomische Praktiken stark gerichtet. Gerichtet nicht nur im Sinne einer Funktionalisierung, sondern gerichtet auch im Sinne einer Zurichtung auf ein Modell der Norm. Diese Norm hat im Wesentlichen damit zu tun, dass, wer diese Norm erfüllt, im leistungstheoretischen Komplex bestehen kann und möglichst wenig kostet, dafür aber so viel wie möglich einbringt. Das ist natürlich auch ein zentrales Problem, wenn es um die CI-Diskussion geht. Denn ich glaube, die Vorstellung, ein Cochlea-Implantat bei einem Kind zu implantieren,
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das dann in die so genannte „normale“ Schule geht und „normal“ mitarbeitet, die ist im Wesentlichen illusorisch. Das heißt: Eine Assistenz ist weiterhin nötig. Das heißt eben auch: Es wird nicht zwangsläufig günstiger, es wird sogar häufig eher teurer. Das versucht man u.a. dadurch zu unterbinden, indem man einzig und allein auf die hörende Kultur hinarbeitet. Dabei stört z.B. der Mehrsprachenerwerb. Es gibt sehr viele widerstreitende Studien. Es scheint sich aber tatsächlich zu zeigen, dass Mehrsprachenerwerb prinzipiell, was die Plastizität des Gehirns angeht, sinnvoll ist. Das wissen wir alle. Oder würden Sie sich dagegen wehren, wenn Eltern unterschiedlicher Herkunft ihr Kind zwei- oder dreisprachig erziehen? Nein, im Gegenteil! Das ist eine Chance! Das wird als Chance gewertet. Dass Sprachen unterschiedlich gewertet werden, das kommt dann erst später. Es ist eben nicht jede Sprache gleich willkommen. Wenn wir hier von Westeuropa reden, und da bin ich jetzt mal polemisch, dann ist es toll, wenn jemand Englisch und Deutsch erzogen wird. Vielleicht noch ein bisschen Französisch oder Spanisch. – Gebärdensprache hingegen bekommt einen anderen Stellenwert zugeschrieben. Wir würden im Mehrsprachigkeitskontext trotzdem generell von der Plastizität des Gehirns sprechen und davon, dass Mehrsprachigkeit sehr sinnvoll ist, weil dadurch, und da kommt wieder ein Leistungsaspekt hinein, das Gehirn trainiert wird. Ich finde es deshalb schwierig, zwischen den sprachlich-visuellen und sprachlich-auditorischen Prägungen verschiedener Sprachen zu differenzieren. Wer sich ein bisschen mit Neurowissenschaft oder Neurologie beschäftigt, weiß, wie problematisch der Ansatz des Mappings ist. Wie problematisch die Ansätze sind, die bestimmte Fähigkeiten in bestimmten Gehirnregionen verorten. Das ist ein höchst umstrittenes Feld. Ich würde prinzipiell dafür plädieren, das scheint mir gerade in unserem Kontext interessant, unsere auditorische Ökologie genauer zu untersuchen. Denn anhand des Cochlea-Implantats lassen sich ganz viele Zusammenhänge und Problemfelder überhaupt erst beschreiben. Deshalb ist es nicht mein Interesse, Empfehlungen auszusprechen, ich wüsste selbst nicht, was ich täte. Manchmal denkt man, das ist jetzt eine blöde Verallgemeinerung, sich einfach mal abzuschalten, wäre ganz interessant. Das kann man, so man hörend ist, ja nicht. Es gibt neuere Dokumentarfilme über Gehörlose, die diese Möglichkeiten aufzeigen. Es gibt CI-Programme, um z.B. bestimmte Geräusche ein bisschen runterzufahren und andere hochzufahren. Es wäre toll, wenn man den Quellcode hätte, wenn man selbst programmieren könnte. Im open-source-Kontext könnten wir das, nicht aber beim Cochlea-Implantat, weil das die Hersteller verhindern. Was man im Einzelfall machen soll, das weiß ich nicht, aber es geht mir auf jeden Fall um Vielfältigkeit. Asmuth: Ich wäre jetzt schwer daran interessiert, zu erfahren, was Herr Tchorz dazu sagt. Denn irgendwie scheint ja die Technik Schuld an unserem Dilemma zu sein. Ihr Vortrag war ganz hervorragend, weil Sie auch die Begeisterung für das rübergebracht haben, was man auf dem Gebiet inzwischen alles kann, was möglich ist, und was eine große Hilfe
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für gehörlose Menschen sein kann. Ich bin gespannt, was Sie zu den skeptischen oder kritischen Bemerkungen sagen. Jürgen Tchorz: Ich frage mich, ob die starken Konfliktlinien in der Diskussion um die Gehörlosenkultur, die aufgezeigt wurden, ob diese Konfliktlinien im Vergleich zu Mitte der 80er Jahre oder 90er Jahre heute noch so hart sind, oder ob sich die Situation nicht deutlich entspannt hat. Gisela Staupe, Deutsches Hygiene-Museum Dresden: Ich möchte an die letzte Anmerkung anknüpfen. Stichwort: Konfliktlinien. Gibt es diese heute wirklich noch? Im Prinzip diskutieren wir hier am Haus seit 1998 über das Cochlea-Implantat. Wir haben diese Diskussion schon geführt, als wir die Ausstellung Der (im)perfekte Mensch realisiert haben. Wir wissen, dass seitens der Gebärdenkultur und der Gehörlosen-Community gegen das Cochlea-Implantat interveniert wurde, aus der Angst heraus, dass sie ihre Kultur verlieren und dass diese Technik eine „Subkultur“ zerstören könnte. Ich frage mich nach diesen langen Diskussionen, ob diese Konflikt linien heute wirklich noch von Bedeutung sind. Wenn ich mir die Entwicklung von 1998 bis heute ansehe, habe ich nicht den Eindruck, ohne Expertin zu sein, dass diese Technik dazu beigetragen hat, eine Kultur zu gefährden. Ganz im Gegenteil: Sie ist sehr viel selbstbewusster geworden. Und wenn ich mir anschaue, wie wir als Museum durch unterschiedliche Technik auch unterschiedliche Teilhabe am Museum ermöglichen, kann man sagen, dass wir ebenfalls viel gelernt haben in den letzten Jahren. Das Zweite ist: Dieses Dilemma, auf das Sie hinweisen, ist das wirklich vorhanden? Natürlich geben Sie, Frau Ochsner, eine Empfehlung, weil Sie behaupten indirekt doch, das Cochlea-Implantat sei normierend, weil es auf die hörende Kultur hinarbeite. Im Prinzip sollte versucht werden, es nicht einzusetzen. Subkutan vermitteln Sie daher sehr wohl eine Empfehlung. Ich habe das Gefühl, dass diese Zuspitzung, die Polarisierung, nicht dazu beiträgt, dass wir über das, was Technik kann, auch „Gutes“ tun kann, weil sie neue Möglichkeiten von Wahrnehmung eröffnet, differenziert nachdenken. Und zum Schluss noch eine letzte Frage: Wenn wir ein Cochlea-Implantat in unserem Museum ausstellen, welche drei Informationen würden Sie unseren Besucherinnen und Besuchern dazu geben wollen? Bergermann: Ich antworte jetzt, da ich mit den Kampflinien identifiziert werde. Das kann ich auch verstehen. Ich habe sie natürlich mit großem Interesse vorgetragen und habe meine eigene Betroffenheit nicht so sehr in den Vordergrund gestellt, die sich in erster Linie Folgendes fragt: Was lerne ich über meine, in einer hörenden Kultur geprägten Begriffe? – Und würde ich mich implantieren lassen? Ja, wahrscheinlich. Ich mache jede Menge Dinge, die in einer normierenden, normalistischen, normalen Gesellschaft Standard sind.
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Es gibt ein interessantes Buch von einem Implantierten, Michael Chorost, „Rebuilt“, der das Bild eines Mannes benutzt, der eine Armbanduhr trägt, und damit immer weiß, wie spät es ist. Was aber passiert, wenn er zwei Armbanduhren trägt? Dann ist er sich nie sicher, wie spät es ist. Ist es jetzt gut oder schlecht, eine zweite Uhr zu tragen oder wählen zu können zwischen verschiedenen Arten des Hörens? Chorost sagt, es handelt sich nicht darum, diese Unsicherheit vermeiden oder eine falsche Sicherheit haben zu wollen. Zwei Uhren zu tragen bedeutet vielmehr, auf einer Metaebene über das Zeitmessen nachzudenken. Ich weiß, dass Zeit relativ ist, wenn ich zwei Uhren habe. Und das ist meine Meinung zum CI, etwas umständlich ausgedrückt. Ein CI zu haben, ist bestimmt eine gute Sache, wahrscheinlich würde ich eins haben wollen, und ich kenne Leute, die damit prima fahren. Insofern ist meine Rede nicht gegen ein CI gerichtet. Aber die verschiedenen kritischen Diskurse, die meiner Meinung nach immer noch relevant sind, die müssen auch zur Sprache kommen. Dass die Diskurse noch im Wandel sind, zeigt sich darin, dass es weiterhin aktuelle Veröffentlichungen mit der gleichen Heftigkeit gibt. Das Thema hat sich für die Betroffenen durchaus nicht erledigt. Man kann vielleicht sehen, dass sich die Werbung der CI-Firmen ein bisschen verändert hat, insofern immer mehr gebärdende Kinder gezeigt werden, die implantiert sind. Es gibt hier vielleicht eine kleine Aufweichung der Dichotomisierung. Aber man kann nicht sagen, dass sich die Debatte schon umfassend, z.B. in den mehrsprachigen Praxen von Schulen usw., niedergeschlagen hätte. Ochsner: Ich würde das sehr ähnlich beantworten. Ich würde mich aber dagegen verwehren, mir unterstellen zu wollen, ich würde Empfehlungen gegen das CI aussprechen. Das tue ich nicht. Schon aus dem Grunde nicht, weil es mir gar nicht zusteht, und weil ich es auch gar nicht beurteilen kann. Ich weiß nicht, wie es ist, wenn man als hörende Eltern ein nicht hörendes Kind hat. Ich weiß auch nicht, was ich selbst tun würde, wenn ich gehörlos wäre. Was mich an dieser ganzen Thematik interessiert, ist das hoch spannende und heterogene Handlungsfeld, das sich dadurch eröffnet. Diese mit dem Körper verschmelzende Technologie bringt ganz neue Formationen und Diskurse hervor. Interessanterweise eben auch starke Abgrenzungsmechanismen der Deaf Community. Wenn man sich die Publikationsdaten anschaut, wir reden hier von 2011, 2012, dann würde ich nicht sagen, dass das nicht mehr aktuell ist. Auch im ökonomischen Sinne ist es interessant, wenn man alle gehörlosen Kleinkinder und Erwachsene, prä- wie auch postlingual ertaubt, implantieren kann. Natürlich gibt es viele Betroffene, die gut damit zurechtkommen, weil sie das Gehör erst später verloren haben oder weil die Dauer des so genannten Hörverlustes nicht so lange war, so dass sie in die erlernte Lautsprache wieder gut reinkommen. Was macht man aber mit denen, für die das nicht gilt? Die brauchen dann Assistenz. Das ist ein ökonomischer Faktor, der mitkalkuliert werden muss. Wenn ich sehe, was neue Marketingstrategien machen, dann ist klar: Sie wollen den Absatzmarkt vergrößern. Und das heißt z.B., dass nun beidseitig implantiert werden
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soll. Das ist der Trend. Das bedeutet aber auch, dass man auf Lifestyle hinarbeitet, d.h. man versucht nicht mehr zwangsläufig, die Prothese immer kleiner und unsichtbarer zu machen, sondern betont sie durch grelle Farben. Außerdem wird verstärkt am Musikhören gearbeitet. Ich sage keinesfalls, dass das schlecht ist. Das wäre ein Missverständnis. Ich versuche lediglich, mögliche Trajektorien aufzuzeigen und die Zusammenhänge herzustellen. Natürlich muss man immer noch sehr differenziert über all das nachdenken. Es geht nicht darum, neue Kampflinien einzuziehen oder gar alte Kampflinien zu zementieren, sondern deren Geschichte und Bedeutung beschreibbar zu machen. Wenn Sie sagen, Sie geben in Ihrem Museum die Möglichkeit zur Teilhabe, dann zeigt mir das auch, dass sich das Museum als eine Einrichtung begreift, die Teilhabe offerieren kann. Ich würde hingegen sagen: Teilhabe kann kein einseitiges Angebot sein. Das scheint mir vom Begriff her falsch gedacht, denn Teilhabe ist immer etwas, das in kulturellen Prozessen wechselseitig hergestellt wird. Das sind die Ansatzpunkte, die mich interessieren. Tchorz: Zu den Kampflinien, ob die entspannter geworden sind oder nicht: Da würde ich Ihre Auffassung teilen, Frau Staupe. Letzte Woche fand die Jahrestagung der deutschen Gesellschaft für Audiologie statt, wo es um solche Fragestellungen ging. Der große Schwerpunkt dieses Jahr war das Implantat. Es ging fast ausschließlich um Implantate und sehr wenig um Hörgeräte. Im Zuschauerraum viele Trägerinnen und Träger von Implantaten, auch bei den vortragenden Forscherinnen und Forschern ein völlig selbstverständlicher, entspannter Umgang mit dem Thema. Vor ein paar Jahren war das noch ganz anders, da haben Gehörlose solche Tagungen mit Trillerpfeifen gestürmt, um ihrem Protest Ausdruck zu verleihen. Noch eine technische Anmerkung. Frau Ochsner, Sie haben angesprochen, dass die CI-Hersteller ein Interesse daran haben, dass beidseitig implantiert wird. Ja, auf jeden Fall, weil zwei Implantate natürlich doppelt so viele Einnahmen sind. Es gibt aber noch einen weiteren, sinnvollen Grund: Wir haben uns daran gewöhnt, dass Hörgeräte beidseitig getragen werden. Da hatten wir vor vielen Jahren genau die gleiche Diskussion: Du hast doch schon ein Hörgerät auf der einen Seite. Wieso brauchst Du dann noch eins auf der anderen? – Einfach, weil es audiologisch zu rechtfertigen ist, insbesondere bezüglich des Sprachverstehens und des Richtungshörens. Genau die gleichen Untersuchungen gibt es jetzt auch im CI-Bereich. Da zeigt die Forschung klar auf, dass sich mit einem zweiten CI die Lokalisation, also das Richtungshören, deutlich verbessert, und damit auch das Sprachverstehen. Es gibt in aller Regel einen Zusatznutzen, der zwar nicht so groß ist wie der Schritt von keinem zu einem Implantat, aber es gibt ihn.
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Ochsner: Der wesentliche Punkt scheint mir jedoch der zu sein, ob die Gesundheitskasse das zweite Implantat bezahlt oder nicht. Dann zählen natürlich medizinische Argumente, die aber häufig Totschlagargumente sind. Denn von Statistiken, die Idealfälle versammeln, erfahren Sie selten, aus welchen multifaktoriellen Konstellationen die Probanden tatsächlich kamen und nach welchen Kriterien sortiert wurde. Es geht mir nicht darum zu sagen, die Medizin macht alles falsch, was ich zu einem guten Teil gar nicht beurteilen kann. Es geht mir in meiner Rolle als Medienwissenschaftlerin vor allem darum zu fragen, welche Formationen sich in den verschiedenen Handlungsfeldern ergeben und welche Diskurse dadurch geprägt werden. Wir wissen ja nicht erst seit heute, dass beidseitiges Hören das Richtungshören ermöglicht. Aber interessanterweise wird das erst so massiv gefördert, seit klar ist, dass man dadurch auch Geld verdienen kann bzw. seit die Kassen – zumindest in Deutschland – dies auch finanzieren. Und um einem weiteren Missverständnis vorzubeugen: Ich halte das nicht für falsch, finde jedoch die Entwicklung und die jeweils darauf ausgerichteten Diskurse bzw. Verhaltensweisen der Akteure spannend. Petra Gehring: Ich muss vorwegschicken, dass ich mich in der Diskussion nicht gut auskenne und durch Zuhören auffange, was alles im Spiel ist. Mir fällt auf, dass in den Diskussionen zwei sehr unterschiedliche Ansätze, Paradigmen, Bilder mobilisiert werden, und die sind widersprüchlich. Auf der einen Seite geht es um Wahrnehmung dessen, was der Körper kann oder nicht. Da reden wir über Körper, ihre Wahrnehmungsvermögen und was daran hängen mag. Hier kommen interessanterweise Redeweisen wie „Volk“ in einem fast rasseförmigen Sinne auf den Radar. Und auf der anderen Seite reden wir über Mehrsprachigkeit und Sprache. Das ist doch ein vollständig anderes Paradigma. Irgendwie stimmt natürlich beides. Aber sowohl die Frage, wie ich es politisiere, als auch die Frage, wie ich diese Problemlage als kulturelle Aufgabe beschreibe, hängt doch sehr stark davon ab, in welcher der zwei Rillen ich mich bewege. Ich habe das Gefühl, beides schwimmt so aufeinander und passt nicht zusammen. Wenn ich das Thema Mehrsprachigkeit ernst nehmen will, dann kann ich mir schwer vorstellen, dass es fundamentale Argumente dagegen gibt. Isolationistische Argumente wiederum passen sehr viel besser, wenn man in einem Körper- und Wahrnehmungsparadigma denkt. Dann sagt man: Wir sind eben so. Das Zwei-Uhren-Bild (mit der Frage Entweder–Oder) würde auf das Sprachparadigma überhaupt nicht passen. Warum sollte es uns irritieren, zwei Sprachen zu beherrschen? Ich glaube, es wäre spannend, die beiden Rillen mal auseinander zu lösen und die Alternativen separat zu diskutieren, um dann zu sehen, wie unterschiedlich die beiden Diskussionen verlaufen. Wenn ich das Thema von der Sprachherausforderung denke, dann ist das Erste, was mir einfällt: Warum lernen nicht mehr Hörende Gebärdensprache, so dass die Zweisprachigkeit von zwei Seiten kultiviert wird? Diese Frage würde sich im Wahrnehmungsparadigma nicht stellen, weil man dann alles naturalisiert und sagt: Die einen Körper
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sind so, die anderen so. Das würde nahe legen, dass Hörende an der Gebärdensprache schlicht deshalb kein Interesse haben, weil sie sie nicht brauchen. Aber in der Sprachperspektive ist das der nächstliegende Gedanke. Gibt es irgendwelche Diskussionen darüber, dass es für Hörende ein Problem sein könnte, Gebärdensprache zu lernen? Oder dass es da Fenster gibt, die sich schließen oder etwas in der Art? Wenn das nicht der Fall ist, frage ich mich, warum man es nicht spiegelbildlich diskutieren und auch spiegelbildlich politisieren kann. Bergermann: Ich glaube schon, dass diese Geschichte mit den Uhren auf Sprachen passt, denn wenn man eine zweite Sprache lernt, lernt man auch gleichzeitig etwas über das System und die Strukturen von Sprache und Sprachlichkeit. So wie man ausgehend von Konzepten wie „Nation“, „Stamm“ oder Ethnie bis hin zu ihrer Vervielfältigung in „Ethnizitäten“ etwas über Konstruktionen von Gemeinschaft lernt. Ich glaube, die eigentliche Bruchlinie, die wir im Moment diskutieren und vielleicht nicht so gut vereinbaren können, ist eine andere: Was würde man mit einem CI im Museum machen? Das Problem stellt sich dann anders. Ich würde mich fragen: Wie kriege ich Normalismus und Normalitätsdiskurse in ein Museum? Natürlich kann ich sehr kunstfertig Objekte ausstellen und sie kontextualisieren, sie einführen, sie inszenieren. Aber was mache ich mit den Dingen und den Strukturen, die nicht sichtbar sind und diese Objekte umgeben? Was ist Normalität? Wie visualisiere ich das denn? Muss ich dazu immer auf Interviews zurückgreifen und mir ein Video von einem Betroffenen ansehen, um das zu thematisieren? Die Frage kann nicht heißen: Welche drei Punkte schreibe ich an die Vitrine mit dem CI? Sondern: Was für neue Formen von Vitrinen müssten wir erfinden, um dieses so schwer oder gar nicht Ausstellbare irgendwie ins Museum zu kriegen? Das finde ich die schwierigere Frage und nicht die, von Identität auf Vielfalt zu kommen. Susanne Wernsing, freie Kuratorin: Ich fand Ihre Einleitung wichtig, Frau Bergermann, als Sie gesagt haben, dass es nicht darum geht, zu diskutieren, was unsere Betroffenheit bei dem Thema ist. Ich bin mir nicht sicher, ob wir gerade über eine bestimmte Community sprechen oder über das Phänomen Gehörlosigkeit. Oder ist es ein politisches Plädoyer für Differenzierung, für Variantenreichtum? Sollte es nicht eher um das Tagungsthema gehen, darum, wie wir mit Kultur und Natur am und im Körper umgehen? Das Interessante ist, wenn ich Sie da richtig verstehe, Frau Ochsner, dass mit dem CI eine Technologie entwickelt wird, die computer-to-brain-experiences erlaubt, und dass diese Technologie völlig anders verwertbar ist als im therapeutischen Kontext. Es gibt eine Relevanz für einen Kontext, der uns alle betrifft. Mit dem CI wird über die Hintertür eine Technik entwickelt, die einen Zugang auf unser Gehirn ermöglicht. Da ist nicht nur die Musikindustrie dran, sondern da können viel weitreichendere Interessen mit verfolgt werden.
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Ochsner: Ich würde dem völlig zustimmen. Mir geht es nicht so sehr darum, dass ich Angst habe vor dem „Angriff auf mein Gehirn“. Es geht mir darum, sich klarzumachen, dass diese medientechnologischen Zugriffe derzeit entwickelt werden. Da geht es um Adressabilität. Adressen zu erzeugen, ist ein wichtiger Schritt beim Bau von Systemen. Man erzeugt z.B. eine Adresse für lautsprachliche Ansprache. Eine Ansprache ist immer auch verbunden mit einer Inanspruchnahme. Das sind die Prozesse, die mich interessieren: Die mediale Konfiguration, die Mensch-Technologie-Schnittstelle, die hier aufgemacht wird und faktisch Ansprechbarkeit erzeugt. Ich finde es aus medienwissenschaftlicher Perspektive spannend, diese Adressierungsmechanismen zu untersuchen. Asmuth: Herr Tchorz, ich würde Sie gerne noch einmal fragen: Wie sieht es mit dieser Adressierung aus? Ist unser Gehirn einem unmittelbaren Angriff durch die neuronale Schnittstelle ausgesetzt? Oder ist das technisch gesehen eine schwierigere Angelegenheit? Tchorz: Vielleicht ist es so, dass ein Cochlea-Implantat oder auch ein Hirnstamm-Implantat eine Aura des Halbgruseligen besitzt. Weil man den Eindruck hat, dass da der Stecker direkt ins Gehirn gesteckt wird. Das gibt dem Drüber-Nachdenken eine andere Qualität als bei anderen Hilfsmitteln. Aber man sollte auch nicht glauben, dass die Möglichkeiten da bisher sehr groß sind. Was das CI heute mit dem Dutzend Elektroden macht, das ist im Prinzip sehr primitiv. Wir sind sicher weit davon entfernt, den direkten USB-Anschluss zum Gehirn zu legen, mit allen Szenarien, die sich daraus ergeben. Wernsing: Aber ich glaube, um das, was heute möglich ist, geht es gar nicht. Das ist nicht die Fragestellung. Sondern: Was ergibt sich daraus, wenn diese Technologie weiterentwickelt wird? Was ist, wenn man einen drei Monate alten Säugling implantiert und in einigen Monaten noch mal eine ganz andere Technologie hat? Tchorz: Genauso geht immer die Argumentation gegen die Implantation des zweiten Ohres. Da wird gesagt: Wir warten noch mal ab. Vielleicht gibt es in ein paar Jahren eine neue und bessere Technologie. Ich spare mir dafür das zweite Ohr auf. Mit dem Zuwarten wäre ich skeptisch, wegen der Fenster im Hörenlernen, die sich ansonsten schließen. Man weiß, dass die Erfolgschancen rapide sinken, wenn man zu lange wartet. Tagungsteilnehmer: Ich habe eine Informationsfrage. Nach meiner Kenntnis wird ein nicht unerheblicher Anteil der CIs im Moment auch wieder abgeschaltet. Wenn Sie dazu Stellung nehmen
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könnten, wie viel Prozent der CI-Träger dauerhaft abschalten und aus welchen Gründen. Weil man Mehrsprachigkeit nur bedingt abschalten kann – aber das CI schon. Ochsner: Es gab von der deutschen Cochlea Implantat Gesellschaft eine Zahl aus 2013, die auf einer fallpauschalenbezogenen Statistik des Statistischen Bundesamts basierte. Danach gab es im Jahr 2013 ca. 3500 CI-Operationen, wobei es sich in siebzig Fällen um Entfernung des Implantats handelte. Aber auch hier gilt: Diese Zahlen allein sagen nicht viel, denn natürlich ist in Statistiken vieles nicht verzeichnet. Um diese Frage hinreichend beurteilen zu können, müsste man mit Lebensgeschichten arbeiten. Man müsste nicht nur fragen, in welchem Alter implantiert wurde, sondern in welchen Konstellationen die Implantationen erfolgten, was als funktionierend und als nicht funktionierend erlebt wurde oder warum z.B. abgeschaltet oder entfernt wurde. Das geht aus diesen Statis tiken, die sie von diesen Gesellschaften kriegen, nicht hervor. Tomas Vollhaber, Institut für Deutsche Gebärdensprache, Hamburg: Noch mal zurück zum Stichwort Kampflinie. Natürlich gibt es sie, und sie ist heiß umkämpft. Sie, Frau Staupe, werden diese Kampflinie nicht so mögen, weil Sie andere Interessen haben. Sie wollen, dass Gehörlose ins Museum kommen. Und Sie wollen denen eine Technik anbieten, die ihnen einen Zugang ermöglicht, und das ist toll so. Aber die Kampflinie, die gibt es an vielen Stellen. Die Frage ist: Was kämpft hier eigentlich gegeneinander? Ich glaube nicht, dass es hier um das CI geht. Das ist ein Hilfsmittel, eine Prothese, man hat sie drin oder nicht und muss damit umgehen. Eng wird es dort, wo die radikale Differenz von Taubheit und Hörendsein in Frage gestellt wird. Die existiert mit oder ohne CI, mit oder ohne Hörgerät. Das erleben wir auch hier an diesem Ort: Wie ist es für die Dolmetschenden nach den dichten Vorträgen gestern? – Kriegen sie das überhaupt rüber? Können sie das übersetzen? Und es gelingt natürlich nicht, bestenfalls rudimentär. Es ist schade, dass der gehörlose Kollege hier kein CI hat, damit er es mal mitkriegt, wie sich hier die Dolmetschenden abquälen, aus lautsprachlichen gebärdete Texte zu machen. Der gebärdete Text funktioniert völlig anders. Die Grammatik ist eine völlig andere, das visuelle System völlig anders als das auditive. Dichte akademische Vorträge sind in Gebärdensprache überhaupt nicht zu transformieren. Das heißt, die Gegenwart von Tauben stellt uns alle total in Frage. Und nicht nur die Tauben mit ihrem CI und mit ihren Hörgeräten. Sondern wir alle sind in Frage gestellt, wenn eine taube Person den Raum betritt. Meine Kollegen aus dem Zentrum für Disability Studies in Hamburg haben diese Frage am Begriff „Diversity“ durchdekliniert. Ein Leerbegriff, weil er nichts in Frage stellt, sondern diese permanente Differenz überbrückt. Der Text heißt: „Piep piep piep, wir haben uns alle lieb?!“ Genau das ist Diversity. Zum Ende dieses Textes fordern die Leute von den Disability Studies, dass immer vom Letzten her gedacht werden muss. Das heißt: Wenn wir hier Gehörlose im Raum haben, müssen wir alles ändern. Unsere Vorträge anders halten oder an die Wand projizieren, damit sie
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mitlesen können. Und das alles dauert wahnsinnig lange. Bestimmte Vorträge, die sehr verdichtet sind oder gehetzt gehalten werden, sind ohne gründliche Vorbereitung der Dolmetschenden überhaupt nicht dolmetschbar bzw. für Taube verstehbar. Das heißt: Wenn wir Taubheit ernst nehmen, müssen wir alles anders machen und diese Differenz permanent mitdenken. Applaus Bergermann: Nun habe ich Dich, Tomas, gerade mit einem entgegengesetzten Statement zitiert. Denn Du hast ja auch durchaus schon dafür plädiert, ein Spektrum, nicht eine radikale Differenz von Hörenden und Gehörlosen, in einer gemeinsamen Welt aufzumachen. Vollhaber: Damals habe ich ganz bewusst vom Raum der Kunst gesprochen. Das ist ein Raum, in dem viel mehr möglich ist als in so einem Raum der Fachdiskussion. Wenn Du, Ulrike, auf Begriffe wie Deaf Gain und Ethnicity eingehst, dann sind die Konzepte, die sich hinter diesen Begriffen befinden, im Grunde relativ banal und auch ziemlich dumm. Aber sie versuchen, diese radikale Differenz zu denken. Und sie setzen ein Nein. Darin liegt ihr Wert. Norbert Richter, Fachberater für Gebärdensprache, in der Übersetzung des Gebärdendolmetschers: Mein Name ist Norbert Richter. Ich fühle mich selbst gehörlos, und ich bin hier, weil das Thema CI aus der hörenden Perspektive sehr interessant ist und mich neugierig gemacht hat. Wenn Sie sagen, durch das CI entsteht die Möglichkeit, dass man in zwei Welten leben kann, in der hörenden und in der gehörlosen Welt, dann entsteht da für mich ein Widerspruch. In meinem Freundeskreis gibt es verschiedenste Leute: Hörende, Schwerhörige, Gehörlose und CI-Trägerinnen und CI-Träger. – Aber unsere Basis ist die Gebärdensprache. Wenn ich zu Kulturveranstaltungen reise, dann entscheide ich mich bewusst für solche, die mir barrierefrei zugänglich sind. Bei manchen führen da Hörende, Gehörlose, CI-Trägerinnen und CI-Träger zusammen ein Theaterstück auf. Dabei machte ich eine interessante Erfahrung. Meist werden nach dem Theater Podiumsdiskussionen angeboten, auch mit dem Publikum, in Anwesenheit von Dolmetschenden die alles übersetzen. CI-Trägerinnen und CI-Träger wurden bei solchen Veranstaltungen auch befragt, konnten aber oft die Gebärdendolmetschenden, quasi die Gebärdensprache und die lautsprachliche Wiedergabe nicht verstehen. So etwas macht mich dann betroffen. Da ist ein CI-Träger, der theoretisch beide Welten vereint und trotzdem keine Kommunikation hat, egal ob sie akustisch oder visuell abläuft. Das ist für mich ein großer Widerspruch, was die CI-Technik betrifft. Es wird immer suggeriert: CI ist super, man kann danach hören. Es gibt natürlich auch Leute, die sind damit
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zufrieden. Aber mein Eindruck ist da ein anderer. Ich bin nicht gegen das CI, ich selbst trage ja auch Hörgeräte. Aber wenn Sie mich fragen würden, ob ich ein CI haben möchte, würde ich das natürlich ablehnen, weil ich Gebärdensprache kann. Ich bin so. Ich habe meine Identität, ich brauch’s nicht. Applaus Staupe: Sie haben eine Setzung gemacht, die für Sie gilt. Jemand verwies darauf: Wenn Kinder gehörlos geboren werden, dann entsteht ein ethisches Problem bei der Frage, ob Säuglingen, die sich nicht entscheiden können, ein CI eingesetzt werden soll oder nicht. Natürlich, darüber muss geredet werden. Es gibt die zugespitzte Position: Wenn Kindern ein CI eingesetzt werde, dann hätten sie nicht die Chance, in der Kultur aufzuwachsen, die ihnen entspreche. Bei dieser Behauptung habe ich doch einige Bedenken. Ich frage mich, wer kann darüber entscheiden, in welcher Kultur Kinder auswachsen sollen und welche Kultur Kindern entspricht, und was ist hier mit Kultur eigentlich gemeint? Ist diese Setzung nicht auch eine Normierung? Bergermann: Ich habe diese Position zitiert, ich vertrete sie aber natürlich nicht. Weil ich nicht der Meinung bin, dass man behaupten könnte, ein neu geborenes Lebewesen würde schon eine sprachliche und kulturelle Identität haben. Gegen die Natürlichkeitsvorstellungen, gebärdensprachlich oder lautsprachlich, habe ich auch argumentiert. Tagungsteilnehmerin: Mir fehlt an den Deaf Studies zumeist eine gewisse Reflexion. Die Geschichte der Gehörlosenerziehung fängt oft so an, dass Gehörlose in Internaten, Kindergärten und Schulen immer nur in Lautsprache erzogen wurden und nur ganz selten gehörlose Vorbilder da waren, die mit ihnen in der Gebärdensprache kommuniziert haben. Auch heute ist es schwierig, jemanden zu finden, der einem Kind diese Sprache vermitteln kann. Wir haben selbst einen Sohn, der von Geburt an gehörlos ist, und sind jetzt auf Dolmetscher angewiesen, die natürlich hörend denken. Die Sozialisation von Gehörlosen ist nach wie vor problematisch, weil sie sonderpädagogisch gestört wurde und geprägt ist. Es ist für uns hörende Eltern nicht einfach, zu sagen: Dann soll er eben in die Gehörlosenzentren und in spezielle Schulen gehen. Denn dort gibt es nicht das, was ich für meinen Sohn haben möchte, nämlich eine komplexe Sprache. Die Lehrer können es nicht, die haben es nicht gelernt. Es gibt keinen perfekten Biologieunterricht in Gebärdensprache. Jedenfalls hier in Dresden nicht, maximal in Hamburg oder München. Deshalb denke ich, die Kampflinie ist ganz krass da. Es gibt nur ein paar Inseln. In Hamburg gibt es vieles, in Berlin ist viel im Aufbruch, aus München höre ich viel Gutes. Aber hier sind wir echt im Loch. Im Dezember habe ich vom Gericht einen Brief bekommen. Ich hatte
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geschrieben, dass mein Sohn sehr wenig hört und einen Hörtest beigelegt. Im Sprachtest hatte er nur 20 Prozent gehört, trotz CI. Der Richter hat geschrieben: Dann soll er sich mehr anstrengen. Das ist die Realität und die Kampflinie in unserer Stadt. Ob ein Kind die Chance kriegt, sein Leben in die Hand zu nehmen und eine komplexe Sprache zu lernen, wie etwa die Gebärdensprache, oder nicht, das liegt an den verantwortlichen Personen. Es geht doch darum, dass das Kind die basalen Grundlagen braucht, um denken zu können. Es ist außerdem ein großes Rennen gegen die Zeit für die Eltern: Ende dieses Jahres schließt sich das Sprachfenster für meinen Sohn. Und die Adressierung ist ein ganz spannendes Thema. Denn das Gerät ist da und es verpflichtet. Es verpflichtet, es zu benutzen. Wenn eine Familie ein Kind nicht implantiert, dann wird ihr das immer vorgehalten. Man wird regelmäßig auf die Ämter zitiert: Warum haben Sie Ihr Kind nicht implantiert? Wir bezahlen Ihnen keine Gebärdensprache. Sie hätten es implantieren können. Und wenn das Kind implantiert ist, dann wird gesagt: Es kriegt keinen Assistenten und keine Gebärdensprache. Es ist implantiert. Es hört ja. Wie sich das Kind insgesamt entwickelt, ist egal. Die medizinischen Dinge und das, was im Kind stattfindet, das wird völlig voneinander getrennt. Aus dem Thema Gebärdensprache halten sich die Kliniken vollständig raus. Vor drei Jahren wurde uns noch gesagt: Machen Sie das nicht mit der Gebärdensprache. Lesen Sie ihm vor, sprechen Sie viel mit ihm, das reicht. Gebärden Sie nicht. Ich habe gehört, das fängt jetzt an, sich in Dresden zu verändern, und ich habe gehört, das liegt an meinem Kind. Das ist die Kampflinie, an der die Eltern gerade stehen. Von den Krankenkassen wird die Gebärdensprache abgelehnt. Deshalb ist meine Frage: Gibt es die Wahl überhaupt? Wie viele Kinder bleiben auf der Strecke? Und wollen wir uns umstellen oder nicht? Dass die Hörenden die Gebärdensprache erlernen, ist eine nette Idee. Aber wo ist denn das Angebot? Wo können die Eltern lernen, was sie für ihre Kinder brauchen? Es gibt in dieser Stadt keinen qualifizierten Gebärdensprachpädagogen. Da stehen wir 2016. Applaus Tagungsteilnehmerin: Ich würde mich dem anschließen. Der Kampf ging für mich als Mutter eines schwerhörig geborenen Kindes schon in dem Moment los, in dem ich die Diagnose bekam und dann aber keine Alternativen zur Auswahl standen. Das heißt: Ich habe gar keine Entscheidungsmöglichkeit als Elternteil, wenn ich hörend bin. Man hat damals einfach eine Adresse bekommen, die hieß Frühförderung. Um die Alternative Logopädie haben wir uns selbst gekümmert. Das Natürlichste, wenn man die Kampflinie aufweichen will, wäre: Jedem Kind, das die Diagnose bekommt, die Möglichkeit zu geben, die Gebärdensprache zu lernen. Man kann nicht wissen, wie sich das Kind später entscheiden würde, egal, ob ich das CI mit drei Monaten oder mit drei Jahren implantiere. Die andere Seite ist: Selbst, wenn wir uns für das CI entscheiden, wissen wir nicht, ob es auch funktioniert. Wir haben bei unserem Sohn erlebt, dass das erste CI nicht funktioniert
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hat. Wir haben dann die bittere Erfahrung machen dürfen, dass eins der beiden CIs ausgefallen ist. Und jedes Mal steckte er in einer Situation, wo er selbst nicht wirklich kommunizieren konnte. Dass ein CI ausfällt, kann immer passieren, in jedem Alter. Da braucht man einfach eine weitere Möglichkeit der Kommunikation. Tagungsteilnehmerin: An das Museum adressiert: Sie machen genau das, was wir brauchen. Uns wurde immer gesagt, es gibt gar kein Umfeld für das Kind, Ihr braucht nicht zu gebärden. Wenn Sie hier für Familien Führungen in Gebärdensprache anbieten, dann ist für die Eltern sichtbar: Mein Kind hat auch mit Gebärdensprache Möglichkeiten. Das brauchen wir viel, viel mehr. Ochsner: Ich habe zahlreiche Publikationen im Bereich der Pädagogik, der Sprachausbildung, auch der gebärdensprachlichen Ausbildung untersucht. Die zentrale Frage war dort häufig: Inwiefern erlaubt Gebärdensprache einen Zugang zur Schriftsprache? Wie koppelt man gebärdensprachliche an die schriftsprachliche Kommunikation? Gibt es Unterschiede von lautsprachlich erzogenen Kindern im Hinblick auf den Zugang zur Schriftsprache im Vergleich zur gebärdensprachlichen Erziehung? In den pädagogischen und den linguistischen Arbeiten wird fast einhellig die Meinung vertreten, die Sie auch vertreten: Egal ob CI oder nicht, es muss immer gebärdensprachlich unterrichtet werden. Das findet aber, und auch da würde ich wieder auf ökonomische Zusammenhänge kommen, nicht den adäquaten Widerhall in den Kontexten, in denen Assistenz, Lehrerinnen und Lehrer, Schulungen etc. finanziert werden. Aber die Forschung würde Ihnen recht geben. Asmuth: Ich danke Ihnen für die Statements und möchte nochmals betonen, wie wichtig es ist, für seine Rechte einzutreten. Das Gespräch hat gezeigt, dass wir noch ganz andere Komplexe in unsere Überlegungen zur Frage von Mensch und Technik miteinbeziehen müssen. Das eine ist die Unfähigkeit der einzelnen, wirklich objektiv entscheiden zu können. Es gibt offenbar geradezu eine Systematik, die dazu führt, dass die Leute entscheidungsunfähig sind. Und das andere ist der große Bereich des Rechtlichen, der in die einzelnen Handlungsmöglichkeiten der Akteure eingreift und auch bestimmt, was im Einzelfall passieren kann und was nicht. Ich bedanke mich sehr herzlich für die sehr lebhafte, sehr aspektreiche Diskussion.
Andro Wekua: „Some Pheasants in Singularity“, Installationsansicht Sprüth Magers, London. 14. Oktober–15. November 2014.
Christoph Asmuth
Der verklärte Leib. Singularität und Technoromantik
Aber erst, wenn man die andere Kopfseite des alten Mannes sah, wurde einem deutlich, womit man es bei ihm zu tun hatte. Hinter dem Ohr saß dort eine graue Metallscheibe. Von deren Rand verliefen von der Ein-Uhr- und der Sieben-Uhr-Position aus Anschlussbalken um den Schädel herum und drangen in ihn ein. Von der Sechs-Uhr-Position aus transportierten Schläuche, die zu einem Stecker seitlich am Hals führten, Blut als Kühlmittel. Im Zentrum der Scheibe steckte wie eine Trophäe auf ihrer Halterung ein Verstärker, der in Größe und Form an eine Herzmuschelschale erinnerte, anscheinend jedoch aus Quarz bestand. In Buphals rechtem Auge fand man anstelle von Augapfel und Lederhaut eine glitzernde Leitung von quadratischem Querschnitt, die tief in den Schädel reichte. Pendle wusste immer, wann Buphal angestrengt nachdachte – der Mann brach dann in Schweiß aus, obwohl Stöße kalter Luft von seinem Kühloverall aufstiegen, denn Buphals Verstärker war eine Semi-KI-Kristallmatrix […]. Leute wie ihn bezeichnete man als Menkis, eine Zusammensetzung von Mensch und KI. Der Mann kam einer erfolgreichen Synergie von KI und Mensch so nahe, wie überhaupt möglich war, ohne dass das menschliche Element wie eine defekte Zündung durchschmorte.1
Der beschriebenen Figur ist in Neil Ashers Roman „Der Messingmann“ nur ein kurzer Auftritt zugemessen. Der Autor besiedelt seine Science-Fiction-Welt mit hybriden Figuren dieser oder jener technomorphen Gattung. In der zeitgenössischen Science-FictionLiteratur finden sich zahlreiche Entwürfe einer Technisierung des Körpers. Technische Prozesse besiedeln den menschlichen Körper. Cyborgs, Roboter, Androiden, Mind-Upload oder Mind-Transfer – als Schreckensvision oder Erlösungshoffnung bilden sie Elemente einer aus der Jetztzeit heraus entworfenen Zukunft. Der menschliche Körper wird einer Metamorphose unterzogen, die ihn aus seiner Biologie befreit und technischen Artefakten öffnet. Es entsteht ein Mischwesen aus Mensch und Technik, ein Anthropofaktum. Parahuman ist ein schillernder Begriff. Er umreißt ein heterogenes Feld der Interaktion und Symbiose von Mensch und Technik. Die Technik ist nicht das Andere des Menschen. Vielleicht ist die Menschwerdung selbst ein Akt der Technifizierung des Körpers. Die griechische Vorsilbe „para“ jedenfalls geht mit dem Humanen eine doppelsinnige Verbindung ein. „Para“ heißt sowohl „neben“ wie „bei“ oder „entlang“, aber eben auch 1 Neal Asher 2006: Der Messingmann. Bergisch Gladbach: Bastei Lübbe, 28–30.
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„dagegen“, wie in „Paradoxie“. In der Paradoxie scheint etwas logisch zu sein, mündet aber in einen unauflöslichen Widerspruch, eine Widersinnigkeit. Parahuman ist deshalb ein Begriff, der Widersprechendes vereint. Das Menschliche und ihm Zugehörige, das mit ihm ist und mit ihm agiert, das Mit-Sein, das neben und bei ihm ist, und das, was gegen ihn gerichtet ist, was nur scheinbar menschlich, was widermenschlich ist. Das Parahumane nimmt Abschied von Wesen und Gattung des Menschen und beschreibt ihn im Netz seiner vielfältigen Daseins- und Interaktionsmöglichkeiten gemeinsam mit Dingen, Artefakten und Techniken. In seiner Grenze geht das Parahumane in das Widermenschliche über. Dann ist er nur noch Maschine. Das Parahumane wird dann transhuman.
I. Der verklärte Leib Wandlungen des Körpers sind fast in allen Kulturen Bestandteil mythischer Narrative und magischer Praktiken. Allerdings treten die gegenwärtigen Hybridisierungsphantasien ein spezielles Erbe an, denn sie beanspruchen eine artifizielle Rationalität für sich, die weit entfernt ist von kulturellen Urmythen. Sie reklamieren für sich die wissenschaftlichtechnische Entwicklung in ihren avanciertesten Formen. Sie setzen auf Digitalisierung, Bio-Hacking, Ganzkörper-Prothetisierung und Gentechnologie. Gleichwohl gehorcht dieses Sich-Entwerfen des Menschen in seine Zukunft hinein einer eigenwilligen Metaphysik. Ich möchte dieses Konzept rekonstruieren und historisieren und es deshalb zunächst mit einem ganz anderen Körperverständnis konfrontieren. In den Texten des sogenannten Urchristentums wimmelt es von Berichten über Visionen, Erscheinungen, Wundern.2 Es sind flirrende Texte, in denen die menschlichen Körper eigenartigen und eigentümlichen Veränderungen ausgesetzt sind.3 Die frühen Christen lebten und litten offensichtlich mit und in solchen Visionen. Dass der menschliche Körper das Medium spektakulärer Verwandlungen sein kann, gehörte zum Bestand alltäglichen Erzählens, Handelns und Glaubens. Diese frühen Christen hatten andere Körper als wir: Körper, die auf ein Heil- und Ganz-Sein hin entworfen waren, die aber ebendarum in der Gegenwart zerstörbar und verderblich erscheinen. Ihr Körper bestand eigentlich aus zwei Körpern: einem bedürftigen, bedrückten, beraubten in der Gegenwart und einem erlösten, bedürfnislosen und verklärten in der nicht allzu fernen Zukunft – einem geilen und gierigen einerseits, einem
2 Vgl. Christoph Markschies 2006: Das antike Christentum: Frömmigkeit, Lebensformen, Institutionen. München: Beck; Dietrich-Alex Koch 2014: Geschichte des Urchristentums. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht. 3 Vgl. zum Folgenden: Klaus Berger 1994: Theologie des Urchristentums. Theologie des Neuen Testaments. Tübingen/Basel: Francke; Peter Brown 1991: Die Keuschheit der Engel. Sexuelle Entsagung, Askese und Körperlichkeit am Anfang des Christentums. München/Wien: Hanser.
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heiligen und gereinigten andererseits. Die Metamorphose bestand in der Befreiung des verklärten und ewigen Körpers aus dem korrupten und kompromittierten. In einem seiner Briefe entwirft der Apostel Paulus seine Vision der Auferstehung: Die Reihenfolge der Ereignisse wird so sein: Wenn der Ruf des Erzengels zu hören ist und die Trompete Gottes ertönt, steigt der Herr Jesus Christus vom Himmel herab, und dann werden zuerst die im Glauben an Jesus gestorbenen Toten auferstehen, bevor wir, die noch Lebenden, zusammen mit den Auferstandenen in Wolken entrückt werden, dem Herrn entgegen, der in der Luft kommt. Wenn wir ihn erreicht haben, werden wir mit ihm vereint werden und vereint bleiben.4
Bereits in diesem sehr frühen Textzeugnis des Christentums zeigt sich eine wichtige Überzeugung. Zwanzig Jahre nach Jesu Tod sind seine Jünger überzeugt, dass er zurückkommen wird, um diejenigen, die geglaubt haben, Jesus sei der Messias, und seiner Lehre gefolgt sind, wieder lebendig zu machen und gemeinsam mit den Lebenden mit sich zu vereinen. Diese Verwandlung der Gläubigen, der lebenden wie der toten, in die Gemeinschaft mit Jesus Christus und Gott scheint jederzeit eintreten zu können. Paulus ist überzeugt, dass Jesus noch zu seinen eigenen Lebzeiten wiederkehren wird. Die Umstände der Auferstehung scheinen unproblematisch – ein Zeichen dafür, dass Paulus beispielsweise eine Auftrennung von Leib und Seele nicht kannte: Für Paulus ist das gesamte Verhältnis des Menschen zu Gott körperlich.5 Paulus ist der Überzeugung, dass der Körper ‚verherrlicht‘ wird. Das Rein-Werden, das mit der Wiederkehr Jesu eintritt, ist kein einseitig geistiges Geschehen. Es handelt sich nicht um eine Reinigung der Seele vom Schmutz des Leibes, wie man es bisweilen Platon unterstellt hat. Erlösung ist hier keine Abkehr vom Leiblichen, sondern dessen Aufwertung. Der menschliche Körper wird von seinen Defekten befreit, von seiner Anfälligkeit für Krankheit, Lust und Vergänglichkeit. Der Körper wird vom Druck der Kontingenz entlastet.6 Bei Paulus spricht sich eine radikale Abkehr von der Lust aus. Die Lust ist zum Feind des Menschen geworden. Die Lust markiert in gesteigerter Weise die Hinfälligkeit des Menschen. Im Körper des Christenmenschen tobt ein Kampf. Hier sind keine abstrakten Mächte am Werk, sondern der Körper selbst rebelliert gegen sich und wird zum Schlachtfeld. Anders als etwa bei Platon zieht Paulus ein Auswandern der Seele aus dem Körper gar nicht in Erwähnung. Seine ganze Theologie ist sinnlich. Die Vergänglichkeit und Bedürftigkeit des Körpers und seine Bedürfnisse müssen überwunden werden, nicht der Körper selbst. Der Körper wird damit ins Zentrum der mystischen Theologie des Paulus gerückt. Das ist eine unheimliche und düstere Präsenz des Körperlichen. Unbeherrschbare Mächte 4 1 Thess 4, 16–18. 5 Vgl. etwa: 2 Kor 5, 1–4. 6 Vgl. Walter Schmithals 1980: Die theologische Anthropologie des Paulus. Stuttgart: Kohlhammer.
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und Kräfte zerreißen den Menschen; es sind keine Kräfte, die außerhalb seiner selbst liegen, sondern in ihm. Und es geht um Leben und Tod, Verdammnis und Erlösung. Dieser Kriegsschauplatz liegt nicht in einem abstrakten und fernen Jenseits geistiger oder psychischer Dramatik, sondern spielt sich im körperlichen Jetzt ab. Die Erwartung der baldigen Wiederkehr Jesu zwingt die auf ihre Errettung setzenden frühen Christen dazu, die unabwendbare Körperlichkeit trotz ihrer Unabwendbarkeit radikal zu negieren. Der Trost einer abtrennbaren Seele ist ihnen nicht vergönnt; mit dem Körper ist der Mensch ganz der Sünde verhaftet.7 Seine Erlösungsfähigkeit ist der Göttlichkeit Jesu anheim gegeben, der die defekte menschliche Physis in die selige Bedürfnislosigkeit des heilen und heiligen Körpers verwandeln kann. Gute hundert Jahre später demonstrieren die Märtyrer die Veränderung der Körperlichkeit, etwa der Heilige Polykarp. Als er [Polykarp, d.A.] das Amen ausgesprochen und sein Gebet vollendet hatte, zündeten die Heizer das Feuer an. Mächtig loderte die Flamme empor; da schauten wir, denen diese Gnade gegeben war, denen es auch vorbehalten war, das Geschehene den anderen zu verkünden, ein Wunder. Denn das Feuer wölbte sich wie ein vom Winde geschwelltes Segel und umwallte so den Leib des Märtyrers; dieser aber stand in der Mitte nicht wie bratendes Fleisch, sondern wie Brot, das gebacken wird, oder wie Gold und Silber, das im Ofen geläutert wird. Auch empfanden wir einen Wohlgeruch wie von duftendem Weihrauch oder von einem anderen kostbaren Rauchwerk. Als endlich die Gottlosen sahen, daß sein Leib vom Feuer nicht könne verzehrt werden, befahlen sie dem Konfektor, hinzuzutreten und ihm den Dolch in die Brust zu stoßen. Als das geschah, kam eine solche Menge Blut hervor, daß das Feuer erlosch und das ganze Volk erstaunt war über den großen Unterschied der Ungläubigen und der Auserwählten.8
Durch den Körper des Märtyrers hindurch wirkt die Wahrheit der christlichen Botschaft. Der Körper ist Teil einer wunderbaren Metamorphose. In der Verbrennung zeigt sich die Unvergänglichkeit des wahren christlichen Körpers. Der Heilige Polykarp wird nicht durch die Flamme verzehrt, sondern verwandelt. Er wird nicht gebraten, d.h. zerstört, sondern gebacken, d.h. veredelt, wie Brot. Sein Wohlgeruch ist ein Zeichen seiner Verklärung. Das Blut, das das Feuer löscht, verbreitet die Botschaft eines siegreichen Christentums. Unschwer zu dechiffrieren verweisen Brot und Blut auf die Eucharistie.9 7 Vgl. Barbara Feichtinger 1990: „Mens desideriis aestuabat in frigido corpore …“. Zur Ambivalenz asketischer Körperkonzepte der Spätantike. In: Julika Funk und Cornelia Brück (Hg.): Körper-Konzepte. Tübingen: Narr, 111–125. 8 BdK 14, 304. 9 Zu der Textüberlieferung und der literaturwissenschaftlichen Verortung beider Darstellungen: Katharina Waldner 2004: „Was wir also gehört und berührt haben, verkünden wir euch…“. Zur narrativen Technik der Körperdarstellung im Martyrium Polycarpi und der Passio Sanctuarum Pepertuae. In: Barbara Feichtinger und Helmut Seng (Hg.): Die Christen und der Körper. Aspekte der Körperlichkeit in der christlichen Literatur der Spätantike. München/Leipzig: Saur, 29–74. Im Anhang dieser Arbeit von Katharina Waldner befindet sich ein Verzeichnis mit weiterführender Literatur.
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Auch die Märtyrer leben eine sinnliche Religion, deren Bestand über die Körperlichkeit nicht hinausgeht, aber voller symbolischer Bezüge ist. Ihr Leben richtet sich nicht gegen den Körper, sondern auf den erneuerten Körper. Die Auferweckung von den Toten ist das neue Leben eines von seinen unmittelbaren Bedürfnissen, seinen Krankheiten und Verkrüppelungen befreiten Körpers.
II. Der doppelte Leib – Bernard Nieuwentijt Die innerreligiösen Narrative der frühen Christen beanspruchten keine rationale Rechtfertigung. Sie sind – noch – nicht dem Druck umfassender rationaler Welterklärungsprogramme unterworfen. Die ersten Christen begründen zwar ihre Auffassungen, aber es genügt ihnen eine Mischung aus offenbartem Wort, jedermann offenkundig zugänglichem Alltagswissen und wunderbaren Ereignissen. Das stellte sich am Beginn des 18. Jahrhunderts ganz anders dar. Der niederländische Arzt, Mathematiker und Philosoph Bernard Nieuwentijt, ganz Aufklärer und Naturwissenschaftler, sah die christliche Religion mit schweren Vorwürfen konfrontiert.10 Insbesondere die Reste einer körperlichen Auffassung des Auferstehungsgeschehens schienen ihm erklärungsbedürftig. Deshalb erörtert der Arzt und Philosoph Nieuwentijt das Problem des ‚verklärten Leibes‘ und verteidigt die christliche Auffassung von der Auferstehung des Leibes gegen rationalistische Einwände. Das Menschenfresser-Problem11 steht dabei an erster Stelle: „Wenn ein Menschenfresser seine ganze Lebenszeit nichts anderes als Menschenfleisch genossen hätte; so wäre es unmöglich, daß so wohl er, als auch diejenigen, die er gefressen hat, ieder mit seinem eigenen Leibe aufstehen solte.“12 Mit einem Wort: Nieuwentijt sieht sich dem Argument gegenüber, dass der Metabolismus der gesamten belebten Natur eine leibliche Auferstehung unmöglich macht, weil die Verwandlung der Stoffe ein unaufhörlicher Prozess ist, in dem nichts identisch bleibt. Nieuwentijt schlägt stattdessen eine Zwei-Leiber-Theorie vor: Einen sichtbaren Leib, der jeweils bei jedem Menschen anders ist und permanenten Veränderungen – etwa durch den Stoffwechsel – unterworfen ist, und einen eigenen Leib, womit Nieuwentijt die Identität des sichtbaren Leibes bezeichnet. Für ihn ist es offensichtlich, „daß in diesem sichtbaren Leibe etwas seyn müsse, welches bei allen diesen Veränderungen, einerlei bleibet, und der also mit 10 Die Literatur zu Nieuwentijt ist äußerst dünn und beschränkt sich in der Regel auf seine Position als Physikotheologe und als Kritiker des Leibniz‘schen Differentialkalküls. – Die einzige breit angelegte Studie stammt von Rienk Vermiej, einem niederländischen Wissenschaftshistoriker: Rienk Vermiej 1991: Secularisering en natuurwetenschap in de zeventiende en achttiende eeuw: Bernard Nieuwentijt. Amsterdam, Rodopi. 11 Vgl. Athenagoras von Athen: Bittschrift für die Christen. In: Frühchristliche Apologeten und Märtyrerakten Band I. (Bibliothek der Kirchenväter, 1. Reihe, Band 12). 1913. München: Kösel, Kap. 8. 12 Bernard Nieuwentyt 1747: Rechter Gebrauch Der Welt=Betrachtung Zur Erkentnis Der Macht, Weisheit und Güte Gottes, Auch Ueberzeugung Der Atheisten und Ungläubigen. Jena: Christian Heinrich Cuno, 578.
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Recht der eigene Leib dieses Menschen genennet werden kan.“13 Das Verhältnis der beiden Leiber ist kompliziert. Nieuwentijt konstatiert, „daß der eigene Leib eines Menschen, welcher mit zu der Person desselben gehöret, nicht dessen ganzer sichtbarer Leib sey, und daß dennoch dieser eigene Leib vor sich nicht könne gezeiget werden, sondern mit in dem sichtbaren Leibe begriffen sey.“14 Das Problem besteht darin, dass Nieuwentijt den ‚eigenen Leib‘ nicht vorzeigen kann. Er ist an sich nicht sichtbar, sondern in der Sichtbarkeit des sichtbaren Leibes ‚einbegriffen‘. Das Bleibende, Eigene, Persönliche des Leibes ist seine Grundbildung. Man könnte hier – anachronistisch – an einen Unterschied von Genotyp und Phänotyp denken. Die Grundbildung wird im Wachstum über Jahre entwickelt und mit Stoff „ausgefüllet, oder überzogen“, muss also ein gewisses Substrat sein.15 Die Identität des eigenen Leibes im Metabolismus ist zugleich die Identität der Person über die Zeit. Für Nieuwentijt ist es die Grundbildung, die leibliche Urkonstruktion der Person, welche für die leibliche Auferstehung bürgt. Dazu ist es notwendig, dass sich der ‚eigene Leib‘, die unsichtbare Konstruktion, gleichgültig gegenüber dem jeweiligen Stoff verhält, der im Stoffwechsel in ihn eingeht. Der eigene Leib kann auch mit anderen Stoffen, die gar nicht zu ihm gehören, „angefüllet und überkleidet“ werden und „also zu einem sichtbaren Leibe gemacht“ werden.16 „So ist es auch mit den Menschenfressern. Wenn Gott nur verhindert, daß die Grundbildung des gefressenen dem Fresser nicht zu wirklichen Nahrung gedeie; so kan einerlei Stof niemals den Cörper zweier Menschen ausmachen, und der eigene Leib des gefressenen kan eben so wohl auferwecket werden, als der Leib desienigen, der auf eine andere Art gestorben ist.“17 Das Menschenfresser-Problem entsteht für Nieuwentijt aus einer Verwechselung des eigenen Leibes mit dem sichtbaren. Es wird nämlich „fälschlich angenommen, daß ein Menschenfresser durch den eigenen Leib eines andern Menschen genehret werden könne.“18 Der eigene Leib taugt aber nicht als Nahrung. Nieuwentijt denkt, dass es vor allem die Feuchtigkeit ist, die den sichtbaren Leib zur Speise tauglich macht, wie man schon an Tieren sieht: „Die sogenannten Kraftbrühen geben uns die beste Stärkung, und die festen Teile der Tiere gehen keinesweges in das Geblüt über.“19 Menschenfresser ernähren sich aber nicht von den Knochen und Sehnen, die keine Feuchtigkeit enthalten. Summa summarum steht für Nieuwentijt fest, „daß ein Mensch hundert andere fressen könne, ohne daß dadurch de[n] eigenen Leibern der gefressenen etwas entzogen worden wäre.“20 13 Ebd., 580. 14 Ebd. 15 Vgl. ebd. 16 Vgl. ebd. 17 Ebd., 583. 18 Ebd., 585. 19 Ebd. 20 Ebd.
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Ich habe diese Zwei-Leiber-Lehre Nieuwentijts relativ ausführlich dargestellt, weil sie einen wichtigen Aspekt hervorhebt, der über die urchristlichen Erzählungen hinausgeht. Es ist die Idee eines Stoffwechsels, der bis zum Stoffaustausch geht. Denn am letzten Tag wird der sichtbare Leib wiederhergestellt werden, und zwar nicht mit den altbekannten Materien. Der ‚eigene Leib‘ wird mit „anderen herrlichen Dingen, die nicht irdisch, sondern himmlisch sind“ überkleidet.21 Es gibt nicht nur eine psychische, sondern auch eine physische Identität des Menschen, die von einem völligen Austausch der Materie unberührt bleibt. Es geht also nicht, wie man denken könnte, um ein Verhältnis von Materie und Geist, sondern um einen Austausch von Materien.
III. Singularität – Vernor Vinge und Ray Kurzweil Unter einer Singularität versteht man in Physik und Astronomie einen Bereich in Raum und Zeit, an dem die uns bekannten Naturgesetze nicht gelten. Dazu gehören, nach heutiger Überzeugung, Schwarze Löcher und der Urknall – die Anfangssingularität. In einer gewissen Analogie zu diesen methodologisch eingebundenen Singularitäten beschreiben einige Autoren in den letzten Jahrzehnten auch die Entwicklung der Technologie als das Entstehen einer Singularität. Sie weisen auf den rasanten Fortschritt der Technik hin und sind der Überzeugung, dass die technische Entwicklung zu einer völligen Umgestaltung des Menschlichen führen wird – an erster Stelle die Entwicklung einer Superintelligenz. Diese Idee ist von der Überzeugung getragen, dass Maschinen, in diesem Falle Computer, durch den Zuwachs an Rechenleistung und Rechengeschwindigkeit die Intelligenz des Menschen bereits in naher Zukunft um ein Vielfaches überschreiten werden. Die Singularität tritt ein, wenn die Superintelligenz dazu übergeht, sich selbst zu verbessern, wodurch der Fortschritt an Geschwindigkeit zunehmen würde. Im Jahre 1993 veröffentlichte Vernor Vinge einen vielbeachteten Aufsatz mit dem Titel „Technological Singularity“.22 Vinge gibt dort seiner Erwartung Ausdruck: „Within thirty years, we will have the technological means to create superhuman intelligence. Shortly after, the human era will be ended.“23 Die Zukunftsvision, die Vinge entwirft, ist beunruhigend. Die Superintelligenz könnte die Menschheit einfach ausrotten. Das sei aber beileibe nicht das Schlimmste. So wie wir Tiere behandeln, d.h. benutzen und missbrauchen, so könnte auch die Superintelligenz mit den Menschen verfahren. Die geistig zurückgebliebene Menschheit würde zum Spielball eines rein rationalen Diktators. Es blieben dann ein paar Nischen, in denen Menschen vielleicht überleben könnten, lebenswert wäre dieses Leben aber nicht. Vinge ist Mathematiker und Informatiker. 21 Vgl. ebd., 589. 22 Vernor Vinge 1993: The Coming Technological Singularity. How to Survive in the Post-Human Era. In: Vision 21: Interdisciplinary Science and Engineering in the Era of Cyberspace. (Hg.) NASA Office of Management. Cleveland (OH): NASA, 11–22. 23 Ebd., 11.
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Seine Ausführungen sind vor allem in den USA auf großes Echo gestoßen. Vinge ist aber auch Science-Fiction-Autor. Darum bereichert er das Szenario noch um eine weitere mögliche Zukunft, in der es nicht zu einem derart furchtbaren Strafgericht der Superintelligenz käme. Er nennt es IA: Intelligence Amplification. Und im Mittelpunkt steht der Mensch. Durch allerlei Schnittstellen wird der Mensch digital bereichert und mit der Singularität verkoppelt. Hier kommt der Mensch auch an ein Ende. Er wird hybridisiert. Er wird zum Superhuman dank seiner Prothesen und Implantate. In letzter Konsequenz führe dieser Prozess jedoch – möglicherweise – zur Strong Superhumanity: What happens when pieces of ego can be copied and merged, when the size of a selfawareness can grow or shrink to fit the nature of the problems under consideration? These are essential features of strong superhumanity and the Singularity. Thinking about them, one begins to feel how essentially strange and different the Post-Human era will be.24
Mit diesem Programm würde der Mensch unsterblich. Er migriert in seine Maschinen und verschweißt sich und sein Ich mit der Superintelligenz. Radikaler und radikal optimistischer denkt Ray Kurzweil.25 Der Erfinder, Firmengründer und Buchautor verspricht in seinen Veröffentlichungen eine technisierte Zukunft. Zu diesem Zweck hat er in Kalifornien 2008 eine von Google gesponserte Singularity University gegründet. Der Name ist Programm. Die Gentechnik werde zur Reparatur unserer defekten Körper beitragen. Die Verschmelzung des Menschen mit der Technik werde uns vor Krankheiten und Verschleiß bewahren. Nanobots, winzig kleine Roboter, würden sich durch unsere Körper bewegen und ihn reparieren. Im Hintergrund liegt die Vorstellung, dass die technische Evolution mit exponentieller Geschwindigkeit voranschreitet. Und die Singularität sorgt dafür, dass der Fortschritt zum Selbstläufer wird. Ziel dieser Entwicklung ist die Unsterblichkeit. Sie wird eintreten, wenn es gelingt, Supercomputer zu bauen, die funktional dem menschlichen Gehirn gleichen. Dann kann das Bewusstsein migrieren und von Computer zu Computer wandern. Kurzweil weiß, wann es so weit sein wird. Bereits im Jahr 2024 können Menschen vermittelst neuer Biotechnologien ihre Gene reparieren und sogar verbessern. 2045 wird es dann zur Unsterblichkeit kommen. Es kann hier kaum darum gehen, darüber zu spekulieren, welche Wege die technische Innovation nimmt. Beängstigend ist die grassierende Kontrolle von Kommunikation und Ökonomie, die durch das Sammeln und Auswerten von Informationen erreicht wird. Google resp. Alphabet mögen von der Singularität träumen, in der Wirklichkeit steht Kontrolle auf dem Fahrplan. 24 Ebd., 20. 25 Ray Kurzweil 2000: Homo s@piens. Leben im 21. Jahrhundert. Was bleibt vom Menschen? München: Ullstein; ders. 2014: Menschheit 2.0. Die Singularität naht. Berlin: Lola Books.
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Der Transhumanismus ist nicht nur von einem strengen Materialismus geprägt, sondern in der Regel auch mit einem Atheismus oder Agnostizismus verbunden. Der Transhumanismus lehnt Religion ab, weil er ein rationales, aufgeklärtes Verhältnis zur Technik etablieren möchte. Vielfach ist indes festgestellt worden, dass die Zukunftssehnsüchte der Trans- und Posthumanisten etwas unstrittig Religiöses an sich haben.26 Es ist vor allem die Idee einer Metamorphose des Körpers, die – wie oben dargestellt – an eine lange Tradition erinnert. Die Posthumanisten wünschen sich einen verklärten Leib. Der Körper, der Geist, das Bewusstsein sind materiell und körperlich. Die technischen Veränderungen sind körperlich. Sie verwandeln den kranken Leib in einen heilen Leib. Das alles sind Vorstellungen, die ein Urchrist hätte haben können. Der Mensch muss nun nicht einmal sterben, um unsterblich zu werden. Oder vielleicht doch – wenn der Mensch nämlich aus seinem sterblichen Leib auszieht, um in eine Rechenmaschine einzuziehen. Der Geist erhält dann einen neuen Leib, einen Maschinen-Leib, der seine Intelligenz ist. Der ‚verklärte Leib‘ gehört in eine Vorstellungswelt, die den Körper als ein Medium auffasst. Die Metamorphose besteht in einem Medienwechsel oder in einer Reinigung des Mediums. In der antiken Form geht es um die Erlösung von einem bedürftigen und vergänglichen Körper. Der ‚verklärte Leib‘ ist ein vergöttlichter Leib; er ist der Teilhabe am göttlichen ‚Kommunikationsprozess‘ fähig. Der ‚verklärte Leib‘ des Menschen beim Aufklärer Nieuwentijt wird vor Gott gerufen und muss Rechenschaft ablegen. In der Zukunftsvision eines Ray Kurzweil dagegen geht es um Optimierungsstrategien, die gelingen oder scheitern können. Dann löst sich das Parahumane in das Transhumane auf. Der Mensch entleibt sich und führt ein körperloses Dasein als reine Intelligenz.
26 Vgl.: Rosi Braidotti 2014: Posthumanismus. Leben jenseits des Menschen. Frankfurt a.M.: Campus; Stefan Herbrechter 2009: Posthumanismus. Eine kritische Einführung. Darmstadt: WGB; Oliver Krüger 2004: Virtualität und Unsterblichkeit. Die Visionen des Posthumanismus. Freiburg i.Br.; bei Letzterem findet sich auch eine historisch informierte Herleitung zur Unterscheidung bzw. Konvergenz von Post- und Transhumanismus.
Kenny Fries
Die Geschichte meiner Schuhe und die Evolution von Darwins Theorie
Der Bienenkorb Was macht ein 1,52 Meter großer Mann, dem beide Wadenbeine fehlen, auf dem Gipfel dieses Berges? Schon während meines ersten Besuchs des Acadia National Parks auf Mount Desert Island vor der Küste von Maine nahm mich der Anblick der kleinen Inseln in der Bucht gefangen, die im frühen Morgennebel dahinzusegeln scheinen, über ein Meer, das wirkt wie der offene Himmel. Seit ich diese Inseln in der Frenchman’s Bay zum ersten Mal gesehen habe, sage ich mir im Stillen die Anfangszeilen von Elizabeth Bishops Gedicht „North Haven“ auf – Die Inseln haben sich seit letztem Sommer nicht verschoben, auch wenn ich gern so tue als ob. Immer und immer wieder. Mein Lebenspartner Ian trägt den Rucksack mit den zwei Flaschen Wasser, unseren Broten, dem Fotoapparat und dem Reiseführer. Die ersten 300 Meter auf dem flachen, aber holprigen Pfad treibt mich meine frühmorgendliche Aufregung genauso voran wie die Tatsache, dass ich es mit meinem Stock mittlerweile sehr geschickt auch über größere Felsbrocken schaffe. Nachdem wir ein paar Minuten gewandert sind, kommen wir an ein Schild: Beehive . „Hier müssen wir nach rechts“, rufe ich Ian zu, der ein paar Schritte vor mir läuft. „Auf geht’s“, sagt er, als ich ihn bei dem Schild einhole. Er lässt mich vorausgehen. Nie schätze ich Ian mehr als auf unseren gemeinsamen Wanderungen. Seine Geduld und sanfte Überredungskraft haben mir geholfen, an Orte in Alaska, den kanadischen Rocky Mountains und auf Bali zu gelangen, die ich ohne ihn wohl nicht erreicht hätte. Vier Kehren weiter taucht vor mir eine kleine eiserne Leiter auf. Ich zähle fünf Sprossen. „Das wird bestimmt lustig“, sage ich und schaue nach oben, um meine Route zu planen. „Wie willst du es anpacken?“, fragt Ian. „Geh du zuerst“, bitte ich ihn, denn ich möchte nicht dadurch unter Druck geraten, dass jemand hinter mir die Leiter hochsteigt. „Und dein Stock?“ „Wenn ich auf der ersten oder zweiten Sprosse bin, kann ich ihn dir hochreichen, glaube ich.“
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Die Höhe bereitet mir beim Klettern keine Probleme. Für mich besteht die Schwierigkeit darin, meinen rechten Fuß, der an der Stelle, wo mein Knöchel wäre, wenn ich einen hätte, in einem 90-Grad-Winkel vom Unterschenkel absteht und in einem klobigen Schuh mit einer fast acht Zentimeter dicken Sohle steckt, sicher in der Leitersprosse zu verankern. Außerdem muss ich herausfinden, wie ich mein Gewicht am besten verteile, da sich mein Körper seit der letzten Bergwanderung verändert hat, und ich, bevor ich es nicht ausprobiert habe, nicht sicher bin, wieviel jedes meiner Beine tragen kann. Aus Erfahrung weiß ich, dass ich langsam vorgehen muss, immer nur eine Sprosse auf einmal, und auf jeder Sprosse bleibe ich stehen, um meine nächsten Griffe und Tritte zu planen. Wie ich vermutet habe, kann ich von der ersten Sprosse aus meinen Stock, der beim Hoch- und Runtersteigen von Leitern nicht sonderlich hilfreich ist, an Ian weitergeben, der sich, nachdem er das Ende der Leiter erreicht hat, über den Rand des Wanderwegs beugt, um ihn mir abzunehmen. Auch wenn die Leiter nicht lang ist, so ist sie doch sehr schmal, was es mir schwer macht, beide Füße nebeneinander auf eine Sprosse zu setzen. Zugleich aber sind die einzelnen Sprossen zu weit voneinander entfernt, als dass ich einen Fuß auf eine niedrigere und den zweiten auf die nächsthöhere setzen könnte. Während ich langsam von Sprosse zu Sprosse klettere, suche ich an der Felswand vor mir nach einem Vorsprung, an dem ich mich festhalten könnte. Zum Glück ist der harte, graue Granit auf Mount Desert Island so massiv, dass ich mein Körpergewicht beim Hochklettern immer wieder mit Armbewegungen ausbalancieren kann, bis es mir gelingt, einen Fuß in der nächsten Sprosse zu verankern. Oben angekommen, sehe ich eine zweite Leiter, die etwas länger ist als die, die ich gerade erklommen habe, ihr ansonsten aber gleicht. Diesmal befestigt Ian meinen Stock in einer seiner Gürtelschlaufen, und ich klettere die Leiter auf die gleiche Weise hoch wie die erste. Am oberen Rand der zweiten Leiter wische ich mir den Staub von den Händen. Bereit, es mit der nächsten Herausforderung aufzunehmen, blicke ich hoch. Ian starrt mich an. „Stimmt was nicht?“, frage ich im Glauben, mich beim Hochsteigen der ersten Leiter dreckig gemacht zu haben. Ian richtet seinen Blick auf die nächste Leiter, die mehr Ähnlichkeit mit einer Felswand mit Handgriffen aus Metall hat, als mit einer Leiter. „Das sieht nicht allzu schwierig aus. Die Griffe kann ich für meine Füße hernehmen“, sage ich zu ihm in Erinnerung daran, wie ich es zu den Felsbehausungen geschafft habe, die ich fünf Jahre zuvor in Mesa Verde sehen wollte. „Und wie soll ich es anstellen?“, fragt Ian. „Oh“, sage ich, denn ich war viel zu beschäftigt mit der Frage gewesen, wie ich dieses nächste Hindernis unfallfrei meistern soll, um zu bemerken, dass Ian Probleme mit dem Steig haben könnte. „Deshalb heißt das Ding wohl auch Bienenkorb“, meine ich
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kleinlaut, während wir beide die gekrümmte Felswand betrachten, die wir erklimmen müssen. Ich beobachte, wie Ian nach oben klettert, Griff für Griff. Einmal schafft er es nicht, seine Füße mit Schuhgröße 47 sicher dort aufzusetzen, wo sie sein müssten, um seinen 1,86 Meter großen Körper im Gleichgewicht zu halten, und er rutscht kurz ab. Als er oben ist, werfe ich meinen Stock auf die nächste Felskante hoch und beginne selbst mit dem Aufstieg. Wie ich mir gedacht habe, finden meine Füße in den Griffen einen guten Halt, und ich habe beim Hochklettern dieser Leiter weniger Schwierigkeiten als bei den ersten beiden. Nachdem ich die Felskante erklommen habe, nehme ich meinen Stock wieder an mich und wandere einige Kehren weiter, bis ich Ian einhole, der auf einem großen Granitblock hockt. „Was ist los?“, frage ich und setze mich neben ihn. „Bei der letzten bin ich fast abgerutscht. Bis jetzt hatte ich noch nie Höhenangst“, sagt er und weist mit dem Kopf auf die nächste Leiter. Ich gehe hinüber zur Stelle, wo der nächste Aufstieg beginnt. Diesmal müssen wir nicht nur mit Hilfe von Handgriffen eine gekrümmte Felswand bewältigen. Diese vierte Leiter biegt auch noch genau dort, wo es steil wird, um eine Ecke. Von da, wo ich stehe, kann ich nicht sehen, was uns hinter der Kurve erwartet. Es gibt keine Möglichkeit, zu erfahren, wie der Rest dieser Leiter aussieht. „Wir können umdrehen“, biete ich Ian an und blicke mich nach den ersten drei Leitern um, die wir hochgestiegen sind. Es ist, als lägen sie schon tief unter uns. „Ich glaube nicht, dass ich den Rucksack mit hoch nehmen kann. Er zieht mich nach unten. Es fühlt sich an, als wollte er mich von der Felswand reißen.“ „Okay“, sage ich. „Wir können den Rucksack hinter dem Granitblock verstecken. Lass uns jetzt noch etwas Wasser trinken, und die Brote können wir dann beim Abstieg essen.“ Was sagt Ian immer, wenn ich bei einer Bergwanderung Schwierigkeiten bekomme und nicht sicher bin, ob ich weitergehen kann, was der übliche Fall ist? „Geh es langsam an. Immer nur eine Sprosse auf einmal. Schau nicht nach unten“, empfehle ich. Es klingt nicht sehr überzeugend. „Bist du sicher, dass du weitergehen willst?“ „Jetzt haben wir es schon bis hierher geschafft.“ Wir müssen beide lächeln. Uns fällt auf, dass ich das sonst immer sage, wenn ich versuche, mich dazu zu bewegen, eine Bergwanderung fortzusetzen, die sich als schwieriger entpuppt hat, als ich dachte. Ich bemühe mich, Ian bei seinem Versuch, um die Ecke zu klettern, nicht aus den Augen zu lassen. Einen Moment lang wirkt es, als hinge sein langer Körper viel zu weit von der Felswand weg, dann verschwindet er um die Kurve. „Alles in Ordnung?“, rufe ich. Ich bin unsicher, ob er mich hören kann. Keine Antwort. „Ian?“
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Ich sehe ein Bein an der Biegung auftauchen, an der Ian wenige Augenblicke zuvor verschwunden ist. Dem Bein folgt ein Mann, den ich nicht kenne. „Haben Sie da oben einen großen, blonden Kerl gesehen?“, frage ich. „Ja“, antwortet der Kletterer mir. „Es scheint ihm aber nicht besonders gut zu gehen.“ „Was ist hinter dieser Biegung?“, frage ich. „Eigentlich nur der nächste Felsvorsprung“, sagt er. „Können Sie mir einen Gefallen tun und mir meinen Stock reichen, wenn ich an der Biegung bin?“ „Na klar. Kein Problem.“ Als ich an der Biegung bin, reicht mir der Kletterer meinen Stock, und ich nicke kurz, um ihm zu danken. Ganz wie ich hoffte, ist der nächste Felsvorsprung nahe genug, dass ich meinen Stock darauf ablegen kann, bevor ich die Kante umrunde. Während ich gleichzeitig in die Höhe und um die Ecke klettere, bin ich ausnahmsweise einmal froh darüber, dass mein Schwerpunkt so weit oben liegt, denn bei der Verlagerung meines Gewichts vom linken auf den rechten Fuß würde eine einzige falsche Bewegung ausreichen, damit ich ins Schwanken käme und den steilen Abhang des Bienenkorbs hinab stürzte, der, wie ich weiß, mindestens 90 Meter tief ist. Mein rechter Fuß passt perfekt in die oberste Sprosse, und ich kann mein linkes Bein über die Felskante schwingen und mich selbst emporstemmen, so dass ich auf dem linken Knie lande. Ich nehme meinen Stock wieder auf und sehe Ian, der mit gesenktem Kopf an der Felswand lehnt. Aus seinem Gesicht ist alle Farbe gewichen. Er keucht heftig. „Du hast es geschafft“, sage ich ihm. „Jetzt müssen wir nur noch eine ganz normale Leiter hoch.“ Nachdem ich mich vergewissert habe, dass es ihm gut geht, klettere ich die letzte Leiter hoch. Ian folgt mir. Am Gipfel angekommen, sehen wir unter uns die Porcupine Islands in der Frenchman’s Bay schwimmen – ich zähle zehn Inseln, jede ist an ihrem höchsten Punkt grün bewaldet und dort, wo sie aufs Meer trifft, in grauen Granit eingefasst. „Sie treiben, traumverloren, ein wenig nach Norden, ein wenig nach Süden, auch seitwärts“, zitiere ich leicht abgewandelt die nächsten Zeilen aus Bishops Gedicht, „in den blauen Grenzen der Bucht sind sie frei.“ Je länger ich die Inseln betrachte, desto mehr wird der Himmel zum Meer, das Meer zum Himmel. Langsam, während die Inseln unter mir dahinsegeln, schließe ich die Augen und sehe Darwin vor mir, der kurz nach dem Erdbeben von Concepción im Jahre 1835 seine längste Anden-Expedition unternahm. Als Darwin den Bergrücken erreicht und einen Blick zurückwirft, gerät er angesichts der prachtvollen Szenerie ins Staunen. Der klare Himmel mit seinem intensiven Blau, die rauen, zerklüfteten Formationen der Kordilleren. Die leuchtenden Farben der Felsen im Kontrast zu den schneebedeckten Bergen. Keine Vegetation. Keine Vögel, außer ein paar Kondoren, die um die Gipfel kreisen.
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„Ich hätte nie gedacht, dass ich auf dieser Wanderung solche Probleme bekommen würde“, sagt Ian, während wir uns gegen den jetzt noch stärker gewordenen Wind lehnen. „Es tut mir leid, dass wir die Kamera nicht hier haben.“ „Ist schon gut“, beruhige ich ihn, so wie er mich immer beruhigt, wenn mich das Gefühl beschleicht, mein Verlangen, zu solchen Orten zu wandern, sei nichts weiter als absurdes Wunschdenken, etwas, das ich nicht tun kann und nicht tun sollte. „Beim Abstieg habe bestimmt ich mehr Schwierigkeiten als du.“ Doch heute stellt der Abstieg vom Bienenkorb kein Problem für mich dar. Auch beim Hinabklettern passt mein rechter Schuh perfekt in jede Leitersprosse und jeden Griff. Meinen Stock reiche ich entweder hinunter zu Ian oder werfe ihn auf den nächstniedrigeren Felsvorsprung. Wir sammeln unseren Rucksack wieder ein, essen die Brote und machen ein Bild von der Stelle, an der wir ein paar Stunden zuvor beschlossen haben, nicht umzudrehen. Als wir unten wieder an dem Wegweiser Beehive vorbeikommen, stolpere ich über einen großen Felsbrocken, der sich gelöst hat, als ich auf ihn getreten bin. Ich schaue hinunter und bemerke, dass der Fels eine kleine Schramme im Leder meines rechten Schuhs hinterlassen hat. Ich hocke mich neben den Pfad und ziehe meine Schuhe aus, um nachzusehen, ob das Leder eingerissen ist oder ob der Stein nur die Politur abgerieben hat. Wären meine Schuhe nicht genau so, wie sie sind, hätte ich den Bienenkorb heute vielleicht nicht überlebt. Die Beschaffenheit meiner Schuhe hat es mir ermöglicht, die in eine Felswand getriebenen Eisensprossen in Fußstützen zu verwandeln. Meine Schuhe haben es mir ermöglicht, den Gipfel dieses gerundeten Granitfelsens zu erreichen, den ich nun vom Boden aus betrachte. Ich schaue mir meine Füße an – die linke Ferse neigt sich seitwärts, der rechte Fuß steht beinahe im 90-Grad-Winkel vom Unterschenkel ab –, die so anders aussehen als noch vor zehn Jahren. Wann haben sie sich so verändert? Wie lange wird es noch dauern, bis ich auf den Kanten beider Füße gehen werde? Wie lange werden Schuhe mir das Gehen noch ermöglichen können? Wie viele Erdbeben waren nötig, um die Erdoberfläche zu verändern? Das Gestein der Anden, das ebenso massiv wirkt wie der Granit auf Mount Desert Island, der es mir erlaubte, den Bienenkorb zu erklimmen, floss einst dahin wie das blaue Wasser – oder ist es der Himmel? – in der Frenchman’s Bay.
Reziproker Altruismus Wir sind nun bereit, unsere Reise hinab ins Große Unbekannte anzutreten. Die Boote, alle am selben Pfahl vertäut, scheuern aneinander, wenn der unwirsche Fluss sie hin und her wirft, schrieb John Wesley Powell zu Beginn seiner ersten Reise den Colorado River hinunter. Ich sehe mich in dem bunt gemischten Haufen um, den wir bilden: Mark, Daniel und Hanna sitzen im Rollstuhl. Ben und ich brauchen Stöcke; Sally und ich haben orthopä-
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dische Schuhe. Sechs der elf Reiseteilnehmer sind behindert, von Querschnittslähmung bis zu Multipler Sklerose; unser Alter reicht von Mitte 20 bis Mitte 70. „Auch wenn es dick aufgetragen klingt“, sagt Bert, unser Reiseführer, bevor wir uns auf den Fluss begeben, „aber in den nächsten zwei Wochen werden wir wie eine Familie zusammenleben.“ Zu unserer Gruppe gehören sieben Begleitpersonen der Environmental Traveling Companions (ETC), die denen assistieren werden, die Hilfe brauchen. Außerdem sind sechs Bootsführer der gewerblichen Reiseveranstalter dabei: je ein Verantwortlicher für jedes der vier gelben Schlauchboote plus zwei Leute, die das größere, motorisierte Boot, auf dem sich unsere Ausrüstung, das Essen sowie die Rollstühle befinden, den Fluss hinab steuern werden. Tag 1. Wir gehen es langsam an, dringen Gesteinsschicht für Gesteinsschicht in den Canyon vor. An das Leben auf dem Fluss gewöhne ich mich schnell: an die Schwierigkeiten, sich auf dem sandigen Ufer fortzubewegen; daran, früh schlafen zu gehen und aufzuwachen; daran, im Freien auf die Toilette zu gehen. Ich lerne, wie ich mich am besten ins Boot setze, indem ich mich an ein Rückenpolster lehne, das nicht nur die Belastung für meinen Rücken mindert, sondern an dem ich mich, wenn es an die Griffe des Boots gezurrt ist, auch zusätzlich festhalten kann. Vor allem aber entwickle ich eine gewisse Routine bei meinen Vorbereitungen für die Bootsfahrten. Meine Schuhe und den Stock übergebe ich, fest in einen schwarzen Müllsack gewickelt, an Matt und Tim, die das ‚große Boot‘ steuern, wo sie meine Sachen in einer langen, rechteckigen Metallbox unterbringen. Wenn wir Halt machen, um zu Mittag zu essen, sehe ich den schwarzen Sack neben einem weißen Plastikstuhl auf mich warten. Wenn wir Halt machen, um unser Lager für die Nacht aufzuschlagen, und ich den schwarzen Sack wieder neben dem Stuhl auf mich warten sehe, lässt die Angst, meine Schuhe könnten verloren gehen, langsam nach. Tag 2, morgens. Im Marble Canyon durchqueren wir die Roaring Twenties, eine Reihe reißender Stromschnellen, und werden erstmals von der schäumenden Gischt getroffen. Das Wasser ist kälter als ich es mir vorgestellt hatte. Weil dieser Abschnitt des Canyons von Norden nach Süden verläuft, bekommen wir nicht viel Sonne ab. Beim Raft durch die Roaring Twenties bringt uns Bootsführer Bob bei, uns gegen eine Seite des Bootes zu legen, sobald er das Kommando dazu gibt. „Hohe Kante“, ruft er, und diejenigen von uns, die es können, lehnen sich gegen die vordere rechte Bootswand. Ich beobachte, wie Bobs kräftiger Oberkörper die Ruder durch das strudelnde Wasser zieht und uns sicher durch die ersten Stromschnellen bringt. Ich fasse Vertrauen zu ihm und möchte von nun an jeden Morgen seinem Boot zugeteilt werden. Im Lauf des Nachmittags gelingt es mir, mich zu entspannen und die geologischen Informationen, die mir die dunkelrot gefärbten Steilwände dieses Canyon-Abschnitts geben, in mein Bewusstsein aufzunehmen. Ich verliere mich in der schieren Unermesslichkeit einer Landschaft, in der einem das Gefühl für Maßstäbe und Entfernungen leicht abhanden kommt.
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Tag 3, am späten Vormittag. Wir erreichen Vasey’s Paradise, das Powell nach einem Botaniker benannte. Es ist eine Oase, deren Vegetation von einem schmalen Wasserfall hoch oben aus der flussabwärts rechten Canyonwand bewässert wird. Hier steigen alle aus den Booten. Unsere Begleiter Ray und Steve tragen Hanna, eine Frau mit Multipler Sklerose, die sich ohne Hilfe nicht bewegen kann, in den kleinen Fluss unter dem Wasserfall. Der aus einem Seitencanyon kommende Fluss ist kalt, aber nicht so kalt wie das Wasser im Colorado. Nach langem Zögern und zahlreichen Ermunterungen von meinen Reisegefährten beschließe ich, mich auf die rutschigen Felsen vorzuwagen. Dies wird mein erster Versuch sein, ein paar Schritte mit den Neoprenschuhen an Land zu machen. Ich betrachte die Felsen und versuche abzuschätzen, wie viel Hilfe ich wohl brauchen werde: Jemand muss mir beim Ausstieg aus dem Boot helfen; und an Land brauche ich links und rechts je einen Helfer, der mich abstützt. Ich bitte Ray und Steve darum, und mit ihrer Hilfe gehe ich an Land. Ich bin es nicht gewohnt, mich ohne meine schweren Lederschuhe mit den dicken Sohlen fortzubewegen. Der Neoprenanzug klebt mir am Körper. Es fällt mir schwer, mich aufs Gehen zu konzentrieren, denn ich bin umgeben von blühenden Bäumen – eine Überraschung in der Wüste – , deren Grün im Kontrast zu den roten Wänden des Canyons noch dunkler als gewöhnlich wirkt. Ich betrachte das Wasser, das die Felswände herab erst in den klaren Strom des Seitencanyons fließt, dann in den schlammigen Colorado. Nach meinen ersten paar Schritten außerhalb des Bootes brauche ich die Hilfe von Ray und Steve nicht mehr. Jetzt fühlt es sich an, als würde ich schwerelos auf dem Mond umherwandern. An diesem Abend sitze ich nach dem Essen mit Mary und unseren Bootsführern am Lagerfeuer. Ich danke Ray und Steve dafür, dass sie mir bei Vasey’s Paradise geholfen haben, aus dem Boot zu steigen. Ich frage Ray: „Warum machst du das eigentlich?“ „Ein Cousin von mir hat Infantile Zerebralparese. Außerdem bin ich gern auf dem Fluss.“ Der britische Biologe William D. Hamilton war der Erste, der Darwins These der Natürlichen Selektion mit einem erweiterten Familienbegriff verknüpfte. Da die Mitglieder einer Familie den größten gemeinsamen Genpool haben, liegt ihm zufolge altruistisches Verhalten gegenüber der Familie im eigenen Interesse des Individuums, das sein Erbgut weitergeben möchte. Altruistisches Verhalten kann sich so innerhalb der erweiterten Familie ausbreiten und wird durch Gentausch mit anderen Familien auch an diese weitergegeben. „Ich habe festgestellt, dass die meisten, die eine solche Reise begleiten, Erfahrungen mit Behinderten haben, einem Familienmitglied oder einem engen Freund“, erzählt Mary mir.
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Der Vishnu Schist Tag 6. Nachdem Bob das Boot durch die Hance Rapids gesteuert hat, was angesichts des großen Felsens, dem man bei der Durchquerung dieser Stromschnellen ausweichen muss, eine technische Meisterleistung darstellt, erreichen wir die Vishnu Basement Rocks, und es fühlt sich an, als wären wir im Herzen der Erde angekommen. Der Vishnu Schist, dieses in der inneren Granitschlucht freiliegende Schiefergestein, ist metamorphosierter Fels, der die älteste und tiefste Gesteinsschicht des Grand Canyon bildet. Dieses schwarze Gestein ist aus vulkanischer Asche, Sand und Schluff entstanden, die sich vor über 1,7 Milliarden Jahren am Grund eines präkambrischen Meeres ansammelten. Die Vishnu Basement Rocks gehören zu den ältesten freiliegenden Gesteinsschichten, die die Menschheit kennt. Die rosafarbenen und roten Adern aus Zoroaster Granit, die den dunklen Schiefer durchziehen, sorgen für eine gewisse Auflockerung. Die Wissenschaft geht davon aus, dass es seit mindestens 3,4 Milliarden Jahren Leben auf der Erde gibt. Doch bis vor etwa 2 Milliarden Jahren bestand dieses Leben nur aus anaeroben Einzellern. Erst kurz vor der Metamorphose des Vishnu Schist schufen lebende Organismen mit Hilfe von Chlorophyll eine neue Atmosphäre, die freien Sauer stoff enthielt. Dieser Wandel der Atmosphäre führte zu einer weiträumigen Auslöschung anaerober Lebensformen und ermöglichte die Evolution vielzelliger Organismen. Während wir an diesem Vormittag durch die Vishnu Basement Rocks treiben, muss ich wieder an Darwin denken, der nach dem schweren Erdbeben von Concepción und vor seiner Ankunft auf den Galapagosinseln die Verbindung herstellte zwischen Lyells Theorie, der zufolge geologische Erhebungen allmählich in vielen kleinen Schritten entstanden, und dem, was er selbst vor sich sah. Und wie Darwin auf seiner Expedition durch die Anden lässt mich nicht nur die Ehrfurcht angesichts dessen, was ich sehe, verstummen, sondern vor allem auch die Erkenntnis, dass ich hier – auf dem Colorado River durch den Grand Canyon treibend – durch die unermessliche Tiefe der Zeit zurück in die Vergangenheit versetzt werde, bis kurz vor jenen Augenblick, als alles, was wir heute als das Leben kennen, seinen Anfang nahm. Die Bootsführer ziehen die Ruder hoch. Wir alle schweigen. Das einzig vernehmbare Geräusch kommt von der Strömung des Flusses, ein Geräusch des Getragenwerdens, wohin auch immer der Fluss uns tragen will.
Ein Bodenschutzsystem und gelbe Boote John Wesley Powell ist der erste Mensch mit Behinderung, von dem man weiß, dass er den Colorado River hinunter und durch den Grand Canyon gefahren ist. Wir sechs in unserer Reisegruppe sind allerdings nicht die ersten Menschen mit Behinderung, die diese Fahrt seit Powell unternommen haben.
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Anfang der 1970er Jahre führte der National Park Service (NPS) ein Regelwerk ein, um den Zugang zum Colorado River einzuschränken. Gewerblichen Reiseanbietern wird seither eine bestimmte Anzahl von Tagen zugeteilt, an denen sie den Fluss befahren dürfen. Daraufhin wandte sich eine Gruppe physisch beeinträchtigter OutdoorBegeisterter aus Arizona mit einer Petition an den NPS. 1972 beantragten diese Aktivisten, behinderten Menschen eine gesonderte Anzahl von Nutzungstagen zuzuteilen, und gründeten eine Gruppe, die sie das Jumping Mouse Camp nannten, um Fahrten auf dem Fluss zu unternehmen. Tag 7. Ein weiterer heißer Tag. „Seht euch das hier mal an“, ruft John, der Inhaber von Outdoors Unlimited, jenem gewerblichen Anbieter, der unsere Gruppe den Fluss hinab führt. Ich nähere mich dem gräulich-grünen, dicken Stumpf einer blühenden, dicht am Boden wachsenden Pflanze. John berührt den Stempel im Zentrum der leuchtend rosa Blüte mit dem Zeigefinger. Als er den Finger sacht bewegt, beginnen die Blütenblätter sich langsam zu schließen. „Der Feigenkaktus hält meinen Finger für ein Insekt, das groß genug ist, ihn zu bestäuben. Deshalb versucht die Pflanze, ihn möglichst lang festzuhalten, um sicherzustellen, dass ich ihre Pollen an eine andere Pflanze weitergebe. Eine beeindruckende Anpassungsstrategie, um in der Wüste zu überleben.“ Beim Mittagessen unterhalte ich mich mit John, der sich der Reise angeschlossen hat, um mehr darüber zu erfahren, welche Art von Anpassungen Menschen mit Behinderung hier auf dem Fluss benötigen. „Abgesehen von einem guten Freund von mir haben noch nicht viele behinderte Menschen unsere Reisen mitgemacht“, erzählt er mir. „Auf einer solchen Reise möchte ich nicht der einzige Teilnehmer mit Behinderung sein“, sage ich. „Wenn ich länger für etwas brauche, hätte ich immer das Gefühl, die Gruppe aufzuhalten. Und ein bisschen traurig wäre ich auch, weil ich nicht bei allem, was die anderen tun, mitmachen kann.“ Über nach dem Baukastenprinzip variabel auf dem Sand verlegte Kunststoffelemente, auf denen Rollstuhlfahrer leichter den unebenen Untergrund passieren können, gehen wir zurück zu den Booten. „Ich war mal auf einer Hochzeit, so einem Gartenfest mit Zelt“, sagt John, „und da habe ich gesehen, dass sie diese Bodenschutzelemente benutzen, um die Unebenheiten im Zeltboden auszugleichen und um draußen auf dem Rasen Wege zu schaffen. Als mein Freund, der im Rollstuhl sitzt, mit uns eine Fahrt den Fluss runter machen wollte, dachte ich, diese Dinger sind doch perfekt, um ihm die Fortbewegung auf dem Sand zu erleichtern.“ Diese Kunststoffelemente wurden also nicht vom ETC entwickelt, wie ich angenommen hatte, sondern es gab sie bereits und John hat sie den Bedürfnissen des ETC angepasst. Tag 9. Es ist spät unter einem klaren, sternenübersäten Nachthimmel. Ich sitze am Fluss. Ohne Spiegel, nur mit Hilfe einer Taschenlampe und eines kleinen Eimers voll kaltem Wasser, rasiere ich mich das erste Mal, seit wir uns oberhalb des Marble Canyon auf den Weg gemacht haben.
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Während ich mich rasiere, denke ich darüber nach, dass die Regel auf dieser Reise lautet: Wenn nicht alle es machen können, macht es keiner. Bislang konnten wir trotz unserer Beeinträchtigungen durch den an unsere Bedürfnisse angepassten Einsatz solcher Dinge wie der Bodenschutzelemente und dank der Hilfe unserer Bootsführer beinahe alles machen, was eine Gruppe auf Raftingtour, an der keine Menschen mit Behinderung teilnehmen, auch gemacht hätte. Nahezu alles hier am Flussufer stellt eine Anpassung dar: nicht nur die Kunststoffelemente auf dem Sand, sondern auch die behelfsmäßige Küche, das Pumpensystem, mit dem wir unser Trinkwasser reinigen, die Toiletten im Freien, der kleine Eimer, den ich benutze, um mich unter freiem Himmel mit kaltem Wasser zu rasieren, selbst die Zelte, das Licht, das sich in Sallys Zelt hin und her bewegt, und natürlich auch die gelben Schlauchboote. All das sind Anpassungsmaßnahmen, die es so vielen Menschen wie möglich erlauben, den Colorado River so sicher und bequem wie möglich zu befahren. Hier also bin ich, sitze am Ufer des Colorado River im Grand Canyon und rasiere mich. Draußen vor den Zelten spiegeln die drei Rollstühle das Mondlicht wider. Daniel, Mark und Hanna in ihren Zelten schlafen wahrscheinlich schon. Sally macht sich immer noch in ihrem Zelt zu schaffen und kümmert sich um ihre Ausrüstung. Ich gehe hinüber zu meinem Zelt. Bevor ich mich schlafen lege, putze ich meine Schuhe.
Wie man den Fluss überquert Es gibt verschiedene Möglichkeiten, über den Fluss zu kommen. Tag 10, und wir haben den Havasu Canyon erreicht. Mein Ziel heute ist es, etwa 800 Meter den Canyon hochzukommen, um inmitten der rosafarbenen Felsen am klaren, türkisblauen Wasser des Havasu Creek zu sitzen. Die vier gelben Ruderboote werden gleich in der Mündung des Seitencanyons nebeneinander festgemacht. Um von unserem Boot aus ans Ufer zu gelangen, muss ich die drei anderen vertäuten Boote überqueren. Von jenem Boot aus, das dem Ufer am nächsten liegt, kann ich sehen, dass unsere Helfer Matt und Tim den schwarzen Sack mit meinen Schuhen und dem Stock in knapp hundert Meter Entfernung auf einem Felsvorsprung, meinem ersten Anlaufpunkt, abgelegt haben. Gut mitgedacht. Nachdem ich den Vorsprung erreicht habe, setze ich mich hin und tausche die Neoprenschuhe gegen meine orthopädischen Schuhe aus. Als ich mir den schroffen Weg durch die Felsen anschaue, bin ich froh, meine Schuhe gestern noch mal geputzt zu haben. Während ich gerade die Schuhe wechsele, kommt eine andere Gruppe Abenteurer vorbei. „Wir sind wirklich tief beeindruckt.“ Eine Frau mit Strähnchen im Haar bleibt stehen, um mir das zu sagen.
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„Das muss Sie nicht beeindrucken“, höre ich mich antworten. „Lesen Sie meine Bücher.“ Bootsführer Dan und seine Frau Kate, die sich unserer Reisegruppe vor zwei Tagen bei der Phantom Ranch angeschlossen hat, werden mich für den Fall, dass ich Hilfe brauche, beim Aufstieg durch den Canyon begleiten. Auf dem steinigen Pfad komme ich zunächst nur mit Hilfe meines Stocks zurecht. Doch je höher wir im Canyon steigen, desto größer und größer werden die Felsen, bis der Weg fast unpassierbar wird. Etwa 400 Meter weiter oben blockieren große Gesteinsbrocken den Pfad. Auf dieser Seite des Flusses führt der Weg nicht weiter. „Wenn du noch ein Stück nach oben willst, musst du über den Fluss“, sagt Dan zu mir. Wie soll ich übers Wasser kommen? Ich habe die Wahl: (1) Ich kann meine Neoprenschuhe wieder anziehen, die ich in den schwarzen Müllsack gewickelt und in meinen Rucksack gesteckt habe, und den Fluss allein überqueren; (2) ich kann die Neoprenschuhe wieder anziehen und bei der Überquerung um Hilfe bitten; (3) ich kann Dan bitten, mich über den Fluss zu tragen. In Die Abstammung des Menschen spricht Darwin darüber, dass im Verlauf der Entwicklung des menschlichen Verstandes jedes Individuum rasch lernt, dass es, wenn es anderen hilft, im Gegenzug selbst Hilfe erfahren wird. Aus diesem „niedrigen Beweggrund“ heraus kann sich dann die Gewohnheit bilden, anderen zu helfen. Diese Gewohnheit sich hilfsbereit zu verhalten wiederum verstärkt die Fähigkeit zu Mitgefühl, das in der Folge zum eigentlichen Antrieb für vermehrte Hilfsbereitschaft wird. Ich beschließe, Dan zu bitten, mich übers Wasser zu tragen. Auf der anderen Seite des Flusses setzt der Weg sich fort. Ein paar Schritte weiter oben entdecke ich einen Felsvorsprung, von dem aus ich den unteren Havasu Canyon überblicken kann. „Geht ihr einfach weiter“, sage ich zu Dan und Kate. „Holt mich auf eurem Weg nach unten wieder hier ab.“ Meinen Rucksack als Kopfkissen benutzend, lege ich mich auf den Felsen. Die Mittagssonne lässt die Grenzen zwischen Wasser, Felsen und Himmel verschwimmen. Türkis verschmilzt mit Rosa verschmilzt mit Blau. Wo habe ich so etwas schon einmal gesehen? Plötzlich sehe ich Ian auf dem Felsvorsprung des Bienenkorbs auf Mount Desert Island vor mir, und mir kommt der Gedanke, dass in der überwiegenden Zahl alltäglicher Situationen ich derjenige bin, der die meisten Schwierigkeiten hat. Doch als ich mit Ian auf den Bienenkorb kletterte, und auch auf dieser Reise, war ich derjenige, der die wenigsten Schwierigkeiten hat. Ich blicke den Canyon hoch und sehe Sally, die mit Hilfe ihrer Abrollschuhe vorwärtskommt. Sally war auf dieser Reise viel aktiver als ich. Sie hat nicht so häufig um Hilfe gebeten. Doch mir ist aufgefallen, dass Sally einen Großteil ihrer freien Zeit damit
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verbringt, sich um ihre Ausrüstung zu kümmern, sie schläft nachts nicht gut und ist immer müde. Obwohl ich Ian sehr vermisse – mit seiner ADHS wäre er hier regelrecht aufgeblüht, hätte nach Plätzen zum Zelten gesucht und unsere Ausrüstung sortiert – , bin ich doch auch froh, dass er nicht dabei ist. Wenn wir zusammen sind, vor allem auf gemeinsamen Reisen, muss in der Regel er die körperlichen Belastungen auf sich nehmen. Diese Reise hat mir die Gelegenheit gegeben, meine körperlichen Grenzen ebenso wie meine seelischen Kräfte auszuloten. Ich konnte die Erfahrung machen, mich selbst nicht mehr zu überfordern. Aber noch immer ist es mir nicht nur unangenehm, auf Hilfe angewiesen zu sein, sondern auch, um Hilfe zu bitten. Oft wird dieses Gefühl der Angst und Scham sogar noch schlimmer, nachdem mir geholfen wurde. Irgendwie fällt es mir leichter, wenn ich jemanden dafür bezahle, dass er etwas für mich tut. Auch wenn ich für diese Reise bezahlt habe, weiß ich doch, dass unsere Begleitpersonen ehrenamtlich arbeiten. Gern würde ich mich stärker auf ihre Hilfe sowie allein ihre reine Hilfsbereitschaft einlassen, als ich es tatsächlich tue. Darwins Reise zur Evolutionstheorie war selbst ein Akt der Reziprozität. Seine soziale Stellung, sein Vermögen, seine Familie und Freunde hatten an seinen gesammelten Erfolgen ebenso wie an der Publikation seiner Theorie einen großen Anteil. Er zog die Mitglieder seiner Familie für seine Versuche und Beobachtungen heran und erhielt Unterstützung von Freunden und Bekannten. Um zu den Kerngedanken in Über die Entstehung der Arten zu gelangen, war Darwin auf die Theorien anderer Wissenschaftler wie Malthus, Lyell und Wallace angewiesen. Liegt es womöglich an Wallaces geringerer gesellschaftlicher Stellung, dass man sich heute nicht mehr an ihn als Mitbegründer der Evolutionstheorie erinnert? Im Verlauf der zivilisatorischen Entwicklung des Menschen, so vermerkte Darwin, schlossen kleine Stämme sich zu größeren Gemeinschaften zusammen. Daraufhin begann der Einzelne, seine soziale Veranlagung auf alle Mitglieder seines Stammes und schließlich auf alle Mitglieder der gleichen Nation auszuweiten, obwohl er diese Menschen persönlich gar nicht mehr kannte. Daraus zog Darwin den Schluss, dass, wenn dieser Zustand erst einmal erreicht ist, nur noch künstlich gezogene Grenzen den Einzelnen daran hindern, sein Mitgefühl auf die Mitglieder sämtlicher Nationen und Völker auszuweiten. Ist es das, was Menschen mit Behinderung der Gesellschaft geben: ein Beispiel dafür, wie wichtig die wechselseitige Abhängigkeit, die Gemeinschaft ist? Helfen Menschen, die sich körperlich von den anderen unterscheiden, der Menschheit auf diese Weise zu überleben? In den nächsten zwei Wochen werden wir wie eine Familie zusammenleben. Auch wenn die Worte von Reiseführer Bert dick aufgetragen klangen, hat unsere Fahrt sie bestätigt. Diesen Ort hier haben wir nicht nur jeder für sich erreicht, sondern auch als Gemeinschaft von fünfundzwanzig Menschen, die zusammen flussabwärts gefahren sind.
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Als ich den Canyon wieder hochblicke, sehe ich Dan und Kate. Bald wird es Zeit zurück auf die andere Seite des Flusses zu gelangen. Diesmal werde ich nicht zögern, wenn es darum geht, hinüberzukommen. Noch einmal trägt mich Dan, und es fühlt sich an, als wäre ich wieder jener vier Wochen alte Säugling, der aus dem Inkubator gehoben wird. Hilfe zu brauchen und anzunehmen, führt mich in ein Großes Unbekanntes, eine Reise, die so gewaltig ist wie die Geschichte dieser Gesteinsschichten und des Flusses, der dazu beiträgt, all das zu formen, was mich hier umgibt. Aus dem Englischen übersetzt von Stefanie Kremer. Der Text setzt sich zusammen aus den Kapiteln: The Beehive, Reciprocal Altruism, The Schist, A Portafloor and Yellow Boats, Crossing the River aus dem Buch The History of My Shoes and the Evolution of Darwin’s Theory, New York 2007.
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Weil es geht. Hacking the Body
I. Hacker und ihre Ethik „Hacker“ ist eine Bezeichnung für Menschen, die in Computersysteme eindringen und sich einer Szene, der Hacker-Community, zugehörig fühlen. Im weitesten Sinne meint der Begriff die Tüftler um des Tüftelns willen. Ziel dieser Tüftelei ist dabei meist nicht die konkrete, zielgerichtete Umsetzung eines Projektes, sondern das Verstehen und Zweckentfremden eines Systems auf kreative Art und Weise. „Ein Hacker ist jemand, der versucht einen Weg zu finden, wie man mit einer Kaffeemaschine Toast zubereiten kann.“1 Der Hacker ist dabei eine Figur, die kulturell aufgeladen ist: In der Berichterstattung wird er oft als sinistrer Verbrecher mit Sturmhaube vor einem Computer dargestellt und in Filmen fast schon zum Superhelden im Umgang mit Computern stilisiert, der mit seiner Fähigkeit die Welt rettet oder bedroht. Die Realität ist weniger spektakulär: Erste Hacker-Gruppen sind Ende der 1950er Jahre aus dem Modelleisenbahnclub am Massachusetts Institute of Technology (MIT) entstanden. Weitere Ursprünge der HackerSubkultur liegen in Gruppen von Funkamateuren und Computerclubs. Sie kommen überwiegend aus dem Kalifornien der 1960er Jahre, und es gibt Überschneidungen mit der Hippie-Bewegung. Seitdem haben sich viele Gruppen oder Szenen gebildet, die der Hacker-Subkultur zugerechnet werden können: Menschen die in Computersysteme eindringen, Funkamateure, Phreaker und Blueboxer, die das Telefonsystem der USA hackten, Hardware-Hacker, die sich mit dem Bau und der Manipulation von ComputerHardware beschäftigten, Menschen die aus ideellen Gründen an der Entwicklung quell offener Software (Open Source) mitwirken, mit dem Aufkommen von Modems die Mitglieder der Mailbox-Szene, die Homecomputer-Szene und dort speziell CrackerGruppen, die den Kopierschutz von Computerspielen knackten. Heute sind Hacker eine Mainstream-Subkultur: Allein der vor etwas mehr als 30 Jahren gegründete Chaos Computer Club (CCC) in Deutschland hat 5.500 Mitglieder.2
1 Wau Holland, Hacker-Aktivist, nach Frank Kargl 2003: Hacker (Vortrag). CCC Ulm. http://ulm.ccc. de/old/chaos-seminar/hacker/hacker.pdf. 2 Vgl. https://www.ccc.de/de/club. [30.03.2016].
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Heute ist Hacken ein Lifestyle, der auch auf andere Lebensbereiche übertragen werden kann und Phänomene wie das Kollektiv Anonymous oder politische Organisationen wie die Piratenparteien hervorgebracht hat. Hacken kann dabei als Geisteshaltung betrachtet werden, der es darum geht, Probleme aller Art pragmatisch und unter der Umgehung von Regeln anzugehen. So ist eine Ausformung das so genannte Life Hacking, das versucht, für Probleme des Alltags eine gewitzte Lösung zu finden. Life Hacking unterscheidet sich allerdings häufig nicht mehr von Ratschlägen und überlieferten Haushaltstipps. Unterschieden wird ansonsten noch zwischen White Hat und Black Hat Hackern. – Letztere nutzen ihre technischen Fähigkeiten für kriminelle Aktivitäten, während Erstere einer Hacker-Ethik folgen. Die neueste Entwicklung ist das Entstehen zweier weiterer Gruppierungen: Biohacker arbeiten mit biologischen Systemen und lebenden Organismen und Body Hacker versuchen, den menschlichen Körper und seine Funktionen auf vielfältige Weise zu hacken. Verbindendes Element der Hacker-Community ist die so genannte Hacker-Ethik3, die folgendes postuliert: • Der Zugang zu Computern und allem, was einem zeigen kann, wie diese Welt funktioniert, sollte unbegrenzt und vollständig sein. • Alle Informationen müssen frei sein. • Misstraue Autoritäten – fördere Dezentralisierung. • Beurteile einen Hacker nach dem, was er tut, und nicht nach üblichen Kriterien wie Aussehen, Alter, Herkunft, Spezies, Geschlecht oder gesellschaftliche Stellung. • Man kann mit einem Computer Kunst und Schönheit schaffen. • Computer können dein Leben zum Besseren verändern. • Mülle nicht in den Daten anderer Leute. • Öffentliche Daten nützen, private Daten schützen.4
II. Das Cochlea-Implantat Seit dem Jahr 2011 trage ich zwei Cochlea-Implantate. Hierbei handelt es sich um ein künstliches, elektronisches Gehör, das über ein Implantat den Hörnerv direkt stimuliert und auf diese Weise Hören und Verstehen ermöglicht. Zuvor war ich über 20 Jahre lang schwerhörig an der Grenze zur Gehörlosigkeit. Die Implantate ermöglichen mir ein Sprachverständnis von 100 Prozent – unter Laborbedingungen mit dem Freiburger Einsilben-Test5 gemessen. Das System besteht aus zwei Teilen: Dem eigentlichen Implantat, das vollständig im Schädel eingebettet ist und einen Induktionsempfänger enthält, der hinter dem Ohr platziert ist, sowie einem Sprachprozessor, der wie ein Hörgerät 3 Vgl. http://lifehacker.com/ [30.03.2016]. 4 Vgl. https://www.ccc.de/de/hackerethik. [30.03.2016]. 5 Jürgen Wendler, Wolfram Seidner, Ulrich Eysholdt (Hg.) 2014: Lehrbuch der Phoniatrie und Pädaudiologie. Thieme, 28.
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hinter dem Ohr getragen wird und drahtlos ein Signal an den genannten Empfänger überträgt. Jedes Implantat muss individuell für seinen Nutzer/seine Nutzerin angepasst werden. Dies geschieht mit einer Windows-Software und einem USB-Adapter. Der Patient/die Patientin muss sich zunächst an das neue Hören gewöhnen, ein Vorgang, der oft mit längeren Rehabilitationsmaßnahmen einhergeht. In dieser Zeit wird die Programmierung des Hörsystems mehrfach überarbeitet. Eine Anpassung der Programmierung ist nur in der Klinik möglich, da Software und Adapter nur an zertifizierte Stellen ausgegeben werden. Solange der Patient/die Patientin sich noch an das Implantat und die neuen Höreindrücke gewöhnen muss, ist das auch sinnvoll, allerdings fehlt ihm/ihr jede Möglichkeit, später die Programmierung ohne Hilfe des Audiologen in der Klinik zu ändern und beispielsweise in verschiedenen Alltagssituationen eine Feinanpassung selbst vorzunehmen. Aus Sicht eines Hackers ist diese Situation unbefriedigend, also für Patienten mit Fachwissen aus der Informatik, die bereit und in der Lage sind, sich weitergehendes Wissen über die Anpassung von Cochlea-Implantaten anzueignen. In meinem Körper befindet sich ein Computer, den ich nicht ohne weiteres selber programmieren kann, weshalb bei mir der Wunsch entsteht, ihn zu hacken. Wie erläutert, wäre ein solcher Hack nicht zielgerichtet, sondern entspringt dem Wunsch, das System zu verstehen, es zu manipulieren und ihm Fähigkeiten zu entlocken, die ursprünglich nicht vorgesehen sind. Denkbare Hacks sind beispielsweise: Audioaufzeichnungen des Gehörten, Fernsteuerung des Implantates per Smartphone (statt mit der beiliegenden Fernbedienung), die Wahrnehmung von Ultraschall, das Implantat mit anderen Geräten als dem Sprachprozessor mit Impulsen zu versorgen (etwa einem Wecker), das Verbinden des Implantats mit anderen Geräten wie Smartphones (etwa um auf diesem Wege akustische Meldungen über eingehende Nachrichten zu erhalten), bis hin zu akustischer augmented reality, also dem Einblenden von Audioinformationen passend zur jeweiligen Situation und Umgebung.
III. Cyborgs Der Begriff des Cyborgs wurde 1960 im Kontext der Raumfahrt geprägt.6 Er beschreibt einen kybernetischen Organismus: einen Menschen, der mit technischen Mitteln für das Überleben im Weltraum verändert wird. Bereits zu Beginn wird der Begriff doppelt codiert: Der Cyborg ist ein Mensch, dessen Organe durch technische Geräte ersetzt oder ergänzt werden, um ihm zusätzliche Fähigkeiten und eine bessere Anpassung an seine Umwelt zu ermöglichen. Zugleich wird der Cyborg (oder Mensch) als Teil eines kybernetischen Regelkreises gesehen – hier dem Raumschiff oder einer Raumstation – in 6 Manfred E. Clynes, Nathan S. Kline 1960: Der Cyborg und der Weltraum. In: Karin Bruns, Ramon Reichert (Hg.) 2007: Reader Neue Medien. Texte zur digitalen Kultur und Kommunikation. Bielefeld, 467–475.
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dessen Kontext er funktionieren muss, damit das Gesamtsystem störungsfrei arbeitet. Auf irdische Verhältnisse und menschliche Gesellschaften übertragen ist der ursprüngliche Cyborg-Begriff also zutiefst totalitär. Das schlägt sich auch in der popkulturellen Verwendung der Figur des Cyborgs im vergangenen Jahrhundert nieder. Prominente Beispiele sind Filme wie „Robocop“ oder die Borg in „Star Trek“. Allerdings wurde der Begriff in den 1980er Jahren philosophisch von Donna Haraway aufgegriffen.7 Sie verwendet den Cyborg als Metapher für ein Wesen, das aus den Alltagskategorien herausfällt, beispielsweise weder männlich noch weiblich oder beides zugleich ist. Der/die Cyborg wird als ein Wesen gesehen, welches sich und seine Eigenschaften auf kultureller Ebene ebenso wie auf materieller Ebene selbst konstruiert und zugleich konstruiert wird – eine Denkweise, die auch den aktuellen Gender-Diskursen zugrunde liegt. Seit der Jahrtausendwende ist der/die Cyborg aber nicht mehr nur eine rein literarischaktivistische Figur, weil technische Modifikationen des menschlichen Körpers zunehmend möglich werden. Im medizinischen Bereich werden Anwendungen wie Herzschrittmacher, Insulinpumpen, Tiefe Hirnstimulation, Hirnstammimplantate, elektronische RetinaImplantate zunehmend Alltag und gewinnen eine neue Qualität, da intelligente Herzschrittmacher beispielsweise nicht mehr passiv arbeiten, sondern programmiert werden können, oder Implantate sich über Sensoren an die jeweilige Situation des Trägers anpassen können. Darüber hinaus werden Prothesen immer bionischer und können natürliche Extremitäten zunehmend ersetzen. In Einzelfällen führt dies dazu, dass die Träger von Implantaten in geringem Umfang Fähigkeiten entwickeln, die über das Maß ihrer natürlichen Fähigkeiten hinausgehen. Ein Beispiel ist das Cochlea-Implantat, das je nach Programmierung ein situativ angepasstes Hören ermöglicht und Störschall aktiv unterdrücken kann. Zugleich findet außerhalb medizinischer Anwendungen eine Entwicklung statt, die als Cyborgisierung betrachtet werden kann. Computer werden immer kleiner und wandern immer dichter an den menschlichen Körper. Die Anwendungen für ein Smartphone sind so vielfältig, dass es nicht mehr als einzelnes Werkzeug einzustufen ist, sondern fast schon wie ein Sinnesorgan für das Internet, welches ein Großteil der Nutzer und Nutzerinnen mittlerweile permanent bei sich trägt und in den verschiedensten Alltagssitua tionen auf ganz unterschiedliche Weise nutzt. Smartphones können als cyborg devices gesehen werden, weil sie weit über die bloße Nutzung des Internets hinausgehen, auch wenn sie nicht implantiert sind. Geräte, wie die Datenbrille, treiben diese Entwicklung weiter voran, an deren Ende die Implantation von miniaturisierten Computersystemen stehen könnte. Ich trage in meiner linken Hand bereits einen passiven NFC-Chip (Near
7 Donna J. Haraway 1985: A Cyborg Manifesto: Science, Technology, and Socialist-Feminism in the Late Twentieth Century. In: Donna J. Haraway 1991: Simians, Cyborgs and Women. The Reinvention of Nature. Routledge, New York, 149–181.
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Field Communication), den ich zum Entsperren meines Smartphones und als elektronische Visitenkarte nutze. Auch kulturell hat sich die Rezeption des Cyborgs geändert. Ohne den Begriff explizit zu nutzen, variiert eine ganze Reihe von neueren Superhelden-Filmen die Probleme von Cyborgs als gesellschaftliche Außenseiter mit Superkräften. Filme wie „Ghost in the Shell“ (1995) thematisieren das Verwischen der Grenze zwischen Mensch und Maschine, und in „Elysium“ (2013) dient der Einbau von cyborg devices dem Helden zur Selbstermächtigung und führt auch zur Befreiung der Menschheit. Wenn man den Gebrauch von Werkzeugen als Kriterium nimmt, kann der Mensch als Wesen betrachtet werden, das sich selbst und seine Umwelt manipuliert. Die Manipulation der Umwelt ist so ubiquitär, dass bereits vom Anthropozän8 gesprochen wird, und vieles, das wir als natürlich ansehen, bereits eine kulturelle und technologische Umformung der Biosphäre darstellt. – So würden zahlreiche Spezies von der Zuckerrübe bis zum Wollschaf ohne den Eingriff des Menschen in die Biosphäre nicht existieren. Die Selbstmanipulation des Menschen wiederum geschieht über den Gebrauch von Kleidung, die Ernährung, einfache Formen der Körpermodifikation wie Haarschnitt, Tattoos, und Piercings sowie Sport und Bildung bis hin zu spirituellen Praktiken wie der Meditation. Eine These wäre demnach, den Menschen von vornherein als Cyborg zu definieren. Mit dieser Definition ist auch der Unterschied zwischen Mensch und Tier klar benannt. Wenn er mit dem Begriff des Menschen synonym ist, wäre der Begriff des Cyborgs, außer als anthropologische Denkfigur, jedoch überflüssig. Deshalb schlage ich folgende engere Definition vor: „A cyborg is a human being with an electronical device implanted in or steadily attached to the body with the purpose of increasing individual senses or abilities beyond the occasional use of tools.“9 Den aktuellen Stand der Cyborgisierung verkörpern Menschen mit medizinischen Implantaten und Prothesen, mit Exoskeletten ausgestattete Arbeiter und Arbeiterinnen und Soldaten, Nutzer_innen von Smartphones, Smartwatches und Datenbrillen und Body Hacker mit implantierten Chips oder Magneten zum Erspüren elektromagnetischer Felder. Zugleich leben wir spätestens seit der industriellen Revolution in einer Gesellschaft, die mit ihrer technischen Infrastruktur so eng verwoben ist, dass sie als Ganzes als Cyborg bezeichnet werden könnte, auch wenn die zugehörigen Individuen sich nicht als solche identifizieren. Verschärft wird diese Entwicklung durch die allgemeine Digitalisierung und Konzepte wie dem internet of things.
8 Paul J. Crutzen 2011: Die Geologie der Menschheit. In: Paul J. Crutzen u.a.: Das Raumschiff Erde hat keinen Notausgang. 7–10. 9 Enno Park 2014: Ethical issues on cyborg technology: Diversity and inclusion. In: Nanoethics, 2014, 8. Springer, 303–306.
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IV. Der Cyborgs e.V. Die Konfrontation mit dem Cochlea-Implantat und die Auseinandersetzung mit diesen gesellschaftlichen wie technologischen Phänomenen führte mich zum Aufruf Call for Cyborgs10 im Internet und der Gründung des Cyborgs e.V. Der Verein hat sich vorgenommen, medizinische Implantate und Prothesen zu hacken, beschäftigt sich mit nichtmedizinischen Implantaten wie RFID- (Radio-Frequency Identification) und NFC-Chips und Magneten und arbeitet an einem Brain Computer Interface. Er organisiert regelmäßig Vortragsabende und Diskussionsrunden zu Themen von Inklusion bis Digitalisierung, die bewusst breit gefasst sind. Über die Vortragstätigkeit und Öffentlichkeitsarbeit versucht er, eine öffentliche Debatte in Gang zu bringen und in ihr eine Position jenseits von Großkonzernen, Militär, Forschung oder politischen Parteien einzunehmen. Er übt beratende Tätigkeit bis hin zu politischer Lobbyarbeit im Stil klassischer Nicht-Regierungsorganisationen aus. Hierfür entwickelt der Verein ein Manifest, welches in einer vorläufigen Fassung im Internet veröffentlicht wurde.11 Dabei legt der Verein ein antidualistisches, antinaturalistisches Welt- und Menschenbild zugrunde, das von einer Cyborg-Gesellschaft ausgeht, in der es keinen Gegensatz zwischen Natur und Kultur gibt, und für die die Selbst- und Weltmodifikation des Menschen eine anthropologische Konstante darstellt. Der Verein möchte die bestehenden humanistischen Ideale der Selbstvervollkommnung durch Bildung, Sport und Spiritualität um den Aspekt der technologischen Modifikation des menschlichen Körpers ergänzen. Dabei sieht er den Menschen als Wesen, das sich kulturell selbst definiert und in zunehmendem Maße die Möglichkeit hat, dies auch physisch zu tun. Inwiefern er dadurch post- oder transhumanistisch ist, sei dahingestellt. Totalitäre Ideen lehnt der Verein ab und möchte die technischen Möglichkeiten zum individuellen Empowerment genutzt wissen. Gesellschaftliche Vielfalt soll vergrößert, Inklusion soll vertieft werden, insbesondere auch den Teilen der Gesellschaft gegenüber, die einer weiteren Technisierung ihrer Lebenswelt ablehnend gegenüberstehen.
V. Hacker-Ethik anwenden Da sich der Cyborgs e.V., aber auch verwandte Gruppen wie Bionyfiken (Stockholm), oder Grindhouse Wetware (Pittsburgh), zumindest teilweise als Hacker-Gruppierungen verstehen, ist interessant, inwiefern die eingangs skizzierte Hacker-Ethik auf den menschlichen Körper und dessen Modifikation angewendet werden kann. Das lässt sich recht einfach bewerkstelligen, indem ich einfach das Wort „Computer“ in der Hacker-Ethik,
10 Vgl. https://cyborgs.cc/?page_id=21. [30.03.2016]. 11 Vgl. https://wiki.cyborgs.cc/wiki/Manifest. [30.03.2016].
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wie sie vom CCC aufgeschrieben wurde, durch Wörter wie „Körper“ oder „Implantat“ ersetze: • Der Zugang zum Körper und Implantaten und allem, was einem zeigen kann, wie diese funktionieren, sollte unbegrenzt und vollständig sein. • Alle Informationen müssen frei sein. • Misstraue Autoritäten – fördere Dezentralisierung. • Beurteile einen Cyborg nach dem, was er tut, und nicht nach üblichen Kriterien wie Aussehen, Alter, Herkunft, Spezies, Geschlecht oder gesellschaftliche Stellung. • Man kann mit einem Körper/mit Implantaten Kunst und Schönheit schaffen. • Implantate können dein Leben zum Besseren verändern. • Mülle nicht in den Daten anderer Leute. • Öffentliche Daten nützen, private Daten schützen. Diese Ersetzung funktioniert erstaunlich gut, und der Text bleibt fast unverändert. Die Forderungen nach freiem Zugang zum Körper und zu Implantaten und das Wissen darum habe ich bereits in den vorigen Abschnitten näher erläutert. Autoritäten zu misstrauen, klingt leicht paranoid, ergibt aber im Kontext, dass in einen Körper von außen manipulierbare Technik eingebaut sein könnte, ebenfalls Sinn. Einen Menschen nicht nach seinem Äußeren zu beurteilen, ergibt sich ebenfalls aus dem skizzierten Welt- und Menschenbild. Problematisch wäre allerdings an dieser Stelle eine Meritokratie im Sinne von „wer macht, hat recht“, wie sie häufiger in Hacker-Communities vorkommt. Sie ist immanent undemokratisch und steht dem Ideal einer umfassenden Inklusion im Wege. Insbesondere die Aussage zum Datenschutz bedarf einiger Diskussion: Was sind im Zeitalter von Smartphone und Insulinpumpe eigentlich persönliche Daten, und wo ergibt ihr Schutz Sinn?
VI. Politische und gesellschaftliche Forderungen Die hier umrissenen weltanschaulichen Grundlagen führen zu einer Reihe von gesellschaftlichen und politischen Forderungen, die ich im Folgenden als knappe Auflistung darlegen möchte: Wer ein Implantat nutzt, ist bei Nutzung, Programmierung, aber auch beim Kauf von Zubehör auf einen Anbieter festgelegt. Zynisch betrachtet, könnte man Implantation auch als starkes Instrument der Kundenbindung betrachten. Nutzer und Nutzerinnen von Smartphones und E-Book-Readern kennen den walled garden-Effekt: Mit einem Gerät lassen sich nur Programme und Inhalte eines bestimmten Anbieters nutzen, was Komfort und Sicherheit verspricht, aber den Anwender/die Anwenderin auch einschränkt und dem Anbieter eine monopolartige Stellung in seinem Marktsegment verschafft. Smartphone-Nutzer_innen kennen den Effekt, wenn sie beispielsweise nur die vom Hersteller freigegeben Apps auf einem Gerät nutzen können, oder wenn E-Books für ein bestimmtes Lesegerät nur aus einer Quelle zur Verfügung stehen. Auch Plattformen
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wie Facebook oder WhatsApp produzieren solche Effekte: Es gibt zwar Alternativen, die allerdings nichts wert sind, solange Daten und Freundeskreise nicht mitgenommen werden können. Hier zeigt sich beispielhaft, wie sich ein gesamtgesellschaftliches Problem mit zunehmender Cyborgisierung zuspitzt. So kostet ein Audiokabel als Zubehörartikel zum Cochlea-Implantat, das in der Herstellung höchstens einige Euro kosten dürfte, in der Bestellung 270 Euro. Üblicherweise belasten diese Preise allerdings nicht den Endkunden, sondern die Krankenversicherung. Daraus ergibt sich die Forderung nach offenen Standards, idealerweise der Verwendung von open source und der Schaffung von Schnittstellen zu anderen Diensten und Geräten, um die walled garden-Effekte zu vermeiden oder für den Anwender/die Anwenderin erträglich zu gestalten. Wer seinen Körper modifizieren möchte, geht heute zum Piercer, zur Piercerin. Zwar arbeiten viele Piercer mit durchaus hohen Standards, allerdings ist es Glückssache, ob man an eine fähige Piercerin gerät. Wenn sich die Verwendung von Kleinimplantaten weiter verbreitet, werden höhere Standards für diese Berufsgruppe notwendig – oder aber Zugang zu medizinisch ausgebildetem, chirurgischem Personal. Diese Forderung ist keinesfalls besonders abwegig: Im Bereich der plastischen Chirurgie, die ästhetische Gründe hat, ist es kein Problem, eine Operation ohne medizinische Indikation von ausgebildeten Chirurgen bei hohen medizinischen Standards vornehmen zu lassen. Medizintechnik ist aus Cyborg-Sicht falsch reguliert. Das Gesetz über Medizinprodukte ordnet Implantate und Prothesen in unterschiedliche medizinische Klassen ein und reguliert den Marktzutritt streng. Das ist an sich natürlich erstrebenswert, da Implantate nicht die Gesundheit gefährden dürfen. Allerdings führt das auch dazu, dass ein verbesserter Nachfolger eines Implants erst mit jahrelanger Verzögerung auf den Markt kommen kann. Das ist insbesondere dann kritisch, wenn der Vorgänger eklatante Sicherheitslücken enthält. Außerdem verhindert die Regulierung die Abgabe von Geräten zur Programmierung an den Endnutzer/die Endnutzerin.12 Wie dargelegt, sind Alltagsgeräte wie Smartphones durchaus als cyborg devices zu betrachten. Das Telefon ist mittlerweile ein intimer Gegenstand, der viel über seinen Nutzer/seine Nutzerin verrät. Das schlägt sich jedoch nicht in der deutschen/europä ischen Rechtsordnung nieder. So ist es beispielsweise sehr einfach möglich, dass ein Smartphone durch die Polizei konfisziert wird. Hier sollten nach Meinung des Cyborgs e.V. strengere Regeln gelten, etwa analog zu den rechtlichen Voraussetzungen für eine Hausdurchsuchung.13 Über die militärische Nutzung von Cyborg-Technologien ist wenig bekannt, da die entsprechenden Programme, die überwiegend vom Pentagon unterhalten werden, geheim
12 Medizinproduktegesetz, §4 ff. 13 Hannes Heine 2013: Handykontrolle bei Piraten-Politiker Andreas Baum bleibt folgenlos. Tagesspiegel, 09.08.2013. http://www.tagesspiegel.de/berlin/polizist-liest-sms-handykontrolle-bei-piratenpolitiker-andreas-baum-bleibt-folgenlos/8614948.html. [23.04.2016].
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sind. Eine Reihe von Zeitungsberichten14 lässt auf eine intensive Forschungstätigkeit zur Schaffung von Cyborg-Soldaten schließen. Das stellt uns vor besondere ethische Probleme, nicht nur weil das Kräfteverhältnis an Kriegsschauplätzen immer asymmetrischer wird, sondern auch, weil Soldaten Teil einer Befehlskette sind, und daher nicht vorausgesetzt werden kann, dass eine Implantation freiwillig erfolgt. Außerdem gibt es Forschung, um Tiere zu militärischen Zwecken zu Cyborgs zu machen.15 Inwiefern die technische Modifikation tierischer Organismen ethisch vertretbar ist, ist vor dem Hintergrund der Ausbeutung und des Verzehrs von Nutztieren eine komplexe Frage. Die kontinuierliche Verbesserung von Technologien könnte den Eindruck vermitteln, der Mensch sei eine reparierbare Maschine. Davon kann allerdings vor dem Hintergrund einer unüberschaubaren Vielfalt von Krankheiten und Behinderungen nicht die Rede sein. So ist beispielsweise das Cochlea-Implantat nur für Menschen mit hinreichend ausgebildetem auditiven Cortex gewinnbringend – oder aber bei Implantation in frühester Kindheit. Teile der Gehörlosen-Community lehnen das Cochlea-Implantat grundsätzlich ab und sehen durch dessen Einführung die Gehörlosenkultur in Gefahr. Für solche Menschen hat die Gesellschaft den Auftrag, weitestmöglich Inklusion auch ohne die Implantation technischer Hilfen herzustellen.16 Datenschutz, wie er in Deutschland mit dem Recht auf informationelle Selbstbestimmung und dem Bundesdatenschutzgesetz ausgeprägt ist, kollidiert in der Praxis auf vielfältige Weise mit der Digitalisierung immer neuer Lebensbereiche. Wenn das Ziel von Datenschutz jedoch die Verhinderung von Diskriminierung durch Datenmissbrauch ist, scheint eine Debatte vonnöten, inwiefern klassischer Datenschutz noch sinnvoll ist, und inwiefern er durch Antidiskriminierungsgesetze ersetzt werden kann, insbesondere in Fällen, wo sich Daten aufgrund der Digitalisierung nicht mehr sinnvoll schützen lassen. Außerdem werden Urheberrecht und geistiges Eigentum vor neue Herausforderungen gestellt. So stellt die Wiedergabe eines Musikstückes über ein Hörgerät oder Cochlea-Implantat eine digitale Kopie dar. Die derzeitigen Regelungen zu Urheberrecht und geistigem Eigentum werden nicht erst durch ein vielleicht in der Zukunft mögliches Auslesen des Gehirns herausgefordert. Wenn Implantate an das Nervensystem gekoppelt sind, bedeutet das auch, dass verschiedene Sinneseindrücke digital verarbeitet und somit temporär kopiert werden. Das ist zum Beispiel in Hörgeräten und Cochlea-Implantaten der Fall. Eine solche Kopie kann unter Umständen Urheberrechte verletzen, obwohl es sich dem Wesen nach um eine legale Nutzung eines Werkes handelt. So musste die 14 Samuel Gibbs 2016: US military aims to create cyborgs by connecting humans to computers. The Guardian, 20.01.2016. https://www.theguardian.com/technology/2016/jan/20/us-military-cyborgconnecting-humans-computers. [23.04.2016]. 15 N.N. 2012: Insekten als Drohnen: Forscher basteln an fliegenden Mini-Cyborgs. Spiegel Online, 09.04.2012. http://www.spiegel.de/wissenschaft/technik/forscher-basteln-im-auftrag-der-darpa-minicyborgs-aus-insekten-a–826389.html. [23.04.2016]. 16 Vgl. hierzu die ausführliche Debatte in diesem Band.
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Frage, ob es sich bei Streaming-Diensten oder auch dem bloßen Laden eines Werkes in den Speicher eines Computers um eine legale Nutzung handelt, in immer neuen Konstellationen gerichtlich geklärt werden. In dem Maße, wie der Mensch sich selbst modifiziert und dadurch von der gesellschaftlich anerkannten Norm abweicht, werden immer mehr gesetzliche Regelungen und gesellschaftliche Umgangsformen überarbeitungswürdig. Ein Beispiel ist, dass der Brite Neil Harbisson zunächst darum kämpfen musste, das von ihm selbst entworfene Teil-Implantat Eye Borg auf seinem Passfoto sichtbar tragen zu dürfen.17 Verschiedene gesellschaftliche Player beeinflussen diese Fragestellungen und Debatten. Große IT-Unternehmen wie Google, Apple, Amazon oder Facebook sind daran interessiert, geschlossene Daten-Silos zu schaffen, um die von ihnen gesammelten Daten konkurrenzfrei monetarisieren zu können. Sie verwenden im großen Stil das Konzept des walled garden für ihre Plattformen. Kleine Startups hingegen tendieren dazu, sich Marktnischen zu erkämpfen, indem sie Tabus brechen, zum Beispiel indem Firmen wie Dangerous Things18 nicht-medizinische Implantate anbieten. Medizintechnische Anbieter von Implantaten und Prothesen treten nicht gegenüber dem Endkunden sondern gegenüber dem Gesundheitssystem auf und versuchen, über Teilmonopole eine Hochpreispolitik aufrecht zu erhalten. Die Politik, in Form der derzeit relevanten politischen Parteien, hat sich bisher nicht programmatisch mit dem Thema auseinandergesetzt. Diese Lücke versuchen NGOs wie Cyborg Nest, New York, Grindhouse Wetware, Pittsburgh, Bionyfiken, Stockholm oder der Cyborgs e.V., Berlin, zu füllen. Die Wissenschaft ist aufgefordert, hier in den gesellschaftlichen Diskurs einzutreten und insbesondere einen interdisziplinären Diskurs zwischen Natur- und Geisteswissenschaften zu führen.
17 Andy Miah, Emma Rich 2008: The medicalization of cyberspace. New York: Routledge. 130 18 Vgl. https://dangerousthings.com. [23.04.2016].
training
Das Künstlerduo hoelb/hoeb beschäftigt sich in seinem Projekt training mit physischen Transformationsprozessen und Körperbildern an der Schnittstelle von Mensch, Tier und Robotik. Im Zentrum stehen körperliche Verwandlungen, die aus Krankheit und Behinderung resultieren. Um körperliche Disziplinierungsprozesse zu befragen, werden eine Vielzahl von Diskursen herangezogen. Das reicht von queer studies und künstlerischer Forschung bis hin zu Sport, Cyborgs und animal studies. Es wurde ein Trainingslabor für einen „inklusiven Humanismus“ (Thomas Macho) installiert. Turngeräte, Recks, und Sprossenwände wurden mit nachgebauten MRT-Scannern, Intensivbetten, Lagerungspolstern, Prothesen und Robotern zu einem assoziativen Raumsetting verbunden. Über 20 Beteiligte aus den Disziplinen Kunst, Wissenschaft/Forschung und soziale Praxis führten synchron vor Ort themenbezogene Performances, Lectures, sowie Trainingseinheiten durch. Gemeinsam mit Künstler_innen, Betroffenen und Expert_innen nahm das Publikum an einem interdisziplinären Prozess des Annäherns, Ausprobierens und Trainierens teil. Ein breites Darstellungsspektrum von Inklusion und Integration, das Schnittstellen zwischen Alltag, Kunst und sozialen Choreografien dokumentierte, wurde raumübergreifend in Szene gesetzt. Teil 1, training – Spielstätte für einen inklusiven Humanismus, fand im Rahmen des Festivals imagetanz (März 2015) in Wien statt und fokussierte neben ästhetischen Heteronomien vor allem die Wahrnehmungs-Strategien von Sehbehinderten durch Interaktion. In der Galerie für zeitgenössische Kunst in Leipzig wurde training im Rahmen von Travestie für Fortgeschrittene für drei Monate gezeigt. Hier standen der Ausstellungsraum selbst, und die Frage, wie er auf die soziale Praxis und den Alltag hin überschreitbar ist, im Zentrum. Beim Performance-Festival Wunder der Prärie in Mannheim (September 2015) ergab sich durch die Beteiligten vor Ort ein starker Fokus auf das Thema Demenz.
Thomas Macho
Enge Beziehungen. Über die Arbeiten von hoelb/hoeb1
I. Kürzlich habe ich den Text eines seltsamen Gesangs gelesen, der von einer engagierten Schriftstellerin, religiösen Freidenkerin (mit einer gewissen Nähe zu den Lehren Swedenborgs2) und Kämpferin für die Rechte der Schwarzen und Frauen verfasst wurde. Gestorben ist diese bemerkenswerte Frau in ihrem 88. Lebensjahr, vor mehr als 45 Jahren: nämlich am 1. Juni 1968; sie war ab ihrem zweiten Lebensjahr taub und blind. „A Chant of Darkness“ wurde im Mai 1908 im Century Magazine publiziert; wenig später erschien der Text – übersetzt durch Heinrich Conrad – im Stuttgarter Verlag von Robert Lutz. Ich zitiere den Refrain des Gesangs, der insgesamt siebenmal wiederholt wird. Er lautet (im englischen Original): „Out of the uncharted, unthinkable dark we came, / And in a little time we shall return again / Into the vast, unanswering dark.“3 Und in der deutschen Übersetzung: „Aus der Dunkelheit, die keiner kennt, / Die keiner sich vorstellt, kamen wir; / Und über ein Kleines gehn wir zurück / In die ungeheure Dunkelheit, / Von dannen keine Antwort tönt.“4 Was beim ersten Hören, gerade in der deutschen Übersetzung, ziemlich melancholisch und pathetisch klingt, lässt sich leicht relativieren: Helen Keller hatte nach ihrem eigenen Verständnis ein Lob der Dunkelheit – und kein Klagelied – geschrieben; und sie betonte, dass sie nicht beabsichtigt habe, sich „als eine Dichterin aufzuspielen. Ich glaubte Prosa zu schreiben […]; aber meinen Freunden schien dies Stück sich von den übrigen abzuheben; darum machte ich eine Art von Gedicht daraus.“5
1 Auszug aus: Thomas Macho 2015, Enge Beziehungen/Close link. In: hoelb/hoeb, steirischer herbst (Hg.): Close Link. Beziehungssysteme mit LISS 1–5, PVS, DLB. Berlin: Revolver Verlag, 1–16. 2 Vgl. Helen Keller 1986: Licht in mein Dunkel. Übersetzt von Adolf Ludwig Goerwitz. Zürich: Swedenborg Verlag. 3 Helen Keller 1908: A Chant of Darkness. In: The Century. Illustrated Monthly Magazine, Volume LXXVI, New Series: Volume LIV. New York/London: The Century/Macmillan, 142–147, hier 142. 4 Helen Keller 1908: Dunkelheit. Übersetzt von Heinrich Conrad. Stuttgart: Robert Lutz, 112. 5 Ebd., 9.
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Helen Keller hat sich gelegentlich darüber empört, dass ihr nicht zugestanden werde, vom Sehen zu sprechen. „Notwendigkeit verleiht dem Auge eine kostbare Sehkraft, und ebenso gibt sie dem ganzen Körper eine kostbare Fühlkraft. Zuweilen ist es mir, als bestände mein ganzes leibliches Fleisch aus lauter Augen, welche nach ihrem Belieben in eine Welt hinausschauen, die täglich neu geschaffen wird. Das Schweigen und die Dunkelheit, die mich angeblich einschließen, öffnen sehr gastlich meine Tür unzähligen Empfindungen, die mich zerstreuen, belehren, ermahnen und erheitern.“6 Mit Hilfe ihrer Lehrerin Anne Sullivan erschloss sich Keller eine sinnliche, vielgestaltige, formenreiche Welt aus der Leere, aus dem Nichts; ohne Augen sah sie nicht – wie der blinde Seher Teiresias – die Zukunft, sondern gerade ihre Gegenwart: „Ich begreife, daß Scharlachrot sich von Purpurrot unterscheiden kann, weil ich weiß, daß der Duft einer Orange nicht der Duft einer Pomeranze ist.“ Und zugleich verdankte sich ihre bezaubernde Sinnlichkeit einer Evidenz der Leere, die sie niemals vergessen hat: „Es war nicht Nacht – es war nicht Tag – Nur raumverschlingende Leere.“7 In ihrem Leben manifestierte sich eine Erfahrung, die Alfred North Whitehead in seinen Vorlesungen zur Entstehung der Religion – 1926 an der Harvard University – so charakterisiert hat: „Religion is what the individual does with his own solitariness. It runs through three stages, if it evolves to its final satisfaction. It is the transition from God the void to God the enemy, and from God the enemy to God the companion. Thus religion is solitariness; and if you are never solitary, you are never religious.“8 In Hans Günter Holls Übersetzung: „Religion ist das, was das Individuum aus seinem eigenen Solitärsein macht. Sie durchläuft, wenn sie sich bis zu ihrer abschließenden Erfüllung entwickelt, drei Phasen. Sie ist der Übergang von Gott, der Leere, zu Gott, dem Feind, und von Gott, dem Feind, zu Gott, dem Gefährten. Religion ist also Solitärsein; und wer niemals solitär ist, der ist niemals religiös.“9 Die Pointe dieser Sätze, die gleichfalls beim ersten Hören pathetisch klingen, hätte Helen Keller sofort verstanden: als den Weg von der Leere und der Einsamkeit, dem Solitärsein (solitariness), zur Gefährtin oder zum Gefährten, zur Gemeinschaft und zur Solidarität (solidarity). Ich zitiere noch einmal: „Das Schweigen und die Dunkelheit, die mich angeblich einschließen, öffnen sehr gastlich meine Tür unzähligen Empfindungen.“ Die zeitgenössische Forderung nach Inklusion ergibt sich nicht aus den Axiomen moderner Sozialpolitik oder den Anforderungen des eigenen Gewissens, sondern gerade aus jener Einsamkeit, die uns selbst – wie im Spiegel – zugemutet wird: in Augenblicken des Kommunikationsabbruchs und des Perspektivenwechsels, in denen wir umgekehrt als die Ausgeschlossenen um das Gastrecht des Wahrgenommenwerdens bitten. Darin besteht das „Unheimliche“ (im Sinne Freuds), mit dem uns die Ausstellungsarbeit von 6 Helen Keller 1908: Meine Welt. Übersetzt von Heinrich Conrad. Stuttgart: Robert Lutz, 8. 7 Ebd., 69 und 79. 8 Alfred North Whitehead 1926: Religion in the Making. Lowell Lectures. Cambridge (UK)/New York: Cambridge University Press, 6 f. 9 Alfred North Whitehead 1985: Wie entsteht Religion? Übersetzt von Hans Günter Holl. Frankfurt a.M.: Suhrkamp, 15 f.
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Barbara Hölbling und Mario Höber konfrontiert: In der Begegnung mit dem Sprachlosen, dem Kranken und Lahmen erfahren wir – im Wechsel der Perspektiven – die eigene Verletzlichkeit, Sprach- und Bewegungslosigkeit, eine Sterblichkeit, die freilich nicht vereinzelt, sondern auch verbindet, von der solitariness zur solidarity.
II. An einem entscheidenden Punkt hat Heidegger geirrt: Das „Sein zum Tode“ ist nicht bloß die „eigenste Möglichkeit“, sondern auch die gemeinsamste. Schon in den spätmittelalterlichen Totentänzen manifestierte sich nicht nur die Gewissheit der Bedrohung durch die Pest, sondern auch die Überzeugung, dass der Tod als Medium der Gleichheit erfahren werden kann, als Fest einer geradezu ansteckenden Egalität, die alle sozialen Unterschiede auslöscht, mit einem zuletzt ebenfalls ansteckenden Gelächter, das die Angst in die Erfahrung geteilter Last, buchstäblich der communitas nach Roberto Esposito,10 konvertiert: Wir sind alle Sterbliche. Darin liegt Trost; und diesen Trost hat Cornelius Castoriadis als Wurzel der politischen Imagination des alten Griechenland bezeichnet: „Für die Griechen ist das Wesentliche die Sterblichkeit. Ich kenne keine andere Sprache, in der das Wort sterblich die Bedeutung menschlich und menschlich die Bedeutung sterblich hat. Zwar findet man in der französischen Dichtung ab dem 17. Jahrhundert den Ausdruck ‚die Sterblichen‘, doch ist er bloße Bildungsreminiszenz und entspringt nicht dem Geist der Sprache, d. h. der Gesellschaft selbst. Hingegen sind die Menschen für die Griechen thnêtoi, Sterbliche; Menschsein bedeutet genau das. Daher die häufig, in der Tragödie und anderswo, anzutreffende Mahnung, thnêta phronein, denken wie ein Sterblicher: Bedenke, dass du sterblich bist. […] Die Modernen halten am Phantasma der Unsterblichkeit fest, selbst nach der Entzauberung der Welt. Dieses Phantasma ist auf die Idee des grenzenlosen Fortschritts, der Ausdehnung der vermeintlich rationalen Kontrolle übertragen worden und äußert sich vor allem in der für die Gegenwart mehr und mehr charakteristischen Ausblendung des Todes.“11 Zu den elementaren Obsessionen der säkularen, wissenschaftlich aufgeklärten Moderne, so hat es John Gray in seiner Untersuchung zu „The Immortalization Commission: Science and the Strange Quest to Cheat Death“ (2011) eindringlich dargestellt, gehörte die Überwindung der Sterblichkeit: „Ende des 19. und Anfang des 20. Jahrhunderts wurde die Wissenschaft zur Operationsbasis für den Angriff auf den Tod. Die Macht des Wissens war aufgerufen, die Menschen aus den Fesseln der Sterblichkeit zu befreien. 10 Vgl. Roberto Esposito 2004: Communitas. Ursprung und Wege der Gemeinschaft. Übersetzt von Sabine Schulz und Francesca Raimondi. Berlin: Diaphanes. 11 Cornelius Castoriadis 2011: Das griechische und das moderne politische Imaginäre. In: Michael Halfbrodt/Harald Wolf (Hg.): Cornelius Castoriadis. Philosophie, Demokratie, Poiesis. Ausgewählte Schriften, Bd. 4. Übersetzt von Michael Halfbrodt. Lich/Hessen: Verlag Edition AV, 93–121, hier 107 f.
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Wissenschaft bezog gegen Wissenschaft Stellung und wurde so zum Einfallstor des Okkulten.“12 Chemiker wie William Crookes, Physiker wie Karl Friedrich Zöllner, Naturforscher wie Alfred Russel Wallace, ja selbst der Arzt und Schriftsteller Arthur Conan Doyle zählten zur Anhängerschaft des Spiritismus; Conan Doyle scheiterte ausgerechnet an der Skepsis des Bühnenmagiers Harry Houdini.13 Fünf Jahre nach der Oktoberrevolution verkündete ein Manifest der russischen Biokosmisten: „Als wesentliche und reale Rechte des Menschen gelten für uns sein Recht auf Sein (Unsterblichkeit, Auferweckung, Verjüngung) oder auf die Bewegungsfreiheit im kosmischen Raum (und nicht die vermeintlichen Rechte, die in der Deklaration der bürgerlichen Revolution von 1789 verkündet wurden).“14 Von hier aus lassen sich Brücken schlagen zu den „Immortalisten“ der New-Age-Bewegung, zu Ray Kurzweil und seiner Singularity-Philosophie, zu den Kryonikern und den Transhumanisten, die sich auf mögliche Fortschritte der Informatik, Robotik und Genetik berufen.15 Die zeitgenössische Popularkultur – Comics, SF-Romane, Filme, TV-Serien, Computerspiele – beschäftigt sich in vielfacher Hinsicht mit dem biopolitischen Phantasma der Unsterblichkeit. Zwar treten die Unsterblichen in diesen Genres zumeist als Vampire, Werwölfe oder Zombies auf, die für ihr ewiges Leben töten müssen; doch zunehmend gewinnen sie – wie in der TV-Serie „True Blood“ oder in der „Twilight-Saga“ – ein sympathisches Profil. Darin spiegelt sich auch die faktische Überzeugungskraft eines medizinischen Systems, das Langlebigkeit – schon aus ökonomischen Gründen – nur einem Teil der Menschheit ermöglichen kann. 2013 hat nun Stephen King eine Fortsetzung seines – von Stanley Kubrick 1980 verfilmten – Erfolgsromans „The Shining“ (1977) veröffentlicht. Darin wird eine Bande von Immortalisten und Transhumanisten beschrieben, die das Leben ihrer Mitglieder durch Foltermorde an vorzugsweise hellsichtigen Kindern verlängert. Interessanter als die Darstellung dieser Gruppe der Bösen, einer Mischung aus Manson-Family und Voodoo-Sekte, ist die ihrer Gegner, die sich nicht zufällig um ein Hospiz und die darin praktizierte Sterbekultur formieren.16 In Stephen Kings neuem Roman triumphieren die Sterblichen über die Langlebigen, anders als in unserer aktuellen gesellschaftlichen Realität. Doch King ist selbst nicht nur ein virtuoser Autor, sondern ein Zeitkritiker; und vielleicht dokumentiert sich in seinem Roman ein allmählicher Bewusstseinswandel, der inzwischen auch die Künste erfasst hat: in der 12 John Gray 2012: Wir werden sein wie Gott. Die Wissenschaft und die bizarre Suche nach Unsterblichkeit. Übersetzt von Christina Schmutz und Frithwin Wagner-Lippok. Stuttgart: Klett-Cotta, 11. 13 Vgl. Bernd Stiegler 2014: Spuren, Elfen und andere Erscheinungen. Conan Doyle und die Photographie. Frankfurt a.M.: S. Fischer, 157–172. 14 Zit. nach: Boris Groys 2005: Unsterbliche Körper. In: Ders./Michael Hagemeister (Hg.): Die Neue Menschheit. Biopolitische Utopien in Russland zu Beginn des 20. Jahrhunderts. Frankfurt a.M.: Suhrkamp, 8–18, hier 14. 15 Vgl. Tobias Hülswitt, Roman Brinzanek (Hg.) 2010: Werden wir ewig leben? Gespräche über die Zukunft von Mensch und Technologie. Berlin: Suhrkamp. 16 Vgl. Stephen King 2014: Doctor Sleep. Übersetzt von Bernhard Kleinschmidt. München: Wilhelm Heyne.
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Bemühung um eine neue Sichtbarkeit des Todes,17 die nicht auf Schock- und Schreckbilder, sondern auf die Eröffnung neuer Räume der Kommunikation unter Sterblichen, der Reflexion geteilter Todesangst, Verletzlichkeit und Trauer abzielt. In den Räumen, die Barbara Hölbling und Mario Höber für ihre Ausstellung Close Link zum steirischen herbst 2013 errichtet haben, wurde mir klar, dass Gottfried Benns oft und gern zitierte Gedichtzeilen „Kommt, reden wir zusammen / wer redet, ist nicht tot“18 neu gelesen werden müssen: als mögliches Bekenntnis zum Gespräch, zur Bildung einer Kommune der Sterblichen, die nicht verdrängen und ausblenden, sondern gemeinsam ertragen wollen.
17 Vgl. Thomas Macho, Kristin Marek (Hg.) 2007: Die neue Sichtbarkeit des Todes. München: Wilhelm Fink. 18 Gottfried Benn 1982: Gedichte in der Fassung der Erstdrucke. Hg. von Bruno Hillebrand. Frankfurt a.M.: Fischer, 467.
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Verschränkungen von Gewicht. Von Verbindungen zu Un/Bestimmtheiten
Zur Arbeit training von hoelb/hoeb In The Rhetoric of Drugs, einem Interview aus dem Jahr 1989, argumentiert Jacques Derrida: „There is no natural, originary body: technology has not simply added itself, from the outside or after the fact, as a foreign body“.1 Derrida scheint damit nicht nur zu implizieren, dass Technik, anstatt als das Andere zu fungieren, stets auf vielschichtige und unlösbare Weise mit dem Körper verbunden ist, sondern auch, dass es so etwas wie einen natürlichen – im Sinne von technisch unberührten – Körper nicht gäbe. Fragt man nach dem Verhältnis von Technik und Körper, rückt unweigerlich die Frage nach den Verbindungen, die sich zwischen beiden Seiten ausdehnen, ins Zentrum der Überlegung. Was aber, wenn die Frage nach dem Verhältnis von Technik und Körper keine Frage von Verbindungen, sondern vielmehr eine Frage von Verschränkungen und Un/Bestimmtheiten ist – epistemologischen gleichermaßen wie ontologischen? Derrida erinnert uns daran, dass einem Gespenst zu folgen darauf hinauslaufen könnte, letztlich selbst „von ihm verfolgt zu werden, für immer, verfolgt vielleicht von der Jagd selbst, die wir nach ihm anstellen“.2 Was, wenn ein Verständnis, das Technik und Körper als zwei voneinander getrennte Sphären begreift, einem Denken angehört, das die Welt und alles in ihr in eine aktive Geist-Seite und eine ewig passive Materie-Seite aufteilt, solch einem Gespenst hinterherjagt, von dem es zugleich ständig verfolgt wird? Was, wenn Technik tatsächlich weit davon entfernt ist, etwas dem Körper notwendigerweise Äußerliches zu sein, vielmehr stets auf unterschiedliche Weise und mit unterschiedlichen politischen und ethischen Konsequenzen mit materiellen, lebendigen Körpern verschränkt und nicht nur verbunden ist? Wie ließen sich vor diesem Hintergrund konkrete Prozesse der simultanen Materialisierung und Signifikation von Körpern verstehen? Die Frage nach dem Verhältnis von Technik und Körper sowie die Frage danach, was passiert, wenn scheinbar Banales und Bedeutsames, Dinge, Künstler_innen, Wissen1 Jacques Derrida 1995: Points… Interviews, 1974–1994. Stanford: Stanford Univ. Press, 244. 2 Jacques Derrida 1996: Marx’ Gespenster. Der verschuldete Staat, die Trauerarbeit und die neue Internationale. Frankfurt a.M.: Suhrkamp, 27.
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schaftler_innen, Pfleger_innen und Besucher_innen einer Ausstellung aufeinanderprallen, steht im Mittelpunkt der Performance-Installation training: Spielstätten für einen inklusiven Humanismus des Künstler_innenduos hoelb/hoeb. Die Performance-Installation zirkuliert im wahrsten Sinne des Wortes um einen kleinen Raum, in dem ein Intensivbett aus einer Wachkomastation, unbehaglich von der Decke der Halle hängend und damit aus seinem „natürlichen“ Umfeld entrissen, über ein Geflecht aus unzähligen Schläuchen und Kabeln mit Infusionsapparaten, Beatmungsmaschinen und anderen Instrumenten und Dingen verbunden ist. Was würde es bedeuten, dieses Gefüge, bestehend aus Intensivbett, Beatmungsmaschine, Infusionsapparat, den Kabeln und Schläuchen, nicht bloß als ein Ding zu begreifen, nicht als das unheimliche, technische oder dinghafte Andere, das dem Körper bedrohlich entgegensteht, sondern vielmehr als einen Apparat körperlicher Produktion? Apparate körperlicher Produktion stehen hierbei weniger für bestimmte Dinge als für generative „Orte“, an denen biologische, technische, technowissenschaftliche, ökonomische, politische, juristische und unzählige andere menschliche wie auch nichtmenschliche Kräfte und Akteure intra-agieren3 und gemeinsam ein konkretes Phänomen hervorbringen, welches in seinen Grenzen, Eigenschaften und Bedeutungen nicht von diesen jeweiligen Apparaten getrennt werden kann.
I. Der Apparat körperlicher Produktion Es ist kein Zufall, dass Feministinnen sowie rassialisierte und auf andere Weise marginalisierte Theoretiker_innen und Aktivist_innen Fragen der Materialität und des materiellen Körpers zum Gegenstand kritischer Analysen gemacht haben. Wurde doch weiblichen ebenso wie rassialisierten Körpern historisch immer wieder nicht nur eine Naturnähe unterstellt, sondern diese oft auch auf eine passive Materialität reduziert. Queere und feministische Theoretiker_innen haben deshalb nicht nur die Vorstellung dekonstruiert, dass Geschlecht Schicksal sei, sondern auch den Fokus auf die Prozesse der Signifikation in der Vergeschlechtlichung sowie auf Fragen der Verkörperung verlagert. Das Konzept des Apparates körperlicher Produktion stellt ein Ergebnis kritischer Analysen dar, ein höchst vielversprechendes, wenn es darum gehen soll, Technik und Körper in einer nicht-dualistischen Weise zu theoretisieren. Das Konzept des Apparates körperlicher Produktion geht auf die feministische Theo retikerin Donna Haraway zurück, welche sich ihrerseits auf ein Konzept der Literaturwissenschaftlerin Katie King bezieht. King verwendet das Konzept des apparatus of 3 Im Gegensatz zum Begriff der Interaktion verweist das Konzept der Intra-Aktion auf die wechselseitige Konstitution miteinander verschränkter Entitäten und Wirkmächtigkeiten (agencies). Für Barad gehen Entitäten, Grenzen und Bedeutungen nicht ihren Intra-Aktionen voraus, sondern bilden sich erst durch diese heraus. Vgl. Karen Barad 2007: Meeting the Universe Halfway. Quantum Physics and the Entanglement of Matter and Meaning. Durham: Duke University Press, 33.
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literary production als Bezeichnung für die Knoten, an denen ökonomische, technologische und künstlerische Relationen und Kräfte in ihrem Zusammenspiel literarische Texte hervorbringen. Haraway greift Kings Konzept des apparatus of literary production auf und adaptiert es zu einem Instrument für kritische Analysen technowissenschaftlicher Praktiken, welches ermöglicht, das Wissensobjekt als aktiv mitbeteiligt am Prozess wissenschaftlicher Erkenntnisproduktion zu begreifen. Ausgehend von der Problematisierung eines – immer noch weit verbreiteten – Verständnisses wissenschaftlicher Objektivität, das auf dem Glauben beruht, dass das Erkenntnisobjekt ein passives und stummes Ding wäre, betont Haraway, dass ungeachtet dessen, wie vermittelt unsere Welt auch sein mag, sie niemals nur ein bloßes Objekt ist. Tatsächlich würde die Welt erst durch eine bestimmte „analytische Tradition“4 zu einem Objekt gemacht werden, das dem machtvollen Blick des Subjekts der Erkenntnis unterworfen wird. Statt passiv und stumm zu sein, haben die Objekte der Erkenntnis für Haraway auf vielschichtige Weise am Prozess wissenschaftlicher Erkenntnisproduktion teil. Mit dem Konzept des Apparates körperlicher Produktion versucht Haraway, diese Idee in der Folge begrifflich und figurativ zu fassen. In diesem Licht argumentiert Haraway, dass Körper und Organismen nicht geboren, sondern vielmehr „in weltverändernden technowissenschaftlichen Praktiken durch bestimmte kollektive AkteurInnen zu bestimmten Zeiten an bestimmten Orten hergestellt“5 werden. Als materiell-semiotische Arrangements von menschlichen und nichtmenschlichen Entitäten bringen Apparate körperlicher Produktion erst Organismen und Körper als Erkenntnisobjekte hervor. Ähnlich zu Bruno Latours Lesart von Louis Pasteurs Labornotizen,6 in denen dieser die Entstehung des Milchsäurebakteriums als einen materiell-semiotischen Prozess beschreibt, an dem die Bakterien selbst aktiv beteiligt sind, argumentiert Haraway folglich, dass materielle Körper und Organismen weder epistemologisch noch ontologisch vorgängige Entitäten sind, die irgendwo „dort draußen“ nur darauf warten, entdeckt zu werden. Noch weniger können diese als bloße Endprodukte sozialer Konstruktionsprozesse verstanden werden. Vielmehr materialisieren sich Körper und deren Bedeutungen durch bestimmte machtvolle Praktiken, das heißt durch Apparate körperlicher Produktion. Folglich ist es stets auch bestimmten Apparaten zu verdanken, dass „sich Grenzen materialisieren und Kategorien sedimentieren“.7 In diesem Sinne verschiebt das Konzept des Apparates körperlicher
4 Donna Haraway 1995a: Die Neuerfindung der Natur. Primaten, Cyborgs und Frauen. Frankfurt a.M. und New York: Campus, 92. 5 Donna Haraway 1995b: Monströse Versprechen. Die Gender- und Technologie-Essays. Hamburg: Argument Verlag, 14. 6 Bruno Latour 1993: The Pasteurization of France. Cambridge Mass.: Harvard University Press. 7 Donna Haraway 1994: A Game of Cat’s Cradle. Science Studies, Feminist Theory, Cultural Studies. In: Configurations 2 (1), 59–71, hier 64. Übersetzung d. A.
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Produktion den Blick von einer Politik des Darstellens und Eingreifens (representing and intervening)8 zu einer Politik des Darstellens als Eingreifen (representing as intervening). Aufbauend auf Haraways Überlegungen greift die feministische Quantenphysikerin Karen Barad das Konzept des Apparates körperlicher Produktion auf und entwickelt es mit Blick auf Fragen der Materialisierung, Macht und agency weiter. Barad liest hierfür die Arbeiten des Quantenphysikers Niels Bohr zusammen mit poststrukturalistischer Philosophie und den Erkenntnissen feministischer Epistemologie. Indem Barad Apparate als all jene materiell-diskursiven Praktiken verhandelt, die ein jeweils spezifisches Phänomen konstituieren helfen und zugleich stets auch Teil desselben sind, argumentiert sie, dass sich Körper ebenso wie Bedeutungen erst durch bestimmte Apparate manifestieren oder verfestigen. Apparate sind folglich weder statische Arrangements oder gar nur auf den Bereich experimenteller Laborpraktiken beschränkt, noch sind sie „external forces that operate on bodies from the outside; rather apparatuses are material-discursive practices that are inextricable from the bodies that are produced and through which power works its productive effects“.9 Offensichtlich ist, dass Barads Verständnis des Apparates nicht nur eine konzeptuelle Genealogie mit Bohrs Begriff des Apparates teilt, sondern auch mit Michel Foucaults Begriff des Dispositivs (apparatus in der englischen Übersetzung). Für Foucault stellt ein Dispositiv ein „heterogenes Ensemble“, eine Anordnung oder Formation dar, die aus Institutionen, Menschen, Diskursen, Architekturen und Praktiken besteht. Es umfasst damit „Gesagtes ebenso wohl wie Ungesagtes“.10 Foucault geht es dabei aber weniger um die Dinge selbst, die hierbei miteinander verbunden sind, als vielmehr um die Natur der Verbindungen, die zwischen diesen heterogenen Elementen geknüpft werden. Vor diesem Hintergrund unterscheidet Foucault in der Folge auch zwischen Dispositiv/ Apparatus und Episteme. Während Ersteres sowohl diskursive als auch nicht-diskursive Elemente beinhaltet, bezieht sich Letzteres auf rein diskursive Formationen (als Bedingung der Möglichkeit von Wissen innerhalb einer bestimmten Epoche). Ohne Zweifel ist Barads Verständnis von Apparaten als generative „materiell-diskursive Praktiken“ wesentlich von Foucaults Denken beeinflusst. Wenngleich Barad aber Foucaults Analytik der Macht teilt, problematisiert sie zugleich, dass es den Anschein habe, dass für Foucault Materie weniger etwas ist, das sich fortwährend im Werden befindet. Vielmehr scheint Materie für Foucault etwas Statisches und weitgehend Ahistorisches zu sein; etwas, dessen Existenz und Form als gegeben angenommen werden. Mehr noch, scheint für Foucault das Nicht-Diskursive, und damit Materie, das Diskursive lediglich zu unterstützen – wobei Foucault unklar bleibt, wie dies genau vorzustellen wäre. Folglich würde bei Foucault Diskurs über Materie, und damit Diskursivität über Mate8 Vgl. Ian Hacking 1983: Representing and Intervening. Introductory Topics in the Philosophy of Na tural Science. Cambridge: Cambridge University Press. 9 Barad 2007: Meeting the Universe Halfway, 230. 10 Michel Foucault 1987: Dispositiv der Macht. Über Sexualität, Wissen und Wahrheit. Berlin: Suhrkamp, 119.
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rialität stehen, anstatt dass beides tatsächlich als unlösbar miteinander verschränkt begriffen wird.11 In Barads Verständnis hingegen stellen diskursive Praktiken und materielle Phänomene keine voneinander getrennten Sphären dar. Weder ist das eine dem anderen gegenüber privilegiert, noch kann das eine auf das andere reduziert werden. Diskursive Praktiken und materielle Phänomene stehen nicht „in a relationship of externality to one another; rather, the material and the discursive are mutually implicated in the dynamics of intraactivity“.12 Daher ist Barads Begriff des „material-discursive“ ähnlich Haraways Begriff der „natureculture“ als ein Wort zu begreifen, als unlösbare spannungsgeladene Verschränkung anstatt lediglich als Verbindung zweier vermeintlich distinktiver Sphären. Produktiv auf Judith Butlers Arbeiten aufbauend und über diese hinausgehend versteht Barad Materie daher auch als fortwährenden Prozess der Materialisierung und bricht so mit der Idee einer ahistorischen und transzendentalen Substanz, die lediglich mechanistisch Newtonschen Gesetzen folgen würde; eine Idee, die nicht nur dem ersten Gesetz der Thermodynamik widerspricht, welches besagt, dass Materie und Energie sich ununterbrochen in Transformation von einer Form in eine andere befinden, sondern auch ignoriert, dass der Begriff der Materie selbst eine Ideengeschichte hat. Als Materialisierung neugedacht, stellt „Materie in ihrer sich wiederholenden Materialisierung […] ein dynamisches Spiel von Un/Bestimmtheit“13 dar.
II. Den Apparat re(kon)figurieren Rosi Braidotti14 betont die Notwendigkeit neuer Geschichten, neuer Methoden und neuer Figuren für kritische Analysen unserer heutigen Welt; einer Welt, die wesentlich von technobiopolitischen Entscheidungen und den Tätigkeiten des globalen Biokapitalismus bestimmt wird. Vor diesem Hintergrund ist es wichtig zu verstehen, dass Figuren und Konzepte gerade nicht Werkzeuge sind, um eine ansonsten stumme und passive Welt intelligibel zu machen, sondern im Gegenteil stets aktiv an der Re(kon)figurierung 11 Diese Kritik trifft wesentlich stärker auf Foucaults Analytik der Macht und seinen Begriff des Dispositivs zu als etwa auf sein späteres Konzept einer „Regierung der Dinge“ mit dem Foucault Biopolitik aus einem engen „humanistischen Orbit“ wieder herauszuholen versucht. Foucault bricht hierbei nicht nur mit der Vorstellung von stabilen, vorgängigen Entitäten, sondern mit seinem Begriff des „Subjekt-Objekts“ auch mit einer ahistorischen Trennung von Menschen und Nicht-Menschen bzw. Dingen zugunsten eines relationalen Verständnisses von menschlichen und nichtmenschlichen Akteuren. Vgl. hierzu Michel Foucault 2006: Sicherheit, Territorium, Bevölkerung. Geschichte der Gouvernementalität I. Frankfurt a.M.: Suhrkamp und Thomas Lemke 2015: New Materialisms. Foucault and the ‚Government of Things‘. In: Theory, Culture & Society 32 (4), 3–25. 12 Barad 2007: Meeting the Universe Halfway, 140. 13 Karen Barad 2012: Was ist das Maß des Nichts? Unendlichkeit, Virtualität, Gerechtigkeit? Ostfildern: documenta/Hatje Cantz Verlag, 32. 14 Rosi Braidotti 2014: Posthumanismus. Leben jenseits des Menschen. Frankfurt a.M.: Campus.
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der Welt teilhaben. Figuren und Konzepte sind folglich nicht nur verkörpert und materiell, sondern haben auch weitreichend ethische und politische Konsequenzen. Figuren und Figurationen stellen in diesem Sinne performative Bilder dar. Sie sind in den Worten Haraways „verdichtete Kartographien anfechtbarer Welten mit der Macht festgefahrene Identitäten und Gewissheiten aufzusprengen“.15 Wenngleich Figuren Bilder sind, bedeutet dies nicht, dass sie lediglich prä-existente Phänomene repräsentieren oder gar spiegeln würden. Vielmehr sind Figuren stets auch performativ und daher generativ.16 Im Folgenden möchte ich für ein Verständnis des Apparates körperlicher Produktion plädieren, das der lateinischen Bedeutung des Begriffs des Apparates folgend17, Apparate als „generative Orte“ begreift. Zugleich möchte ich einem feministischen „figurellen Realismus“18 die Treue halten und den Apparat körperlicher Produktion auch als eine kritische Erzählfigur begreifen, durch die der Fokus noch stärker auf Fragen körperlicher Materialität und des Werdens-mit-Technik gerichtet wird. Analog zu Haraways Theoretisierung des Wissensobjekts als materiell-semiotischem Akteur möchte ich hierbei nicht eine unmittelbare Präsenz der Apparate körperlicher Produktion als „diskrete Objekte irgendwo dort draußen“19 annehmen. Apparate körperlicher Produktion verweisen weniger auf konkrete Objekte, als vielmehr auf generative, materiell-diskursive Praktiken, durch die auf spezifische Weise rekonfigurierte Körper (die nicht notwendigerweise menschliche sein müssen) und Bedeutungen in ihrer Verschränkung miteinander Gewicht erhalten. Barads Idee folgend, dass Konzepte „materielle Rekonfigurierungen“ sind,20 verweist solch ein Verständnis des Apparates körperlicher Produktion daher auf zweierlei Dinge: Einerseits auf Gegenstände philosophischer Untersuchungen – im Sinne von konkreten „Orten“, an denen biologische, technische, soziale, ökonomische und politische Kräfte intra-agieren und in ihrer spannungsgeladenen Verschränkung ein bestimmtes Phänomen in Kraft setzen – und andererseits auf ein Instrument für technikphilosophische Analysen von Narrativen, die auf Fragen der Macht und des Werdens-mit-Technik fokussieren. Diese Phänomene können auf bestimmte Weise rassialisierte und vergeschlechtlichte Körper im Prozess der Migration und der technowissenschaftlichen Identitätsfeststellung
15 Donna Haraway 1997: Modest_Witness@Second_Millenium.FemaleMan©_Meets_OncoMouse™. Feminism and Technoscience. London und New York: Routledge, 17. 16 Für eine weiterführende Auseinandersetzung mit Haraways methodologischer Verwendung von Figuren vgl. Karin Harrasser 2011: Natur-Kulturen und die Faktizität der Figuration. In: Stephan Moebius und Dirk Quadflieg (Hg.): Kultur. Theorien der Gegenwart. Wiesbaden: Springer, 580–594. 17 Der lateinischen Bedeutung des Wortes nach steht Apparare für etwas hervorbringen, für etwas in Erscheinung bringen. 18 Haraway 1997: Modest_Witness, 12. 19 Haraway 1995a: Die Neuerfindung der Natur, 96. 20 Vgl. Karen Barad 2003: Posthumanist Performativity. Toward an Understanding of How Matter Comes to Matter. In: Signs. Journal of Women in Culture and Society 28 (3), 801–831.
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sein21 ebenso wie Körper im medizinischen oder künstlerischen Kontext – wie ich im folgenden Abschnitt am Beispiel einer Performance-Installation des Künstler_innenduos hoeb/hoelb veranschaulichen werde. In jedem Fall verlangt solch ein zweifaches Verständnis des Apparates körperlicher Produktion – als analytisches Instrument und als kritische Erzählfigur – nicht nur nach einer veränderten Epistemologie, welche das Objekt des Wissens als aktiv involviert in den Prozessen wissenschaftlicher Erkenntnisproduktion begreift, sondern auch nach einem relationalen Verständnis von Ontologie. Das modernistische Verständnis von Ontologie als etwas Gegebenem und Unveränderlichem wird zugunsten eines Verständnisses aufgebrochen, welches Ontologie als Effekt von Intra-Aktionen menschlicher und nicht-menschlicher Entitäten (organischer ebenso wie technischer, diskursiver und textueller) verhandelt. Mit der Folge, dass Ontologie als niemals solide und festgeschrieben, sondern vielmehr als konstant in Bewegung und folglich als stets umkämpftes Terrain neuverhandelt wird. Ich denke, dass solch eine Konzeption des Apparates körperlicher Produktion als eine technikphilosophische Erzählfigur und als ein Instrument für die Untersuchung von Prozessen des Werdens-mit-Technik ein Verständnis davon bereitstellen könnte, wie auf bestimmte Weise materialisierte Körper durch bestimmte generative materiell-diskursive Praktiken, also Apparate körperlicher Produktion, in Kraft gesetzt werden, und von denen sie in ihrer spezifischen Materialität und Bedeutung nicht getrennt werden können. Mehr noch, verspräche solch ein Zugang den sich verändernden Topologien der Macht Rechnung zu tragen, ohne dabei aber Körper auf bloß passive Rezeptoren der Macht oder auf bloße Leinwände zu reduzieren, die rein sozial und kulturell mit Bedeutungen aufgeladen werden.
III. Verschränkungen von Gewicht: Zur Arbeit training von hoelb/hoeb In der Performance-Installation training: Spielstätten für einen inklusiven Humanismus im Künstlerhaus Wien sowie in ihren Fortsetzungen in Leipzig und Mannheim setzt sich das Künstler_innenduo hoelb/hoeb mit der Frage nach dem Verhältnis von Körper und Technik ebenso wie mit Prozessen technischer und technowissenschaftlicher Disziplinierung, Rekonfigurierung und Modulierung materieller Körper auseinander. Aus den vielen technischen Dingen, scheinbar alltäglichen Gegenständen, medizinischen Geräten und Kunstwerken sticht eines sowohl in seiner Platzierung im Raum als auch in seiner Wirkmächtigkeit besonders hervor. Mitten im Installationsraum befindet sich ein 21 Für eine weiterführende Diskussion und Anwendung des Konzepts mit Blick auf Fragen der Macht und Politik vgl. Josef Barla (im Erscheinen): Technologies of Failure, Bodies of Resistance. Science, Technology, and the Mechanics of Materializing Marked Bodies. In: Victoria Pitts-Taylor (Hg.): Mattering. Feminism, Science, and Materialism. New York: New York University Press.
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wesentlich kleinerer, quadratischer Raum. In diesem Raum schwebt auf eine seltsam beunruhigende Art ein Intensivbett in schiefer Lage über den Köpfen der Besucher_innen hinweg. Schläuche und Kabel bilden ein netzwerkartiges Geflecht zwischen dem Bett, den Pumpen und Monitoren sowie anderen Maschinen. Einander überlagernd und miteinander verknotet, münden die Kabel- und Schlauchstränge schließlich in den Perfusor® – eine Vorrichtung aus mikroprozessorgesteuerten Infusionsspritzpumpen, die der automatischen und kontinuierlichen intravenösen Verabreichung von Medikamenten an den Körper der (hier nicht vorhandenen) Patientin dienen und dabei einen closed loop bilden. Beständig ist in regelmäßigen Abständen das rhythmische Piepsen der Maschinen zu vernehmen, das sich zusammen mit dem Hintergrundgeräuschen und dem Piepsen der elektrischen Plastikvögel, die auf den Bettrahmen montiert wurden, nach einer Weile zu einem amorphen Rauschen verbindet. Durch die Geräusche der Instrumente und Pumpen scheint das Bett auf eine eigentümliche Art zu atmen und zu leben. Der Körper ist abwesend und scheint doch allgegenwärtig zu sein. Mit Blick auf das Kunst-Ding verschwimmt die Grenze zwischen Technik und Körper, zwischen dem Artifiziellen, Mechanischen und dem Natürlichen, Organischen. Wie die anwesenden Krankenpfleger_innen zu berichten wissen, fühlen die Wachkoma patient_innen, die unter bestimmten Umständen Teil dieser Apparatur sind, zwar das Gewicht ihres Kopfes, aber nicht das des restlichen Körpers. „Eingeschlossen“ im eigenen Körper scheint sich dieser doch auf eine eigentümliche Weise in den Raum hinaus auszudehnen. Die Grenze zwischen Innen und Außen, Selbst und Anderem verschwimmt auf mehren Ebenen. So ist man auch als Besucher_in der Performance-Installation „hineingeworfen“ in ein setting in dessen offenen Räumen performance acts, technische und vermeintlich alltägliche Dinge, scheinbar Banales ebenso wie Bedeutsames, Kunstwerke sowie die Expert_innen und Besucher_innen aufeinanderprallen, sich vermischen und neue produktive Gefüge eingehen. „Warum sollten unsere Körper an unserer Haut enden oder bestenfalls andere von Haut umschlossene Entitäten umfassen“,22 fragt sich Donna Haraway Mitte der 1980er Jahre in ihrem „Manifest für Cyborgs“. Technik und Körper scheinen für Haraway am Ende des 20. Jahrhunderts unlösbar miteinander verbunden zu sein. Was aber, wenn es sich hierbei weniger um eine Frage der Verbindung als um eine der Verschränkung handelt? Was, wenn es sich weniger um eine Frage epistemologischer Unschärfe als vielmehr um eine Frage ontologischer Unbestimmtheit handelt, die hier hervortritt? Unbestimmtheit ist nicht zu verwechseln mit Unschärfe. Der Begriff der Unbestimmtheit oder „Unentscheidbarkeit“ in den Worten der Philosophen Gilles Deleuze und Félix Guattari betont nicht so sehr, dass wir (noch) nicht wissen könnten, wo der Körper endet und die Technik beginnt, sondern, dass man niemals im Vorhinein und ein für alle Mal eine ontologische Grenze zwischen Technik und Körper, Artifiziellem und Organischem festlegen könnte. Vielmehr materialisieren sich bestimmte Grenzen und erlan22 Haraway 1995a: Die Neuerfindung der Natur, 68.
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gen bestimmte Eigenschaften und Fähigkeiten erst durch bestimmte wirkmächtige, materiell-diskursive Praktiken Bedeutung; Praktiken, an denen eben nicht nur menschliche, sondern auch nichtmenschliche und mithin diskursive und textuelle Aktanten teilhaben. Anstatt lediglich miteinander verbunden zu sein – aber weiterhin ontologisch verschiedene Sphären zu bilden – befinden sich Technik und Körper, Organismus und Maschine vielmehr in einem Verhältnis der Unbestimmtheit zueinander. Nicht nur, dass solch ein Zugang die binäre Opposition von Technik und Körper auf eine Weise umgeht, dass sich weder der Körper der Technik, noch die Technik dem Körper als „das Andere“ oder ein „Außen“ gegenüberstellen lässt, durchkreuzt solch eine Perspektive auch die Vorstellung einer binären Opposition von Organischem und Artifiziellem, Original und (illegitimer) Kopie. Betrachtet man den ganzen Apparat, das ganze Gefüge, auf das das schwebende Bett als performatives Kunst-Ding verweist, wird sichtbar, dass es weder der Körper der Wachkomapatientin noch die Maschine ist, die atmen und die Patientin am Leben erhalten, sondern ein materiell-diskursiver Apparat, bestehend aus biologischen Organen, dem Körper der Patientin, technischen Dingen, juristischen Agenturen und Gesetzen, moralischen Satzungen, medizinischen Praktiken und vielem mehr. Vor solch einem theoretischen Hintergrund verschiebt sich auch die Frage der agency hin von einer humanistischen zu einer posthumanistischen oder parahumanistischen Konzeption. Weder Subjekte noch Körper oder Technologien besitzen einfach agency und handeln, sondern Gefüge, Verschränkungen heterogener Entitäten. Mehr noch: Es wird sichtbar und erfahrbar, dass wir stets auf unterschiedliche Weise verkörpert sind. Damit wird auch deutlich, dass die Rede von „objektiven Körpergrenzen“ genau diese Tatsache ignoriert; ebenso wie die Tatsache, dass Körper-im-Werden stets Teil der Apparate körperlicher Produktion sind, durch die sie in Kraft gesetzt werden.23 Das Intensivbett – kulturelles Symbol für einen bedrohlichen Ausnahmezustand – ist hier nicht das Fremde, es ist nicht das technische, dinghafte Andere zum eigenen Köper, vielmehr wird es als Teil des Körpers sichtbar, so wie beides – Körper und Bett – wiederum als Teil eines Apparates erscheinen, durch den erst der auf mehreren Ebenen re(kon)figurierte Körper der Wachkomapatientin materiell-diskursiv hergestellt wird. Das Dazwischen kommt zuerst. Die Verhältnisse kommen zuerst. Relationen gehen ihren Relata voraus und nicht umgekehrt, wie es Karen Barad in ihrer Theorie des agentiellen Realismus betont. Gilles Deleuze argumentiert bezugnehmend auf Spinozas Ethik, dass nicht so sehr die Frage danach, was ein Körper sei und wo dessen Grenzen liegen würden, die wichtige sei, sondern die Frage, „was der Körper alles vermag“.24 Das Kunst-Ding in hoelb/ 23 Aus diesem Grund betont Haraway auch, dass „Situierung niemals selbstevident, niemals ‚konkret‘ ist“. Situierung handelt über Körper-im-Werden, nicht so sehr über vermeintlich fertige und abgeschlossene Körper. Vgl. Donna Haraway 1994: A Game of Cat’s Craddle. Science Studies, Feminist Theory, Cultural Studies. In: Configurations: A Journal of Literature and Science 1, 59–71, hier 67. Übersetzung d.A. 24 Gilles Deleuze 1988: Spinoza. Praktische Philosophie. Berlin: Merve Verlag, 27.
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hoebs Perfomance-Installation – verstanden als ein Apparat körperlicher Produktion, im Sinne eines „Ortes“ an dem das Biologische, Organische, Technische, Materielle, Diskursive, Textuelle, Ökonomische, Künstlerische und Politische intra-agieren und so ein bestimmtes Phänomen hervorbringen und zugleich auch als eine Erzählfigur – verdeutlicht in diesem Sinne, dass wir erst dann wissen, was ein Körper oder vielleicht besser ein Technokörper alles vermag, wenn wir aufhören, Technik und Körper als zwei voneinander getrennte ontologisch distinktive Sphären zu begreifen. Erst indem wir den Blick auf konkrete Apparate, Gefüge, Verschränkungen verlegen und dabei eine Perspektive einnehmen, die das Verhältnis von Technik und Körper als ein Verhältnis, das durch Un/Bestimmtheit gekennzeichnet ist, begreifen, hören wir auf, einem Gespenst hinterherzulaufen, und können uns stattdessen der Frage zuwenden, wie Grenzen und Bedeutungen, aber auch auf bestimmte Weise re(kon)figurierte Körper jeweils temporär und lokal in Kraft gesetzt werden, welche Rolle diesen hierbei selbst zukommt, und damit was ein Körper – oder besser ein Technokörper – alles vermag.25 Dies bedeutet jedoch weder, Technologien und Körper in eins zu setzen, noch soll solch eine Perspektive als gleichgültig allen möglichen Formen der Verschränkungen, die konkrete Technologien und Körper eingehen können, missverstanden werden – insbesondere jenen gegenüber, die im Dienste des globalen Technobiokapitalismus stehen. Vielmehr stehen in Technik-Körper-Verschränkungen stets weitreichende Fragen der Ethik und Politik auf dem Spiel, und damit nichts Geringeres als die Frage: „who lives, who dies, and at what price—these political questions are embodied in technoculture“.26 Wenn es um Technik und Körper in ihren Verschränkungen geht, sind wir stets auf mehrfache Weise „immer mittendrin“27 und damit mitverantwortlich.
25 In eine ähnliche Richtung argumentiert Karin Harrasser, für die das Aufeinandertreffen von Technologien und Körpern stets im Futurum perfektum gelesen werden sollte. Das heißt, dass man stets erst im Nachhinein wissen kann, was ein Technokörper – der nie ein losgelöster, völlig souveräner und in sich abgeschlossener Körper ist – tatsächlich vermag und wo dessen Grenzen sind. 26 Donna Haraway und Hari Kunzru 1997: You Are Cyborg. Interview With Donna Haraway. In: Wired. Online. http:www.wired.com/1997/02/ffharaway. [25. Februar 2016]. 27 Haraway 1995a: Die Neuerfindung der Natur, 103; vgl. auch Mona Singer 2003: Wir sind immer mittendrin. Technik und Gesellschaft als Koproduktion. In: Sigrid Graumann und Ingrid Schneider (Hg.): Verkörperte Technik – entkörperte Frau. Biopolitik und Geschlecht. Frankfurt a.M.: Campus, 110–124.
Verzeichnis der Autorinnen und Autoren
Christoph Asmuth ist seit 2009 apl. Professor an der Technischen Universität Berlin. Er wurde an der Ruhr-Universität Bochum mit einer Arbeit zum Verhältnis von Philosophie und Religion bei Johann Gottlieb Fichte promoviert. Er leitete von 2009 bis 2012 das BMBF-Projekt „Translating Doping – Doping übersetzen“. Seit 2013 ist er der Leiter des BMBF-Verbundprojektes „Anthropofakte. Schnittstelle Mensch“. Publikationen (Auswahl): Irrationalität. Schattenseite der Moderne? (Kultur – System – Geschichte, 6). Würzburg 2014. Entgrenzungen des Machbaren? Doping im Schnittfeld zwischen Recht und Moral. Hg. zusammen mit Christoph Binkelmann (Brennpunkt Doping. Die Macht des Machbaren und der moderne Mensch, 1). Bielefeld 2012. Josef Barla studierte Wissenssoziologie und Technikphilosophie an der Universität Wien. Von 2012 bis 2013 war er Gastforscher am Science and Justice Research Center an der University of California, Santa Cruz, und 2015 am Posthumanities Hub an der Linköping University. Seit 2013 Lehrtätigkeit an der Universität Wien. Publikationen (Auswahl): ,Ihr wortlos Lied, vielstimmig, scheinbar eins‘. Die Frage nach dem Politischen in Bruno Latours Technikphilosophie. In: Mona Singer (Hg.): Technik und Politik. Wien 2015, 88–115. Technologies of Failure, Bodies of Resistance. Science, Technology, and the Mechanics of Materializing Marked Bodies. In: Victoria Pitts-Taylor (Hg.): Mattering: Feminism, Science and Materialism. New York 2016, 212–231. Ulrike Bergermann ist Professorin für Medienwissenschaft an der Hochschule für Bildende Künste Braunschweig. Ihre Dissertation handelt von der Frage, wie die Verschriftlichung von Gebärdensprache ein wissenschaftliches Objekt werden könnte. Im Jahr 2013 gab sie einen Sammelband zu den zahlreichen Fotografien heraus, die die Taubblinde US-Amerikanerin Helen Keller als „super crip“ zeigen. Ihre Forschungsschwerpunkte sind Gender und Postcolonial Studies.
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Verzeichnis der Autorinnen und Autoren
Publikationen (Auswahl): total. Universalismus und Partikularismus in post_kolonialer Medienwissenschaft. Hg. zusammen mit Nanna Heidenreich. Bielefeld 2015. Disability Trouble. Ästhetik und Bildpolitik bei Helen Keller. Berlin 2013. Klaus Birnstiel ist wissenschaftlicher Assistent für Neuere Deutsche Literaturwissenschaft an der Universität Basel (Schweiz). Studium der Neueren Deutschen Literatur, Geschichte und Philosophie an der Ludwig-Maximilians-Universität München, Promotion daselbst 2012. Forschungsschwerpunkte: Poststrukturalistische Theorie, Literatur des 18. Jahrhunderts, Sexualität und Behinderung. Publikationen (Auswahl): Wie am Meeresufer ein Gesicht im Sand. Eine kurze Geschichte des Poststrukturalismus. Paderborn 2016. Literatur und Theorie seit der Postmoderne. Hg. zusammen mit Erik Schilling, mit einem Nachwort von Hans Ulrich Gumbrecht. Stuttgart 2012. Kenny Fries ist Schriftsteller, er lebt und arbeitet momentan in Berlin an einem Buch, das sich mit der Geschichte und Gegenwart von Behinderung in Deutschland beschäftigt. Er schloss ein Studium an der Columbia University‘s School for the Arts mit einem MFA ab. Derzeit unterrichtet er im Creative Writing Program am Goddard College, Plainfield, USA. Für seine Arbeiten hat er verschiedene Preise und Auszeichnungen erhalten, u.a. den Gregory Kolovakos Award, den Gustavus Myers Outstanding Book Award, den Creative Capital Grant in Innovative Literature. Publikationen (Auswahl): The History of My Shoes and the Evolution of Darwin’s Theory. Carroll and Graf 2007. Body, Remember: A Memoir. Dutton 1997; Plume Paperback 1998; New Edition: University Of Wisconsin Press 2003. Petra Gehring ist seit 2002 Professorin für Philosophie an der Technischen Universität Darmstadt. Sie studierte Philosophie, Politikwissenschaften und Rechtswissenschaft in Gießen, Marburg und Bochum. Magister 1988, Promotion 1992, Habilitation 2000. Forschung und Lehre an den Universitäten Bochum und Hagen. Publikationen (Auswahl): Theorien des Todes: Zur Einführung. Hamburg 2010, 2. Aufl. 2011, 3. Aufl. 2013. Was ist Biomacht? Vom zweifelhaften Mehrwert des Lebens. Frankfurt a.M./New York 2006.
Verzeichnis der Autorinnen und Autoren
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Karin Harrasser ist Professorin für Kulturwissenschaft an der Kunstuniversität Linz. Sie wurde 2005 an der Universität Wien mit einer Dissertation zu „Computerhystorien. Erzählungen der digitalen Kulturen um 1984“ promoviert. 2014 Habilitation an der Humboldt-Universität zu Berlin. Zu ihren Forschungsschwerpunkten gehören: Körper-, Selbst- und Medientechniken, Prozesse der Verzeitlichung, Theorien des Subjekts/der Objekte, Populärkultur/Science-Fiction, Geschlecht und agency, Genres und Methoden der Kulturwissenschaft. Gemeinsam mit Elisabeth Timm gibt Karin Harrasser die Zeitschrift für Kulturwissenschaften heraus. Publikationen (Auswahl): Prothesen. Figuren einer lädierten Moderne. Berlin 2016. Körper 2.0. Über die technische Erweiterbarkeit des Menschen. Bielefeld 2013. hoelb/hoeb. Seit 2000 arbeiten Barbara Hölbling und Mario Höber unter dem Namen hoelb/hoeb zusammen. Ihre künstlerische Arbeit konzentriert sich auf langfristige, inter-, und transdisziplinäre Projekte, die das Ziel verfolgen, Kommunikationsräume zu generieren und eine breite Öffentlichkeit in komplexe Debatten zu involvieren. Methodisch kommen dabei Verfahren zum Einsatz, die künstlerische Ausdrucksmittel wie Film/ Video, Installation mit Aufführungspraktiken kombinieren. Ausstellungen und Eigenproduktionen wurden bei Image-tanz Wien (training I/2015), der Galerie für zeitgenössische Kunst Leipzig (training II/2015), dem Performance Festival Wunder der Prärie Mannheim (training III/2015) beim steirischen herbst (closelink/2013) und beim Festival Regionale (hosted/2008) gezeigt. Thomas Macho ist seit 1993 Professor für Kulturgeschichte an der Humboldt-Universität zu Berlin. Er ist Mitbegründer des Hermann von Helmholtz-Zentrums für Kulturtechnik an der Humboldt-Universität und seit 2016 Direktor des „Internationalen Forschungszentrums Kulturwissenschaften“ in Wien. Seine Forschungsschwerpunkte sind u.a. die Kulturgeschichte des Todes und der Mensch-Tier-Beziehung, die Bedeutung der Religion in modernen Gesellschaften und die Geschichte der Rituale. Publikationen (Auswahl): Vorbilder. München 2011. Das Leben ist ungerecht. St. Pölten/Salzburg 2010. Beate Ochsner ist seit 2008 Professorin für Medienwissenschaft an der Universität Konstanz. Seit 2015 ist sie Sprecherin der DFG-Forschergruppe „Mediale Teilhabe. Partizipation zwischen Anspruch und Inanspruchnahme“. Ihre Forschungsschwerpunkte sind: Audiovisuelle Produktion von Dis/Ability, mediale Teilhabe, audiovisuelle Praktiken des Sehens und Hörens, Monster und Monstrositäten, (Inter-)Medialität.
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Publikationen (Auswahl): Teilhabeprozesse oder: Das Versprechen des Cochlea-Implantats. In: AugenBlick. Konstanzer Hefte zur Medienwissenschaft 58, 2013. Themenheft: Objekte medialer Teilhabe. Hg. von Beate Ochsner, Isabell Otto, Markus Spöhrer, 112–123. Ich wollte, Sie könnten das auch einmal sehen. Fini Straubinger. Zum Widerstand der Bilder in Land des Schweigens und der Dunkelheit. In: Anna Grebe, Beate Ochsner (Hg): Andere Bilder. Zur Produktion von Behinderung in der visuellen Kultur. Bielefeld 2013, 261–281. Enno Park studierte Wirtschaftsinformatik und arbeitet heute in Berlin als Journalist, spezialisiert auf Internet- und Technologie-Themen. Nach über 20 Jahren an der Grenze zur Gehörlosigkeit bekam er Cochlea-Implantate, die nicht nur sein Gehör wiederherstellten, sondern auch Auslöser waren für die Auseinandersetzung mit der Verschmelzung von Mensch und Technologie, die unter anderem zur Gründung des Cyborgs e.V. führte. Publikationen (Auswahl): Ethical Issues in Cyborg Technology: Diversity and Inclusion. In: NanoEthics 8 (3), 2014, 303–306. Die Abschaffung der Behinderung. In: Jungle World Nr. 2, 9. Januar 2014. Susanne Roeßiger ist Kulturwissenschaftlerin, seit 1993 Leiterin der Abteilung Sammlung des Deutschen Hygiene-Museums. Sie war in verschiedenen Ausstellungs- und Forschungsprojekten des Museums tätig. Seit August 2013 leitet sie das Teilprojekt „Anthropofakte. Schnittstelle Mensch.“ im Deutschen Hygiene-Museum. Sie ist Mit autorin der vom Deutschen Museumsbund 2013 herausgegebenen „Empfehlungen zum Umgang mit menschlichen Überresten in Museen und Sammlungen“. Publikationen (Auswahl): Ein Speicherort für Körpergeschichte. Die Sammlung des Deutschen Hygiene-Museums. In: Sybilla Nikolow (Hg.): Erkenne Dich selbst! Strategien der Sichtbarmachung im 20. Jahrhundert (Schriftenreihe des Deutschen-Hygiene-Museums, 11). Wien/Köln/ Weimar 2015, 105–117. Körpergeschichten. Eine Sammlung zur Prothetik. Hg. zusammen mit Annika WellmannStühring (Sammlungsschwerpunkte, 5). Dresden 2016. Dierk Spreen ist Soziologe und Politologe. Er lebt in Berlin und befasst sich mit Fragen der Technisierung und Medialisierung der Gesellschaft und des Körpers. Er arbeitet außerdem zu Fragen der Sicherheit, sowie zu den Problembereichen Gewalt und Krieg. Unter anderem ist er Mitglied im Redaktionskreis der Zeitschrift „Ästhetik & Kommunikation“, Vorstandsmitglied in der „Gesellschaft für Kultur und Raumfahrt e.V.“ und im „Arbeitskreis Sicherheitspolitik der SPD Berlin“.
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Publikationen (Auswahl): Upgradekultur. Der Körper in der Enhancement-Gesellschaft. Bielefeld 2015. Soziologie der Weltraumfahrt. Zusammen mit Joachim Fischer. Bielefeld 2014. Jürgen Tchorz ist seit 2005 Professor für Hörakustik an der Fachhochschule Lübeck. Er studierte Physik an der Universität Oldenburg und am University College Galway. In seiner Promotion beschäftigte er sich mit Verfahren zur Spracherkennung und Störgeräuschunterdrückung, welche sich an Eigenschaften des menschlichen Gehörs orientieren. Seine Forschungsschwerpunkte sind Hörsystemtechnik, Audiologie und Psychoakustik. Publikationen (Auswahl): Directional benefit for listeners with severe-profound hearing losses. Coauthor: B. Gabriel. In: The Hearing Review 57 (9), 2004, 46–47. SNR estimation based on amplitude modulation analysis with applications to noise suppression. Coauthor: B. Kollmeier. In: IEEE Transactions on Speech and Audio Processing 11 (3), 2003, 184–192.
Nachweis der Bilder
S. 18 Żmijewski „An Eye for an Eye“: Courtesy the artist and Galerie Peter Kilchmann, Zürich S. 31 Gläserne Frau: Stiftung Deutsches Hygiene-Museum, Foto Werner Lieberknecht S. 66 Cochlea-Implantat: Stiftung Deutsches Hygiene-Museum, Foto Thomas Bruns S. 104 Röntgenbild: Foto privat S. 118 Wekua „Some Pheasants in Singularity“: Foto Stephen White S. 154 Foto Thorsten Mitsch S. 156 oben und S. 157 oben: Fotos Julia Rößner S. 156 unten: Foto Wolfgang Silveri S. 157 unten: Foto hoelb/hoeb
HANNA ENGELMEIER
DER MENSCH, DER AFFE ANTHROPOLOGIE UND DARWINREZEPTION IN DEUTSCHLAND 1850–1900
Die Darwinsche Evolutionstheorie hat die These populär gemacht, dass der Mensch vom Affen abstamme, obwohl Darwin selbst davon kaum gesprochen hat. Insbesondere innerhalb der deutschen Anthropologie wurde diese Idee im 19. Jahrhundert aufgeregt debattiert. Die moderne Anthropologie konstruierte sich ihren Gegenstand von nun an neu. Wie es dazu kam, steht im Zentrum dieses Buches. Es verfolgt die Karriere einer These, die in Wissenschaft, Literatur und Kunst gleichermaßen zu Abwehrreaktionen und zu Begeisterung führte: Ab jetzt steht fest, dass die Frage danach, was der Mensch ist, nur mit Blick auf seine mehr oder weniger unheimlichen Doubles gestellt werden kann. 2016. 373 S. 34 S/W- UND 10 FARB. ABB. GB. 155 X 230 MM. ISBN 978-3-412-50146-4
böhlau verlag, ursulaplatz 1, d-50668 köln, t: + 49 221 913 90-0 [email protected], www.boehlau-verlag.com | wien köln weimar
LINDA RATSCHILLER, SIEGFRIED WEICHLEIN (HG.)
DER SCHWARZE KÖRPER ALS MISSIONSGEBIET MEDIZIN, ETHNOLOGIE UND THEOLOGIE IN AFRIKA UND EUROPA 1880–1960
Der Körper ist ein Ort, an dem religiöse Identitäten und gesellschaftliche Wissensbestände entstehen. Der Band verbindet Missions-, Religions- und Wissensgeschichte. Er untersucht den missionarischen Blick auf den schwarzen Körper. Wie waren Mission, Körper und Wissen zwischen 1880 und 1960 miteinander verflochten? Bereits im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts vermittelten europäische Missionare ihre religiöse Botschaft in Afrika über Körperpraktiken. Gleichzeitig trugen die Missionare als globale Akteure zur Erzeugung von Wissen in der Medizin, der Ethnologie und der Theologie bei. Welche Verbindungen gingen missionarisches, medizinisches, spirituelles und akademisches Wissen über den Körper in der Arbeit der Missionare ein? 2016. 189 S. 20 S/W-ABB. BR. 155 X 230 MM. | ISBN 978-3-412-50166-2
böhlau verlag, ursulaplatz 1, d-50668 köln, t: + 49 221 913 90-0 [email protected], www.boehlau-verlag.com | wien köln weimar
SCHRIF TEN DES DEUTSCHEN HYGIENE-MUSEUMS DRESDEN HERAUSGEGEBEN VON GISELA STAUPE
EINE AUSWAHL
BD. 8 | KARL-SIEGBERT REHBERG,
BD. 3 | HARTMUT BÖHME, FRANZ-THEO
K ULTURALSCHANCE
GOTTWALD, THOMAS MACHO, LUDGER
KONSEQUENZENDES
SCHWARTE, CHRISTOPH WULF,
DEMOGRAFISCHENWANDELS
GISELA STAUPE, RALPH LINDNER (HG.)
CHRISTIAN HOLTORF (HG.)
2011. 189 S. 22 S/W-ABB. BR.
T IERE
ISBN 978-3-412-20681-9
E INEANDEREANTHROPOLOGIE 2004. 329 S. 37 S/W-ABB. BR. ISBN 978-3-412-16003-6
BD. 9 | ANJA TERVOOREN, JÜRGEN WEBER (HG.) W EGEZURKULTUR
BD. 4 | ANKE TE HEESEN,
BARRIERENUNDBARRIEREFREIHEIT
PETRA LUTZ (HG.)
INKULTUR-UNDBILDUNGS-
D INGWELTEN
EINRICHT UNGEN
DASMUSEUMALSERKENNTNISORT
2012. 295 S. 26 S/W-ABB. BR.
2005. 194 S. 8 S/W- UND 43 FARB. ABB.
ISBN 978-3-412-20784-7
AUF 30 TAF. BR. | ISBN 978-3-412-16604-5 BD. 10 | GISELA STAUPE (HG.) BD. 5 | HANS JOAS (HG.)
DASMUSEUMALSLERN-UND
D IEZEHNGEBOTE
ERFAHRUNGSRAUM
E INWIDERSPRÜCHLICHESERBE?
GRUNDLAGENUNDPRAXISBEISPIELE
2006. 188 S. BR. | ISBN 978-3-412-36405-2
2012. 168 S. 49 FARB. ABB. BR. ISBN 978-3-412-20954-4
BD. 6 | CHRISTIAN HOLTORF, CLAUS PIAS (HG.)
BD. 11 | SYBILLA NIKOLOW (HG.)
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S TRATEGIENDERSICHTBARMACHUNG
2007. 295 S. 24 S/W-ABB. BR.
DESKÖRPERSIM20.JAHRHUNDERT
ISBN 978-3-412-01706-4
2015. 391 S. 54 FARB. UND 71 S/W-ABB. BR. | ISBN 978-3-412-22380-9
TR808
BD. 7 | KLAUS-DIETMAR HENKE (HG.) TÖDLICHEMEDIZINIM
BD. 12 | KARIN HARRASSER,
NATIONALSOZIALISMUS
SUSANNE ROESSIGER (HG.)
VONDERRASSENHYGIENEZUM
PARAHUMAN
MASSENMORD
2016. 180 S. 11 FARB. ABB. BR.
2008. 342 S. BR. | ISBN 978-3-412-23206-1
ISBN 978-3-412-50518-9
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