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German Pages 404 [406] Year 2018
cristian criste
criste · Voluntas auditorum ohl kaum eine Institution der römischen Republik hatte größere Macht über das Ansehen und das Schicksal von Bürgern unterschiedlichster Gesellschaftsschichten als die Gerichtshöfe des letzten vorchristlichen Jahrhunderts. Zugleich haben wenige Institutionen der Zeit mit Blick auf ihre Funktionsweise und Zielsetzung größere Forschungskontroversen ausgelöst. Das Buch rückt die Frage nach dem ›Sinn‹ der spätrepublikanischen quaestiones in den Vordergrund, indem es diesen in den kulturspezifischen Wahrnehmungsformen sucht, die das Verhalten der Akteure determinieren. Verteidiger, Ankläger und Richter werden als aufeinander bezogene und streng normierte Rollen begriffen, deren Zusammenspiel eine eminente sinnstiftende Funktion erfüllt. Die Rezeption neuerer Emotionstheorien enthüllt dabei auch die Stabilisierungsleistung der affektiven Kundgebungen und fördert das komplexe Bild eines Systems zutage, dessen normative Verankerung in den Dienst der übergeordneten Sinnmuster gestellt wird.
criste
Voluntas auditorum
Voluntas auditorum Forensische Rollenbilder und emotionale Performanzen in den spätrepublikanischen quaestiones
Universitätsverlag
isbn 978-3-8253-6907-1
win t e r
Heidelberg
kalliope Studien zur griechischen und lateinischen Poesie Band 15
cristian criste
Voluntas auditorum Forensische Rollenbilder und emotionale Performanzen in den spätrepublikanischen quaestiones
Universitätsverlag
winter
Heidelberg
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.
Zugl.: München; Univ., Diss., 2015
umschlagbild L’Arringatore (»Der Redner«), etruskische Bronzestatue, ca. 100 v. Chr. su concessione del Ministero dei Beni e delle Attività Culturali e del Turismo – Polo Museale della Toscana – Firenze
isbn 978-3-8253-6907-1 Dieses Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. © 2018 Universitätsverlag Winter GmbH Heidelberg Imprimé en Allemagne · Printed in Germany Druck: Memminger MedienCentrum, 87700 Memmingen Gedruckt auf umweltfreundlichem, chlorfrei gebleichtem und alterungsbeständigem Papier. Den Verlag erreichen Sie im Internet unter: www.winter-verlag.de
Inhaltsverzeichnis Vorwort................................................................................................... 9 I
Einleitung................................................................................... 11 α β γ δ ε
II
Officium facultatis oratoriae .............................................................. 11 Der wissenschaftsgeschichtliche Hintergrund .................................... 22 Methode ............................................................................................. 29 Fragestellung und Gliederung der Arbeit ........................................... 31 Forschung........................................................................................... 40
Intradisziplinäres Präludium: Die kulturellen Grundlagen der quaestio und das Problem der Publikation................................. 49 1 2
Kulturelle Rahmenbedingungen des römischen Prozesses ................. 49 Die Relevanz der publizierten Fassungen........................................... 62
Erster Teil: Forensische Rollenbilder III
Interdisziplinäres Präludium: Normen, Rollen und die antiken Pendants..................................................................................... 73
IV
Die Hauptdarsteller der Gerichtsverhandlung: patronus und accusator ................................................................................... 83 1
Kriterien für die Rollenübernahme..................................................... 86 1.1 Motive des Verteidigers................................................................. 86 1.1.1 Entwicklung des republikanischen Gerichtspatronats......... 86 1.1.2 Die Begründung des Gerichtspatronats............................... 94 1.1.3 Motive im untersuchten Redecorpus................................. 100 1.1.4 Fides und die Prävalenz der Authentizitätsprämisse......... 108 1.2 Die Grenzen der fides .................................................................. 110 1.2.1 Fides vs. res publica ......................................................... 110 Exkurs: Die Konstruktion eines Rollenkonfliktes in der Rosciana .......................................................................... 116
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1.2.2 Die Schuldfrage ................................................................ 121 1.3 Gründe für das Einbringen einer Klage ....................................... 125 1.3.1 Inimicitiae......................................................................... 126 1.3.2 Die Anklage rei publicae causa und eine pragmatische Hierarchie ......................................................................... 133 1.4 Die Devianzen des Anklägers...................................................... 137 1.4.1 Unerwünschte Folgen der Feindschaft.............................. 137 1.4.2 Akkusatorische Iterationen ............................................... 141 1.5 Der Sinn der Rollenübernahme: ein Interpretationsversuch ........ 143 1.5.1 Der Sinn der Anklägerrolle............................................... 143 1.5.2 Der Sinn des Gerichtspatronats......................................... 147 „Altersvorschriften“ im römischen Prozess...................................... 158 2.1 Das Bild des patronus.................................................................. 158 2.2 Die Jugend des Anklägers ........................................................... 161 Anhang: Rollenwechsel in der Rede für Roscius................................. 170 Kontraproduktive Redegabe? Ingenium und dissimulatio artis........ 174 3.1 Der Ruf der Rhetorik ................................................................... 174 3.2 Ingenium: Die Reputation als Redner .......................................... 178 3.3 Dissimulatio artis: Die Normierung der Kunst............................ 185 Auctoritas: Überzeugungskraft und Devianz.................................... 194 4.1 Die Bedeutung der auctoritas im forensischen Kontext .............. 194 4.2 Macht und Ohnmacht der auctoritas ........................................... 200 4.3 Thematisierung der auctoritas..................................................... 203 4.4 Auctoritas vs. libertas.................................................................. 210 Bezugsgruppen des anwaltlichen Verhaltens: Richter und corona... 217 Fazit: Der Sinn der spätrepublikanischen quaestiones ..................... 232
Zweiter Teil: Emotionale Performanzen V
Intermezzo: Gefühle in der Geschichte.................................... 243 1 2 3
VI
Die normative Bedingtheit der Affektivität ............................. 279 1 2
6
Emotionen in den Rhetoriktheorien des Aristoteles und Ciceros: eine kulturgeschichtliche Standortbestimmung ................................ 243 Rationalität der Gefühle – Historizität der Emotionen ..................... 256 Die performative Dimension emotionaler Normen .......................... 273
Emotionen und forensische Praxis ................................................... 279 Verecundia, pudor und das gesellschaftliche Regulativ der Scham............................................................................................... 290 2.1 Definition und gesellschaftliche Funktion der Scham ................. 294
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2.2 Die forensische Bedeutung der Scham ........................................ 303 2.3 Der performative Aspekt ............................................................. 323 2.4 Ausblick ...................................................................................... 326 Die Funktionen der Furcht und der Angst ........................................ 328 3.1 Vereri, timere, metuere: eine Überleitung ................................... 328 3.2 Konzeptionen der Angst .............................................................. 331 3.3 Die Aussagekraft: Furcht als Indikator ........................................ 336 3.4 Die kommunikative Funktion: vom Indikator zum Appell .......... 341 Schluss: Die emotionale Reproduktion der Sinndeutungen .............. 351
Bibliographie....................................................................................... 357 Quellenausgaben, Kommentare, Lexika .................................................... 357 Sekundärliteratur ....................................................................................... 365
Register ............................................................................................... 383 Quellenregister .......................................................................................... 383 Sachregister ............................................................................................... 400
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Vorwort Die vorliegende Untersuchung stellt die überarbeitete Fassung meiner Dissertation dar, die im Sommersemester 2015 von der Fakultät für Geschichts- und Kunstwissenschaften der Ludwig-Maximilians-Universität München angenommen wurde. Mein Interesse für die gesellschaftliche Dimension der antiken Rhetorik geht auf ein Hauptseminar zurück, in dem ich die Gelegenheit hatte, mich näher mit den attischen Gerichtsverfahren zu beschäftigen. Dem damaligen Seminarleiter und meinem späteren Doktorvater, Prof. Dr. Jens-Uwe Krause, der die unzähligen thematischen Wendungen, die diese Arbeit genommen hat, stets mit Geduld und Wohlwollen begleitet hat, gilt somit in doppelter Hinsicht ein großer Dank. Prof. Dr. Werner Tietz bin ich für die Übernahme des Korreferates wie auch für die vielen wertvollen Hinweise sehr dankbar. Prof. Dr. Roland Kany, der nicht nur das Nebenfach im Rahmen der Disputatio vertreten hat, sondern mir vor allem durch sein Engagement und seine Ratschläge während meiner Studien- und Promotionszeit – menschlich wie fachlich – stets ein großes Vorbild war, gilt ein besonderer Dank. Bei Dr. Raphael Brendel möchte ich mich für seine tatkräftige Unterstützung in den unterschiedlichsten Phasen meiner Dissertation auf das Herzlichste bedanken. Für die Aufnahme in die Kalliope-Reihe und die redaktionelle Betreuung ist Dr. Andreas Barth und Gisbert Pisch zu danken. Unverzichtbar für das Gelingen des Projekts war jedoch der Einsatz derjenigen Personen, die für das förderliche Umfeld gesorgt haben, in dem dieses entstehen konnte, und denen mein besonderer Dank gilt. Meine Eltern haben bereits früh die Grundlagen gelegt, die es mir ermöglicht haben, meine wissenschaftlichen Interessen zu erkunden und diesen nachzugehen, und sie ließen mir auf diesem Weg ihre ganze Unterstützung zuteilwerden. Meine Frau, Diana, deren Opferbereitschaft der letzten Jahre nie angemessen vergolten werden kann, begleitete den Entstehungsprozess – mit all seinen Höhen und Tiefen – und linderte
dabei so manche Resignation, die sich am Ende eines langen Arbeitstages eingestellt hatte. Gewidmet sei dieses Buch meinen Großeltern, die dessen Fertigstellung zwar nicht miterleben konnten, deren sapientia und humanitas mir jedoch stets den Weg gewiesen haben. München, im Mai 2018
Der Autor
Semper oratorum eloquentiae moderatrix fuit auditorum prudentia. Omnes enim, qui probari volunt, voluntatem eorum, qui audiunt, intuentur ad eamque et ad eorum arbitrium et nutum totos se fingunt et accommodant.1
I
Einleitung
α
Officium facultatis oratoriae
Die rhetorische Praxis stellt innerhalb des Kanons der für die Rekonstruktion antiker Lebenswelten zur Verfügung stehenden Quellengattungen in gewissem Grade eine singuläre Erscheinung dar. Die weitgehende Unilateralität, die den meisten literarischen Zeugnissen sowie der Symbolik bildlicher Kommunikationsformen innewohnt, und die es dem Autor notfalls erlaubt, subjektive Botschaften selbst gegen den Widerstand des Empfängers zu transportieren, wird im Zuge einer öffentlichen Rede außer Kraft gesetzt. Das Charakteristikum Letzterer bildet ihre vornehmlich persuasive Intention, die sie idealiter zu einem (wenn auch oft fiktiven) Selbstzeugnis normativ erwünschten Verhaltens werden lässt. Wenn Theodor MOMMSEN Cicero einen „pflichtver1
Cic. or. 24: „Stets ist das ausschlaggebende Moment für die Sprache der Redner die Einsichtskraft ihrer Zuhörer gewesen. Jeder nämlich, der Beifall finden möchte, beobachtet die Wünsche seiner Zuhörer, und danach, nach ihrem Wink und Willen, richtet er sich in jeder Weise ein und passt sich an.“ Als Ausdruck des Wohlwollens, das die Prozessparteien für sich gewinnen und dem Gegner entziehen müssen, begegnet uns die voluntas auditorum auch in Cic. inv. 1,24: […] et tamen id obscure faciens, quoad possis, alienes ab eis auditorum voluntatem; vgl. Hellegouarc’h 1963, S. 183, der voluntas als „Geisteshaltung“ („disposition de l’esprit“), die ein konkretes Handeln bewirkt, definiert. Sofern nicht anders vermerkt, folgt die Übersetzung der Zitate den im Quellenverzeichnis angegebenen zweisprachigen Ausgaben. Die Stellen aus dem ciceronischen Redecorpus werden nach Fuhrmann 2000 wiedergegeben.
gessene[n] die Sache stets über dem Anwalt aus den Augen verlierende[n] Egoismus“2 attestiert und des Weiteren schlussfolgert, dass „[w]enn hier etwas wunderbar ist, so sind es wahrlich nicht die Reden, sondern die Bewunderung, die dieselben fanden“,3 dann spricht er dem Hörer implizit den Willen ab, ein wesentliches Prärogativ seiner gesellschaftlichen Funktion durchzusetzen: die inhaltliche sowie in jeder Hinsicht „ästhetische“ Sanktionierung der rhetorischen Leistung.4 Die 2 3 4
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Mommsen 1922, S. 620. Ebd., S. 621. Der ästhetische Aspekt betrifft in der rhetorischen Theorie zuvorderst die (meist unbewusste) Rezeption der sprachlich-stilistischen Elemente der Rede (vgl. Walker 2015, S. 176). Die Kategorie lässt sich allerdings nur bedingt auf ein antikes Verständnis übertragen, dem die Trennung von „persuasivem“ und „ästhetischem“ Diskurs fremd war (ebd., S. 175-176). Auch in der modernen Betrachtungsweise tritt bereits in G. W. F. HEGELs Behandlung des „Kunstschönen“ eine Konzeption zutage, die gleichermaßen die soziokulturelle Ästhetik des gesellschaftlichen Wissens einbegreift: „In dieser ihrer Freiheit nun ist die schöne Kunst erst wahrhafte Kunst und löst dann erst ihre höchste Aufgabe, wenn sie sich in den gemeinschaftlichen Kreis mit der Religion und Philosophie gestellt hat und nur eine Art und Weise ist, das Göttliche, die tiefsten Interessen der Menschen, die umfassendsten Wahrheiten des Geistes zum Bewußtsein zu bringen und anzusprechen. In Kunstwerken haben die Völker ihre gehaltreichsten inneren Anschauungen und Vorstellungen niedergelegt, und für das Verständnis der Weisheit und Religion macht die schöne Kunst oftmals, und bei manchen Völkern sie allein, den Schlüssel aus [beide Hervorhebungen im Original]“ (MARHEINEKE, Philipp Konrad u. a. (Hrsgg.), Georg Wilhelm Friedrich Hegel’s Werke, Bd. 10/1, Berlin 1835, hier: S. 11). Versteht man die Rhetorik als ars und geht von der kulturellen Variabilität der „umfassendsten Wahrheiten des Geistes“ aus, so müssen sich in der Rezeption der vorgetragenen Argumente auch die „inneren Anschauungen und Vorstellungen“ des Auditoriums widerspiegeln. Die Ästhetik schließt somit auch eine sich an gesellschaftliche Regeln anlehnende Bewertung des Schicklichen in der gesamten Vortragsweise mit ein. Cicero verbindet selbst des Öfteren den Redeschmuck mit praktischen Erwägungen und sieht ihn als unerlässlichen Bestandteil des rhetorischen decorum (vgl. z. B. de or. 3,53-55). Walker 2015, S. 185 fasst beide Elemente zu einer „aesthetic of persuasion“ zusammen; vgl. auch Cicu 2000, S. 157-161 für die Verbindung zwischen Kunst und decorum sowie S. 128-133 für die Ästhetik des πρέπον.
öffentliche Rede – und vor allem die im Folgenden untersuchte Gerichtsrhetorik – würde sonach auf ebenjene Einseitigkeit der Botschaft reduziert und das Auditorium zu der gleichen Ohnmacht verurteilt werden, die der Leser eines mittelmäßigen Romans mitunter verspürt. Ebendies widerspricht jedoch der forensischen Logik.5 Das Beiseitelegen der Schriftrolle stand dem Hörer zwar nicht offen, dafür aber die Möglichkeit, dem Autor die Missbilligung seines „Werkes“ manifest zu machen. Im Gegensatz zum verschmähten Belletristen, der entweder in Unkenntnis über die individuelle Aufnahme seiner Schrift gelassen wird oder dessen Perzeption des Erfolges dadurch höchstens auf subjektiver Ebene getrübt wäre, vermag es allein die öffentliche Anerkennung, den Triumph der Rede und den damit verbundenen Stellenwert des Redners auf einzigartige Weise zu objektivieren.6 Diese Feststellung birgt Risiken und Chancen zugleich. Müssen die ureigenen Überzeugungen eines orator größtenteils hinter seiner Argumentation verschwinden, so dass biographische Rückschlüsse dementsprechend vorsichtig gezogen werden sollten, entwickelt sich die Rede – mutatis mutandis – zum Ausdruck des gesellschaftlichen Konsensus. Die folgende Studie möchte sich somit die Vorteile eines Perspektivenwechsels zunutze machen, der die Hörerzentriertheit der spätrepublikanischen Gerichtsrhetorik in den Mittelpunkt rückt.7 Eine solche Vorgehensweise wird nicht zuletzt von der antiken Theorie selbst begünstigt. In seinen mannigfachen Erörterungen über Zielsetzung und Aufgabe der Beredsamkeit versäumt es Cicero an keiner Stelle, direkt oder indirekt auf den interaktionalen Hintergrund, vor dem das Wirken eines orator stattfindet, zu rekurrieren. Sinnbildlich dafür ist die definitorische Einleitung in seinem Jugendwerk De inventione: 5
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Im Folgenden soll der Begriff der forensischen Rhetorik auf Gerichtsreden beschränkt werden. Obwohl dieser gleichermaßen Beratungsreden umschließt (Neumeister 1964, S. 15), bietet sich angesichts der Unterschiede in Zielsetzung und Inhalt eine solche Trennung an (vgl. Powell / Paterson 2004, S. 5-6). Vgl. Cic. Brut. 184: Qualis vero sit orator ex eo, quod is dicendo efficiet, poterit intellegi. Allgemein zur Ausrichtung der Rede auf den Hörer: Neumeister 1964, S. 3234; Andersen 2001, S. 30-34; Hölkeskamp 2004b, S. 231, 233-234; Enos 1988, S. 48-49.
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Aufgabe (officium) […] dieser Fähigkeit [scil.: der Beredsamkeit] scheint es zu sein, geeignet zu sprechen, um zu überzeugen; das Ziel ist die Überredung durch den rednerischen Vortrag.8
Wenngleich dies eine simplifizierende und eher vage Auslegung der rhetorischen Tätigkeit zum Ausdruck bringt – und trotz Quintilians Bedenken diesbezüglich –9, spricht Ciceros Definition das Kernelement des officium an. Unter die allumfassende Weisung des Überredens werden in der Folge die einzelnen, zuweilen ebenfalls als officia bezeichneten Anforderungen subsumiert, die das Aufgabengebiet der Eloquenz mit Inhalt füllen: docere, delectare, movere.10 Zudem obliegt es dem exordium, 8
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Cic. inv. 1,6: Officium […] eius facultatis videtur esse dicere adposite ad persuasionem; finis persuadere dictione. Im Folgenden konkretisiert Cicero die Definition: Inter officium et finem hoc interest, quod in officio, quid fieri, in fine, quid effici conveniat, consideratur. Quint. inst. 2,15,6 äußert sich kritisch gegenüber einer rein persuasorischen Zielsetzung. Andersen 2001, S. 21-22 merkt jedoch an, dass dies nur insofern eine Einschränkung darstellt, als Quintilian die praktischen Erwägungen durch eine ästhetische und vor allem durch eine ethische Komponente ergänzen möchte; vgl. ebd., S. 216. Vgl. Cic. Brut. 185; Cic. opt. gen. 3; Quint. inst. 3,5,2. Die anderenorts verwendeten Synonyme verändern den Grundgedanken natürlich nicht: Cic. de or. 2,121 (docere, conciliare, movere); 2,128 (docere, conciliare, concitare); 2,115 (probare, conciliare, animos vocare). Explizit als officia finden probare, delectare und flectere in Cic. or. 69 Erwähnung. Von besonderer Relevanz für die Zwecke dieser Untersuchung ist die Tatsache, dass diese ebenso auf die performativen Aspekte der Rede übertragen werden (vgl. Quint. inst. 11,3,154); zu den Hörern als Adressaten dieser Pflichten vgl. Neumeister 1964, S. 12; s. auch Andersen 2001, S. 48-49. Dass selbst die fünf Schritte, die bei der Ausarbeitung eines Vortrages zu befolgen sind (inventio, dispositio, elocutio, memoria, pronuntiatio), letztendlich der Überredung des Hörers dienen müssen, belegen Cic. or. 49 (inventio) und Cic. or. 50 (dispositio); zu den partes oratoriae allgemein: Cic. de or. 2,79; Cic. inv. 1,9; Quint. inst. 3,3,1; Rhet. Her. 1,3; vgl. auch Andersen 2001, S. 49-50; ausführlich dazu: Martin 1974, S. 13-210 (inventio), S. 211-243 (dispositio), S. 245-345 (elocutio), S. 349-350 (memoria), S. 353-355 (pronuntiatio); Lausberg 1973, S. 139-527; Clark 1963, S. 71-112. Darüber hinaus wird einer Rede selbstverständlich auch dadurch Glaubwürdigkeit verliehen, dass die Überzeugungen des Auditoriums während der narratio im Auge behalten werden (Cic.
den Zuhörer benevolus, attentus und docilis zu stimmen.11 Die Pflicht des Redners zu informieren, zu unterhalten und den Hörer emotional zu berühren, sowie sein Streben nach Wohlwollen, Aufmerksamkeit und Aufnahmebereitschaft kennzeichnen die Elemente einer unmissverständlichen Ausrichtung auf den Interaktionspartner, die im Kontext der spätrepublikanischen quaestiones eine betont praktische Dimension erhält. Das Publikum eines antiken orator bestand nur selten (und in Gerichtsverhandlungen nie) aus passiven „Zuhörern“ oder „Zuschauern“. Durch das Ansprechen juristischer Entscheidungsträger werden aber sowohl das durch den „perlokutionären Akt“ intendierte „Ziel“ als auch das „perlokutionäre Nachspiel“ konstitutiv für eine erfolgreiche Gerichtsrede.12 Vor allem in der forensischen Kommunikationssituation hätte ein noch so gut formulierter Vortrag gewiss seinen primären juristischen Zweck verfehlt, wäre er vom Auditorium inhaltlich nicht bejaht worden. Die darauffolgende Resonanz lässt die Anwesenden bereits im Laufe der
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part. 32); vgl. allgemein zur antiken Statuslehre CALBOLI MONTEFUSCO, Lucia, La dottrina degli „status“ nella retorica greca e romana, Hildesheim u. a. 1986. Cic. inv. 1,20; 1,22-23; Cic. de or. 2,80; Cic. top. 97; Rhet. Her. 1,6; 1,7; Quint. inst. 4,1,5; Cic. part. 28 (amice, intellegenter, attente); vgl. Loutsch 1994, S. 40-49; Lausberg 1973, S. 152-160; Martin 1974, S. 61-64; Ueding / Steinbrink 1994, S. 259-260. Die Begriffe gehen auf den handlungstheoretischen Ansatz der Sprechakttheorie zurück, die John L. AUSTIN in seinen kommunikationswissenschaftlichen Vorlesungen entwickelt hat. Demgemäß sei ein „perlokutionärer Akt“ eine Äußerung, die beim Rezipienten eine bestimmte Wirkung entfalten möchte (vgl. Austin 2010, S. 118-119, 124). Er könne zum einen das „perlokutionäre Ziel“ erreichen, dass die beabsichtigte Botschaft den Empfänger überzeugt, darüber hinaus aber auch ein „perlokutionäres Nachspiel“ haben, wenn Letzterer seinerseits eine Handlung im Sinne des Sprechers vollzieht (ebd., S. 134); Searle 1983, S. 72-75 verwendet dafür den Terminus des perlokutionären „Effekts“. Der Erfolg eines spätrepublikanischen Gerichtsredners hing freilich weniger von der passiven Zustimmung seiner Hörer ab als vielmehr von dem „perlokutionären Nachspiel“ eines günstigen Urteils.
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oratio zum aktiven Bestandteil eines interdependenten Kommunikationsprozesses werden.13 Es darf daher nicht verwundern, wenn schon die rhetorische Theorie das Postulat aufstellt, dass „für einen klugen und vorausschauenden Redner […] die Ohren der Zuhörer maßgebend [sind]“.14 Ein empirischer Nutzen kann aus diesem Sachverhalt freilich nur dann gezogen werden, wenn man sich vergegenwärtigt, dass konsenssuchende Aussagen weder dem Zufall noch dem subjektiven Plazet einzelner Rezipienten unterliegen. Letzteres hätte die Rede schon in Anbetracht der Heterogenität des Publikums zum Scheitern verurteilt. Vielmehr werden dadurch allgemein akzeptierte Denkmuster angesprochen, die stets den gesellschaftlich determinierten Anschauungen der Menge Rechnung tragen und somit in Relation zu dem soziokulturellen Umfeld, in dem die Ausführungen eingebettet sind, sowie als Ausdruck ebendieses betrachtet werden müssen.15 Vorsichtiger als Cicero in der Zielsetzung, aber nicht minder dezidiert hat sich diesbezüglich auch der auctor ad Herennium geäußert. Ziehen wir seine Definition zu Rate, wird zugleich die Quintessenz der persuasiven Bemühungen deutlich:
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So gehen im Zuge der rhetorischen Kommunikation von beiden Seiten Signale aus, auf die der jeweilige Interaktionspartner reagieren muss; vgl. Andersen 2001, S. 31; Achard 2006, S. 89. Cic. part. 15: […] nam auditoris aures moderantur oratori prudenti et provido. Dies betrifft in gleichem Maße den Sprachstil (Cic. de or. 3,66). Die Forderung klingt schon bei Aristot. rhet. 1358a37-1358b2 an: σύγκειται µὲν γὰρ ἐκ τριῶν ὁ λόγος, ἔκ τε τοῦ λέγοντος καὶ περὶ οὗ λέγει καὶ πρὸς ὅν, καὶ τὸ τέλος πρὸς τοῦτόν ἐστιν, λέγω δὲ τὸν ἀκροατήν; vgl. auch Rhet. Alex. 1428a31-35. Der Gedanke der Anpassung an die Zuhörer kann allerdings bis Platon zurückverfolgt werden (vgl. Plat. Phaidr. 277b-c). Andersen 2001, S. 185 weist darauf hin, dass die oratio primär einen Konsens zwischen Redner und Hörer herstellen möchte und somit an den „gesunde[n] Menschenverstand“ appelliert, also an einen als „Meinungen, die allgemeine Zustimmung genießen“ verstandenen „communis sensus“; vgl. auch Neumeister 1964, S. 10: „Gerade in der forensischen Redekunst erweist sich die Meisterschaft nicht so sehr in der Originalität und Individualität der Redeweise als in ihrer Zweckmäßigkeit [Hervorhebung im Original]“.
Aufgabe des Redners ist es, über die Angelegenheiten sprechen zu können, welche um der Wohlfahrt der Bürger willen durch Sitten und Gesetze festgelegt sind, und zwar mit der Zustimmung der Zuhörer, soweit diese erlangt werden kann.16
Wie im einleitenden Zitat dargelegt, bilden Einsicht, Wünsche und Erwartungen der Hörer den Maßstab, nach dem die Angemessenheit einer oratio beurteilt wird, so dass die vorgetragenen Argumente sich vornehmlich an Natur und Charakter der Menschen, an Sitten und Bräuchen – kurzum: an den in der Gesellschaft herrschenden Normen – orientieren.17 Ein Redner 16
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Rhet. Her. 1,2: Oratoris officium est de iis rebus posse dicere, quae res ad usum civilem moribus ac legibus constitutae sunt, cum ascensione auditorum, quoad eius fieri poterit; vgl. allgemein zu den antiken Definitionen der Rhetorik Quint. inst. 2,15,1-38; eine moderne Sicht auf mögliche Definitionen bietet Andersen 2001, S. 25-28. Unabhängig von den einzelnen Variationen bilden Überredung und Sieg immer die vorrangigen Ziele des orator; vgl. Neumeister 1964, S. 17, 130; Wieacker 1965, S. 15-16; Braun 2003, S. 71; Powell / Paterson 2004, S. 1. Kennedy 1972, S. 3 definiert die Beredsamkeit als „art of persuasion“. Das Überzeugende zu finden ist auch ein Kernelement der aristotelischen Definition: ἔστω δὴ ἡ ῥητορικὴ δύναµις περὶ ἕκαστον τοῦ θεωρῆσαι τὸ ἐνδεχόµενον πιθανόν (rhet. 1355b26-27). Exemplarisch für die überragende Rolle dieses Konzepts in der griechischrömischen Antike sind Personifikation und Kult der πειϑώ/suada; vgl. dazu Calboli / Dominik 1997, S. 3-4; Andersen 2001, S. 20; Schottlaender 1967, S. 131; Hölkeskamp 2004b, S. 221-222. Ob es sich bei der Rhetorik um eine erlernte Kunst (ars) oder eine Fähigkeit (facultas) handeln sollte, hängt selbstverständlich vom Grad der gesellschaftlichen Akzeptanz ab; vgl. die Diskussion über die Eloquenz als ars, scientia oder facultas bei Quint. inst. 2,15,2. Cic. de or. 1,48; 1,69; 3,76. Die Behandlung dieser Normen solle sich zudem nach den Maßgaben für ein aus „Laien“ bestehendes Publikum richten. Laut Cicero besteht der größte Fehler darin, beim Reden gegen die allgemeinen Ansichten der Bürger zu verstoßen (de or. 1,12); s. auch Cic. de or. 2,30; 2,131; 2,159; vgl. dazu Andersen 2001, S. 33. In Cic. top. 73 gesteht der Autor zwar ein, dass die Meinungen des Volkes „falsch“ sein könnten, diese aber nichtsdestoweniger vor Gericht vertreten werden müssten. So lässt er Brutus sagen, dass die Anwesenheit des Publikums eine conditio sine qua non für die Redegabe überhaupt sei (Brut. 192). Es ist somit das Markenzei-
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muss […] alles erfassen, was in Beziehung steht zu den praktischen Bedürfnissen der Bürger und dem Verhalten der Menschen, was zum gewohnten Leben, zum Funktionieren des staatlichen Lebens, zu dieser unserer bürgerlichen Gesellschaft, zum allgemeinen menschlichen Empfinden, zur Natur, zu den Sitten gehört.18
Dies soll ihn freilich nicht auf ein substituierbares Werkzeug gesellschaftlicher Sinnprojektionen reduzieren. Vielmehr ist, wie bei fast allen Normvorschriften, von der Existenz eines gewissen Spielraumes auszugehen, der dem Redner gleichzeitig die Grenzen, innerhalb derer er auf die Ansichten seiner Hörer Einfluss nehmen und eigene Meinungen vortragen kann, diktiert. Allerdings ziehen sich diese Grenzen unweigerlich immer weiter zu, je mehr er das Terrain verhandelbarer sozialer Normen verlässt.19 Dem vernichtenden Urteil MOMMSENs über Ciceros rhe-
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chen der Rhetorik, im Einklang mit dem gesellschaftlichen Wissen, das die Zuhörer selbstverständlich teilen, zu argumentieren; vgl. auch May 2002, S. 49, 51; Achard 2006, S. 90-91; Enos 1988, S. 40-41; Braun 2003, S. 75, 82. Prägnant formuliert dies Andersen 2001, S. 30: „Rhetorische Kommunikation ist immer auf einen Empfänger bezogen. […] Wenn der Empfänger im Mittelpunkt des Interesses steht, bekommen die Formulierung der Botschaft und damit zugleich der Absender und seine Absichten außerordentliche Bedeutung“. Die Notwendigkeit der Anpassung an die Ansichten des Publikums wird nicht zuletzt darin ersichtlich, dass die Hörer besonders vehement auf diesbezügliche Übertretungen reagieren konnten; vgl. Achard 2006, S. 88. Cic. de or. 2,68: […] omnia, quae pertinent ad usum civium, morem hominum, quae versantur in consuetudine vitae, in ratione rei publicae, in hac societate civili, in sensu hominis communi, in natura, in moribus, comprehendenda esse oratori; ähnlich auch Cic. de or. 1,223. Eine Herausforderung für den antiken Redner wie auch für den modernen Historiker stellt die Veränderlichkeit der sozialen Gepflogenheiten dar, die den orator zwingt, sich stets dem jeweiligen Zeitgeist anzupassen (vgl. Cic. de or. 2,337). Für Dahrendorf 2010, S. 59 ist der Bereich gesellschaftlicher Erwartungen „weniger determiniert als eingegrenzt“ und erscheint somit als „Sektor erlaubter Abweichungen“ (ebd.); vgl. Popitz 2006a, S. 71: „Entsprechend ist der Grad der Geltung [Hervorhebung im Original] sozialer Normen auch nicht allein von ihrer Befolgung abhängig, sondern (ebenso) auch vom Grad der Bereitschaft, […] den Anspruch auf dauerhafte Verbindlichkeit gegen den Normbruch durchzusetzen“; vgl. auch Claessens 1966, S. 90.
torische Fähigkeiten stehen dessen Erfolg und der durch die Rede erworbene Ruhm entgegen; Resultate, die ohne die Kapazität, den Sinnhorizont seiner Zeitgenossen richtig deuten und instrumentalisieren zu können, undenkbar wären. Dass es letzten Endes galt, deren Akzeptanz und nicht etwa den moralischen oder ästhetischen Zuspruch des modernen Gelehrten zu gewinnen, ist ebenso selbstverständlich.20 Für die spätrepublikanischen Gerichtsreden bedeutet dies vor allem, dass von der Prämisse eines Spannungsverhältnisses zwischen meinungsbildenden und meinungsabbildenden Komponenten ausgegangen werden muss, die gleichermaßen bestimmten von den kulturellen Sinnstiftungsmustern der Gesellschaft auferlegten Restriktionen unterworfen sind.21 In Anbetracht dieses Dualismus hat die altertumswissenschaftliche Forschung ihre Aufmerksamkeit traditionell auf erstere Kategorie gerichtet und untersucht, wie Cicero sich der öffentlichen Stellungnahme als Medium für das Propagieren politischer, gesellschaftlicher und philosophischer Ansichten bedient.22 Ohne dieses Vorgehen zurückzu20
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James MAY hebt die Notwendigkeit hervor, die rhetorischen Gesetzmäßigkeiten in den jeweiligen kulturellen Kontext zu stellen; vgl. bes. May 2002, S. 49: „Oratory, because it deals by its very nature with relationships between individuals or individuals and their community, is perhaps the most culturally specific of all literary genres“. Ebd., S. 49-50 weist der Autor darauf hin, dass man nicht dem Anachronismus verfallen dürfe, die Reden nach heutigen Maßstäben zu beurteilen. So begründet Cicero des Öfteren die staatstragende Bedeutung der Rhetorik auch damit, dass sie die Ansichten der Menschen lenken und ändern kann (vgl. z. B. de or. 1,30; 3,76). Braun 2003 geht folgerichtig sowohl auf den werterelativierenden Aspekt der ciceronischen Rhetorik ein, den die jeweiligen Interessen des Falles diktieren (vgl. S. 90), als auch auf die Stabilisierungsleistung, die durch die Bejahung bestehender Anschauungen erreicht wird (vgl. S. 75). So legt Gildenhard 2011, S. 15 die – in philosophischer Hinsicht verstandene – „conceptual creativity“ der Reden Ciceros seinem Buch zugrunde. Ebenso nimmt Classen 2000, S. 86 an, dass diesen eine bedeutende meinungsbildende Funktion zukam. Seine Schlussfolgerung (ebd.), „[d]aß er [scil.: Cicero] damit zum Verfall der Geltung der traditionellen römischen Wertbegriffe, wenn auch nicht der römischen Republik beigetragen hat und diesem Verfall jedenfalls nicht entgegengetreten ist“, überschätzt aber gewiss Ciceros Gestaltungsmöglichkeiten. Wenngleich Individuen aktiv an der Veränderung
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weisen, soll hier der entgegengesetzte Weg beschritten werden. Unser Interesse gilt der sozial-normativen Geltung bestimmter Prinzipien und den diesbezüglichen Möglichkeiten punktueller Grenzverschiebungen – Faktoren, die im Idealfall einen Einblick in die kulturellen Selbstverständlichkeiten des spätrepublikanischen Wissensvorrates erlauben. Das Hauptproblem, mit dem man sich bei der Lektüre antiker Gerichtsreden konfrontiert sieht, entspringt einem Wesensmerkmal der Informationsvermittlung. Die Botschaft muss dabei als ein kulturell geprägtes und vom Sender verändertes Signal verstanden werden, das den Empfänger in codierter Gestalt erreicht.23 Interaktionen finden häufig mithilfe solcher Codes statt und stellen zugleich die Prämisse auf, dass
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sozialer Normen mitwirken können, kann dies ohne eine in der Gesellschaft bereits vorhandene Akzeptanz nicht vonstattengehen (vgl. Popitz 2006a, S. 71-72). Als locus classicus für gesellschaftspolitische Stellungnahmen in den orationes darf das unter dem Schlagwort cum dignitate otium behandelte Ethos der boni in der Rede für Sestius gelten; vgl. dazu BALSDON, John P. V. D., Auctoritas, dignitas, otium, CQ 10, 1960, S. 43-50; FUHRMANN, Manfred, Cum dignitate otium. Politisches Programm und Staatstheorie bei Cicero, Gymnasium 67, 1960, S. 481-500; LACEY, W. K., Cicero, Pro Sestio 96-143, CQ 12, 1962, S. 67-71; BOYANCÉ, Pierre, „Cum dignitate otium“, in: Klein, Richard (Hrsg.), Das Staatsdenken der Römer, Darmstadt 1966 (WdF 46), S. 348-374; WIRSZUBSKI, Chaim, Noch einmal: Ciceros Cum dignitate otium, in: Klein, Richard (Hrsg.), Das Staatsdenken der Römer, Darmstadt 1966 (WdF 46), S. 375-404; CHRISTES, Johannes, Cum dignitate otium (Cic. Sest. 98) – eine Nachbereitung, Gymnasium 95, 1988, S. 303-315. Für die Entwicklung des vir bonus-Gedanken bei Cicero vgl. außerdem ACHARD, Guy, L'emploi de boni, boni viri, boni cives et de leurs formes superlatives dans l’action politique de Cicéron, EtClass 41, 1973, S. 207-221; für die „politische Positionierung“ Ciceros: ADOMEIT, Klaus, „Rechts“ und „links“ bei Cicero, in: Harder, Manfred / Thielmann, Georg (Hrsgg.), De iustitia et iure. Festgabe für Ulrich von Lübtow zum 80. Geburtstag, Berlin 1980, S. 81-91. Vgl. dazu das unter dem Namen „Shannon-Weaver-Kommunikationsmodell“ bekannt gewordene Schema in SHANNON, Claude E., A Mathematical Theory of Communication, Bell System Technical Journal 27, 1948, S. 379-423, 623-656 und DERS. / WEAVER, Warren, The Mathematical Theory of Communication, Urbana u. a. 1963.
Sender und Empfänger das gleiche „nomologische Wissen“24 teilen. Folglich sind beide aufgrund der ihnen bekannten gesellschaftlichen Konventionen auch imstande, die jeweils richtige Interpretation herauszufiltern. Umgekehrt führt die Missdeutung von Zeichen zwangsläufig zu einer Fehldeutung der Botschaft. „Pragmatische Information ist relativ auf der Basis der Erwartungen und Ziele des Empfängers, semantische Information ist relativ durch die zwischen Sender und Empfänger getroffenen Vereinbarungen über die Bedeutung von Zeichen.“25 In dieser Relativität konkretisieren sich im Alltag die kulturimmanenten Vorstellungen, die einer nicht eingeweihten Person vielfach den Zugang zur Information versperren. Sascha OTT verdeutlicht dies am Beispiel des Autofahrers, der die „semantische Information“ eines Stoppschildes richtig deutet und durch die entsprechende Handlung des Bremsens eine Forderung des „pragmatische[n] Informationsgehalt[es]“ umsetzt.26 Somit sind bei jeder Vermittlung einer Botschaft immer auch die „sinnstiftenden und handlungsrelevanten Aspekte“27 zu beachten, die idealiter Rückschlüsse auf die soziokulturellen Hintergründe der jeweiligen Interaktion möglich machen.28 24
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Für den von Christian MEIER nach Max WEBER geprägten Begriff vgl. Hölkeskamp 2000, S. 24: „Das ‚nomologische Wissen‘ einer Gesellschaft bildet geradezu die Schnittstelle zwischen realer Umwelt und alltäglicher Praxis einerseits und den Weisen ihrer Wahrnehmung, Reflexion und Beurteilung andererseits und repräsentiert damit die je spezifische Art und Weise einer Gesellschaft, ihre Wirklichkeit(en) zu erkennen und zu verarbeiten.“ Ott 2007, S. 389. Ebd. Schütz 2004, S. 248-249 weist darauf hin, dass Symbole „als Repräsentanten“ verstanden werden müssen, hinter denen „Deutungsschemata“ erkennbar werden. Ott 2007, S. 388. Vgl. Vester 1991, S. 74: „Codierung [Hervorhebung im Original] ist keine private Bewußtseins- oder Gedächtnisleistung. Obwohl Individuen in der Lage sind, Codes im Prozeß der Informationsverarbeitung individuell zu modifizieren oder zu elaborieren, operieren sie mit den Codes doch im Rahmen vorgegebener Programmierungen“. Dass dies ebenso auf die im zweiten Teil der Untersuchung relevante Zurschaustellung von Gefühlen zutrifft, zeigt Denzin 1984, S. 92, wenn er eine Verbindung zwischen „emotionalen Praktiken“ und „moralischen Codes“ herstellt.
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Für einen antiken orator, der explizit an gesellschaftliche Normen und Werte appelliert, ist die (mehr oder weniger bewusste) Verwendung kultureller Codes, die einzig für das spätrepublikanische Publikum bestimmt waren, unerlässlich. Erst wenn wir uns um die Entschlüsselung dieser Botschaften bemühen, können wir uns der tatsächlichen Rezeption und der kulturellen Einordnung der Argumente nähern. So wie sich einem Zeitgenossen Ciceros die korrekte semantische Information des von OTT erwähnten Stoppschildes nicht offenbart hätte, so läuft auch der moderne Betrachter stets Gefahr, bei Nichtbeachtung der Sinnhaftigkeit mancher Quellenaussagen fehlerhafte Schlüsse zu ziehen. Es soll also das Ziel der folgenden Untersuchung sein, die kulturelle Bedeutung der ermittelten Codes sowie die Geltungskraft der in den spätrepublikanischen quaestiones relevanten Normen zu erkennen, um sie schließlich in den übergeordneten Sinnzusammenhang dieses für die römische Gesellschaft elementaren Segments zu stellen. β
Der wissenschaftsgeschichtliche Hintergrund
Im ersten Abschnitt sind einige Begriffe angeführt worden, die zwar zum Alltagsvokabular gehören, für eine Eingliederung in die Ziele dieser Arbeit aber dennoch einer geisteswissenschaftlichen Präzisierung bedürfen. Der Vorsatz einer Dechiffrierung kultureller Codes ordnet unser Thema in diejenige Tradition geschichtswissenschaftlicher Forschung ein, die gleichsam in chronologischer Abfolge von den Schulen der Mentalitätsgeschichte, Historischen Anthropologie und Neuen Kulturgeschichte illustriert wird. Als „Reaktion auf den immer rascheren Vertrautheitsschwund unserer Lebenswelt“29 setzte in der französischen Annales-Schule um Marc BLOCH und Lucien FEBVRE – noch vor dem inflationären Auftreten verschiedenartiger „turns“ – eine nachhaltige Wende in der Geschichtskonzeption ein, die das Ziel verfolgte, „den Prozeß der Menschwerdung selbst, oder richtiger: die Prozesse, durch die Menschen zu dem wurden, was sie jeweils waren, zu ergründen“.30 Die Aufmerksamkeit wurde von den einzelnen geschichtsträchtigen Persönlichkeiten auf die breite Masse 29 30
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Dinzelbacher 1993, S. XVIII. Raulff 1987, S. 8.
gelenkt,31 ohne dabei jedoch das soziale Umfeld aus den Augen verlieren zu wollen. Somit etablierte sich die „Mentalität“ als Gegenkonzept zu den „Ideen“ „zwischen einer Geistesgeschichte, aus der die Gesellschaft ausgespart bleibt, und einer Sozialgeschichte, die das Denken ausklammert“.32 Peter BURKE hat drei Kernelemente dieser Neukonzeptualisierung ausgemacht: die Ausrichtung auf kollektive Vorstellungswelten, auf das Unbewusste im menschlichen Denken und auf die „Struktur von Meinungen“, auf „Metaphern und Symbole“.33 Pointiert formuliert er das Interesse der Mentalitätshistoriker „dafür wie die Leute denken und nicht nur dafür was sie denken [beide Hervorhebungen im Original]“.34 Die Hinwendung zu den représentations collectives35 sollte aber keineswegs das Negieren gruppenspezifischer Charakteristika implizieren. Vielmehr sei von der Existenz parallel verlaufender Mentalitäten, also sowohl von Unterschieden im Wissen verschiedener Kulturen als auch von unterschiedlichen Gruppen innerhalb einer Gesellschaft auszugehen.36 Dass der Mentalitätsgeschichte nichtsdestoweniger in ihrer ursprünglichen Form die Akzeptanz versagt blieb, liegt nicht zuletzt an der von den Forschern selbst bemängelten Unschärfe der Begrifflichkeiten, eine Unschärfe, die im Laufe der Zeit immer weiter zunahm.37 So haben einige Theoretiker versucht, dieser Falle zu entgehen, indem sie einerseits die Konkretisierung des Gegenstandes, andererseits eine noch größere interdisziplinäre Öffnung gefordert haben38 – so auch in der program31 32 33 34 35
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Vgl. ebd.; Sellin 1985, S. 571-572. Burke 1987, S. 128. Ebd., S. 127. Ebd. Der Begriff ist von dem Soziologen Émile DURKHEIM geprägt worden; vgl. insbesondere DURKHEIM, Émile, Représentations individuelles et représentations collectives, Revue de Métaphysique et de Morale 6, 1898, S. 273-302. Graus 1987, S. 18-22; Burke 1987, S. 128-129. Eine selbstverständliche und für den Historiker willkommene Konsequenz ist, dass dies umso mehr zutrifft, je weiter die „Kollektive“ auch zeitlich auseinanderliegen. Vgl. Sellin 1985, S. 558-561; Raulff 1987, S. 9-13; Dinzelbacher 1993, S. XIX-XXII; Le Goff 1987, S. 18-19. Vgl. Burke 1987, S. 141: „Die Mentalitätengeschichte muß sich […] erneuern, indem sie sich selektiv Begriffe aneignet und einverleibt, die anderen
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matischen Formulierung von Jacques LE GOFF: „Die Mentalitätengeschichte kann nur in enger Anlehnung an die Geschichte der Kulturund Glaubenssysteme, der Werte und des intellektuellen Rüstzeugs, in deren Rahmen sich die Mentalitäten geformt, in denen sie gelebt und sich entwickelt haben, zustande kommen. Hier können auch die der Geschichte von der Ethnologie vermittelten Lektionen von Nutzen sein.“39 Die von LE GOFF geforderte Hinwendung zu Kultur und Ethnologie ist den in der Folge aufkommenden Forschungsrichtungen der Historischen Anthropologie und Neuen Kulturgeschichte gelungen. Die Impulse der Sozial- und Mentalitätsgeschichte aufgreifend, aber auch in Abgrenzung zu Letzterer, der mitunter ebenfalls vorgeworfen wurde, das Individuum aus der Betrachtung auszuklammern,40 „[stellt] [d]ie historische Anthropologie […] den konkreten Menschen mit seinem Handeln und Denken, Fühlen und Leiden in den Mittelpunkt der historischen Analyse“.41 Sie wird dadurch zu einer „Historiographie der Gewohnheiten“,42 die implizit ein breites Repertoire an Forschungsthemen aufweist: Familie, Mythen oder Rituale43 können ebenso wie Magie und Hexerei, Protest und Gewalt, Körper und Sexualität, Religion und Frömmigkeit, Geschlechter oder Vorstellungen vom Fremden44 zum
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historiographischen Traditionen entstammen. Sie muß eine Art bricolage [kursiv im Original] betreiben, aber keinen unkritischen Eklektizismus.“ Le Goff 1987, S. 30. Eine damals noch nicht konkretisierte Verbindung zwischen der Mentalitätsgeschichte und dem Kulturbegriff von Clifford GEERTZ, der uns später beschäftigen soll, sieht auch Sellin 1985, S. 575. van Dülmen 2000, S. 15; vgl. dazu auch Martin 2009, S. 152: „Von einer Mentalitätengeschichte herkömmlichen Typs unterscheidet sie [scil.: die Historische Anthropologie] sich dadurch, daß sie nicht zwischen sozialer Praxis und Mentalitäten trennt, sondern die Mentalitäten gerade in der Praxis aufsucht.“ van Dülmen 2000, S. 32; vgl. ferner ebd., S. 32-36; zur Entwicklung der Historischen Anthropologie allgemein: ebd., S. 1-31; zum Einfluss der Sozialgeschichte im Speziellen: ebd., S. 7. Burguière 2006, S. 166. Drei der sechs Schwerpunkte – ihrerseits nur eine Auswahl –, die Flaig 1999, S. 239-248 kurz skizziert. Dies stellt ebenfalls eine Auswahl der von van Dülmen 2000, S. 56-92 vorgestellten Themen dar; vgl. weiterführend Landwehr 2009, S. 48-119. Eine
Untersuchungsgegenstand erhoben werden. Besondere Konjunktur genießt die Ausrichtung auf Praktiken und vor allem auf deren semiotische Komponente, eine Ausrichtung, die – so wie sämtliche andere Schwerpunktsetzungen auch – das Handeln der Personen unentwegt in Relation zu den kulturellen Mustern setzt, die jenes bedingen.45 Die historischanthropologische Analyse muss also in erster Linie die Interdependenz von Institutionen und Ermessensspielraum beachten, was die Forschungsrichtung im Spannungsfeld zwischen Mikro- und Makroebene positioniert.46 Es geht dabei um individuelle Erfahrungen, in denen sich „von der Gesellschaft verinnerlichte Sachverhalte“47 reproduzieren. Blicken wir auf die oben postulierten Charakteristika der forensischen Rhetorik, offenbart sich eine signifikante Analogie. So agierte auch der antike Redner (selbst wenn er von seinen Möglichkeiten der Einflussnahme Gebrauch machte) im Rahmen derjenigen Strukturen, die ihm ein bestimmtes, bisweilen gar unbewusstes Verhalten diktierten.48
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gute Einleitung zum terminologischen Instrumentarium findet sich bei Daniel 2006, S. 380-466. Vgl. Flaig 1999, S. 252-259; Bachmann-Medick 2009b; s. auch Tanner 2008, S. 120: „In den Routinen und Wiederholungsstrukturen des Alltags zeigt sich die soziale Dimension menschlicher Praktiken, die in dauerhafte symbolische Zuschreibungen eingefügt sind“. Ebd., S. 102 formuliert er den Anspruch der Historischen Anthropologie, das „Narrativ der Normalität“ zu erfassen. Vgl. van Dülmen 2000, S. 48, 95-98; Winterling 2006, S. 9. Burguière 2006, S. 166; vgl. auch van Dülmen 2000, S. 99; Tanner 2008, S. 98. So wehrt sich van Dülmen 2000, S. 101 auch dagegen, moralische Bewertungen aus der Perspektive des Forschers vorzunehmen, die die zeitgenössischen Rahmenbedingungen außer Acht lassen. Weiterführend zur theoretischen Grundlegung der Historischen Anthropologie und Neuen Kulturgeschichte: BURKE, Peter, Was ist Kulturgeschichte?, Frankfurt/Main 2005; HEUSS, Alfred, Zum Problem einer geschichtlichen Anthropologie, in: Winterling, Aloys (Hrsg.), Historische Anthropologie, Stuttgart 2006, S. 101-135; KÖHLER, Oskar, Versuch einer „Historischen Anthropologie“, in: Winterling, Aloys (Hrsg.), Historische Anthropologie, Stuttgart 2006, S. 137-141; MEDICK, Hans, „Missionare im Ruderboot“? Ethnologische Erkenntnisweisen als Herausforderung an die Sozialgeschichte, in: Winterling, Aloys (Hrsg.), Historische Anthropologie, Stuttgart 2006, S. 183-210; NIPPERDEY, Thomas, Bemerkungen zum
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Diese übergeordneten (Sinn-)Strukturen sind es auch, die das Konzept der Kultur zusammenfasst. Der aus der ethnologischen Forschung stammenden und mittlerweile zum locus classicus gewordenen Definition von Clifford GEERTZ zufolge ist „der Mensch ein Wesen […], das in selbstgesponnene Bedeutungsgewebe verstrickt ist“.49 Dieses Gewebe stellt für ihn die „Kultur“ dar, die sich auf semiotischer Ebene manifestiert, zudem aber fassbaren Regelmäßigkeiten unterliegt. Laut GEERTZ dürfe sie nicht als Abstraktum begriffen werden, als eine bloße Ansammlung von Symbolen, vielmehr äußere sie sich im gesamten Verhalten eines Individuums.50 Der Begriff wird somit nicht mehr auf die kulturschaffenden Eliten oder auf die künstlerischen und literarischen Erzeugnisse einer bestimmten Zeit beschränkt, sondern auf „Lebensweisen, Wahrnehmungsmuster und Verständigungsformen der verschiedenen Gruppen“51 ausgeweitet. Das Postulat, „Kultur als Text“ zu lesen, impliziert darüber hinaus eine gewisse Motivationalität, eine gesellschaftliche Sinnhaftigkeit, die es ermöglicht, auch die Bedeutungsschichten zu untersuchen, die einer Handlung innerhalb des Umfelds, in dem sie vollzogen wird, beigemessen werden.52
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Problem einer Historischen Anthropologie, in: Winterling, Aloys (Hrsg.), Historische Anthropologie, Stuttgart 2006, S. 81-99; WULF, Christoph, Grundzüge und Perspektiven Historischer Anthropologie. Philosophie, Geschichte, Kultur, in: Winterling, Aloys (Hrsg.), Historische Anthropologie, Stuttgart 2006, S. 265-290. Geertz 1987, S. 9; vgl. auch Bachmann-Medick 2009a, S. 65-66. Geertz 1987, S. 25-26. Sein Interesse gilt also „einer kulturellen Dimension […], von der man […] gemeinhin nicht annimmt, daß sie einen geordneten Bereich darstellt.“ (ebd., S. 263); vgl. auch GEERTZ, Clifford, Kulturbegriff und Menschenbild, in: Winterling, Aloys (Hrsg.), Historische Anthropologie, Stuttgart 2006, S. 47-66 (zuerst 1966). van Dülmen 2000, S. 39; ebd. schlussfolgert er, dass man „nicht mehr von einer Kultur, sondern nur von vielen Kulturen […] sprechen“ könne. Dergestalt konzeptualisiert ist der Begriff auch in der Geschichtswissenschaft überwiegend positiv rezipiert worden; vgl. (trotz einiger Kritikpunkte des Autors) Martin 2009, S. 217-218. Daniel 2006, S. 447; van Dülmen 2000, S. 38; zu „Kultur als Text“ vgl. Bachmann-Medick 2009a, S. 70-79; DIES. (Hrsg.), Kultur als Text. Die anthropologische Wende in der Literaturwissenschaft, Tübingen-Basel 20042; kritisch dem Konzept gegenüber: Flaig 2002, S. 378.
Der bereits mehrfach erwähnte Begriff des „Sinns“ ist der letzte und zugleich wichtigste Terminus, der an dieser Stelle besprochen werden soll. Als Untersuchungsgegenstand der Soziologie erscheint dieser zum ersten Mal in den Werken Max WEBERs, in enger Verbindung zur Definition des sozialen Handelns: „‚Handeln‘ soll dabei ein menschliches Verhalten […] heißen, wenn und insofern als der oder die Handelnden mit ihm einen subjektiven Sinn verbinden. ‚Soziales Handeln‘ aber soll ein solches Handeln heißen, welches seinem von dem oder den Handelnden gemeinten Sinn nach auf das Verhalten anderer bezogen wird und daran in seinem Ablauf orientiert ist [beide Hervorhebungen im Original]“.53 WEBER setzt zwar die Bedeutung des Handelns immer in Relation zu potentiellen Interaktionspartnern, er sieht die Zuschreibung von Sinn allerdings als genuin individuelle Bewusstseinsleistung des Akteurs.54 Diesem subjektiven Sinn hat Alfred SCHÜTZ eine objektive Spielart zur Seite gestellt: „Wir meinen damit, daß diese idealen Gegenständlichkeiten sinnhaft und verstehbar sind aus eigener Wesenheit, nämlich in ihrem anonymen, von dem Handeln, Denken, Urteilen irgend jemandes unabhängigen Sein“.55 Der objektive Sinn ist somit Teil eines gesellschaftlichen Überbaus, der den Menschen unabhängig von den individuellen Sinnsetzungen allgemein akzeptierte „Deutungsschemata“ des sozialen Verhaltens zur Verfügung stellt.56 Er ist erfahrungsbasiert, aber 53 54
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Weber 1988b, S. 542. Vgl. auch Weber 1988a, S. 150: „[…] er wägt und wählt nach seinem eigenen Gewissen und seiner persönlichen Weltanschauung zwischen den Werten, um die es sich handelt“. Sarasin 1996, S. 136 stellt fest, „daß das Webersche Subjekt nicht nur rational handelt, sondern sich selbst auch vollständig durchsichtig ist“; allgemein zur Kritik an WEBERs Begriff: Schütz 2004, S. 96-115. Ebd., S. 117. Ebd., S. 119: „Wenn wir die […] Bedeutungen des Terminus ‚objektiver Sinn‘ überblicken, so zeigt sich, daß wir von den idealen und realen Gegenständlichkeiten der uns umgebenden Welt aussagen, sie seien sinnhaft, sobald wir sie in spezifischen Zuwendungen unseres Bewußtseins auffassen“; vgl. auch Berger / Luckmann 2010, S. 69; Schütz / Luckmann 2003, S. 45, 453. Ebd. gliedern die Autoren die soziale Welt in „geschlossene Sinngebiete“ (S. 55) innerhalb der Gesellschaft, weisen aber auch auf übergeordnete „Sinnsysteme“ hin, die die „Sinnsetzungstraditionen“ einer Kultur bilden (S. 450).
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insofern anonymisiert, als er – zuweilen auch individuelle – Erfahrungen in einen gemeinsamen gesamtgesellschaftlichen Vorrat speichert.57 Der interaktionale Aspekt, auf den bereits Max WEBER hingewiesen hat, begründet die Relevanz des Sinn-Begriffs für die Absichten dieser Arbeit. So unterstreicht z. B. auch Anthony GIDDENS, dass für die „Regeln“ und „Ressourcen“, die er seiner Strukturationstheorie zugrunde legt, die Tatsache, dass kulturell geteiltes Wissen einen Sinn hat und bei Übertretung desselben Sanktionen nach sich zieht, konstitutiv ist.58 Peter L. BERGER und Thomas LUCKMANN merken zudem an, dass die „allgemeinen Sinnordnungen“, ob subjektiv oder objektiv, einer sprachlichen Typisierungsleistung unterliegen, so dass sie mittels verbaler Kommunikation auch erkennbar werden59 – eine für die Einschätzung der antiken Rhetorik essenzielle Erkenntnis. Unter besonderer Berücksichtigung der geschichtswissenschaftlichen Anforderungen ist der Sinn menschlichen Handelns in einem bedeutenden Beitrag von Jörn RÜSEN und Karl-Joachim HÖLKESKAMP thematisiert worden. Den Ausgangspunkt stellt für die Autoren ebenfalls ein Begriff der Kultur dar, der als „Inbegriff der Deutungs- und Sinnbildungsleistungen, die Menschen vollziehen müssen, um ihr Leben praktisch […] leben zu können“60 verstanden wird. Wenngleich die Bewältigung der alltäglichen Routinen zumeist unbewusst vonstattengeht, geschieht dies in einem normativen Rahmen, der von dem „nomologischen Wissen“ der Gesellschaft vorgezeichnet ist. Sinn konkretisiert sich für die Autoren aber in den einzelnen Sinnkonzepten, der kulturellsemantischen Grundlage der Gesellschaft, die einen handlungsleitenden
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Vgl. Schütz 2004, S. 122. Giddens 1997, S. 70. Berger / Luckmann 2010, S. 41; zu den sozialen Repräsentationen als „Träger […] sinnstiftender Strukturen“ vgl. Schützeichel 2007, S. 451; allgemein zum Sinn-Begriff aus philosophischer Perspektive: KAPUST, Antje, Sinn, in: Schützeichel, Rainer (Hrsg.), Handbuch Wissenssoziologie und Wissensforschung, Konstanz 2007, S. 404-417. Rüsen / Hölkeskamp 2003, S. 2. Weiter heißt es: „In ihr geht es also um menschliche Subjektivität, um die Innenseite der mannigfaltigen Erleidungen und Tätigkeiten, in denen das menschliche Leben im Wandel der Zeiten erfolgt.“
Kompass für die Deutung der Wirklichkeit bereitstellt.61 „Sinnkonzepte bestehen also aus Zusammenhangswissen, umfassenden Welterklärungen, aus normativ aufgeladenen Richtungs- und Zielbestimmungen von Handeln in Raum und Zeit, aus der Einheit von Welterklärung und Absichten und schließlich aus der Formierung von Identität und Differenz, von Zugehörigkeit und Abgrenzung [kursiv im Original]“.62 Ihren Ausdruck finden diese freilich erst in der Praxis.63 Die Worte und (rituellen) Handlungen eines Akteurs – so auch die eines Gerichtsredners – spiegeln die kulturell konnotierten Vorstellungen seiner Gesellschaft wider, sie haben insofern Sinn, als sie von jenen „umfassenden Welterklärungen“ konditioniert werden und diese zugleich reproduzieren. Selbst dort, wo der orator eine bestehende Norm hinterfragt, bewegt er sich innerhalb gewisser Grenzen, die das akzeptable Maß an Reflexivität festlegen und dadurch die Gültigkeit des betreffenden Sinnkonzepts offenbaren. Anders gesagt, gesellt sich zum Wie und Was der Mentalitätsgeschichte eine dritte Komponente: das kulturbedingte Warum einer Handlung, das verstanden werden muss und uns zu den im nächsten Abschnitt kurz vorgestellten methodischen Überlegungen führt. γ
Methode
Zusätzlich zu seiner Definition des Kulturbegriffs hat Clifford GEERTZ auch den methodischen Zugang zum Verständnis der „Normalität“64 61 62
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Ebd., S. 5. Ebd., S. 4. Ebd., S. 6-8 werden die drei Varianten der Manifestation von Sinnkonzepten besprochen: die „fungierende“, als unbewusstes Befolgen unanfechtbarer Normen, die „reflexive“, als Bewusstmachung und Infragestellung bestehender Sinnkonzepte, sowie die „operative“, durch die die „reflexiven Praktiken in die deutungsbedürftigen Lebensvollzüge hinein vermittelt“ werden (ebd., S. 7). Ebd., S. 10. So sind z. B. auch Emotionen eine ureigene Form der Repräsentation von Sinnhaftigkeit; vgl. Trepp 2001, S. 46: „‚Kultur‘ bildet den Rahmen, in dem Gefühle gestaltet und mit einem spezifischen Sinn versehen werden“. Geertz 1987, S. 21.
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fremder Gesellschaften thematisiert. Seine in Anlehnung an Gilbert RYLE entwickelte „Dichte Beschreibung“ offeriert das Instrumentarium für dieses Verständnis, sie stellt aber keine methodische Neuerung an sich dar. Stephan WOLFF hat darauf hingewiesen, dass das Originelle im Denken GEERTZ’ in seiner „Forschungshaltung“ liegt,65 dessen Ziel es ist, sowohl die Bedeutung eines Handelns für die beteiligten Personen zu ermitteln als auch diese Bedeutung in einen übergeordneten Kontext zu setzen – mit anderen Worten: sie mit Sinn zu füllen.66 Daraus folgt das dreigliedrige System von Beschreiben, Deuten des Beobachteten aus der Perspektive der Erklärungsmuster, welche die Handelnden ihrem Verhalten selbst zuschreiben, und Kontextualisierung der Deutung in den größeren Rahmen kultureller Sinnzuschreibungen.67 Dieser Haltung folgend ergibt sich auch für den Historiker die Notwendigkeit, über die Selbstzeugnisse der Quellen hinaus den Bezug zu den Vorstellungen, aus denen diese resultieren, herzustellen. Die Methodik GEERTZ’ ist dagegen weiterhin eine elementar hermeneutische. Dies stellt eine Realität dar, die er als unvermeidlich für seine ethnologische Arbeit erachtet,68 und die auch der kulturgeschicht-
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Wolff 2000, S. 84. Vgl. Geertz 1987, S. 39: „Es wird also unterschieden zwischen dem Festhalten der Bedeutung, die bestimmte soziale Handlungen für die Akteure besitzen, und der möglichst expliziten Aussage darüber, was das so erworbene Wissen über die Gesellschaft, in der man es vorfand, und darüber hinaus über das soziale Leben im allgemeinen mitteilt.“ Vgl. ebd., S. 29-30; ebd., S. 292 formuliert der Autor das Ziel, „Vorstellungen zu begreifen, die für ein anderes Volk erfahrungsnah sind, und zwar so gut, daß man sie in eine aufschlußreiche Beziehung zu jenen erfahrungsfernen Vorstellungen setzen kann, die Theoretiker entwickelt haben, um allgemeine Kennzeichen sozialen Lebens zu erfassen“; vgl. auch Wolff 2000, S. 88-92; Bachmann-Medick 2009a, S. 69. Nicht allzu weit davon entfernt ist auch die „doppelte Hermeneutik“ von Anthony GIDDENS, der in seiner einzigen Auseinandersetzung mit GEERTZ lediglich erwähnt, dass die Dichte Beschreibung dort „nicht nötig [ist], wo die untersuchten Aktivitäten allgemeine Merkmale haben, die denjenigen vertraut sind, für die die ‚Entdeckungen‘ verfügbar gemacht werden“ (Giddens 1997, S. 339). Dies ist für die späte römische Republik jedoch nur bedingt der Fall. Geertz 1987, S. 14-15; vgl. dazu auch Wolff 2000, S. 84-85.
lichen Forschung zugutekommt.69 Dabei geht er „mikroskopisch“ vor, beschränkt also seine Untersuchungen auf Fallstudien, die keine allumfassenden Theorien anstreben, wenngleich sie zu solchen führen können: „Es werden keine allgemeinen Aussagen angestrebt, die sich auf verschiedene Fälle beziehen, sondern nur Generalisierungen im Rahmen eines Einzelfalls“.70 Solange der Blick auf das große Ganze nicht vernachlässigt wird, entspricht dies ebenfalls der historisch-anthropologischen Tradition.71 Eine Dichte Beschreibung, die die jeweiligen mikroskopischen Beobachtungen auf größere Zusammenhänge bezieht, kann mitunter eine neue Sichtweise auf die praktische Funktionsweise der gesamtgesellschaftlichen Mechanismen einzelner Sinnkonzepte eröffnen. Dabei wird es bisweilen von Nutzen sein, auch eine abduktive Haltung einzunehmen. Für eine Reihe von Begebenheiten, die in den spätrepublikanischen quaestiones befremdlich anmuten, können so vielleicht Lösungsvorschläge angeboten werden, die den Antagonismus zwischen der „Überraschung“ des modernen Forschers und der Selbstverständlichkeit für den antiken Hörer aufheben.72 δ
Fragestellung und Gliederung der Arbeit
Angesichts des zu Beginn des Kapitels postulierten Dualismus zwischen Meinungsbildung und -abbildung in der antiken Rhetorik überrascht es ein wenig, dass das normative und performative Verhältnis der Gerichtsreden zu den objektiven Sinndeutungen im Vergleich zu den innovativen 69
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Vgl. Rüsen / Hölkeskamp 2003, S. 2: „Damit begründet der Sinnbegriff auch einen methodischen Zugriff des Denkens auf diesen Erfahrungsbereich – den hermeneutischen; denn Sinn kann und muß verstanden werden.“ Geertz 1987, S. 37; vgl. auch ebd., S. 30; Wolff 2000, S. 89; BachmannMedick 2009a, S. 59. Vgl. van Dülmen 2000, S. 95-98. Vgl. Reichertz 2000, S. 284: „Abduktive Anstrengungen suchen nach (neuer) Ordnung, jedoch zielen sie nicht auf die Rekonstruktion einer beliebigen Ordnung, sondern auf die Findung einer Ordnung, die zu den überraschenden ‚Tatsachen‘ passt oder genauer: die handlungspraktischen Probleme, die sich aus dem Überraschenden ergeben, löst [beide Hervorhebungen im Original]“.
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Leistungen der ciceronischen Redekunst bislang eine eher sekundäre Rolle gespielt hat – wenngleich die politischen Kommunikationsmodi der mittleren und späten Republik (speziell in den Volksversammlungen) sowohl im Hinblick auf ihren „Sinn“ als auch auf die dazugehörigen semiotischen Aspekte Gegenstand aufschlussreicher Untersuchungen waren.73 Der oben vorgeschlagene Perspektivenwechsel ist allerdings nicht neu. Der Konnex zwischen forensischer Rede und gesellschaftlichem Hintergrund ist spätestens seit der Dissertation von Christoff NEUMEISTER neben den Gesichtspunkt der Kreativität getreten und hat gleichermaßen das Interesse der Forschung bestimmt.74 Die Intention dieser Arbeit ist es jedoch, mithilfe der oben beschriebenen Kategorien diesbezüglich einen Schritt weiter zu gehen und danach zu fragen, ob die argumentativen Zwänge sowie die Verhaltensnormen, denen die Gerichtsredner unterworfen waren, auf einen übergeordneten objektiven Sinn der spätrepublikanischen Prozesse und somit auf Wahrnehmungs- und Deutungsmuster schließen lassen, die in der römischen Gesellschaft mit den Gerichtsverhandlungen assoziiert waren und diesen ihre „Bedeutung“ verliehen. Sie stellt also den Versuch dar, eine Neubewertung der quaestiones vorzunehmen, indem die kulturelle Grundlage Letzterer nicht mehr vorrangig im Gesagten, sondern vielmehr im Implizierten gesucht wird. Zwar stehen auch hier weiterhin die Aussagen Ciceros im Mittelpunkt, deren Konnotationen sollen allerdings aus einem Blickwinkel der Rezipienten betrachtet werden, der – überspitzt formuliert – diesen selbst möglicherweise nicht bewusst war. Folglich sind für uns weniger die allgegenwärtigen und in den rhetorischen Handbüchern ausführlich behandelten topoi von Interesse als vielmehr diejenigen Argumentationsstränge, die als gesellschaftliche Selbstverständlichkeiten erscheinen und somit die (weitgehend) unreflektierten Erwartungen der Hörer enthüllen. Ein solches Vorhaben ist in zweierlei Hinsicht legitim. Zum einen verdeutlicht bereits eine oberflächliche Lektüre der ciceronischen Ge73 74
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Die relevanten Forschungen sollen im nächsten Abschnitt vorgestellt werden. Neumeister 1964. Craig 2002, S. 517-518 betrachtet das Buch NEUMEISTERs ebenfalls als Wendepunkt in der Konzeptualisierung antiker Reden. Der Titel des bereits zitierten Aufsatzes von Braun 2003 ist in dieser Hinsicht aussagekräftig.
richtsreden, dass der orator im Laufe seiner Karriere des Öfteren mit Situationen konfrontiert worden ist, die er in einer für heutige Verhältnisse nur schwer nachvollziehbaren, wenn nicht gar paradox erscheinenden Art und Weise gelöst hat. Nicht selten hat es die Forschung erstaunt, dass manche Argumente selbst dem zu widersprechen schienen, was als fundamentale Gewissheit über die römische Gesellschaft galt. Statt von Unachtsamkeiten des Redners in diesen Fällen auszugehen soll hier die Prämisse aufgestellt werden, dass es ebensolche Situationen waren, die auf jene Selbstverständlichkeiten hindeuten, auf übergeordnete Sinnmuster, die nicht zuletzt wegen ihres unbewussten Charakters oft höherwertiger waren als die üblichen reflexiven Erklärungen der Akteure selbst.75 Zum anderen ergibt sich die Fragestellung aus einem der Hauptmerkmale des antiken Prozesses. Die auf Rede und Gegenrede basierende Praxis der spätrepublikanischen quaestiones erlaubte es dem orator nicht nur, sich auf weitschweifige Exkurse zu allen Aspekten des sozialen Lebens einzulassen, sondern sie forderte dies mitunter sogar von ihm ein. Das fremdartig anmutende Verfahren hat in der Forschung naturgemäß die Frage nach den Kriterien der richterlichen Urteilsbildung aufgeworfen. Die Römer, als Begründer des ius, schienen des Öfteren in den eigenen Gerichtsverhandlungen dieses Konzept bewusst zu missachten. Diesen Eindruck gibt James ZETZEL wieder, wenn er selbst grundlegende und allgemeine Prinzipien der Rechtsprechung in den ciceronischen Reden nicht vertreten sieht.76 Stattdessen würden allein Dreistigkeit und Unverschämtheit der Argumente den Ausschlag
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Von einer ähnlichen Prämisse geht auch May 2002 aus (vgl. S. 51 und 68). Das Fehlen des reflexiven Elements als Schlüssel zu den elementarsten Deutungsschemata gesellschaftlichen Lebens ist nicht nur dem oben beschriebenen „Sinn“-Konzept inhärent, sondern zum Teil auch der später vorgestellten Theorie der sozialen Normen wie auch verstärkt dem Habitus-Begriff Pierre BOURDIEUs, der uns in der zweiten Hälfte der Arbeit interessieren wird. Zetzel 1993, S. 451. In Bezug auf die aus heutiger Sicht sachfremden Stellungnahmen sagt er: „All that these tactics (and others as well) do is to show clearly how little Cicero cares about the actual defense of his client“ (ebd., S. 450).
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geben.77 Eine solche Sichtweise setzt voraus, dass Redner und Richter Teil eines stillschweigenden Komplotts sind, das den reinen Unterhaltungszweck der quaestiones hinter einer seriösen Fassade verbergen soll.78 Was ZETZELs Ansatz freilich nicht vermag, ist eine Erklärung für den allenthalben belegten Stellenwert der Prozesse und für die schwerwiegenden sozialen Konsequenzen einer Verurteilung zu liefern. Einen solchen Erklärungsversuch hat zeitgleich Paul SWARNEY gestartet, indem er die These aufstellte, dass es gerade der in jeder Verhandlung auf dem Spiel stehende Status sei, den die Wissenschaft in den Fokus rücken müsse.79 So würde das Urteil in erster Linie ein Befinden über die gesellschaftliche Überlegenheit der siegreichen Partei darstellen80 – eine Vermutung, die sich in Anbetracht der Quellen nicht so leicht von der Hand weisen lässt. Eine Erwiderung auf diese Thesen hat im Jahre 1997 Andrew RIGGSBY verfasst, der anhand einer Reihe von Passagen aus der rhetorischen Theorie und Praxis, aber auch auf Grundlage relevanter Stellen aus Ciceros Briefen die wiederholten Verweise auf eine sachbezogene und wahrheitsgetreue Urteilsfindung ins Feld führt.81 Dabei beruhe das kulturelle Missverständnis nicht auf unterschiedlichen Definitionen des „Gerichts“, sondern auf einem divergenten Konzept der „Relevanz“, das in der antiken Vorstellung durchaus vermeintlich sachfremde Charakterbeschreibungen umschließen konnte.82 Als Antwort auf die im Titel seines Aufsatzes gestellte Frage schlussfolgert RIGGSBY: „The Roman jury did want to believe its own verdict“.83
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Ebd. Ebd., S. 451; vgl. dazu Riggsby 1997, S. 236, 238. Vgl. Swarney 1993, S. 138. Ebd., S. 154-155; vgl. auch ebd., S. 137: „This will help bolster the conclusion that demonstrating a defendant’s place in society – and conversely the prosecutor’s social inferiority or deviation – was a primary objective of the defence in each of the cases studied here.“ Riggsby 1997, S. 237-244; ebd., S. 244-246 bespricht er ähnliche Beispiele aus der Historiographie, S. 247-248 untersucht er Ciceros Invektiven. Ebd., S. 237; vgl. Riggsby 1999, S. 6. Riggsby 1997, S. 251; zu dieser Forschungsdebatte vgl. auch Powell / Paterson 2004, S. 3-4; Alexander 2010, S. 103-104.
Die Forschungsdebatte hat in der Folgezeit leider kaum Spuren hinterlassen, so dass heutzutage beide Sichtweisen auf die spätrepublikanischen Gerichtshöfe koexistieren. So stellt z. B. James MAY fest, dass „these concerns [scil.: die Charakterdarstellungen] seem to overshadow, or even dominate the real issues of the case“.84 Für Maximilian BRAUN „geht es [vor Gericht] […] mithin nicht darum ‚die bessere Sache, sondern den besseren Menschen siegen zu lassen‘“,85 und er beruft sich dabei auf ein Zitat von Viktor PÖSCHL.86 Im Gegenzug kommen Jonathan POWELL und Jeremy PATERSON zu dem Ergebnis, dass „the evidence taken as a whole indicates that the ostensible [Hervorhebung im Original] purpose of a Roman court was the same as that of a modern one“.87 Christopher CRAIG, der RIGGSBYs Thesen weitgehend positiv gegenübersteht, macht zudem auf die Probleme aufmerksam, die sich aus diesen ergeben: „But Riggsby’s refutation leaves unclear how we are to comprehend the acceptance of Cicero’s deceitfulness by his juries/readers“.88 Obwohl kaum eine Beschäftigung mit der ciceronischen Gerichtsrhetorik ohne eine direkte oder indirekte Stellungnahme zu den Faktoren richterlicher Urteilsbildung auskommt, ist bislang noch nicht monographisch versucht worden, sich diesem Thema durch eine kulturelle Kontextualisierung der Gerichtsverhandlung selbst zu nähern. Die Beantwortung der Sinnfrage könnte somit auch einen Beitrag zu der oben vorgestellten Forschungsdiskussion leisten. Die häufigen Charakterdarstellungen lassen die Gerichtsrhetorik selbstverständlich zu einer fundamentalen Quellengattung für korrekte Umgangsformen wie auch für im Unterbewusstsein der Bürger verankerte Meinungen und Werturteile werden. Dies führt zwangsläufig zu 84 85 86
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May 2002, S. 61. Braun 2003, S. 80. Pöschl 1980, S. 11; vgl. auch Thierfelder 1965, S. 385: „In einer mehr patriarchalisch-kleinstädtischen Weise benutzte damals das Richterkollegium als Ausschuß und Vertretung der Gesamtbürgerschaft den Anlaß des Prozesses, um sich ein Urteil über den beschuldigten Mann überhaupt zu bilden, um die Frage zu prüfen, ob er ein wertvolles, zu bewahrendes Mitglied der Gemeinde, oder ob sein Ausscheiden wünschenswert sei“. Powell / Paterson 2004, S. 4. Die Autoren folgen hier explizit den Ergebnissen RIGGSBYs. Craig 2002, S. 519.
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der – von den Quellen auch indirekt bestätigten – Schlussfolgerung, dass jedwede Norm, abhängig von den Interessen des einzelnen Falles, in einer Rede thematisiert werden konnte. Einstellungen gegenüber Familie und Verwandtschaft kommen darin ebenso zum Tragen wie Geschlechterbilder, ethnische Stereotype oder allgemeine Vorstellungen über Religion und über die res publica selbst. Eine erschöpfende Untersuchung aller Sinnkonzepte, die sich in Ciceros Gerichtsreden manifestieren, wäre angesichts der ausgezeichneten sozial- und kulturgeschichtlichen Forschungsliteratur zur römischen Familie, zu Geschlechtern oder Religion müßig und für die Absichten dieser Arbeit auch nicht zielführend. Dagegen gab es in den Prozessen eine Konstante, die bei allen fallbezogenen Variationen nicht außer Acht gelassen werden konnte und sich in elementarer Weise dafür eignet, den Sinn einer quaestio offenzulegen. Ob er am Beispiel des Caelius das Jugendbild, gegen Clodia die Rolle der matrona oder zugunsten Roscius’ das Bild des rusticus thematisiert, bleibt Cicero stets ein Gerichtspatron, der vor den Richtern (und der corona) sowie gegen den Ankläger argumentiert. Diese zunächst trivial erscheinende Feststellung erlangt große Bedeutung, wenn man sich vergegenwärtigt, dass mit den einzelnen Positionen, die in jeder Verhandlung von neuem besetzt wurden, mehr oder weniger präzise Erwartungen verbunden waren. Sobald Cicero aufstand, um etwa für P. Sulla das Wort zu ergreifen, war er vielleicht nur noch in stilistischen Belangen der Hörer Molons, er war in etwas größerem Maße Konsular (jedoch nur sofern dies seiner Tätigkeit als Patron zugutekam oder diese behinderte), allerdings blieb er durchweg der Anwalt Sullas. Die Soziologie hat für diese Art der Dissoziation eine Erklärung bereitgestellt, die für die Untersuchung prägend sein wird. Demgemäß werden gewisse Attribute oder ein entsprechendes Verhalten dann besonders stringent, wenn der Akteur eine spezielle von der Gesellschaft festgelegte „Rolle“ im sozialen Gefüge zu spielen hat.89 „Verteidiger“ und „Ankläger“ stellen solche Rollen dar, an die bestimmte, bisweilen gar imperative Vorstellungen geknüpft wurden. Dabei ist natürlich zu beachten, dass das Verhalten einzelner Schauspieler – um bei der Metapher zu bleiben – nur im Gesamtkontext des Theaterstücks verstanden werden kann, so dass auch hier darauf aufmerksam gemacht werden 89
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Ausführlicher dazu: unten, S. 74-77.
muss, dass weder die Ermittlung der Normen noch die des dahinter liegenden Sinnes für die einzelnen Positionen zielführend ist, solange man daraus keine Rückschlüsse auf den einheitlichen Sinn der Gerichtsverhandlung zieht. Zusätzlich zur Rollentheorie erhält die Arbeit einen zweiten Impuls vonseiten einer Strömung, die erst vor Kurzem in die wissenschaftliche Landschaft Einzug gehalten hat. Sie basiert auf der Loslösung von dem früheren Antagonismus zwischen Rationalität und Emotionalität und sieht Letztere als einen Bereich an, dem ebenfalls motivationale Komponenten beigemessen werden können. Analog zu den Rollenbestimmungen sind Emotionen größtenteils zielgerichtet und beruhen ebenfalls auf kulturimmanenten Wertigkeitshierarchien. Sie werden somit zu aussagekräftigen Indikatoren für gesellschaftliche Sinnstiftungen. Der zweite Teil der Untersuchung, der sich diesen Erkenntnissen widmen wird, soll jedoch keine Abgrenzung zum ersten Abschnitt darstellen, sondern diesen in den wichtigsten Punkten ergänzen. Gefühle sind nicht Teil eines von dem normativ geprägten Verhalten gesonderten Feldes, sondern sie verleihen diesem Verhalten erst Ausdruck. Eine Norm wird sprachlich oder emotional externalisiert, ja vielfach erst im Zusammenspiel dieser Ebenen erkennbar, so dass beide implizit der gleichen Logik folgen.90 Ähnliche Voraussetzungen sind in der Geschichtswissenschaft bereits des Öfteren formuliert worden. So gehen Ritualforschungen oder die Untersuchung der performativen Elemente politischer Kommunikationsformen ebenfalls von der Prämisse aus, dass affektive Kundgebungen die tiefgreifenden mentalen Strukturen einer Gesellschaft offenbaren und gleichermaßen die fundamentalen Werte jener Gesellschaft bekräftigen. Folglich sollen auch in unserer Arbeit Gefühlsperformanzen die Analyse der „rationalen“ Vorgaben insofern begleiten, als sie zugleich verdeutlichen, wie diese auf emotionaler Ebene reproduziert und stabilisiert wurden. Eine Selektion musste hinsichtlich des Forschungsgegenstandes getroffen werden. Dass im Senat anders vorgetragen wird als in einer Volksversammlung91 und beide Untergattungen wiederum für die Praxis der Gerichtshöfe kaum relevant sind, versteht sich von selbst. Die zweite 90 91
Zur Emotionsforschung s. unten, S. 256-272. Vgl. z. B. MACK, Dietrich, Senatsreden und Volksreden bei Cicero, Würzburg 1937.
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Prämisse bildet eine strikt geregelte Rollenteilung und somit die Existenz der vier Rollen (Verteidiger, Ankläger, Richter, corona) überhaupt.92 Eine solche Voraussetzung können weder die Privatprozesse, in denen der Rollengegensatz zwischen patronus und accusator fehlt, noch die in der Endphase des ciceronischen Wirkens vor dem Einzelrichter Caesar gehaltenen Reden erfüllen.93 Darüber hinaus setzt eine objektive Einschätzung des Zusammenspiels forensischer Hauptrollen voraus, dass die Rollenübernahme nicht an Kriterien gebunden ist, die ausschließlich für die verhandelte Strafsache gelten. Letzteres trifft auf ambitus-Verfahren zu, die hauptsächlich von dem unterlegenen Gegenkandidaten eingeleitet wurden,94 und in noch stärkerem Maße auf die Repetundenprozesse, in denen ein Patron die klagenden Provinzialen vertrat.95 Eine Analyse der Anklägerrolle würde sich in diesen Fällen angesichts konkurrierender Prinzipien zwangsläufig dem Risiko einer Ergebnisverfälschung aussetzen. Dafür verdienen es Mord- und Gewaltprozesse in doppelter Hinsicht, in den Mittelpunkt gerückt zu werden. Die Offenheit der Rollenübernahme, die den anderen juristischen Subkategorien theoretisch ebenso zustand, wurde hier gelebte Realität und liefert ein getreues Abbild der relevanten normativen Hierarchien. Zudem erweist sich das Zusammenfließen von Privatem und Öffentlichem als essenziell, wenn die angesprochenen Normen eine gesamtgesellschaftliche Akzeptanz gewinnen müssen.96 In diese Gattungen fallen sechs überlieferte Reden Ciceros, welche die Zeit von 80 bis 52 v. Chr. 92
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Die Erwähnung des „unbeteiligten“ Publikums ist in diesem Zusammenhang keineswegs unumstritten. An dieser Stelle soll jedoch vorweggenommen werden, dass wir nicht nur die Richter, sondern auch die corona als Zielgruppe des Redners betrachten; s. unten, S. 227-232. Diesen Gegensatz stellt Cicero selbst anhand eines Vergleiches zwischen den – zugegebenermaßen extremen – Rahmenbedingungen der Miloniana und dem Privatprozess vor einem Einzelrichter her. Ausschlaggebend ist für ihn die „Natur der Sache“, also die Umstände, die das jeweils Angemessene konditionieren: Sed si eodem modo putant exercitu in foro et in omnibus templis, quae circum forum sunt, collocato dici pro Milone decuisse, ut si de re privata ad unum iudicem diceremus, vim eloquentiae sua facultate, non rei natura metiuntur (opt. gen. 10); vgl. auch Cic. Tull. 5. Vgl. David 1992, S. 174; s. auch Cic. Mur. 44, 56. Vgl. Cic. off. 2,50; Cic. div. in Caec. 10. Zu dieser Verbindung s. unten, S. 57-61.
abdecken, so dass wir den Fokus hauptsächlich auf diejenigen orationes richten werden, die im Zuge der Mordklagen gegen Sex. Roscius und A. Cluentius sowie in den vis-Prozessen gegen P. Sulla, P. Sestius, M. Caelius und T. Annius Milo gehalten – oder besser: infolge dieser Verhandlungen publiziert – worden sind. Die vorgenommene Selektion bedeutet jedoch keine Vernachlässigung des Gesamtblickes auf Ciceros Gerichtsrhetorik. Die relevanten Aspekte der zunächst ausgeklammerten Reden (so z. B. die Rolle des Patrons oder grundlegende Fragen zur Anklägerpflicht, wie sie etwa in der divinatio in Caecilium thematisiert werden) sollen im Rahmen der Untersuchung ebenfalls Berücksichtigung finden.97 Der erste Teil der Studie widmet sich den Rollenattributen der Prozessparteien sowie den Konsequenzen für das dazugehörige (vorerst emotionsfreie) Verhalten. Nicht nur die Implikationen einer Vielzahl von Argumenten, sondern auch explizite Aussagen Ciceros legen nahe, dass es vor allem drei Aspekte der anwaltlichen Tätigkeit waren, die der sozialen Sanktionierung unterstanden. Eine erste Erwartung betrifft das Lebensalter und, damit verbunden, die rollenspezifischen Eigenschaften, die dem Redner von seiner aetas auf natürlichem Wege verliehen werden. Diesbezügliche Vorschriften führen eine Rollenantithese zwischen Anklage und Verteidigung herbei, die weitreichende Folgen für die Konzeptualisierung der forensischen Positionen hat. Außerdem ist des Öfteren die Redegabe selbst zum Thema der gesellschaftlichen Evaluierung gemacht worden, eine Fähigkeit, deren ambivalente Stellung auf ein bedeutsames Prinzip der spätrepublikanischen Gerichtsverhandlungen zurückgeführt werden kann. Hinzu tritt die auctoritas des Patrons, die als inhärentes Attribut jedes seiner Worte begleitet. Die Frage, ob das Übergewicht, das der Verteidiger dadurch zwangsläufig erlangen musste, kulturell wünschenswert war oder ob relevante Ausgleichsmechanismen für eine Entschärfung dieses gesellschaftlich und politisch elementaren Schlagwortes gesorgt haben, wird im Laufe des Abschnitts im Mittelpunkt stehen. Diesen Kapiteln soll zunächst eine längere Be97
Selbst bei dieser Auswahl müssen natürlich die Unterschiede in Kauf genommen werden, die sich einerseits aus den ausschließlich mit Senatoren besetzten Richterbänken im Prozess gegen Sex. Roscius, andererseits aus den durch die lex Pompeia de vi veränderten Rahmenbedingungen der Miloniana ergeben.
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sprechung der Kriterien, die einen Bürger überhaupt legitimierten, normkonform in eine der beiden Rollen zu schlüpfen, vorangestellt werden. Abschließend wird man sich der Konzeptualisierung der Richterrolle und der forensischen Funktion des römischen Volkes zuwenden müssen. Im Zusammenspiel mit den für die Redner ermittelten Rollenbildern könnte dadurch im Idealfall eine neue Perspektive auf den „Sinn“ der spätrepublikanischen Strafprozesse eröffnet werden, die auch der kulturellen Konditionierung Rechnung trägt. Der zweite Teil nimmt die emotionale Ausprägung der Normen in den Blick und soll zeigen, wie die affektiven Reproduktionsmechanismen zur Geltungssicherung der im ersten Schritt eruierten Konzepte beigetragen haben. Die Forschung hat bislang – auch unter dem Einfluss antiker Handbücher – die rhetorischen Emotionen hauptsächlich im Hörer verortet und dementsprechend diejenigen Affekte untersucht, die Cicero durch seine Rede zu evozieren versuchte. Allerdings hebt vor allem Quintilian die eminente Bedeutung derjenigen Gefühle hervor, die von den Rednern selbst vorgelebt werden mussten und ihrerseits einer strikten normativen Kontrolle unterworfen waren. Zwei Emotionen, deren gesellschaftliche Relevanz zwar des Öfteren unterstrichen wurde, für die wissenschaftliche Beschäftigung mit der forensischen Rhetorik jedoch eine untergeordnete Rolle gespielt haben, sollen hierbei in den Vordergrund gerückt werden: die von den oratores erwarteten (oder verbotenen) und in kommunikativer Hinsicht essenziellen Gefühle der Scham und der Angst. Die somit zweigeteilte Untersuchung, deren Glieder jedoch aufeinander bezogen sind, spiegelt sich auch in der Vorstellung der Ergebnisse wider. Demgemäß wird dem Fazit, das den Abschluss des ersten Teiles bildet (S. 232-239), ein Schlusskapitel an die Seite gestellt (S. 351-355), wodurch die Abschnitte als eine in sich geschlossene Zusammenfassung der Ergebnisse der Studie betrachtet werden müssen. ε
Forschung
Für die gewissermaßen eklektische Vorgehensweise, die dieses Vorhaben verfolgt, erweist sich die Positionierung innerhalb einer bestimmten Forschungstradition als nicht besonders leicht. Zudem stellt die Behandlung der ciceronischen Beredsamkeit wie auch die seiner politi40
schen Tätigkeit oder seiner philosophischen Ansichten ein Feld dar, das bereits seit Längerem kaum mehr überblickt werden kann.98 Ergänzend zu der im letzten Abschnitt vorgestellten Forschungsdiskussion sollen deshalb im Folgenden einerseits diejenigen Autoren Erwähnung finden, die sich explizit der ciceronischen Gerichtsrhetorik gewidmet haben, andererseits solche Beiträge angeführt werden, die entweder eine Pionierleistung auf dem Gebiet der spätrepublikanischen Kulturgeschichte erbracht haben oder grundlegend für jede Beschäftigung mit der kulturellen und politischen Semantik der Zeit sind. Dabei werden Titel, die in unserer Untersuchung zwar nicht zitiert werden, als weiterführende Literatur zu den behandelten Themen jedoch höchst empfehlenswert sind, eine besondere Berücksichtigung finden.99 Zuallererst muss auf die Studien aufmerksam gemacht werden, die sich der praktischen Funktionsweise einer quaestio verschrieben haben. Einen vielversprechenden Anfang machte bereits im 19. Jahrhundert Jules POIRETs Essay über die forensische Rhetorik, nicht zuletzt weil der Autor im Zuge seiner Überlegungen vielfach auch dem sozialen Kontext der orationes Beachtung geschenkt hat, wenngleich seine allein um die Konzepte der urbanitas und gravitas als Hauptmerkmale der rhetorischen Bestrebungen kreisenden Thesen als überholt gelten dürfen.100 In der Folgezeit wurden ernsthafte Beschäftigungen mit der Thematik jedoch rarer.101 Erst über ein halbes Jahrhundert später sind im deutschsprachigen Raum zwei Publikationen erschienen, die sich dem Bild des Gerichtsredners gewidmet haben: Franz WIEACKERs kurze Abhandlung zu „Cicero als Advokat“, die einen von dem Autor ein Jahr zuvor gehaltenen Vortrag wiedergibt und dementsprechend kursorisch
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Einen guten, jedoch bereits veralteten Forschungsüberblick über die Arbeiten zu Ciceros theoretischer und praktischer Rhetorik bieten Craig 2002 (für die letzten zweieinhalb Jahrzehnte des 20. Jahrhunderts) und vor allem die unter Berücksichtigung älterer Titel ebenfalls von ihm zusammengestellte Bibliographie im gleichen Sammelband (S. 532-590). Einflussreiche Arbeiten aus den Nachbardisziplinen sollen in den jeweiligen theoretischen Kapiteln vorgestellt werden. Poiret 1886. Zu erwähnen ist noch COSTA, Emilio, Cicerone giureconsulto, Bologna 1927, der eine juristische Perspektive auf die Gerichtsrhetorik bietet.
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das Thema behandelt,102 sowie Walter NEUHAUSERs Dissertation zu den Begriffen patronus und orator. Letztere Arbeit müsste für unsere Zwecke von größerer Bedeutung sein, allerdings ist der Autor auch hier im Wesentlichen an lexikalischen Fragen interessiert, was dazu führt, dass die Kontextualisierung der Praxis vielfach auf der Strecke bleibt.103 Signifikanter ist das bereits erwähnte und ungefähr zeitgleich erschienene Buch von Christoff NEUMEISTER, das die Gerichtsrede in ihrer Abhängigkeit von den äußeren Faktoren betrachtet und somit zum ersten Mal jenen Perspektivenwechsel vollzieht, dem wir uns im Folgenden auch anschließen. Konkrete normative Vorgaben, die die Person des Redners betreffen, werden darin zwar nicht behandelt, nichtsdestoweniger stellt diese Arbeit ein fundamentales Werk für das Verstehen der forensischen Interaktion dar.104 Die Erforschung der Gerichtsrhetorik ist in den darauffolgenden Jahrzehnten hauptsächlich von der Klassischen Philologie vorangetrieben worden, die Behandlung der soziokulturellen Faktoren der forensischen Praxis erlebte jedoch eine weitere Durststrecke. Diese Lücke hat Anfang der neunziger Jahre des letzten Jahrhunderts Jean-Michel DAVID in ausgezeichneter Weise gefüllt.105 Sein opus, das die Spielregeln der republikanischen quaestiones wie auch das Beziehungsgeflecht, das daraus entstand, untersucht, ist der unerlässliche Einstieg in die Thematik, zumal DAVID die eingehende Erforschung der Pflichten einer Vielzahl von Rollenträgern mit den Erkenntnissen soziologischer Studien verbindet. Es ist weder möglich, seiner umfassenden Analyse etwas hinzuzufügen, noch soll es an dieser Stelle unsere Absicht sein. Allerdings könnten seine Ergebnisse unter Umständen durch die An-
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Wieacker 1965. Seine konkreten Beobachtungen gelten überdies dem Bereich der Privatprozesse, den er vor allem anhand der Rede für Q. Roscius analysiert. Neuhauser 1958. Neumeister 1964. Aufschlussreich ist auch das neuere Buch von Andersen 2001, das die griechisch-römische Rhetorik in ihrer Gesamtheit betrachtet und die wesentlichen Aspekte exzellent herausarbeitet. David 1992. Ebenfalls relevant, wenn auch längst nicht so ausführlich, ist das drei Jahre später erschienene Buch von Crook 1995.
wendung neuerer interdisziplinärer Instrumentarien aus einem anderen Blickwinkel beleuchtet werden.106 Das Erhellen jener sozialen Beziehungen, die elementar für die Erfassung der gesellschaftspolitischen Strukturen der späten Republik sind, haben ebenfalls eine lange Tradition, im Laufe derer die Forschungsergebnisse und -praktiken immer weiter verfeinert und ausdifferenziert wurden. Die Vorarbeiten von Friedrich MÜNZER107 und insbesondere die seines Schülers, Matthias GELZER,108 sind spätestens ab der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts vielfach rezipiert und weitergeführt worden. Es soll hier vor allem auf eine Monographie von Christian MEIER aufmerksam gemacht werden,109 die in vielerlei Hinsicht auch zur historisch-anthropologischen Wende im Verständnis des spätrepublikanischen Systems beigetragen hat. So stehen heutzutage verstärkt die symbolischen Kommunikationsformen sowie Konsens- und Integrationsrituale, welche die Mechanismen der res publica vornehmlich aus einer semiotischen Perspektive beleuchten, im Mittelpunkt des Interesses. Dementsprechend nehmen die Arbeiten von Karl-Joachim HÖLKESKAMP, Martin JEHNE oder Egon FLAIG auch für uns eine zentrale Stelle ein.110 Einen wichtigen Untersuchungspunkt bilden dabei die 106
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Die spärliche Literatur zu den anwaltlichen Aspekten der ciceronischen Redekunst wird auch von den Herausgebern des vielleicht wichtigsten Sammelbandes seit Jean-Michel DAVID beklagt: „In short, they [scil.: Cicero’s speeches] have been studied from almost all possible points of view other than that of practical advocacy“ (Powell / Paterson 2004, S. 2). MÜNZER, Friedrich, Römische Adelsparteien und Adelsfamilien, Stuttgart 1920. Gelzer 1912 mit einem Kapitel zum Gerichtspatronat (S. 56-70). Meier 1997 (zuerst 1966). Die Konsensorientiertheit der politischen Kultur Roms und die damit untrennbar verbundenen performativen Pflichten betonen vor allem FLAIG, Egon, Entscheidung und Konsens. Zu den Feldern der politischen Kommunikation zwischen Aristokratie und Plebs, in: Jehne, Martin (Hrsg.), Demokratie in Rom? Die Rolle des Volkes in der Politik der römischen Republik, Stuttgart 1995, S. 77-127; HÖLKESKAMP, Karl-Joachim, Konsens und Konkurrenz. Die politische Kultur der römischen Republik in neuer Sicht, Klio 88, 2006, S. 360-396; JEHNE, Martin, Integrationsrituale in der römischen Republik. Zur einbindenden Wirkung der Volksversammlungen, in: Hölkeskamp, Karl-Joachim u. a. (Hrsgg.), Sinn (in) der Antike. Orientie-
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kulturellen Regelmäßigkeiten der öffentlichen Stellungnahmen, wenngleich der Blick bislang hauptsächlich auf die für die Kommunikation mit dem Volk zweifellos relevanteren Reden in den Volksversammlungen gerichtet wurde.111 Die Erforschung der kulturellen Semantik emotionaler Performanzen verdankt zudem viel denjenigen Autoren, die der Gestik und Mimik in Rom besondere Aufmerksamkeit zuteilwerden ließen.112
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rungssysteme, Leitbilder und Wertkonzepte im Altertum, Mainz 2003, S. 279-297. Zusätzlich zum letzten Sammelband sei noch erwähnt: HÖLKESKAMP, Karl-Joachim (Hrsg.), Eine politische Kultur (in) der Krise? Die „letzte Generation“ der römischen Republik, München 2009. Der Untertitel geht freilich auf das einflussreiche Werk von Gruen 1974 zurück. Zwei Arbeiten aus dem französischsprachigen Raum, die große Bedeutung für die heutigen kulturgeschichtlichen Forschungen erlangt haben, müssen an dieser Stelle ebenfalls angeführt werden. So ist die Rolle des Volkes und der Kommunikation zwischen den sozialen Schichten von NICOLET, Claude, Le métier de citoyen dans la Rome républicaine, Paris 1976 und VEYNE, Paul, Brot und Spiele. Gesellschaftliche Macht und politische Herrschaft in der Antike, Frankfurt/Main u. a. 1988 thematisiert worden. Die aktuelle Diskussion über den „demokratischen“ Charakter der römischen Republik angestoßen hat MILLAR, Fergus, The Political Character of the Classical Roman Republic, JRS 74, 1984, S. 1-19; vgl. auch DERS., The Crowd in Rome in the Late Republic, Ann Arbor 1998; in kritischer Auseinandersetzung damit: HÖLKESKAMP, Karl-Joachim, Die Römische Republik: „Government of the People, by the People, for the People?“, in: Ders. (Hrsg.), SENATVS POPVLVSQVE ROMANVS. Die politische Kultur der Republik – Dimensionen und Deutungen, Stuttgart 2004, S. 257-280. Für die sozialen Rollenbilder innerhalb der römischen Familie vgl. zudem BETTINI, Maurizio, Familie und Verwandtschaft im antiken Rom, Frankfurt/Main u. a. 1992. Vgl. Pina Polo 1996; Hölkeskamp 2004b. Allerdings hat Martin JEHNE in einem Beitrag, der uns im Laufe der Arbeit noch beschäftigen wird, auch lehrreiche Konsequenzen für die Praxis der Gerichtsreden gezogen (Jehne 2000b). Den Anfang machte SITTL, Carl, Die Gebärden der Griechen und Römer, Leipzig 1890. Aus der neueren Literatur zu erwähnen sind: Aldrete 1999; Gunderson 2000; Corbeill 2004. Bereits älteren Jahrgangs, aber dennoch aufschlussreich ist EVANS, Elizabeth C., Physiognomics in the Ancient World, Philadelphia 1969. Für die Zeit des Principats wird der performative
Richten wir den Blick auf weitere Aspekte der Arbeit, so muss zunächst auf die Forschungen hingewiesen werden, die das Wesen der antiken Rhetorik expliziert113 und insbesondere die fundamentale Rolle „sachfremder“ Argumentation in den Reden verdeutlicht haben.114 Darüber hinaus sind in einzelnen Beiträgen und diesem Thema gewidmeten Sammelbänden grundlegende Probleme der antiken Beredsamkeit erörtert worden.115 Auf eine lange Geschichte kann auch die Erforschung römischer Werte und zentraler Begriffe des Gemeinschaftslebens zurückblicken, die maßgeblich von den Arbeiten Richard HEINZEs profitiert hat.116 In dieser Hinsicht stellt das Buch von Joseph HELLEGOUARC’H ein unverzichtbares Kompendium für die Beschäftigung mit den politischen Schlagworten der römischen Republik dar.117 Nach einer längeren, hauptsächlich der Instrumentalisierung der Wertbegriffe zur Zeit des Nationalsozialismus geschuldeten Periode der Zurückhaltung,118 kann auch in der deutschen Forschung ein Wiederaufleben des Interes-
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Aspekt der Rede untersucht bei BABLITZ, Leanne, Actors and Audience in the Roman Courtroom, New York 2007. Zusätzlich zu den oben (Anm. 10) erwähnten Titeln vor allem LEEMAN, Anton D., Orationis ratio, 2 Bde., Amsterdam 1963. Sehr informative Einleitungen bieten EISENHUT, Werner, Einführung in die antike Rhetorik und ihre Geschichte, Darmstadt 19904; FUHRMANN, Manfred, Die antike Rhetorik, Mannheim 20116; HABINEK, Thomas, Ancient Rhetoric and Oratory, Malden u. a. 2005. Vor allem Wisse 1989. GUNDERSON, Erik (Hrsg.), The Cambridge Companion to Ancient Rhetoric, Cambridge 2009; DOMINIK, William / HALL, Jon (Hrsgg.), A Companion to Roman Rhetoric, Malden u. a. 2010. Vgl. die zusammengetragenen Aufsätze in BURCK, Erich (Hrsg.), Richard Heinze. Vom Geist des Römertums, Stuttgart 19603. Hellegouarc’h 1963. Vgl. REBENICH, Stefan, Römische Wertbegriffe: Wissenschaftsgeschichtliche Anmerkungen aus althistorischer Sicht, in: Haltenhoff, Andreas / Heil, Andreas / Mutschler, Fritz-Heiner (Hrsgg.), Römische Werte als Gegenstand der Altertumswissenschaft, München-Leipzig 2005, S. 23-46; SCHMIDT, Peter L., Zwischen Werttheorie, Begriffsgeschichte und Römertum. Zur Politisierung eines wissenschaftlichen Paradigmas, in: Haltenhoff, Andreas / Heil, Andreas / Mutschler, Fritz-Heiner (Hrsgg.), Römische Werte als Gegenstand der Altertumswissenschaft, München-Leipzig 2005, S. 3-21.
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ses an „Wertvorstellungen“ konstatiert werden, das zudem stärker die Postulate der Historischen Anthropologie berücksichtigt.119 Für das Leben und Wirken Ciceros stehen uns neben Biographien120 auch Studien zu einzelnen Faktoren seiner öffentlichen Tätigkeit zur Verfügung. So ist neben dem oben angeführten „Advokaten“ auch der „Politiker“ Cicero in den Fokus der Geschichtsschreibung gerückt worden.121 Ein prominentes Feld altertumswissenschaftlicher und speziell altphilologischer Forschung blieb durchweg die Beschäftigung mit den unterschiedlichsten Aspekten der antiken Rhetoriktheorie, die im römi119
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Den Begriff der „Wertvorstellungen“ in Abgrenzung zum politisierten Terminus der „Wertbegriffe“ schlägt Thome 2000, Bd. 1, S. 30-33 vor; ebd., S. 15-17 bietet die Autorin auch einen Überblick über die ältere Forschungsliteratur an. Eine Auswahl älterer Beiträge findet sich bei OPPERMANN, Hans (Hrsg.), Römertum. Ausgewählte Aufsätze und Arbeiten aus den Jahren 1921 bis 1961, Darmstadt 1962 (WdF 18); DERS. (Hrsg.), Römische Wertbegriffe, Darmstadt 1967 (WdF 34); KLEIN, Richard (Hrsg.), Das Staatsdenken der Römer, Darmstadt 1966 (WdF 46). Für die modernen und weitgehend interdisziplinär ausgerichteten Ansätze sei (zusätzlich zu dem in der vorherigen Anmerkung angeführten Sammelband) hingewiesen auf BRAUN, Maximilian / HALTENHOFF, Andreas / MUTSCHLER, FritzHeiner (Hrsgg.), Moribus antiquis res stat Romana. Römische Werte und römische Literatur im 3. und 2. Jh. v. Chr., München-Leipzig 2000 und HALTENHOFF, Andreas / HEIL, Andreas / MUTSCHLER, Fritz-Heiner (Hrsgg.), O tempora, o mores! Römische Werte und römische Literatur in den letzten Jahrzehnten der Republik, München-Leipzig 2003. Unter anderem SEEL, Otto, Cicero. Wort – Staat – Welt, Stuttgart 19612; GELZER, Matthias, Cicero. Ein biographischer Versuch, Wiesbaden 1969, ND 1983; STOCKTON, David, Cicero. A Political Biography, Oxford-New York 1971, ND 2008; FUHRMANN, Manfred, Cicero und die römische Republik, München-Zürich 20004; BRINGMANN, Klaus, Untersuchungen zum späten Cicero, Göttingen 1997; DERS., Cicero, Darmstadt 2010; STROH, Wilfried, Cicero. Redner, Staatsmann, Philosoph, München 2008; PINA POLO, Francisco, Rom, das bin ich. Marcus Tullius Cicero: ein Leben, Stuttgart 2010; GIEBEL, Marion, Marcus Tullius Cicero, Reinbek 2013; SCHULLER, Wolfgang, Cicero oder der letzte Kampf um die Republik, München 2013. Für eine Gesamtbewertung Ciceros empfehlenswert ist auch BÜCHNER, Karl, Cicero. Bestand und Wandel seiner geistigen Welt, Heidelberg 1964. HABICHT, Christian, Cicero der Politiker, München 1990.
schen Bereich freilich anhand der Reden Ciceros verifiziert werden konnten. So sind die persuasiven Strategien seiner forensischen Praxis vor allem von Wilfried STROH und Carl Joachim CLASSEN untersucht worden,122 darüber hinaus beschäftigten sich hauptsächlich im englischsprachigen Raum eine Vielzahl von Autoren mit der Analyse einzelner Reden oder bestimmter Redecorpora.123 Besonders die schon in antiken 122 123
Stroh 1975; Classen 1985. May 1988; CRAIG, Christopher P., Form as Argument in Cicero’s Speeches. A Study of Dilemma, Atlanta 1993; JOHNSON, Walter R., Varieties of Narrative in Cicero’s Speeches, Ann Arbor 1967; MCKENDRICK, Paul, The Speeches of Cicero. Context, Law, Rhetoric, London 1995; USHER, Stephen, Cicero’s Speeches. The Critic in Action, Oxford 2008. Für die von uns getroffene Auswahl relevant sind (zusätzlich zu den bereits angeführten oder im Laufe der Arbeit zitierten Titeln) KINSEY, T. E., The Dates of the Pro Roscio Amerino and Pro Quinctio, Mnemosyne 20, 1967, S. 61-67; DERS., Cicero’s Speech for Roscius of Ameria, SO 50, 1975, S. 91-104; DERS., The Case against Sextus Roscius of Ameria, AntCl 54, 1985, S. 188-196; DYCK, Andrew R., Evidence and Rhetoric in Cicero’s Pro Roscio Amerino, CQ 53, 2003, S. 235-246; BUCHHEIT, Vinzenz, Ciceros Kritik an Sulla in der Rede für Roscius aus Ameria, Historia 24, 1975, S. 570-591; SEAGER, Robin J., The Political Significance of Cicero’s Pro Roscio, LCM 7, 1982, S. 10-12; KINSEY, T. E., The Political Insignificance of Cicero’s Pro Roscio, LCM 7, 1982, S. 39-40; HUMBERT, Jules, Comment Cicéron mystifia les juges de Cluentius, REL 16, 1938, S. 275-296; CLASSEN, Carl Joachim, Cicero Pro Cluentio 1-11 im Licht der rhetorischen Theorie und Praxis, RhM 108, 1965, S. 104-142; HOENIGSWALD, Gabriele S., The Murder Charges in Cicero’s Pro Cluentio, TAPhA 93, 1962, S. 109-123; KORTE, Clemens, Untersuchungen zu Ciceros Rede für Sestius, Emsdetten 1939; ÉVRARD, Étienne, Le Pro Sestio de Cicéron: Un leurre, in: Filologia e forme letterarie. Studi offerti a Francesco Della Corte, Bd. 2, Urbino 1987, S. 223-234; DOREY, T. A., Cicero, Clodia and the Pro Caelio, G&R 5, 1958, S. 175-180; CRAIG, Christopher P., Reason, Resonance, and Dilemma in Cicero’s Speech for Caelius, Rhetorica 7, 1989, S. 313-328; MAY, James M., The Ethica Digressio and Cicero’s Pro Milone: A Progression of Intensity from Logos to Ethos to Pathos, CJ 74, 1979, S. 240-246; CLARK, Mark E. / RUEBEL, James S., Philosophy and Rhetoric in Cicero’s Pro Milone, RhM 128, 1985, S. 57-72; DYCK, Andrew R., Narrative Obfuscation, Philosophical Topoi, and Tragic Patterning in Cicero’s Pro Milone, HSCPh 98, 1998, S. 219-241.
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Texten gerne verwendete Theatermetapher findet dabei einen starken Widerhall.124 Wenngleich auf die emotionsgeschichtlichen Forschungen in den einleitenden Abschnitten des zweiten Teils der Studie ausführlicher eingegangen werden soll, müssen an dieser Stelle auch die Werke David KONSTANs und Robert KASTERs erwähnt werden,125 die maßgeblichen Einfluss auf das gesteigerte Forschungsinteresse der letzten Jahre hatten.126
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Hall 2014; Dalsasso 2014; GEFFCKEN, Katherine A., Comedy in the Pro Caelio, Leiden 1973; ARCELLASCHI, André, Le Pro Caelio et le théâtre, REL 75, 1997, S. 78-91; LEIGH, Matthew, The Pro Caelio and Comedy, CPh 99, 2004, S. 300-335. Allen voran Kaster 2005 und Konstan 2006. Prägend waren auch William FORTENBAUGHs Untersuchung der Emotionen bei Aristoteles (Fortenbaugh 2002) sowie die Studien von SORABJI, Richard, Emotion and Peace of Mind. From Stoic Agitation to Christian Temptation, Oxford 2000 und NUSSBAUM, Martha C., Upheavals of Thought. The Intelligence of Emotions, Cambridge 2001. Vgl. CHANIOTIS, Angelos (Hrsg.), Unveiling Emotions. Sources and Methods for the Study of Emotions in the Greek World, Stuttgart 2012; DERS. / DUCREY, Pierre (Hrsgg.), Unveiling Emotions II. Emotions in Greece and Rome. Texts, Images, Material Culture, Stuttgart 2013; SANDERS, Ed, Envy and Jealousy in Classical Athens. A Socio-Psychological Approach, Oxford 2014; CAIRNS, Douglas L. / FULKERSON, Laurel (Hrsgg.), Emotions between Greece and Rome, London 2015; BOEHM, Isabelle u. a. (Hrsgg.), L’homme et ses passions. Actes du XVIIe Congrès international de l’Association Guillaume Budé, organisé à Lyon du 26 au 29 août 2013, Paris 2016; CASTON, Ruth R. / KASTER, Robert A. (Hrsgg.), Hope, Joy, and Affection in the Classical World, Oxford 2016.
II
Intradisziplinäres Präludium: Die kulturellen Grundlagen der quaestio und das Problem der Publikation
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Kulturelle Rahmenbedingungen des römischen Prozesses
Bevor wir uns der Kontextualisierung des anwaltlichen Verhaltens zuwenden können, ist ein Kapitel zu den ebenfalls kulturell konnotierten Implikationen der juristischen Aspekte unerlässlich. Vor allem die gesellschaftliche Tragweite der Prozesse kann in diesem Zusammenhang nicht hoch genug eingeschätzt werden. So liegen die Ursprünge der römischen Gerichtshöfe in den iudicia populi, die vor dem Volk stattfanden und dieses zu einem aktiven Faktor der klassisch-republikanischen Gerichtsbarkeit werden ließen.1 Es lässt sich freilich nicht ermitteln, wie tief dieser Umstand in der hier behandelten Zeit noch im Denken der Bürger verankert war, allerdings sprechen nicht nur heuristische Modelle – wie die longue durée der Veränderung von Mentalitäten oder das „kulturelle Gedächtnis“ –, sondern auch die konsenswahrende Funktion, die die Öffentlichkeit in politischen Belangen zu erfüllen hatte, für die Notwendigkeit einer starken Identifikation der Gemeinschaft mit den Urteilen der iudices.2 Diesem Umstand muss Rechnung getragen wer1 2
Zu den iudicia populi vgl. Jones 1972, S. 1-39; Cloud 1992, S. 501-503; Bauman 1996, S. 10-11; Harries 2007, S. 14-15. So widmet Flaig 2003, S. 104-110 ein Unterkapitel den „Plebs als Hüter der Eintracht“; zum „kulturellen Gedächtnis“ vgl. ASSMANN, Jan, Das kulturelle Gedächtnis. Schrift, Erinnerung und politische Identität in frühen Hochkulturen, München 20076. Selbst in ciceronischer Zeit wurden Anklagen mitunter noch vom Volk abgeurteilt – so etwa im Hochverratsprozess gegen C. Rabirius; vgl. dazu Jones 1972, S. 40-44; Bauman 1996, S. 42-44.
den, um die Erwartungen Letzterer an einen Fall, aber auch die des Volkes an die zuständigen Richter zu verstehen. Die Verhandlungen, im Zuge derer die hier untersuchten Reden gehalten wurden, würden wir aus heutiger Sicht dem Strafprozess zuordnen; eine Tatsache, die sich bei oberflächlicher Betrachtung mit der Sichtweise der Zeitgenossen deckt. Dass die moderne Unterscheidung von Straf- und Privatrecht dem antiken Gedankengut jedoch fremd war, ist in der Forschung oft hervorgehoben worden.3 Folglich bestehen die Unterschiede einerseits im Fehlen einer Staatsanwaltschaft, welche die Täter als ausführendes Organ des staatlichen Apparats gerichtlich verfolgt, andererseits auch in der Zuordnung der Verbrechen selbst. Delikte wie z. B. der Diebstahl sind fortwährend Sache privater Prozesse geblieben, während bei anderen Verbrechen die Übernahme durch den Staat erst allmählich erfolgte.4 Nichtsdestoweniger ist im republikanischen Rom eine klare Trennlinie innerhalb der Rechtsmaterie gezogen worden. Im De oratore lässt Cicero sein rhetorisches Vorbild, L. Licinius Crassus, eine längere Apologie zugunsten der juristischen Ausbildung eines Redners halten. Hierbei verteidigt er die Kenntnis des ius publicum in öffentlichen Angelegenheiten und stellt diesem das ius civile für Privatverfahren entgegen.5 Etymologisch bildet der Kontrast zwischen ius civile und ius publicum die Grundlage des modernen Dualismus von Privatrecht und öffentlichem Recht,6 inhaltlich jedoch weist das antike Begriffspaar erhebliche Unterschiede auf. Im Gegensatz zu den heutigen Rechtskonzeptionen enthielt das römische ius publicum neben Teilen des Strafrechts auch Elemente des Verfahrens-, Verfassungs- und Sakralrechts.7 Auch sonstige Bereiche, die im modernen Verständnis dem Privatrecht zugerechnet würden, waren im republikanischen Rom Bestandteil des „öffentlichen“ Rechts.8 Dies hat in der Forschung zu der 3
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Mommsen 1899, S. 4; Bleicken 1995, S. 141; Krause 2004, S. 68; Lintott 1999, S. 147-148; Lintott 2004, S. 61-62; Dulckeit / Schwarz / Waldstein 1995, S. 50; KASER, Max, Römische Rechtsgeschichte, Göttingen 1967, hier: S. 122. Vgl. Lintott 1999, S. 148; Krause 2004, S. 68. Cic. de or. 1,201; vgl. auch Cloud 1992, S. 499. Vgl. Kaser 1986, S. 1. Cloud 1992, S. 499; Dulckeit / Schwarz / Waldstein 1995, S. 50. Vgl. ebd: so z. B. Personenrecht sowie Familien- und Erbrecht.
Frage geführt, wie das Verhältnis der Begriffe zueinander zu definieren sei. Eine ältere, modernistisch angehauchte Sichtweise sah darin zwei voneinander getrennte Bereiche, die einerseits die Aufgaben des Staates, andererseits die Rechtsverhältnisse der Bürger untereinander regelten.9 Dieser Erklärungsansatz ist später durch die Annahme, der Unterschied bestünde in der Entstehungsart des ius, verdrängt worden. Das ius publicum umfasse somit sowohl die Gesetzgebung des Volkes als auch die Bestimmungen des Senats und der Magistrate, während das ius privatum im Willen Einzelner – etwa durch Verträge ausgedrückt – enthalten sei.10 Die rein juristischen Aspekte sind für unsere Zwecke von geringer Bedeutung, dagegen müssen die kulturellen Charakteristika der römischen Rechtsvorstellungen mithilfe zweier elementarer Konzepte präzisiert werden. Max KASER hat anhand einiger Stellen aus der klassischen Jurisprudenz die enge Verbindung von ius publicum und utilitas publica aufgezeigt.11 Das öffentliche Recht umfasse alles, was den römischen Staat und somit die Gemeinschaft des römischen Volkes betrifft und diesen nützt.12 Eine ähnliche Auffassung hat auch Cicero vertreten. Bereits im De inventione stellt er eine Verbindung zwischen Gerechtigkeit und Nutzen her, indem er es als die Aufgabe Ersterer sieht, die gemeinsamen Interessen zu wahren.13 Damit ist selbstverständlich der9 10
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Vgl. Kaser 1986, S. 3. Ebd., S. 3-4; Dulckeit / Schwarz / Waldstein 1995, S. 49. Diese These scheint auch Cic. part. 130 zu belegen, wo lex, senatus consultum und foedus zum öffentlichen Bereich, tabulae, pactum, conventio und stipulatio zum privaten gezählt werden; zur Umstrittenheit der Begriffe publicum und privatum in diesem Zusammenhang vgl. Kaser 1986, S. 58-59. Ebd., S. 6-7 (die utilitas begleitet als Leitmotiv den gesamten Aufsatz). Diese Verbindung ist freilich auch von anderen Autoren hervorgehoben worden; vgl. Scevola 2012, S. 346-350; Hibst 1991, S. 135. Kaser 1986, S. 11. Cic. inv. 2,160: Iustitia est habitus animi communi utilitate conservata suam cuique tribuens dignitatem; s. auch Cic. off. 1,31, wo der gemeinsame Nutzen, zusammen mit der Vorgabe, niemandem Schaden zuzufügen, die fundamenta iustitiae bilden. Cicero übernimmt hier einen Gedanken der stoischen Philosophie (vgl. Kaser 1986, S. 20). Durch die juristische Prägung des Gemeinwohls entfernt er sich jedoch zugleich von den Ansichten Platons und des Aristoteles (Hibst 1991, S. 136; vgl. auch Scevola 2012, S. 337).
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jenige Nutzen gemeint, der schichtenübergreifend der gesamten Bürgerschaft, also der res publica überhaupt zugutekommt. Diese versteht Cicero, wie es an anderer Stelle heißt, als res populi, als eine Gemeinschaft der Bürger, die durch Gesetzestreue und gemeinsame Interessen geeint sind.14 Eine theoretische Einschränkung nimmt er freilich in einem Punkt vor. So ist das Nützliche außer Acht zu lassen, wenn es dem Ehrenvollen (honestum) widerspricht.15 Diese Thematik behandelt Cicero auch in seiner rhetorischen Theorie, dort allerdings erlangt die utilitas ein faktisches Übergewicht. Im De inventione kontrastiert er die Ehrenhaftigkeit, die allein um ihretwegen angestrebt wird, mit derjenigen, die auch einen Nutzen für die Gesellschaft mit sich bringt. Es sind Ruhm (gloria), Würde (dignitas), Erhabenheit (amplitudo) und Freundschaft (amicitia), die einen ehrenhaften Menschen zu einem für die Gemeinschaft nützlichen werden lassen, so dass ebendiese Tugenden sich vor Gericht als besonders wirksam erweisen.16 Somit wird evident, dass die utilitas, die untrennbar mit den Entscheidungsfaktoren verbunden zu sein scheint, in vielerlei Hinsicht die Staatsraison schlechthin darstellt, durch ihre Verknüpfung mit dem Rechtsbereich jedoch zu einer handlungsleitenden Maxime wird.17 Das Recht ist dem Nutzen insofern un-
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Cic. rep. 1,39. Scevola 2012, S. 341 zeigt, dass eine als solche verstandene res publica auch durch ihre Institutionen dem Volk nützen muss; vgl. auch Hibst 1991, S. 135. Vgl. Cic. off. 3,46-48. Gleichzeitig bemüht sich Cicero aber, dies als Scheinkonflikt zu entlarven, da bei einem vir bonus in Wirklichkeit ein solcher Widerspruch niemals bestehen könne (vgl. z. B. off. 3,17); allgemein zum Konflikt zwischen utilitas und honestas bei Cicero: GÖRLER, Woldemar, Das Problem der Ableitung ethischer Normen bei Cicero, AU 21, 1978, S. 5-19. Cic. inv. 2,166. Die Aufzählung leitet der Autor folgendermaßen ein: Nunc de eo [scil.: genere honestatis], in quo utilitas quoque adiungitur, quod tamen honestum vocamus, dicendum videtur. Eine gewisse Dialektik zwischen Widerspruch und Einklang der Termini wird auch hierin ersichtlich; vgl. auch Cic. inv. 2,168-169. Das Nützliche zu beachten wirkt bei Cicero als geradezu definitorisches Merkmal des umsichtigen Staatsmannes; vgl. inv. 1,1; de or. 1,211; off. 1,155.
terstellt, als die Gerechtigkeit letztendlich dem alleinigen Ziel des Gemeinwohls dienen muss.18 Nicht minder wichtig ist in diesem Zusammenhang der Begriff der mores. Dieses in der späten Republik alles überragende Konzept ist im Hinblick auf seine gesellschaftliche Bedeutung Gegenstand eingehender Untersuchungen gewesen. Hier soll deshalb nur auf einen „kulturjuristischen“ Aspekt aufmerksam gemacht werden, der den mos als konstitutiv für das Verhalten der Anwälte erscheinen lässt. Eine Cicero-Stelle vermittelt nämlich den Eindruck, dass es sich hierbei um eine gleichermaßen zu beachtende Rechtsquelle handeln würde.19 Ob diese Vorgabe tatsächlich auf ein im spätrepublikanischen Rom bestehendes Gewohnheitsrecht hindeutet, ist folglich in der Forschung kontrovers diskutiert worden.20 Eine Lösung des Problems hat Jochen BLEICKEN angeboten, der den Fehler in der Beurteilung des mos nach den Maßstäben moderner Begrifflichkeiten erkannt hat. Für die Zeit der römischen Republik, als die Rechtswissenschaft noch nicht vollständig ausgebildet war, kann der Brauch als eine Rechtsquelle unter mehreren betrachtet worden sein,
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Jossa 1964, S. 276; Hibst 1991, S. 132, 136; vgl. ebd., S. 137: „Weil aber das Gemeinwohl das Ziel und gleichzeitig Grenze der Rechtsordnung, auf welcher der status rei publicae beruht, bildet, repräsentiert es den Zweck der politisch verfaßten Gemeinschaft, gleichsam ihre Entelechie im Sinne ihrer inneren Bestimmung und Zielsetzung“; ähnlich bereits bei Jossa 1964, S. 274, der das Recht als Instrument zum Erreichen einer utilitas communis betrachtet, welche der Autor ebenfalls „come limite e come fine alla giustizia“ definiert. Cic. top. 28: Der mos wird hier unter anderem den Volksgesetzen und Senatsakten zur Seite gestellt. KASER, Max, Mores maiorum und Gewohnheitsrecht, ZRG 59, 1939, S. 52-101 sprach sich für eine frühe Trennung von Recht und moralischen Pflichten und gegen die Existenz eines Gewohnheitsrechts aus. Dulckeit / Schwarz / Waldstein 1995, S. 48 erachten die Trennung von Recht und Sitte für die Zeit der Zwölftafelgesetzgebung als bereits abgeschlossen. Schanbacher 2000 vertritt eine differenziertere Sichtweise, dergemäß sowohl mos (S. 358-360) als auch ius (S. 360-362) fallbezogen ein Übergewicht erlangen konnten, wenngleich das Pendel in den meisten Fällen zugunsten des mos zu schlagen scheint (vgl. S. 368-369).
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ohne im eigentlichen Sinne Recht zu schaffen.21 Autorität sei dem mos (oder consuetudo) dabei in zweierlei Hinsicht verliehen worden. Dass er einer schriftlichen Tradition entbehrte, löste man dadurch, dass eine Reihe von moralischen Vorschriften auf frühe, ahistorische Gesetze der Könige oder der ersten Magistrate der Republik zurückgeführt wurden.22 Zudem erhielt er als Folge der Verklärung der Vergangenheit in der späten Republik durch den Zusatz maiorum auch zusätzliche auctoritas.23 Unabhängig von dem genauen Verhältnis der Begriffe zueinander, sind im Hinblick auf die spätrepublikanische Mentalität die Bestrebungen, den mos näher an das Recht zu rücken oder es als Teil des selbigen anzusehen, nicht unerheblich.24 Kraft ihrer Autorität und mahnenden Funktion bedurfte die Berufung auf die auctoritas des Alters oder eines passenden exemplum keiner weiteren Rechtfertigung.25 So war der mos gewiss – und für kulturgeschichtliche Zwecke relevanter – „unreflektierte Gewohnheit, die im Bewußtsein des Handelnden solange nicht die Vorstellung einer Norm hatte, als diese Gewohnheit tatsächlich geübt
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Bleicken 1975, S. 357-358. Auf das moderne Vokabular übertragen müsse man den Begriff somit eher als „Gewohnheit“ und nicht als „Gewohnheitsrecht“ bezeichnen (vgl. ebd., S. 367). Ebd., S. 348-349. Bleicken 1995, S. 62. Vor allem im letzten vorchristlichen Jahrhundert vollziehe sich somit eine Entwicklung, welche die Gewohnheit zum einen durch gesetzliche Normierung immer mehr zu ius werden lässt, zum anderen dem nicht schriftlich festgelegten mos eine unantastbare Autorität verleiht (vgl. Bleicken 1975, S. 373-377, 387-393). Dass ius und mos in der einen oder anderen Form einander bedingen, hat Schanbacher 2000, S. 369-371 unterstrichen. So begegnen uns des Öfteren ius, lex und mos als untrennbare Einheit (Bleicken 1975, S. 368); vgl. auch Harries 2004, S. 152; Schanbacher 2000, S. 370. Cic. inv. 2,67: Consuetudine autem ius esse putatur is, quod voluntatem omnium sine lege vetustas comprobarit. In ea autem quaedam sunt iura ipsa iam certa propter vetustatem; vgl. Bleicken 1975, S. 356-357 zur Kritik, dass diese Aussage mit dem Wunsch des Redners zusammenhängt, seinen Fall so günstig wie möglich darzustellen. Zwar ist die Stelle aus rechtshistorischer Perspektive in der Tat zweifelhaft, sie lässt aber auch erkennen, welches persuasive Gewicht das Evozieren der mores beinhalten konnte.
wurde“.26 Er bildet zum einen die Grundlage der mehr oder weniger reflektierten sozialen Normen, die wir im ersten Abschnitt besprechen werden, zum anderen ist er untrennbar mit dem emotionalen Verhalten verbunden, das uns im zweiten Teil der Arbeit beschäftigen soll. Zusammenfassend bleibt also festzuhalten, dass die Beachtung einer „Staatsraison“, in der die Interessen aller Bürger konvergieren, wie auch die gesellschaftliche Einbettung der anwaltlichen Tätigkeit in kulturell tradierte Verhaltensmuster eng an die bestehenden Rechtsvorstellungen gerückt und somit essenziell für die persuasiven Bestrebungen des Redners wurden. Der Rahmen, der dem orator diese Plattform geboten hat, war der ständige Gerichtshof der späten Republik. Die orationes waren Teil eines im wahrsten Sinne des Wortes „öffentlichen“ Prozesses und somit auch genuin „forensisch“. Sie wurden inmitten des Forums, auf der Rednertribüne (rostra) gehalten und von einem Kreis interessierter Zuhörer begleitet, die bisweilen lautstark auf ihre Präsenz aufmerksam machen konnten.27 Dies hatte nicht zuletzt zur Folge, dass die Topographie des Prozessumfeldes, in Verbindung mit den dazugehörigen historischen exempla, vielfach zum pathetischen Leitmotiv der Argumentation gemacht wurde.28 In prozessualer Hinsicht stellen die quaestiones perpetuae der ciceronischen Zeit einen Bruch mit den Traditionen der frühen und mittleren Republik dar.29 Das Konzept eines solchen Gerichtshofes 26
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Bleicken 1995, S. 60-61. Die Überhöhung der mores maiorum wurde oft als ein strategisches Mittel der Nobilität angesehen, um die bestehende Ordnung und ihre Stellung zu bewahren (ebd., S. 61). Allerdings hat z. B. Flaig 2005, S. 220 gezeigt, dass die Forderung des römischen Volkes nach Einhaltung des mos einen ebenso hohen Stellenwert hatte. Vgl. Vasaly 1993, S. 62-69; Lintott 1999, S. 44-46; May 2002, S. 55-56; Lintott 2004, S. 63; Harries 2004, S. 149. Immer noch grundlegend zu den Verfahrensfragen: GREENIDGE, Abel H. J., The Legal Procedure of Cicero’s Time, London-New York 1901, ND New York 1971; vgl. dazu auch Robinson 1995, S. 3-6; Bauman 1996, S. 24-26; Harries 2007, S. 18-20; allgemein zu den quaestiones: Jones 1972, S. 45-85; Cloud 1992, S. 505526; Lintott 1999, S. 157-162. Vgl. dazu Vasaly 1993, S. 15-39; Hall 2014, S. 22-24. Auf die bekannte Forschungsdiskussion über den Charakter der iudicia populi, die man mit den Namen Theodor MOMMSEN und Wolfgang KUNKEL in Verbindung bringt, kann hier nicht näher eingegangen werden; vgl.
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war jedoch keine Neuerung. Bereits im Laufe der vorangegangenen Jahrzehnte gab es dafür Vorläufer: die auf Senatsbeschluss und von Fall zu Fall eingerichteten außerordentlichen Quästionen.30 Permanenten Charakter erhielten diese aber erst als Folge eines Gesetzesantrages des L. Calpurnius Piso, der lex Calpurnia repetundarum des Jahres 149 v. Chr.31 Dabei handelte es sich um einen speziell für die Aburteilung korrupter Provinzverwaltung eingerichteten Gerichtshof, allerdings noch nicht um ein System staatlicher Strafverfolgung. Wolfgang KUNKEL hat vermutet, dass die Prämissen dafür noch nicht gegeben waren. So wäre entweder die Aufstockung der Anzahl der Senatsmitglieder oder die Öffnung der Geschworenenbank für Angehörige des Ritterstandes hierfür notwendig gewesen.32 Letzteres hat schließlich C. Gracchus durchgesetzt, indem er die Richterbänke dem Ritterstand überantwortet und somit die Voraussetzungen für eine Ausweitung des Strafverfolgungssystems geschaffen hat.33 Auf diese Vorgeschichte stützt sich die Neuordnung Sullas, dessen reformatorische Tätigkeit auf strafrechtlichem Gebiet uns etwas besser bekannt ist.34 Die Geschworenen ließ er dabei erneut aus den Reihen der Senatoren auswählen, deren Zahl im Zuge seiner Neugestaltung verdoppelt wurde.35 Die ebenfalls vorgenommene Reformierung der Prätur sah unter anderem vor, dass sechs der acht Amtsinhaber – mit Ausnahme des Stadtprätors und des praetor peregrinus – zugleich den Vorsitz über die Quästionen übernehmen soll-
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die Besprechung der Thesen MOMMSENs bei Kunkel 1962, S. 9-21; speziell zur Frage der provocatio: ebd., S. 24-33. Vgl. Kunkel 1963, Sp. 732; zum Verfahren vgl. ebd., Sp. 732-733. Cic. Brut. 106; zu dieser Stelle vgl. Cloud 1992, S. 505-506; zur lex Calpurnia s. auch Elster 2003, S. 418-422; Gruen 1968, S. 12-14. Bauman 1996, S. 21-22 sieht den Grund für die Einrichtung der iudicia publica in den Notwendigkeiten, die sich aus der römischen Expansion ergaben. Kunkel 1963, Sp. 738. Vgl. ebd.; Gruen 1968, S. 80-90; Jones 1972, S. 49-50; zu einigen Problemen der lex Acilia und zur Debatte in der älteren Forschung vgl. Gruen 1968, S. 293-296. Vgl. ebd., S. 255-265; Kunkel 1963, Sp. 740-745. Jones 1972, S. 56.
ten.36 Den vorerst letzten Schritt in dieser Entwicklung stellt die lex Aurelia des Jahres 70 v. Chr. dar. Sie sah einen Kompromiss in der Zusammensetzung der Geschworenenbank vor, indem sie diese zu jeweils einem Drittel mit Senatoren, Rittern und Ärartribunen besetzte.37 Es wurde an dieser Stelle eine kursorische Behandlung der Geschichte des Strafverfahrens angestrebt, die uns zu den Vergehen, die Ciceros Klienten in den relevanten Prozessen zur Last gelegt wurden, und zur Stellung dieser Verbrechen im sozialen Leben Roms bringen sollte. Die Anklagen gegen Sex. Roscius und A. Cluentius Habitus sind unter der lex Cornelia de sicariis et veneficis erhoben worden.38 Dabei 36
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Kunkel 1963, Sp. 746; Robinson 1995, S. 3-4; vgl. allgemein zu den sullanischen Reformen HANTOS, Theodora, Res publica constituta. Die Verfassung des Dictators Sulla, Stuttgart 1988. Vgl. Kunkel 1963, Sp. 753, der „sowohl die Überlastung des Senats als auch die skandalöse Korruption“ der sullanischen Gerichte als Hauptgründe für diese Reform nennt. Letzteres hängt eng mit dem iudicium Iunianum zusammen, das die Vorgeschichte des hier untersuchten Prozesses gegen A. Cluentius bildet; vgl. ferner Lintott 2004, S. 74-75. Zum Inhalt des Gesetzes vgl. FERRARY, Jean-Louis, Lex Cornelia de sicariis et veneficis, Athenaeum 69, 1991, S. 417-434. Mit der Ahndung dieser Straftaten betrat Sulla aber kein Neuland. Inschriftlich lässt sich bereits für das erste Jahrzehnt des letzten vorchristlichen Jahrhunderts ein ständiger Gerichtshof belegen, der für Giftmorde verantwortlich war; vgl. Kunkel 1963, Sp. 738; Robinson 1995, S. 42; Riggsby 1999, S. 50, Anm. 3. Bereits aus dem zweiten Jahrhundert v. Chr. sind uns Zeugnisse für die Aburteilung der Morde in Form eines Quästionenverfahrens überliefert. So stand z. B. im Jahre 142 v. Chr. der Prätor L. Hostilius Tubulus einer quaestio de sicariis vor (Cic. fin. 2,54), ebenso wurden die Morde im Sila-Wald aus dem Jahre 138 v. Chr. vor ein iudicium publicum gebracht (vgl. Jones 1972, S. 54-55; Gruen 1968, S. 29; Robinson 1995, S. 42). Eine quaestio perpetua für Morddelikte ist jedenfalls bereits vor der sullanischen Strafgesetzgebung eingerichtet worden. Cic. S. Rosc. 64-65 berichtet über einen Fall von parricidium, der sich einige Jahre zuvor ereignet hatte; vgl. auch Jones 1972, S. 55; Cerutti 1996, S. 55. Gruen 1968, S. 83 sieht keine Belege für einen ständigen Gerichtshof de sicariis in gracchischer Zeit; dagegen Cloud 2009, S. 127-139, der einen solchen bereits für die vorgracchische Zeit für möglich hält (ebd., S. 135) und damit seine früheren Thesen revidiert (vgl. z. B. Cloud 1992, S. 521). Robinson 1995, S. 42 vermutet, dass für die quaestio de sicariis et veneficis zwei bereits bestehende Gerichtshöfe zusammen-
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ist vor allem eine Betrachtung des sicarius-Begriffes lohnenswert.39 J. Duncan CLOUD hat überzeugend dargelegt, dass man das Wort nicht im Sinne MOMMSENs mit „Gewaltmörder“ übersetzen kann,40 vielmehr beinhaltet der Terminus die Konnotation einer Spezialisierung: das, was man im Englischen gemeinhin als Gangster bezeichnet.41 Seinem Treiben muss man zwar nicht unbedingt eine politische Komponente beimessen, wie z. B. im Falle der spätrepublikanischen collegia,42 es entsteht nichtsdestotrotz der Eindruck, dass das sullanische Gesetz in erster Linie die stadtrömischen Formen des organisierten Banditentums und nicht den gemeinen Mord anvisierte, eine Tatsache, die somit auch für eine gewisse politische Relevanz der Verbrechen spricht.43 Die Implikationen liegen auf der Hand. Die sicarii stellen ein Element dar, das, obwohl gegen Privatpersonen gerichtet, die Staatsordnung mittelbar gefährden kann. Verstärkt gilt dies für das parricidium, das einen Grundpfeiler der römischen Gesellschaft tangiert,44 sowie für den Giftmord.
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geführt wurden; ebenso Harries 2007, S. 119. Gruen 1968, S. 261-262 nimmt die Zusammenführung dreier Gerichtshöfe an, indem er eine für parricidium zuständige quaestio hinzufügt. In der Folgezeit scheinen die Vergehen, derer man darin Herr werden musste, so stark angestiegen zu sein, dass im Jahre 66 v. Chr. bereits drei Quästionen unter dem cornelischen Mordgesetz parallel arbeiten mussten (Cic. Cluent. 147); vgl. Jones 1972, S. 58; Cloud 1992, S. 523; Kunkel 1963, Sp. 741. Weder Roscius noch Cluentius sind als sicarii angeklagt worden. Für ein besseres Verständnis der Absicht des Gesetzgebers und der gesellschaftlichen Rolle des Gerichtshofes muss aber trotzdem ein Blick auf die Bedeutung des Terminus geworfen werden. Cloud 1969, S. 269-282. Ebd., S. 274; Cloud 2009, S. 117; vgl. auch Riggsby 1999, S. 51. Vgl. Cloud 1992, S. 522-523. Riggsby 1999, S. 51 betrachtet den sicarius als stadtrömisches Pendant zu den ländlichen latrones; ebenso Cloud 2009, S. 118-119. Vgl. Robinson 1995, S. 42; Krause 2004, S. 69. CLOUD revidiert seine älteren Thesen (Cloud 1969) auch dahingehend, dass er nicht mehr davon ausgeht, dass das Gesetz ausschließlich sicarii anvisierte, sondern nur vorrangig diesen gelten sollte (Cloud 2009, S. 142). Vgl. dazu Robinson 1995, S. 46-47; CLOUD, J. Duncan, Parricidium: from the lex Numae to the lex Pompeia de parricidiis, ZRG 88, 1971, S. 1-66; THOMAS, Yan, Parricidium I, MEFRA 93, 1981, S. 643-715; LASSEN,
Dessen Verbindung zu magischen Riten rückt ihn zwangsläufig in die Sphäre der staatsgefährdenden Verbrechen.45 Der zweite Anklagepunkt, auf den hier eingegangen werden soll, ist der des Gewaltverbrechens. Eine vis-Gesetzgebung hat es dabei weder vor noch unter Sulla gegeben.46 Ciceros Rede für M. Caelius bietet uns den einzigen Anhaltspunkt für ein unmittelbar nachsullanisches Gesetz diesbezüglich,47 allerdings hat die von ihm erwähnte und auf das Jahr 78 v. Chr. datierte lex Lutatia in der Forschung eine Reihe von Fragen aufgeworfen. Insbesondere war ihr Verhältnis zur lex Plautia de vi von Interesse, die als Grundlage für das Einbringen sämtlicher vis-Klagen in den sechziger und frühen fünfziger Jahren diente.48 Theodor MOMMSEN hat seinerzeit angenommen, dass es sich um ein und dasselbe Gesetz handelt,49 eine Meinung, die inzwischen einstimmig revidiert worden ist.50 Ebenfalls als unhaltbar hat sich die These JONES’ erwiesen, der die Ansicht vertrat, M. Caelius sei unter der lex Lutatia angeklagt worden.51 Heutzutage nimmt man allgemein an, dass der Prozess gegen Caelius wie auch die Verfahren gegen P. Sulla und P. Sestius auf die lex Plautia de vi zurückgehen,52 während das Gesetz des Catulus die Niederschlagung des Lepidus-Aufstandes betraf und (scheinbar) ledig-
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Eva M., The Ultimate Crime. Parricidium and the Concept of Family in the Late Roman Republic and Early Empire, CM 43, 1992, S. 147-161; zur poena cullei vgl. auch Bauman 1996, S. 30-32; Dyck 2010, S. 1-2. Robinson 1995, S. 41; vgl. auch Cloud 1992, S. 520-521. Vgl. Riggsby 1999, S. 79. Gruen 1974, S. 225 nimmt an, dass Sulla es nicht für nötig erachtet hat, eine solche einzuführen, weil er den Straftatbestand als durch die Gesetze de sicariis et veneficis und de maiestate abgedeckt sah. Cic. Cael. 70: De vi quaeritis […], quam legem Q. Catulus […] tulit. Zum Inhalt der lex Plautia vgl. VITZTHUM, Werner, Untersuchungen zum materiellen Inhalt der Lex Plautia und Lex Julia de vi, München 1966 (bes. S. 42-49). Mommsen 1899, S. 654, Anm. 2. Ihm ist auch Kunkel 1963, Sp. 747 gefolgt. Gruen 1974, S. 225; Austin 1960, S. 42-43; Lintott 1968, S. 111; Robinson 1995, S. 78-79; Riggsby 1999, S. 80. Jones 1972, S. 59; vgl. Gruen 1974, S. 225-226, der die ciceronische Stelle (Cael. 70) als rhetorische Anspielung sieht. Vgl. Austin 1960, S. 42, der sich auf die Ergebnisse von HOUGH, John N., The Lex Lutatia and the Lex Plautia de vi, AJPh 51, 1930, S. 135-147 stützt.
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lich diesem Zweck dienen sollte.53 Für das Verfahren gegen Milo ist dagegen eine eigens dafür vorgesehene lex Pompeia de vi erlassen worden.54 Wesentlich wichtiger ist jedoch die Frage nach der Zielsetzung der vis-Gesetzgebung. Nach der Loslösung von MOMMSENs These der Deckungsgleichheit hat die ältere Forschung die Meinung vertreten, die Gesetze würden für verschiedene Straftaten zuständig sein, nämlich zum einen für vis privata, zum anderen für vis publica.55 Andrew LINTOTT hat dagegen auf überzeugende Art und Weise dargelegt, dass die Unterscheidung der beiden Delikte erst zur Zeit des Augustus aufkam. Demnach ist die lex Plautia wahrscheinlich die Nachfolge der lex Lutatia angetreten und hat dessen Kompetenz auf alle Fälle von vis erstreckt.56 Darauf deutet auch der Umstand hin, dass alle bekannten Klagen, die auf jenes Gesetz zurückgehen, mit einer Gefahr für die Gemeinschaft in Verbindung gebracht werden können.57 Vis war also eine Straftat, die man ebenfalls in die Nähe der Staatsgefährdung rücken muss, „a plague on the state“, wie Andrew RIGGSBY sie treffend bezeichnet hat.58 Die Schlussfolgerung Abel H. M. JONES’, dass es sich bei dem für Mordfälle zuständigen Gerichtshof sowie bei der quaestio de vi um „zweitrangige“ Quästionen gehandelt haben müsse, mag zwar richtig 53 54
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Lintott 1968, S. 115 nimmt an, dass das Gesetz nicht zur Einrichtung eines ständigen Gerichtshofes geführt hat; vgl. auch Gruen 1974, S. 225. Cic. Mil. 15; vgl. auch Asc. Mil. 36C, der das damit einhergehende verkürzte Verfahren anspricht; für die Rahmenbedingungen der lex Pompeia vgl. Asc. Mil. 39C; s. auch Kennedy 1972, S. 231-232; Lintott 2004, S. 77; ausführlicher dazu: Gruen 1974, S. 337-350 und CAMBRIA, Carla, La quaestio ex lege Pompeia de vi, Index 30, 2002, S. 347-381. Vgl. Jones 1972, S. 57; Gruen 1974, S. 226. Ähnlich urteilt auch COUSIN, Jean, Lex Lutatia de vi, Revue historique de droit français et étranger 22, 1943, S. 88-94. Vgl. dazu Lintott 1968, S. 107-124; ihm ist auch Riggsby 1999, S. 79-84 gefolgt. Vgl. Lintott 1968, S. 116, 119; Robinson 1995, S. 48. Riggsby 1999, S. 79. CROOK, John A., Law and Life of Rome, London u. a. 1967 (hier: S. 269) vermutet, dass ein fundamentaler Bestandteil der sullanischen lex de sicariis, nämlich das Mitführen einer Waffe in Tötungsabsicht, später in die lex Plautia integriert wurde; ihm hat sich auch Cloud 2009, S. 153 angeschlossen.
sein, sie ist aber irreführend.59 J. Duncan CLOUD, der im Übrigen JONES zustimmt, hat dies präzisiert, indem er die „Zweitrangigkeit“ gelegentlich in der sozialen Stellung der Angeklagten vertreten sieht, nicht aber in den Strafen oder dem Prestige der Gerichtshöfe.60 Es muss aber hinzugefügt werden, dass diese auch aus Gründen der Staatsraison den anderen ebenbürtig waren. Von den hier verhandelten Strafsachen ging keine geringere Gefahr für den Staat aus als von denjenigen Verbrechen, über die in den quaestiones de repetundis, de ambitu oder de maiestate geurteilt wurde. Sowohl die Verbrechen der sicarii als auch der Giftmord oder vis waren in der einen oder anderen Weise contra rem publicam. Ihre Opfer mögen zwar Privatpersonen gewesen sein, die Tat betraf aber gleichermaßen die Gemeinschaft und weckte implizit das unmittelbare Interesse aller Zuhörer, ob sie nun als Richter die Verantwortung für ihre Entscheidung übernehmen oder als Teil der corona der gesellschaftlichen Sanktionierung über den Vorwurf eines gegen die res publica gerichteten Verbrechens Ausdruck verleihen mussten. Die communis utilitas wird nicht nur von den inhärenten Charakteristika des öffentlichen Verfahrens widergespiegelt, sondern auch von den erhobenen Anklagen selbst. Wolfgang KUNKEL hat durch einen Vergleich der Prozesse vor dem Volksgericht und in den Quästionen die Prinzipien des römischen Strafverfahrens umrissen. Neben der Trennung von Schuldurteil und Strafbemessung sowie dem Grundsatz, dass bei bewiesener Schuld keine Verhandlung mehr vonnöten war, nennt er noch die Öffentlichkeit, die private Anklage, die Möglichkeit des Angeklagten, sich zu verteidigen, und die Tatsache, dass es nicht ein Magistrat war, der über Schuld und Unschuld zu entscheiden hatte.61 Dies waren in der Tat die faktischen Prinzipien der quaestio. Aus einer kulturgeschichtlichen Perspektive auf die Gerichtsrede kann man jedoch auch eine andere Zusammenstellung wagen: (1) die öffentliche Darbietung, die den Redner in einen direkten – visuellen und auditiven – Kommunikationsprozess mit seinen Hörern treten lässt, (2) die moralische Fundierung sämtlicher Argumente, die die normative und performative Grundlage jener Kommunikation bildet, sowie (3) das gesamtgesellschaftliche Interesse, das zusätzlich zur juris59 60 61
Jones 1972, S. 58-59. Cloud 1992, S. 523. Kunkel 1974, S. 16-23.
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tischen Sanktionsbereitschaft der iudices auch den sozialen Sanktionswillen aller anwesenden Mitglieder der res publica bedingt. Im Rahmen dieser Prinzipien konkretisiert sich auf geradezu einzigartige Weise die Konvergenz von ius, mos und utilitas communis.
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Die Relevanz der publizierten Fassungen
Diese Zusammenstellung offenbart jedoch eine methodische Schwierigkeit und spricht zugleich eine elementare Frage der inneren Quellenkritik an. Jonathan POWELL hat die Beantwortung diese Frage sogar als unabdingbar für jede Beschäftigung mit Ciceros praktischer Rhetorik bezeichnet.62 Es handelt sich hierbei um das Verhältnis der publizierten Reden, die uns als einzige zusammenhängende Zeugnisse für die Rekonstruktion der spätrepublikanischen Prozesse zur Verfügung stehen, zu den tatsächlich vor Gericht gehaltenen orationes. Abhängig von den jeweiligen Intentionen des Forschers kann dieses Problem mitunter großen Einfluss auf seine Ergebnisse haben, so dass es an dieser Stelle erforderlich ist, die Absichten, die sich hinter der Veröffentlichung antiker Gerichtsreden verbergen, sowie ihre Relevanz für unser Thema zu erörtern. Den Anstoß zu dieser Diskussion gab ein Buch von Jules HUMBERT, in dem der Autor die Ansicht vertrat, dass die überlieferten Reden Ciceros eine Synthese mehrerer voneinander getrennter bzw. aufeinander folgender Wortmeldungen darstellen, die nicht nur durch Zeugenaussagen oder das Vorlesen von Schriftstücken, sondern auch durch wiederholte Wortgefechte der Anwälte unterbrochen wurden und sich prinzipiell über einen Zeitraum von mehreren Tagen erstreckt haben müssten.63 Seine These zielt letzten Endes darauf ab, die Publikation als eine für die Rekonstruktion der authentischen Rede unbrauchbare Quelle einzustufen – wenngleich des Öfteren Versuche gestartet worden sind, zur Verteidigung HUMBERTs anzuführen, dass seine Schlussfolgerungen keine grundsätzliche Diskrepanz implizieren würden.64 Eine aus62 63 64
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Powell 2010, S. 25. Vgl. Humbert 1925, S. 91-96. Powell / Paterson 2004, S. 56-57; Steel 2006, S. 26-27. Allerdings werden diese Schlussfolgerungen von HUMBERT selbst mehr oder weniger direkt
führliche und überzeugende Entkräftung jener Thesen hat fünfzig Jahre später Wilfried STROH vorgenommen;65 mit gutem Grund, da manche Postulate HUMBERTs zwangsläufig jeden Versuch, die orationes „als Einheit, d. h. als in sich geschlossenen ‚Überredungsprozeß‘ [zu] begreifen“,66 zunichtemachen. Diese Konsequenz würde selbstverständlich auch jegliche Beschäftigung mit den konkreten kulturellen Rahmenbedingungen eines Prozesses beeinträchtigen. Auf die Einzelheiten der Antwort STROHs kann hier nicht eingegangen werden, allerdings sollen uns im Laufe dieses Abschnitts seine Schlussfolgerungen des Öfteren begleiten.67 Für eine korrekte Einordnung der Problematik gilt es, sich zunächst zu vergegenwärtigen, dass wir es in der späten Republik mit einer primär mündlichen Gesellschaft zu tun haben.68 Selbst schriftliche Kommunikationsmodi werden durch die Gewohnheit des öffentlichen Lesens in den Bereich der Oralität integriert.69 Wenngleich das gesprochene Wort dadurch gleichsam „in einen anderen Kommunikationsraum über[führt]“70 wird, hat der antike Mensch diesen Dualismus nicht als Widerspruch begriffen, sondern vielmehr als Komplementarität.71 Die
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angesprochen; vgl. Humbert 1925, S. 255: „le plaidoyer de Cicéron a donné lieu à la réplique de l’adversaire et Cicéron a répliqué à son tour; publiée telle quelle, la défense de Cicéron serait une œuvre mal venue et incohérente qui pourrait intéresser l’historien, mais n’aurait pas droit de cité en littérature“. Zudem ist dieser Satz Teil einer eindeutigeren Kapitelbeschreibung (S. 296): „Les conditions de la plaidoirie sont telles que la rédaction doit être une refonte totale“. Stroh 1975, S. 31-54. Ebd., S. 36. Den Begriff des „Überredungsprozesses“ übernimmt STROH hier aus der bereits erwähnten Arbeit von Neumeister 1964. Das Gros seiner Entgegnung beschäftigt sich mit dem Beweis der These, dass die Reden auch realiter eine oratio continua darstellten (Stroh 1975, S. 38-48). Vgl. Andersen 2001, S. 95-97; Fuhrmann 1990, S. 53. Achard 2006, S. 2730 weist auch auf die mündliche Dimension der politischen Kundgebungen hin. Vgl. dazu Enos 1988, S. 4; Steel 2006, S. 25; zum Buchhandel in Rom vgl. Heil 2003, S. 4-13. Ebd., S. 34; vgl. auch Fuhrmann 1990, S. 55. Vgl. Achard 2006, S. 128.
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Eingliederung der Schriftlichkeit in die Strukturen mündlicher Kommunikationsformen bewahrte die präeminente Rolle Letzterer.72 Gehen wir jedoch vom Diktum verba volant aus, könnte man zu dem Schluss kommen, dass trotz dieser Komplementarität der Unterschied zwischen gehaltener und veröffentlichter Rede beträchtlich sein konnte. Dagegen spricht jedoch einiges. Plutarch erwähnt ein protostenographisches System, das Ciceros Freigelassener Tiro entwickelt hat und das dem Redner zur Verfügung stand, um Mitschriften von Senatsdebatten anzufertigen.73 Es ist davon auszugehen, dass Cicero kein Monopol auf diese Erfindung hatte, so dass man für die Zeit der späten Republik eine nicht unerhebliche Zirkulation ursprünglich mündlicher Stellungnahmen vermuten kann74 – wenn auch nur um sie politischen Gegnern später vorhalten zu können.75 Außerdem darf selbstverständlich die memoria der Zuhörer nicht unterschätzt werden. Radikale Veränderungen in der publizierten Version wären angesichts der in den meisten Fällen raschen Veröffentlichung auch auf den Widerstand der anwesenden Hörer ge-
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Ebd., S. 110; Enos 1988, S. 4; für eine topographische Betrachtung der „Leseräume“ vgl. Heil 2003, S. 6-20; allgemein zur Wechselwirkung zwischen Mündlichkeit und Schriftlichkeit in Ciceros Rhetorik: BLÄNSDORF, Jürgen, Cicero auf dem Forum und im Senat – Zur Mündlichkeit der Reden Ciceros, in: Benz, Lore (Hrsg.), ScriptOralia Romana. Die römische Literatur zwischen Mündlichkeit und Schriftlichkeit, Tübingen 2001, S. 205-228. Plut. Cat. min. 23,3; vgl. dazu auch Classen 1985, S. 4; Alexander 2002, S. 17-18; Enos 1988, S. 5-6; Achard 2006, S. 178. So nimmt Settle 1962, S. 2628 an, dass Cicero für all seine Publikationen auch selbst als Verleger fungiert hat. Alexander 2002, S. 18. Heil 2003, S. 40-41. Bezeichnend ist z. B., dass Cicero sich in der Cluentiana für Aussagen aus dem Verres-Prozess rechtfertigen muss (Cluent. 138). Obwohl diese Stelle auf eine „offizielle“ Veröffentlichung zurückgeht, hat man sich nicht nur in der politischen, sondern auch in der rhetorischen Auseinandersetzung gewiss häufiger dieser Waffe bedient. So erzählt Cicero von der peinlichen Situation, vor die Crassus gestellt worden war, als M. Brutus ihm widersprüchliche Äußerungen aus früheren Reden vorhielt (Cluent. 140141). Aus diesem Grund soll es M. Antonius vorgezogen haben, keine seiner orationes aufzeichnen zu lassen (Cluent. 139).
stoßen.76 Man darf daraus freilich nicht den Schluss ziehen, dass gehaltene und publizierte Rede identisch sind. Gelegentlich gibt Cicero selbst zu erkennen, dass er gewisse Änderungen vorgenommen hat oder beabsichtigt, solche vorzunehmen,77 jedoch bleibt der Umfang dieser Überarbeitungen zumeist unklar.78 Wenngleich die Klärung letzteren Problems nicht belanglos ist, wird man sich leichter mit dessen Unlösbarkeit abfinden, wenn man die Frage aus einem anderen Blickwinkel beleuchtet, nämlich aus der Perspektive der publikatorischen Zielsetzung. Eine naheliegende Vermutung ist dabei, dass Cicero, der ja z. B. die actio secunda gegen Verres veröffentlicht hat ohne diese Rede jemals gehalten zu haben, in erster Linie die Verkündung einer politischen Botschaft im Sinn hatte.79 Betrachten wir jedoch seine eigenen Aussagen, wird auch ein zweites Motiv ersichtlich. Nicht selten verbindet er die Publikation der Reden mit dem Wissensdurst der rhetorisch interessierten Jugend, welche diese als Musterbeispiele für die eigene forensische Tätigkeit benutzen soll.80 Die Relevanz dieser Stellen wird deutlich, wenn man auf ein weiteres Charakteristikum der Verknüpfung von Mündlichkeit und Schriftlichkeit in der antiken Literatur blickt. Es war nämlich ein Gebot der inneren Konsistenz, dass literarische Werke, die den Kontext mündlicher Kommunikation 76
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Vgl. Settle 1962, S. 66; Powell / Paterson 2004, S. 53; Achard 2006, S. 91. Ganter 2015b, S. 31 betont ebenfalls, dass „er [scil.: Cicero] den Text nicht so sehr verändern [konnte], dass man ihm Differenzen zwischen gesprochenem und geschriebenem Wort hätte vorwerfen können“. Aussagekräftig ist diesbezüglich das Gegenargument Ciceros, mit dem er der in der letzten Anmerkung erwähnten Weigerung Antonius’ begegnet: proinde quasi si quid a nobis dictum aut actum sit, id nisi litteris mandarimus, hominum memoria non comprehendatur (Cluent. 140). Vgl. z. B. Cic. Att. 1,13,5: In illam orationem Metellinam addidi quaedam. Riggsby 1999, S. 180-181, 184 und Alexander 2002, S. 25 sprechen sich für geringfügige Änderungen aus. Andersen 2001, S. 105 und Achard 2006, S. 111 lassen dagegen die Frage offen. Vgl. Enos 1988, S. 9-10, der dies mit Ciceros Streben nach Ruhm in Verbindung bringt. Powell / Paterson 2004, S. 53 nennen auch die Empfehlung für zukünftige Klienten, ohne dies jedoch zum primären Zweck zu machen. Ebenso Classen 1985, S. 5-6, der politische Gründe als wichtig erachtet, jedoch nicht als vorrangig. Cic. Att. 2,1,3; 4,2,2; Cic. ad Q. fr. 3,1,11; s. auch Cic. Brut. 122.
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simulieren, auch die Form dieser Kommunikation reproduzieren.81 Für die forensische Rhetorik hatte dies zur Folge, dass selbst fiktive Reden eine glaubwürdige Version des vermeintlich gesprochenen Pendants wiedergeben mussten.82 Dies betrifft gleichermaßen die ethische Komponente der oratio, d. h. die (selbstverständliche) Vorgabe, dass dasjenige Verhalten, das der Redner auf dem Forum an den Tag gelegt hätte, im Zuge der Veröffentlichung ebenfalls abgebildet werden solle.83 Folglich hat Wilfried STROH gezeigt, dass die publizierten Reden, wenngleich sie des Öfteren eine politische Botschaft transportieren möchten, primär einen pädagogischen Zweck zu erfüllen hatten,84 eine These, die von Quintilian auch bestätigt wird.85 81 82
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Vgl. Achard 2006, S. 110. Fuhrmann 1990, S. 61; Heil 2003, S. 41; May 1988, S. 53-54. Ebd., S. 54 führt der Autor die digressiones und repetitiones, die den Leser befremden, auf ebendieses Charakteristikum zurück. Die Meinung Quintilians diesbezüglich ist ebenfalls von Bedeutung. In inst. 12,10,50 gibt er die Ansicht wieder, dass publizierte Reden „eleganter“ sein müssten – eine These, der sich auch Andersen 2001, S. 106 anschließt. Allerdings widerspricht Quintilian selbst im Folgenden dieser Sichtweise, da die Publikation ein Abbild des Vortrages darstellen müsse (inst. 12,10,51); vgl. auch Powell / Paterson 2004, S. 53-54, die ebenfalls darauf hinweisen, dass Quintilian beide Gattungen unter dem Gesichtspunkt der „practical oratory“ analysiert. Vgl. ebd., S. 21-22; Enos 1988, S. 16. Quint. inst. 12,10,55 und 12,10,57 erlaubt daher Änderungen nur in den (wenigen) Fällen, in denen mündliches und schriftliches decorum einander widersprechen. Stroh 1975, S. 51-52. Die meisten Autoren haben sich seiner These angeschlossen (vgl. z. B. Classen 1985, S. 6; Powell / Paterson 2004, S. 52; Steel 2006, S. 27-28; Adamietz 1989, S. 31). Bereits vor STROH hat Settle 1962, S. 48 gezeigt, dass die Jugend das Zielpublikum Ciceros darstellt und die Reden somit eine didaktische Funktion erfüllen (vgl. ebd., S. 51). Allerdings hat es auch Gegenstimmen zu dieser These gegeben. So rückt Enos 1988, S. 58 und 88-89 die Selbstdarstellung Ciceros in den Vordergrund. Außerdem hat sich CRAWFORD, Jane W., M. Tullius Cicero. The Lost and Unpublished Orations, Göttingen 1984 in einem längeren Exkurs (S. 3-21) für eine politische Zielsetzung stark gemacht. Alexander 2002, S. 25 gesteht dem Redner zwar gewisse pädagogische Erwägungen zu, sieht das Hauptziel aber ebenfalls in seinem Streben nach gloria. Quint. inst. 12,10,53. Ein scheinbarer Einspruch dagegen ist Plin. epist. 1,20,6-8 zu entnehmen, der ein häufiges Abkürzen der Reden durch Cicero
Die Frage nach der historischen Akkuratesse der Reden ist damit nicht beantwortet, dafür aber die nach der Plausibilität. Für unsere Zwecke relevant ist die Feststellung, dass die überlieferten Reden nichts enthalten, was nicht in der gleichen Form auch hätte vorgetragen werden können. Unabhängig davon, ob die veröffentlichte Version ein authentisches Bild der Vorgänge auf dem Forum liefert oder nicht, hat sie auch in der Antike die Absicht verfolgt, dem Leser diesen Eindruck zu vermitteln.86 So stellt STROH fest, dass „die oratio scripta […] ihren neuen Zweck, den Zweck der Belehrung durch das Musterhafte nur dann erreichen [kann], wenn sie ihrem Wesen nach mündliche Rede in historischer Situation [Hervorhebung im Original] bleibt“.87 Sie kann (und möchte) sich somit von der kulturellen Bedingtheit eines entsprechenden Verhaltens nicht lösen und stellt eine für die Zeitgenossen nachvollziehbare Art und Weise dar, die Rolle des Anwalts wahrzunehmen. Zugunsten unserer Forschungsabsicht kann ein zusätzliches Argument ins Feld geführt werden. Wenn Cicero das Musterbeispiel einer Idealrede publizieren wollte, das den zeitpolitischen Umständen, aber auch den Adressaten Rechnung trägt, muss auch davon ausgegangen werden, dass er diejenigen Argumente, die wider Erwarten auf eine geringe Resonanz und folglich auch auf eine eingeschränkte kulturelle Ak-
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erwähnt. In Bezug auf die Zielsetzung jedoch sagt auch Plinius im Folgenden, dass die Publikation als Vorbild dienen müsse: Est enim oratio actionis exemplar et quasi ἀρχέτυπον (epist. 1,20,9); vgl. allgemein zur Cicero-Rezeption bei Plinius RIGGSBY, Andrew M., Pliny on Cicero and Oratory. Self-fashioning in the Public Eye, AJPh 116, 1995, S. 123-135. Vgl. Powell / Paterson 2004, S. 7, 54, 57; Fotheringham 2006, S. 65; Achard 1981, S. 29-30; Powell 2010, S. 35. Ebd., S. 24-25 weist der Autor darauf hin, dass die publizierten Reden nur Sinn machen, wenn man sie in den Kontext des quaestio-Verfahrens setzt. Cerutti 1996, S. 18-19 umgeht folgerichtig in seinem Buch die Frage nach einer möglichen Konkordanz ebenfalls mit dem Hinweis auf eine ausreichende Plausibilität; vgl. auch Gildenhard 2011, S. 14-15. Den Einwand von Andersen 2001, S. 106, dass dem Redner dadurch der Kontakt zum Publikum fehlt, kann man angesichts der frischen Erinnerung an die vorgetragene Rede – und notfalls der φαντασία des orator – nicht gelten lassen. Stroh 1975, S. 52-53. Ebd., S. 53 heißt es: „Nicht die wirklich gehaltene Rede muß publiziert werden, sondern die Rede, wie sie wirklich gehalten sein könnte [Hervorhebung im Original]“.
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zeptanz beim Publikum gestoßen waren, unterdrückt oder geändert hat, so dass dadurch in vielerlei Hinsicht ein für die Sinnstiftungsmuster der römischen Gesellschaft aussagekräftigeres Bild vermittelt wird als es selbst dem Original möglich gewesen wäre.88 Um ein mittlerweile berühmtes Zitat von Wilfried STROH den Intentionen dieser Studie anzupassen, „haben wir“ nicht nur „diese Fiktion als Wirklichkeit zu nehmen“,89 dies stellt für kulturgeschichtliche Fragestellungen sogar einen willkommenen Zwang dar.90 88
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Quint. inst. 12,10,56 erteilt den Rat, im Laufe der Rede bei denjenigen Argumenten zu bleiben, die die Zustimmung der Hörer gefunden haben. Das muss aber umso mehr gelten, wenn man die oratio für die Publikation vorbereitet. Stroh 1975, S. 50 geht ebenfalls davon aus, dass der Redner „besonders geistreiche Einfälle und Formulierungen“ erst nachträglich eingefügt hat. Ebd., S. 54. Innerhalb des hier ausgewählten Redecorpus wirft die Miloniana freilich einige Probleme auf. Es ist bekannt, dass die publizierte Version nicht mit der vorgetragenen übereinstimmt, wenngleich die cicerofeindliche Tradition diese Diskrepanz sicherlich übertrieben hat. Jedenfalls war in der Antike die Originalrede noch im Umlauf (vgl. Asc. Mil. 42C; schol. Bob. Mil. p. 61 Hildebrandt); vgl. auch Cerutti 1996, S. 105; Neumeister 1964, S. 87. Powell / Paterson 2004, S. 55 sehen den Grund für die Veröffentlichung der Rede darin, dass Cicero dem bereits öffentlich gewordenen Original eine bessere Version entgegensetzen wollte. Ähnlich geht Settle 1962, S. 259-260 von einer unmittelbar nach der Verhandlung erfolgten Publikation aus, die auf den Wunsch nach einer politischen Stellungnahme zurückgeht. Allerdings ist angesichts der oben ermittelten Charakteristika der Publikation und vor allem wegen Ciceros Intention, hier eine besonders musterhafte Rede zu hinterlassen, ebenso mit einer starken Anlehnung an kulturelle Vorstellungsmuster zu rechnen; vgl. allgemein dazu Gruen 1974, S. 341-342; Fotheringham 2013, S. 2, Anm. 2; SETTLE, James N., The Trial of Milo and the other Pro Milone, TAPhA 94, 1963, S. 268-280; STONE, A. M., Pro Milone: Cicero’s Second Thoughts, Antichthon 14, 1980, S. 88-111; MARSHALL, Bruce A., Excepta oratio, the Other Pro Milone and the Question of Shorthand, Latomus 46, 1987, S. 730-736; s. auch MAY, James M., Cicero’s Pro Milone. An Ideal Speech of an Ideal Orator, in: Wooten, Cecil W. (Hrsg.), The Orator in Action & Theory in Greece and Rome, Leiden u. a. 2001, S. 123-134. Hinsichtlich der Rosciana ist Settle 1962, S. 77-78 von einer Veröffentlichung zu Lebzeiten Sullas augegangen; dagegen BERRY,
Dominic H., The Publication of Cicero’s Pro Roscio Amerino, Mnemosyne 62, 2004, S. 80-87, der dies erst für die Zeit nach Ciceros Rückkehr aus Kleinasien für möglich hält. Allerdings beruht seine These auf der Annahme einer sullanischen Repression, eine Sichtweise, die nicht zu überzeugen vermag (vgl. bereits Gruen 1968, S. 270-271). Die Cluentiana soll laut Settle 1962, S. 125 ebenso kurz nach dem Prozess publiziert worden sein. Kirby 1990, S. 169-170 hält dies für möglich, allerdings für nicht belegbar; für die Publikation der Cluentiana allgemein vgl. ebd., S. 159-170. Ebenfalls für eine rasche Veröffentlichung spricht sich Settle 1962, S. 158 im Falle der Sullana (der er ebd., S. 156-157 auch eine starke politische Motivation zuschreibt), der Sestiana (ebd., S. 200, mit einem weiteren Hinweis auf die politische Konnotation, aber auch auf das an die politische und rhetorische Jugend adressierte Manifest) und der Caeliana (ebd., S. 205) aus. Classen 1973, S. 86 fügt hinzu, dass Letztere wahrscheinlich auch weitgehend mit der gehaltenen Rede identisch ist; für die Praxis der Publikation derjenigen Reden, die in den contiones vorgetragen wurden, vgl. Pina Polo 1996, S. 2633.
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Erster Teil: Forensische Rollenbilder
III
Interdisziplinäres Präludium: Normen, Rollen und die antiken Pendants
Die Werte- und Normengebundenheit des gesellschaftlichen Handelns stellt eine anthropologische Konstante dar, die dem Menschen eine für die Strukturierung seiner Umwelt unerlässliche „Orientierung“ bietet.1 Die soziologische Theorie hat auf diesem Gebiet eine Fülle von Erkenntnissen bereitgestellt, derer wir uns auf den folgenden Seiten bedienen werden. Aus diesem Grund sind die in der Einleitung postulierten Intentionen ohne eine Erläuterung der wichtigsten Begriffe, aber auch ohne eine Betrachtung der antiken Sicht auf diese Thematik nicht möglich. Letzteres ist schon deshalb von Bedeutung, weil die kulturelle Eigenart einer Gesellschaft nur aus ihrem Verständnis heraus interpretiert werden kann, wenngleich die selbstreferentiellen Erklärungen lediglich den ersten Schritt auf dem Weg zu den Sinnstiftungen jener Kultur bilden. „Soziale Plastizität“ und „soziale Produktivität“ sind die zwei Begriffe, die für Heinrich POPITZ die Grundlage der menschlichen Fähigkeit, ein normengeleitetes Dasein zu entwickeln, definieren.2 Dass jede Gesellschaft nicht nur eine Orientierung braucht, sondern auch bereits eine vorgegebene Orientierung besitzt, entzieht sich womöglich des Öfteren der bewussten Wahrnehmung, nichtsdestoweniger ist jede Interaktion „mit bestimmten Alternativen belastet“,3 die vom „Wissensvor1
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Vgl. Flaig 2005, S. 209: „Jegliche Kultur braucht Orientierung. Und Orientierung gelingt nur durch Werte. Denn wer sich orientiert, muß selektieren. Diese Selektion vollzieht sich durch Sinn; und die intensivsten Sinneinheiten sind Werte. Werte und Normen erlauben, vorbildliches Verhalten zu definieren. Das ‚richtige‘ Verhalten zeigt eine Norm an. Das Gute hinter dem Richtigen ist ein Wert. Die Orientierung in einer Kultur hängt letztlich an Werten“. Popitz 2006a, S. 63. Ebd., S. 61.
rat“ einer Gesellschaft geprägt sind und kulturimmanente Modi darstellen, die „Wirklichkeit der Alltagswelt“4 zu erleben und zu interpretieren.5 Plastizität und Produktivität bedingen aber auch die kulturelle Variabilität von Normen. Es sind die Eigenschaften, die es einerseits dem Menschen erlauben, die bereits bestehenden Welterklärungsmuster zu internalisieren, ihm andererseits die Möglichkeit bieten, aktiv an deren Gestaltung mitzuwirken.6 Jede Beschäftigung mit den Eigenarten einer fremden Gesellschaft muss somit der Prämisse Rechnung tragen, dass die dort geltenden Normen auf spezifische Weltdeutungen und auf die im Rahmen dieser Erklärungen vorgenommene Gestaltung zurückgehen. Zusätzlich zu den interkulturellen Differenzen sind soziale Normen aber auch intrakulturell keineswegs uniform. Der Mensch nimmt im Zuge seiner Interaktionen unterschiedliche „Punkte oder Orte in einem Koordinatensystem sozialer Beziehungen“7 ein, die – wenngleich sie auch universeller Natur sein können – in erster Linie von den Charakteristika der betreffenden gesellschaftlichen Struktur vorgezeichnet sind.8 Die dadurch ausgefüllten „sozialen Positionen“ sind ihrerseits an Ansprüche geknüpft, die entweder ein entsprechendes Verhalten oder die Zurschaustellung gewisser, der Position inhärenter Attribute einfordern.9 Der Einzelne spielt also immer eine „soziale Rolle“, in der sich die Glaubensvorstellungen der Gesellschaft widerspiegeln und der sich der Akteur auch nicht entziehen kann.10 „Rollen repräsentieren [Hervorhe4 5
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Berger / Luckmann 2010, S. 24. Vgl. ebd., S. 26: „Jedermannswissen ist das Wissen, welches ich mit anderen in der normalen, selbstverständlich gewissen Routine des Alltags gemein habe“. Popitz 2006a, S. 63; zur Sozialisation und den Gestaltungsmöglichkeiten vgl. Berger / Luckmann 2010, S. 139-174. Dahrendorf 2010, S. 32. Vgl. ebd. Vgl. Popitz 2006b, S. 135-144; Wiswede 1977, S. 37-48; Dahrendorf 2010, S. 35. Goffman 2011, S. 23-30 hat dafür den Begriff der „Fassade“ geprägt; vgl. ebd., S. 23: „Unter Fassade verstehe ich also das standardisierte Ausdrucksrepertoire, das der Einzelne im Verlauf seiner Vorstellung bewußt oder unbewußt anwendet“. Zum Begriff der „sozialen Rolle“ vgl. Luckmann 1979, S. 301-302; Goffman 2011, S. 18; Dahrendorf 2010, S. 34-35; Popitz 2006b, S. 134;
bung im Original] die Gesellschaftsordnung“.11 Sie bilden „typisierte“ Verhaltensweisen,12 die personenunabhängig sind und den jeweiligen Rollenträger zugleich in Relation zu den für seine Position relevanten Komplementärrollen setzen.13 Die Normierung sozialer Rollen kann erfahrungsgemäß nur dann durchgesetzt werden, wenn auf die Einhaltung oder Übertretung der dazugehörigen Erwartungen auch mit einem unterschiedlichen Maß an Sanktionen reagiert wird.14 Die Verantwortung dafür obliegt den „Bezugsgruppen“, d. h. jenen Positionen, die primär Ansprüche an den Rollenträger stellen und an deren Einschätzung sich dessen Verhalten folglich orientiert.15 Allerdings kann das daraus entstehende Beziehungsgeflecht auch Probleme aufwerfen. Widersprechen unterschiedliche Erwartungen einander, so kann auf diese Inkompatibilität mitunter nicht ohne die Übertretung einer Norm geantwortet werden. Die „Rollenkonflikte“, die sich daraus ergeben, sowie deren Charakteristika gehören zu den Grundthemen der soziologischen Rollentheorie. Es wird hierbei zwischen
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Berger / Luckmann 2010, S. 78. Neben den Sanktionen, die einen Rollenträger bei Übertretung der Rollenvorschriften erwarten würden, stellt sich die grundsätzliche Frage nach der Möglichkeit, „Rollendistanz“ zu entwickeln. So vermutet Thomas LUCKMANN, „daß viele Menschen, denen Rollendistanz gesellschaftlich sozusagen angeboten wird, diese auf die Dauer kaum ertragen können“ (Luckmann 1979, S. 313); vgl. allgemein dazu ebd., S. 309-313 und Goffman 2011, S. 19-23. Tonio HÖLSCHER zeigt z. B., dass der Widerspruch zwischen historischer Akkuratesse und ideologischer Verklärung im Falle der Reliefs römischer Kaiser in Wirklichkeit nicht besteht, da es die Rolle der Kaiser verlangte, bestimmten Werten durch Ausleben und Visibilisierung Ausdruck zu verleihen (Hölscher 2008, S. 45). Berger / Luckmann 2010, S. 79. Vgl. ebd., S. 76-78. Zum „Bewußtsein der Vakanz“, der Übertragbarkeit und „Entindividualisierung“ als Voraussetzungen für die Existenz sozialer Rollen und diesbezüglicher Normen s. Popitz 2006b, S. 123-124, 125-126; vgl. auch Beck 2009, S. 57; zum „Positionsfeld“ vgl. Dahrendorf 2010, S. 32-34. Vgl. Wiswede 1977, S. 57-64; Popitz 2006a, S. 69-71; Dahrendorf 2010, S. 38; Claessens 1966, S. 96. Für den von Robert K. MERTON geprägten Begriff der „Bezugsgruppe“ vgl. Dahrendorf 2010, S. 46.
75
Intra-Rollenkonflikten – also Situationen, in denen man sich in der gleichen Position mit zwei widersprüchlichen Erwartungen unterschiedlicher Bezugsgruppen konfrontiert sieht – und Inter-Rollenkonflikten – Erwartungen an verschiedene Rollen, die man gleichzeitig einnimmt – getrennt.16 Besondere Bedeutung kommt den Erwägungen zu, die einer Person die Konfliktlösung (einigermaßen) erleichtern können.17 Grundsätzlich wird dabei angenommen, dass sich ein Rollenträger nach dem „Gewicht“ der Bezugsgruppe und dem Ausmaß der Sanktionen, die ihn bei einer Übertretung erwarten würden, richtet,18 so dass sich auch hier die gesellschaftliche Dimension des Handelns als essenziell erweist.19 In diesem Sinne hat Ralf DAHRENDORF eine Abstufung der Normgeltung anhand der Sanktionsbereitschaft und der Sanktionsart vorgenommen. Er unterscheidet zwischen „Muss-Erwartungen“, „denen wir uns nur auf die Gefahr gerichtlicher Verfolgung hin entziehen können“,20 „Soll-Erwartungen“, deren Übertretung eine starke negative Sanktionierung nach sich zieht, und „Kann-Erwartungen“, deren Einhaltung zwar die Wertschätzung der Mitmenschen gewinnt, bei Nichterfüllung jedoch nur eine geringe negative Resonanz zu erwarten wäre.21 Diese Abstufung, die mithilfe der Geltung einer Norm auch Einblicke in die kulturellen Hintergründe des Sanktionswillens erlaubt, darf freilich nicht außer Acht gelassen werden. Es muss allerdings hinterfragt werden, ob das dreistufige Modell DAHRENDORFs der Subtilität einer Vielzahl von Interaktionsmöglichkeiten gerecht wird, zumal für die Praxis der spätrepublikanischen Gerichtsrhetorik im Bereich der SollErwartungen eine nicht unerhebliche Grauzone zu konstatieren ist, die ein beträchtliches Konfliktpotential offenbart. Zumeist als Fußnote der Rollentheorie erscheint ein Konzept, das vor allem für die römische Antike konstitutiv zu sein scheint. Bisweilen kann es vorkommen, dass von einem Rollenspieler auch eine „Rollenkonsistenz“ erwartet wird, nämlich eine Übereinstimmung zwischen 16 17 18 19 20 21
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Vgl. Wiswede 1977, S. 115-141; Popitz 2006b, S. 119. Für einen Überblick über die soziologischen Theorien zum Thema der Entscheidung von Rollenkonflikten vgl. Wiswede 1977, S. 123-132. Dahrendorf 2010, S. 72. Vgl. ebd., S. 52. Ebd., S. 39. Vgl. ebd., S. 39-41.
zwei unterschiedlichen Positionen, deren Sanktionierung auch von Attributen und Verhaltensweisen abhängig gemacht wird, die der Zweitrolle inhärent sind.22 Hierin klingt bereits das römische Gebot der constantia an. Dem Wunsch nach „Orientierung“ hätte der spätrepublikanische Römer zweifelsohne zugestimmt. Eine Sinnsuche, wie sie sich ihm durch den Kanon der historischen exempla bot, sucht in der Geschichte ihresgleichen. Durch die Autorität, die den im Wissensvorrat verankerten Begriffen aufgrund der Berufung auf die Taten der maiores verliehen wurde, stand jedem Bürger eine Anleitung zur Verfügung, die ihm aufzeigte, welche Ideale es für einen tugendhaften Römer zu befolgen gilt.23 Das heißt jedoch nicht, dass damit unumstößliche Verhaltensrichtlinien vorgegeben wurden, ja vielmehr bestand die rhetorische Auseinandersetzung – ob politisch oder juristisch – des Öfteren darin, die exempla des Gegners durch gewichtigere Beispiele zu entkräften.24 Die Art und Weise, wie eine Wertvorstellung praktisch umzusetzen war, wurde immer wieder zum Gegenstand der gesellschaftlichen Neuverhandlung,25 die Gültigkeit des Konzepts jedoch nicht – oder anders: der mos ist „ein Paradigma, dem sich das Verhalten der minores, der Nachkommen, anzupassen hat“.26 Die Verlockung, eine terminologische Analogie zu den modernen soziologischen Konzepten herzustellen, ist natürlich groß. Als „intensivste Sinneinheiten“27 werden die römischen Werte von den abstrakten 22 23
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Vgl. dazu Wiswede 1977, S. 85-89. Vgl. Flaig 2005, S. 217: „Formuliert man diese [scil.: die Normen] als Ideale, denen nachzustreben ist, werden sie zu ‚Tugenden‘“. Keller 2005, S. 179 sieht die Funktion des mos maiorum darin, die „technischen Defizite des Verfassungsrahmens“ auszugleichen; vgl. allgemein dazu HÖLKESKAMP, Karl-Joachim, Exempla und mos maiorum. Überlegungen zum „kollektiven Gedächtnis“ der Nobilität, in: Ders. (Hrsg.), SENATVS POPVLVSQVE ROMANUS. Die politische Kultur der Republik – Dimensionen und Deutungen, Stuttgart 2004, S. 169-198. Vgl. Keller 2005, S. 197. Vgl. Bettini 2000, S. 326-327. Classen 2000, S. 80-81 stellt dies anhand der ambivalenten Benutzung der Begriffe ingenium, diligentia und gratia unter Beweis. Bettini 2000, S. 322. Flaig 2005, S. 209; s. dazu oben, S. 73, Anm. 1.
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Begrifflichkeiten widergespiegelt, die jeden Anspruch auf eine tugendhafte Handlung begründen. Die habituelle Auslegung eines Wertes, die zu einem bestimmten historischen Zeitpunkt die Akzeptanz der Allgemeinheit genießt, stellt eine in dieser Gesellschaft verbindliche Norm dar, welche durch Internalisierung und Sichtbarmachung die Gültigkeit der dazugehörigen Vorstellung bekräftigt.28 So wie Normen jedoch, im Gegensatz zu Werten, einer dynamischeren Sanktionsbereitschaft unterliegen, so hing auch in Rom das konkrete Ausleben von fides oder pietas von der Evaluierung der Mitmenschen ab. Diese Gedanken sind auch dem römischen Vokabular nicht fremd. Die „mittleren Pflichten“, die Cicero im De officiis behandelt, und die nicht das ideale Verhalten des Weisen, sondern alltägliche Richtlinien für die soziale Interaktion festlegen, stellen für ihn die Grundlage der Ehrenhaftigkeit (honestum) dar.29 Die Befolgung der officia wird aber erst durch das entsprechende – oder besser: passende – Verhalten externalisiert. Die Rezeption des griechischen πρέπον hat bei Cicero zur Lehre vom decorum (oder aptum) geführt,30 das ebendieses Verhalten benennt und es in Relation zu den abstrakten Pflichten setzt.31 Das decorum, als „Letztimplikation des Handelns und zugleich notwendige Bedingung für die Verwirklichung des Menschen und der Gesellschaft“,32 bildet den Kanon gültiger sozialer Normen par excellence und erhält seine Legitimität durch die Reaktion bzw. Sanktion der Interaktionspartner.33 Die Notwendigkeit, den Vorgaben des decorum unentwegt 28
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Zur Rolle der exempla für die Verinnerlichung von Normen vgl. Ronning 2003, S. 239; s. auch Keller 2005, S. 185, der die Bedeutung der exempla für die „Handlungssteuerung“ betont. Bettini 2000, S. 317 gibt die Sichtweise Varros wieder und zeigt, dass der – zunächst individuelle – mos erst zu einer allgemein gültigen consuetudo wird, wenn er eine gesamtgesellschaftliche Akzeptanz (consensus) erfährt. Vgl. Cic. off. 1,4; 1,7-8; Cic. or. 72; s. auch Thurmair 1973, S. 70. Zur Rezeption des griechischen Konzepts und seiner Anpassung an die römischen Vorstellungswelten vgl. Cicu 2000, S. 138-142. Cic. off. 1,94. Thurmair 1973, S. 69. Ebd., S. 73. Derart holistisch konzipiert umfasst das Konzept den gesamten Bereich menschlicher Verhaltensweisen; vgl. Cicu 2000, S. 149. Analog dazu beruht das rhetorische decorum auf der lebenslangen Erfahrung eines
Rechnung zu tragen, veranlasst Cicero, dieses gar als von der Weisheit (sapientia) abhängig zu betrachten.34 Eine solche Verhaltensanforderung, die das gesamte Leben durchzieht, darf selbstverständlich auf dem Forum nicht ignoriert werden. So gesellt sich zum sprachlichen decorum der Rhetorik auch vor Gericht eine untrennbar damit verbundene Angemessenheit des Verhaltens,35 die durch die inhärente soziale Sanktionierung zu einem ebenso starken Instrument der Persuasion wird.36 In ebendieser Ausprägung tritt aber die größte – und vielleicht überraschendste – Übereinstimmung mit der heutigen Soziologie zutage. Die antiken Theoretiker besprechen nämlich nicht etwa ein universelles decorum, das klar definierte Regeln befolgt, sondern sie machen es von den Rahmenbedingungen abhängig, d. h. zum einen von der Person, die vorträgt, zum anderen auch von dem angesprochenen Publikum.37 Im De officiis begegnen wir der ausführlichsten Darlegung der römischen „Rollentheorie“.38 So sei der Mensch mit zwei Arten des decorum ausgestattet worden: einer allgemeinen, die dem menschlichen Wesen entspringt, und einer individuellen – man könnte sagen „sozialen“ –, die sich den Vorzügen des Einzelnen anpasst.39 Die Rollenkonsistenz wird dabei zur obersten Pflicht, wenn die Vorgabe erteilt wird, dass es besonders wichtig sei, dasjenige Verhalten an den Tag zu legen, das zu den
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Redners und kann folglich auch nicht theoretisiert werden (Müller 2011, S. 90-91). Cic. or. 70, 123; vgl. auch Thurmair 1973, S. 69; Cicu 2000, S. 144-145. Cic. or. 71; vgl. Andersen 2001, S. 67; zu beiden Formen des forensischen decorum vgl. Ueding / Steinbrink 1994, S. 216-221; Lausberg 1973, S. 507511. Vgl. Neumeister 1964, S. 34, 59-60. Cic. de or. 3,210-211; Cic. or. 71-72; Quint. inst. 4,1,52; 11,1,14; vgl. dazu Schofield 2012, S. 46-47; Andersen 2001, S. 69; Ueding / Steinbrink 1994, S. 216. Als „eine Art Rollentheorie“ werden die Passagen auch von Fuhrmann 1979, S. 97 bezeichnet. Vgl. Cic. off. 1,96; 1,107; vgl. auch Cicu 2000, S. 149. Fuhrmann 1979, S. 100 macht ebenfalls darauf aufmerksam, dass die römischen Rollenerwartungen von dem alles überragenden Begriff des decorum determiniert werden. Folgerichtig wird bei Cicero auch die Terminologie verfeinert: oportere wird zur Bezeichnung der allgemeinen Pflichten des Menschen, decere dagegen zur Grundlage der spezifischen „Rollenpflichten“. (Cic. or. 74).
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persönlichen Eigenschaften passt.40 Die Rollentheorie Ciceros geht freilich auf die in der Antike besonders beliebte Theatermetapher zurück.41 Sie entspringt aber auch einer Kultur, die besonderen Wert auf eine genaue Rollenverteilung legt.42 Persona, als römischer Rollenbegriff, bezeichnet sowohl das „Image“, das der Bürger in allen Handlungen des Alltags an den Tag legen muss,43 als auch das situationsgebundene Verhalten, das ihm als Rollenträger in einer differenzierten Gesellschaft zukommt.44 Die universelle Akzeptanz des Konzepts wird auch durch die häufigen Redepassagen reflektiert, die sich des persona-Begriffs bedienen.45 Vor allem sind es aber die präzise umrissenen Attribute – etwa wenn Cicero seiner natürlichen misericordia die severitas des Konsuls entgegensetzt –,46 die eine Anwendung der soziologischen Terminologie nicht nur legitimieren, sondern diese auch näher an das römische Verständnis rücken lassen.47 Zumindest in dieser einen Hinsicht jedoch ist 40
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Cic. off. 1,110; vgl. auch Fuhrmann 1979, S. 101. Als Merkmal des decorum wird constantia demzufolge in jeder Lebenslage und unabhängig von der jeweils gespielten „Rolle“ eingefordert (vgl. Schofield 2012, S. 50). Cic. off. 1,97-98; vgl. auch Steel 2006, S. 54-55; Schottlaender 1967, S. 138-139; Kennedy 1972, S. 18. Vgl. Martin 2002, S. 157-158; Beck 2009, S. 58; Ronning 2003, S. 238. Ebd., S. 240 zeigt der Autor, dass ein Rollenträger durch seine Autorität auch aktiv an der schrittweisen Veränderung eines Rollenverständnisses mitwirken kann. So ist das decorum auch insofern gestaltbar, als es die Option bereitstellt, eine Rolle im Rahmen der vorgegebenen Möglichkeiten individuell zu interpretieren (vgl. Thurmair 1973, S. 72-73). Fuhrmann 1979, S. 88 erachtet das Gericht als ein Umfeld, in dem die Rollenverteilung besonders stark hervortritt. Vgl. ebd., S. 93-94. Braun 2003, S. 80 zeigt auch, dass die Tugenden, die Cicero bei seinen Klienten hervorhebt, immer auch ihrem gesellschaftlichen Status Rechnung tragen; zum Begriff des „Image“ vgl. Goffman 1986, S. 10-18. Vgl. Thurmair 1973, S. 70. Cic. Quinct. 45; Cic. Caec. 14; Cic. Sull. 8; vgl. auch Cic. off. 3,43, wo er die persona amici mit der persona iudicis kontrastiert. Cic. Sull. 8. Für das Konzept der „Rolle“ in Abgrenzung zum anachronistischen und selbstbezogenen Terminus der „Identität“ spricht sich Hölscher 2008, S. 5254 aus.
die Theatermetapher inadäquat: Die oratores hatten sich nicht wie Schauspieler zu verhalten, sondern wie ein patronus bzw. accusator.48
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Dalsasso 2014, S. 50 hebt hervor, dass ein Redner stets darauf achten musste, nicht wie ein Schauspieler zu wirken; vgl. auch Steel 2006, S. 55; Corbeill 2004, S. 115; Aldrete 1999, S. 53-54; ausführlicher zu den Überschneidungen, aber auch zur Abgrenzung zwischen Rhetorik und Theater bei Quintilian vgl. ebd., S. 67-73; weiterführend zum Thema: Gunderson 2000, S. 111-148. Die Schlussfolgerung von Classen 2000, S. 85-86, dass die widersprüchliche Behandlung der Werte durch Cicero auf eine lockere Normierung hindeutet, kann möglicherweise durch einen Blick auf den rollentheoretischen Rahmen relativiert werden.
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IV Die Hauptdarsteller der Gerichtsverhandlung: patronus und accusator Ein Blick auf die oben aufgezählten Prinzipien des antiken Gerichtsverfahrens offenbart ein wesentliches Unterscheidungsmerkmal zur modernen Konzeption des gesetzlichen Vertreters. Wäre heutzutage die Übernahme eines Mandats der nicht weiter erklärungsbedürftige Ausdruck eines Berufsethos, gab es in Rom den „professionellen“ Anwalt selbstverständlich nicht. Im Hinblick auf die spätrepublikanische Prozessordnung wird jedoch ein weiterer Unterschied ersichtlich, der auch eine divergente Konzeptualisierung der gegensätzlichen Positionen vermuten lässt. Das Vorverfahren der divinatio zeigt, dass die Gesellschaft bestrebt war, im Falle des Anklägers gewisse Hürden aufzubauen, die den Rollenträger als geeignet ausweisen sollten.1 Der Umstand, dass nur ein einziger Hauptkläger (nominis delator) zugelassen war, der lediglich von einer Reihe von subscriptores unterstützt werden durfte, kann diesbezüglich freilich als explanans dienen, er wird aber im Laufe der Studie ebenso als explanandum zu betrachten sein. Im Gegenzug gab es für den Verteidiger weder die Pflicht, sich vorweg einer moralischen Überprüfung zu unterziehen, noch eine Begrenzung der Anzahl potentieller Rollenträger.2 Deutet dies aber auch auf 1
2
Zur divinatio vgl. Quint. inst. 7,4,33-34; s. auch Cic. ad Q. fr. 3,2,1; vgl. allgemein dazu Poiret 1886, S. 186-187; Robinson 1995, S. 5; zu den gesellschaftlichen Implikationen vgl. auch David 1992, S. 501-503. Die Rolle des Anklägers unterstand einer genauen Hierarchisierung (vgl. Flaig 2003, S. 147-148), die sich z. B. in der Abstufung von iustus und idoneior accusator niederschlägt (ebd., S. 147). Eine (fragwürdige) Etymologie der divinatio bietet Gell. 2,4. Zur Zeit der späten Republik waren vier oder mehr Anwälte der Verteidigung nicht unüblich; vgl. Kennedy 1968, S. 428; Crook 1995, S. 127; s. auch Poiret 1886, S. 118; Neuhauser 1958, S. 174; Kennedy 1972, S. 14. Bis zu einer Eindämmung durch das augusteische Reformwerk wuchs die Zahl
eine lockere Normierung hin, die es jedem Bürger erlaubte, die Position des Anwalts zu bekleiden, ohne dass seine diesbezüglichen Motive hinterfragt wurden? Eine Antwort darauf liefert bereits der Einleitungssatz der Rosciana: Ich möchte annehmen, ihr Richter, ihr seid erstaunt, weshalb gerade ich mich erhoben habe, da doch zahlreiche Redner von erstem Rang und Angehörige des höchsten Adels auf ihren Plätzen bleiben: ich, der ich diesen Männern, was Alter (aetas), Können (ingenium) oder Ansehen (auctoritas) betrifft, durchaus nicht gewachsen bin.3
Die Erwartungshaltung, der Cicero nicht gerecht werden konnte, bezieht sich hier weder auf inhaltliche Punkte der Rede noch auf die aus dem Verhalten des Anwalts resultierende Wahrung eines forensischen oder gesellschaftlichen decorum. Sie stellt eine soziale Sanktionierung dar, die auf askribierte sowie erworbene Positionen abzielt, welche zur gesamten persona des Redners gehören und ihn überhaupt erst zur Rollenübernahme berechtigen.4 Die drei Attribute, die der orator anführt, sind
3
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sogar auf mitunter zwölf patroni an (vgl. Gelzer 1912, S. 69). So kann Asc. Mil. 41C mit einer gewissen Verwunderung darüber berichten, dass Cicero der einzige Anwalt war, der Milo beistand. Cic. Brut. 207 weist diesen Anstieg als Neuerung aus und kritisiert ihn, da cum unum corpus debeat esse defensionis, nasci de integro causam, cum sit ab altero perorata (Cic. Brut. 208). Cic. S. Rosc. 1: Credo ego vos, iudices, mirari, quid sit, quod, cum tot summi oratores hominesque nobilissimi sedeant, ego potissimum surrexerim, is, qui neque aetate neque ingenio neque auctoritate sim cum his, qui sedeant, comparandus. Dass darin der gleiche Gedanke einer moralischen Bewertung der Rollenübernahme mitschwingt, belegt die ähnliche Wortwahl zu Beginn des Vorverfahrens gegen Caecilius: Si quis vestrum, iudices, aut eorum qui adsunt, forte miratur me […] subito nunc mutata voluntate ad accusandum descendere (Cic. div. in Caec. 1). Angesichts dieser Analogie ist auch die Vermutung von Landgraf 1914, S. 14, dass das Wort mirari in der Rosciana auf das genus admirabile der Rede hindeutet, nicht haltbar. Vielmehr muss es als Ausdruck einer vorhergehenden sozial-normativen Beurteilung angesehen werden, der Ankläger und Verteidiger gleichermaßen unterzogen wurden; zum genus admirabile vgl. Cic. inv. 1,21; Quint. inst. 4,1,41. Vgl. Dahrendorf 2010, S. 54-55. Demnach sind askribierte Positionen solche, die einer Person „völlig ohne sein Zutun“ von der Gesellschaft zuge-
dabei keineswegs willkürlich gewählt worden. Sie bilden das Grundrepertoire der kulturell geprägten Anwaltsrolle im spätrepublikanischen Prozess und zugleich diejenigen Konstanten, die in fast jeder Rede mehr oder weniger direkt thematisiert werden.5 Aus diesem Grund sollen sie auch der nachfolgenden Kapiteleinteilung als Inspiration dienen. In rollentheoretischer Hinsicht sind somit die Erwartungen, die an beide Redner geknüpft wurden, an gewisse Charakteristika gebunden, an Attribute, die derjenige, welcher sich die betreffende „Maske“ in der Gerichtsverhandlung aneignet, vorweisen muss. Dieser Erkenntnis gleichzeitig inhärent ist, dass die Akzeptanz des geeigneten Akteurs einer Konkurrenzsituation ausgesetzt war, die auch einen moralischen Wettbewerb um diese Stellung hervorrufen musste, über den letztendlich die Sanktionsinstanzen zu entscheiden hatten.
5
wiesen werden, erworbene Positionen lassen sich dagegen auf eine bewusste Handlung zwecks Erlangen dieser Stellung zurückführen. Ähnliche Gedanken finden sich bereits in Cic. off. 1,115, wenn er den zwei oben besprochenen Rollen des Menschen zwei weitere hinzufügt: eine selbst auferlegte und eine zugewiesene; vgl. Müller 2011, S. 113. Vgl. Cic. Balb. 1: Quae sunt igitur meae partes? Auctoritatis tantae quantam vos in me esse voluistis, usus mediocris, ingeni minime voluntati paris. Das Alter wird hier freilich nicht mehr erwähnt. Dyck 2010, S. 59 zeigt, dass die Trias für den Ankläger ebenso essenziell war; vgl. auch Cic. de or. 2,192: […] cum agitur non solum ingeni nostri existimatio, nam id esset levius; […] sed alia sunt maiora multo, fides, officium, diligentia, quibus rebus adducti, etiam cum alienissimos defendimus, tamen eos alienos, si ipsi viri boni volumus haberi, existimare non possumus. Die Bewertung des Redners erschöpft sich also nicht in der Einschätzung seiner rhetorischen Leistung, sondern betrifft vor allem die normativ geregelten Eigenschaften, die er durch sein gesamtes Auftreten an den Tag legt.
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1
Kriterien für die Rollenübernahme
1.1
Motive des Verteidigers
1.1.1 Entwicklung des republikanischen Gerichtspatronats Aetas, ingenium und auctoritas konkretisieren zwar die anwaltlichen Rollenbilder, darüber hinaus werden die drei fundamentalen Attribute aber auch zum Ausdruck einer Rollenkonsistenz, die den Gerichtsredner über seine gesellschaftliche persona definiert und mitunter bereits in der forensischen Terminologie enthalten ist. Besonders augenfällig ist dies im Falle der Tätigkeit des Fürsprechers, deren Wurzeln in den Traditionen der – nach Matthias GELZER – „Nah- und Treuverhältnisse“6 oder des – mit Christian MEIER – genuin römischen „Bindungswesens“7 liegen. Zumindest theoretisch tritt der Redner dabei in seiner Rolle als patronus auf, wodurch ein hinsichtlich moderner Gegebenheiten grundverschiedener Beziehungsrahmen zwischen dem „Klienten“ und seinem Anwalt aufgebaut wird.8 Dabei kann an dieser Stelle nicht ausführlich auf die Forschungsdebatte bezüglich der politischen und sozialen Dimension des Klientelwesens eingegangen werden, diesbezügliche Ergebnisse sollen jedoch in den relevanten Passagen herangezogen werden.9 Von Bedeutung ist vor allem die kulturelle Konzeptualisierung des 6 7 8
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Zum Begriff vgl. Gelzer 1912, S. 49-56. Vgl. dazu Meier 1997, S. 30-31. Zum patrocinium als juristische Fortführung des ursprünglichen Patronatsgedanken vgl. Kennedy 1972, S. 13; Crook 1995, S. 40; May 2002, S. 52; Rollinger 2014, S. 281. Im Wesentlichen geht es dabei um Ausmaß und Wesen des Patronatssystems sowie um die damit verbundene soziale und politische Relevanz der Klientel. In Auseinandersetzung mit den ubiquitären „Nah- und Treuverhältnissen“ GELZERs hat Peter BRUNT diesen jegliche politische Bedeutung für die Zeit der späten Republik abgesprochen (vgl. Brunt 1988c, S. 431 mit Anm. 2); vgl. zur Kritik an BRUNTs Dekonstruktion Ganter 2015a, S. 4445; Ganter 2015b, S. 79-80; allgemein zur Debatte über das Wesen des Patronats: Rollinger 2014, S. 17-24. Essenziell ist diesbezüglich auch die
patrocinium, die dazu geführt hat, dass der Terminologie eine überragende Rolle vor Gericht zugestanden wurde, und auf inhärente Eigenschaften der Patronatsidee schließen lässt, die für die juristische Auseinandersetzung unentbehrlich waren. In einem ersten Schritt soll deshalb die geschichtliche Entwicklung dieser Praxis betrachtet werden, um sie danach in den Kontext der ciceronischen Gerichtsrhetorik zu setzen. Insbesondere Jean-Michel DAVID hat in einer Reihe von Publikationen zur forensischen Ausprägung des Patronatsgedanken Stellung bezogen.10 Ein solches Unterfangen steht jedoch unweigerlich vor dem Problem, dass sich die genauen sozialen Gegebenheiten aus der Entstehungszeit des Systems unserer Kenntnis entziehen und somit auch der exakte Inhalt ursprünglicher Verpflichtungen unklar bleiben muss.11 Einige
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Frage, inwiefern die heuristischen Modelle der Soziologie und Anthropologie für die römischen Verhältnisse repräsentativ sind. Eine Übernahme dieser Kategorien befürwortet SALLER, Richard, Personal Patronage under the Early Empire, Cambridge u. a. 1982; vgl. dazu Ganter 2015b, S. 4; Rollinger 2014, S. 28-29; für eine soziologische Betrachtung des Patronatswesens vgl. auch EISENSTADT, Shmuel N. / RONIGER, Luis, Patrons, Clients and Friends. Interpersonal Relations and the Structure of Trust in Society, Cambridge u. a. 1984. Dagegen hat EILERS, Claude, Roman Patrons of Greek Cities, Oxford 2002 auf die Spezifika der römischen Vorstellungen aufmerksam gemacht. Dass die kulturübergreifenden Merkmale des Patronats die römischen Beziehungen nur teilweise erfassen, haben auch Jehne 2015, S. 298-299; Verboven 2011, S. 413; Ganter 2015b, S. 4 hervorgehoben; vgl. auch Rollinger 2014, S. 30; Marcone 2012, S. 35. So ist zum Beispiel das Verhältnis der Begriffe amicitia und clientela zueinander ein elementarer Schlüssel zum Verständnis jener Spezifika; s. dazu unten, S. 9194. Ausgangspunkt seiner Untersuchungen war die Feststellung, dass der Begriff zu Ciceros Zeiten auf lediglich zwei Aspekte beschränkt war: das Gerichtspatronat und das Patronat über eine auswärtige Klientel. Dies bildet auch den Leitgedanken in David 2009a; vgl. auch David 1992, S. 50. Brunt 1988c, S. 391 und Marcone 2012, S. 36-37 fügen das patrocinium über Freigelassene hinzu, das angesichts der terminologischen Divergenz (cliens/ libertus) eher einer gesonderten Betrachtung bedarf (vgl. Brunt 1988c, S. 408); s. auch Wallace-Hadrill 1989, S. 76. In David 1992, S. 55-56 wird die Problematik an einer Reihe strittiger Fragen exemplifiziert: „Les clients des premiers siècles de la République appartenaient-ils aux couches les plus pauvres de la ville? Étaient-ils des paysans?
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Aussagen darüber können aber trotzdem getroffen werden. Das Aufkommen des Gerichtspatronats ist höchstwahrscheinlich dem Umstand geschuldet, dass die ersten Klienten nicht das Recht hatten, in eigener Sache aufzutreten, so dass die Schutzpflicht des Patrons bereits früh auf die juristische Interessenvertretung ausgedehnt wurde.12 Der Zustand mangelnder Geschäftsfähigkeit hielt zwar nicht lange an, dennoch findet sich der ursprüngliche Grundgedanke auch später in dem Verbot wieder, gegen einen Patron oder Klienten auszusagen bzw. diesen anzuklagen.13 Eine erste bedeutsame Zäsur, die wir im Laufe der späteren Entwicklung festmachen können, fand gegen Ende des dritten Jahrhunderts statt. Sie tritt durch die Bestimmungen der lex Cincia zutage, die im Jahre 204 v. Chr. das Verbot aussprach, für die Anwaltstätigkeit finanzielle Zuwendungen entgegenzunehmen.14 Laut DAVID stellt dieser Moment den terminus ante quem für die Beseitigung der alten hereditären Prinzipien der Klientel dar, die es dem Angeklagten fortan ermöglichte, sich situativ einem Patron zu unterstellen.15 Unabhängig von dem genauen Zeit-
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Venaient-ils d’ailleurs? Étaient-ce eux qui constituaient la plèbe? Étaient-ils seulement citoyens? Autant de questions controversées et presque insolubles“; zu den Rekonstruktionsversuchen der frühen Klientel vgl. auch Meier 1997, S. 24-34; Brunt 1988c, S. 400-414; DRUMMOND, Andrew, Early Roman clientes, in: Wallace-Hadrill, Andrew (Hrsg.), Patronage in Ancient Society, London-New York 1989, S. 89-115. David 1997, S. 29-30; David 1992, S. 57-58; Neuhauser 1958, S. 35, 167168; Meier 1997, S. 27; Brunt 1988c, S. 405; Heinze 1960b, S. 73-74. Kennedy 1968, S. 428 zeigt, dass die Existenz des Patronatswesens erst die Fürsprache vor Gericht möglich gemacht hat, eine Praxis, die aus diesem Grund den griechischen poleis weitgehend fremd blieb; ähnlich auch Crook 1995, S. 31-32. Gelzer 1912, S. 52; David 1992, S. 58; Rollinger 2014, S. 25; WallaceHadrill 1989, S. 66. Allgemein zur lex Cincia: Elster 2003, S. 255-261; BALTRUSCH, Ernst, Regimen morum. Die Reglementierung des Privatlebens der Senatoren und Ritter in der römischen Republik und frühen Kaiserzeit, München 1988, hier: S. 63-69; vgl. auch Cic. Att. 1,20,7; zu den Implikationen des Gesetzes vgl. David 1992, S. 121-128; s. auch Neuhauser 1958, S. 40; Poiret 1886, S. 175-176; Gelzer 1912, S. 51. David 1997, S. 30, Anm. 5; Neuhauser 1958, S. 172 sieht dies gleichzeitig als terminus post quem für die Entstehung eines „Scheinpatronat[s] […], bei
punkt eines solchen Wandels, trachteten die Klienten spätestens ab dem Ende des dritten vorchristlichen Jahrhunderts danach, einen Fürsprecher zu finden, der durch seine rhetorische Überlegenheit die Sache auch am besten vertreten konnte. Die Verteidigung vor Gericht war nur noch selten einem natürlichen Schutzherren vorbehalten, den der Klient von seinen Ahnen geerbt hatte, vielmehr folgte die Wahl pragmatischen, von den jeweiligen Erfolgsaussichten diktierten Erwägungen. Es kam folglich zu einer gewissen Spezialisierung einzelner nobiles auf die rhetorische Praxis und zwangsläufig auch zu patronalen Iterationen. Zudem konnten die Anwälte, die sich durch ihre Redegabe am erfolgreichsten erwiesen hatten, auch eine größere Gefolgschaft um sich versammeln.16 Zur Zeit der späten Republik war jedenfalls das Moment der Freiwilligkeit im Eingehen der Patronatsbeziehung bereits zu einer akzeptierten Norm geworden. Folgerichtig prägt die dadurch erreichte Öffnung auch das Bild der spätrepublikanischen Gerichtsverhandlungen. Nicht selten kam es vor, dass der Anwalt überhaupt keine früheren Beziehungen zu seinem Klienten vorzuweisen hatte.17 Damit verbunden ist auch eine Diversifikation der Methoden, durch die das Verhältnis eingeleitet werden konnte. Die Initiative konnte gewissermaßen vom Patron selbst ausgehen, indem er sich auf dem Forum öffentlich präsentierte und sich somit für potenti-
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dem nur mehr die Form blieb, während die mit dem alten Patronat verbundenen ethischen Verpflichtungen wegfielen“. Eine solche Interpretation schießt aber über das Ziel hinaus, da selbst in der späten Republik nicht nur die rituellen Formen überdauert haben, sondern auch die moralischen Zwänge. Powell / Paterson 2004, S. 14 weisen zudem darauf hin, dass die lex Cincia ebenfalls impliziert, dass schon damals Patrone ihre Dienste angeboten haben und folglich die Zustände der späten Republik keine grundsätzliche Neuerung darstellen können. Dies ist ebenso Bestandteil von Angela GANTERs Kritik an den Thesen Peter BRUNTs. So stützt sich die Autorin vor allem auf die Beschreibungen des Plautus und Terenz’, um ein idealistisches Bild der Klientel in der mittleren Republik zu dekonstruieren (vgl. Ganter 2015b, S. 86-99; Ganter 2015a, S. 47-51), und schlussfolgert, „dass die Klassische Republik keineswegs als eine Zeit anzusehen ist, in der die Gesellschaft ciceronischen oder dionysianischen Idealvorstellungen entsprach […]“ (Ganter 2015b, S. 101). David 1992, S. 61. Vgl. Brunt 1988b, S. 374; Powell / Paterson 2004, S. 14.
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elle Klienten erreichbar machte – eine Praxis, die bereits für die Zeit der lex Cincia nachgewiesen werden kann.18 Außerdem stand es ihm offen, auf direkte Art und Weise die Verteidigung anzubieten.19 Freilich war es auch weiterhin üblich, dass sich der Angeklagte selbst in die fides des gewünschten Patrons begibt. All dies geschah jedoch nicht nur im terminologischen Rahmen der Patronatsbeziehung, sondern auch indem die traditionellen (und vor allem rituellen) Formen und Verpflichtungen beider Parteien beibehalten wurden.20 Zudem gelangte man immer häufiger zu arrivierten patroni dadurch, dass man von angesehenen Männern dem erwünschten Fürsprecher empfohlen wurde. Die Praxis der Empfehlungen erreichte in der späten Republik ihren Höhepunkt und brachte ein Netzwerk an gegenseitigen Verpflichtungen zustande, die den Einzelnen in der moralischen Schuld aller, die sich in unterschiedlichster Weise für ihn eingesetzt hatten, stehen ließ.21 Zugleich führte das Ausufern dieser Praxis gemäß DAVID zu
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Plaut. Men. 571-587; vgl. dazu auch Ganter 2015b, S. 87-92; WallaceHadrill 1989, S. 64. Cic. ad Q. fr. 2,3,5 belegt z. B. Ciceros Angebot, Sestius zu verteidigen. Vgl. Kennedy 1972, S. 13-14; Burnand 2004, S. 278; David 1992, S. 67; vgl. auch Meier 1997, S. 26, der eine Konstante im Übergang von der von ihm postulierten ersten zur zweiten Phase des Bindungswesens darin sieht, dass die rituellen Formen unangetastet blieben. Pöschl 1980, S. 6 weist anhand der formellen Zwänge, die in Rom die Vertragsabschlüsse begleiteten, auf den quasi-religiösen Aspekt der mit dem fides-Gedanken verbundenen Rituale hin; für einen Überblick über die verschiedenen Möglichkeiten, in der späten Republik die Patronatsbeziehung einzugehen, vgl. Powell / Paterson 2004, S. 20. David 2009a, S. 77; vgl. auch Gelzer 1912, S. 54-56. Meier 1997, S. 17 macht auf ähnliche Entwicklungen im politischen Leben aufmerksam, die „das bunteste Geflecht von Bindungen entstehen ließen“; vgl. ebd., S. 17-18; s. zudem Cic. Att. 1,10. Atticus’ Onkel, Q. Caecilius, hatte Cicero gebeten, ihn im Prozess gegen Satyrus zu vertreten. In dem Brief entschuldigt sich Cicero bei Atticus für seine Ablehnung und begründet dies mit den Diensten, die Satyrus beiden Cicerones während ihrer Wahlbewerbungen geleistet hatte. Das komplexe Netzwerk an Freundschafts- und Verwandtschaftsverhältnissen ist hier offenkundig und musste zwangsläufig zu einer Vielzahl von gesellschaftlichen Konfliktsituationen führen; vgl. auch David 2009b, S.
einer zweiten Zäsur, die mitten in die hier untersuchte Zeitspanne fällt. Das Gerichtspatronat soll in den letzten Jahrzehnten der Republik zu einem Instrument der Mächtigen geworden sein, die durch ihre überlegene auctoritas einen derart großen Einfluss auf die renommiertesten Anwälte ausübten, dass sie ihnen Mandate aufzwingen konnten, die sonst mit den Prinzipien der fides nur schwer in Einklang zu bringen waren.22 Diese Entwicklung lässt sich an der Biographie Ciceros veranschaulichen. War er bis zu seinem Exil noch relativ frei in der Wahl seiner Klienten, wurde der Redner ab dem Ersten Triumvirat immer öfter vor Situationen gestellt, in denen er sich den „Bitten“ des Pompeius und Caesars nicht verschließen konnte und folgerichtig ein Höchstmaß an Inkonsequenz bezüglich seiner forensischen Aktivitäten vorweisen musste.23 DAVID stellt pointiert fest, dass das Patronatssystem durch diese Entwicklung zu einem beträchtlichen Teil ausgehebelt wurde, und zwar durch Personen, die sich selbst gar nicht am rhetorischen Wettbewerb beteiligten und somit im eigentlichen Sinne außerhalb des Systems positioniert waren.24 Dass die spätrepublikanischen Realitäten somit den idealistischen Patronatskonzeptionen, die Dionysios von Halikarnassos für die römische Frühzeit postuliert hat, nicht gerecht werden, steht außer Frage.25
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514-515; allgemein zu den Empfehlungsbriefen: DENIAUX, Élizabeth, Clientèles et pouvoir à l'époque de Cicéron, Rom 1993. David 2009a, S. 74. Ebd., S. 78, 80. Dieser Umstand wird oft von Cicero selbst beklagt; vgl. z. B. fam. 7,1,4: Nam cum me antea taedebat, cum et aetas et ambitio me hortabatur et licebat denique, quem nolebam, non defendere, tum vero hoc tempore vita nullast. Neque enim fructum ullum laboris exspecto et cogor non numquam homines non optime de me meritos rogatu eorum, qui bene meriti sunt, defendere. M. Iuventius Laterensis, der Ankläger des Plancius, hat scheinbar ebenfalls darauf angespielt, und Cicero gibt sich offenkundig Mühe, den Vorwurf der eigenen „Unfreiheit“ zu entkräften (vgl. Planc. 9194). David 2009a, S. 74: „Le résultat était alors qu’eux-mêmes se trouvaient placés hors du système des relations de patronat. Non pas qu’ils en fussent exclus, mais simplement, parce qu’ils le dominaient et se plaçaient audessus“. Dion. Hal. ant. 2,9-10; für eine detaillierte Analyse der Stelle vgl. Ganter 2015b, S. 75-81.
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Das selbstreferentielle Vokabular der Redner lässt zudem eine bedeutende Verschiebung der kulturellen Semantik erkennen, wenn – zumindest vor Gericht – die klientelare Terminologie verbannt und durch den Begriff der amicitia ersetzt wird.26 Es ist unter anderem Peter BRUNT und David KONSTAN zu verdanken, dass diese Neukonzeptualisierung heutzutage nicht mehr mit einem Hinweis auf die Subsumierung unter allmächtige „Nah- und Treuverhältnisse“ übergangen wird.27 Die beiden Forscher haben auf die Unterschiedlichkeit von clientela und amicitia sowie vor allem auf die emotionale Konnotation Letzterer aufmerksam gemacht. Der Sichtweise einer rein utilitaristischen römischen Freundschaft setzten sie die Vorstellung einer primär gefühlsbetonten Beziehung entgegen,28 die jedoch nicht dazu führen darf, dass Nützlichkeitserwägungen vollkommen ausgeschlossen werden.29 Gewisse Über26 27
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Vgl. z. B. Cic. Tull. 5: […] nunc M. Tullio fidelem certumque amicum esse cognoscat; s. auch Cic. Sull. 26. Für die Auseinandersetzung mit der älteren Forschung vgl. Brunt 1988b, S. 351-352; Konstan 1997, S. 2-3, 123-124; vgl. auch ebd., S. 174-176; Verboven 2011, S. 406-407. Vgl. Brunt 1988b, S. 354-355, 360; Konstan 1995, S. 331; Konstan 1997, S. 5. Vgl. ebd., S. 11-14. Brunt 1988b, S. 353 zeigt, dass die politische Zusammenarbeit nur eine Folge, nicht die Ursache von amicitiae war; vgl. auch ebd. S. 356-357. In seiner Auseinandersetzung mit KONSTAN merkt Christian ROLLINGER an, dass dieser „den emotionalen Charakter bis zum vollkommenen Ausschluss jedes soziopolitischen Kontextes und aller pragmatischen Überlegungen betont“ (Rollinger 2014, S. 72), und weist zu Recht darauf hin, dass „es in der deutschen – oder anderen modernen Sprachen – kein genaues Äquivalent der lateinisch-römischen amicitia [gibt]“ (ebd., S. 73). Zwar rückt KONSTAN tatsächlich das lateinische Wort näher an das moderne Gedankengut als es frühere Forscher getan haben (vgl. Konstan 1997, S. 5: „[…] I am claiming for it [scil.: Greek and Roman friendship] a relative autonomy comparable [eigene Hervorhebung] to the status it presumably enjoys in modern life“), der Verdacht des Anachronismus drängt sich bei seiner Vorgehensweise jedoch nicht auf; vgl. ebd., S. 7: „The several inclusions and exclusions that operate among these categories vary not only between cultures but in the course of classical antiquity itself, and thereby articulate different moments in the history of friendship“; auf die Probleme bei der Übersetzung antiker Gefühlsbegriffe hat der Autor selbst anderenorts aufmerksam gemacht (s. unten, S. 271-272, Anm. 92 und 93).
schneidungen der Termini sind unverkennbar, zumal weder der emotionale Aspekt in einer Klientelbeziehung noch der pragmatische Faktor in der Freundschaft vollständig fehlt.30 Von einer Synonymie darf dennoch nicht ausgegangen werden. Der egalitäre Gedanke, der dem Konzept der amicitia zugrunde liegt, hatte vor allem auf kommunikativer Ebene weitreichende Konsequenzen, und diente dazu, eventuelle Statusunterschiede durch eine „joviale“ Geste in den Hintergrund zu rücken.31 Den Angeklagten als amicus zu bezeichnen weist diesen für die Hörer auch als solchen aus,32 eine Tatsache, die im Hinblick auf das spätrepublika-
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Vgl. Ganter 2015b, S. 10-11; Ganter 2015a, S. 46, Anm. 13; vgl. ferner Konstan 1995, S. 329; Jehne 2015, S. 303; Verboven 2011, S. 413. Vgl. Jehne 2015, S. 299-300; Verboven 2011, S. 413; Konstan 1995, S. 340; Ganter 2015b, S. 4, 9; Ganter 2015a, S. 46; Rollinger 2014, S. 35; Lundgreen 2013, S. 36; zu Martin JEHNEs Konzept der „Jovialität“ s. unten, S. 209-210. Eine solche stellt auch für Cicero die Grundlage der Freundschaft dar: Sed maximum est in amicitia parem esse inferiori (Lael. 69); zum egalitären Grundgedanken der amicitia vgl. Ganter 2015b, S. 114-115; Rollinger 2014, S. 44. Ebd., S. 39 weist der Autor aber auch darauf hin, „dass ein überraschend großer Grad an Statusdifferenz toleriert, beziehungsweise überbrückt werden konnte“. Jehne 2015, S. 300 rückt auch die Dialektik zwischen dem notwendigen Gutheißen eines „Patronatssystems“ und der nicht zwangsläufigen Akzeptanz einer „Patronatsbeziehung“ in den Vordergrund; vgl. dazu JOHNSON, Terry / DANDEKER, Christopher, Patronage: relation and system, in: Wallace-Hadrill, Andrew (Hrsg.), Patronage in Ancient Society, London-New York 1989, S. 219-242; s. auch Verboven 2011, S. 412-413. So empfand man die Bezeichnung cliens im spätrepublikanischen Rom als beschämend; vgl. Cic. off. 2,69: patrocinio vero se usos aut clientes appellari mortis instar putant. Vgl. WILLIAMS, Craig, Friends of the Roman People. Some Remarks on the Language of amicitia, in: Coșkun, Altay (Hrsg.), Freundschaft und Gefolgschaft in den auswärtigen Beziehungen der Römer (2. Jahrhundert v. Chr. – 1. Jahrhundert n. Chr.), Frankfurt/Main 2008, S. 29-44, hier: S. 40: „publicly identifying someone as an amicus made it so in a socially effective way, regardless of the actual dynamics of the relationship“; vgl. auch Konstan 1997, S. 137.
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nische Gerichtspatronat oft zu einer faktischen Dichotomie von Freundschaft und Klientel führt.33 Ein kurzer Abriss der Eckpunkte des Gerichtspatronats verdeutlicht also das Problem, das seine Bewertung in der hier untersuchten Epoche aufwirft. Gehörten die theoretisch postulierten Kriterien zu den realen Erwartungen der Zuhörer oder hat die prinzipielle Offenheit auch zu einem lockeren Umgang mit den normativen Prinzipien der Rollenübernahme geführt, der das patrocinium zu einer bloßen archaischen Floskel degradierte? Ist Ersteres der Fall, muss danach gefragt werden, wieso die Terminologie angesichts einer augenscheinlichen Fiktion nicht nur aufrechterhalten, sondern ausgerechnet in diesem besonderen Bereich der römischen Gesellschaftsordnung konkretisiert wurde – ein Umstand, den bereits Matthias GELZER angesprochen hat: „Der Prozeßbeistand ist seit jeher eine Patronatspflicht gewesen, und an ihm blieb nach Absterben der Schutzherrnrechte der Name patronus haften.“34 Die Konvergenz von clientela und amicitia kann sich dabei insofern als hilfreich erweisen, als sie zugleich auf diejenigen Gemeinsamkeiten der Konzepte hindeutet, die es möglich gemacht haben, die Grundlage der Patronatstätigkeit zu erweitern oder sogar zu bekräftigen, ohne dabei ihren ursprünglichen „Sinn“ zu verändern. 1.1.2 Die Begründung des Gerichtspatronats Der erste Hinweis, dem in der Textanalyse nachgegangen werden muss, betrifft die nicht unerhebliche Frage, ob ein Patron, in Ermangelung eines Parallelverfahrens zur divinatio, die Gründe und die Berechtigung seiner Fallübernahme thematisieren durfte oder gar musste. Zu diesem 33
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So entsprechen Ciceros Klienten in manchen Fällen den sozialen Anforderungen einer „echten“ amicitia, in anderen wiederum scheint es sich realiter um clientes gehandelt zu haben; vgl. Rollinger 2014, S. 51. Gelzer 1912, S. 51; vgl. auch Jehne 2015, S. 302; Ganter 2015b, S. 131. Meier 1997, S. 42, 45 vermutet einen Zusammenhang zwischen der römischen Expansion sowie der Übertragung des Konzepts auf auswärtige Klientelbeziehungen und einer Verfestigung der inneren Verhältnisse. Für das Gerichtspatronat müssen die Ursachen freilich in denjenigen Sinnmustern gesucht werden, die für die quaestiones typisch waren.
Zweck soll zunächst auf eine Rede zurückgegriffen werden, die außerhalb des aufgestellten Corpus liegt, aufgrund ihrer Aussagekraft jedoch nicht vernachlässigt werden darf. In seinem Konsulatsjahr hat Cicero den des Hochverrats angeklagten C. Rabirius verteidigt. Die nicht vollständig erhaltene oratio vor dem Volk beginnt mit einer expliziten Stellungnahme des Anwalts zu den Motiven, die ihn bewogen haben, als Rechtsbeistand aufzutreten. Allerdings schickt der Redner dieser Einleitung einen Hinweis voraus: Es ist eigentlich nicht meine Gewohnheit, Quiriten, am Anfang einer Rede zu begründen, weshalb ich jemanden verteidige.35
Obwohl sich dieses Argument nicht an das gewohnte Auditorium einer quaestio richtet, spricht die allgemeine Gültigkeit, die Cicero für sein Vorgehen in Anspruch nimmt, für eine Ausnahmestellung der Taktik. Eine solche lässt sich auch an einigen der hier untersuchten Reden ablesen. Mit P. Sulla verteidigt er ein Jahr später einen Mann, den man wegen seiner vermeintlichen Teilnahme an der Catilinarischen Verschwörung angeklagt hatte.36 Die Bereitschaft des ehemaligen Konsuls, ausgerechnet in diesem Fall die Fürsprache zu übernehmen, musste die Zuhörer befremden, so dass sich der Ankläger diesen Vorwurf freilich nicht nehmen ließ. Wie schon in der Rede für Rabirius äußert Cicero zunächst den Unwillen, über die Motive seiner Verteidigung zu sprechen, allerdings hätte ihm Torquatus durch den Angriff auf die Moralität dieser Entscheidung keine andere Wahl gelassen. So würde er schweigen, wenn diese Attacke einzig und allein seiner Person gegolten hätte, da sie jedoch die Verteidigungsrede im Ganzen diskreditiere, müsse sich der Anwalt auch um eine Entkräftung bemühen: Ich würde nicht gerade jetzt so vorgehen, ihr Richter, wenn es sich nur um mich handelte; […] Doch Torquatus hat begriffen, dass er den Angeklagten in gleichem Maße um seinen Schutz bringen kann, in dem es ihm gelingt, mein Ansehen (auctoritas) zu beschneiden; entsprechend 35 36
Cic. Rab. perd. 1: Etsi, Quirites, non est meae consuetudinis initio dicendi rationem reddere qua de causa quemque defendam […] Zu den Umständen des Prozesses vgl. Berry 1996, S. 14-42; zur Frage nach der Schuld Sullas: ebd., S. 33-39.
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glaube ich, dass ich, wenn ich euch die Angemessenheit meines Verhaltens und die feste Grundlage dieses Verteidigeramts zu zeigen vermag, auch die Sache des P. Sulla erfolgreich verfechten werde.37
Bereits vier Jahre zuvor sah sich der orator vor ein ähnliches Problem gestellt, das ihm ebenfalls eine Wiederherstellung seiner auctoritas abverlangte. Im Laufe des Prozesses gegen A. Cluentius Habitus ist Cicero erwartungsgemäß mit den Aussagen konfrontiert worden, die er in den (gehaltenen oder nur publizierten) Verres-Reden gegen seinen jetzigen Klienten getätigt hatte.38 Der in der Forschung oft als Beleg für eine vermeintliche Professionalisierung des Patronats zitierte Exkurs zur Anwaltsethik, auf den später eingegangen werden soll, ist nur eine der Methoden, durch die der Redner seine Fürsprache legitimiert. Die Notwendigkeit der digressio begründet Cicero aber ebenfalls mit einer Provokation der Gegenseite und der damit verbundenen Infragestellung seiner Glaubwürdigkeit: Es ist noch eine gewichtige Stimme (auctoritas) übrig, die ich – o Schande! – beinahe übergangen hätte; denn es handelt sich, heißt es, um meine eigene. Attius las aus irgendeiner Rede vor, die, wie er sagte, von mir stamme.39
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Cic. Sull. 2: Quo quidem genere non uterer orationis, iudices, hoc tempore, si mea solum interesset; […] sed, ut ille vidit, quantum de mea auctoritate deripuisset, tantum se de huius praesidiis deminuturum, sic hoc ego sentio, si mei facti rationem vobis constantiamque huius offici ac defensionis probaro, causam quoque me P. Sullae probaturum. Vgl. Cic. Verr. 1,29; 1,38-39; 2,1,157-158; 2,2,79. Das ominöse iudicium Iunianum und die wohl zu Recht gegen Cluentius erhobenen Vorwürfe der Richterbestechung, die diese Verhandlung nach sich zog, waren mit ein Grund für die Beseitigung der ausschließlich mit Senatoren besetzten Richterbänke durch die lex Aurelia des Jahres 70 v. Chr. Als topos und negatives exemplum instrumentalisiert Cicero diesen Prozess nicht nur in den Verrinen, sondern auch in seiner Rede für A. Caecina (vgl. Caec. 28-29). Dies spricht für die hohe gesellschaftliche Relevanz des Gerüchts und für das Ausmaß der daraus entstandenen Missgunst. Cic. Cluent. 138: Est etiam reliqua permagna auctoritas, quam ego turpiter paene preterii; mea enim esse dicitur. Recitavit ex oratione nescio qua Accius, quam meam esse dicebat.
Dieses Erklärungsmuster kann auch in den anderen Reden, in denen sich Cicero ausführlich mit den Erwägungen seines Patronats beschäftigt, beobachtet werden. So führt er diesbezügliche Bemerkungen in der Verteidigung des Murena auf einen vorausgegangenen Angriff Catos zurück,40 in der Rede für Plancius legitimiert er seine Apologie damit, dass die Ankläger ihm vorgeworfen hätten, er würde die Freundschaftsdienste seines Klienten bewusst überbewerten.41 Ziehen wir ein Zwischenfazit, so wird ersichtlich, dass die Stellungnahmen des Redners zur Aufrichtigkeit seines Auftretens vor Gericht immer von einem gewissen Zwang abhängig gemacht werden und somit von einer ausgesprochenen Defensivhaltung geprägt sind. Cicero leitet die Begründung seiner Fürsprache fast ausnahmslos durch eine Rechtfertigung ein, indem er behauptet, die Taktik seines Prozessgegners würde ihn zu einer solchen Erklärung nötigen.42 Deviante Gründe für die Übernahme des Falles gehen auf Kosten der auctoritas, die, wie wir später sehen werden, die Glaubwürdigkeit schlechthin darstellt. Sie unterminieren daher implizit die Zuverlässigkeit sämtlicher Ausführungen. Wenn man jedoch die eingangs zitierte Stelle aus der Rosciana zum Vergleich heranzieht, erweist sich diese zunächst als Ausnahme von der oben festgestellten Regel. Der Ankläger, Erucius, soll bis zum Schluss nicht gewusst haben, wer die Verteidigung des Sex. Roscius übernimmt,43 so dass man die Begründung des patronalen Auftretens auch nicht als Entgegnung auf dessen Anklagerede interpretieren kann. Tatsächlich ist diese Passage aber hilfreich, um den roten Faden der ciceronischen Argumentation nachzuvollziehen. Wie zuvor gezeigt, schließt er 40
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Vgl. Cic. Mur. 3: Negat fuisse rectum Cato me et consulem et legis ambitus latorem et tam severe gesto consulatu causam L. Murenae attingere; s. auch Cic. Mur. 2; vgl. Adamietz 1989, S. 89-90; Fantham 2013, S. 88. Berry 1996, S. 132 weist ebenfalls darauf hin, dass Murena unter der lex Tullia de ambitu angeklagt wurde, ein Umstand, durch den sich Cicero noch stärker exponierte; vgl. auch ebd., S. 39; Fantham 2013, S. 89. Cic. Planc. 4: Quae vero ita sunt agitata ab illis ut aut merita Cn. Planci erga me minora esse dicerent quam a me ipso praedicarentur, aut, si essent summa, negarent ea tamen ita magni ut ego putarem ponderis apud vos esse debere. Vgl. Allen 1954, S. 126. Cic. S. Rosc. 59.
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an das Eingeständnis, seine Wortergreifung würde für Verwunderung sorgen, auch die Gründe an, die diese hervorrufen: sein Alter, mangelnde Redegabe und fehlende auctoritas. Mussten in den späteren Reden die Ankläger erst auf potentielle Devianzen aufmerksam machen, so war Cicero als 26-jähriger Ritter augenscheinlich nicht als Patron des Roscius geeignet. Sämtliche Stellen laufen also auf den impliziten Verlust eines oder mehrerer Attribute hinaus, die zu den unerlässlichen Kriterien des patrocinium gehören. Die Erklärungen, die ein Redner bezüglich seiner Anwaltstätigkeit abgibt, sind in der Forschung meist als legitime Mittel betrachtet worden, die ohne Weiteres im exordium Anwendung finden können.44 Die Apologien, die diesen vorangestellt werden, gehen jedoch immer mit einer gewissen Übertretung sozial-normativer Vorstellungen einher.45 Dies spricht gegen die Annahme, es handele sich um eine beliebig anwendbare Taktik, und vielmehr für deutlich formulierte Erwartungen der Zuhörer diesbezüglich. Relevanz gewinnen die Apologien dadurch, dass 44
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Buchheit 1975, S. 194; Thierfelder 1965, S. 387: „Es gab aber ohne Zweifel mindestens eine [Hervorhebung im Original] Gelegenheit, bei der der Anwalt üblicherweise von sich selbst sprach: er pflegte am Anfang seiner Rede die Motive zu erörtern, aus denen er den Fall übernommen hatte“; vgl. auch Stroh 1975, S. 22, Anm. 65. Durch einen Vergleich mit der im De oratore besprochenen Rede des Antonius für C. Norbanus schlussfolgert er, „daß es nichts speziell Ciceronisches ist, wenn er sich am Beginn einer Prozeßrede über die Gründe äußert, die ihn zur Übernahme des Mandats bewogen haben“. Dieser Einschätzung kann man sich anschließen, jedoch mit der Einschränkung, dass dadurch keine vollkommene Legitimität der Taktik postuliert werden darf. So weist Cerutti 1996, S. 57 zu Recht darauf hin, dass die Taktik zwar häufig anzutreffen ist, jedoch immer in Verbindung mit problematischen Fallübernahmen. Loutsch 1994, S. 253 vertritt ebenfalls die These, dass eine Rechtfertigung des Patronats immer dann notwendig wurde, wenn dieses nicht selbsterklärend war. Vgl. auch Cic. dom. 93: Et quoniam hoc reprehendis, quod solere me dicas de me ipso gloriosius praedicare, quis umquam audivit cum ego de me nisi coactus ac necessario dicerem? Nach seinem Konsulat setzte sich Cicero des Öfteren dem Vorwurf einer übertriebenen Selbstglorifizierung aus; vgl. Plut. Cic. 24, Cass. Dio 37,38,2. Von Bedeutung ist hier, dass der Redner sich auf normative Konfliktsituationen beruft, in denen es durchaus legitim war, auf die eigenen Verdienste zu beharren.
sie zugleich die Punkte behandeln, die den Redner zu dieser Devianz nötigen. Aus den besprochenen Stellen ergeben sich hauptsächlich zwei Umstände, die den Anwalt veranlassen konnten – ja sogar zwingen mussten –, die Rollenübernahme zu rechtfertigen. Einerseits war es geboten, dies zu tun, wenn das Patronat nicht mit der bisherigen Lebensführung oder mit vorherigen Aussagen in Einklang gebracht werden konnte bzw. wenn die gesellschaftliche persona des Anwalts in Konflikt mit der Patronatsrolle geriet. In diesen Fällen war es die mangelnde constantia, die einen Redner die Glaubwürdigkeit kostete.46 Andererseits führte auch das inhärente Fehlen geforderter Attribute zu einer Rechtfertigungspflicht, die nicht unmittelbar auf die Ausführungen der Anklagerede zurückgeführt werden muss. Betrachten wir diese Schlussfolgerungen aus der Perspektive soziologischer Theorien, sind die Implikationen des Konfliktes bezeichnend. Die „Schweigepflicht“ gerät mit solchen Situationen in Widerstreit, die dem Redner die ethische Eignung für die Prozessführung überhaupt absprechen. In solchen Fällen war es nicht nur legitim, sondern es wurde wahrscheinlich sogar vom Redner erwartet, dass er die gravierendere Devianz entkräftet, wenn auch auf Kosten einer leichteren moralischen Verfehlung. Die Rechtfertigung des Patronats gewann freilich erst dann die gesellschaftliche Akzeptanz, wenn betreffende Konfliktsituationen heraufbeschworen wurden. Unter diesen Umständen war sie aber umso wichtiger, da anderenfalls die Vertrauenswürdigkeit des orator bereits durch die Rollenübernahme verlorenzugehen drohte. Die DAHRENDORFsche Trias von Kann-, Soll- und Muss-Erwartungen erweist sich in diesem Zusammenhang als zu eindimensional. Die einleitenden Apologien zeigen, dass hier zwei Soll-Erwartungen kollidierten, allerdings weist der Primat der Vorgabe, einer gesellschaftlich festgelegten Vorstellung vom Anwalt zu entsprechen, diese Norm als besonders schützenswert aus. So zeugen sämtliche Beweggründe, die Cicero anführt, von einem präzise umrissenen Rollenbild, das bereits vorab glaubwürdig wirkt und vor allem für die Hörer auf Anhieb erkennbar sein muss. Dieses Bild und die dazugehörigen Attribute, die wir in den nächsten Kapiteln einer näheren Betrachtung unterziehen werden, entwickeln sich 46
Ronning 2003, S. 243-244 weist auf die schwerwiegenden Folgen hin, die ein glaubwürdig vertretener Vorwurf der Rolleninkonsistenz für die auctoritas haben konnte.
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somit zu einer apodiktischen Forderung, die eine Suche nach dem dahinter liegenden gesellschaftlichen Sinn legitimiert. 1.1.3 Motive im untersuchten Redecorpus Dafür sollen zunächst die Motive in den Blick genommen werden, die sich für die Mandate Ciceros in den hier untersuchten Reden ergeben, und die zugleich ein Abbild der geschichtlichen Entwicklung des patrocinium darstellen. Zusätzlich zur Verteidigung von Klienten, denen man durch einen langjährigen Umgang miteinander auch tatsächlich Dienste schuldete, tritt das immer komplexer werdende Netz sozialer Bindungen deutlich zutage.47 In lediglich drei der sechs Fälle, denen wir uns gewidmet haben, kann sich Cicero auf eine bereits bestehende gesellschaftliche Bindung zu seinem Klienten berufen. Die öffentliche und insbesondere politische Komponente der Beziehungen hat jedoch zweifellos dazu geführt, dass diese den Zuhörern bereits vorab bekannt waren. So kann der Redner in der Sestiana nicht nur auf das Freundschaftsverhältnis, das er zu dem Angeklagten unterhielt, zurückgreifen, sondern auch auf seine Pflicht, demjenigen zur Seite zu stehen, der sich wiederholte Male selbst für Cicero eingesetzt hatte: […] man soll nicht denken, meine Verteidigung habe gerade dem gefehlt, der bewirkt hat, dass sie auch den anderen Bürgern nicht fehle.48
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Burnand 2004, S. 288 sieht eine Koexistenz zweier Arten der Anwaltstätigkeit. Zusätzlich zur bereits etablierten patronalen Funktion soll in der späten Republik eine „quasi-professionelle“ Anwaltskonzeption eingesetzt haben. Ebd., S. 279 ist diese Annahme für ihn auch unproblematisch, da „this fluid approach toward the advocate’s role seems to stem from the very fact that there was no generally agreed consensus upon its precise nature“. Dieser These ist vor allem angesichts der Erkenntnisse des letzten Kapitels zu widersprechen. Für eine starke soziale Normierung des Patronats hat sich auch David 1992, S. 67 ausgesprochen. Cic. Sest. 3: […] ne mea propugnatio ei potissimum defuisse videatur per quem est perfectum ne ceteris civibus deesset.
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Anschließend wird der persönliche Aspekt seiner Wortergreifung noch deutlicher hervorgehoben: Und ich meine, ihr Richter, dass es für mich in dieser Sache […] mehr auf meine Dankbarkeit als auf meinen Beistand, mehr auf meinen Unmut und Schmerz als auf meine Wortgewandtheit und Vortragskunst ankommt.49
Die enge politische Zusammenarbeit zwischen Cicero und Sestius bildet ein Hauptmotiv dieser Rede, die ja in höchstem Maße von den Idealen der boni getragen wird. Anfang und Ende der oratio stehen im Zeichen eines bedrängten Staatswesens, das von Sestius sowohl durch sein Verhalten während der Verschwörung Catilinas50 als auch durch seinen Einsatz für die Rückberufung Ciceros beschützt wurde.51 Ähnliches trifft auf die Rede für Milo zu. Dessen Vorgeschichte hatte zahlreiche Parallelen zu der des Sestius vorzuweisen – vor allem im Hinblick auf die politischen Allianzen, die beide Angeklagten mit Cicero geschlossen hatten.52 Hinzu treten aber die konkreten Umstände des Falles. Die gemeinsame Feindschaft des Redners und des Angeklagten zu dem ermordeten Clodius bietet dem orator die Möglichkeit, besonders ausführlich auf ihre Einhelligkeit in der Beurteilung des Opfers einzugehen. Auch hier wird Milo zum Staatsretter, so wie Sestius stand er zusammen mit Cicero auf der gleichen Seite der politischen Barrikade.53 Der gemeinsame Kampf für die res publica geht in beiden Reden 49
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Cic. Sest. 3: Atque ego sic statuo, iudices, a me in hac causa […] pietatis potius quam defensionis, querelae quam eloquentiae, doloris quam ingeni partis esse susceptas. Cic. Sest. 6-13. Cic. Sest. 31, 71, 144-147; zu den politischen Hintergründen vgl. auch Kaster 2006, S. 1-14. Des Öfteren wird Milo in der Sestiana lobend erwähnt; vgl. Cic. Sest. 86-87, 89, 92, 95; für die Erwähnung des Sestius in der Miloniana vgl. Cic. Mil. 38. Vgl. Cic. Mil. 37-38. Indem Clodius als „Nachfolger“ des Catilina präsentiert wird, von dem er den metaphorischen Dolch überreicht bekam (Mil. 37; vgl. Fotheringham 2013, S. 242), wird ebenso eine Parallele zwischen Milo und Cicero als Konsul hergestellt, die die Verbundenheit beider noch stärker betonen soll; für die Beziehung Ciceros zu Milo vgl. LINTOTT, Andrew W., Cicero and Milo, JRS 64, 1974, S. 62-78.
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mit einer tiefen Freundschaft einher, ohne die laut römischem Verständnis eine solche Standhaftigkeit gar nicht möglich gewesen wäre.54 Die politische Komponente ist für die Verteidigertätigkeit freilich kein ausschlaggebendes Moment. Die amicitia jedoch, die in diesen Fällen impliziert wird, fordert von Cicero die Wahrnehmung der fides-Pflicht vor Gericht. In Anbetracht einer solchen Verschmelzung der öffentlichen Schicksale bedarf sein Eintreten für den Angeklagten keiner weiteren Erklärung und lässt sich ausschließlich auf die gesellschaftlichen Verpflichtungen zurückführen, die im Wesen des patrocinium enthalten sind.55 Im Jahr des Sestius-Prozesses hat Cicero auch die Fürsprache für einen anderen langjährigen Schützling und Mitstreiter übernommen. Seine Beziehung zu M. Caelius ließ sich zwar weniger auf gemeinsame politische Aktivitäten zurückführen, sie fand jedoch auf dem Gebiet statt, auf dem sich Cicero wie kein Zweiter ausgezeichnet hatte. Bereits in jungen Jahren wurde Caelius seiner Obhut überantwortet und er verbrachte die gesamte Zeit des tirocinium fori im Gefolge Ciceros und des M. Crassus.56 So passt der Redner die Darstellung auch an die Vorzüge seines Klienten an. Nicht der Staatsmann, wie in den Fällen von Sestius und Milo, sondern der Redner Caelius steht im Mittelpunkt der Charakterdarstellung, jedoch immer mit Blick auf die gemeinsame Vergangenheit und auf die daraus schöpfende Gewissheit Ciceros, Caelius würde ein wertvolles Mitglied der Gesellschaft darstellen.57 54
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Vgl. Brunt 1988b, S. 356. Das Teilen von Freud und Leid ist für Cicero ein Charakteristikum der Freundschaft; vgl. Lael. 22: Nam et secundas res splendidiores facit amicitia et adversas partiens communicansque leviores. Gell 13,3 sieht necessitas und necessitudo als Begriffe, die auch eine moralische Verpflichtung beinhalten. Somit wird nicht nur der necessarius zu einer Person, der man verpflichtet ist, sondern auch die necessitas zu einer primär gesellschaftlichen Notwendigkeit. Einsätze für Cicero im Konsulatsjahr oder während des Exils werden ebenfalls erwähnt in Cic. Flacc. 1 und Cic. Balb. 58-59. Cic. Cael. 9; vgl. dazu Austin 1960, S. 144-145; Madsen 1981, S. 32-33. Die Ausbildung durch das tirocinium fori ließ einen jungen Redner zum ständigen Begleiter seines rhetorischen Vorbildes werden; s. dazu Tac. dial. 34,1-7; Cic. Brut. 306-307; vgl. auch Schottlaender 1967, S. 125-126; Pina Polo 1996, S. 87. Cic. Cael. 44, 47, 77.
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Die andere Hälfte des Redecorpus setzt sich dagegen aus Prozessen zusammen, in denen jeweils fallbezogen patrocinia zum Zwecke der Verteidigung in der betreffenden causa eingegangen wurden. Folgerichtig kann der Redner hier nicht mehr auf eine gemeinsame Vorgeschichte rekurrieren. Jedes Mal sind Mitbürger, denen er gesellschaftlich verpflichtet war, an ihn herangetreten, um den Klienten zu empfehlen. Besonders stark tritt dies in der Rosciana hervor. Sextus Roscius hatte von seinem Vater eine Reihe mächtiger Fürsprecher aus den Kreisen der nobilitas geerbt, was diese auch zu seinen natürlichen Anwälten hätte machen müssen.58 Die nobiles hatten sich allerdings entschieden, dieses Mandat nicht wahrzunehmen. So wurde Cicero von höherstehenden Personen, denen er nicht nur Dankbarkeit schuldete, sondern von denen er sich gewiss auch Unterstützung für seine spätere Laufbahn versprach, mit der Verteidigung beauftragt: Mir aber redeten Männer zu, deren Freundschaft, fördernde Hilfe und allgemeines Ansehen größten Einfluss auf mich haben: ich durfte weder über das Wohlwollen hinwegsehen, das sie mir erwiesen haben, noch das Gewicht ihrer Person missachten, noch schließlich ihre Absichten hintansetzen.59 58
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Cic. S. Rosc. 15; zum Verhalten der nobiles s. unten, S. 116-121; für die ein Jahr zuvor erfolgte Empfehlung des P. Quinctius durch den Schauspieler Q. Roscius vgl. Cic. Quinct. 77. Cic. S. Rosc. 4: […] a me autem ei contenderunt, qui apud me et amicitia et beneficiis et dignitate plurimum possunt, quorum ego nec benivolentiam erga me ignorare nec auctoritatem aspernari nec voluntatem neglegere debebam. Für eine Aufzählung derjenigen, die an Cicero herangetreten waren, vgl. David 1992, S. 234; Dyck 2010, S. 6. Es waren dies P. Cornelius Scipio Nasica, Q. Caecilius Metellus Creticus und M. Valerius Messalla Niger, außerdem Caecilia Metella, die Roscius nach seiner Flucht aus Ameria aufgenommen hatte; vgl. Cic. S. Rosc. 27. An anderer Stelle nennt Cicero neben den Metellern und Scipionen auch die Servilier als Patrone des älteren Roscius (S. Rosc. 15). Das Bild des Klienten, der sich in den Schutz mehrerer Patrone begibt, spiegelt sich auch im Rat Q. Ciceros wider, zuverlässige Wähler dadurch zu gewinnen, dass man sie von den „Klienten aller“ zu den eigenen macht (vgl. Q. Cic. pet. 35: ex communibus proprii); für die Bedeutung des gesellschaftlichen Status bei der Empfehlung vgl. Quint. inst. 12,7,5.
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Ebenfalls von Fürsprechern unterstützt begab sich auch P. Sulla erst kurz vor seinem Prozess in die fides Ciceros. Weil diese Verteidigung jedoch bezüglich des Anwalts größere Fragezeichen aufgeworfen hatte, verbindet der Redner an dieser Stelle seine Zusage mit der zuvor erfolgten Ablehnung des Autronius. In identischer Manier trat auch dieser an Cicero heran, selbst die Unterstützer, C. Claudius Marcellus und sein gleichnamiger Sohn, waren die gleichen.60 Dementsprechend bezeugt diese Passage eine doppelte Einhaltung normativer Vorgaben. Einerseits geht Cicero formell die geforderte Bindung zu Sulla ein, andererseits entscheidet er sich in einer Konfliktsituation, wie wir später sehen werden, für die gesellschaftlich festgelegte Norm. Eine Einschränkung zu dem vorhin Gesagten scheint an dieser Stelle vorgenommen werden zu müssen. Wir begegnen nirgends einem schutzflehenden Cluentius, der sich formell in die fides seines Patrons begibt. Allerdings beleuchtet Cicero hier die Pflicht seinem Klienten gegenüber aus einer entgegengesetzten Perspektive, die für das Patronat zum argumentum a fortiori wird. Der Versuch des älteren Oppianicus, Cluentius zu ermorden, hatte zu einer Reihe von Anklagen geführt, die schrittweise zu dem eigentlichen Urheber führen sollten. So hat Cluentius zunächst Skamander, den Sklaven, der das Gift beschaffen sollte, danach dessen Herren, C. Fabricius, vor Gericht gebracht.61 Die Position Ciceros in der Cluentiana wurde freilich durch die Tatsache geschwächt, dass er im Prozess gegen Skamander die Verteidigung übernommen hatte, ein Nachteil, den er nun zugunsten seines Klienten ausspielt. Die Bitte um Fürsprache kam damals von einer Reihe angesehener Bürger aus Aletrium, zu denen Cicero freundschaftliche Beziehungen unterhielt. Folglich argumentiert der Redner, dass seine Pflicht diesem Personenkreis gegenüber, gepaart mit seiner Unkenntnis über das tatsächliche Ausmaß der Schuld Skamanders, zu dieser Entscheidung geführt hätten.62 Nachdem er aber in jenem Prozess eine deutliche Niederlage erlitten hatte, soll nicht nur Cicero schließlich eingesehen haben, dass
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Cic. Sull. 18-20. Cic. Cluent. 49, 56. Cic. Cluent. 49-50; zum Skamander-Prozess vgl. auch Riggsby 1999, S. 7778.
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Cluentius im Recht war.63 So hätten sich vor dem darauffolgenden Verfahren nicht einmal die Aletrinaten eingefunden, um von ihm die Verteidigung des Fabricius zu erbitten.64 Die im vorherigen Kapitel der Studie dargelegte Apologie schließt mit einem aussagekräftigen Argument ab, das als besonders starkes Überzeugungsmoment betrachtet werden kann: Wenn ich zugeben wollte, dass ich mich erst jetzt in der Sache des A. Cluentius richtig auskenne, vorher aber in der verbreiteten Meinung gefangen war – wer könnte mir denn daraus einen Vorwurf machen?65
Es ist gewiss kein Zufall, dass die ersten drei Reden an keiner Stelle eine explizite Erörterung der Fallübernahme durch Cicero vorweisen. Die bereits bestehenden Bindungen, die sich vielerorts erst aus der narratio ergeben oder auch an anderer Stelle in die Rede eingeflochten werden, reichen als Begründung aus. Zudem ist davon auszugehen, dass das Ansprechen jener Beziehungen bei den Zuhörern bekannte Tatsachen evozierte, so dass die punktuelle Berufung auf gemeinsame Aktivitäten diese Vergangenheit in Erinnerung rufen sowie ein Indiz für die Rechtmäßigkeit der Verteidigung liefern sollte. Da diese Klientel dadurch be-
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Es ist bemerkenswert, dass den Richtern die Inkonsequenz dieses Arguments nicht deutlich geworden ist, da Cicero selbst Jahre später negativ über das iudicium Iunianum sprach. Cic. Cluent. 56: Hic tum Fabricius non modo ad me meos vicinos et amicos Aletrinates non adduxit, sed ipse eis neque defensioribus uti postea neque laudatoribus potuit. Cic. Cluent. 142: Quod si velim confiteri me causam A. Cluenti nunc cognosse, antea fuisse in illa populari opinione, quis tandem id possit reprehendere? Man kann hier die Vorgaben Ciceros für die Anordnung des Stoffes extrapolieren und auf diesen Exkurs übertragen; vgl. de or. 2,314: Ergo ut in oratore optimus quisque, sic in oratione firmissimum quodque sit primum; dum illud tamen in utroque teneatur, ut ea, quae excellent, serventur etiam ad perorandum; s. auch Cic. or. 50. Die digressio müsste folgerichtig ebenfalls mit einem Argument abschließen, das äußerst wirksam ist und für die Zuhörer besonders konkludent wirkt.
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reits legitimiert war, mussten sich die Angeklagten freilich auch nicht formell in die fides des Anwalts begeben.66 Für die Bewertung der gesellschaftlichen Akzeptanz hingegen lohnt es sich, einen genaueren Blick auf die letzten drei vorgestellten Fallübernahmen zu werfen. Die Reden, für die wir eine Notwendigkeit ermittelt haben, die moralischen Grundsätze der patronalen Tätigkeit zu verteidigen, sind nämlich identisch mit den orationes, in denen sich keine vorherige Beziehung zum Klienten festmachen lässt. Umgekehrt ist in den anderen Fällen (fast) kein einziger Vorwurf diesbezüglich anzutreffen. Eine Ausnahme könnten wir von der Miloniana erwarten, die angesichts des Verbrechens und dessen negativen Konnotationen für die Sicherheit der res publica eine größere Sensibilisierung der Hörer zur Folge haben musste. Tatsächlich lässt sich ein solcher Angriff dort auch vermuten, allerdings unterscheidet sich diese Kritik grundlegend von denjenigen, mit denen sich Cicero in den Reden für Sulla oder Cluentius konfrontiert sah. Glaubt man den Ausführungen des Redners, so haben die Ankläger scheinbar in einem Punkt die Glaubwürdigkeit seines Patronats angezweifelt: Deswegen habe auch ich, sobald feststand, dass auf der Appischen Straße eine Bluttat begangen worden sei, nicht etwa geäußert, jemand, von dem Notwehr geübt worden sei, habe dem Staat Schaden zugefügt; vielmehr habe ich, da der Vorgang Gewaltanwendung und einen tückischen Anschlag erkennen ließ, die Aburteilung des Schuldigen dem Gericht überlassen und nur die Tat selbst gebrandmarkt.67
Man könnte hinter dieser Stelle einen unbedachten Ausspruch Ciceros erkennen, den seine Prozessgegner zum Anlass genommen haben, um ihm mangelnde constantia in der Beurteilung der Tat Milos zu unterstellen. War dies der Fall, so wäre es im Vergleich zu den Vorwürfen, die in der Cluentiana oder Sullana vorgetragen wurden, nur ein schüch66
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Jehne 2015, S. 298 macht darauf aufmerksam, dass die Patronatsbeziehung sowohl durch eine Dedition des zukünftigen Klienten als auch durch den gegenseitigen Austausch von beneficia begründet werden konnte. Cic. Mil. 14: Itaque ego ipse decrevi, cum caedem in Appia factam esse constaret, non eum qui se defendisset contra rem publicam fecisse, sed, cum inesset in re vis et insidiae, crimen iudicio reservavi, rem notavi.
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tern vorgebrachtes Argument, auf das Cicero auch nicht näher eingeht und somit für die Prozessführung kaum einer Entkräftung bedurfte. Dass ausgerechnet er sich eingefunden hätte, um Milo zu verteidigen, wird ihm indes nirgends vorgehalten. So bleibt festzuhalten, dass es eine grundsätzliche Übereinstimmung zwischen den Fällen gibt, in denen dem Anwalt die moralische Befähigung für die Rollenübernahme abgesprochen wird, und den Prozessen, in denen das Patronat nicht auf eine ältere und gesellschaftlich anerkannte amicitia zurückgeht. Wie aber gezeigt, nimmt Cicero dort sein patrocinium nicht aus eigenem Antrieb in Schutz, sondern zumeist als Reaktion auf eine Rüge des Prozessgegners. Solche Angriffe verfolgen das alleinige Ziel, auf eine positive Resonanz des Publikums zu stoßen, so dass sie selbstverständlich nur diejenigen Punkte ansprechen, die eine besondere Verwundbarkeit des Gegners erkennen lassen. Als Begründung dafür, dass er die Fürsprache im eingangs erwähnten RabiriusProzess eigentlich nicht explizieren müsse, führt Cicero in überspitzter Manier an, dass seine gesellschaftlichen Bindungen zu allen Bürgern ein solches Auftreten hinreichend legitimieren würden.68 Diese rhetorische Finte kann aber nicht darüber hinwegtäuschen, dass er die Apologie in diesem Fall nicht nur vorträgt, sondern auch als unerlässlich betrachtet. Obwohl Cicero hier zweifelsohne die Realitäten der späten Republik anspricht, ist – bei aller Akzeptanz, die sich infolge einer plausiblen Erklärung einstellen kann – eine Skepsis bezüglich neu eingegangener patrocinia unverkennbar.69 Dagegen wird die Vorrangstellung derjenigen Situationen, die am stärksten an das ursprüngliche Konzept des Patronats oder an eine öffentlich zugestandene amicitia angelehnt sind, evident.70 Somit muss der tiefere Sinn der Rolle auch in den Wahrneh68 69
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Vgl. Cic. Rab. perd. 2-4. Selbst in manchen Fällen, in denen sich Cicero rechtfertigen muss, postuliert er zugleich eine ältere Beziehung zum Klienten; vgl. Planc. 1-4, 72, 98-99; Rab. perd. 2, 47; Mur. 8. Ein ähnliches Urteil fällt auch Ganter 2015b, S. 36. Verboven 2011, S. 411 weist darauf hin, dass eine amicitia öffentlich und den Mitmenschen durch gegenseitige Dienstleistungen auch bekannt sein musste, damit die Gesellschaft die Einhaltung oder Übertretung der damit verbundenen Pflichten auch sanktionieren konnte. Im Zuge des Berichts über den Norbanus-Prozess lässt Cicero Sulpicius sagen, dass Antonius zu Beginn der Rede den Ein-
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mungsmustern gesucht werden, die dieser Authentizität innewohnen und zugleich eine genuine Bindung von jüngst geschlossenen Freundschaftsund Patronatsverhältnissen abgrenzen. 1.1.4 Fides und die Prävalenz der Authentizitätsprämisse Versuchen wir diesen Umstand aus den Selbstzeugnissen heraus zu erklären, so ist die naheliegende Annahme, dass das Aufrechterhalten des altpatronalen oder freundschaftlichen Scheines mit der alles überragenden Bedeutung der fides in Verbindung steht, die von einer lockeren, quasi-professionellen Konzeptualisierung der Anwaltstätigkeit nur bedingt reproduziert werden konnte. Als „wichtigste[r] Schlüssel zum römischen Wertsystem“71 ist der Terminus freilich einer der am meisten erforschten Begriffe unter den römischen Moralvorstellungen, so dass an dieser Stelle nur auf eine besondere Wechselwirkung aufmerksam gemacht werden soll, die das Konzept als elementaren Bestandteil der forensischen Interaktion kennzeichnet. Fides ist Disposition und Verhaltensanforderung zugleich72 und durchdringt als solche sämtliche Nahbeziehungen in der römischen Welt, vor allem aber stellt sie das definitorische Merkmal derjenigen Pflichten dar, die den Freundschafts- sowie Patron-Klient-Verhältnissen inhärent sind.73 Infolge der bahnbrechenden Arbeiten von Eduard
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druck vermittelt hätte, er würde nur propter necessitudinem die Verteidigung übernehmen (de or. 2,203). Dies unterstreicht aber auch die moralische Unantastbarkeit eines solchen Vorgehens. Die eminente Stellung dieses Motivs wird auch von Ciceros Vorwurf, Hortensius sei nicht mit Verres befreundet oder verwandt und hätte somit keine Berechtigung für seine Fürsprache, belegt: Nulla tibi, Quinte, cum isto cognatio, nulla necessitudo. Quibus excusationibus antea nimium in aliquo iudicio studium tuum defendere solebas, earum habere in hoc homine nullam potes (Verr. 2,5,176). Pöschl 1980, S. 3. Als zentraler Begriff des römischen Gesellschaftslebens nimmt fides auch das Gros seines Aufsatzes in Anspruch (S. 3-12). Vgl. Heinze 1960b, S. 66-68; Hölkeskamp 2004a, S. 113. Vgl. Brunt 1988b, S. 355, 359; Hellegouarc’h 1963, S. 28-30; Hölkeskamp 2004a, S. 112-113; Verboven 2011, S. 409; Rollinger 2014, S. 282. Ebd., S. 31 erkennt der Autor die Schwierigkeit im Ziehen einer Trennlinie zwischen amicitia und clientela auch darin, dass beide Beziehungen auf fides und gra-
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FRAENKEL und Richard HEINZE ist man auf die große semantische Bandbreite des Begriffs aufmerksam geworden. So hat FRAENKEL gegen die seinerzeit vorherrschende Meinung argumentiert, dass das Wort in seiner ursprünglichen Bedeutung passivisch zu verstehen ist und den Sinn von „Zuverlässigkeit“, „Treue“ oder „Versprechen“ erhält.74 Die Eigentümlichkeit des Konzepts ist von HEINZE hervorgehoben worden, der die Interdependenz von passiver und aktiver Ebene betont hat. Folglich sei fides „keine Eigenschaft, die objektiv dem ‚Vertrauenswürdigen‘ zugesprochen würde, sondern schließt in sich Glauben oder Vertrauen des anderen“.75 Diese Unterscheidung ist dann besonders ergiebig, wenn man sie mit Blick auf die anwaltlichen Bezugsgruppen vornimmt. Die fides dem Klienten gegenüber beinhaltet Pflichten, die diesem geschuldet und somit (hauptsächlich) von diesem sanktioniert werden76 – wenngleich es selbstverständlich auch im Interesse der Gemeinschaft war, die Beziehungen aufrechtzuerhalten. Im Sinne von Glaubwürdigkeit, die einem Redner geschenkt wird, aber auch – nach HEINZE – das Vertrauen der Angesprochenen umschließt, richtet sich der Begriff jedoch ausschließlich an die Hörer. Er nimmt eine eminent soziale wie auch bisweilen politische Funktion ein und wird durch die Verlässlichkeit, die er impliziert, zu einem Synonym für auctoritas.77 Als Charakteristikum derjenigen Person, der man Vertrauen entgegenbringt,78 erfüllt fides zwangsläufig eine zentrale Aufgabe im forensischen Agon.79 In dieser Ausprägung muss sie aber auch zu einem wesentlichen Attribut der
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tia beruhen; zur Verbindung von fides und amicitia vgl. auch Hellegouarc’h 1963, S. 23-24; Hölkeskamp 2004a, S. 108. Fraenkel 1916, S. 187-190. Heinze 1960b, S. 61; vgl. dazu auch Freyburger 2009, S. 41-49; Hellegouarc’h 1963, S. 31; Timmer 2017, S. 86-87. Vgl. Freyburger 2009, S. 153. Vgl. Hellegouarc’h 1963, S. 31; s. auch Hölkeskamp 2004a, S. 116-117. Vgl. Fraenkel 1916, S. 188; vgl. auch ebd., S. 187; Freyburger 2009, S. 75. Zu fides als fundamentum iustitiae vgl. Cic. off. 1,23. Die Römer kontrastierten des Öfteren die Nachlässigkeit der Griechen im Umgang mit Zeugen mit der eigenen, aus der fides schöpfenden Glaubwürdigkeit derselben; vgl. Pöschl 1980, S. 5-6; zu fides als Glaubwürdigkeit der Zeugen s. auch Cic. Font. 23; Cic. Caec. 3.
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Anwaltsrolle werden, das von den Hörern eingefordert und – positiv oder negativ – sanktioniert wird.80 Durch die Wechselwirkung der Bedeutungsschichten wird der Terminus zur Garantie, dass der Patron glaubwürdig (sowie unter Beachtung der Pflichten seinem Klienten gegenüber) der übernommenen Rolle gerecht wird.81 Im Sinne von „Glaube“ des Adressaten setzt der Begriff allerdings nicht nur den Verteidiger in Relation zu seinem Publikum, sondern gleichermaßen den Ankläger, der durch ein vertrauenerweckendes Auftreten ebenso mit der fides der Hörer rechnen darf.82 Die Plausibilität der Ausführungen beider Parteien geht auch terminologisch auf ein Gemeinsames zurück, das der fides – als „Glaube“ und „Glaubwürdigkeit“ – innewohnt, darüber hinaus aber ebenjener Authentizitätsprämisse entstammen muss, die für den nominis delator durch das Vorverfahren der divinatio sowie im Falle des Patrons durch die sorgfältige Überprüfung seiner Motive überwacht wird. Oder, um es mit Clifford GEERTZ zu sagen: Wenn das Erklärungsmuster der Römer selbst den zweiten Schritt einer Dichten Beschreibung darstellt, muss zwangsläufig eine Kontextualisierung dieser selbstreferentiellen Erklärung folgen. Diesen Versuch wollen wir aber erst starten, nachdem die potentiellen Devianzen des Gerichtspatrons und vor allem die analoge Rolle des Anklägers in den Blick genommen wurden. 1.2
Die Grenzen der fides
1.2.1 Fides vs. res publica Die Rollenkonsistenz von Patron und Anwalt erlegt dem Redner einen doppelten Zwang auf, der auf die Interdependenz dieser Positionen zurückzuführen ist. Schuldete er dem Angeklagten bereits die Gunsterweisungen, die in dem strikt normierten Verständnis der römischen 80 81 82
Fraenkel 1916, S. 190 weist auf die Rolle der fides als rhetorischer terminus technicus hin; vgl. auch Hölkeskamp 2004a, S. 107, 112. Vgl. Brunt 1988c, S. 406. Vgl. Cic. inv. 1,25: Sin oratio adversariorum fidem videbitur auditoribus fecisse […]; ähnlich auch Rhet. Her. 1,10; vgl. Heinze 1960b, S. 60.
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amicitia enthalten waren, gab es ebenfalls einen starken gesellschaftlichen Druck, bei geeigneten Voraussetzungen die Fürsprache zu übernehmen.83 Umgekehrt musste aber auch die bereitwillige Verteidigung neuer Klienten in die traditionellen Formen der Patronatsrolle eingebettet werden. Entsprechend ergibt sich die Frage nach der normativen Einordnung des patrocinium in das Gefüge der gesellschaftlichen Hierarchien. Sowohl die forensische Praxis als auch die rhetorische Theorie lassen die Prävalenz gewisser Pflichten erkennen, die in den betreffenden Konfliktsituationen die Wahrnehmung des Patronats außer Kraft setzen mussten.84 Speziell in den gesellschaftstheoretischen Schriften Ciceros wird ein – wenngleich philosophisch gefärbter – Einblick in diesbezügliche Vorschriften gewährt. Die oberste Direktive des sozialen Verhaltens betrifft demnach die uneingeschränkte Treue zu den Idealen des Staatswesens, so dass der Vorrang der res publica konsequentermaßen alle anderen Verpflichtungen aufhebt.85 Allerdings scheint diese Vorgabe nicht exklusiv auf Gründen der Staatsraison zu basieren, wie man es von einem dezidierten Vertreter der causa der boni erwarten würde. Der Widerspruch zu den Zielen der res publica wird selbst in den Reden als persuasives Element zu einem unumstößlichen Hinderungsgrund. Erwartungsgemäß ist die Argumentation dort besonders stark, wo eine direkte Gefährdung des Staates bereits im Anklagepunkt enthalten ist, wie etwa in der oratio pro P. Sulla. Die Niederschlagung der Catilinarischen Verschwörung hat zu einer Reihe von Prozessen gegen die überlebenden Teilnehmer geführt, Verfahren, die im Zuge dieser Rede des Öfteren aus prozesstaktischen, aber auch aus ethischen Gründen thematisiert werden. So stellt Cicero seine Geradlinigkeit sowie die der anderen Verteidiger auch dadurch unter Beweis, dass sich keiner von ihnen eingefunden hätte, um die überführten Verschwörer zu vertreten. Selbst Vargunteius, der in einem früheren ambitus-Prozess von Q. Hortensius verteidigt wurde, ist angesichts der Schwere des Verbrechens
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Vgl. dazu David 2009b, S. 514-515, 523-526. Vgl. Quint. inst. 12,7,4. So heißt es in Cic. off. 1,57: Sed cum omnia ratione animoque lustraris, omnium societatum nulla est gravior, nulla carior quam ea, quae cum re publica est uni cuique nostrum; vgl. auch Cic. off. 1,58.
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von diesem fallen gelassen worden. Begründet wird dies mit der oben genannten Staatsraison: Er glaubte nämlich, dem Manne keinerlei Dienst mehr schuldig zu sein, der durch seine Beteiligung an einem solchen Verbrechen alle Bande wechselseitiger Dienste zerrissen hatte.86
Dass der frühere Einsatz des Hortensius für Vargunteius erwähnt wird, ist kein Zufall. Die Bande der amicitia verlangt zwar nach wechselseitigen Diensten, denen man sich nur schwer entziehen kann, jedoch muss in dem Augenblick, als jemand einen Anschlag gegen den Staat verübt, ein Konflikt entstehen, der auch jeglichen Anspruch auf solche Dienste zunichtemacht. So ist es bezeichnend, dass Cicero hier ausdrücklich erwähnt, die societas officiorum sei von Vargunteius aufgelöst worden und nicht erst durch die Weigerung des Hortensius.87 An späterer Stelle spricht sich der Redner die Achtung vor dieser Norm selbst zu. Autronius, der sich ebenfalls im Zuge der Verschwörung Catilinas kompromittiert hatte, allerdings von Kindesbeinen an zu den Vertrauten Ciceros gehört haben soll, hätte den Redner fast dazu bewegt, Mitleid walten zu lassen und ihn zu verteidigen.88 Das ausschlaggebende Moment für die 86
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Cic. Sull. 6: Non enim iam se ullo officio cum illo coniunctum arbitrabatur, cum ille tanto scelere commisso omnium officiorum societatem diremisset. Vargunteius soll ebenfalls an dem fehlgeschlagenen Anschlag auf Cicero beteiligt gewesen sein; vgl. Sall. Cat. 28,1; s. dazu Berry 1996, S. 141. Eine philosophische Erklärung wird von Piso in Cic. fin. 5,66 geliefert. So entspräche es der menschlichen Natur, dass der Gerechtigkeitssinn nichts gegen die societas humana unternehmen könne. Gemeinschaft und Gerechtigkeit können somit nicht in Widerspruch zueinander stehen, was die Dezidiertheit der Norm auch erklärt; vgl. auch Cic. off. 3,26. Folgerichtig ist es eine Grundforderung der Freundschaft, niemals unehrenhafte Dinge zu verlangen; vgl. Cic. Lael. 35, 40, 61; Gell. 1,3,13. Cic. Sull. 18: Veniebat enim ad me et saepe veniebat Autronius multis cum lacrimis supplex ut se defenderem, et se meum condiscipulum in pueritia, familiarem in adulescentia, conlegam in quaestura commemorabat fuisse; multa mea in se, non nulla etiam sua in me proferebat officia. Quibus ego rebus, iudices, ita flectebar animo atque frangebar ut iam ex memoria quas mihi ipsi fecerat insidias deponerem, ut iam immissum esse ab eo C. Cornelium qui me in meis sedibus, in conspectu uxoris ac liberorum meorum truci-
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Zurückweisung war jedoch die – äußerst plastische – Darstellung der Not, in die die res publica von Autronius und seinen Mittätern gestürzt worden wäre: Als ich mich jedoch an das Vaterland, an eure Nöte, an diese Stadt, an die Tempel und Heiligtümer, an die unmündigen Kinder, an die Frauen und Töchter erinnerte, als sich die feindlichen und verderblichen Fackeln und die allgemeine Feuersbrunst der ganzen Stadt, als sich die Waffen und das Gemetzel, das Blut der Bürger und die Asche des Vaterlandes vor meinem Geiste zu zeigen und in der Erinnerung zu erneuern begannen, da erst widerstand ich ihm […]89
Die Ausführungen des Redners postulieren das für die Hörer Selbstverständliche. Weder hatten die Ankläger in irgendeiner Art und Weise impliziert, man hätte einem Vargunteius oder Autronius die Verteidigung geschuldet – was überdies ihren Argumenten zuwidergelaufen wäre –, noch will Cicero deswegen für sich und für Hortensius ein besonderes Lob erreichen. Die Hierarchisierung, die er hier vornimmt, ist zweckgebunden, und dient dazu, die constantia unter Beweis zu stellen, die den Anwälten Sullas auch die nötige auctoritas verleihen soll. Dieses Selbstverständliche ist es jedoch, das die Unumstößlichkeit der Norm untermauert und belegt, dass die Dienste, die man dem Staat schuldete, auch in der gesellschaftlich-normativen Praxis über andere soziale Beziehungen zu stellen sind.90 Ähnlich begegnen wir in den theoretischen
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daret obliviscerer. Die Vertrautheit wird jedoch zugunsten Ciceros relativiert (multa mea in se, non nulla etiam sua in me proferebat officia). Der Effekt wird freilich dadurch noch gesteigert, dass Cicero vorgibt, er hätte ihn trotz des Anschlages fast verteidigt, ein Vorwurf, mit dem Autronius sonst nirgends in Verbindung gebracht wird; vgl. Berry 1996, S.169. Cic. Sull. 19: Sed cum mihi patriae, cum vestrorum periculorum, cum huius urbis, cum illorum delubrorum atque templorum, cum puerorum infantium, cum matronarum ac virginum veniebat in mentem, et cum illae infestae ac funestae faces universumque totius urbis incendium, cum tela, cum caedes, cum civium cruor, cum cinis patriae versari ante oculos atque animum memoria refricare coeperat, tum denique ei resistebam […] Bezeichnenderweise sagt Cicero, dass eine Verteidigung des Autronius einem Verbrechen (scelus) gleichgekommen wäre (Sull. 19). Ein Wandel in dieser Normvorstellung ist zumindest ansatzweise bereits im frühen Prin-
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Schriften einer expliziten Hierarchie, in Zuge derer die res publica den ersten Rang einnimmt, gefolgt von Eltern, Kindern und Freunden.91 Die Feststellung einer Priorität des römischen Staates ist gewiss nicht neu. Sie lässt aber einen Unterschied zur modernen Anwaltskonzeption erkennen, der weitreichende Folgen hat. Die Allmacht der res publica ergibt sich aus den genuin römischen Vorstellungen bezüglich des Staatswesens. Im Gegensatz zu späteren Epochen war sie keine von den Bürgern abgehobene „Staatsmacht“, sondern „der Staat als
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cipat erkennbar. So kann Valerius Maximus mit einiger Sympathie von der Standhaftigkeit des C. Blossius berichten, der selbst gegen den Konsens des Senats am inimicus patriae Ti. Gracchus als Freund festhielt (Val. Max. 4,7,1); Cic. Lael. 37 hatte dieses Verhalten noch dezidiert zurückgewiesen; neutraler zeigt sich Plut. Ti. Grac. 20,4; vgl. dazu auch Konstan 1997, S. 134-135; Lundgreen 2013, S. 41. Allerdings stellte dies im frühen Principat keineswegs die communis opinio dar. So lobt Vell. 2,3,1 Scipio Nasica Serapio dafür, dass er den Staat über seine Verwandtschaft mit Ti. Gracchus gestellt hat. Cic. off. 1,57: Cari sunt parentes, cari liberi, propinqui, familiares, sed omnes omnium caritates patria una complexa est […] Später werden allerdings einzig die Eltern auf die gleiche Stufe mit der patria gestellt: […] principes sint patria et parentes, quorum beneficiis maximis obligati sumus proximi liberi totaque domus, quae spectat in nos solos neque aliud ullum potest habere perfugium […] (off. 1,58). Für die uneingeschränkte Prävalenz des Staates gegenüber Freundschaften vgl. auch Cic. off. 1,31; 1,160; 3,43; Val. Max. 5,6,praef.; Gell. 1,3,18. In diesem Zusammenhang ist auch die Anekdote in Gell. 1,3,4 relevant. Chilon von Sparta soll als Richter von der Schuld eines angeklagten Freundes überzeugt gewesen sein und auch gegen ihn gestimmt haben. Dafür veranlasste er aber die anderen Richter, ihn freizusprechen. Auf dem Totenbett zweifelte Chilon noch an der „Weisheit“ dieses Verhaltens. Ein wenig geändert wird die obige Hierarchie in Gell. 5,13,2, wo die unmündigen Kinder an erster Stelle stehen, und Gell. 5,13,46, wenn Gellius einen Spruch Catos wiedergibt, der den Vater vor den Patron stellt. Die Staatsraison ist zudem nicht nur für das Ablehnen, sondern auch für das Übernehmen der Anwaltsrolle essenziell. So sagt Quint. inst. 4,1,7, dass es am ehrenhaftesten sei, das Patronat mit der Pflicht für den Staat zu begründen. Diesem gebühre somit in erster Linie die fides des Bürgers. Umgekehrt solle man sich aber auch nicht scheuen, einen Fall abzugeben, wenn man erst im Nachhinein merkt, dass die Sache unehrenhaft ist (Quint. inst. 12,7,6).
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Gemeinschaft“,92 der gleichermaßen alle Bürger umschloss. Eine Identifikation mit diesem war die Grundlage römischen Gemeinschaftslebens.93 So ist die normative Überhöhung der res publica, der wir nicht nur im Falle der Anwaltstätigkeit begegnen, dieser Identifizierung des Einzelnen mit dem Staatswesen geschuldet. Die Gesellschaft wird unter diesen Umständen als Ganzes zur Schutz- und Kontrollinstanz. Der Bürger, der die Rolle des Anwalts übernehmen möchte, muss in einer solchen Situation entscheiden, ob er einen necessarius, der sich einer Normübertretung dieser Gemeinschaft gegenüber schuldig gemacht hat, verteidigt und damit selbst die anfallenden sozialen Sanktionen auf sich lädt oder ob er die gesellschaftlichen Bindungen zu seinem Klienten außer Acht lässt. Da jedoch in beiden Fällen die res publica seine Bezugsgruppe bildet,94 muss zwangsläufig der Schutz vor einem gegen
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Büchner 1980, S. 31. Ebd. heißt es weiter: „Er ist für den Römer nicht nur eine Notwendigkeit, sondern als Gemeinschaft, die alles umschließt, […] Sinn des Lebens.“; vgl. auch Brunt 1988a, S. 299. Vgl. Heinze 1962, S. 16: „Kein Römer hätte darauf verfallen können, von der res publica als ‚diesem Racker von Staat‘ zu reden, wie jener uckermärkische Bauer zu Friedrich Wilhelm dem Vierten; der Gedanke selbst an prinzipielle Feindschaft gegen die res publica wäre dem Römer unfaßbar gewesen“; s. auch Flaig 2003, S. 13-17. Ebd., S. 18-19 wird gezeigt, dass das Patronatssystem in entscheidendem Maße von der sozialen Sanktionierung abhing; vgl. David 1992, S. 228-229 dafür, dass Weigerungen schwere Konsequezen, wie z. B. langjährige inimicitiae nach sich ziehen konnten. Zusätzlich zur Staatsraison kam es natürlich auch vor, dass das Mandat wegen eines patronalen Intra-Rollenkonfliktes abgelehnt wurde (vgl. Q. Cic. pet. 45). Cic. off. 1,32 erlaubt es auch dann abzulehnen, wenn man z. B. für den erkrankten Sohn sorgen müsse. In diesem Fall wäre es sogar deviant, wenn der Klient weiter auf die Verteidigung besteht. Dies zeigt aber auch, dass es keine Seltenheit war, dass mancher Klient diese Entschuldigung nicht akzeptierte. Brunt 1988b, S. 361 bespricht die Fälle, in denen man zwischen zwei unterschiedlichen Klienten zu entscheiden hatte, und kommt zu dem Schluss, dass man oft die persönlich vorteilhafteste Wahl traf. Laut Cic. off. 1,59 sollte sich diese jedoch idealiter nach dem Nutzen für den jeweiligen cliens richten. Brunt 1988c, S. 399 weist zudem darauf hin, dass Klienten ebenfalls des Öfteren in Konfliktsituationen entscheiden mussten, welchem Patron ihre Treue gilt.
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ebendiese gerichteten Verbrechen gegenüber der Aufrechterhaltung einzelner sozialer Bindungen überwiegen.95 Exkurs: Die Konstruktion eines Rollenkonfliktes in der Rosciana Einer scheinbar nicht mit der Staatsraison zu erklärenden Weigerung, der Patronatspflicht nachzukommen, begegnen wir jedoch in der Rede für Sex. Roscius. Der Angeklagte hatte von seinem Vater eine Reihe einflussreicher patroni aus den Führungskreisen der römischen Aristokratie geerbt.96 Als diese aber ihre Aufgabe wahrnehmen sollten, haben sie Cicero als Fürsprecher auserkoren und sich lediglich als advocati auf die hinteren Bänke gesetzt. Die Übertretung der Patronatsfunktion, die Cicero hier auch nicht verheimlichen konnte, führt zu einer langen Apologie ihrer Passivität. Das Schweigen der patroni begründet der Redner mit der Unsicherheit der Zeiten97 und der Furcht der nobiles, sich in diesem Verfahren zu sehr zu exponieren. Wäre nämlich ein Wort zu viel über den Zustand der res publica gefallen, hätte man ihnen dies zum
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Vgl. auch Brunt 1988b, S. 379-381. Die Staatsraison konnte aber auch umgekehrt wirken. Laut Asc. Mil. 41C wollte Brutus Milo mit dem Argument des Tyrannenmordes verteidigen und somit das Staatsinteresse zur Entlastung des Angeklagten benutzen; vgl. Quint. inst. 3,6,93 für die Weigerung Ciceros; zur relatio criminis vgl. Cic. inv. 1,15; 2,78-79; Rhet. Her. 1,25. Lundgreen 2013, S. 39-43 vertritt anhand des Briefwechsels zwischen Cicero und Matius (fam. 11,27 und 11,28) die These, dass die Freundschaftskonzeption, der man im Laelius begegnet, keineswegs von allen Zeitgenossen geteilt wurde und vielmehr auf eine politische Auseinandersetzung Ciceros mit den Erfahrungen der Diktatur Caesars zurückgeht (vgl. ebd., S. 41 mit Anm. 30). Angesichts der forensischen Relevanz des oben vorgestellten Motivs, das nicht nur in der Sullana, sondern auch in früheren Reden vorgetragen wird (vgl. z. B. Cluent. 57), muss die These zumindest für die hier untersuchte Zeit insofern relativiert werden, als die spätere Position des Matius eher eine Ausnahme darzustellen scheint. Vgl. Cic. S. Rosc. 15. Cic. S. Rosc. 1.
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Vorwurf machen können.98 Eine solche Unbedachtheit könne man in Anbetracht ihres Alters und ihrer prudentia nicht entschuldigen.99 Die Beweisführung Ciceros hat Anlass zu den unterschiedlichsten Spekulationen bezüglich seiner Absichten gegeben. So ist vielfach angenommen worden, dass seine Argumentation eine mehr oder weniger versteckte Kritik an den nobiles sei, die es nicht gewagt hatten, sich diesem (vermeintlich) schwierigen Prozess zu stellen. Vinzenz BUCHHEIT vermutet einen Vorwurf der Feigheit dahinter,100 ebenso Andrew DYCK,101 während Auguste HAURY die angebliche Ironie in dieser Passage hervorhebt.102 Dagegen gab es aber auch Stimmen, welche die Argumente Ciceros wesentlich wohlwollender aufgenommen haben.103 Besonders Claude LOUTSCH hat zu Recht darauf hingewiesen, dass eine Kritik an dieser Stelle der Prozesstaktik abträglich gewesen wäre.104 Zweifellos lässt sich diese Feststellung auch auf die gesellschaftliche Ebene übertragen, so dass sich Cicero durch eine öffentliche Demütigung der nobiles einer gravierenden Übertretung der moralischen Pflichten seinen Gönnern gegenüber schuldig gemacht hätte. Überdies wäre es doch kaum möglich, sich auf die fides derjenigen Unterstützer zu berufen, die man zuvor bloßgestellt hat, noch auf die eigene Vertrauenswürdigkeit nach einem solchen Angriff. Die Reaktion der Richter darauf wäre wohl kaum positiv ausgefallen.105 Wenn aber die Stelle nicht als Kritik zu werten ist, muss das Argument folgerichtig einen anderen Zweck erfüllt und zugleich eine wohl98 99 100 101 102 103
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Cic. S. Rosc. 2. Cic. S. Rosc. 3. Buchheit 1975, S. 195. Dyck 2010, S. 59-60. Haury 1955, S. 114, Anm. 6. Powell / Paterson 2004, S. 23 sprechen vom Versuch Ciceros, die Ehre der nobiles zu retten. Cerutti 1996 zeigt eine ambivalente Haltung: S. 57-58 und 60 vermutet er eine gewisse Ironie hinter Ciceros Aussagen, S. 62 dagegen soll der Redner nicht die Absicht gehabt haben, die nobiles bloßzustellen. Vgl. Loutsch 1994, S. 142-143: „Or, le bon sens indique qu’il n’est dans l’intérêt ni de Roscius ni de Cicéron lui-même de flétrir publiquement – meme à mots couverts – et de désobliger ainsi des gens dont la seule présence est d’un grand service à l’accusé“. Vgl. die Anweisungen an den Redner in Cic. or. 89: Parcet et amicitiis et dignitatibus, vitabit insanabiles contumelias; vgl. auch Quint. inst. 4,1,10.
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wollende Aufnahme durch die Richter garantiert haben. Eine mögliche Antwort liefert der soziale Status der Beisitzer, gepaart mit den Wertvorstellungen, die diesem Status innewohnen. Ein Kernelement des Rollenbildes der nobilitas bilden die den Aristokraten attestierten geistigen Fähigkeiten, die sich durch Wertbegriffe wie consilium, prudentia oder sapientia manifestieren. Unter den Eigenschaften, die daraus abgeleitet werden, befinden sich aber solche, die dem Adligen eine vornehme Zurückhaltung diktieren, wie z. B. temperantia oder modestia bzw. moderatio.106 Bei einer näheren Betrachtung des Inhalts dieser Begriffe lassen sich gewisse Parallelen zum Verhalten der Unterstützer Roscius’ erkennen. So ist es ein Markenzeichen von sapientia, zu erkennen, welche Konsequenzen das eigene Handeln hat und welches Verhalten vom Staatswohl diktiert wird.107 In Verbindung zur modestia soll es dem Handelnden ermöglichen, die jeweils richtige Entscheidung zu treffen, die sich nicht an dem Verlangen nach persönlichem Ruhm, sondern an den Interessen des Staatswesens orientiert.108 Die Begriffe werden somit zu ureigenen Attributen des Staatsmannes und stehen als solche in enger Verbindung zur auctoritas.109 Wichtig im Hinblick auf die Rosciana ist die dieser Tatsache geschuldete Vorgabe, sich nicht grundlos in Gefahren zu begeben, was insbesondere für höherstehende Politiker, die die Verantwortung für die gesamte res publica tragen, gilt.110 Somit wird Klugheit auch dadurch an den Tag gelegt, dass man vor allem in Zeiten persönlicher Gefahren Vorsicht zeigt.111 106
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Zu den Begriffen consilium, prudentia und sapientia allgemein vgl. Hellegouarc’h 1963, S. 254; Achard 1981, S. 399. Joseph HELLEGOUARC’H hat insbesondere die Beziehung dieser Vorstellungen zueinander herausgearbeitet: für temperantia und prudentia vgl. Hellegouarc’h 1963, S. 259; für modestia und temperantia ebd., S. 264; für sapientia und prudentia ebd., S. 272. In Cic. off. 1,143 wird darauf hingewiesen, dass modestia und temperantia den gleichen Kriterien unterliegen wie prudentia. Die Interdependenz der Konzepte zeigt sich daran, dass Cicero die Begriffe σωφροσύνη und ευταξία auf beide anwenden kann; vgl. Cic. Tusc. 3,16; Cic. off. 1,142. Hellegouarc’h 1963, S. 271-272. Ebd., S. 264. Klima 1971, S. 23; vgl. auch Hellegouarc’h 1963, S. 264. Vgl. Cic. off. 1,83; 1,81. Vgl. Klima 1971, S. 18.
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Das Motiv der Furcht und der ungünstigen Zeiten hat also in der Rede für Roscius eine praktische Zielsetzung. Die Zurückhaltung der patroni ist ihrer Position geschuldet, in der sie sich normkonform verhalten, indem sie weder ihre eigene Person noch das Staatswesen durch die „unkluge“ Übernahme eines Falles gefährden112. Ähnlich führt Cicero in der Rede für Milo die Abschottung des Pompeius trotz – oder wegen – seiner herausragenden politischen Stellung auf die Vorsicht zurück: Doch ich sehe ein: es war weniger Furcht als Vorsicht, die Pompeius leitete, und zwar nicht nur bei wirklich furchtbaren Dingen, sondern bei allem, um euch jede Furcht zu nehmen.113
Freilich kann dies nicht als Argument dafür gelten, dass Cicero die vorbehaltlosen Überzeugungen seines Publikums anspricht. Seine theoretischen Schriften postulieren des Öfteren die Überlegenheit der gemeinschaftsdienlichen Tugenden gegenüber den rein intellektuellen Eigenschaften, zu denen auch die oben vorgestellten Begriffe gehören.114 Die
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Loutsch 1994, S. 145-146 vermutet, das Furcht-Motiv sei sogar mit der Zustimmung der nobiles vorgetragen worden. Außerdem soll es auch als Zeichen des pudor verstanden werden (ebd., S. 146); zu pudor und verecundia s. unten, Kap. VI. 2. Cic. Mil. 66: Verum, ut intellego, cavebat magis Pompeius quam timebat, non ea solum quae timenda erant, sed omnia, ne vos aliquid timeretis; vgl. auch Cic. Mil. 18-19; Cic. Sest. 69; Cic. har. 49; zum Lob der temperantia Pompeius’ vgl. auch Cic. Manil. 40-41. Allerdings wird dort auch seine fortitudo gelobt (Manil. 29); vgl. dazu Classen 2000, S. 75-76; zur Furcht des Pompeius vor Milo vgl. Asc. Mil. 36C. Die Gefahr, eine Tugend mit einem ähnlich auftretenden Laster zu verwechseln, wird in Cic. part. 81 unter anderem anhand von fortitudo und audacia besprochen; für den Widerspruch zwischen cautio und metus vgl. Cic. Tusc. 4,13. So war die Vorsicht (εὐλάβεια) eines der selbst von den Stoikern zugestandenen Gefühle, dem sie die negativ konnotierte Angst (φόβος) entgegensetzten (Diog. Laert. 7,116); vgl. dazu auch GILL, Christopher, Positive Emotions in Stoicism. Are They Enough?, in: Caston, Ruth R. / Kaster, Robert A. (Hrsgg.), Hope, Joy, and Affection in the Classical World, Oxford 2016, S. 143-160. Vgl. z. B. Cic. off. 1,153; 1,158; 1,160; Cic. de or. 2,344.
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Tapferkeit, als „für die Gerechtigkeit kämpfende Tugend“,115 ist sicherlich insbesondere vom Volk höhergeschätzt worden. So geben die rhetorischen Handbücher auch explizit den Hinweis, dass man größeres Ansehen bei den Hörern gewinnt, wenn man vorgibt, außergewöhnliche Gefahren auf sich zu nehmen, um die res publica zu schützen.116 Allerdings ist hier auch zu beachten, dass Cicero vor einem ausschließlich aus Senatoren zusammengesetzten Richterkollegium sprach. Dass diese leichter die von ihm angesprochenen Ideale teilen konnten, steht außer Zweifel. Guy ACHARD hat festgestellt, dass der Appell an die geistigen Eigenschaften des Staatsmannes in den Reden vor dem Senat weit häufiger anzutreffen ist als in den Volksreden, was er mit der römischen Überzeugung, das Volk ließe sich von heftigen Emotionen leiten, während die Senatoren viel positiver auf das Andeuten von Mäßigung und Klugheit reagierten, erklärt.117 Obwohl anders als in den oben diskutierten Fällen konstruiert, lässt sich der Gedanke, der sich hinter dieser Apologie verbirgt, ebenfalls auf den Vorrang der res publica und auf die damit verbundene Pflicht, sich keinen vermeidbaren Risiken auszusetzen, zurückführen. Für unsere Zwecke relevant ist aber vor allem eine Frage, die Cicero an sein Publikum adressiert, und auf die er im Laufe der Rede auch eine Antwort liefert: Was also hat mich mehr als sonst jemanden bestimmt, die Sache des Sextus Roscius zu übernehmen?118
Wie der orator den Beweis erbringen möchte, dass er trotz objektiver Inadäquatheit am ehesten für die Verteidigung des Roscius infrage kommt, soll an späterer Stelle erörtert werden. Es ist jedoch bezeich115
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Cic. off. 1,62: Itaque probe definitur a Stoicis fortitudo, cum eam virtutem esse dicunt propugnantem pro aequitate. Klima 1971, S. 19 zeigt aber auch, dass die „Vorsicht“ leicht in eine Feigheit implizierende Ironie umgewandelt werden kann. Rhet. Her. 4,54; 4,57. Cic. off. 1,84 sagt auch, dass man eher die eigenen Interessen gefährden solle als die der Allgemeinheit. Achard 1981, S. 471-472. Cic. S. Rosc. 2: Quae me igitur res praeter ceteros impulit, ut causam Sex. Rosci reciperem?
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nend, dass selbst in dieser offenkundig ungünstigen normativen Situation er es sich nicht erlauben kann, als zweite Wahl zu erscheinen. Hierin wird eine bemerkenswerte Parallele zur Anklägerrolle ersichtlich, die den Wunsch der Gesellschaft offenlegt, einen rhetorischen Wettbewerb zwischen den – in normativer Hinsicht – „geeignetsten“ Rednern stattfinden zu lassen. 1.2.2 Die Schuldfrage Eine ganz andere Stellung innerhalb der Hierarchie nimmt die Anwaltstätigkeit in denjenigen Fällen ein, in denen die Schuldfrage nicht unmittelbar mit den Interessen der res publica kollidiert. Die Verteidigung des Skamander nimmt Cicero zwar in Schutz, indem er seine Unkenntnis über die Verfehlungen des damaligen Klienten anführt, gleichzeitig lassen diese Stellen aber durchblicken, dass das Ausmaß der Schuld für seine Erwägungen ausschlaggebend sei: Ich mochte diesen trefflichen und mir so geneigten Leuten nichts abschlagen und vermutete auch nicht, dass der Schuldvorwurf so erheblich und so triftig sei, so wenig wie selbst die es vermuteten, die mir damals diese Sache empfahlen; ich versprach ihnen also, alles zu tun, was sie von mir wünschten.119
In der Konfliktsituation, die einerseits von ihm das Eingehen auf die Bitten seiner necessarii einfordert, andererseits die Ablehnung eines nicht ganz unschuldigen Klienten oder Freundes, scheint für Cicero die Entscheidung für Ersteres vertretbar zu sein.120 Dass er auf diese Erwägung auch vor den Richtern anspielt, belegt ihre prinzipielle Akzeptanz. 119
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Cic. Cluent. 50: Ego, qui neque illis talibus viris ac tam amantibus mei rem possem ullam negare neque illud crimen tantum ac tam manifestum esse arbitrarer, sicut ne illi quidem ipsi qui mihi tum illam causam commendabant arbitrabantur; pollicitus eis sum me omnia quae vellent esse facturum. Bereits in Cluent. 49 heißt es: Qui quamquam de homine sicut necesse erat existimabant, tamen, quod erat ex eodem municipio, suae dignitatis esse arbitrabantur eum quibus rebus possent defendere. Gell. 1,3,23-25 gibt diesbezüglich eine ähnliche Sichtweise des Theophrast wieder.
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Außerdem gibt die vorhin erwähnte Weigerung des Hortensius, Vargunteius zu verteidigen, Cicero auch die Gelegenheit, eine grundsätzliche Frage der normativen Hierarchisierung zu besprechen. Darin wird ersichtlich, dass die Zurückweisung nicht mit der Schuldfrage an sich zusammenhängt, sondern mit der Tatsache, dass das anvisierte Opfer der Staat selbst war.121 Bei einem leichteren Verbrechen war es anscheinend nicht nur erlaubt, sondern es entsprach auch den Erwartungen an einen amicus, die Fürsprache zu übernehmen. Unterstützt werden diese Stellen auch von den Vorschriften, die Cicero in seinen theoretischen Werken formuliert. Ausdrücklich wird die Grenze der fides dann gezogen, wenn Grundwerte des römischen Gemeinschaftslebens tangiert werden, nicht aber in den Fällen, in denen der Angeklagte sich geringfügiger Verfehlungen schuldig gemacht hat. So heißt es im De officiis: Doch ebenso […] darf man es nicht für bedenklich halten, jemanden zu verteidigen, der einmal einen Fehler begangen hat, jedenfalls wenn er kein unverbesserlicher und gottverlassener Verbrecher ist. Die Gesellschaft will es so, die Gewohnheit duldet es, und auch die Menschlichkeit bringt es mit sich. Immer ist es die Pflicht eines Richters, in den Prozessen der Wahrheit nachzugehen, und Aufgabe des Verteidigers, manchmal das Wahrscheinliche zu vertreten, auch wenn es nicht der vollen Wahrheit entspricht.122
Bezeichnend ist die Abstufung, die Cicero bezüglich der Resonanz dieser Vorgabe vornimmt. Während die Gewohnheit dies lediglich duldet, wird explizit darauf hingewiesen, dass es der voluntas des Volkes entspricht. So können die Pflichten der amicitia nicht nur im theoretischen Bereich, sondern auch bezüglich der gesellschaftlichen Erwartungshal-
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Cic. Sull. 6: Quia ceteris in causis etiam nocentis viri boni, si necessarii sunt, deserendos esse non putant. In hoc crimine non solum levitatis est culpa verum etiam quaedam contagio sceleris, si defendas eum quem obstrictum esse patriae parricidio suspicere; vgl. auch Cic. Sull. 18. Cic. off. 2,51: Nec tamen […], item est habendum religioni nocentem aliquando, modo ne nefarium impiumque defendere. Vult hoc multitudo, patitur consuetudo, fert etiam humanitas. Iudicis est semper in causis verum sequi, patroni non numquam veri simile, etiam si minus sit verum, defendere.
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tung innerhalb der oben erwähnten Hierarchie unmittelbar nach den Pflichten gegenüber der res publica eingeordnet werden.123 Eine mögliche Erklärung dafür liegt im Grundgedanken des Klientelwesens selbst. Wenngleich wir festgestellt haben, dass es faktisch gesellschaftlich akzeptierte Hinderungsgründe für das patrocinium geben konnte, muss die Schutzpflicht, als normative Ausdehnung der ursprünglichen Patronatsidee, auch dahingehend verstanden werden, dass jeder Klient ein theoretisches Anrecht auf eine solche Unterstützung hatte.124 Zwar sind die Situationen, in denen die gesamte Bürgerschaft bedroht war, davon ausgenommen worden, allerdings hätte das subjektive Urteil eines Patrons darüber, wer seinen Schutz verdient, das Beziehungsgeflecht, auf dem der römische Staat beruhte, zu einem beträchtlichen Teil ins Wanken gebracht. Dementsprechend ist es für Cicero auch unbedenklich, in der Cluentiana ein Anwaltsethos zu vertreten, das gelegentlich als Beleg für eine Professionalisierung der patronalen Tätigkeit angeführt wurde:125 Doch der irrt sich gewaltig, der da meint, er besitze in unseren Reden, wie wir sie vor Gericht gehalten haben, unsere verbrieften Überzeugungen. Alle diese Reden sind nämlich durch die Sachverhalte und Umstände bedingt, nicht durch die Menschen selbst und durch die Anwälte. Denn wenn die Sachverhalte für sich selbst sprechen könnten, würde 123
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Einer idealisierenden Sichtweise scheinen wir jedoch bei Quintilian zu begegnen: Et certe non convenit ei, quem oratorem esse volumus, iniusta tueri scientem (inst. 12,7,7). Allerdings heißt es im Folgenden auch: Nam si ex illis, quae supra diximus, causis falsum tuebitur, erit tamen honestum, quod ipse faciet. David 1997, S. 39-40 sieht die Schuld des Klienten überhaupt nicht als Kriterium für die Übernahme des Mandats. Dagegen sprechen jedoch sowohl die oben genannten Fälle als auch die häufigen Vorwürfe der Ankläger diesbezüglich. Vgl. Neuhauser 1958, S. 167-168; Powell / Paterson 2004, S. 19-20; vgl. auch Cic. Mur. 10: Ego vero, iudices, ipse me existimarem nefarium si amico, crudelem si misero, superbum si consuli defuissem. Diesen Schutz führt Arena 2012, S. 66 als Ausdruck der aequa libertas an. Bei Martial. 2,32 wird bereits beklagt, dass es die patroni seiner Zeit vorziehen würden, Klienten nur aus Gründen der Angst vor der Macht des Gegners im Stich zu lassen. So bei Burnand 2004.
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niemand einen Redner zuziehen. Nun zieht man uns zu, damit wir das sagen – nicht was sich auf unsere Überzeugung gründet, sondern was sich aus dem Gegenstand selbst und aus dem Sachverhalt ableiten lässt.126
Die hier zur Schau gestellte spätrepublikanische Anwaltsethik passt vollends in das Bild, das im De officiis vermittelt wird. Sie ist aber nicht als Ausdruck einer berufsmäßigen Anwaltschaft zu sehen, sondern muss vielmehr vor dem Hintergrund der kulturell geprägten Anforderungen an die Redner verstanden werden. Als Folge der oben dargelegten gesellschaftlichen Akzeptanz versteht es sich von selbst, dass es dem patronus oblag, eine glaubwürdige, wahrscheinliche Version vorzutragen, während es zum Rollenbild des Richters gehörte, die Wahrheit herauszufinden.127 Darin wird aber eine zweite signifikante Übereinstimmung mit der Rolle des Anklägers evident, wenn die Wahrscheinlichkeitsbeweise nicht etwa zum Markenzeichen des Patrons erklärt werden, sondern als universelle topoi die Grundlage der Argumentation beider Parteien bilden.128 Diese Analogie liefert ein weiteres Indiz dafür, dass die antagonistischen Rollenbilder einer quaestio nicht unabhängig voneinander, sondern nur in ihrer Interdependenz sowie in ihrer Ausrichtung auf die angesprochenen Hörer vollständig erfasst werden können.
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Cic. Cluent. 139: Sed errat vehementer si quis in orationibus nostris, quas in iudiciis habuimus, auctoritates nostras consignatas se habere arbitratur. Omnes enim illae causarum ac temporum sunt, non hominum ipsorum aut patronorum. Nam si causae ipsae pro se loqui possent, nemo adhiberet oratorem; nunc adhibemur ut ea dicamus, non quae nostra auctoritate constituantur, sed quae ex re ipsa causaque ducantur. Vgl. auch Andersen 2001, S. 140-143; Neumeister 1964, S. 16-17; Braun 2003, S. 83-84. So postuliert die Theorie auch die Pflicht des Anwalts, das probabile in seiner Argumentation hervorzuheben; vgl. Cic. part. 5. „Wahrscheinlich“ ist aber vor allem das, was den Vorstellungsmustern der Zuhörer entspricht (vgl. Cic. part. 19; Cic. inv. 1,29; Rhet. Her. 1,16). Rhet. Her. 2,3-5; Quint. inst. 12,1,45; s.auch Cic. part. 34-35, 40; Quint. inst. 4,2,31; 4,2,52; Rhet. Her. 1,14; vgl. Alexander 2002, S. 9.
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1.3
Gründe für das Einbringen einer Klage
Die Pflichten des Verteidigers gehen also auch realiter auf seine soziale Position als Patron oder amicus zurück, wenngleich für die späte Republik eine seltsam anmutende Dichotomie zwischen grundlegendem Wandel im Verständnis des patrocinium und normativer Überhöhung traditioneller Funktionen konstatiert werden kann. Die Rollenübernahme ist in diesem Fall zwar einer moralischen Abstufung unterworfen, dadurch dass echte, von der Gesellschaft anerkannte Beziehungen präferiert werden, allerdings bietet sie auch – solange der Schein aufrechterhalten wird – einen viel größeren Spielraum als durch die strikte Terminologie impliziert. Im Gegenzug treten die klar geregelten, restriktiven Normen, denen die Anklage unterstand, sowohl in den Reden als auch in den zeitgenössischen Schriften deutlich zutage. Cicero kommt im De officiis darauf zu sprechen, wenn er im Kontext eines Katalogs der Anklägerpflichten die (wenigen) moralisch zulässigen Motive für das Einleiten eines Verfahrens dokumentiert.129 Es lassen sich dabei drei Umstände ermitteln, die das Vorgehen legitimieren können: Dieses muss entweder dem Staatsinteresse dienen, zum Schutz auswärtiger clientes eingeleitet werden oder Ausdruck einer rechtmäßigen Verfolgung persönlicher Feinde sein.130 Der Leitgedanke dieser Stelle ist jedoch von der Anklage rei publicae causa geprägt, der alle anderen Erwägungen untergeordnet zu sein scheinen. Selbst grundlegende Devianzen – wie z. B. wiederholtes Auftreten in der Rolle des accusator – ziehen gegenüber der Notwendigkeit, einen gegen den Staat agierenden Bürger vor Gericht zu stellen, den Kürzeren. Eine derart exklusivistische Sichtweise kann freilich schon aus Gründen der Logik nicht aufrechterhalten werden. Vielfach 129 130
Cic. off. 2,49-51. Vgl. auch David 1992, S. 172, 527; Thomas 1984, S. 68 simplifiziert dies, indem er sagt, es gebe nur zwei ehrenhafte Gründe, um anzuklagen: sich rächen oder dem Staatsinteresse dienen. Dagegen Brunt 1988b, S. 376, der auch noch den Wunsch nennt, sich einen Namen zu machen; ebenso Alexander 2002, S. 7. Allerdings ist das eher als Folge eines aus legitimen Gründen geführten Prozesses zu sehen und würde als alleinige Erwägung den sozialen Normen zuwiderlaufen. Das Gleiche gilt auch für die in Aussicht gestellten praemia; vgl. David 1992, S. 526-527.
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war man gezwungen, aus persönlicher Not Anklage zu erheben, selbst wenn keine unmittelbare Gefahr für den Staat bestand.131 Da in den quaestiones perpetuae jedoch die Grenzen des Öffentlichen und des Privaten fließend sind, soll auch die Frage, ob sich die Vorgaben Ciceros mit der Praxis in Einklang bringen lassen, erlaubt sein. Dabei kann der Schutz auswärtiger clientes außer Acht gelassen werden. Dieser ist sowohl näher an den Gedanken des Patronats zu rücken132 als auch des Öfteren deckungsgleich mit der Klage, die im Interesse der res publica eingeleitet wird.133 Für die Analyse der beiden anderen Motive sollen in einem ersten Schritt die Gründe für die jeweiligen Anklagen und insbesondere deren normative Bewertung ermittelt werden, um danach die theoretisch postulierte Hierarchie von Staatsinteresse und persönlicher Feindschaft auf ihre Anwendbarkeit in der rhetorischen Praxis hin überprüfen zu können.134 1.3.1 Inimicitiae Die enge Verbindung, die im gesellschaftlichen Wissensvorrat zwischen Feindschaft und Anklage bestand, wird nicht zuletzt durch das Vokabular, mit dem Letztere von den Zeitgenossen selbst umschrieben wurde, reflektiert. Neben die offizielle Bezeichnung des nomen deferre treten dabei mehr oder weniger umgangssprachlich des Öfteren die Verben vindicare oder ulcisci, die auf die damit verbundene Rachepflicht hindeuten.135 Viel häufiger jedoch sind die Konnotationen der Feindschaft
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So z. B. die gewiss übertriebene Gefahr, die Cluentius letztendlich zum Prozess gegen Oppianicus gezwungen haben soll; vgl. Cic. Cluent. 11: Anklage wegen „ruchloser Kränkungen“ (nefariis iniuriis), „täglicher Nachstellungen“ (cotidianis insidiis) und „augenscheinlicher Lebensgefahr“ (proposito ante oculos vitae periculo); ähnlich auch Cic. Cluent. 20, 42. Vgl. die Verbindungslinie, die Cicero zwischen diesen beiden zieht, und sein Auftreten als Patron der Sizilier in div. in Caec. 4-5 und 26. Vgl. Cic. div. in Caec. 63; s. auch Thomas 1984, S. 68. Für eine Liste der bekannten Anklagemotive in den Prozessen der mittleren und späten Republik vgl. David 1992, S. 212-223. Vgl. Thomas 1984, S. 68.
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anzutreffen.136 Ein wichtiges Argument in Ciceros Rosciana ist, dass Erucius offenkundig nicht mit dem jüngeren Roscius verfeindet sei, und somit auch nicht die normative Berechtigung, als Ankläger aufzutreten, vorweisen könne. In diesem Zusammenhang benutzt der Redner die gleiche Feindschaftsterminologie: Niemandem unter uns ist unbekannt, Erucius, dass du mit Sex. Roscius nicht verfeindet bist (tibi inimicitias cum Sex. Roscio nullas esse); alle sehen, weshalb du hier als sein Feind (inimicus) auftrittst.137
Dies wird auch dadurch begünstigt, dass der Begriff der inimicitiae, wie Joseph HELLEGOUARC’H gezeigt hat, nur bedingt als Antonym zur amicitia betrachtet werden kann. Im römischen Verständnis bezeichnet dieser weniger eine Empfindung als vielmehr einen aktiven Akt, ein öffentliches Ausleben dieser Gemütslage.138 Tatsächlich wurde schon die Anklage selbst als eine derjenigen Handlungen betrachtet, die unweigerlich zur Feindschaft führen mussten, sofern keine solche bereits vorher bestand.139 Das Evozieren von inimicitiae ist in fast allen hier behandelten Reden ein entscheidender Faktor für die Übernahme der Anklägerrolle. Selbst in den orationes, die diesen Aspekt nicht explizit thematisieren – so wie z. B. in der Miloniana, wo zwei junge Appii Claudii, Neffen des Clodius, die Klage eingereicht haben –,140 ist der persönliche Bezug zum Fall unübersehbar. Dagegen wird, wie das Beispiel des Erucius zeigt, das Fehlen dieses Beweggrundes dort, wo er nicht glaub136
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Zum Beispiel inimicitias suscipere; vgl. David 1997, S. 43; David 1992, S. 175. Zu den gesellschaftlich anerkannten Gründen, eine offene Feindschaft auf sich zu nehmen, vgl. Brunt 1988b, S. 370; Epstein 1987, S. 23-24; für die Synonymie von „Feind“ und „Ankläger“ s. auch Cic. Mil. 12. Cic. S. Rosc. 55: Nemo nostrum est, Eruci, quin sciat tibi inimicitias cum Sex. Roscio nullas esse; vident omnes qua de causa huic inimicus venias. Hellegouarc’h 1963, S. 128, 186; vgl. ebd., S. 187 für die Verwendung des Begriffs in unterschiedlichen Zusammenhängen, unter anderem auch im forensischen. Epstein 1987, S. 90-91; David 1992, S. 175; Steel 2006, S. 16; Brunt 1988b, S. 368. Ebd., S. 370 äußert der Autor die Vermutung, dass das Anstrengen von Klagen der wohl häufigste Grund für inimicitiae in der späten Republik war. Vgl. Asc. Mil. 34C, 38C.
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würdig vertreten werden kann, oft zum Anlass für vehemente Vorwürfe genommen. Angesichts der später ausführlich zu behandelnden Altersattribute des Anklägers war eine spezielle Ausprägung der Feindschaft für diese Rolle prädestiniert. Es handelt sich hierbei um das pietas-Gebot, das einem Sohn die Aufgabe erteilt, die von seinem Vater ererbten gesellschaftlichen Verpflichtungen weiterzuführen und familiäre inimicitiae vor Gericht zu bringen.141 So lässt sich die Vorgeschichte, die P. Sulla mit seinem accusator, L. Manlius Torquatus, verbindet, auf die Konsulwahlen für das Jahr 65 v. Chr. zurückführen, als der Angeklagte und sein Mitbewerber, P. Autronius Paetus, höchstwahrscheinlich durch Bestechung den Sieg davongetragen haben. Einer der unterlegenen Kandidaten war der gleichnamige Vater des späteren Anklägers. Infolgedessen brachte der jüngere Torquatus nicht nur die vis-Klage des Jahres 62 v. Chr. ein, aus der Ciceros Verteidigungsrede stammt, sondern er beteiligte sich bereits unmittelbar nach den Wahlen an einem ambitus-Prozess, der dafür gesorgt hat, dass Sulla das Amt gar nicht erst antreten konnte.142 Dieser Umstand sowie die Tatsache, dass der Vater des Klägers daraufhin die Konsulwürde erlangte,143 wirkten sich nicht nur auf den sozialen Status der ehemaligen Konkurrenten aus, sondern sie waren auch ein legitimer Grund für das Heraufbeschwören einer unerbittlichen Feindschaft, die fortan den gesellschaftlichen Umgang Sullas mit den beiden Torquati prägen sollte.144 141 142
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Vgl. Thomas 1984, S. 70 für eine Reihe von Beispielen aus der späten Republik. Berry 1996, S. 4, 230-231 spricht sich für Torquatus als Hauptkläger im früheren Prozess aus; dagegen ALEXANDER, Michael C., The Role of Torquatus the Younger in the Ambitus Prosecution of Sulla in 66 B.C., and Cicero De Finibus 2.62, CPh 94, 1999, S. 65-69; vgl. allgemein zu Sullas Biographie Berry 1996, S. 1-13. Vgl. dazu ebd., S. 4-8. Brunt 1988b, S. 370 weist darauf hin, dass eine offene Feindschaft eher selten war, nennt aber den Betrug beim Wettbewerb um politische Ämter als einen der rechtmäßigen Gründe, eine solche einzugehen. David 1992, S. 174-175 stellt dies in einen forensischen Kontext und zeigt, dass damit zwangsläufig eine Verbindung zwischen der Feindschaft des unterlegenen Kandidaten und der Klage wegen ambitus entsteht.
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Ebenso geht der Prozess, der gegen M. Caelius angestrengt worden ist, unmittelbar auf eine hereditäre Feindschaft zurück. Caelius war gerade dabei, den Vater des Klägers bereits zum zweiten Mal gerichtlich zu verfolgen, was eine juristische Gegenreaktion des Atratinus bewirkt hat.145 Besonders aussagekräftig ist die Caeliana dadurch, dass sie einen kausalen Zusammenhang zwischen diesen Ereignissen herstellt und die uneingeschränkt positive Bewertung der Handlungen Atratinus’ widerspiegelt. So erhält das ciceronische exordium einen anthropologischen Anstrich, indem es eine Hypothese in den Raum stellt, die den Zuhörern in vielerlei Hinsicht plausibel erscheinen musste: Gesetzt, es wäre jemand hier, ihr Richter, der unsere Gesetze, Verfahrensregeln und Gepflogenheiten nicht kennt: er würde sich bestimmt verwundert fragen, was an diesem Fall so schrecklich sei, weil ja trotz der Festtage und der öffentlichen Spiele – während auf dem Forum alle sonstige Rechtsprechung ruht – einzig und allein in dieser Sache eine Verhandlung stattfindet; […] wenn er dann vernähme, dass hier keine Untat, kein wüster Streich, kein Gewaltakt zur Verhandlung stehe, dass vielmehr ein vornehmer junger Mann, bekannt durch sein Talent, seine Strebsamkeit und sein Ansehen, von dem Sohne des Mannes angeklagt werde, den er selbst gerichtlich verfolgt habe und aufs Neue verfolge, und dass eine Dirne ihre ganze Macht gegen ihn aufbiete, dann würde er das Pflichtbewusstsein des Sohnes billigen […]146
Dem fiktiven fremden Zuschauer wird hier zwar die Unkenntnis der Gesetze und Gewohnheiten unterstellt, so dass ihm erst erklärt werden 145 146
Für die Identifizierung des Vaters Atratinus’ mit L. Calpurnius Bestia vgl. Austin 1960, S. 154-155, 157. Cic. Cael. 1: Si quis, iudices, forte nunc adsit ignarus legum, iudiciorum, consuetudinis nostrae, miretur profecto, quae sit tanta atrocitas huiusce causae, quod diebus festis ludisque publicis, omnibus forensibus negotiis intermissis unum hoc iudicium exerceatur […]; cum audiat nullum facinus, nullam audaciam, nullam vim in iudicium vocari, sed adulescentem illustri ingenio, industria, gratia accusari ab eius filio, quem ipse in iudicium et vocet et vocarit, oppugnari autem opibus meretriciis, illius pietatem non reprehendat […]; zu den ludi Megalenses vgl. BERNSTEIN, Frank, Ludi publici. Untersuchung zur Entstehung und Entwicklung der öffentlichen Spiele im republikanischen Rom, Stuttgart 1998, hier: S. 186-206.
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müsse, über welche Fälle selbst an Festtagen verhandelt werden darf, nichtsdestotrotz steht eine Missbilligung der aus Gründen der Pietät eingebrachten Klage nicht zur Debatte. Kulturübergreifend – und gewissermaßen ethnozentristisch – impliziert der Redner eine positive Sanktionierung des Verhaltens Atratinus’. So postuliert Cicero eine Universalität der Norm, die als Ausdruck einer tief verwurzelten gesellschaftlichen Überzeugung angesehen werden darf. Das aktive Betreiben einer familiären Feindschaft in allen Lebenslagen gehörte zu den wichtigsten Anforderungen an einen römischen Sohn147 und sie manifestierte sich vornehmlich im forensischen Kontext.148 Die Jugend des Anklägers, gepaart mit den Grundsätzen einer aus Motiven der inimicitiae eingebrachten Klage führten zu einem normativ geregelten Bild des pietätvollen accusator, der nicht nur die Erlaubnis, sondern sogar das Lob der Gesellschaft für seine Haltung gewinnen musste.149 Bemerkenswert ist, dass dieses Vorgehen selbst dann nicht auf Kritik stößt, wenn sich der Verteidiger bemüht, die Vorwürfe als offenkundig falsch zu entlarven. In der Rede für Caelius trennt Cicero den Hauptkläger dezidiert von den Nebenklägern, L. Herennius Balbus und P. Clodius, ausschließlich aufgrund der Motivation, die diese angetrieben haben soll: Ich habe immerhin Verständnis für meinen Freund lauteren Charakter und vortrefflichen jungen Mann: Pflichtbewusstsein oder Zwang oder sein Alter. […] hingegen kann man keinerlei Verständnis aufbringen vielmehr mit Entschiedenheit zurückweisen.150 147 148 149
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Atratinus, einen ihn entschuldigt Für die anderen – die muss man
Vgl. Hinard 1980, S. 206-207; Epstein 1987, S. 43-44. Ebd., S. 93; Flaig 2003, S. 148; vgl. auch David 2009b, S. 511, 515. Vgl. David 1992, S. 186; Eyben 1993, S. 80. Thomas 1984, S. 80 zeigt, dass nach der sullanischen Neuordnung fast ausschließlich Verwandte der Opfer geklagt haben; vgl. dazu die Liste von Klagen in der späten Republik und im frühen Principat ebd., S. 81-82. Val. Max. 5,4,4 lobt die pietas des M. Cotta, der noch am selben Tag, als er die Männertoga angezogen hat, Cn. Carbo, den Feind seines Vaters, vor Gericht stellte. Insbesondere werden bei Valerius Maximus die guten Anlagen, die der Jugendliche dadurch gezeigt hat, hervorgehoben. Cic. Cael. 2: Sed ego Atratino, humanissimo atque optimo adulescenti, meo necessario, ignosco, qui habet excusationem vel pietatis vel necessitatis vel
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Immerhin versucht er (mehr oder weniger subtil) Atratinus ebenfalls deviante Motive zu unterstellen, um die ethische Autorität seiner Anklage zu unterminieren. Zu diesem Zweck spielt der Redner auf die Möglichkeit an, dass praemia ebenso eine Rolle in seinen Erwägungen gespielt hätten wie auch die Ermutigung durch die rachsüchtige Clodia.151 All dies verrät jedoch die Probleme, mit denen Cicero angesichts eines im Namen der pietas klagenden Sohnes zu kämpfen hatte. Die Akzeptanz der Hörer war Atratinus sicher und der Patron musste in seiner Rede das Verhalten des Anklägers ebenfalls gutheißen, um sich nicht seinerseits negativen Sanktionen auszusetzen.152 So erklärt sich auch, dass der Redner, selbst wenn er seinen Gegner kritisiert, dessen Motivation für die Rollenübernahme unter diesen Umständen nicht infrage stellt.153
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aetatis […]. Ceteris non modo nihil ignoscendum, sed etiam acriter est resistendum. In Mur. 56 nimmt Cicero eine ähnliche Bewertung vor, die die Bedeutung der Feindschaft noch deutlicher hervorhebt. Die Unaufrichtigkeit der Nebenkläger wird dadurch unterstrichen, dass sie – im Gegensatz zum Hauptkläger Ser. Sulpicius Rufus und entgegen der Norm – nicht als inimici vor Gericht erschienen seien, sondern erst durch die Anklage eine Feindschaft heraufbeschwörten: Quae cum sunt gravia, iudices, tum illud acerbissimum est quod habet eos accusatores, non qui odio inimicitiarum ad accusandum, sed qui studio accusandi ad inimicitias descenderint; vgl. Adamietz 1989, S. 197; vgl. auch Cic. Flacc. 2: Etenim cum a clarissimis viris iustissimas inimicitias saepe cum bene meritis civibus depositas esse vidissem, non sum arbitratus quemquam amicum rei publicae, postea quam L. Flacci amor in patriam perspectus esset, novas huic inimicitias nulla accepta iniuria denuntiaturum. Cic. Cael. 2. Vgl. Classen 1973, S. 69; Hinard 1980, S. 203; David 1992, S. 557-558. Vgl. dazu Thomas 1984, S. 69; s. auch David 1992, S. 185 für die quasireligiöse Komponente der Anklage als Racheakt: „La condamnation de l’ennemi du père était conçue comme une sorte de sacrifice funèbre, sinon comparable, du moins analogue à certaines de ces exécutions, véritables sacrifices humains, où, du temps des guerres civiles, l’on tuait l’adversaire sur la tombe de celui que l’on voulait venger“. Ähnlich zurückhaltend begegnet Cicero auch dem jungen Oppianicus, der, wenngleich er nicht persönlich gesprochen hatte, die Anklage tacita pietate unterstützte (Cic. Cluent. 65); vgl. auch Cluent. 10; für eine vergleichbare Vorgehensweise s. auch Cic. Mur. 43-46.
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Folglich scheinen inimicitiae, die aufgrund der dem Ankläger innewohnenden Rollenattribute des Öfteren zum Ausdruck der pietas werden, eine derart starke Stellung innerhalb des normativen Verständnisses eingenommen zu haben, dass sie auch ohne weitere Erklärungen ausreichend waren, um die moralische Konformität des Rollenträgers unter Beweis zu stellen.154 Die Feindschaft war im römischen Verhaltenskodex eine auch durch rituelle Formen geregelte, legitime Methode der Austragung persönlicher und politischer Differenzen, so dass sie sich per definitionem dafür eignen musste, die rechtliche Überprüfung eines Mitglieds der Gesellschaft einzuleiten.155 Der Rachewunsch des Anklägers war sozial akzeptiert und er wurde in diesem Kontext zu „sinn“vollen, staatsdienlichen Zwecken eingesetzt.156 Bevor jedoch versucht werden soll, den kulturellen Zusammenhang der Norm zu ermitteln, muss der Frage nach der Relevanz der Staatsraison für die hier untersuchten Anklagen nachgegangen werden.
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In Cic. off. 1,20 wird die Vorschrift, niemandem zu schaden, zu den Aufgaben der Gerechtigkeit gezählt, zugleich aber auch eine Einschränkung vorgenommen: nisi lacessitus iniuria. Das Fehlen von iustae inimicitiae wird auch an den Anklägern des Rabirius kritisiert (Cic. Rab. perd. 2). Im Gegenzug sagt Quintilian, dass man als Verteidiger die Sympathie der Richter gewinnt, wenn man beweisen kann, dass die Feindschaft auf eine ehrenhafte Tat des Angeklagten zurückgeht (inst. 6,1,22). Zu den „rituellen Akte[n] vor der Rache“ vgl. Flaig 2003, S. 137-140; s. auch Epstein 1987, S. 97; vgl. ebenfalls die öffentliche und unter Beachtung der rituellen Vorschriften vorgenommene Androhung einer Klage gegen Oppianicus in Cic. Cluent. 23-24. Die Feindschaft bildet ebenso ein Hauptmotiv des Anklägers in den attischen Prozessen; vgl. dazu RHODES, Peter J., Enmity in fourth-century Athens, in: Cartledge, Paul u. a. (Hrsgg.), Kosmos. Essays in order, conflict and community in classical Athens, Cambridge 1998, S. 144-161; TODD, Stephen, The rhetoric of enmity in the Attic orators, in: Cartledge, Paul u. a. (Hrsgg.), Kosmos. Essays in order, conflict and community in classical Athens, Cambridge 1998, S. 162-169; KURIHARA, Asako, Personal Enmity as a Motivation in Forensic Speeches, CQ 53, 2003, S. 464-477; ALWINE, Andrew T., Enmity and Feuding in Classical Athens, Austin 2015. David 1992, S. 174 weist auch darauf hin, dass der Anklagepunkt nicht zwangsläufig der Hauptgrund für die Feindschaft sein musste.
132
1.3.2 Die Anklage rei publicae causa und eine pragmatische Hierarchie Das einzige Verfahren innerhalb des Corpus der Mord- und Gewaltprozessreden, in dem langjährige persönliche Feindschaften weder für das Einbringen der Klage von Bedeutung waren noch angesprochen werden, entstammt dem Prozess gegen P. Sestius. Ein gewisser M. Tullius soll hier ursprünglich die Übernahme der Anklägerrolle angestrebt haben, um letzten Endes zugunsten von P. Albinovanus und T. Claudius zu verzichten oder von diesen im Vorverfahren der divinatio ausgestochen zu werden.157 Ein Umstand verbietet es jedoch, diese Rede für den mentalitätsgeschichtlichen Gegensatz zwischen Feindschaft und Staatsinteresse heranzuziehen. In einem Brief an seinen Bruder Quintus berichtet Cicero von den Umwälzungen, die diesem Prozess vorausgegangen waren, und die dazu führten, dass die Straßenkämpfe des 7. Februar 56 v. Chr. durch einen Senatsbeschluss als contra rem publicam deklariert wurden.158 Die Staatsraison war folglich auch offiziell von dem darauffolgenden Prozess betroffen, so dass dies zu den wenigen Ausnahmen gehört, in denen eine unmittelbare Gefährdung der res publica gar nicht erst plausibel gemacht werden musste. Aus diesem Grund erweist es sich als wesentlich ergiebiger, die Aussagen Ciceros zur Bedeutung des Staatsinteresses denjenigen Reden zu entnehmen, die dieses in einen direkten Bezug zu den inimicitiae stellen. Dabei sticht eine Kritik hervor, die der Redner im Zuge der Einschätzung des Verhaltens Torquatus’ vorbringt. Cicero wirft diesem nämlich vor, in seiner Rolle als Ankläger nicht erkannt zu haben, was die Logik dieser Position erfordert,159 und präzisiert an späterer Stelle auch, was damit gemeint sei: Doch das muss ich am schärfsten rügen, dass du bei deiner Begabung und Klugheit nicht die Sache des Staates verfichst, dass du glaubst, die einfachen Leute in Rom seien nicht mit dem einverstanden, was alle
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Vgl. Kaster 2006, S. 14-22 für die Umstände der Klage und die ansonsten nur schwer einzuordnenden Personen; s. auch Cic. ad Q. fr. 2,3. Cic. ad Q. fr. 2,3,3. Cic. Sull. 31.
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Rechtschaffenen während meines Konsulats für das öffentliche Wohl getan haben.160
Die vermeintliche Nichtbeachtung der Staatsraison führt offensichtlich dazu, dass dem Ankläger eine Devianz bei der Rollenübernahme attestiert wird, obwohl eine Feindschaft zum Angeklagten bestand. Die Konvergenz der Motivationen, die hier postuliert wird, belegt die (theoretische) Prävalenz der Anklage rei publicae causa, in der sich höchstwahrscheinlich das idealisierte Bild des spätrepublikanischen Anklägers manifestiert. Das praktische Verhältnis der Motive zueinander wird jedoch im Zuge des Vorverfahrens gegen Caecilius und in den Verres-Reden evident. Um die Rechtmäßigkeit seines Anliegens unter Beweis zu stellen, beruft sich Cicero im Laufe der divinatio auf die staatstragende Bedeutung der Klage161 und – passend zum Repetundenverfahren – auf die Tatsache, dass er von den Siziliern als Patron auserkoren worden war.162 Für die Entkräftung der Argumente Caecilius’ jedoch wendet der orator einen Großteil seiner Rede auf die Feindschaftsthematik auf. Dass die Anklage rei publicae causa vorgezogen werden müsse, bildet dabei einen eher sekundären Beweisgrund,163 viel ausführlicher erhebt Cicero dagegen den Vorwurf, Caecilius sei entweder gar nicht mit Verres verfeindet164 oder er hätte sich mit diesem bereits ausgesöhnt.165 Dass selbst 160
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Cic. Sull. 32: Sed reprehendo tamen illud maxime quod isto ingenio et prudentia praeditus causam rei publicae non tenes, qui arbitrere plebi Romanae res eas non probari quas me consule omnes boni pro communi salute gesserunt; für die theoretische Überlegenheit des Staatsinteresses bei einer Klage vgl. auch Quint. inst. 4,1,7; 12,7,1; s. auch Neumeister 1964, S. 39; Poiret 1886, S. 186. Cic. div. in Caec. 6-9. Cic. div. in Caec. 2-3, 6, 11. Cic. div. in Caec. 54, 71. Cic. div. in Caec. 12-13, 52-60. Cic. div. in Caec. 29, 58. Die zwei wichtigsten Erwägungen bei der Auswahl des Anklägers in einem Repetundenprozess sind laut Cicero: (1) wen sich die Geschädigten wünschen und (2) wen sich der Angeklagte am wenigsten wünscht (div. in Caec. 10). An späterer Stelle wird Caecilius freilich als derjenige vorgestellt, von dem Verres am ehesten angeklagt werden möchte (div. in Caec. 22-23). Der zweite Punkt offenbart jedoch zugleich den hohen
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der Patron der Kläger in einem Repetundenprozess einen berechtigten Rachewunsch vorweisen müsse, belegt nicht zuletzt die Entgegnung Ciceros auf den – möglicherweise fiktiven – Vorwurf des Hortensius, er würde nicht als Folge einer Feindschaft Klage erheben: Und bei diesem Menschen fragst du mich immerzu, Hortensius, welche Feindschaft oder Kränkung mich bestimmt habe, ihn anzuklagen?166
Für die ambivalente Stellung des Motivs bietet wiederum die Sestiana eine mögliche Erklärung. In der Darstellung des Kampfes gegen Clodius rekurriert Cicero auf das Verhalten Milos, der zu dieser Zeit scheinbar noch keine offene Feindschaft zum ehemaligen Volkstribunen unterhielt. In diesem Kontext erwähnt der Redner eine Klage seines späteren Klienten und lobt ausdrücklich den Umstand, dass diese weder durch Feindschaft noch durch Belohnungen motiviert wurde: Er erhob Anklage. Wer hat das je so strikt um des Staatswohles willen getan, ohne dass Feindschaften oder Belohnungen ihn veranlassten, ohne dass die Leute ihn drängten oder auch nur glaubten, er werde es je tun?167
Die Besonderheit eines ausschließlich rei publicae causa eingeleiteten Verfahrens sowie die Bewunderung, mit der Cicero darüber spricht, sind angesichts der Theorie überraschend. Das Verhalten Milos als lobenswerte Ausnahme lässt sich aber erklären, wenn wir uns die Probleme dieser Begründung vergegenwärtigen. Eine Gefahr für das Staatswesen anzuführen stellt ebenfalls eine subjektive Interpretation desjenigen dar, der die Initiative ergreift, da solche Bedrohungen freilich nur selten die Ausmaße einer Catilinarischen Verschwörung angenommen haben –
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Stellenwert der Feindschaft. Zu den Fragen, die im Laufe einer divinatio gestellt werden müssten, vgl. Quint. inst. 7,4,34: Frequentissimae tamen hae sunt quaestiones, uter maiores causa habeat, uter plus industriae aut virium sit allaturus ad accusandum, uter id fide meliore facturus. Cic. Verr. 2,3,6: Et in hoc homine saepe a me quaeris, Hortensi, quibus inimicitiis aut qua iniuria adductus ad accusandum descenderim? Cic. Sest. 89: Descendit ad accusandum. Quis umquam tam proprie rei publicae causa, nullis inimicitiis, nullis praemiis, nulla hominum postulatione aut etiam opinione id eum umquam esse facturum?
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oder, wie im Falle des Prozesses gegen Sestius, ausdrücklich vom Senat als solche benannt wurden.168 Somit wäre auch dem Brauch Tür und Tor geöffnet worden, dass sich unter dem Deckmantel einer rühmlichen Motivation eine quasi-professionelle Anklägergilde herausbildet, durch die Bürger in Bedrängnis gebracht werden.169 Ein weiteres Problem ergibt sich aus den Konsequenzen eines juristischen Vorgehens. Da man sich dadurch zwangsläufig auf eine langwierige und gefährliche Feindschaft einlassen musste, war die Anklage verständlicherweise kaum attraktiv. Zudem betrafen die Folgen der Anklageerhebung nicht nur die anvisierte Person, sondern auch deren Freundes- und Familienkreis, wodurch sich der accusator zukünftig in einem nicht unerheblichen Maße exponiert hätte.170 Um glaubwürdig zu sein, verlangte ein ausschließlich im Staatsinteresse geführter Prozess nicht zuletzt nach einem tadellosen Lebenswandel, der imstande war, die nötige moralische Autorität zu verleihen.171 Tatsächlich können die praemia, die in manchen Fällen bei erfolgreicher Prozessführung in Aussicht gestellt wurden, als Folge eines Mangels an bereitwilligen An168
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Eine solche Begründung birgt deshalb die nicht zu unterschätzende Gefahr in sich, vom Gegenanwalt ins Lächerliche gezogen zu werden; vgl. Cic. Mur. 78: At enim te ad accusandum res publica adduxit. Credo, Cato, te isto animo atque ea opinione venisse. Dieses Bild zeichnet Cicero auch im Falle des Erucius, der sich höchstwahrscheinlich für die Anklage gegen Roscius – in Ermangelung persönlicher Motive – ebenfalls auf die Gefahr für die res publica berufen hatte. Darauf deutet auch die Entgegnung des Verteidigers in Cic. S. Rosc 80 hin, wo explizit auf eine Ausführung des Anklägers, in der er den Zustand des Staatswesens beklagt, eingegangen wird; vgl. auch David 2009a, S. 75, der für die späte Republik die ausufernde Praxis, sich professionelle Ankläger zu beschaffen, nachweist. Vgl. David 1992, S. 176; David 1997, S. 33-34, 43; David 2009b, S. 520. Die Kritik an den unehrenhaften Gründen, die jemanden dazu verleiten, nicht gegen eine Ungerechtigkeit vorzugehen, verbindet Cicero auch mit dem Wunsch, keine Feindschaft auf sich zu nehmen (vgl. off. 1,28). Cic. Verr. 2,3,1-2. In Cic. div. in Caec. 71 erscheint die Anklage rei publicae causa auch deswegen als lobenswert, weil ein Redner dadurch seine Reputation aufs Spiel setzt, was zweifelsohne als Ausdruck einer besonderen Begutachtung seines Charakters durch die Gemeinschaft verstanden werden muss.
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klägern angesehen werden.172 So ist die Erkenntnis naheliegend, dass für diese Rolle verstärkt Personen infrage kamen, die bereits einen legitimen Rachewunsch hegten und darüber hinaus eventuelle Konsequenzen – da ja bereits vorhanden – nicht befürchten mussten.173 1.4
Die Devianzen des Anklägers
1.4.1 Unerwünschte Folgen der Feindschaft Im Umkehrschluss müssten also sämtliche Klagen als deviant betrachtet werden, die weder das Ergebnis einer persönlichen Feindschaft waren noch aus Gründen der Staatsraison erhoben worden sind. Allerdings durften gewisse Verhaltensregeln, die dem römischen Konzept der inimicitiae inhärent waren, selbst in diesen Fällen nicht außer Acht gelassen werden. Eine gesellschaftlich normierte Feindschaft konnte dem Ausleben dieses Gefühls selbstverständlich keinen freien Lauf lassen, sondern musste auch dafür sorgen, dass es in geordnete Bahnen gelenkt wird.174 Daher bemühte man sich stets um eine Aussöhnung der inimici, die spätestens dann eintreten sollte, wenn der berechtigte Rachewunsch befriedigt war.175 Eine unangemessene Vehemenz in der Verfolgung von 172
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David 1997, S. 34; für eine Uneinheitlichkeit der praemia, die überdies nicht für alle Verfahren gegolten haben sollen, hat sich ALEXANDER, Michael C., Praemia in the Quaestiones of the Late Republic, CPh 80, 1995, S. 20-32 ausgesprochen. Vgl. David 1992, S. 497. Epstein 1987, S. 4 weist darauf hin, dass eine nicht geregelte Feindschaft ein Höchstmaß an Chaos nach sich gezogen hätte, so dass sie einer Billigung durch die Gesellschaft bedurfte: „Otherwise he [scil.: the enemy] was no better than a gladiator“; vgl. auch David 2009b, S. 513. Flaig 2005, S. 209 zeigt, dass Feindschaften beigelegt werden mussten, wenn diese den Interessen der res publica zuwiderliefen. Den gesellschaftlichen Druck, in diesen Fällen auf inimicitiae zu verzichten, belegt die Aussöhnung zwischen Lepidus und Flaccus als sie zu Kollegen im Zensorenamt gewählt wurden (Val. Max. 4,2,1; Gell. 12,8,5-6); vgl. auch Val. Max. 4,1,8; zu den rituellen Formen, eine Feindschaft beizulegen, vgl. Flaig 2003, S. 151-154.
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Feindschaften, die über das Maß des ursprünglichen Unrechts hinausging, widersprach ihrerseits den gesellschaftlichen Grundsätzen, so dass es nicht verwundert, dass die moderatio zu einem eminent wichtigen Schlagwort in diesem Zusammenhang wurde.176 Vor diesem Hintergrund entwickeln sich die häufig pathetischen Appelle Ciceros, der von den Anklägern wiederholte Male fordert, sie mögen sich mit dem Unglück seines Klienten zufriedengeben und die Feindschaft nicht unverhältnismäßig scharf betreiben, zu expliziten Hinweisen auf eine normwidrige Form ansonsten legitimer inimicitiae.177 Ebenso lässt sich dadurch die Devianz des Torquatus besser verstehen. Dieser hatte sich prinzipiell normkonform verhalten, er stößt aber im Gegensatz zu Atratinus auf eine harte Kritik Ciceros. Ein Grund dafür sind die unterschiedlichen Umstände der Feindschaft, vor allem die bereits erfolgte Verurteilung Sullas. Schon in der Einleitung seiner Rede macht der Verteidiger klar, dass sein Gegenspieler hier die Grenzen des Erlaubten übertreten hat und weist explizit auf die Regeln der inimicitiae hin.178 Mit vorgespielter Nachsicht belehrt Cicero seinen Gegenredner, dass die sozialen Gepflogenheiten von diesem verlangt hätten, die Feindschaft beizulegen, und stellt dem komparativ das eige-
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Epstein 1987, S. 25-26. Vgl. z. B. Cic. S. Rosc. 7, 32, 144-145, 150; Cic. Sull. 1, 50, 90; Cic. Cael. 78; Cic. Mil. 6. Außerdem sollte die Rolle des Feindes dem Ankläger vorbehalten sein, wodurch die postulierte Feindschaft derjenigen, die sich hinter der Anklage verbergen und diese befeuern, ebenfalls als Ausdruck einer solchen Devianz betrachtet werden muss – so z. B. die der Clodia in der Caeliana (Cael. 1, 20, 31, 55, 75). Dieser Eindruck wird freilich verstärkt, wenn die Hintermänner der Anklage als inimici des Mordopfers, das sie rächen müssten, dargestellt werden (S. Rosc. 17, 19, 30, 87-88, 152) oder wenn es sich, wie in der Cluentiana, um die Mutter des Angeklagten handelt (Cluent. 18, 44, 190). Cic. Sull. 1: Sed quoniam ita tulit casus infestus ut in amplissimo honore cum communi ambitionis invidia tum singulari Autroni odio everteretur, et in his pristinae fortunae reliquiis miseris et adflictis tamen haberet quosdam quorum animos ne supplicio quidem suo satiare posset; vgl. auch Sull. 90 mit dem Hinweis, dass der frühere ambitus-Prozess die Feindschaft hätte beenden müssen. Umgekehrt ist zu vermuten, dass ein ähnlicher Vorwurf auch gegen Caelius’ Anklagen vorgebracht wurde (vgl. Cic. Cael. 16).
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ne – von Torquatus getadelte – Verhalten entgegen, um die moralische Präeminenz seiner Handlungen zu untermauern: Und wenn du abwägen wolltest, ob mir mein Verhalten zwingender auferlegt war als deines, dann könntest du feststellen, dass du ehrenvoller deiner Feindschaft ein Maß setzen durftest als ich meiner Menschlichkeit.179
Daneben gibt es freilich auch weitere Vorgaben, die sich sowohl aus der rhetorischen und ethischen Theorie als auch aus der Praxis der Gerichtsreden erschließen lassen. Da uns dafür hauptsächlich die Verteidigungsreden Ciceros zur Verfügung stehen, ist verständlicherweise das Fehlverhalten der Ankläger ein wiederkehrendes Thema in allen orationes. Dieses Fehlverhalten betrifft jedoch in erster Linie „Begleiterscheinungen“ der Anklage – wie z. B. den Vorwurf, die Kläger würden sich auf die unerlaubte und gut verhüllte gratia und potentia ihrer Hintermänner stützen – und soll an späterer Stelle diskutiert werden. Hinsichtlich der Motive, die eine Anklage legitimieren, verdient ein anderer Aspekt Beachtung. Ein Unterschied zur Verteidigertätigkeit besteht nämlich darin, dass man es als accusator vermeiden soll, Unschuldige vor Gericht zu bringen, während dem Patron auch die Fürsprache für Klienten, die sich leichterer Verfehlungen schuldig gemacht haben, zugestanden wird.180 Betrachtet man jedoch das Bild der Anklage, das 179
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Cic. Sull. 48: Ac si considerare coeperis utrum magis mihi hoc necesse fuerit facere an istud tibi, intelleges honestius te inimicitiarum modum statuere potuisse quam me humanitatis. Dass dies den gesellschaftlichen Spielregeln entsprach, belegt auch eine Stelle aus seinem De officiis: Sunt autem quaedam officia etiam adversus eos servanda, a quibus iniuriam acceperis. Est enim ulciscendi et puniendi modus (off. 1,34). Bezeichnend ist die Ambivalenz der diligentia, die, auf den Ankläger bezogen, auch zum Schlagwort dafür werden kann, dass er um jeden Preis den Angeklagten belasten möchte (Cic. Quinct. 9); vgl. auch Classen 2000, S. 79-80. Brunt 1988b, S. 373; vgl. Cic. off. 2,51; s. auch Val. Max. 8,1,7(absol.): Der Ädil C. Valerius, der als Ankläger gegen Q. Fabius fungierte, soll – noch bevor alle tribus abstimmen konnten – angemerkt haben, dass es ihn nicht interessiere, ob sein Feind zu Recht verurteilt werde oder nicht. Daraufhin erhielt der Angeklagte sämtliche noch ausstehenden Stimmen, so dass er letztendlich freigesprochen wurde.
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Cicero in seiner Rosciana zeichnet, scheinen sich praktische Gründe auch auf die Sanktionsbereitschaft der Gesellschaft diesbezüglich ausgewirkt zu haben: Es ist nützlich, dass es viele Ankläger in der Bürgerschaft gibt, damit Furcht die Verwegenheit zügelt […]. Jemand ist rechtschaffen, indes, obwohl er sich nichts hat zuschulden kommen lassen, er ist nicht frei von Verdacht: es mag bedauerlich sein; ich habe trotzdem irgendwie Verständnis für den Mann, der ihn anklagt. Denn er hat Gesichtspunkte, die er nennen kann, um anzuschuldigen und Argwohn hervorzurufen.181
Im Folgenden heißt es: […] Denn einen Unschuldigen kann man, wenn er angeklagt wird, freisprechen, doch einen Schuldigen kann man, wenn er nicht angeklagt wird, nicht verurteilen; es ist aber weniger schädlich, einen Unschuldigen freizusprechen als einen Schuldigen nicht zur Rechenschaft zu ziehen.182
Der Gedanke, auf dem die letzte Passage beruht, ist vielsagend. Vertraut die Gesellschaft darauf, dass die Unschuld eines Angeklagten ans Licht kommen würde, so muss dies zwangsläufig dazu führen, dass eine bloße Vermutung ausreicht, um seinen inimicus gerichtlich zu verfolgen. Diese zweifellos gesellschaftlich geteilte Vorstellung geht mit einer gesteigerten Akzeptanz einher, die der accusator selbst bei weniger fundierten Anklagen genoss, sofern er den Schein einer berechtigten Mutmaßung wahren konnte. Dementsprechend ist auch der Anklage zugestanden worden, selbst bei einem noch so geringen Verdacht aktiv zu werden.183 181
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Cic. S. Rosc. 55: Accusatores multos esse in civitate utile est, ut metu contineatur audacia […] Innocens est quispiam, verum tamen, quamquam abest a culpa, suspicione tamen non caret; tametsi miserum est, tamen ei, qui hunc accuset, possim aliquo modo ignoscere. Cum enim aliquid habeat, quod possit criminose ac suspiciose dicere […] Cic. S. Rosc. 56: […] quod innocens, si accusatus sit, absolvi potest, nocens, nisi accusatus fuerit, condemnari non potest; utilius est autem absolvi innocentem quam nocentem causam non dicere. Das Fehlen eines solchen Verdachtsmoments kritisiert Cicero in der Caeliana – trotz scheinbarer Feindschaft – an dem Nebenkläger, L. Herennius
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1.4.2 Akkusatorische Iterationen Entstammt die Vorgabe, die Grenzen der Feindschaft zu beachten, noch dem gesellschaftlichen Miteinander, so ist die zweite Devianz eine genuin forensische. Theorie und Praxis sind sich über das Verbot, mehrfach anzuklagen, einig.184 Analog zur Entwicklung des Gerichtspatronats hat Jean-Michel DAVID versucht, auch die Hintergründe dieser Vorschrift nachzuzeichnen. So waren in der mittleren Republik die Gerichtsverhandlungen noch von identischen Rollenbildern geprägt, die darauf zurückgehen, dass auf beiden Seiten „echte“ patroni für ihre Klienten eintraten. Folglich waren weder Alters- noch Statusunterschiede in der juristischen Auseinandersetzung ausschlaggebend.185 Den schlechten Ruf der Anklage führt der Autor auf die Zeit zwischen 110 und 80 v. Chr. zurück, als vermehrt vonseiten der gleichen – zumeist nichtsenatorischen – Bürger Prozesse angestrengt wurden, was sich letztendlich zu einer Herausforderung für die res publica entwickelte.186 Laut DAVID waren es die berühmten Redner C. Iulius Caesar Strabo und L. Licinius Crassus, die (kraft ihrer Autorität) der Norm, lediglich als junger nobilis – d. h. vor dem Erreichen des prätorischen Ranges – anzuklagen, zum Durchbruch verhalfen.187 Nach einem kurzzeitigen Verschwinden des „berufsmäßigen“ Anklägertums soll in den 60er Jahren das Phänomen verstärkt zugenommen haben, was DAVID mit einem Verlust des normativen Wertes der Anklage begründet.188 Dies ließe sich vor allem mit dem Interesse der mächtigen Persönlichkeiten der späten Republik erklären, parallel zum oben erwähnten Einfluss auf die patroni auch die Ankläger dazu zu benutzen, politische Differenzen aus dem Hintergrund und mithilfe rechtlich legitimierter Entscheidungsträger
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Balbus: Quin etiam L. Herennium dicere audistis verbo se molestum non futurum fuisse Caelio, nisi iterum eadem de re suo familiari absoluto nomen hic detulisset (Cael. 56). Cic. off. 2,50; Cic. Brut. 130; vgl. auch Brunt 1988b, S. 372; David 1992, S. 528; Alexander 2002, S. 7. Vgl. David 1992, S. 528-530. Ebd., S. 533-535. Vgl. ebd., S. 535-536, 540-541. Ebd., S. 543-545.
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auszufechten.189 Die Eindämmung der akkusatorischen Tätigkeit sei somit eine Folge des Wunsches, die unkontrollierbare Spirale von Klagen und Gegenklagen, zu denen die Akteure auch durch die Forderungen der Feindschaft gezwungen waren, in den Griff zu bekommen.190 Jene Zustände, die für die erste Hälfte der späten Republik von DAVID festgestellt wurden, spiegeln sich in Ciceros Angriff auf Erucius wider:191 Was meinst du, welchen Eifer und welche Sachkunde gerade unser Sextus Roscius in Dingen der Landwirtschaft zeigt? Wie ich von seinen Verwandten, sehr angesehenen Leuten, erfahre, verstehst du dich nicht besser auf dein Anklägergewerbe als er auf das seine.192
Das studium, das Erucius in seinem artificium an den Tag legt, entlarvt ihn als einen professionellen Ankläger, der von (ironisch) als „angesehene Leute“ betitelten Personen beauftragt wurde, den unschuldigen Sex. Roscius ins Unglück zu stürzen. Für den Ruf eines Bürgers konnte der Vorwurf des accusator gravierende Folgen haben.193 So ist Cicero nicht nur in der Caeliana sichtlich bemüht, diesen Einwand zu entkräften, sondern gleichermaßen in der Rede für Cluentius. Die Prozesse, die sein Klient gegen Skamander, Fabricius und zu guter Letzt gegen Oppianicus geführt hatte, werden ausnahmslos durch die Vorgeschichte legitimiert, so dass wir – wüssten wir nicht, dass Cicero sparsam mit der Wahrheit umgegangen ist –194 diese uneingeschränkt gutheißen könnten. Dies scheint nicht ganz auf die Hörer Ciceros zuzutreffen, weshalb der Redner explizit erwähnen muss, dass jene Anklagen weder einem animus accusatorius noch dem Verlangen nach Ruhm (gloria) geschuldet
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Vgl. ebd., S. 546-547; David 2009a, S. 75. Vgl. David 1992, S. 175-176, 187-188. Vgl. ebd., S. 542; Pötter 1967, S. 33-34. Cic. S. Rosc. 49: Quid censes hunc ipsum Sex. Roscium quo studio et qua intellegentia esse in rusticis rebus? Ut ex his propinquis eius, hominibus honestissimis, audio, non tu in isto artificio accusatorio callidior es quam hic in suo; vgl. auch Cic. S. Rosc. 28, 30, 54, 58. Vgl. Cic. off. 2,50. Quint. inst. 2,17,21.
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waren.195 Eine weitere Analogie zum Patronat wird darin evident, dass jenes moralische Verbot akkusatorischer Iterationen in einem einzigen Fall aufgehoben wurde. So wie ein Verteidiger allein von der Staatsraison abgehalten werden solle, einem cliens oder amicus beizustehen, so ist es auch im Gegenzug lediglich das gefährdete Wohl der res publica, das es einem Ankläger erlaubt, die Norm zu übertreten.196 1.5
Der Sinn der Rollenübernahme: ein Interpretationsversuch
1.5.1 Der Sinn der Anklägerrolle Die pragmatischen Gründe, die für eine faktische Vorrangstellung der Feindschaftsidee sprechen, können diese jedoch nur zum Teil erklären. Die konkurrierenden Motivationen, die sich in den oben besprochenen Reden offenbaren, vermitteln einen Eindruck von der normativen Unverzichtbarkeit der inimicitiae. Darüber hinaus wird die Klage im Staatsinteresse auch sprachlich vom Konzept der Feindschaft überlagert, das über die persönliche Konnotation hinaus den „Staatsfeind“ benennen konnte, dem jeder pflichtbewusste Bürger Widerstand zu leisten hatte.197 So begründet Cicero sein Auftreten in den Verrinen mit dem Argument, dass ein Staatsfeind, gleichsam als Feind aller Römer, jeden Ankläger legitimieren würde, gibt aber gleichzeitig zu erkennen, dass er durch diesen Prozess mehr auf sich genommen hätte als man von einem Bürger erwarten konnte – und bezieht sich damit unmissverständlich auf die nicht vorhandene Feindschaft.198 Idealiter sollten zwar beide Erwägun195
196
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Cic. Cluent. 11; vgl. auch Pötter 1967, S. 33-34. In Cluent. 42 sagt Cicero auch, dass sein Klient aus Pietät seinem Stiefvater gegenüber gar nicht geklagt hätte, wenn er nicht um sein Leben hätte fürchten müssen. Cic. off. 2,50; vgl. Brunt 1988b, S. 373; s. auch die lobende Erwähnung dreier Anklagen durch Caelius, die aber immer rei publicae causa gewesen sein sollen, in Cic. Brut. 273; vgl. dazu Madsen 1981, S. 57-61. Vgl. Brunt 1988b, S. 368, mit dem Hinweis, dass eine Feindschaft gegenüber einem inimicus patriae ebenfalls Pflicht war. Cic. Verr. 2,3,7: An si qua in re contra rem meam decrevisset aliquid iniuria, iure ei me inimicum esse arbitrarere. Cum omnia contra omnium bono-
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gen konvergieren, in der Praxis jedoch begaben sich Ankläger, die allein aus Gründen einer postulierten Staatsraison agierten, auf wackeliges Terrain. Die Anklage rei publicae causa ist in eine ideelle Sphäre gehoben worden, die von einer eigentümlichen Dialektik von Lob und Skepsis geprägt war, während gleichzeitig ein normatives System eingeführt wurde, das eine bereits existente Größe der römischen Gesellschaft – nämlich das Prinzip der Feindschaft als soziale Kontrollinstanz – für die Durchsetzung der forensischen Ziele gebrauchte. Gleichwohl waren sich die Römer darüber im Klaren, dass insbesondere inimicitiae instrumentalisiert werden konnten, um über den juristischen Weg den gesellschaftlichen Tod eines Gegners zu erreichen. Die Überwachung dieser skeptisch beäugten Tätigkeit hat das Aufstellen restriktiver Prämissen begünstigt, deren Einhaltung sowohl durch ethisch als auch durch gesetzlich sanktionierbare Tatbestände gewährleistet wurde.199 Die moralischen Devianzen des Anklägers lassen sich ausnahmslos auf Nebenerscheinungen der Feindschaft zurückführen und dienen dazu, durch die Sicherstellung der Akzeptanz des gerichtlichen Urteils die destabilisierenden Folgen der inimicitiae für die gesellschaftliche Ordnung in den Griff zu bekommen. Dass Letztere nichtsdestoweniger Grundlage der accusatio blieben, belegt die hohe Relevanz der Feindschaft für die Verwirklichung der mit den spätrepublikanischen quaestiones verbundenen kulturellen Vorstellungen.200 Es sind vor allem die Implikationen der bereits bestehenden Animosität, die diese als ideale Anklage qualifizieren. Seinen Feind vor Gericht zu bringen garantiert ein gewissenhaftes Vorgehen und eine unver-
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200
rum rem causam rationem utilitatem voluntatemque fecerit, quaeris cur ei sim inimicus cui populus Romanus infestus est? Qui praesertim plus etiam quam pars virilis postulat pro voluntate populi Romani oneris ac muneris suscipere debeam. Vgl. David 1992, S. 101: „Elle [scil.: L’accusation] était aux yeux de l’aristocratie comme un mal nécessaire qu’il fallait réglementer. Les normes et les instruments de sanction étaient donc dans ce cas assez bien établis“; ebd., S. 102-115 bespricht der Autor die rechtlichen Folgen von calumnia, praevaricatio und tergiversatio; vgl. auch Poiret 1886, S. 191-192. Thomas 1984, S. 86-88 sieht den Beginn einer Veränderung des Rachegedankens erst in der Jurisdiktion des frühen Principats.
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hüllte Darstellung der negativen Aspekte, die diesen betreffen.201 Was den inimicus jedoch in elementarer Weise für diese Position prädestiniert, gehört zu den inhärenten Eigenschaften einer Beziehung, die als grundlegende soziale Institution verstanden wurde. In einer Schrift über den „Nutzen“ der Feindschaft erklärt Plutarch auch ihre soziofunktionale Rolle. So sei ihr (gesellschaftliches) Markenzeichen, dass man von dem persönlichen Feind auf Schritt und Tritt verfolgt werde, immer in der Hoffnung des inimicus, einen Vorteil daraus ziehen zu können.202 Dies hätte jedoch zur Folge – und darin besteht für Plutarch auch der Nutzen –, dass man selber unentwegt danach strebe, durch tugendhaftes Verhalten keine Angriffsfläche zu bieten.203 Die Erweiterung der gesellschaftlichen Semantik von inimicitiae in der späten Republik darf nicht unterschätzt werden. Sie ist es, die Cicero in der Sullana anspricht, um Torquatus diesbezügliche Versäumnisse zu unterstellen. Der Ankläger, der seinen Feind wegen der vermeintlichen Teilnahme an der Catilinarischen Verschwörung vor Gericht zitiert, hat es laut Cicero verpasst, rechtzeitig die Kontrollfunktion wahrzunehmen: […] man hatte ja deinen Feind angezeigt, und die frische Erinnerung des zahlreich versammelten Senats war hiervon Zeuge, und zudem hätten meine Schreiber dir als meinem Freunde und Adjutanten, wenn du es gewünscht hättest, ein Exemplar der Anzeige ausgehändigt, ehe sie sie in das Urkundenbuch eintrugen – warum hast du, als du die Verfälschung bemerktest, geschwiegen […]?204
Darauf, dass die Gesellschaft eine gewisse Toleranz dem Ausleben von Feindschaften gegenüber an den Tag gelegt hat, ist in der Forschung des Öfteren hingewiesen worden.205 Über die forensische Rolle der inimicitiae lassen sich jedoch die weitreichenden Konsequenzen erahnen, die 201 202 203 204
205
Vgl. Epstein 1987, S. 97. Plut. mor. 87B-C. Plut. mor. 87D-E. Cic. Sull. 44: Cum indicatus tuus esset inimicus et esset eius rei frequens senatus et recens memoria testis, et tibi, meo familiari et contubernali, prius etiam edituri indicium fuerint scribae mei, si voluisses, quam in codicem rettulissent, cur cum videres aliter fieri, tacuisti […]? Vgl. z. B. Epstein 1987, S. 19; s. ebd., S. 97 für die juristischen Konnotationen.
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diese Verpflichtung nicht nur im Hinblick auf die persönliche Ehre der jeweiligen Feinde, sondern auch als Hüterin der rechtlichen Ordnung hatte. Der private Aspekt der Klage und die Beobachtung durch Mitbürger bilden für Cicero fundamentale Prinzipien des römischen Strafprozesses und begründen zugleich dessen Überlegenheit im Vergleich zum griechischen Pendant.206 Somit wurde die grundsätzlich problematische Anklage durch die den inimicitiae zugesprochene Kontrollfunktion in das gesellschaftliche Gefüge integriert,207 zugleich ist sie dadurch aber ihres privaten Charakters nicht beraubt worden. Diese Erkenntnis impliziert selbstverständlich nicht, dass die Staatsraison ihrer prioritären Stellung entledigt wurde. Während es weiterhin zur gesellschaftlichen Pflicht eines jeden Römers gehörte, die Interessen der res publica über seine eigenen zu stellen, konkretisierte sich der spezifische Sinn der Anklägerrolle erst durch das Vorweisen einer legitimen Feindschaft. Erkennen wir also darin einen Ausdruck römischer Sinndeutungsmuster, so muss nach demjenigen Vorzug der inimicitiae gesucht werden, welcher derart essenziell für die kulturelle Wahrnehmung der Anklägerrolle war, dass er sämtliche Nachteile – derer sich die römische Gesellschaft offenkundig auch bewusst war – überschatten konnte. Da die juristische Funktion der Feindschaft erst aktiviert wurde, nachdem eine Gesetzesübertretung bereits stattgefunden hatte, kann es sich dabei nicht um den philosophisch angehauchten präventiven Effekt, den Plutarch anspricht und eine tugendhafte Lebensführung garantiert, handeln. Vergegenwärtigt man sich jedoch die Konsequenzen seiner Ausführungen, sticht vor allem ein Charakteristikum hervor. War der inimicus derjenige, der gemäß seiner sozialen Rolle ein wachsames Auge auf den späteren Angeklagten zu werfen hatte, so kann es nur ihm möglich gewesen sein, vor Gericht plausibel sämtliche Argumente vorzutragen, die den Feind (gesellschaftlich und juristisch) inkriminierten.208 So erklärt
206 207 208
Cic. leg. 3,47: Hoc in Graecia fit publice constitutis accusatoribus, qui quidem graves esse non possunt, nisi sunt voluntarii. Vgl. Flaig 2003, S. 145-146. Die rhetorische Bedeutung einer authentischen Feindschaft wird von Cicero im Zuge der Darstellung der Charakterlosigkeit Sassias und des Oppianicus hervorgehoben, wenn er die iudices auffordert, sich vorzustellen, welche
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sich auch, dass selbst auf diejenigen Übertretungen, die an den Grundfesten des Staatswesens rüttelten, von einem Bürger hingewiesen werden musste, der die gesellschaftliche Berechtigung dazu hatte. Durch die Forderung nach einer genuinen Feindschaft wird somit eine Norm verabsolutiert, die in erster Linie auf die Vertrautheit des Anklägers mit dem Charakter und den Taten der Person, über die geurteilt werden sollte, abzielt – eine Vertrautheit, die demgemäß auch als primäre sinnstiftende Funktion der accusatio betrachtet werden muss. In welchem Umfang dies der allgemeinen forensischen Sinngebung zugutekam, lässt sich möglicherweise infolge eines Vergleiches mit der Rolle des Verteidigers ermitteln. 1.5.2 Der Sinn des Gerichtspatronats Im Falle des Patrons kann anhand der oben diskutierten Passagen ebenfalls von der Prämisse ausgegangen werden, dass der Authentizität der Bindungen eine bedeutende sinnstiftende Rolle zukam. Wenngleich dadurch in den Reden, in denen Ciceros amicitia zu seinen Klienten evident war, die Kriterien der Rollenübernahme kaum thematisiert werden, ist ein Blick auf diejenigen orationes, im Laufe derer er sich als Anwalt erst die Akzeptanz des Publikums sichern musste, lohnenswert. Des Öfteren rekurriert der Redner hierbei nicht allein auf das formelle Zustandekommen des patrocinium, sondern er ergänzt diesen Aspekt um eine vielsagende Komponente. Das Motiv, das die fehlenden Beziehungen zu Cluentius kompensieren soll, ist oben bereits angedeutet worden. Nachdem er jahrelang selbst der invidia gefrönt hatte, die gegen seinen Klienten geschürt worden war, gibt Cicero nun vor, die Vorbereitung des Falles sowie die Erfahrungen aus dem Skamander-Prozess hätten ihm die Wahrheit offengelegt, so dass er durch seine überlegene Kenntnis der Tatsachen auch dem Volk die Missgunst entreißen möchte.209 Zugunsten Sullas konnte der Redner dieses Argument mit noch größerer Überzeugung anführen. Seine Stellung als Konsul und Hauptbekämpfer Catilinas verlieh ihm
209
Wirkung die narratio auf diejenigen Richter gehabt haben muss, die die Erzählung unmittelbar von dem klagenden Feind gehört hatten (Cluent. 29). Cic. Cluent. 142.
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selbstverständlich die nötige Autorität, um über diesen Fall zu sprechen – wie wir später sehen werden, gleichzeitig der primäre Grund, wieso Torquatus seine Glaubwürdigkeit infrage stellen musste. Folgerichtig beendet Cicero die partitio mit einem (wenn auch vorsichtigen) Hinweis auf das Gewicht, das diesem Umstand beigemessen werden müsse, fügt jedoch hinzu: Doch ich verwende diese Aussage noch nicht, um den Angeklagten zu verteidigen: ich will sie lieber zu meiner eigenen Rechtfertigung verwenden, damit Torquatus aufhört, sich zu wundern, dass ich, der ich dem Autronius nicht beigestanden habe, den Sulla verteidige.210
Bezeichnenderweise ist diese Stelle Teil einer Argumentationskette, die die prozessuale Aufgabenteilung der Anwälte in den Blick nimmt. Hortensius, der vor Cicero gesprochen hatte, behandelte dabei die sogenannte Erste Catilinarische Verschwörung, über die er als Konsular bestens unterrichtet war,211 während Cicero selbst sich ausschließlich den Ereignissen seines Konsulatsjahres widmet. Den Exkurs schließt der Redner mit einer fast programmatischen Erläuterung ab: Denn als wir bemerkten, dass man uns als Sachwalter gegen Beschuldigungen heranzog, über die wir als Zeugen aussagen könnten, da glaubten wir beide, ein jeder solle den Punkt übernehmen, bei dem er über ein eigenes Wissen und Urteil verfüge.212
Auf diesen Voraussetzungen aufbauend kann Cicero im Folgenden bezeugen, dass ihn keine Kunde von einer Beteiligung Sullas an der Verschwörung Catilinas erreicht habe.213 Im Hinblick auf die Moralität seiner eigenen Mandatsübernahme erklärt er an späterer Stelle: 210
211 212
213
Cic. Sull. 14: Sed ego nondum utor hac voce ad hunc defendendum; ad purgandum me potius utar, ut mirari Torquatus desinat me qui Autronio non adfuerim Sullam defendere. Cic. Sull. 12. Cic. Sull. 13: Sed cum videremus eorum criminum nos patronos adhiberi quorum testes esse possemus, uterque nostrum id sibi suscipiendum putavit de quo aliquid scire ipse atque existimare potuisset; vgl. auch schol. Bob. Sull. p. 8 Hildebrandt. Cic. Sull. 14.
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[…] niemand ist geeigneter, jemanden zu verteidigen, der ihm nie verdächtig war, als derjenige, der bei den anderen vieles ermittelt hat.214
Der Redner versucht also immer dann, wenn sich ihm diese Gelegenheit bietet und die Motive für seine Rollenübernahme nicht aus den gesellschaftlichen Verpflichtungen heraus erklärt werden können, ein überlegenes Wissen zu postulieren sowie den Wunsch, den Hörern einen Zugang zu seinen Erkenntnissen zu ermöglichen.215 Die Auswirkungen dieser Tatsache auf Letztere lassen sich aus seiner Schrift De officiis herauslesen: Dass uns aber Vertrauen (fides) geschenkt wird, kann durch zwei Umstände verursacht werden: wenn man von uns annimmt, dass wir Klugheit (prudentia) in Verbindung mit Gerechtigkeit (iustitia) besitzen.216
Prudentia, als eine Qualität, die wesentlich von Erfahrung geprägt ist und sich vor allem als Folge der intensiven Auseinandersetzung mit einem bestimmten Thema einstellt,217 muss zwangsläufig demjenigen Redner, dem eine überlegene Kenntnis der Gegebenheiten attestiert wird, ebenfalls zugesprochen werden.218 Fides erhält in dieser Ausprägung freilich die von Richard HEINZE ermittelte aktive Konnotation und spricht – als Vertrauen der Hörer und somit als Grundlage für die Entscheidung der Richter – diejenigen Sinndeutungsmuster an, die für die Urteilsbildung konstitutiv sein müssten. 214
215 216 217 218
Cic. Sull. 48: […] nemo magis eum de quo nihil umquam est suspicatus quam is qui de aliis multa cognovit. Mit einem ähnlichen Argument legt Cicero in der Rede für Murena Catos Kritik zu seinen Gunsten aus: A quo tandem, M. Cato, est aequius consulem defendi quam a consule? Quis mihi in re publica potest aut debet esse coniunctior quam is cui res publica a me iam traditur sustinenda magnis meis laboribus et periculis sustentata? (Mur. 3). Vgl. dazu auch Powell / Paterson 2004, S. 21. Cic. off. 2,33: Fides autem ut habeatur, duabus rebus effici potest, si existimabimur adepti coniunctam cum iustitia prudentiam. Vgl. dazu Hellegouarc’h 1963, S. 256-258. Vgl. auch Cic. off. 2,48: Magna est enim admiratio copiose sapienterque dicentis; quem qui audiunt, intellegere etiam et sapere plus quam ceteros arbitrantur.
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In der Rosciana dagegen, wo Cicero keine solche Einsicht möglich war, greift er stellvertretend auf die fides der schweigenden nobiles zurück, die durch ihre doppelten Bindungen zu Cicero und Roscius gleichsam eine Brücke für seine Glaubwürdigkeit bauen und die Authentizität der Fürsprache indirekt sicherstellen.219 Der fehlende Legitimationszwang in denjenigen Fällen, in denen ein natürliches Patronat oder eine öffentlich bezeugte amicitia gewährleistet war, erlaubt die Schlussfolgerung, dass die Ersatzbegründungen Ciceros dem Erlangen einer Eigenschaft dienten, die jenen gesellschaftlichen Institutionen immanent ist. Zudem muss es sich dabei um ein Charakteristikum handeln, das gleichermaßen ein Kernelement von Freundschafts- sowie Klientelverhältnissen darstellt und sich dementsprechend als Bindeglied für die forensische Zusammenführung dieser unterschiedlichen Konzepte eignet. Einen Hinweis bietet das von Dionysios von Halikarnassos gezeichnete Bild der frühen Klientel, dem man – wenngleich es freilich nicht den Zuständen der späten oder gar der mittleren Republik entsprach – in mentalitätsgeschichtlicher Hinsicht eine hohe Aussagekraft zusprechen kann. Demgemäß sei es ein Markenzeichen dieser Verhältnisse, dass der Patron eine quasi-väterliche Rolle seinem Klienten gegenüber einnimmt,220 was dazu führt, dass sich die Beziehung nicht nur über das gegenseitige Wohlwollen definiert, sondern auch eine persönliche Nähe voraussetzt, die sie für Dionysios als wesensgleich zur Blutsverwandt-
219
220
Vgl. Cic. S. Rosc. 2-4. Diesem Umstand ist auch die Tatsache geschuldet, dass Cicero die Vermittler namentlich nennt, da er sonst sehr genau auf die Vorgabe achtet, Personen, die möglicherweise nicht erwähnt werden wollen, außen vor zu lassen; vgl. Cic. S. Rosc. 47; Cic. Sull. 72. Somit ist zu vermuten, dass ihr Einsatz sie gleichermaßen in den Augen der Richter verpflichtet; zu den strikten Nomenklaturregeln in Rom vgl. ADAMS, J. N., Conventions of Naming in Cicero, CQ 28, 1978, S. 145-166; SHACKLETONBAILEY, David R., Onomasticon to Cicero’s Speeches, Stuttgart-Leipzig 1992, bes. S. 3-8. Einer Verbindung von Empfehlung und Sachkenntnis begegnet man in der Rede für Quinctius. Der Bitte um Fürsprache, die vom Schauspieler Roscius an Cicero herangetragen worden war (Quinct. 78), wird dadurch Autorität verliehen, dass sie auch von einer sachkundigen Erzählung der relevanten Fallumstände begleitet wurde (Quinct. 79). Dion. Hal. ant. 2,10,1.
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schaft erscheinen lässt.221 Diese Anschauung war trotz ihres fiktiven Charakters integraler Bestandteil des spätrepublikanischen Wissensvorrates,222 und sie manifestierte sich alltäglich in der gesellschaftlichen und politischen Praxis – von den morgendlichen Begrüßungen und dem Geleit des patronus auf dem Forum bis hin zur Tatsache, dass ein Gerichtspatron bei jeder Fallübernahme auch sein eigenes Ansehen aufs Spiel setzte.223 Wohlwollen und persönliche Nähe waren aber zugleich die definitorischen Merkmale der Freundschaft,224 die sich in elementarer Weise in den spezifischen Anforderungen der römischen fides konkretisierten225 und somit zur Grundlage der forensischen Annäherung von amicitia und patrocinium werden mussten. Das Fundament des darin implizierten Vertrauens bildet die Vertrautheit oder „ein intimes 221 222
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Dion. Hal. ant. 2,10,4; vgl. auch Ganter 2015b, S. 77; Rollinger 2014, S. 26. Für die Klientel als „Vertrauensgemeinschaft“ vgl. Timmer 2017, S. 175. Vgl. Flaig 2003, S. 19; Ganter 2015b, S. 134-135. Ebd., S. 134 weist die Autorin zu Recht darauf hin, dass „die Vielzahl der Klienten“ eine Praktikabilität dieses Ideals in der späten Republik unmöglich machte. Für die kulturellen Sinnmuster ist es aber gerade die Idealvorstellung, die besondere Relevanz gewinnt. So erklärt David 1992, S. 56 das Bild des spätrepublikanischen Patronats mit einem expliziten Hinweis auf einen mentalitätsgeschichtlichen Aspekt: „[…] les patroni du Ier siècle tiraient la légitimité de leurs conduites de l’image que leurs contemporains et eux-mêmes se faisaient du patronat archaïque. L’imaginaire est donc ici réalité“. Zu einem möglichen Tagesablauf des republikanischen Adligen vgl. Beck 2009, S. 53-56; zu den Morgenbegrüßungen: GOLDBECK, Fabian, Salutationes. Die Morgenbegrüßungen in Rom in der Republik und der frühen Kaiserzeit, Berlin 2010. Cic. Lael. 19 erklärt die Hierarchie, die Freundschaften vor verwandtschaftliche Beziehungen stellt, auch damit, dass man das Wohlwollen nicht unbedingt mit Letzteren in Verbindung bringen muss, dafür aber uneingeschränkt mit der amicitia; zur benevolentia als Kernelement der römischen Freundschaft vgl. Verboven 2011, S. 407-408; s. auch Brunt 1988b, S. 355. Vgl. Hölkeskamp 2004a, S. 114: „Als eine erst in ihrer praktischen Umsetzung erfahrbare soziale Qualität gehört fides zum Kernbestand der kollektiven Mentalität einer ‚face-to-face society‘, deren Struktur von vielfältigen personalen Beziehungen durchzogen und von deren Unmittelbarkeit und Gegenseitigkeit geprägt war – und deren alltägliches Funktionieren auf praktisch allen Ebenen davon bestimmt sein mußte“; vgl. auch Martin 2002, S. 162.
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Kennen von Umständen und Personen“.226 Infolgedessen attestierte man dem Anwalt nicht nur das Wissen um den Charakter seines cliens oder amicus bzw. necessarius, sondern auch die nötige Einsicht in die konkreten Umstände, die den Fall betreffen. Die überragende Rolle dieser Prämisse erkennt man auch daran, dass sie im Falle einer anerkannten Nahbeziehung weder hinterfragt noch vom Redner thematisiert wird, während die ausführlichen Stellungnahmen, durch die Cicero Vertrautheit suggerieren will, so überzeugend sie auch gewesen sein mögen, immer als Ersatz für die nicht vorhandene Authentizität erscheinen.227 Beiden Situationen ist jedoch eine Wahrheit gemeinsam, die den anderen verborgen bleiben muss, so dass die Vermutung naheliegt, dass es ebendieser Überschneidungspunkt ist, der vor Gericht unerlässlich war, und folglich auch die Absicht demonstriert, im Prozess mithilfe jenes Wissens zu einer Entscheidung zu gelangen. Die unterschiedlichen Formen des Gerichtspatronats gehen weder auf eine lockere Normierung, wie Christopher BURNAND vermutet hat, noch auf einander widersprechende Konzeptionen der Anwaltsrolle zurück, sondern sie werden vollends in den Dienst der übergeordneten Sinnmuster gestellt.228 Setzen wir dieses Bild in Relation zur Rolle des Anklägers, ergibt sich eine bemerkenswerte Komplementarität der Positionen. Idealiter 226 227
228
Timmer 2017, S. 106; zur „Vertrautheit“ als Kernelement des „Vertrauens“ in Rom vgl. ebd., S. 107-118. Vgl. ebd., S. 114-115: „Auf dieses Kennen des Anderen konnte auch Bezug genommen werden, um eigene Vertrauenswürdigkeit zu begründen und gewünschte Vertrauensbeziehungen zu befördern. Allerdings ist mit Blick auf die Wirksamkeit solcher aktiven Bezugnahmen darauf zu verweisen, dass sie nicht dem Bild des institutionalisierten und routinierten Kennens, aus dem Für-Selbstverständlich-Halten entspringt, entsprechen. Dort, wo man gezwungen ist, auf Vertrautheit zu verweisen, ist sie zumindest nicht so weit entwickelt, wie dies im Hinblick auf die benötigte Funktion wünschenswert wäre.“ Auf diese Vertrautheit beruft sich z. B. Cicero, wenn er sich für die guten Anlagen des Caelius verbürgt (Cael. 77), ebenso scheint sie ein wichtiges Argument des Caecilius gewesen zu sein, der auf seine Stellung als Quaestor des Verres aufmerksam machte (div. in Caec. 61). Im Gegenzug nutzt Cicero die Vertrautheit der Sizilier mit Caecilius, um dem Wunsch seiner Klienten, nicht von diesem vertreten zu werden, mehr Nachdruck zu verleihen (div. in Caec. 20).
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wurde man von einem patronus oder amicus gegen die Klage eines inimicus verteidigt. Durch das Aufeinandertreffen derjenigen Rollen, die als primäre soziale Bezugspersonen des Angeklagten gelten mussten, aber auch die Antagonisten der größtmöglichen Vertrautheit mit diesem waren, wurde nicht nur für eine fundierte Darstellung des Falles gesorgt, sondern man stellte vor allem sicher, dass alle Erwägungen vorgebracht werden, die (freilich subjektiv) zu dessen Gunsten oder gegen ihn ausgelegt werden konnten.229 Man muss dahinter den Wunsch der Gesellschaft erkennen, eine aus entgegengesetzten Perspektiven vorgenommene, aber dennoch paritätische Offenlegung sämtlicher Argumente zu gewährleisten, eine Tatsache, die implizit den Gedanken der Egalität beinhaltet und die spätrepublikanischen quaestiones in die Tradition der früheren juristischen Auseinandersetzung zwischen zwei gleichwertigen patroni stellt. Ein weiterer Vergleich der forensischen Hauptrollen macht deutlich, dass das scheinbare Ungleichgewicht zwischen Verteidigung und Anklage eine Folge der jeweiligen sozialen Positionen der Redner ist und dem Ideal der forensischen Egalität nicht widerspricht. So ist die Disparität zwischen der Vielzahl möglicher patroni und dem Festhalten an einem einzigen Hauptkläger den gesellschaftlichen Realitäten geschuldet. Die bereits für die mittlere Republik nachgewiesene Erweiterung der patronalen Netzwerke – die jedoch keine Umdeutung der sinnstiftenden Eigenschaften nach sich gezogen hat – begünstigte die Vergrößerung der Zahl potentieller Verteidigungsanwälte, ohne dabei den Sinn ihrer Rolle zu verändern.230 Die Feindschaft blieb dagegen stets ein Umstand, der nach einer Eindämmung der abträglichen Nebeneffekte verlangte, in ihrer sozialen Funktion allerdings für die Durchsetzung des angestrebten
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Es ist bezeichnend, dass die Gesellschaft das notwendige Übel, dass man auch unehrlich werden könnte, in Kauf nahm, dabei aber hartnäckig am Verschweigen dieser Gefahr festhielt. Die Annahme von Wieacker 1965, S. 22, dass die Theorie es gestatten würde, offen zu lügen, wird von den Quellen nirgends explizit bestätigt; vgl. Crook 1995, S. 140, der diese Vermutung auch nicht von der Praxis bestätigt sieht. Cic. Brut. 209 erklärt die Etablierung dieser Gewohnheit einerseits mit der Arbeitsteilung, andererseits aber auch mit dem immer größer werdenden Netz an Beziehungen.
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Gleichgewichtes unerlässlich war.231 Aufgrund des im Vergleich zum Patron geringeren Spielraumes, den man in dieser Position nutzen durfte,232 schlug den Anklägern freilich auch einiges Misstrauen entgegen, das jedoch durch eine gewissenhafte Wahrnehmung der Pflichten entkräftet werden konnte. Zudem ist hinsichtlich beider Rollen eine unangefochtene Vorrangstellung des Gemeinwohls erkennbar. Dabei ist das patronale Pendant zum Verbot, Unschuldige anzuklagen, nicht etwa die Erlaubnis, sich für Schuldige einzusetzen, sondern der dezidierte Widerstand gegen die Verteidigung eines Feindes der res publica. So wie Letzteres wäre eine Anklage, die einen Bürger bewusst und zu Unrecht aus der Gemeinschaft ausschließen möchte, contra rem publicam. Die Erlaubnis, einen Klienten zu verteidigen, dessen Verbrechen als nicht staatsgefährdend eingestuft wurden, geht dagegen auf ein Grundprinzip des Patronatsgedanken zurück, und sie wurde durch die Fiktion, dass die Richter letztendlich das korrekte Urteil fällen würden, gemildert – eine Fiktion, für deren Aufrechterhaltung der inimicus, der die hierfür relevanten Argumente vortragen kann, eine wesentliche Rolle zu spielen hatte. Darüber hinaus ist der Gedanke der Vertrautheit auch bezüglich des Schutzes vor einem Staatsfeind essenziell. Für einen amicus, der von einem solchen Verbrechen seines Gefährten Kenntnis hat, besteht die Pflicht, nicht nur die Freundschaft aufzukündigen, sondern auch seinen Gegenüber fortan als inimicus zu betrachten und dessen Untaten dementsprechend aufzudecken – eine Umkehr des sozialen Bezugsrahmens, die dem Akteur aufgrund der beiden Beziehungen innewohnenden Vertrautheit zugleich die notwendige Legitimität verleiht.233 231
232
233
Die Annahme von Poiret 1886, S. 188, dass der schlechte Ruf der Ankläger gerade auf die Überwachung durch den Feind zurückgeht, ist sicherlich falsch. So auch der Einwand von Elster 2002, S. 11, der den Normen der Rache keinerlei Kontrollfunktion zugestehen möchte. So ist die wissentliche Anklage Unschuldiger mehr als nur eine moralische Devianz, sie hat auch juristische Folgen, die unter den Tatbestand der calumnia fallen. Auf diesem Gedanken beruht der Gegensatz, den Cicero in der Sullana zwischen seinem Klienten und den verurteilten Verschwörern herstellt; vgl. Sull. 3, 7. Rollinger 2014, S. 123 zeigt, dass ein Dissens zwischen Freunden nicht selten zu einer aktiven Feindschaft geführt hat.
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Potentielle Freundschaften der Anwälte untereinander durften dagegen im Idealfall nicht unter dem forensischen Wettbewerb leiden,234 eine Vorgabe, die freilich in die Liste der Maßgaben eingereiht werden muss, die dem Risiko eines Überhandnehmens von Feindschaften Einhalt gebieten sollten. Die gegensätzlichen Rollenbilder von patronus und accusator gehen ausdrücklich auf die gesellschaftliche Dialektik ihrer natürlichen Verbindung zum Angeklagten zurück und sind dementsprechend ausschließlich auf diesen ausgerichtet. Mit Blick auf den objektiven Sinn der Gerichtsverhandlung ist an dieser Stelle ein Zwischenfazit möglich. So hat eine Darstellung der „wahrscheinlichsten“ Versionen – die zudem von denjenigen oratores vorgetragen werden, die am besten mit Person und Sache vertraut sind – zur Folge, dass den Richtern der ausführlichste Fonds an plausiblen Argumenten zur Verfügung steht, den sie in den Dienst ihrer Entscheidungsfindung stellen können.235 Ob sie sich hierfür, wie von Andrew RIGGSBY vermutet, an dem Kriterium der Wahrheitsfindung orientiert oder gemäß der These von Paul SWARNEY dem sozialen Status der Parteien größere Bedeutung beigemessen haben, soll in den nächsten Kapiteln ebenso untersucht werden wie die Frage, ob sich die Prinzipien der Egalität und Komplementarität auch in der Konzeptualisierung der relevantesten Rollenattribute äußern. Davor muss jedoch eine letzte Konsequenz dieser Ergebnisse angesprochen werden. Die oben festgestellten Normen sind ebenso ein Indiz für die prinzipielle Ablehnung jeglicher Form der professionellen Betäti-
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Vgl. Cic. Cluent. 10; Cic. Sull. 2, 23, 40, 46, 48-49; Cic. Cael. 7; Cic. Tull. 3; Cic. Mur. 8-10, 15; Cic. Planc. 5-6, 8; s. auch Cic. off. 2,68. So hatten die forensischen Auseinandersetzungen weder für die spätere Freundschaft und Zusammenarbeit zwischen Cicero und Hortensius Folgen noch für die Verteidigung des Caelius, der Cicero zuvor eine beschämende Niederlage zugefügt hatte (vgl. Cic. Cael. 18). Dass dies jedoch nicht immer der Fall war, belegt Q. Cic. pet. 40, wenn zu den potentiellen Wählern des Konkurrenten diejenigen gezählt werden, gegen die man als Verteidigungsanwalt gesprochen hatte; vgl. allgemein dazu Brunt 1988b, S. 373-376. Aristot. rhet. 1355a29-33 sieht die Fähigkeit, beide Seiten in einem Streitgespräch vertreten zu können, ebenfalls als einzige Möglichkeit, sämtliche Argumente offenzulegen.
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gung.236 Selbst die faktische Offenheit der Rollenübernahme wurde an Attribute geknüpft, die den Schein des Patronats aufrechterhalten sollten. Selbstverständlich konnte sich die Gesellschaft auf lange Sicht nicht den Veränderungen der sozialen Realitäten verschließen. Die Akzeptanz der Tatsachen ist ein grundlegendes Prinzip der Normveränderung, jedoch geht dies mit unterschiedlicher Geschwindigkeit vonstatten. Je höher der Stellenwert einer Erwartung und des sich dahinter befindenden gesellschaftlichen Sinnes ist, desto schwieriger gestaltet sich der Durchbruch einer Neuerung auf normativer Ebene.237 So konnte es der spätrepublikanischen Gesellschaft selbstverständlich nicht verborgen bleiben, dass das inflationäre Auftreten einer geringen Anzahl von Rednern den tatsächlichen gesellschaftlichen Vorgaben nicht mehr entsprach. Allerdings wurde selbst die Praxis der Empfehlung von Klienten, die einen großen Einfluss auf die später einsetzende Entwicklung hatte, insofern in die bestehenden Normvorstellungen integriert, als die Intervenienten sich ebenfalls mit ihrer fides für den Angeklagten verbürgten. Die Entscheidung, die veränderten Gegebenheiten der Norm anzupassen, spricht Bände.238 So musste die Fürsprache der genuinen Überzeugung des Anwalts entsprechen und somit auch die bestmögliche Verteidigung garantieren. Obwohl die Rhetorik faktisch zu einer Professionalisierung tendierte – nicht zuletzt wegen der Kunstfertigkeit der führenden Redner –, war man nicht nur nicht bereit, den logischen Schritt zu gehen und dieser Tür und Tor zu öffnen, sondern man hielt weiterhin an mitunter archaischen Formen fest. Dies belegt zugleich, wie stark jene Professionalisierung und das damit verbundene Risiko, nicht im Einklang mit den eigenen Überzeugungen und dem überle-
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Als Beleg für die Kompliziertheit der Frage, ob der spätrepublikanische Patron ein „professioneller“ Anwalt war, vgl. die Diskussion bei Crook 1995, S. 37-45. Zur Theorie der Normveränderung s. unten, S. 191-192 mit Anm. 340. Gegen eine Professionalisierung spricht sich auch David 1997, S. 32 aus. Zusätzlich zur oben angeführten These von BURNAND spricht auch Achard 2006, S. 69 von einem „avocat de profession“. Wallace-Hadrill 1989, S. 72 weist jedoch in konstruktivistischer Manier darauf hin, dass das Patronat auch deswegen zu den Realitäten der Republik gehörte, weil er von den Bürgern ausgelebt und somit zur Realität gemacht wurde.
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genen Wissen zu agieren, den gesellschaftlichen Sinnzuweisungen der späten Republik zuwiderlief. Erwartungsgemäß hat eine solche Entwicklung letzten Endes im Principat eingesetzt. Die von Tacitus erwähnte Debatte des Jahres 41 n. Chr. über die Aufhebung der lex Cincia zeugt von einer gesellschaftlichen Neuverhandlung der Anwaltsrolle.239 Dass der Antrag letztendlich nicht angenommen wurde, belegt aber auch, dass eine Akzeptanz selbst zu dieser Zeit noch lange nicht uneingeschränkt vorhanden war – wenngleich sich dies zumindest auf gesetzlicher Ebene kurz darauf ändern sollte.240 Iuvenal geht bekanntermaßen nicht nur mit dem Zustand der Rhetorik seiner Zeit hart ins Gericht, sondern auch mit der gesamtgesellschaftlichen Wahrnehmung patronaler Funktionen.241 Vielsagend ist jedoch, dass die unangemessene Bezahlung, die bei ihm somit bereits zu den sozialen Selbstverständlichkeiten gehört, für Ersteres verantwortlich gemacht wird.242
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Tac. ann. 11,5-7; vgl. dazu Kleijwegt 1991, S. 167-168 mit weiterführender Literatur. Vgl. Crook 1995, S. 129-130. Noch in die Regierungszeit Claudius’ fällt die Erlaubnis, sich mit bis zu 10.000 Sesterzen für die Anwaltstätigkeit vergüten zu lassen. Ebd., S. 122 zeigt der Autor aber, dass sich die Terminologie noch lange gehalten hat. Allerdings begann sich gleichzeitig eine synonymische Verwendung von patronus und advocatus durchzusetzen (Ebd., S. 146, Anm. 1; Neuhauser 1958, S. 183). Tac. dial. 1,1 stellt auch einen semantischen Gegensatz her, wenn er von den früheren oratores und den causidici, advocati und – immerhin – patroni seiner Zeit spricht. Die Langwierigkeit der Entwicklung wird auch in der Forschung hervorgehoben. So sieht Neuhauser 1958, S. 203-206 die Ausbildung einer professionellen Anwaltstätigkeit erst für das dritte Jahrhundert n. Chr. als abgeschlossen an, Crook 1995, S. 45-46 dagegen erst zur Zeit des Dominats. Iuv. 5. Iuv. 7,106-107; 7,139-140.
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„Altersvorschriften“ im römischen Prozess
2.1
Das Bild des patronus
Da für die späte Republik ein sowohl nomineller als auch ideeller Fortbestand patronaler Funktionen des Verteidigers konstatiert werden kann, verwundert es nicht, dass die Position des Gerichtspatrons auch den dazugehörigen Prinzipien verpflichtet ist. Die Konsistenz erstreckt sich zwangsläufig auf Attribute, die man in beiden Rollen besitzen sollte, so dass der Redner auf dem Forum nicht nur in seiner Funktion als Anwalt agiert, sondern zugleich seine gesellschaftliche persona mitbringt, die es ihm nicht erlaubt, diesbezügliche Erwartungen zu übertreten. Wollte man die Wahrnehmung der Schutzpflicht glaubwürdig vertreten, musste man unter anderem einen dafür geeigneten sozialen Status vorweisen. Somit waren die patroni des letzten vorchristlichen Jahrhunderts weiterhin „meist reife Männer mitten in ihrer senatorischen Karriere“.243 Dies entspricht auch dem Rollenbild, das die meisten hier behandelten Reden erkennen lassen. Dagegen ergibt sich für Cicero in der Rosciana die Notwendigkeit, seine Devianz zu begründen, auch aus seiner aetas, die nicht erwartungskonform war. Diese der Position des Verteidigers immanente Eigenschaft ist unumstritten und sie wurde während der gesamten späten Republik auch nicht zur Disposition gestellt. Allerdings muss hier auf einige Auswirkungen, die diese Tatsache auf die Realitäten der Gerichtsrede hatte, eingegangen und zugleich die Folgen für das Rollenbild des Verteidigers in den Blick genommen werden. Die primäre Konsequenz aus der Verbindung eines gewissen Lebensalters mit der Rollenübernahme betrifft das Rollenverhalten, das der Anwalt an den Tag legen muss. Die Beachtung des decorum verlangt vom Verteidiger die Zurschaustellung der gebührenden Würde, die seiner Stellung entspricht. Dies äußert sich zum einen in der Wahl der Themen, zum anderen auch in der Art des Vortrages. So lässt sich Cicero in der Sestiana dazu hinreißen, eine längere digressio in seine Rede einzubauen, die sich mit den Kundgebungen des Volkes anlässlich der Spiele
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David 1997, S. 44; vgl. dazu auch David 1992, S. 594-595.
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beschäftigt.244 Das scheinbare Strapazieren des Erlaubten zwingt den Redner jedoch, eine Entschuldigung vorzubringen. Unter anderem räumt Cicero dabei ein, dass seine Ausführungen weder mit der Würde des Gerichts noch mit seinem eigenen Alter und Rang in Einklang gebracht werden könnten.245 Bereits in der Roscius-Rede benennt er die Schranken, die dem Verteidigungsanwalt von seinem Lebensalter auferlegt werden – diesmal zu seinem Vorteil. Demnach sei es gerade seine Jugend, die Roscius in diesem heiklen Fall den besten Schutz garantiere. Hätte irgendeiner der versammelten nobiles gesprochen, wäre aus Rücksicht auf deren Alter und Weisheit vieles ungesagt geblieben.246 So sind die Normen, die der Patron befolgen muss, auch mit einem gewissen Risiko behaftet. Seine überlegene gesellschaftliche Stellung führt dazu, dass die Rede viel aufmerksamer verfolgt wird, selbstverständlich immer aus der Perspektive eines streng normierten aristokratischen Kodex.247 Die Epitheta, welche diese Haltung präzisieren, gehen auf das Konzept der gravitas zurück. Dieses stellt das Markenzeichen des patronalen Rollenverhaltens dar und spiegelt sämtliche Erwartungen an den Verteidiger wider. Deshalb lohnt es sich, kurz die Erkenntnisse der Forschung bezüglich dieses Begriffs zu eruieren, dessen Kulturimmanenz auch dadurch offenkundig wird, dass er keine Entsprechung im griechischen Sprach- und Kulturraum aufweist.248 Semantisch kann der Terminus eine physische, intellektuelle sowie eine moralische Komponente besitzen, durch die entweder ein würdevolles Auftreten, die gehobene gesell244 245
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Cic. Sest. 115-118. Cic. Sest. 119: Scio quid gravitas vestra, quid haec advocatio, quid ille conventus, quid dignitas P. Sesti, quid periculi magnitudo, quid aetas, quid honos meus postulet. Cic. S. Rosc. 3: Ego autem si omnia, quae dicenda sunt, libere dixero, nequaquam tamen similiter oratio mea exire atque in volgus emanare poterit. Deinde quod ceterorum neque dictum obscurum potest esse propter nobilitatem et amplitudinem neque temere dicto concedi propter aetatem et prudentiam. Vgl. dazu David 1997, S. 44; zur Verbindung von angemessenem Rollenverhalten und decorum s. auch Connolly 2007, S. 170-171. Hiltbrunner 1967, S. 403-409 zeigt, wie schwierig sich eine Übersetzung gestaltet.
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schaftliche Stellung oder eine auf Erfahrung beruhende Weisheit benannt wird.249 Bedeutend sind hier zunächst die Implikationen hinsichtlich der sozialen Hierarchie. Gravitas kommt ausschließlich Senatoren zu, außerdem ist sie ein wesentliches Attribut des patronus.250 Diese Konnotation hat in der späten Republik eine derart enge Anbindung an die rhetorische Tätigkeit erfahren, dass Joseph HELLEGOUARC’H für diese Zeit feststellen kann, gravitas sei sogar eine Folge der eloquentia.251 Zugleich bezieht sich der Begriff jedoch auf ein spezifisches Lebensalter, so dass der Inhaber dieser Eigenschaft immer im Erwachsenenalter – d. h. zwischen iuventus und senectus – steht.252 So erklärt sich z. B. auch Ciceros Äußerung in der Rede für Roscius, dass er wegen seiner Jugend nicht genügend gravitas aufbringen könne.253 Bezüglich des Alters, das er zu Beginn der oratio ebenfalls als fehlendes Rollenattribut anführt, ist es ebendiese Fähigkeit, mit sämtlichen sozial-normativen Folgen, die er vermissen lässt. Wie Cicero diesen Konflikt löst, soll am Ende des Kapitels besprochen werden. Die Anforderungen an die Altersattribute des Verteidigers sind also untrennbar mit seiner hohen gesellschaftlichen Stellung verbunden. Weil man erst eine solche erreichen musste, um überhaupt die Schutzfunktion in Form des Patronats wahrnehmen zu können, wurde diese Erwartung, solange das patrocinium Grundlage der Verteidigertätigkeit blieb, auch nicht infrage gestellt. Sie ergab sich allerdings schon aus praktischen Motiven. Da das Wesen des Gerichtspatronats eine vertikale Hierarchie hervorbrachte, die Klienten in den öffentlichen Prozessen aber zumeist bereits einen gewissen sozialen Status vorweisen konnten, wollte kein 249
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Hellegouarc’h 1963, S. 279-280. Hiltbrunner 1967 weist auch auf die sekundäre Bedeutung als „Unerschütterlichkeit“ bzw. „Standfestigkeit“ hin; vgl. auch Groß 1983, Sp. 755-756; Achard 1981, S. 396-397. Hellegouarc’h 1963, S. 280, 287, 290. Hiltbrunner 1967, S. 411 zeichnet eine Entwicklung nach, dergemäß der ursprünglich im familiären Bereich beheimatete Begriff allmählich auf die Beziehungen zwischen Patron und Klient ausgedehnt wurde. Am meisten weiterentwickelt hat er sich zur Zeit der späten Republik jedoch im forensischen Umfeld. Hellegouarc’h 1963, S. 281; vgl. auch Hiltbrunner 1967, S. 412; Achard 1981, S. 398; Groß 1983, Sp. 753. Hellegouarc’h 1963, S. 279; vgl. Hiltbrunner 1967, S. 411. Cic. S. Rosc. 9.
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Angeklagter die eigene Position innerhalb des gesellschaftlichen Systems herabsetzen. So musste sein Fürsprecher, trotz der kommunizierten jovialen Gleichstellung, implizit eine höhere Stufe erreicht haben als er selbst.254 Gepaart mit den Erwartungen bezüglich der Rolle des Anklägers war dies eine durchaus erwünschte und normativ geregelte „Statusdissonanz“.255 Dagegen kann die Frage, ob man damit auch ein reelles, den Grundsätzen der Egalität widersprechendes Übergewicht des Verteidigers verbinden muss, erst anhand eines Vergleiches mit den Anforderungen an den accusator beantwortet werden. 2.2
Die Jugend des Anklägers
Den Gegenentwurf zu diesem Bild stellt freilich der Ankläger dar. Der Wandel der gesellschaftlichen Konventionen, der gegen Ende des zweiten Jahrhunderts in Bezug auf diese Rolle eingesetzt hatte, begünstigte die Übernahme der accusatio durch aufstrebende junge Ritter oder Angehörige der Senatsaristokratie. Speziell die normative Vorgabe, idealiter nur ein einziges Mal anzuklagen, war dieser Entwicklung zuträglich. Das Forum wurde für ambitionierte junge Männer zu derjenigen Plattform, durch die sie sich in der späten Republik dem Volk präsentieren und mit besonderem Nachdruck empfehlen konnten.256 Diesen Wunsch attestiert Cicero auch M. Caelius, der sich ganz im Sinne der Traditionen der maiores darum bemüht haben soll, seinen Weg in die Politik durch eine spektakuläre Anklage zu ebnen.257 Ihre Rolle als Kontrollinstanz 254 255
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Vgl. David 1992, S. 595-596. Zum Begriff s. unten, S. 169-170. Im höheren Alter eine Klage einzureichen galt aus den im ersten Kapitel diskutierten Gründen als verpönt, allerdings relativiert Cicero diese Vorschrift – gewiss auch aus praktischen Erwägungen – in div. in Caec. 70, wenn er sie im Falle des Schutzes auswärtiger clientes außer Kraft setzt. Vgl. Eyben 1993, S. 72. Zwar gab es daneben noch den Habitus, sich durch militärische Leistungen einen Namen zu machen, doch ist für die letzten Jahrzehnte der Republik ein deutliches Übergewicht forensischer Ambitionen zu verzeichnen. Cic. Cael. 73: Voluit vetere instituto eorum adulescentium exemplo, qui post in civitate summi viri et clarissimi cives exstiterunt, industriam suam a po-
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bot den jugendlichen Anklägern zudem eine Gelegenheit, die Pflichttreue dem Staatswesen gegenüber dadurch unter Beweis zu stellen, dass sie die res publica von einem unwürdigen Repräsentanten des Adels befreiten. Zugleich ließen sie hiermit ihre Eignung, dessen Position besser ausfüllen zu können, von den Richtern und dem Volk bestätigen.258 Ohne die primären Gründe, die eine Anklage moralisch rechtfertigen mussten, zu relativieren, wurde einem gewissen Alter zugestanden, sich von den eigenen Ambitionen motivieren zu lassen, insofern diese in das ethische Muster von Rache und Staatsinteresse integriert werden konnten. So war dies das einträglichste Mittel für einen jungen Mann, seine politische Karriere einzuleiten.259 Die Entwicklung, die dazu geführt hat, dass die Normierung der Anklägerrolle in der späten Republik verstärkt junge Männer dafür vorsah, ist oben dargelegt worden. So kann die Feststellung, die wir bezüglich der Altersattribute des Verteidigers getroffen haben, auch als Prämisse für dessen Widerpart gelten. Dadurch dass eine geregelte Rollenkonsistenz zwischen adulescens und Ankläger bestand, trat dieser ebenfalls in seiner askribierten Position vor die Richter und musste dementsprechend sein Verhalten an jene Rolle anpassen. Diese Übereinstimmung äußert sich auch hier in den Erwartungen, die an den Vortrag gestellt wurden. In der Caeliana benennt Cicero den Antagonismus, den die unterschiedlichen Lebensabschnitte in der Art des forensischen Auftretens hervorrufen. Die lobenden Worte für Caelius – gleichzeitig eine Apologie der häufigen Anklagen durch seinen Schützling – stellen einige Verhaltensmuster in den Vordergrund, die zumindest keine negativen Sanktionen seitens der Gesellschaft nach sich gezogen haben. So hatte sein Klient Ungestüm (impetus animi), Ehrgeiz (cupiditas vincendi) und
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pulo Romano ex aliqua illustri accusatione cognosci. In Cic. de or. 3,74 ist Crassus das Musterbeispiel eines Politikers, der durch eine Klage bereits in jungen Jahren das Fundament seines späteren Wirkens gelegt hat; vgl. auch Dyck 2013, S. 170. Vgl. dazu Jehne 2000b, S. 184; s. auch Quint. inst. 12,7,3. Eyben 1993, S. 79-80 hebt die Bewunderung der Zuhörer für eine ehrgeizige Anklage hervor, ein Umstand, der auch durch Cic. off. 2,49 unterstützt wird; vgl. auch Cic. Verr. 2,3,3; s. ferner Eyben 1993, S. 72-73; David 1992, S. 528; David 1997, S. 41; Kleijwegt 1991, S. 183; Powell / Paterson 2004, S. 40.
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Verlangen nach Ruhm (ardor mentis ad gloriam) unter Beweis gestellt, Verhaltensweisen, die für einen älteren Redner deviant gewesen wären. Einem Jugendlichen gegenüber zeigt die Gesellschaft jedoch Nachsicht, was Cicero im folgenden Satz auch begründet: Denn stets hat man junge Herren von hoher Gesinnung in ihrem Ehrgeiz eher bremsen als antreiben müssen; bei diesem Alter findet man, wenn es seine löblichen Fähigkeiten entfaltet, mehr zurechtzustutzen als hinzuzutun.260
Die Art des Vortrages illustriert zudem die Eigenschaften, die dem adulescens auch in seiner gesellschaftlichen Rolle zugesprochen werden. Dabei stellt die Jugend als „freizeitbetonte, leichtfüßige und leichtsinnige Lebensphase“261 nur eine Seite der Medaille dar, die umso leichter konzediert werden kann, wenn sie mit der Energie und dem Tatendrang einhergeht, die ebenfalls zu den Attributen des adulescens gehören.262 Dieser letzte Aspekt ist es, der die Jugendlichen für die Rolle als Ankläger besonders empfiehlt. Die oben angeführte Stelle aus der Caeliana zeigt, dass der altersspezifische Impetus auch deshalb die Akzeptanz der Gesellschaft gewann, weil er nicht nur die Garantie eines rollenkonformen, wachsamen Auges auf die führenden Politiker gewährleistete, sondern auch Veranlagungen offenbarte, die letzten Endes bei gebührender Reife in den Dienst der res publica gestellt werden konnten.263 Demzufolge ist die Zurschaustellung eines gewissen Ehrgeizes ein Merkmal, das durchaus zu den Erwartungen der Zuhörer an die Anklagerede gehörte.264 Den Kontrast zu den für die oratio des Verteidigers geltenden Regeln verdeutlicht die einleitende Versicherung des 26260
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Cic. Cael. 76: Etenim semper magno ingenio adulescentes refrenandi potius a gloria quam incitandi fuerunt; amputanda plura sunt illi aetati, siquidem efflorescit ingenii laudibus, quam inserenda. Christes 1998, S. 152. Ebd., S. 149-150. Cic. Cael. 76. Sall. Cat. 11 bemängelt die ambitio der jeunesse dorée auch nicht, sondern nur den eingeschlagenen Weg der Anhängerschaft Catilinas, der auf deren Ehrgeiz zurückzuführen ist. Das Streben nach Ruhm an sich sei gleichermaßen eine Eigenschaft der Tüchtigen und der Schlechten. Eyben 1993, S. 77 weist darauf hin, dass vor allem die Kombination von Ehrgeiz und Mut auf eine positive Resonanz bei den Zuhörern stieß.
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jährigen Cicero, nicht aus Ehrgeiz, sondern aus Pflichtbewusstsein die Verteidigung seines Klienten in einen Angriff auf die beiden Roscii umzukehren: Ich komme jetzt zu dem Punkt, auf den mich nicht Ehrgeiz (cupiditas) führt, sondern Pflichttreue (fides).265
Man kann anhand des Gegensatzpaares fides-cupiditas auch das Aufeinandertreffen zweier Attribute erkennen, welche die Redner aus ihrer gesellschaftlichen persona in die Verhandlung hineintragen. Eine von solchen (zulässigen) Gefühlen getragene Rede wirkt sich zwangsläufig auf die Vehemenz der Ausführungen aus. Das rhetorische Markenzeichen eines jungen Redners ist nicht nur die Wortfülle, sondern auch die Angriffslust, die er, mit der Zustimmung des Publikums, an den Tag legt.266 Neben den bereits erwähnten Qualitäten der Anklagereden Caelius’ spricht Cicero auch die iracundia an, die sich in der oratio des Torquatus manifestierte. Wird diesem anderenorts Fehlverhalten vorgeworfen, lässt der Kontext dieses Arguments keine Kritik erkennen. Der Zorn des Klägers wird in eine Abfolge von Umständen ein265 266
Cic. S. Rosc. 83: Venio nunc eo quo me non cupiditas ducit sed fides. Vgl. Eyben 1993, S. 152-153. Diese Vorgabe ist in den rhetorischen Handbüchern des Öfteren anzutreffen; Cic. de or. 2,88: […] oratione autem celeri et concitata, quod erat ingeni, et verbis effervescentibus et paulo nimium redundantibus, quod erat aetatis. Non sum aspernatus; volo enim se efferat in adulescente fecunditas; nam facilius sicut in vitibus revocantur ea, quae se nimium profuderunt, quam, si nihil valet materies, nova sarmenta cultura excitantur; item volo esse in adulescente, unde aliquid amputem; non enim potest in eo sucus esse diuturnus, quod nimis celeriter est maturitatem exsecutum; Quint. inst. 11,1,31-32: Ipsum etiam eloquentiae genus alios aliud decet; nam neque tam plenum et erectum et audax et praecultum senibus convenerit quam pressum et mite et limatum et quale intellegi vult Cicero cum dicit orationem suam coepisse canescere, sicut vestibus quoque non purpura coccoque fulgentibus illa aetas satis apta sit: in iuvenibus etiam uberiora paulo et paene periclitantia feruntur […]; vgl. auch Quint. inst. 2,4,5-7; 6,2,15. Die unterschiedlichen Anforderungen an den Redestil werden in Cic. Brut. 325 am Beispiel des Hortensius aufgezeigt, dessen Asianismus in der Jugend zwar beeindruckend gewesen sein soll, im Alter dagegen unpassend; vgl. auch Cic. Brut. 326, 327; Val. Max. 8,10,2; Gell. 1,5,2.
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gereiht, die Cicero eine gewisse Zurückhaltung aufzwingen – zusammen mit dessen Jugend, ihrer Freundschaft und den Beziehungen des Redners zu Torquatus’ Vater.267 Diese Nachsicht ist es, die als Resonanz auf den jugendlichen Redner des Öfteren Erwähnung findet. Eine solche verspricht sich Cicero von seiner forschen Vorgehensweise in der Rosciana,268 in der CaeliusRede kann er ebenso offen behaupten, er müsste sich für die Entkräftung der Gerüchte über seinen Klienten auf den Freiraum berufen, den die Gesellschaft einem adulescens zugesteht.269 Dies hängt in erster Linie mit dem Potential zusammen, das besonders bei einer energischen Verhaltensweise einem Jugendlichen zugesprochen wird,270 es stellt allerdings keinen uneingeschränkten Freibrief dar. Die Vorgabe der Indulgenz, mit der man einem adulescens begegnen sollte, musste dieser mit einer unterbewussten Skepsis, die ihm zugleich entgegenschlug, bezahlen. Die Gefahr, dass die normativ geregelte Nachsicht einen jungen Mann dazu verführen könnte, die Grenzen des Erlaubten zu übertreten und somit die in ihn gesetzten Hoffnungen zu enttäuschen, ließ in der 267
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Cic. Sull. 46: Fero ego te, Torquate, iam dudum fero, et non numquam animum incitatum ad ulciscendam orationem tuam revoco ipse et reflecto, permitto aliquid iracundiae tuae, do adulescentiae, cedo amicitiae, tribuo parenti. Zwar kritisiert Cicero an anderer Stelle die Übertretung dieser Freundschaft durch Torquatus, nichtsdestotrotz ist hier eine Zusammenstellung von Rahmenbedingungen erkennbar, die den Redner auch normativ zur Vorsicht ermahnen mussten; vgl. auch Cic. Sull. 47. Cic. S. Rosc. 3. Cic. Cael. 30. Cic. Cael. 76. Wie lange das in der Jugend zur Schau gestellte Potential nachwirken kann wird in Cic. Sest. 22 evident, wo der Redner die Tatsache, dass lange Zeit niemand den wahren Charakter des C. Calpurnius Piso Frugi erkannt hatte, auf dessen frühe Veranlagungen zurückführt. Umgekehrt kann aber auch aus einer fehlgeleiteten Jugend zuweilen ein ehrenhafter Bürger erwachsen (vgl. Cic. Cael. 43), wobei der Redner in der Caeliana freilich nicht einmal diesen Nachteil bei seinem Klienten erkennen möchte (Cael. 44). Allerdings ist die Ambivalenz, die man allgemein bezüglich des jugendlichen Rollenbildes konstatieren kann, auch darin ersichtlich, dass in Cic. Quinct. 12 der Kreis geschlossen wird, indem die schlechten Veranlagungen des Naevius auch zu einem habgierigen und verschwenderischen Erwachsenen geführt haben.
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Mentalität der Bürger ein Misstrauen entstehen, das sich die Ankläger gegen Caelius zunutze machen wollten.271 So scheint auch hier eine gewisse Ambivalenz zu herrschen, die aber nur bedingt den adulescens in seiner forensischen Rolle betrifft. War der Überschwang der Jugend ein beliebter topos für rhetorische Invektive, gestaltete sich die Instrumentalisierung dieser Skepsis gegenüber einem Ankläger schwieriger. Hatte dieser nämlich die Regeln der pietas eingehalten, so konnte er gewiss nicht nur mit der Sympathie des Publikums rechnen, sondern auch mit den Konzessionen, die eine forschere Vorgehensweise seinerseits begünstigten, da die staatstragenden Veranlagungen bereits durch die Anklage unter Beweis gestellt wurden. Somit muss die (aufgezwungene) Zuvorkommenheit Ciceros in der Behandlung des Atratinus eher als Regelfall für das Verhalten gegenüber einem normkonform agierenden accusator angesehen werden. Das Rollenbild dieser Altersstufe setzt sich also aus Attributen zusammen, die eine Kombination von Hoffnung und Nachsicht bewirken, wodurch aber zwangsläufig auf etwas Unvollständiges hingedeutet wird. Die Hoffnung auf zukünftige Erträge wie auch die Indulgenz gegenüber gegenwärtigen Verfehlungen mag zu dem Schluss verleiten, dass das bereits vervollkommnete Bild des Staatsmannes in Gestalt eines adulescens präferiert werden musste. Dieses Bild versucht Cicero dem jungen Caelius auch zuzusprechen, indem er ihm eine Strebsamkeit und Mäßigung attestiert, die ganz und gar ungewöhnlich bei einem Mann seines Alters war.272 Ein Jugendlicher, der das Verhalten eines elder statesman an den Tag legt, wäre jedoch ein derartiges Novum, dass er implizit das Misstrauen der Zuhörer erwecken musste. So sind es paradoxerweise 271
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Vgl. Cic. Cael. 29: Sed tu mihi videbare ex communi infamia iuventutis aliquam invidiam Caelio velle conflare; itaque omne illud silentium, quod est orationi tributum tuae, fuit ob eam causam, quod uno reo proposito de multorum vitiis cogitabamus. Die Ambivalenz des Jugend-topos ist bereits in der griechischen Theorie anzutreffen (vgl. Rhet. Alex. 1428b26-29; 1428b3638); vgl. dazu auch Dyck 2013, S. 104. Cic. Cael. 74. Allerdings relativiert Cicero ein wenig später seine Aussage und spricht damit auch gesellschaftlich anerkannte Tatsachen an: Sed ego non loquor de sapientia, quae non cadit in hanc aetatem (Cael. 76). In seinen theoretischen Schriften wird gelegentlich dieses idealistische Bild postuliert (vgl. Cic. off. 1,122; 2,48).
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gerade die leichten Übertretungen, die einen adulescens rollenkonform agieren lassen.273 Im Kontext der Gerichtsverhandlung werden sie dahingehend in die übergeordneten Sinnzuweisungen der Anklägerrolle eingebettet, dass nur der Impetus der Jugend, die unbekümmerte Offenheit und energisch verfolgte ambitio zu Garanten für eine gewissenhafte Anklage werden. Patronale Mäßigung ist hier insofern unerwünscht, als sie die offensiven Qualitäten der Anklage nicht reproduzieren kann und dies auch nicht tun sollte. So werden die leichten Devianzen, die in der Gesellschaft lediglich eine Akzeptanz gegenüber altersspezifischen Schwächen hervorrufen, vor Gericht zu einem elementaren sinnstiftenden Verhalten. Die Vorteile für einen jungen Ankläger erschöpfen sich aber nicht in dem Freiraum, der ihm von den Zuhörern für vehemente Invektiven gegen den Angeklagten zugestanden wird. Vielmehr wird die normative Pflicht, Nachsicht zu üben, auch auf den Verteidiger übertragen und ihm somit ein Rollenverhalten aufgezwungen, das zwar den gesellschaftlichen Gepflogenheiten entspricht, zugleich jedoch den Spielraum für die Verteidigertätigkeit beträchtlich einschränkt. Dass Cicero in der CaeliusRede Atratinus nicht nur schont, sondern des Öfteren lobende Worte für ihn findet, ist nicht auf eine vermeintliche clementia Ciceronis zurückzuführen, sondern es verdeutlicht die Gratwanderung, die der Redner eingehen musste. Ein Ankläger, der sämtliche Pflichten gewissenhaft beachtet hatte, wird für den Gegenredner unantastbar, so dass jede Ausführung, die eine Kritik erkennen lässt, zwangsläufig zur Devianz werden muss, da sie der positiven Sanktionierung durch die Gesellschaft zuwiderläuft.274
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Vgl. Eyben 1993, S. 10. Ein altersspezifisches Verhalten war der römischen Gesellschaft wichtig, so dass „Wunderkinder“ in Rom nicht immer geschätzt wurden; vgl. Gildenhard 2011, S. 34-35 zur Entschuldigung des Caelius mit dem anthropologischen Argument der „menschlichen“ und vor allem „jugendlichen Natur“. Vgl. Cic. Cael. 2, 8; s. dazu auch Quint. inst. 11,1,68: Utitur hac moderatione Cicero pro Caelio contra Atratinum, ut eum non inimice corripere sed paene patrie monere videatur: nam et nobilis et iuvenis et non iniusto dolore venerat ad accusandum.
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Selbst in der Behandlung des Torquatus sieht sich Cicero mit diesem normativen Gebot konfrontiert.275 Allerdings lässt die Schärfe seiner Entgegnung auch die Grenzen erkennen, an die die Nachsicht der Gesellschaft stoßen konnte. Der Ankläger hatte zwar normkonforme Motive für das Einleiten des Prozesses vorzuweisen, zugleich übertrat er jedoch nach der bereits erfolgten Rollenübernahme die Verhaltenskonventionen. Zudem konnte ihm plausibel angelastet werden, dass nach dem früheren ambitus-Prozess gegen Sulla kein Grund mehr für eine legitime Feindschaft bestand. Dass Cicero es sich hier erlauben kann, mit Torquatus härter ins Gericht zu gehen, belegt auch, dass dieser bereits durch sein Verhalten einen Teil der Sympathien beim Publikum verspielt hatte. Vor allem eine Passage, die eine unmissverständliche Verbindung zwischen Alter und Devianz herstellt, verdient Aufmerksamkeit. Ausgerechnet Torquatus, der in seinen jungen Jahren die besten Veranlagungen gezeigt hatte, ließ sich laut Cicero zu einer Maßlosigkeit in seinen Äußerungen hinreißen, die jenseits des Erlaubten und des gesellschaftlich Tolerierbaren lag.276 Dadurch versucht der Redner selbstverständlich, die oben angeführte Ambivalenz des Jugendbildes zu instrumentalisieren. Nicht die Nachsicht gegenüber einem pietätvollen Ankläger, sondern das Misstrauen wird hier den Richtern nahegelegt, mit einem expliziten Hinweis auf das falsche Bild, welches das Ungestüm des Torquatus vermittelt. Werden seine Vorstöße nicht mehr als eine legitime Methode des Angriffs auf einen fehlgeleiteten Staatsmann angesehen, müssen diese Attacken zwangsläufig das Bild eines catilinarisch anmutenden adulescens evozieren, das besonders in der Folgezeit der Verschwörung eine beträchtliche Resonanz finden würde. Ähnliche Andeutungen sind auch in der Caeliana erkennbar, hier allerdings zu-
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Cic. Sull. 47: Quod si esses usu atque aetate robustior, essem idem qui soleo cum sum lacessitus; nunc tecum sic agam tulisse ut potius iniuriam quam rettulisse gratiam videar. Cic. Sull. 30: At vero quid ego mirer, si quid ab improbis de me improbe dicitur, cum L. Torquatus primum ipse his fundamentis adulescentiae iactis, ea spe proposita amplissimae dignitatis, deinde L. Torquati, fortissimi consulis, constantissimi senatoris, semper optimi civis filius, interdum efferatur immoderatione verborum?
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meist als Warnungen an den jungen Ankläger.277 So lässt Cicero durch seinen „väterlichen“ Rat erkennen, dass selbst der Ehrgeiz der Jugend gewisse Schranken kennt, die diesem vom Anstand diktiert werden,278 und stellt einen direkten Bezug zwischen dem Meiden verwerflicher Taten und übertriebener rhetorischer Vehemenz her.279 Der rhetorische Konflikt zwischen Anklage und Verteidigung widerspricht in vielerlei Hinsicht den gesellschaftlichen Gegebenheiten der späten Republik. Martin JEHNE hat dies anhand des Begriffs der „Statusdissonanz“ exemplifiziert. Besonders der Umstand, dass jüngere Redner verdiente Aristokraten herausfordern konnten und dabei nicht selten siegreich blieben, stellte die althergebrachte Hierarchie infrage.280 Der Autor untersucht die Mechanismen, die der Gesellschaft die Aufrechterhaltung dieser Hierarchie ermöglichten, und kommt unter anderem zu 277
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Dass das gesteigerte Misstrauen der Jugend gegenüber nicht nur eine Folge der Catilinarischen Verschwörung war, sondern sich auch längere Zeit gehalten hat, scheinen einige Stellen aus der Rede für Caelius zu belegen. So spricht Cicero die negative Sichtweise in Cael. 6 oder Cael. 11 an, und weist diese explizit als Phänomen der Zeit aus; vgl. Cael. 30: Tantum peto, ut, si qua est invidia communis hoc tempore aeris alieni, petulantiae, libidinum iuventutis, quam video esse magnam, ne huic aliena peccata, ne aetatis ac temporum vitia noceant. Den Bezug zu Catilina stellt der Redner her, indem er vorgibt, selbst von diesem getäuscht worden zu sein (Cael. 14), ein Eingeständnis, das vielleicht mehr als nur ein rhetorischer Trick ist (vgl. Cic. Att. 1,11,1, wo Cicero explizit mit dem Gedanken spielt, Catilina zu verteidigen). Der scheinbar vorherrschenden negativen Konnotation setzt der Redner die positiven Aspekte der Jugend entgegen (vgl. Cael. 10, 28, 42) und vor allem das Argument, dass allzu strenge Forderungen unrealistisch seien (Cael. 39). Die ambivalente Behandlung des Jugend-topos durch Cicero ist in der Forschung des Öfteren als Hinweis auf einen willkürlichen Umgang mit Wertbegriffen gedeutet worden (vgl. Classen 2000, S. 84; Classen 1973, S. 77; Braun 2003, S. 75-77). Betrachtet man diese Ambivalenz jedoch sowohl aus der Perspektive der jeweiligen historischen Zeitumstände als auch aus dem Blickwinkel der Rollentheorie, lassen sich bestimmte Muster erkennen. Cic. Cael. 7. Cic. Cael. 8: Illud tamen te esse admonitum volo, primum ut qualis es talem te esse omnes existiment ut, quantum a rerum turpitudine abes, tantum te a verborum libertate seiungas […] Vgl. Jehne 2000b, S. 170-171.
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dem Schluss, dass dies auch durch eine „sektorale Ausgrenzung der Gerichtssituation als Sonderritual“281 geschah. Die Anklage wurde zum „Initiationsritus“ und bot den adulescentes die Möglichkeit, aufzusteigen und sich in die bestehende Hierarchie einzufügen.282 Für unsere Zwecke von Belang ist jedoch nicht so sehr, dass die Statusunterschiede der beiden Parteien im Bezugsfeld der Gerichtsverhandlung durch explizite Normierung bewusst sozial ungleich gehalten wurden, sondern vielmehr dass man im Zuge dessen besonderen Wert auf diejenigen Attribute gelegt hat, welche die bei der Rollenübernahme konstatierte Komplementarität der Positionen bekräftigen. Der Status des Patrons ist durch die großen Zugeständnisse kompensiert worden, die den Altersattributen des Anklägers entstammen. Zum einen genoss dieser die Freiheit, Themen in einer Art und Weise anzusprechen, die für einen älteren Patron unmöglich gewesen wäre, zum anderen rief seine impulsive Vorgehensweise auch eine emotionale Reaktion hervor, die mitunter stärker ausfallen musste als die Resonanz auf die dezent-zurückhaltende Art des Patrons.283 Dass Cicero unter Beachtung dieser Vorschriften als Meister der Instrumentalisierung von Gefühlen galt und trotz dieser Hürden den Zuhörern eine vehemente emotionale Antwort entlocken konnte, begründet in einem nicht unerheblichen Umfang seinen Erfolg. Anhang: Rollenwechsel in der Rede für Roscius Die Rolle Ciceros im Prozess gegen Sextus Roscius befand sich in vielerlei Hinsicht an der Schnittstelle zwischen Anklage und Verteidigung. Als 26-jähriger Patron konnte er die Vorzüge dieser Position nicht genießen, gleichzeitig jedoch war es nicht selbstverständlich, dass ihm die Nachsicht entgegengebracht würde, die einem Ankläger zugutekam. So hätte er auf die Vorteile eines überlegenen Status verzichten müssen, genauso wie auf die Zugeständnisse der Gesellschaft an eine legitime, auf Feindschaft beruhende oder im Staatsinteresse vorgetragene Ankla281 282 283
Ebd., S. 178. Ebd., S. 179-180. Vgl. David 1997, S. 43-44, der die überschwängliche Redeweise der jugendlichen Ankläger mentalitätsgeschichtlich in eine populare, gracchische Tradition einbettet.
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ge. Ersteres war für Cicero von vornherein ausgeschlossen. Die gesellschaftliche Position des Patrons konnte er sich nicht zusprechen, zudem forderte das decorum von ihm ein Verhalten, das seinen Attributen – und insbesondere seiner Jugend – entsprach. Infolgedessen blieb Cicero nichts anderes übrig, als eine gewagte Umkehr der Verteidigung in eine heftige Anklage zu inszenieren.284 Subtil bereitet er seine Zuhörer schon im exordium auf diese Inversion vor, wenn er eine Antithese zu den schweigenden patroni des Roscius herstellt. Zunächst werden die Attribute benannt, die zum Rollenbild des Patrons gehörten, und deren Implikationen erörtert. Es ist ein Hauptanliegen des Redners, unter Beweis zu stellen, dass die oben angeführten Merkmale der Verteidigungsrede für die Aufgabe, die er zu erfüllen hat, unangemessen wären. Explizit führt er die Hinderungsgründe an: Ich […] kann alles, was ausgesprochen werden muss, offen aussprechen […]. Zudem kann bei den übrigen wegen ihres adligen Ranges und ihres Ansehens kein Wort unbekannt bleiben, noch lässt ihr Alter und ihre Einsicht zu, dass man ihnen einen unbedachten Ausspruch zugutehält. Doch wenn ich mich einmal allzu freimütig äußere, dann braucht es weiter kein Aufsehen zu erregen, weil ich mich noch nicht politisch betätigt habe, oder man kann es meiner Jugend nachsehen […]285
Die Dissonanz zwischen den Anforderungen der Rede und dem erwarteten Rollenbild wird hier deutlich. Der Konflikt der nobiles besteht nicht zuletzt darin, dass sie laut Cicero eine Inkonsistenz in Bezug auf ihre gesellschaftliche persona an den Tag legen müssten, um die Sache des Roscius gebührend zu vertreten. Anders als in den üblichen Verteidigungsreden verlange dieser Prozess nicht nach der Würde des Alters und eines gewissen Status, sondern nach der Angriffslust der Jugend. Stufenweise werden sodann im Laufe der oratio die wichtigsten Personen der 284
285
Vgl. auch Pötter 1967, S. 53. Die Apologien, die sie zu Beginn dieses Rollenwechsels erkennt, sind auch ein Anzeichen für die Vorsicht, die Cicero angesichts seiner gewagten Taktik an den Tag legen musste. Cic. S. Rosc. 3: Ego autem si omnia, quae dicenda sunt, libere dixero […] Deinde quod ceterorum neque dictum obscurum potest esse propter nobilitatem et amplitudinem neque temere dicto concedi propter aetatem et prudentiam. Ego si quid liberius dixero, vel occultum esse propterea, quod nondum ad rem publicam accessi, vel ignosci adulescentiae meae poterit.
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Gegenseite eingeführt, begleitet von der Darstellung ihrer jeweiligen Rolle in der Ermordung des älteren Roscius.286 Einen Kulminationspunkt erreicht die Inversion gegen Ende des exordium, eingeleitet durch ein ausdrückliches Bekenntnis Ciceros zu seinen Absichten:287 Es klagen die an, die sich über das Vermögen dieses Mannes hergemacht haben; es verteidigt sich der, dem sie außer seinem Unglück nichts übrigließen. Es klagen die an, für die es vorteilhaft war, dass der Vater des Sex. Roscius ermordet wurde; es verteidigt sich der, dem der Tod des Vaters nicht nur Trauer, sondern auch Armut brachte. Es klagen die an, die alles darauf anlegten, diesen Mann hier umzubringen; es verteidigt sich der, der sogar zu dieser Verhandlung mit einer Schutzwache kam, um nicht hierselbst vor euren Augen niedergemacht zu werden. Und schließlich: es klagen die an, deren Bestrafung das Volk fordert; es verteidigt sich der einzige, der von dem ruchlosen Morden dieser Gesellen übriggeblieben und noch am Leben ist.288
Die Rosciana muss also auch vor dem Hintergrund der sozial-normativen Gratwanderung analysiert werden, durch die der Redner seine Altersdevianz wettmachen möchte. Sie bietet außerdem ein gutes Beispiel für das Verhalten angesichts einer unumgänglichen Rolleninkonsistenz und belegt die Bedeutung der constantia, die zwischen den gesellschaftlichen Attributen des Redners und seinem rhetorischen Auftreten vorherrschen musste. Die an die Person gekoppelten altersabhän286
287 288
Cic. S. Rosc. 37-82 behandelt die Anklagepunkte, jedoch mit dem Hintergedanken, die Verfehlungen des Erucius in seiner persona als Ankläger offenzulegen, S. Rosc. 83-123 entlarvt die beiden Roscii als wahre Hintermänner, während S. Rosc. 124-142 sich dem Angriff auf Chrysogonus widmet. Cic. S. Rosc. 12: Qua vociferatione in ceteris iudiciis accusatores uti consuerunt, ea nos hoc tempore utimur qui causam dicimus. Cic. S. Rosc. 13: Accusant ei qui in fortunas huius invaserunt, causam dicit is, cui praeter calamitatem nihil reliquerunt; accusant ei, quibus occidi patrem Sex. Rosci bono fuit, causam dicit is, cui non modo luctum mors patris attulit, verum etiam egestatem; accusant ei, qui hunc ipsum iugulare summe cupierunt, causam dicit is, qui etiam adhoc ipsum iudicium cum praesidio venit, ne hic ibidem ante oculos vestros trucidetur; denique accusant ei, quos populus poscit, causam dicit is, qui unus relictus ex illorum nefaria caede restat.
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gigen Charakteristika sowie der normativ klar definierte Gegensatz zwischen den beiden Rednern wiesen bereits vorab dem potentiellen Anwalt eine Position zu. Man konnte sich seinem offenkundigen Alter ebenso wenig entziehen wie den Erwartungen, mit denen man dementsprechend konfrontiert wurde. Da aber sowohl der Status des Verteidigers als auch die Indulgenz gegenüber dem jugendlichen Ankläger auf Attribute zurückgehen, die bereits eine solche Konsistenz voraussetzen, war einem jeden Rollenwechsel die Gefahr immanent, neben einer augenscheinlichen Devianz auch den dazugehörigen Vorteil zu verlieren. Die vorsichtige Konstruktion einer vermeintlichen Anklage durch Cicero sollte ebendieser Gefahr entgegenwirken. Der zweite Hintergedanke betrifft die politische Komponente des Prozesses. Dabei mag Cicero die Bedeutung des Chrysogonus übertrieben haben, was jedoch ganz im Sinne seiner Prozesstaktik war. Dadurch gliedert der Redner seine „Anklage“ in das Rollenbild der von der Staatsraison motivierten accusatio ein. Chrysogonus wird zum Sinnbild des Attentäters auf die Fundamente der res publica, während Cicero selbst den Hörern die Fiktion eines aufstrebenden jungen Anklägers, der diesen vor Gericht bringt, offeriert. Allerdings musste sich der Redner durch eine Reihe von Apologien die Akzeptanz der Hörer erst sichern. Dass sein Vorgehen nicht selbstverständlich war, belegen die häufigen Passagen, in denen Cicero beteuert, sein eher mit der Anklägerposition konformes Auftreten sei ihm aufgezwungen worden.289 Insbesondere die Ausführungen, welche die beiden Roscii als wahre Täter entlarven sollten, mussten den Richtern, die von diesem Rollenwechsel (noch) nicht überzeugt waren, suspekt vorkommen, und bedurften eines vorsichtigen Umgangs mit den betreffenden Argumenten: […] doch es ist meine Absicht, wie ich schon früher gesagt habe, flüchtig darüber hinwegzugehen und jeden einzelnen Umstand nur oberflächlich zu berühren. Jedermann soll einsehen, dass ich mich nicht beeifere anzuklagen, sondern meiner Pflicht als Verteidiger genüge.290 289 290
So z. B. an der oben angeführten Stelle (Cic. S. Rosc. 83): Venio nunc eo quo me non cupiditas ducit sed fides. Cic. S. Rosc. 91: […] sed in animo est, quem ad modum ante dixi, leviter transire ac tantum modo perstringere unam quamque rem, ut omnes intellegant me non studio accusare sed officio defendere.
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Die Inversion bleibt selbstverständlich verborgen, obgleich den Zuhörern unterschwellig eine solche nahegelegt wird. So gelingt Cicero in der Rosciana eine bemerkenswerte Gratwanderung, indem er die constantia bewahrt, die von ihm einfordert, sich seinem Alter entsprechend zu verhalten, und dennoch die patronalen Pflichten wahrnimmt. Sein Erfolg in diesem Prozess zeigt auch, dass die Richter den vorgeschlagenen Rollenwechsel angenommen haben und die Devianz dadurch entkräftet wurde, dass die Zuhörer Cicero zu einem gewissen Teil die Rolle des Anklägers – mit sämtlichen Zugeständnissen an die Art und Weise des Vortrages – attestierten.291
3
Kontraproduktive Redegabe? Ingenium und dissimulatio artis
3.1
Der Ruf der Rhetorik
Ein gewisses Misstrauen rhetorischen Überredungsstrategien gegenüber ist eine Empfindung, die man heutzutage gut nachvollziehen kann.292 Dieses Gefühl war jedoch selbst der Stadt, die einen Cicero hervorgebracht hat, nicht fremd. Der Redner selbst leitet sein Jugendwerk, De 291
292
Der stilistische Überschwang der Rosciana wird auch in Cic. or. 107 erwähnt. Ein solcher Rollenwechsel ist in den frühen Reden Ciceros kein Einzelfall. Bereits im pro Quinctio präsentiert er sich als Verteidiger und weist Hortensius die für diesen unpassende Position des Anklägers zu (Quinct. 8). Fuhrmann 2000, Bd. 1, S. 365, Anm. 2 stellt fest, dass Ciceros Vokabular durch die Gegenüberstellung von Verteidigung und Anklage bewusst die Fiktion eines Strafprozesses schafft. Ganter 2015b, S. 33-35 sieht einen ähnlichen Rollentausch in der divinatio in Caecilium, wo Cicero seine Rolle als Patron der Sizilier in den Vordergrund rückt. So stellt Carl Joachim CLASSEN bereits in der Einleitung zu seinem Buch über Ciceros rhetorische Strategie fest, dass „sich in Deutschland seit langem eine tiefe Skepsis gegen die Redekunst eingewurzelt [hat], und im Gefolge dieser Skepsis pflegt man […] deren Theorie wie deren praktische Anwendung zu verachten“ (Classen 1985, S. 1); vgl. auch Wieacker 1965, S. 16-17; Schottlaender 1967, S. 142-146; Andersen 2001, S. 18.
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inventione, mit einer Ehrenrettung der Rhetorik ein, die einige Einblicke in die Ansichten seiner Zeitgenossen liefert.293 Für ihn ist die Fähigkeit, Menschen zu überzeugen, ein wesentlicher Bestandteil der Herausbildung zivilisierter Gemeinschaften. Allerdings soll diese im Laufe der Zeit immer mehr dadurch in Verruf geraten sein, dass charakterlose Redner sie missbrauchten, um ihre persönlichen Ziele durchzusetzen und gleichzeitig die höchsten Gipfel des Staatswesens zu erklimmen. So blieb den boni nichts anderes übrig, als sich ins Privatleben zu flüchten, während die Redekunst nun überwiegend in den Händen von Demagogen lag. Die Stellung, die die Rhetorik in diesem evolutionären Bild Ciceros einnimmt, offenbart die Gefahren, welche von einer Tätigkeit ausgehen, die in einer face-to-face-society ein zentrales Mittel politischer Willensbildung darstellt. Ihre Instrumentalisierung – und nicht die Rhetorik selbst – ist somit für Cicero der Hauptgrund, wieso ihr mit odium und invidia begegnet wird.294 Man kann hinter dieser Passage den Wunsch eines aufstrebenden jungen Ritters erkennen, die Kunst, in der er sich auszeichnen möchte, in Schutz zu nehmen, gleichzeitig offenbart sie eine tatsächliche, tief verwurzelte Skepsis der Gesellschaft.295 Als Cicero diese Schrift verfasste, konnte Rom bereits auf rund ein Jahrhundert rhetorische Entwicklung zurückblicken. Wie in vielen anderen Bereichen auch, war es der Kontakt mit der hellenistischen Welt, der dazu geführt hat, dass die Redekunst Einzug in die Stadt hielt. Es war jedoch kein triumphaler Einzug. Das griechische Exportprodukt hatte große Schwierigkeiten, sich durchzusetzen, und die Erfolgsgeschichte der spätrepublikanischen Rhetorik kam erst nach einer Reihe von Rückschlägen zustande. Die Erklärungen, die in der Forschung dafür geliefert wurden, sprechen gezielt Fragen der Mentalität und der damit verbundenen soziale Normierung im zweiten vorchristlichen Jahrhundert an. Erstens sei eine rasche Akzeptanz der Rhetorik durch den römischen Ethnozentrismus verhindert worden. Eine griechische Kunst, die auf Überredung abzielt, musste dem sachlichen, alles Überflüssige ver-
293 294 295
Cic. inv. 1,1-6. Cic. inv. 1,4. Dieses Bild spiegelt selbstverständlich auch die Zustände wider, die ungefähr zu der Zeit herrschten, als Cicero die Rede für Sex. Roscius gehalten hat.
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schmähenden Wesen der mittleren Republik zuwiderlaufen.296 Zweitens entsprach das Erlangen großer auctoritas ausschließlich durch die Redegabe nicht dem sozialen Gefüge der Zeit. Die Balance hereditärer und meritokratischer Elemente wäre durch die Überhöhung einer Kunst, die keine Züge altrömischer Tugenden vorweisen konnte, gefährdet worden.297 So liest sich die Geschichte der Rhetorik in Rom als ein langsames Vordringen, das gelegentlich von höchster Stelle reglementiert werden musste. Im Jahre 161 v. Chr. ist auf Antrag des Prätors M. Pomponius ein senatus consultum erlassen worden, das die Ausweisung der griechischen Philosophen und Redner in die Wege leiten sollte,298 92 v. Chr. folgte ein Edikt der Zensoren L. Licinius Crassus und Cn. Domitius Ahenobarbus, das die Praxis des Rhetorikunterrichts in lateinischer Sprache mit einem expliziten Hinweis auf die Übertretung des mos maiorum rügte.299 Die Entwicklung, die zwischen diesen Maßnahmen statt296 297
298
299
Neumeister 1964, S. 143 weist auf die faktische Synonymie von dissimulatio artis und dissimulatio Graecarum rerum hin; vgl. auch Achard 2006, S. 74. Ebd.; vgl. auch Neumeister 1964, S. 141-142, der die Vorgabe der Nüchternheit und Sachlichkeit in der römischen Rhetorik auf die Notwendigkeit zurückführt, der Würde des Gerichts, aber auch dem Status des Redners zu entsprechen. Aus diesem Denken heraus sei auch die Vorschrift der dissimulatio artis zu verstehen. Suet. rhet. 25,1; Gell. 15,11,1; vgl. Steel 2006, S. 67-70; Stroup 2010, S. 2829; Alexander 2010, S. 106; Pina Polo 1996, S. 66. In diesem Zusammenhang muss auch die Philosophengesandtschaft des Jahres 155 v. Chr. erwähnt werden; vgl. Plut. Cato mai. 22,2-5. Besonders Karneades’ Demonstration einer argumentatio in utramque partem soll einen derartigen Zulauf erfahren haben, dass Cato die Gesandtschaft so schnell wie möglich abfertigen wollte, um die römische Jugend nicht weiter den Einflüssen der griechischen Philosophen auszusetzen: δεῖν οὖν τὴν ταχίστην γνῶναί τι καὶ ψηφίσασθαι περὶ τῆς πρεσβείας, ὅπως οὗτοι µὲν ἐπὶ τὰς σχολὰς τραπόµενοι διαλέγωνται παισὶν Ἑλλήνων, οἱ δὲ Ῥωµαίων νέοι τῶν νόµων καὶ τῶν ἀρχόντων ὡς πρότερον ἀκούωσι (Plut. Cato mai. 22,5); vgl. dazu auch David 1992, S. 343-344; Christes 1998, S. 156. Suet. rhet. 25,1; Gell. 15,11,2; s. auch Tac. dial. 35,1; vgl. dazu Pina Polo 1996, S. 67-68, 81-87; Kennedy 1972, S. 93-96; Stroup 2010, S. 29-33; Steel 2006, S. 71-72; Achard 2006, S. 76; Alexander 2010, S. 106. Gell. 15,11,3 erwähnt auch eine spätere Ausweisung unter Domitian.
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gefunden hat, ist bezeichnend. Die Rhetorik an sich gewann an Akzeptanz und wurde nicht mehr als Ganzes infrage gestellt. Allerdings war man bestrebt, sie durch den Unterricht in griechischer Sprache nur einer kleinen Elite zugänglich zu machen. Die aufkommende Latinisierung der Redekunst gefährdete die gesellschaftliche Hierarchie insofern, als sie der breiten Masse ein Instrument zur Verfügung gestellt hätte, das in der Praxis bereits ein bewährtes Mittel für politischen Erfolg war.300 Somit wäre eine unerwünschte „Statusdissonanz“ vorprogrammiert gewesen. In den ersten Jahren der hier untersuchten Zeitspanne haftete der Rhetorik also ein Makel an, den ein Redner bei seinen Ausführungen gewiss beachten musste. Allerdings zeigen die wiederholten Versuche der nobiles, die Redekunst in geordnete Bahnen zu lenken, dass sie auch einen immensen Anreiz für mögliche Aufsteiger geboten hat und zugleich großen Anklang bei den Zuhörern fand.301 Eine Stelle im Orator scheint zu belegen, dass Cicero noch im Jahre 46 v. Chr. mit dieser Ambivalenz zu kämpfen hatte. Er antwortet dort prophylaktisch auf den Vorwurf, den man ihm daraus hätte machen können, dass er sich angesichts seines gesellschaftlichen Status mit dem Verfassen eines rhetorischen Werkes beschäftigt.302 Gewiss war mancher Zeitgenosse der Meinung, es sei unschicklich, die Jugend in eine Kunst zu unterweisen, die auf Täuschung basiert, allerdings steht dem nicht nur der große Erfolg, sondern auch das Ansehen, das Cicero durch diese Kunst erworben hatte, gegenüber. Deshalb soll in den nächsten Abschnitten 300
301
302
Vgl. Alexander 2010, S. 106-107; Stroup 2010, S. 29-33. Cicero lässt im De oratore den Urheber des Edikts selbst zu Wort kommen. Hier wird das gesellschaftliche Gefahrenpotential freilich nicht erwähnt, jedoch kann man aus Crassus’ Argument, die lateinischen Lehrer hätten der Jugend nichts als audacia beigebracht, einen Eindruck vom Umfang der Instrumentalisierung gewinnen. So sähe es Crassus lieber, wenn die Rhetorik den (wenigen) Gebildeten vorbehalten bliebe (Cic. de or. 3,93-95). Pina Polo 1996, S. 85 erklärt das Edikt auch mit dem Wunsch, „der zunehmenden Spezialisierung in der Elite Einhalt zu gebieten.“ Vgl. Achard 2006, S. 77. Der Autor sieht den Hauptgrund für den „Triumph“ der Rhetorik darin, dass das Volk allmählich einen Geschmack für gut vorgetragene Reden entwickelte; vgl. auch Neumeister 1964, S. 142. Cic. or. 140-146.
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versucht werden, die Mentalität bezüglich der Zurschaustellung rhetorischer Fähigkeiten nachzuzeichnen sowie eine mögliche Veränderung der Einstellungen zu ermitteln. 3.2
Ingenium: Die Reputation als Redner
Der Wandel in der Patronatskonzeption hat selbstverständlich auch dazu geführt, dass für die Verteidigung faktisch nur ein ausgewählter Kreis von Rednern infrage kam. Gemeinsames Attribut dieser Anwälte war das überlegene rhetorische Talent. Diese Prämisse macht deutlich, dass die Fähigkeiten eines Gerichtspatrons nicht lange verborgen bleiben konnten. Wiederholtes Auftreten auf dem Forum, das in den günstigsten Fällen mit einem erfolgreichen Ausgang des Prozesses verbunden war, musste auch dazu beitragen, dass die Anwälte eine gewisse Reputation in ihrer Funktion als Redner erlangten. Das ingenium kommt somit erwartungsgemäß in den orationes des Öfteren zur Sprache. In der Rede für Roscius ist es eines der Attribute, die der jugendliche Anwalt nicht vorweisen kann, was dazu führt, dass er seine Devianz begründen muss. Später heißt es: Ich erkenne, dass ich über diese Dinge, so ungeheuerlich und scheußlich wie sie sind, nicht treffend genug sprechen, nicht eindringlich genug Klage führen, nicht freimütig genug meine Stimme erheben kann. Denn dem treffenden Ausdruck steht mein geringes Können (ingenium), der Eindringlichkeit mein jugendliches Alter, dem Freimut die Ungunst der Zeiten im Wege.303
Beide Sätze erwecken den Eindruck, dass das Redetalent positiv konnotiert sei, ja gewissermaßen sogar zu den Erwartungen der Zuhörer gehörte. Allerdings ist zumindest die zweite Passage als Ausdruck der captatio benevolentiae zu verstehen. Cicero gibt hier zu erkennen, dass er sich trotz aller Hindernisse für den Angeklagten einsetzt, was letzten Endes 303
Cic. S. Rosc. 9: His de rebus tantis tamque atrocibus neque satis me commode dicere neque satis graviter conqueri neque satis libere vociferari posse intellego. Nam commoditati ingenium, gravitati aetas, libertati tempora sunt impedimento; vgl. dazu Landgraf 1914, S. 30-31.
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besonders dann das Wohlwollen der Richter gewinnen soll, wenn er entgegen dieser Ausführungen eine gute Rede präsentiert. Sein mangelndes ingenium ist hier sogar der Garant dafür, dass er die Richter nicht täuschen möchte.304 Die erste Stelle muss dagegen wörtlich verstanden werden. Ist die Einleitung der Rosciana nicht als Kritik an den nobiles zu werten, kann auch ihr ingenium – hätten sie das Wort ergriffen – zu den akzeptierten Attributen eines Patrons gezählt werden. Eine gewisse Vorsicht ist hier aber wegen der hypothetischen Natur des ciceronischen Arguments geboten. Wendet er in der gesamten Rede große Mühe darauf, die Altersdevianz (durch den Rollenwechsel) und die mangelnde auctoritas (durch die häufige Berufung auf Roscius’ Unterstützer) zu entkräften, versucht Cicero nur selten, das dritte fehlende Attribut zu erlangen. Wie sehr die Zuhörer von einer angenehmen Rede beeinflusst werden konnten, wird aber anderenorts in der Rosciana deutlich. In einer längeren Passage bemüht sich Cicero, der Voreingenommenheit der Richter bezüglich der Vorwürfe gegen seinen Klienten entgegenzuwirken. Dieser ist des Vatermordes bezichtigt worden, was bei den iudices höchstwahrscheinlich für eine nicht zu unterschätzende Antipathie Roscius gegenüber gesorgt hat. Der Redner dreht in seiner Argumentation den Spieß um. Er macht die iudices in diesem Kontext darauf aufmerksam, dass sie bei einer derart gravierenden Anklage umso mehr von der Schuld überzeugt sein müssten, bevor sie den Angeklagten verurteilen. Der Vorwurf sei ja nur deshalb so unglaublich, weil man diese Tat nur schwer jemandem zutrauen würde. So dürften die Richter insbesondere in dieser Art von Fällen sich nicht vom ingenium des Anklägers beeinflussen lassen, sondern gewissenhaft nach Schuldmomenten suchen.305 Zwar kann diese Anmerkung als Leitfaden für sämtliche Gerichtsverhandlungen dienen, wichtig ist jedoch nicht nur das Zugeständnis, dass die Redegabe unmerklich das Vertrauen der Richter gewinnen kann und in der Praxis das Urteil oft entscheidend beeinflusst, sondern auch die
304 305
Vgl. Quint. inst. 4,1,8: […] quaedam in his quoque commendatio tacita, si nos infirmos, imparatos, impares agentium contra ingeniis dixerimus. Cic. S. Rosc. 62.
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Tatsache, dass die iudices angesichts dieses Arguments zweifellos hellhörig wurden.306 Eine weitere Stelle aus der Rosciana muss in diesem Zusammenhang noch erwähnt werden. Im Zuge der Entkräftung gegnerischer Argumente weist der Redner darauf hin, dass sich in der Anklagerede nichts finden ließe, was auch nur ansatzweise auf die Schuld seines Klienten hindeuten würde. Wäre dies der Fall, hätte Erucius seine gesamte Redegabe in die Waagschale geworfen: Wenn du, Erucius, bei dem Angeklagten so zahlreiche und so erhebliche Umstände ermittelt hättest, wie lange würdest du sprechen! Wie würdest du dich in die Brust werfen! Beim Herkules, die Zeit würde dir eher ausgehen als die Worte.307
Allerdings ist darin nicht nur ein indirektes Konzedieren des potentiellen ingenium seines Gegners enthalten, Cicero spricht sich diese Qualitäten zum ersten Mal in der Rede selber zu: Auch ich könnte es; denn wenn ich mir auch nichts ungerechtfertigt zuspreche, so viel spreche ich mir nicht ab, dass ich glaubte, du könntest wortreicher reden als ich.308
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So auch Quint. inst. 8,3,2; vgl. Andersen 1996, S. 86; Andersen 2001, S. 210. Quint. inst. 8,3,5 liefert auch eine Erklärung dafür: Nam qui libenter audiunt, et magis adtendunt et facilius credunt, plerumque ipsa delectatione capiuntur, nonnumquam admiratione auferuntur; vgl. dazu auch Andersen 1996, S. 80-81. In Cic. Quinct. 1 wird die Ambivalenz deutlich, wenn der Redner das ingenium des Hortensius in einem Atemzug mit der (unerlaubten) Macht des Naevius nennt. Dagegen gibt Cicero zu erkennen, dass er sein fehlendes Talent durch diligentia kompensieren möchte (Quinct. 4). Cic. S. Rosc. 89: Haec tu, Eruci, tot et tanta si nanctus esses in reo, quam diu diceres! Quo te modo iactares! Tempus hercule te citius quam oratio deficeret. Zusammen mit der Kritik an der schlechten Rede des Erucius (S. Rosc. 42) ist dies zudem ein Hinweis auf die Nachlässigkeit des Gegenanwalts. Cic. S. Rosc. 89: Neque ego non possum; non enim tantum mihi derogo, tametsi nihil adrogo, ut te copiosius quam me putem posse dicere.
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So kommt man zu der Feststellung, dass die Behandlung der Redegabe in der Rosciana von einer gewissen Widersprüchlichkeit gekennzeichnet ist. Die Skepsis scheint hier zu überwiegen, so dass die Richter für das Argument, sie könnten Opfer des ingenium werden, empfänglich sind. Folglich konnte man auch großen Nutzen aus dem Vortäuschen rhetorischer Unterlegenheit ziehen.309 Andererseits beginnt sich – wenn auch nur schüchtern – die Möglichkeit anzubahnen, sich für sein Redetalent nicht schämen zu müssen.310 Besonders im Falle des Patrons scheint das ingenium zu einem Attribut geworden zu sein, das einer gewissen Erwartungshaltung entsprach. So ist das nicht zuletzt ein Akzeptieren der evidenten Tatsache, dass das häufige Auftreten als Redner zwangsläufig auch zu einer Gewandtheit in rhetorischen Belangen führt. Diese Ambivalenz und die geringe Sanktionsbereitschaft sprechen außerdem für eine Norm, die sich inmitten einer gesellschaftlichen Neuverhandlung befand.311 Ende der 80er Jahre trifft die altbewährte Skepsis, der man im De inventione noch begegnen kann, auf eine praxisorientierte Anerkennung des ingenium, wobei die Entscheidung über dessen Akzeptanz noch keineswegs endgültig gefällt worden war. In den darauffolgenden Jahren scheint sich diese Entwicklung jedoch – auch begünstigt durch die Zunahme der Prozesse – kontinuierlich fortgesetzt zu haben.312 In seiner Verteidigung des P. Sulla kommt Cicero auf die Rede des Q. Hortensius zu sprechen, der ebenfalls als Patron 309
310 311 312
Dass dies ein Phänomen der Zeit war, belegt unter anderem die Vielzahl an ähnlichen Passagen aus der Rede für Quinctius: z. B. Quinct. 1, 2, 7, 8, 33, 35, 44, 72; vgl. auch Andersen 2001, S. 210. Classen 2000, S. 79 betrachtet das ingenium ebenfalls als ambivalent. Bereits als uneingeschränkt positiv erscheint es bei Gell. 4,9,14. Sich ein solches jedoch offensiv zuzusprechen blieb weiterhin ein Tabu (vgl. Cic. div. in Caec. 36). Für die These der Proportionalität von Sanktion und Normgeltung vgl. Dahrendorf 2010, S. 72. Schon in der Cluentiana kann der Redner die Anekdote über den älteren Caepasius erzählen, dessen mangelndes ingenium zumindest für Belustigung gesorgt hatte; vgl. Cic. Cluent. 58-59. Im Gegenzug lobt Cicero das Talent seines Gegenanwalts Cannutius im Skamander-Prozess (Cluent. 50). Eine neutrale bis positive Konnotation erhält das Konzept bereits in der Rede für Caecina, wenn Cicero die Notwendigkeit postuliert, für die Darstellung der juristischen Finessen ein gewisses ingenium aufbringen zu müssen (Caec. 5).
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Sullas aufgetreten war und vor Cicero gesprochen hatte. Letzterer lobt an seinem Vorredner nicht nur die ethisch korrekten Motive, die diesen zur Übernahme des Patronats veranlasst haben, sondern explizit auch die rhetorischen Qualitäten seiner Rede: Die Rede, mit der er diesen Punkt zurückwies, zeichnete sich durch Gedankenreichtum und Bravour aus und enthielt zugleich ebenso viel sachliches Gewicht wie Könnerschaft.313
Dass sich dieses Lob auf Hortensius bezieht, ist hier ein willkommenes Detail. Zusammen mit Cicero gehörte dieser zur rhetorischen Elite der vergangenen Jahrzehnte, so dass es zweifellos auch dem decorum widersprochen hätte, die ohnehin von den Hörern attestierte Redegabe verheimlichen zu wollen. Wie bereits gezeigt, verbot die soziale Normierung zwar eine Professionalisierung der Anwaltstätigkeit, zugleich zeigte man aber eine erhöhte Akzeptanz gegenüber der Spezialisierung Einzelner. So ist die Tatsache, dass das patrocinium des Hortensius seiner Eloquenz vorausgeschickt wird, bezeichnend. Hatte man die Norm bezüglich der gesellschaftlichen Bindung eingehalten, fiel die Akzeptanz eines gewissen Maßes an ingenium leichter. Man kann die Etablierung der Redegabe als soziale Norm in das obige Erklärungsmuster des spätrepublikanischen Patronatssystems einreihen. Je mehr Zugeständnisse man an die Spezialisierung der Redner machte, desto mehr musste das – durch Erfahrung nur noch gesteigerte – Talent eines Verteidigers ebenfalls akzeptiert werden. Dagegen war die Einhaltung der Pflicht, eine gesellschaftliche Bindung zu seinem Klienten vorzuweisen, der letzte Schein früherer Verhältnisse, der dafür umso beharrlicher beschützt wurde. Man kann also für die Mitte des ersten Jahrhunderts bereits konstatieren, dass das ingenium vollends zu einem Rollenattribut des Verteidigers geworden war, eine Entwicklung, die nicht zuletzt auf die Praxis patronaler Iterationen zurückzuführen ist. In besonderem Maße kommt dies in der Caeliana zum Tragen. Hier hat der Klient bereits selbst eine
313
Cic. Sull. 12: Cuius in hoc crimine propulsando cum esset copiosissima atque ornatissima oratio, tamen non minus inerat auctoritatis in ea quam facultatis.
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Vorgeschichte als erfolgreicher Anwalt, so dass Cicero die Gelegenheit geboten wird, auch auf dessen ingenium zu rekurrieren: Ihr habt ihm zugehört, als er für sich selbst sprach, ihr habt ihm schon früher zugehört, wenn er Anklage erhob […] da habt ihr seine Art des Vortrags, sein Können, die Fülle der Gedanken und Wendungen, sachkundig wie ihr seid, bemerkt, und ihr konntet euch nicht nur von seiner glänzenden Begabung (ingenium) überzeugen […]314
Caelius’ Talent manifestierte sich also nicht nur durch die Rede, die er im Zuge dieses Prozesses in eigener Sache gehalten hat, sondern auch während der früheren Anklagen, durch die er sich dem Volk empfohlen hatte. Das ingenium ist hier ausdrücklich keine Eigenschaft, die allein dem Patron zugesprochen wird, sondern sie kann ebenso vom Ankläger zur Schau gestellt werden. Dies wird deutlich, wenn man auf die Behandlung der Anklagerede des Atratinus blickt. Der wohlwollende Umgang mit dem Sohne, der durch die Wahrnehmung des Rachegebots den gesellschaftlichen Konventionen entspricht, ist für Cicero aus gutem Grunde Pflicht. In diesem Zusammenhang lobt er aber auch die Merkmale seiner Rede. So hätte Atratinus einen den Umständen und der Person angemessenen Anstand in seiner oratio vorgezeigt, zugleich aber auch ein löbliches Maß an ingenium unter Beweis gestellt.315 Diese Entwicklung scheint entweder parallel oder nur mit unwesentlicher Verzögerung zu den Zugeständnissen an das Talent des Verteidigers verlaufen zu sein und belegt die Bestrebungen der Gesellschaft, trotz unterschiedlicher Attribute das Gleichgewicht in der Gerichtsverhandlung sicherzustellen.316 Da die vollständige Akzeptanz des inge314
315
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Cic. Cael. 45: Audistis, cum pro se diceret, audistis antea, cum accusaret […]; genus orationis, facultatem, copiam sententiarum atque verborum, quae vestra prudentia est, perspexistis; atque in eo non solum ingenium elucere eius videbatis […]; zum Talent des Caelius s. auch Cic. Brut. 273. Cic. Cael. 8. Ebenso werden die Reden der Nebenkläger positiv bewertet, obwohl Cicero – im Vertrauen auf die Stärke seines Falles – anmerkt, dass er diese nicht fürchten müsse (Cael. 25, 27); vgl. auch das Lob für Laterensis in Cic. Planc. 58. So machen die oben angeführten Stellen aus der Roscius-Rede auch keinen Unterschied zwischen Ankläger und Verteidiger. Die anfängliche Ambivalenz der Norm betraf ebenfalls beide Redner.
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nium ein Phänomen zu sein scheint, das sich erst im Laufe des letzten vorchristlichen Jahrhunderts herausgebildet hat, musste es in die bereits bestehenden normativen Vorstellungen integriert werden. So mag es rational aus der Praxis des Verteidigers heraus entstanden sein, zum Zwecke der Egalität im Rededuell ist aber das Attribut gleichermaßen auf den Ankläger übertragen worden. Allerdings wurde dem ingenium in einem Punkt die Aufgabe, die Akzeptanz der Hörer zu gewinnen, erleichtert. Es nahm innerhalb des Kanons römischer Wertbegriffe eine Position ein, die sehr nahe an Eigenschaften wie „Weisheit“ oder „Klugheit“ gerückt wurde.317 Die Trennlinie zwischen natürlicher Fähigkeit und erlernter Technik wird auch bei Cicero gezogen, als er auf den imaginären Vorwurf bezüglich des Abfassens rhetorischer Werke antwortet: Einsicht ist den Menschen angenehm, Zungenfertigkeit aber verdächtig.318
Somit erhielt das Talent als intellektuelles Attribut per definitionem eine positive Konnotation. Setzt man das ingenium jedoch in Relation zu den Erkenntnissen des ersten Kapitels, offenbart sich eine weitere grundlegende Funktion. Bestand der Sinn der Patronats- wie auch der Anklägerrolle darin, sämtliche Argumente, die entweder für oder gegen einen Angeklagten ins Feld geführt werden konnten, auch offenzulegen, so war dies nur möglich, wenn beide Anwälte fähig waren, den Hörern diese Informationen verständlich zu vermitteln. Im Zuge der divinatio gegen Caecilius ist dies eine der Eigenschaften, die Cicero seinem Konkurrenten abspricht.319 So dient es letzten Endes dem Interesse des übergeordneten Sinnes einer Gerichtsverhandlung, wenn sich die Gesellschaft – trotz des Risikos von guten Rednern in die Irre geführt zu werden – diejenigen Anwälte wünscht, die beide Attribute in sich vereinen: Außerdem übersiehst du, dass man nicht nur zu beachten pflegt, wer Vergeltung üben soll, sondern auch, wer sie üben kann, dass, wer beide Voraussetzungen erfüllt, den Vorzug verdient und dass man bei dem, der 317 318 319
Vgl. Klima 1971, S. 12: „Sapientia gilt als Funktion des ingenium und insofern als natürliche geistige Begabung“. Cic. or. 145: Prudentia hominibus grata est, lingua suspecta. Cic. div. in Caec. 37-39.
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nur einer von ihnen gerecht wird, gewöhnlich nicht fragt, was er will, sondern was er zu erreichen vermag.320
Davon zu trennen ist allerdings die Frage, ob man die Rhetorik als erlernte Kunst und somit auch einen vorbereitet vor die Richter tretenden Anwalt akzeptierte. 3.3
Dissimulatio artis: Die Normierung der Kunst
Ein Markenzeichen römischer Redekunst ist die in den Quellen oft erwähnte Vorschrift, die rhetorische Technik zu verbergen.321 Sie durchzieht die spätrepublikanischen Schriften zur rhetorischen Theorie und gibt vielerorts die Sanktionen wieder, die den Anwalt bei einer Übertretung erwarten. Erweckt man den Eindruck von Kunstfertigkeit, geht das auf Kosten von fides, gravitas und severitas,322 an anderer Stelle ist es auch die auctoritas des Redners, die darunter leidet.323 So wie die oben besprochenen Devianzen, kann also der Schein einer zu ausgefeilten Technik die elementaren Grundlagen der forensischen Tätigkeit infrage stellen und gehört somit zu den gravierenden Normübertretungen, die man in der Rolle des Gerichtspatrons oder des Anklägers um jeden Preis vermeiden sollte. Besondere Beachtung ist der Anordnung des Stoffes geschenkt worden. Speziell bei der Ankündigung der Redepunkte, aber auch anlässlich der Schlussfolgerungen in der peroratio musste sich der Anwalt davor hüten, die Ausarbeitung seines Vortrages zu entlarven.324 320
321 322 323 324
Cic. div. in Caec. 53: Et hoc te praeterit, non id solum spectari solere, qui debeat, sed etiam illud, qui possit ulcisci. In quo utrumque sit, eum superiorem esse, in quo alterutrum, in eo non quid is velit, sed quid facere possit, quaeri solere. Dementsprechend kann Cicero in den Verrinen selbstbewusst erklären, dass er keine Angst davor hätte, sich rhetorisch mit Hortensius zu messen, sondern nur die äußeren Machtmittel des Gegenredners (und zudem das im nächsten Kapitel diskutierte artificium) tadele (Verr. 2,5,174). Allgemein zur dissimulatio artis: Neumeister 1964, S. 130-155; Andersen 2001, S, 209-211; Andersen 1996, S. 72-73; Achard 2006, S. 102-103. Rhet. Her. 4,32; 1,17. Cic. de or. 2,156. Rhet. Her. 2,47; Cic. inv. 1,98; Cic. de or. 2,177; Cic. or. 38; vgl. dazu auch Neumeister 1964, S. 133.
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Dezidiert lässt Cicero Antonius sagen, das Ausschlaggebende beim Reden sei die Veranlagung, nicht die Kunst.325 Die großen Vorbilder, die er im De oratore zu Wort kommen lässt, waren es auch, die das Vortäuschen mangelnder rhetorischer Ausbildung am konsequentesten ausgelebt haben. So hat L. Licinius Crassus nur ein Mindestmaß an theoretischen Kenntnissen zu erkennen gegeben, M. Antonius dagegen soll seinen eigenen Aussagen zufolge überhaupt keinen rhetorischen Unterricht genossen haben.326 Letzterer hat zwar ein Buch zur Redekunst verfasst, allerdings soll er dabei vielmehr die Erfahrungen seiner Laufbahn zu Papier gebracht und sich nicht an den griechischen Theoretikern orientiert haben.327 Die Verhaltensweisen der beiden Redner spiegeln eine Haltung wider, die den Erwartungen der Hörer entsprochen haben muss. So erklärt sich für Antonius die Verheimlichung rhetorischer Bildung aus rein prozesstaktischen Erwägungen: Immer war ich der Meinung, auf unser Volk werde derjenige Redner gewinnender und glaubwürdiger wirken, der erstens möglichst wenig an irgendwelcher Kunstfertigkeit und zweitens überhaupt keine griechische Bildung zu erkennen gibt.328
Das prinzipielle Misstrauen, das man Griechischem im Allgemeinen entgegenbrachte, manifestierte sich in Bezug auf die Redekunst besonders stark und war mit ein Grund für die Etablierung dieser sozialen Norm.329 Parallel dazu lassen die Reden ebenfalls eine erhöhte Aufmerksamkeit Ciceros erkennen, wenn es um die technischen Belange seiner Ausführungen geht. Zugleich versucht er, die Glaubwürdigkeit seiner Gegner dadurch zu unterminieren, dass er ihnen Mechanismen unterstellt, die auf eine gewisse rhetorische Schulung hindeuten. Wurden diese dann auch stümperhaft vorgetragen, war dies für Cicero ein willkommenes Geschenk. So ist ein Kernelement seiner Vorwürfe gegen den „pro325 326 327 328
329
Cic. de or. 2,30. Cic. de or. 2,1; vgl. auch Quint. inst. 2,17,6. Cic. de or. 1,208; vgl. Alexander 2010, S. 99. Cic. de or. 2,153: Semper ego existimavi iucundiorem et probabiliorem huic populo oratorem fore, qui primum quam minimam artifici alicuius, deinde nullam Graecarum rerum significationem daret. Vgl. Andersen 1996, S. 73.
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fessionellen“ Ankläger Erucius, dass dessen oratio nur wenig mit den Gegebenheiten des aktuellen Falles zu tun gehabt hätte. Den Kulminationspunkt – bezeichnenderweise in der letzten Passage, die sich mit Erucius beschäftigt – bildet die ironische Vermutung Ciceros, der Ankläger hätte seine Argumente einer anderen Rede entnommen.330 Ähnliche Gedanken sind auch in den späteren Reden anzutreffen. Man konnte oben feststellen, dass für das Jahr 56 v. Chr. nicht nur die bereits gesteigerte Akzeptanz einer gewissen Redegewandtheit üblich war, sondern dass diese sogar als Attribut der Anwälte mehr oder weniger eingefordert wurde. An einer Stelle spielt Cicero explizit auf die Trennung von Talent und Kunstfertigkeit an: Ich weiß, wie es in den Verhandlungen zugeht, ihr Richter, und ich bin im Vortragen nicht so unerfahren, dass ich alles nach Stoff durchstöbere und überall pflücke und an mich raffe, was sich mir an Redeblumen zeigt.331 330
331
Cic. S. Rosc. 82: […] quae mihi iste visus est ex alia oratione declamare quam in alium reum commentaretur. Dass der Humor, den Cicero hier an den Tag legt, durchaus einen ernsten Vorwurf in sich birgt, wird durch die theoretischen Vorschriften belegt, die unter den fehlerhaften Einleitungen diejenige nennen, die auf mehrere Fälle angewandt werden kann; vgl. Cic. inv. 1,26; Rhet. Her. 1,11; Quint. inst. 4,1,71. Dies wird von Cicero z. B. auch in div. in Caec. 43 insinuiert; vgl. dazu auch Dalsasso 2014, S. 54-55. Ähnlich ist auch die Andeutung des Redners zu verstehen, er werde das versuchen, was Hortensius sonst zu tun pflegt, nämlich die Rede in bestimmte Teile zu gliedern (Cic. Quinct. 35); vgl. auch den indirekten Vergleich des Gegenredners mit dem Schauspieler Roscius und das Hervorheben seines artificium in Quinct. 77. Dalsasso 2014, S. 52 sieht darin auch eine Anspielung auf die „theatralische“ Vortragsweise des Hortensius. Später sah sich Cicero selbst mit vergleichbaren Angriffen konfrontiert. In der Rede für Plancius wehrt er sich gegen den Vorwurf, seine berühmten Mitleidsperformanzen seien einstudierte topoi, zudem lässt die betreffende Stelle vermuten, dass er von Laterensis ebenfalls als declamator bezeichnet worden war (Planc. 83). Cic. Sest. 119: Non sum tam ignarus, iudices, causarum, non tam insolens in dicendo, ut omni ex genere orationem aucuper et omnis undique flosculos carpam atque delibem. Bereits in Cluent. 17 gibt Cicero zu erkennen, dass seine forensische Eignung auf der natürlichen Kenntnis der menschlichen Überzeugungen beruht. Dagegen unterstellt er Erucius – neben einer profes-
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Die Erfahrung, die er über die Jahre gesammelt hat, und die von den Hörern auch bezeugt werden konnte, darf hier problemlos offengelegt werden. Kontraproduktiv war dagegen der Eindruck, der Redner würde versuchen, seine Schilderung mit erlernten topoi auszuschmücken. Dagegen bietet Cicero den Richtern eine umgekehrte Kausalität an. Nicht weil er in der rhetorischen Kunst bewandert ist, kann er ein derartiges Talent aufbieten, sondern die Redegabe wird in seiner Argumentation zum Garanten dafür, dass er auf die Technik gar nicht erst zurückgreifen muss. War früher das mangelnde ingenium der sicherste Beleg für fehlende Unterweisung, ist zu dieser Zeit scheinbar das entgegengesetzte Argument nicht mehr undenkbar.332 Angesichts dieser Deutlichkeit der rhetorischen Theorie und Praxis scheint sich die Frage nach einer möglichen Akzeptanz zu erübrigen. Allerdings wirft eine Stelle aus unserem Corpus – unterstützt durch weitere Passagen aus der Rede für Archias – einige Zweifel auf. Noch im selben Jahr, als Cicero im Zuge des Prozesses gegen Sestius Talent und Erfahrung ausdrücklich vom kunstvoll vorbereiteten Redeschmuck geschieden hat, spiegelt sich in der Rede für Caelius eine Behandlung der Rhetorik wider, die überhaupt nicht in das vorherrschende Bild einer allmächtigen dissimulatio artis passt. Der Angeklagte, der bereits in jungen Jahren glänzende Veranlagungen für eine spätere rhetorische Karriere vorweisen konnte, wird von seinem Förderer ausgiebig dafür gerühmt. Überraschenderweise rekurriert Cicero dabei aber nicht nur auf die natürlichen geistigen Gaben, die ihm dies ermöglicht haben, sondern auch auf Caelius’ außergewöhnliche Technik, die „nach vernünftigen Grundsätzen angelegt und mit unermüdlicher Sorgfalt eingeübt“ (bonis artibus instituta et cura et vigiliis elaborata) war.333 Wie so oft, ist auch diese Argumentation zweckgebunden. Cicero versucht den Vorwurf, Caelius hätte sich einer lasterhaften Jugend hingegeben, dadurch zu entkräften, dass er die Mühen und den Lerneifer seines Schützlings hervor-
332 333
sionellen Betätigung als accusator –, auch gegen den gesunden Menschenverstand zu argumentieren (vgl. S. Rosc. 44-45). Vgl. Pina Polo 1996, S. 87-88, der das tirocinium fori als praktisches Gegenmodell zur verpönten theoretischen Unterweisung sieht. Cic. Cael. 45. Vasaly 1993, S. 4-5 zeigt auch, dass dieses Argument ein Publikum anspricht, das fähig ist, die Technik zu erkennen und zu bewerten; vgl. auch Poiret 1886, S. 6.
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hebt. Eine bemerkenswerte Neuerung bildet aber die emphatische und uneingeschränkt positiv konnotierte Erwähnung des rhetorischen Unterrichts als Ausdruck dieser Bemühungen.334 Man kann daraus freilich nicht auf eine bereits vorhandene, vorbehaltlose Akzeptanz schließen. Dass dieses Argument jedoch vorgebracht werden konnte, zeigt, dass die Grenzen des Sagbaren bezüglich dieses Aspekts bereits an einem Punkt angelangt waren, an dem eine vormals nicht verhandelbare Norm thematisiert werden konnte. Allerdings ging Cicero mit dieser These weiterhin ein Wagnis ein, wie auch der Satz belegt, der seine Argumentation einleitet: Was jedoch M. Caelius betrifft, so kann ich jetzt mit einiger Zuversicht von seinen achtbaren Bestrebungen reden, da ich ja auch im Vertrauen auf eure Verständnisbereitschaft über einiges andere offen zu euch zu sprechen wage.335
Bereits sechs Jahre zuvor hatte der Redner in der Verteidigung des Dichters Archias die eigene Nähe zur Literatur kundgetan, dieser Stellungnahme jedoch ebenfalls eine längere apologetische Passage zur Seite gestellt: Doch vielleicht kommt es einigen von euch seltsam vor, dass ich […] angesichts einer so zahlreichen Zuhörerschaft in einer Weise rede, wie das sonst weder bei gerichtlichen Plädoyers noch überhaupt bei Verhandlungen auf dem Forum üblich ist; ich bitte euch, macht mir in diesem Prozess ein Zugeständnis, das zum Wesen des Angeklagten passt und euch, wie ich hoffe, nicht belästigt; erlaubt mir, dass ich […] inmitten einer so großen Zahl literaturbegeisterter Zuhörer, vor so gebildeten 334 335
Cic. Cael. 46. Cic. Cael. 44: At vero in M. Caelio – dicam enim iam confidentius de studiis eius honestis, quoniam audeo quaedam fretus vestra sapientia libere confiteri […]; vgl. zum Thema der Professionalisierung in der Caeliana auch Burnand 2004, S. 280-281. Ebd., S. 282 kommt er zu dem Schluss, dass „[t]his image of disciplined forensic activity is far removed from that of a patronus simply standing up and using his own authority to vouch for his client“. Die Schlussfolgerung einer allgemeinen Professionalisierung der Anwaltstätigkeit verkennt jedoch die normative Gratwanderung des Arguments.
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Leuten, wie ihr es seid, […] etwas freier über Fragen der Geistesbildung und der Literatur spreche und mich bei einer Persönlichkeit, die wegen ihrer zurückgezogenen Lebensweise als Schriftsteller noch nie von Gerichten und Prozessen behelligt wurde, einer ziemlich neuen und ungebräuchlichen Vortragsart bediene.336
Es ist bezeichnend, dass sich um diese Zeit auch der Tenor in der rhetorischen Theorie zu ändern begann. Ein Jahr nach der Caeliana stehen die Anweisungen, die Cicero im De oratore bezüglich der forensischen Praxis erteilt, noch ganz im Zeichen der traditionellen Vorschriften – was nicht zuletzt den historischen Umständen des Dialogs geschuldet ist. Allerdings scheint, trotz der gewagten Vorstöße Ciceros in der Archias-Rede und in der Caeliana, die Zeit für ein offenes Ansprechen der Kunst in einer oratio noch nicht reif gewesen zu sein. Seine Argumente offenbaren, dass das Thema zwar von den Richtern, die die Ansichten des Redners sicherlich teilten, mit einem gewissen Wohlwollen aufgenommen wurde, für das Volk aber immer noch weitgehend befremdlich war. Der erste bemerkenswerte Wandel begegnet uns paradoxerweise an der Stelle, die wir anderenorts als Apologie der rhetori336
Cic. Arch. 3: Sed ne cui vestrum mirum esse videatur me […], tanto conventu hominum ac frequentia, hoc uti genere dicendi, quod non modo a consuetudine iudiciorum, verum etiam a forensi sermone abhorreat; quaeso a vobis, ut in hac causa mihi detis hanc veniam, adcommodatam huic reo, vobis, quem ad modum spero, non molestam, ut me […], hoc concursu hominum literatissimorum, hac vestra humanitate, […] patiamini de studiis humanitatis ac litterarum paulo loqui liberius, et in eius modi persona, quae propter otium ac studium minime in iudiciis periculisque tractata est, uti prope novo quodam et inusitato genere dicendi. Den eigenen – von Archias geförderten – Bildungseifer gibt Cicero bereits in Arch. 1-2 zu erkennen und erklärt diesen später auch damit, dass die Literatur den nötigen Stoff für rhetorische exempla liefere (Arch. 12); zur Taktik der Archias-Rede vgl. auch ALBRECHT, Michael von, Das Prooemium von Ciceros Rede pro Archia poeta und das Problem der Zweckmäßigkeit der argumentatio extra causam, Gymnasium 76, 1969, S. 419-429. Die einstmals uneingeschränkt negative Auslegung literarischer Bildung wird in Cic. S. Rosc. 46 ersichtlich, wo Erucius einerseits eine solche attestiert wird, andererseits Cicero eine gewisse Unsicherheit im Zuge der Anspielung auf eine Komödie des Caecilius Statius vortäuscht: […] nam, ut opinor, hoc nomine est […]
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schen Theoretisierung angeführt haben.337 Die defensive Haltung, die Cicero im Orator zunächst zu erkennen gibt, wird gegen Ende zum Spiegelbild einer sich allmählich verändernden Normvorstellung. Die berühmten Redner, die sich in seiner Jugend noch ganz dem Schein natürlicher Begabung verschrieben haben, stellen nun den Gegenentwurf zu Cicero dar: Andere mögen vielleicht vorsichtiger sein: ich habe mich stets meiner Studien gerühmt.338
In einer genuin protosoziologischen Manier nimmt der Redner seine Offenheit damit in Schutz, dass die Realitäten der rhetorischen Ausbildung niemandem mehr verborgen bleiben könnten: Ja, kann denn die Beherrschung der Redekunst überhaupt verborgen bleiben? Entgeht, was sie verhehlt, wirklich der Aufmerksamkeit? Besteht denn die Gefahr, jemand könnte bei dieser großen, ruhmreichen Kunst der Meinung sein, es sei schimpflich, anderen das beizubringen, was zu erlernen für einen selbst so ehrenvoll gewesen war?339
Der common sense, den Cicero hier anführt, ist die Grundlage einer jeden Normveränderung. Gesellschaftliche Phänomene, die zunächst deviant sind, gewinnen desto mehr an Akzeptanz, je weniger Sanktionsbereitschaft die Bezugsgruppe diesen Übertretungen entgegenbringt.340 337 338
339
340
Cic. or. 140-146. Cic. or. 146: Ac fortasse ceteri tectiores; ego semper me didicisse prae me tuli. Cicero fährt fort, indem er sagt, er hätte diesen Schein auch nicht aufrechterhalten können, da ja alle über seine Bildungsreisen unterrichtet waren. So muss vor allem in der späten Republik das Missverhältnis von Realität und Norm evident gewesen sein. Cic. or. 145: Num igitur aut latere eloquentia potest aut id quod dissimulat effugit aut est periculum ne quis putet in magna arte et gloriosa turpe esse docere alios id quod ipsi fuerit honestissimum discere? Ebenfalls mit der Unmöglichkeit, eine evidente Tatsache zu verheimlichen, begründet Cicero die Offenheit, mit der er in der Rede für Archias das Streben nach Ruhm anspricht (Arch. 26). Zum „common sense als kulturelles System“ vgl. Geertz 1987, S. 261-288; vgl. auch Schützeichel 2007, S. 451-452; s. ferner Popitz 2006a, S. 72: „Ab-
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Normveränderungen treten somit nicht spontan ein, sondern sind das Ergebnis wiederholter sozialer Neuverhandlungen, in deren Folge eine bereits zur Realität gewordene Idee durch graduell sinkende Gegenmaßnahmen in den Wissensvorrat der Gesellschaft eindringt. Diese Entwicklung lässt sich auch für die Konzepte des ingenium und der dissimulatio artis im Rollenfeld der Gerichtsverhandlung feststellen, allerdings – zumindest für die hier untersuchte Periode – in unterschiedlicher Ausprägung. War das Vorzeigen der Redegewandtheit schon zu Beginn der Karriere Ciceros ein ambivalentes Phänomen, das im Spannungsfeld zwischen Skepsis und Bewunderung lag, entwickelte es sich in den darauffolgenden Jahrzehnten zu einem Rollenattribut, das beiden Rednern zugesprochen wurde. Diese Entwicklung lag auch ganz im Interesse der juristischen Ziele, welche die Gesellschaft für die Gerichtsverhandlungen formulierte. Das Vorzeigen der ars dagegen befand sich in den 50er Jahren mehr oder weniger in dem Stadium, das für das ingenium dreißig Jahre zuvor konstatiert werden kann. Cicero unternimmt zu dieser Zeit die ersten Versuche, der Norm schrittweise zum Durchbruch zu verhelfen.341 Zur Zeit Quintilians kann die Entwicklung bereits als abgeschlossen betrachtet werden.342 Der Autor spricht von der Verheimlichung der Kunst als Markenzeichen der alten Zeit,343 außerdem hat er
341
342 343
weichungen werden – zunächst zögernd – hingenommen, lösen immer seltener Sanktionen aus, bis sie nach einem Übergangsstadium der Unsicherheit schließlich freigegeben werden. […] Schwankungen des Sanktionen-Vollzuges können uns also als Seismograph dienen, an dem sich Veränderungen der Normstrukturen ablesen lassen“. In Tac. dial. 22,2-3 erscheint Cicero als derjenige, der als Erster die Kunstfertigkeit seiner Reden offen gezeigt hat. Neumeister 1964, S. 146-147 sieht den Anfang dieses Wandels jedoch erst in nachciceronischer Zeit. Vgl. auch Andersen 1996, S. 83. Quint. inst. 12,9,5. Bezeichnend ist, dass auch Quintilian hier erklärt, die Kunstfertigkeit hätte sich früher noch verheimlichen lassen. So argumentiert er, ganz im Sinne Ciceros, mit der Unumgänglichkeit der letztendlichen Akzeptanz gegebener Tatsachen; vgl auch Quint. inst. 4,1,9: Inde illa veterum circa occultandam eloquentiam simulatio, multum ab hac nostrorum temporum iactatione diversa. Neumeister 1964, S. 131-132 erkennt dagegen auch bei Quintilian den Versuch, die Kunst zu verheimlichen, obwohl er selbst an anderer Stelle zu Recht darauf hinweist, dass die Rhetorik des frühen Principats unter veränderten Bedingungen zu betrachten sei: „Wenn Quintilian,
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keine Bedenken, die Rhetorik, ganz im Gegensatz zu Antonius’ Ausführungen im De oratore, als Kunst zu bezeichnen.344 In diesem Kontext kann auch ein kausaler Zusammenhang zwischen Kunstfertigkeit und einer möglichen Professionalisierung der Anwaltstätigkeit hergestellt werden, der für die ciceronische Zeit bezeichnend ist. Die Akzeptanz Ersterer muss zwangsläufig einer professionellen Tätigkeit zeitlich vorangehen. Hätte man die Redner als juristischen Berufsstand anerkannt, gäbe es folgerichtig keinen Grund, weiterhin auf das Vortäuschen der rhetorischen Kunst zu beharren. So blieb der patronale Schein, mit all seinen Implikationen, die letzte Bastion altrömischer Rollenpflichten in einem sich verändernden normativen Umfeld der Gerichtsverhandlung – gleichzeitig aber wurde die wachsende Akzeptanz der Rhetorik als Kunst zum Wegbereiter eines letzten Angriffs auf diese Bastion.
344
wie Cicero gegen die Asianer, gegen die zeitgenössische Rhetorik vom Standpunkt der forensischen Rhetorik aus argumentiert, so argumentiert er eigentlich von einer imaginären Position, denn eine forensische Rhetorik wie zu Ciceros Zeiten gab es gar nicht mehr“ (ebd., S. 147). Quint. inst. 2,14,5; für eine ausführliche Besprechung des Themas vgl. auch Quint. inst. 2,17,1-41. Einen genauen Zeitpunkt für die vollständige Akzeptanz der rhetorischen Kunst liefert M. Aper in Tac. dial. 19,2. Der Anfang des ersten Jahrhunderts n. Chr. wirkende Cassius Severus soll sich als Erster von der dissimulatio der früheren Zeit abgewandt haben. Allerdings hat noch Aper selbst, obwohl in allen Künsten unterrichtet, den Eindruck einer rhetorischen Schulung verschmäht (Tac. dial. 2,2). Damit stand er freilich im Widerspruch zu den Erwartungen seiner Zeit. In den 70er Jahren des ersten nachchristlichen Jahrhunderts war die rhetorische Ausbildung kein Geheimnis mehr (vgl. Tac. dial. 19,5), vielmehr erwarteten sowohl Richter als auch Volk ein gewisses Maß an Kunstfertigkeit (Tac. dial. 20,2-5). Zur Neuorientierung der Rhetorik im frühen Principat gemäß Tacitus’ Aper vgl. GOLDBERG, Sander M., Appreciating Aper: The Defence of Modernity in Tacitus’ Dialogus de Oratoribus, CQ 49, 1999, S. 224-237.
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4
Auctoritas: Überzeugungskraft und Devianz
4.1
Die Bedeutung der auctoritas im forensischen Kontext
Das dritte und vielleicht bedeutendste Konzept, welches das Verhalten der personae bedingt, ist die auctoritas. Sie bildet zudem diejenige Qualität, die in der Forschung des Öfteren dazu geführt hat, dass den spätrepublikanischen quaestiones der Wille zur Wahrheitsfindung abgesprochen wurde, eine Vermutung, die schon von den Implikationen des Begriffs nahegelegt wird. Die auctoritas kam den Patriziern auf natürlichem Wege zu345 und hatte sich zur Zeit der späten Republik bereits zu einem Merkmal entwickelt, das – unabhängig vom konkreten Handeln – einer Person als „dauernde Eigenschaft“ zugesprochen wurde.346 In dieser Ausprägung wurde der Begriff zum Ausdruck der sozialen und persönlichen Überlegenheit des patronus.347 Die Attribute, die die auctoritas begründen, sind ebenjene, die auch vor Gericht eine wesentliche Rolle spielen und die der Patron somit als Markenzeichen seiner gesellschaftlichen persona in sich vereint: aetas und ingenium.348 Daraus ergibt sich auch die moralische Verpflichtung, demjenigen Bürger, der diese Attribute vorweist, das Gehorsam nicht zu verweigern,349 sowie das Bild eines vermeintlichen forensischen Übergewichts, das die Vorstellung einer auf Chancengleichheit basierenden Gerichtsverhandlung scheinbar zunichtemacht.350 345
346 347 348
349 350
Vgl. Hellegouarc’h 1963, S. 297; s. auch HÖLKESKAMP, Karl-Joachim, Die Entstehung der Nobilität. Studien zur sozialen und politischen Geschichte der Römischen Republik im 4. Jhdt. v. Chr., Stuttgart 1987, hier: S. 216-217. Heinze 1960a, S. 48. Vgl. Hellegouarc’h 1963, S. 298. Cic. top. 73; vgl. dazu auch Hellegouarc’h 1963, S. 298-299. Ebd., S. 299300 wird auch die Verbindung zur gravitas hervorgehoben, die ebenfalls zu den inhärenten Eigenschaften des älteren patronus gehört; vgl. auch Hiltbrunner 1967, S. 409-411. In Cic. Cato 61 wird die auctoritas als apex senectutis bezeichnet. Vgl. Heinze 1960a, S. 51. Vgl. auch Pötter 1967, S. 24, Anm. 4.
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Dies stellt jedoch nicht die primäre Form dar, in der sich die forensische auctoritas manifestiert. Ein Blick in die rhetorischen Handbücher offenbart, dass vor allem jene Umstände, die einer Sache dienlich sind und glaubwürdig wirken, der Rede auctoritas verschaffen. So führt Cicero die für die Bekräftigung (confirmatio) notwendigen Argumente mit dem Zusatz ein, dass sie dem Fall fides und auctoritas verleihen.351 Das Element der Glaubwürdigkeit ist untrennbar mit Letzterer verbunden.352 In der Topica werden die außerhalb der Sache liegenden Zeugnisse aufgezählt, gleichzeitig aber erwähnt, dass nur denjenigen Beweiskraft zukommt, denen auch auctoritas zugestanden wird.353 Man kommt somit zu der Feststellung, dass der auctoritas vor Gericht stets ein Moment von „Glauben“ und „Vertrauen“ immanent ist, das aus den unterschiedlichsten Quellen schöpfen kann und in erster Linie den sachlichen Argumenten oder den Akteuren anhaftet, die unter den relevanten juristischen Aspekten „vertrauenerweckend“ sind. Folglich lohnt es sich, den Blick auf jene auctoritas zu richten, die den Personen selbst entspringt.354 Diese wird zunächst sowohl durch 351
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Cic. inv. 1,34: Confirmatio est, per quam argumentando nostrae causae fidem et auctoritatem et firmamentum adiungit oratio; s. auch Quint. inst. 5,11,36; vgl. dazu Calboli Montefusco 1990, S. 45. Hellegouarc’h 1963, S. 296-297 weist darauf hin, dass auctoritas in der ursprünglichen Bedeutung die Verbürgung für eine Sache bezeichnete und somit auch semantisch in die Nähe der fides gerückt werden muss. Folglich erreichte jemand fides wenn ihm die nötige (sachbezogene) auctoritas zugesprochen wurde. Quint. inst. 6,5,9 erklärt auch, dass Cicero in der Cluentiana mit der auctoritas der Mutter des Cluentius, Sassia, zu kämpfen hatte und sein Erfolg wesentlich davon abhing, ihr die Glaubwürdigkeit (fides) abzusprechen. Cic. top. 73: Testimonium autem nunc dicimus omne quod ab aliqua re externa sumitur ad faciendam fidem. Persona autem non qualiscumque est testimonium pondus habet; ad fidem enim faciendam auctoritas quaeritur, sed auctoritatem aut natura aut tempus affert. Eine für Rom typische Form der auctoritas stellt freilich die des mos maiorum und der exempla dar; vgl. Calboli Montefusco 1990, S. 47-51; vgl. allgemein dazu auch DAVID, Jean-Michel, Maiorum exempla sequi. L’exemplum historique dans les discours judiciaires de Cicéron, MEFRM 92, 1980, S. 67-86; GAILLARD, „Auctoritas exempli“: pratique rhétorique et idéologie au Ier siècle avant J.-C., REL 56, 1978, S. 30-34. Aus der
195
Zeugen355 als auch durch die Vielzahl an advocati verkörpert, die nicht nur aus Sorge um einen necessarius dessen Fall stillschweigend begleiten, sondern sich vielmehr in ihrer gesamten gesellschaftspolitischen Tragweite deklarativ hinter ihn stellen: Es gibt ja nicht nur die eine Art der Verteidigung, die in einem Plädoyer besteht: alle, die sich eingefunden haben, die sich Sorge machen, die einen Freispruch wollen, sind zu ihrem Teil und mit ihrer Person (auctoritate) Verteidiger.356
Zum Charakteristikum der spätrepublikanischen Verhandlungen wird freilich die Tatsache, dass die größte auctoritas von den dem Redner selbst innewohnenden Eigenschaften verliehen wird.357 Die – betont passive – Qualität der forensischen auctoritas wird durch einen Vergleich mit dem Einleitungssatz der Rede für Balbus evident: Wenn es bei der Verteidigung auf das Ansehen ankommt: […] Welche Aufgabe bleibt dann für mich? Ich besitze so viel Ansehen (auctoritas),
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Vielzahl der Autoren, die sich dem Thema der exempla gewidmet haben, seien hier stellvertretend erwähnt: WALTER, Uwe, Memoria und res publica. Zur Geschichtskultur im republikanischen Rom, Frankfurt/Main 2004; BÜCHER, Frank, Verargumentierte Geschichte. Exempla Romana im politischen Diskurs der späten römischen Republik, Stuttgart 2006. Der Zeuge L. Lucceius wird in Cic. Cael. 55 auch mit einem Hinweis auf seine auctoritas und religio eingeführt. Ähnlich hatte sich schon P. Quintilius Varus, ein Mann summa auctoritate, für die Rechtmäßigkeit der früheren Klage des Cluentius verbürgt (Cic. Cluent. 53). Cic. Sull. 4: Non enim una ratio est defensionis ea quae posita est in oratione; omnes qui adsunt, qui laborant, qui salvum volunt, pro sua parte atque auctoritate defendunt. So weist Cicero in S. Rosc. 2 auf die auctoritas der Adligen hin, die Roscius zwar nicht verteidigen, aber zu seinem Schutz erschienen sind. Besonders wird jene bei dem noch jungen M. Messalla (S. Rosc. 149) hervorgehoben; vgl. auch S. Rosc. 4, wo Cicero sein Patronat mit der gesellschaftlichen Verpflichtung, die auctoritas der nobiles nicht zu missachten, begründet. Vgl. Quint. inst. 3,8,48.
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wie ihr mir habt zuerkennen wollen, durchschnittliche Erfahrung und ein Talent (ingenium), das hinter meinem Streben weit zurückliegt.358
Das ingenium unterliegt den bereits diskutierten ambivalenten Regeln, die auctoritas dagegen scheint hier vollends außerhalb der (lokutionären) Macht des Redners zu liegen. Sie wird einem orator erst von den Hörern verliehen und ist nicht zuletzt das Ergebnis seines Auftretens. Ein bereits vorab als moralisch aufrichtig perzipierter Redner muss diesen Eindruck umso mehr durch seine Ausführungen unterstützen, so dass sein Charakter im Laufe des gesamten Vortrages auf dem Prüfstand steht.359 Nicht nur die ethische Selbstdarstellung, sondern auch die oratio muss den gesellschaftlichen Gepflogenheiten entsprechen, vor allem aber die oben besprochenen Kriterien und Attribute, die ihn erst zur Wahrnehmung des Patronats befähigen.360 Die Belohnung durch die von den Zuhörern repräsentierte Gemeinschaft ist das uneingeschränkte Vertrauen, das ihm infolgedessen entgegengebracht wird.361 358
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Cic. Balb. 1: Si auctoritates patronorum in iudiciis valent […] Quae sunt igitur meae partes? Auctoritatis tantae quantam vos in me esse voluistis, usus mediocris, ingeni minime voluntati paris. May 1988, S. 7; Calboli Montefusco 1990, S. 41, 46, 53-54; vgl. auch die Erfolgskriterien einer Rede bei Schottlaender 1967, S. 132: die „Glaubwürdigkeit des Redners“, die „Gläubigkeit der Hörer“ und die „Glaublichkeit der Sache“. Quint. inst. 4,1,8 hebt die Bedeutung eines aus den normativ richtigen Gründen übernommenen Mandates für die auctoritas hervor. So entstammt für Cicero die größte auctoritas unter den natürlichen Gaben der virtus selbst (Cic. top. 73). Eine unerlässliche Voraussetzung dafür war die constantia, die der Redner unentwegt unter Beweis zu stellen hatte (vgl. z. B. Cic. Sull. 3, 5, 10, 20). Die auctoritas der Rede Hortensius’ wird in Cic. Sull. 12 explizit erwähnt. Cic. Brut. 111 lobt die Redeweise des M. Scaurus, indem er dessen Glaubwürdigkeit der eines Zeugen gleichsetzt; ähnlich Quint. inst. 4,1,7; vgl. auch Quint. inst. 4,2,125; Heinze 1960a, S. 55; Calboli Montefusco 1990, S. 43. In der Rede für Sulla kontert Cicero den Vorwurf des Torquatus, indem er sagt, ihm stünden weder fides noch auctoritas zu, wenn die Kritik der Gegenseite zutreffend wäre. Dadurch dass er einen Gegensatz zwischen Autronius und Sulla herstellt, erlangt Cicero jedoch laut schol. Bob. Sull. p. 7 Hildebrandt ebenjene Autorität eines Zeugen. Dies war für einen Redner
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Blicken wir auf die Ursprünge des Konzepts, ergibt sich ein für die forensischen Wahrnehmungsmuster signifikantes Bild. Der auctor ist derjenige, der etwas „vermehrt“ (is qui auget),362 eine etymologische Herkunft, die die Frage nach der Bedeutung des Begriffs zunächst nicht zu lösen vermag.363 Maurizio BETTINI hat jedoch auf dessen metaphorischen Gebrauch hingewiesen364 und ist zu dem Ergebnis gekommen, dass „[d]er auctor, das heißt derjenige, der mit seiner Überzeugungskraft eine bestimmte Entscheidung begünstigt (auget), […] damit einfach eine bestimmte Verhaltensrichtlinie ‚durchsetzen‘, ihr zum Erfolg verhelfen [will], und dies zu Ungunsten anderer gleichermaßen möglicher Lösungen“.365 Für die Tragweite dieser Schlussfolgerung im Hinblick auf die forensische Auseinandersetzung muss auf den grundlegenden Beitrag Richard HEINZEs verwiesen werden, der die Wirkung der auctoritas folgendermaßen zusammenfasst: „[E]s ist die Eignung, maßgeblichen Einfluß auf die Entschließungen der anderen kraft überlegener Einsicht [eigene Hervorhebung] auszuüben“.366 Noch deutlicher – und für unsere Absichten aussagekräftiger – formuliert es HEINZE an anderer Stelle: „[D]er auctor als Ratgeber muß ursprünglich mehr gewesen sein als ein
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aber stets eine Gratwanderung. Seinen eigenen Ausführungen den Stellenwert einer Zeugenaussage zuzuschreiben, konnte das Gegenteil bewirken (vgl. schol. Bob. Sull. p. 7 Hildebrandt; s. auch Cic. S. Rosc. 102-103; Kennedy 1968, S. 429), so dass Cicero gerade durch die explizite Trennung dieser beiden Rollen (vgl. Cic. Sull. 14) die Hörer dazu bringt, ihm die erwünschte Autorität beizumessen (vgl. schol. Bob. Sull. p. 9 Hildebrandt). Dass seinen Argumenten dieses Gewicht eigentlich zustünde, wird freilich dennoch suggeriert; vgl. Sull. 21; s. auch Cic. Sull. 34: An me existimasti haec iniuratum in iudicio non esse dicturum quae iuratus in maxima contione dixissem? Vgl. Heinze 1960a, S. 44, Hellegouarc’h 1963, S. 296; Bettini 2005, S. 249. So hat bereits Heinze 1960a, S. 44 angezweifelt, dass diese Verbindung in historischer Zeit noch relevant war. Für die Auseinandersetzung mit der radikalen Dekonstruktion von Emile BENVENISTE, der die Bedeutung des „Vermehrens“ für augere infrage gestellt hat, vgl. Bettini 2005, S. 249-250. Ebd., S. 249-256. Ebd., S. 256-257. Heinze 1960a, S. 48; vgl. auch Hellegouarc’h 1963, S. 304-305; Enos 1988, S. 52; Calboli Montefusco 1990, S. 42; zur Frühgeschichte des Begriffs vgl. Heinze 1960a, S. 46-47; s. auch Calboli Montefusco 1990, S. 41.
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einfacher suasor, seine auctoritas mehr als einfach ein ‚Rat‘, vielmehr ein maßgeblicher Rat oder Gutachten, zu dem er durch seine besondere Einsicht [eigene Hervorhebung] befugt ist und dem sich der andere, indem er fragt, von vornherein unterordnet“.367 Dementsprechend kann hier eine Verbindungslinie zu den oben angeführten Argumenten gezogen werden, die Cicero vorbringt, um seine erklärungsbedürftigen patrocinia zu legitimieren. Wie bereits gezeigt, postuliert er in diesen Reden eine überlegene Kenntnis der Tatsachen, die die natürliche, dem Klienten geschuldete fides kompensieren soll.368 Hinzu tritt nun die auctoritas, die ihm von dieser Einsicht verliehen wird – vorausgesetzt, die Zuhörer attestierten Cicero auch die entsprechenden charakterlichen Vorzüge. Allerdings geht der zweite Punkt über die bloße Glaubwürdigkeit hinaus. Die auctoritas gewährleistet per definitionem nicht nur das „perlokutionäre Ziel“ des Überzeugens, sondern auch ein „perlokutionäres Nachspiel“, das auf eine aktive Handlung abzielt. Auf die Richter einzuwirken hieße – laut HEINZEs Feststellung einer Unterordnung unter den Einfluss des auctor – implizit, die iudices zu einem günstigen Urteil zu bewegen. So spricht Cicero gewiss eine dem Auditorium bekannte Tatsache an, wenn er zugibt, dass ein Anwalt zugleich sein gesamtes Ansehen für die ihm anvertraute Sache einsetzt,369 allerdings wirft dies mit Blick auf die Kriterien, die der Urteilsfindung zugrunde lagen, ein elementares Problem auf. Da diese Resonanz den Ermessensspielraum der Richter bei ihrer Entscheidung auf den ersten Blick auf ein Mindestmaß reduziert, muss nun anhand der Frage, wie (und ob) die Redner von dieser Machtstellung Gebrauch 367
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Heinze 1960a, S. 47; vgl. Hellegouarc’h 1963, S. 297, der darauf hinweist, dass der auctor auch imstande sein sollte, eine neue Information zu liefern. Bettini 2005, S. 246-247 spricht von einer „Position“, die der auctor bekleiden muss, damit ihm Vertrauen entgegengebracht wird. Die von HEINZE definierte Form der auctoritas ist auch der fides-Beziehung inhärent; vgl. Ganter 2015b, S. 36: „So beruhte die auctoritas des patronus auf seiner Lauterkeit, die sich über seine Beziehung zum Mandanten erklärte.“ Cic. Cluent. 57: […] oratores etiam auctoritatem praestare debent. Etwas seltsam muten jedoch die späteren Stellen an, an denen Cicero seine auctoritas aus den früheren Bemerkungen über das iudicium Iunianum entfernen will (Cluent. 138-139).
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gemacht haben, auch ermittelt werden, ob die egalitäre Grundausrichtung der anwaltlichen Motivationen angesichts eines solchen Übergewichts nur mehr zum Schein gewahrt blieb. 4.2
Macht und Ohnmacht der auctoritas
Der Eindruck eines Ungleichgewichtes scheint sich durch einen Blick auf die Person des Anklägers zu bestätigen. Dieser war bereits wegen der seiner Position inhärenten Eigenschaften alles andere als prädestiniert, auctoritas in die Verhandlung einzubringen. Allerdings ging die Dezidiertheit der Rollenerwartungen so weit, dass persönliche Macht nicht nur zu einem Faktor wurde, der den accusator von vornherein verdächtig erscheinen ließ,370 sondern ebenso zu einem Element, das dessen causa zwangsläufig zum Scheitern bringen musste. So erzählt Valerius Maximus – wie vor ihm bereits Cicero – von der erfolglosen Klage des (als accusator zu mächtigen) Scipio Aemilianus gegen L. Aurelius Cotta und schlussfolgert, dass Ansehen (amplitudo) gelegentlich für den Angeklagten hilfreich sei, es sich dagegen auf Seiten des Anklägers immer gegen ihn auswirke.371 Mehr Nachdruck wird diesem Gedanken dadurch verliehen, dass die positiv konnotierte auctoritas durch das Insinuieren, die Gegenseite würde sich auf äußere Machtmittel verlassen, ersetzt wird. Das Evozieren der Begriffe potentia, gratia, opes oder vis impli-
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Vgl. Quint. inst. 4,1,11. Val. Max. 8,1,11(absol.); vgl. auch Cic. inv. 2,166: amplitudo potentiae aut maiestatis aut aliquarum copiarum magna abundantia [est]. Cic. Mur. 58 erzählt die Anekdote bezeichnenderweise in Verbindung zur auctoritas, die dem Nebenkläger Cato attestiert wird; zur kontraproduktiven auctoritas des Anklägers vgl. auch Brunt 1988b, S. 372; Pötter 1967, S. 26-27; Jehne 2000b, S. 179-180; Paterson 2004, S. 84; David 1992, S. 530-531. Ebd., S. 531 führt der Autor diese Vorgabe auf den Verlust des senatorischen Gerichtsmonopols zurück und sieht die ab den letzten zwei Jahrzehnten des 2. Jahrhunderts v. Chr. geborenen Redner bereits als erste Generation an, die diese Vorschrift verinnerlicht hat.
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ziert bereits eine Devianz, deren Verknüpfung mit der Rolle des Anklägers unter keinen Umständen auf Akzeptanz stoßen konnte.372 Exemplarisch dafür sind Ciceros Angriffe in der Rosciana. Bereits die erste Erwähnung des Chrysogonus wird dabei an das deviante Attribut der potentia gekoppelt. Sullas Freigelassener sei „ein junger Mann, der gegenwärtig wohl die größte Macht in unserem Staate hat“,373 darüber hinaus würde die Macht (vis) der Gegenseite für die Verteidigung das größte Hindernis darstellen.374 In direkter Weise werden die Richter an späterer Stelle angesprochen, wenn Cicero ihnen in Erinnerung ruft, dass das Entkräften von audacia und potentia zu ihren Pflichten gehöre.375 Die Schlagworte begleiten erwartungsgemäß vor allem denjenigen Teil der Rede, der sich Chrysogonus widmet,376 und sie werden in der peroratio wieder aufgegriffen, jedoch nur um unter Beweis zu stellen, dass angesichts der Alters- und Statusattribute Ciceros von ihm als Patron keine potentia-Gefahr ausgehen könne: 372
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In Cic. Cluent. 2 wird die invidia, auf die sich die Gegenseite verlässt, als größte Gefahr für die Sache des Angeklagten dargestellt. Umgekehrt kann aber das Andeuten der gegnerischen Macht ebenso invidia generieren; vgl. dazu Drexler 1988a, S. 151-155. Opes als Ausdruck der Macht Clodias (Cic. Cael. 1) suggeriert freilich auch die finanzielle Kraft, die sich hinter der Anklage verbirgt, ein Aspekt, der ebenfalls untrennbar mit dem Gerücht der Richterbestechung durch Cluentius verbunden war (vgl. Cluent. 9); zu opes vgl. Drexler 1988a, S. 126. Die gratia, die in Cic. Quinct. 1 Naevius zugesprochen wird, muss auch als Ausdruck devianter Macht verstanden werden; vgl. Classen 2000, S. 80; s. dazu auch Gelzer 1912, S. 61, der den Begriff im Sinne von „Gunsterweisung“ als unzulässiges Druckmittel auf die Richter erachtet; zu dieser Konnotation von gratia vgl. auch Drexler 1988b, S. 173, und allgemein zur Gefahr, einen Prozess durch gratia zu beeinflussen: ebd., S. 180-182; vgl. ferner Hellegouarc’h 1963, S. 308-309 zum Unterschied zwischen auctoritas und potentia sowie auctoritas und vis. Cic. S. Rosc. 6: adulescens vel potentissimus hoc tempore nostrae civitatis. Im gleichen Satz wird auch der Wert des Vermögens Roscius’ erwähnt. Hellegouarc’h 1963, S. 308-309 zeigt, dass potentia, im Unterschied zu auctoritas, immer auch den materiellen Aspekt in den Vordergrund rückt; vgl. auch Drexler 1988a, S. 130-131. Cic. S. Rosc. 9. Cic. S. Rosc. 35. Vgl. Cic. S. Rosc. 122, 135.
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Wie die Dinge jetzt stehen, wird er so verteidigt, dass die Gegner wahrhaftig keinen Grund haben, sich gekränkt zu fühlen, noch glauben können, sie müssten der Macht (potentia) unterliegen.377
Angesichts der Theorie ist nicht nur diese Passage überraschend, sondern ebenso die Tatsache, dass vergleichbare Vorwürfe wortgleich auch gegen den Verteidiger vorgebracht werden konnten. In den Verrinen spricht Cicero von der intolerabilis potentia des Hortensius, die zu dominatio und regnum des Gegenredners über die Gerichte führen würde,378 später zählt er potentia und gratia zu den Faktoren, derer sich die Verteidigung unerlaubterweise bediene.379 Cicero selbst musste in der Rede für Sulla einen vehementen Angriff des Torquatus, der ihm ebenfalls das Aufrichten eines regnum sowie das Vertrauen auf potentia und opes vorgeworfen hatte, abwehren.380 Diesbezüglich ist seine Replik auf eine ähnliche Anschuldigung in der Miloniana bezeichnend: Wenn man denn von Macht (potentia) reden will, statt von bescheidenem Ansehen (auctoritas), das sich, durch große Verdienste um den Staat erworben, bei einer guten Sache geltend macht […]381
Die potentia, die ihm hier vorgehalten wird, bezieht sich zwar auf Ciceros vermeintlichen Einfluss auf die Senatsbeschlüsse, durch die Verbindung mit der causa des Milo entwickelt sich das Attribut aber ebenfalls zu einer unerlaubten Eigenschaft des Gerichtspatrons. Die Entgegnung des Redners zeigt, dass das Ansehen eines arrivierten Staatsmannes ihm 377
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Cic. S. Rosc. 148: Nunc ita defenditur, non sane ut moleste ferre adversarii debeant neque ut se potentia superari putent. Dyck 2010, S. 203 zeigt aber zu Recht, dass den advocati durchaus beträchtliche Macht zur Verfügung stand. Cic. Verr. 1,35; vgl. auch Cic. Verr. 1,20. Cic. Verr. 2,5,174. Cic. Sull. 21; vgl. auch Cic. Sull. 22. Cic. Mil. 12: Quae quidem si potentia est appellanda, potius quam […] propter magna in rem publicam merita mediocris in bonis causis auctoritas […] Schol. Bob. Mil. p. 67 Hildebrandt spricht in diesem Zusammenhang von iustissima gratia; vgl. auch Fotheringham 2013, S. 160-161. Mit dem Vorwurf der gratia sah sich Cicero zudem in der Rede für Plancius konfrontiert (Planc. 24-26); vgl. dazu auch Drexler 1988b, S. 177-178.
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keineswegs einen Blankoscheck ausstellt, den er vor Gericht beliebig einlösen kann, vielmehr setzt sich jede gesellschaftlich zugestandene auctoritas dem Risiko aus, von der Gegenseite als eine semantisch verwandte, aber deviante Form der Machtausübung interpretiert zu werden.382 Diese Ambivalenz legitimiert auch die Frage, ob sich gewisse Mechanismen ermitteln lassen, die uns erlauben, die Stellung der auctoritas im forensischen Wettbewerb näher zu bestimmen. 4.3
Thematisierung der auctoritas
Dabei soll in erster Linie auf die spezielle Ausprägung des Umgangs mit persönlicher auctoritas in der Rolle des Patrons eingegangen werden, ein Vorhaben, das uns zunächst einen Umweg über die klassische Frage des ciceronischen Selbstlobes aufzwingt. Eindeutige Bemerkungen zur Akzeptanz autobiographischer Passagen sind in den hier untersuchten Reden zwar nicht zu finden, jedoch können gewisse Rückschlüsse aus der Betrachtung einer bereits angeführten Stelle aus der Rede De domo sua gezogen werden. Hierin geht Cicero explizit auf die Vorwürfe ein, die gegen seine vermeintlich überzogene Selbstglorifizierung vorgebracht wurden: Und da du mir zur Last legst, ich hätte mir angewöhnt, allzu großspurig von mir selber zu reden: wer hat je vernommen, wie ich ohne Not und ohne gezwungen zu sein von mir gesprochen hätte?383
Einige Zeit später hat auch seine „selbstverliebte“ Antwort auf eine Provokation des Clodius für Raunen im Publikum gesorgt.384 Es ist nicht
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Vgl. Cic. Quinct. 5, wo der Redner gewiss den gesellschaftlich geteilten Wunsch ausspricht, dass sich die Richter nicht durch vis, gratia oder opes beeinflussen lassen sollen. Cic. dom. 93: Et quoniam hoc reprehendis, quod solere me dicas de me ipso gloriosius praedicare, quis umquam audivit cum ego de me nisi coactus ac necessario dicerem? Cic. har. 17: Vidi enim hesterno die quendam murmurantem, quem aiebant negare ferri me posse, quia, cum ab hoc eodem impurissimo parricida roga-
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unsere Absicht, das Thema weiter zu vertiefen, allerdings dürfen die Umstände, die Cicero zu seiner Verteidigung geltend macht, nicht außer Acht gelassen werden. Ein prinzipielles Verbot übertriebener Stellungnahmen zu den eigenen Errungenschaften offenbart sich in beiden Reden, jedoch scheint diese Norm dann aufgehoben worden zu sein, wenn sich solche Aussagen nicht ohne Gesichtsverlust vermeiden ließen.385 Ein solcher Verlust von fides und auctoritas hätte vor Gericht freilich auch schwerwiegende Konsequenzen für die eigene Prozesspartei nach sich gezogen.386 Eine Parallele zu dem in einem früheren Kapitel besprochenen Verbot, die Gründe des patronalen Einsatzes unaufgefordert darzulegen, wird offenkundig, besonders da jene Motive, die dadurch in Schutz genommen wurden, in elementarer Weise auctoritas verleihen. Die eigene – wenngleich normativ richtige – Vorgehensweise hervorzuheben verlangt nach einem vorausgegangenen Angriff auf dieses Verhalten, zudem leitet Cicero dies hier ebenfalls mit einer Entschuldigung und Legitimierung der Stellungnahme ein.387 Walter ALLEN hat richtigerweise darauf hingewiesen, dass es als Prämisse für die Bewertung des Verhaltens Ciceros gelten muss, „that we do not wish to accuse Cicero of conceit when he speaks in terms which would not have had that connotation to his contemporaries“.388 In diesem Sinne kann es als im
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rer cuius essem civitatis, respondi me, probantibus et vobis et equitibus Romanis, eius esse quae carere me non potuisset. Ille, ut opinor, ingemuit. Vgl. Graff 1963, S. 77; vgl. auch Quint. inst. 11,1,18, der ebenfalls sagt, Cicero hätte nie „grundlos“ (non sine aliqua ratione) über sich selbst gesprochen. In inst. 11,1,15 bekundet der Autor auch die soziale Sanktion, die vor Gericht auf eine solche Übertretung gefolgt wäre: non fastidium modo, sed […] etiam odium. Powell / Paterson 2004, S. 8 sehen die Selbstaussagen Ciceros ebenfalls positiv, da diese anderenfalls dem Ziel, die Akzeptanz des Publikums zu gewinnen, nicht dienlich gewesen wären. May 2002, S. 53 weist darauf hin, dass die moralischen Vorzüge des Redners vom Publikum immer auch auf seinen Klienten übertragen werden; vgl. auch Thierfelder 1965, S. 391. Vgl. Allen 1954, S. 126; ebd., S. 127 zeigt er, dass Cicero in den Briefen ähnlich verfährt, was der Autor zu Recht auf eine allgemein geltende Verhaltensnorm zurückführt; ebenso betrachtet er ebd., S. 121 die Reaktion Ciceros in har. 17 als ethisch einwandfrei; für eine ebenfalls positive Bewertung von Cic. dom. 93 vgl. Paterson 2004, S. 80. Allen 1954, S. 123-124.
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Einklang mit den im Wissensvorrat der spätrepublikanischen Gesellschaft verankerten Vorstellungen betrachtet werden, wenn er im Orator sagt: Gibt es doch keine Methode, durch die der Sinn des Hörers entweder erregt oder aber besänftigt werden kann, die ich nicht versucht hätte – ich würde sogar sagen: die ich nicht in vollkommener Weise verwendet habe, wenn ich dieser Meinung wäre, und im Falle der Wahrheit würde ich den Vorwurf der Anmaßung (arrogantia) nicht fürchten.389
Der Punkt, an dem die adrogantia im Verständnis eines spätrepublikanischen Römers einsetzt, war sicherlich verschieden von den heutigen Gepflogenheiten. Allerdings sind auch jene Normen höchstwahrscheinlich präzise festgelegt worden, so dass die Hintergründe der Apologie, die er in der Rede De domo sua vorbringt, möglicherweise darauf schließen lassen, dass Cicero nicht nur (wie oben gesehen) für Plutarch, sondern auch für viele seiner Zeitgenossen die Regeln des Erlaubten des Öfteren ausgereizt hat – wenngleich er dabei nie die Grenzen des Sagbaren aus den Augen verlor.390 Diese Vorbemerkungen führen uns zu den Passagen, in denen Cicero explizit seine auctoritas als Patron thematisiert, genauer gesagt: zur Rede für P. Sulla, die innerhalb des ciceronischen Redecorpus die ausführlichste Behandlung des Themas vorweist. Dies war jedoch angesichts des vehementen Angriffs des Torquatus auf ebenjene auctoritas des Patrons unerlässlich: Da nun L. Torquatus […] geglaubt hat […] er könne meiner Verteidigung etwas von ihrem Gewicht (auctoritas) nehmen […]391
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Cic. or. 132: Nullo enim modo animus audientis aut incitari aut leniri potest, qui modus a me non temptatus sit – dicere perfectum, si ita iudicarem, nec in veritate crimen arrogantiae extimescerem. Vgl. Allen 1954, S. 128: „Cicero was […] even more careful than his contemporaries in the matter of consistency with accepted mores“. Cic. Sull. 2: Et quoniam L. Torquatus […] existimavit […] aliquid se de auctoritate meae defensionis posse detrahere […] Loutsch 1994, S. 513-514 untersucht das subtile sprachliche Suggerieren von auctoritas im exordium der Sullana.
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Man muss sich zunächst vergegenwärtigen, worin diese in der Sullana bestand. Cicero, der Konsul, der – seinen eigenen Aussagen zufolge – quasi sine collega392 die Ermittlungen gegen die Catilinarier durchgeführt und die Verschwörung im Keim erstickt hatte, setzt schon durch sein patronales Auftreten die dadurch erworbene auctoritas ein, um den Beschuldigten zu entlasten. Es gab wohl kaum eine Situation in der späten Republik, in der ein Angeklagter gewichtigere Zeugen hatte.393 Die Vorwürfe des Torquatus zeigen aber ebenso, dass es genau diese Eigenschaft war, die in der Verhandlung für ein (deviantes) Ungleichgewicht sorgen konnte. So sehr sich der Anwalt hier auf dem Höhepunkt seines Ansehens befand, so sehr musste er dieses auch verteidigen.394 In gesellschaftspolitischer Hinsicht ist das verständlich. Da der Patron seine gesamte auctoritas für den Klienten aufbringt, unterliegt diese zugleich einer gesellschaftlichen Neuverhandlung. Torquatus hat nicht nur das forensische Übergewicht des Gegenanwalts getadelt, sondern vielmehr durch den Vorwurf, dieser würde bewusst einen Schuldigen verteidigen, ihm ein Höchstmaß an Inkonsequenz attestiert, das seine existimatio und fama als Konsul zunichtegemacht hätte.395 Es ist evident, dass Cicero im Jahre 62 v. Chr. nicht nur Sulla, sondern auch sich selbst verteidigt. Für unsere Zwecke relevant ist aber sein Verhalten angesichts dieses Vorwurfs, das ein Licht auf die spezifisch forensischen Spielregeln hinsichtlich des Umgangs mit auctoritas wirft. Wiederholt macht der Anwalt Torquatus dafür verantwortlich, dass er diese überhaupt thematisieren muss. Das Motiv, das fast die gesamte erste Hälfte der Rede begleitet und am Ende erneut aufgegriffen wird, reiht Cicero in die Abfolge der Argumente ein, die unerlässlich für eine gewissenhafte Verteidigung seines Klienten sind. Exemplarisch dafür sind die Aussagen, durch die er die digressio beendet: 392 393 394 395
Für die Kritik an C. Antonius vgl. auch Cic. Sest. 8. Vgl. auch May 1988, S. 69-79; Thierfelder 1965, S. 396. Berry 1996, S. 42 stellt fest, dass die auctoritas Ciceros hier mehr denn je auf dem Spiel stand. Vgl. auch Goodwin 2001, S. 42-43. Ebd., S. 42 sieht sie die Rede pro Sulla als Fortsetzung der anticatilinarischen Tätigkeit Ciceros; zum Vorwurf der inconstantia vgl. ebd., S. 46; allgemein zu existimatio und fama s. auch YAVETZ, Zvi, Caesar in der öffentlichen Meinung, Düsseldorf 1979, hier: S. 215-230.
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Doch jetzt zurück zur Sache – ihr seid meine Zeugen, ihr Richter: ich bin von Torquatus dazu gedrängt worden, so viel über mich selbst zu reden. Denn wenn er nur Sulla angeklagt hätte, dann könnte auch ich mich jetzt damit begnügen, den Angeklagten zu verteidigen. Doch er ist in seiner Rede ständig über mich hergefallen, um, wie ich zu Anfang sagte, meiner Verteidigung das Gewicht (auctoritas) zu nehmen: da wären diese Ausführungen – auch wenn mich nicht schon meine Betroffenheit zu einer Erwiderung genötigt hätte – um der Sache selbst willen erforderlich gewesen.396
Torquatus hätte also, während er Cicero einen Missbrauch seiner Macht vorwarf, selber die Grundlagen des Prozesses ins Wanken gebracht. Hier wird zum Zwecke der Wiederherstellung des forensischen Gleichgewichts lediglich eine Devianz durch eine andere ausgekontert. Dass es sich bei der Betonung der eigenen auctoritas um eine solche gehandelt hat, belegen freilich die unerlässlichen Apologien, die diese Stellen begleiten. Zudem weist Cicero auch explizit auf die Normverletzung hin: […] diese gewichtige Stimme (über sie muss nämlich oft gesprochen werden, wenn auch von meiner Seite nur mit Vorsicht und Zurückhaltung) […], soll sie diesem Manne gar nicht helfen? Das ist vielleicht eine harte (grave) Forderung, ihr Richter: hart, wenn wir uns damit etwas herausnehmen wollen; hart, wenn wir sie nicht unterdrücken, solange die anderen uns in Ruhe lassen – doch wenn man uns verunglimpft, uns angreift, uns verhasst macht, dann erlaubt ihr gewiss, ihr Richter, dass wir – wenn schon nicht auf unseren Rang – zumindest auf unseren Freimut (libertas) pochen.397 396
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Cic. Sull. 35: Sed iam redeo ad causam atque hoc vos, iudices, testor: mihi de memet ipso tam multa dicendi necessitas quaedam imposita est ab illo. Nam si Torquatus Sullam solum accusasset, ego quoque hoc tempore nihil aliud agerem nisi eum qui accusatus esset defenderem; sed cum ille tota illa oratione in me esset invectus et cum, ut initio dixi, defensionem meam spoliare auctoritate voluisset, etiam si dolor meus respondere non cogeret, tamen ipsa causa hanc a me orationem flagitavisset. Cic. Sull. 80: Quid vero? haec auctoritas – saepe enim est de ea dicendum, quamquam a me timide modiceque dicetur – […], nihil hunc tandem iuvabit? Grave est hoc dictu fortasse, iudices, grave, si appetimus aliquid; si, cum ceteri de nobis silent, non etiam nosmet ipsi tacemus, grave; sed, si laedimur, si accusamur, si in invidiam vocamur, profecto conceditis, iudices,
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Dies stellt eine bemerkenswerte Passage dar, weil sie zugleich die gesellschaftlichen Konventionen, die der Taktik Ciceros zugrunde lagen, offenbart und ebenso die Konsequenzen des Übertretens dieser Vorgaben benennt. Zwei Aspekte ragen dabei heraus. Zum einen war der Ankläger angehalten, die auctoritas des Redners nicht zu thematisieren, zum anderen musste dieser sein zweifellos überlegenes Ansehen verschweigen. Alles andere wäre „schwerwiegend“ und würde invidia nach sich ziehen. Dass dabei die Frage des Gleichgewichts im Vordergrund stand, lässt sich vielleicht auch an der Aussage Ciceros ablesen, dass ein Patron, der seine auctoritas ostentativ zur Schau stellt, sich zugleich „etwas herausnehmen will“ (appetimus aliquid). Als Antwort auf die Devianz des Torquatus stellt ihm Cicero die libertas entgegen, eine Tatsache, die wir später näher ausführen wollen. Die Norm erlegt dem Patron also das Negieren seiner auctoritas auf.398 Cicero betont (mehr oder weniger glaubhaft) selbst in der Sulla-
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ut nobis libertatem retinere liceat, si minus liceat dignitatem; ähnlich auch Sull. 85: Grave esse videtur eum qui investigarit coniurationem […] dicere in iudicio ‚non defenderem, si coniurasset‘. Vgl. Goodwin 2001, S. 47; ebd., S. 47-48 erkennt sie eine ähnliche Vorgehensweise im Falle der advocati. Die Autorin erklärt dies zu Recht damit, dass das Verschweigen den gesellschaftlichen Konsensus wahren sollte, indem einerseits die auctoritas im Falle einer Niederlage keinen Schaden nimmt, andererseits aber die Richter dadurch frei sind, auch gegen gesellschaftlich gewichtige Personen zu entscheiden. Das Übergewicht der auctoritas, das sie hiernach postuliert, wirkt daher befremdlich. Der Meinung von May 1988, S. 71, dass Cicero seine auctoritas nur noch vergrößerte, indem er sich gegen sie wehrte, kann man sich anschließen. Da der Redner letztendlich den Sieg davontragen wollte, sind auch Übertretungen gewisser Ideale zu diesem Zweck anzunehmen. Dies sagt jedoch noch nichts über die gesellschaftlichen Regeln diesbezüglich aus. Berry 1996, S. 293-294 unterstreicht, dass Cicero in der Sullana große Vorsicht an den Tag legen musste. Paterson 2004, S. 80, 82-83 geht von weitgehenden Zugeständnissen an die auctoritas des Redners aus, weist aber auch auf die Existenz von Grenzen des Erlaubten hin. So ist es gewiss irreführend, wenn May 2002, S. 61 sagt, die ciceronischen Reden seien voller „blatant appeals to his auctoritas“; ähnlich Burnand 2004, S. 279-280; vgl. auch die Stellungnahme zu den unmittelbar nachkonsularischen Reden in Kennedy 1972, S. 188: „he [scil.: Cicero] does not pay much attention to the specific evidence against his
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na, dass er sich der auctoritas seines Konsulats entziehen möchte.399 Sie stellt daher keineswegs ein Attribut dar, durch das der Anwalt seinem Gegner einen rhetorischen Todesstoß versetzen konnte.400 Die Hervorhebung der auctoritas wäre auch tatsächlich, gemäß HEINZEs Definition, ein Todesstoß, da sie die Richter moralisch der Möglichkeit beraubt hätte, eine Entscheidung zu Ungunsten des Angeklagten zu fällen. Folglich kann man sich auch nicht den Schlussfolgerungen Jean GOODWINs anschließen, die davon ausgeht, dass Cicero genau diesen Druck auf die Hörer ausüben möchte, um ihnen keine andere Wahl zu lassen als Sulla freizusprechen.401 Die invidia, die von einer solchen Verfahrensweise hervorgerufen worden wäre, hätte naturgemäß das Gegenteil bewirkt. Betrachten wir diese Richtlinie aus der Perspektive der gesellschaftlichen Realitäten, drängt sich eine Parallele zu derjenigen Verhaltensweise auf, die Martin JEHNE für die Volksversammlungen festgestellt hat, und die ein fundamentales Element der politischen Kommunikation der späten Republik bildet: die „Jovialität“, die die Oberschicht in der Interaktion mit dem Volk an den Tag legen musste.402 Der Autor definiert diese als „Form des Umgangs zwischen sozial Ungleichen […], bei der der Mächtigere darauf verzichtet, seine Dominanz auszuspielen, und sich statt dessen so gibt, als befinde er sich auf der gleichen Stufe wie sein Gegenüber“.403 Obwohl die Diskrepanz dabei beiden Seiten bewusst ist, wird die „Präsenz dieses Wissens“ verschwiegen und somit die soziale Entfernung auch verringert.404 Gleichwohl werden einige Unterschiede zu dieser Form der Jovialität deutlich. Wenngleich der
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clients, but tries to wield his ex-consular prestige while appealing to ethos or pathos in his clients’ defense.“ Vgl. Cic. Sull. 33: Itaque attende, Torquate, quam ego defugiam auctoritatem consulatus mei! vgl. auch Cic. Sull. 10. Für eine solche Uneingeschränktheit plädieren unter anderem Powell / Paterson 2004, S. 8; Kennedy 1972, S. 101; für Ciceros Ausnutzung seiner auctoritas in der zweiten Rede De lege agraria vgl. BELL, Andrew J., Cicero and the Spectacle of Power, JRS 87, 1997, S. 1-22. Vgl. Goodwin 2001, S. 43, 49, 50-52. Jehne 2000a. Ebd., S. 214. Ebd; vgl. auch die integrativen Performanzen „affektiver Nähe“ bei Flaig 2003, S. 22.
209
Patron wegen seiner inhärenten Attribute eine überlegene soziale Stellung vorweisen konnte, gehörten die Ankläger ebenso wenig der plebs an wie die Richter. Erstere waren zumeist aufstrebende junge Politiker aus der Senatorenschicht, die sich vielfach ebenfalls auf eine familiäre auctoritas berufen konnten. Allerdings definierte sich die Person eines orator nicht nur über seine Komplementarität zum Gegenredner, sondern auch durch die Interaktion mit den Zuhörern. Im Kontext einer „habituell“ konsenssuchenden Gesellschaft405 und angesichts der Kontrollfunktion, die dem Volk auch bezüglich des forensischen Verhaltens zukam, wird sich dieses Konzept dann als besonders hilfreich erweisen, wenn man die Methoden betrachtet, durch die das Verschweigen der auctoritas auch praktisch gewährleistet wurde. 4.4
Auctoritas vs. libertas
Dass die auctoritas vor Gericht einer Reglementierung bedurfte, zeigt zunächst, dass dies von den Zeitgenossen als ein Umstand aufgefasst wurde, der die Entscheidungsfindung auf unerlaubte Weise beeinflussen konnte. Allerdings kann es selbst bei einem Verschweigen jener Eigenschaft nicht in Abrede gestellt werden, dass die auctoritas sowohl omnipräsent als auch allen Zuhörern bewusst war. Dabei sind auch die Vorwürfe der potentia für unsere Zwecke relevant. Zusammen mit einer auctoritas, die entweder ostentativ ausgespielt oder in diesem Sinne von dem Gegenredner interpretiert wurde, gehören sie in eine Kategorie unzulässiger persönlicher Machtentfaltung, die dem Rollenbild der Redner kontraveniert. Damit diese Macht nicht zum ausschlaggebenden Faktor für die Entscheidung der Richter wird, muss es Mechanismen gegeben haben, die fähig waren, den rhetorischen Wettbewerb wieder in geordnete Bahnen zu lenken. Die Situationen, in denen solche Mechanismen gegriffen haben, sollen deshalb denjenigen Reden entnommen werden, die entweder ein bereits bestehendes Ungleichgewicht postulieren oder dies an die Machtmittel eines Einzelnen koppeln. Beides trifft auf die Rede für Sex. Roscius zu. Chrysogonus erscheint wie kein Zweiter in Ciceros Reden als 405
Flaig 2005, S. 218.
210
Bindeglied zwischen den gesellschaftlichen Missständen und einer überhöhten Position des Individuums. Die berechtigten Zweifel an der historischen Korrektheit dieser Darstellung dürfen angesichts der Mühe, die Cicero darauf verwendet, seine These glaubhaft zu vertreten, übergangen werden. Die gesellschaftliche und politische Schieflage, die er an einem mit vermeintlich größter Machtfülle ausgestatteten Freigelassenen exemplifizieren will, macht diese Rede besonders wertvoll für das Ermitteln der Funktionsweise jener Mechanismen. Der topische Charakter der im letzten Abschnitt vorgestellten Kritik an der potentia des Chrysogonus lässt diese zunächst unspektakulär erscheinen. Bevor er seinen Gegnern jedoch versichert, dass sie keine Macht von ihm zu befürchten hätten, erklärt Cicero auch, worauf sich seine Verteidigertätigkeit in diesem Fall gründet: Glaube mir, wenn alle Gastfreunde ihm beizustehen und ihn mit Freimut (libere) zu verteidigen wagten, wie es den freundschaftlichen Beziehungen und dem Einfluss seines Vaters entspräche, dann würde er durch eine stattliche Zahl von Leuten verteidigt.406
Die libertas, die hier angesprochen wird, stellt ein Hauptmotiv der Vorgehensweise Ciceros in der Rosciana dar. Sie ist es, die eine Verteidigung des Roscius überhaupt gewährleisten kann, und sie begleitet bezeichnenderweise vor allem den Rollenwechsel des Redners vom Verteidiger zum Ankläger. Einer der Gründe, wieso die nobiles nicht für Roscius eintreten konnten, war, dass es ihnen nicht möglich gewesen wäre, libere zu sprechen.407 Dieses Attribut spricht sich Cicero im Laufe der Rede des Öfteren zu,408 vor allem aber sind zwei Instanzen von Bedeutung, die es mehr oder weniger direkt auf das Vorgehen der Gegenseite beziehen. Der orator nimmt sich zum einen vor, die Umstände des Prozesses „beherzt und offen“ (audacter libereque) anzusprechen.409 Die 406
407 408 409
Cic. S. Rosc. 148: Mihi crede, si pro patris huius hospitiis et gratia vellent omnes huic hospites adesse et auderent libere defendere, satis copiose defenderetur. Cic. S. Rosc. 3. Brunt 1988a, S. 314 zeigt, dass die Redefreiheit ein Markenzeichen der libertas war; vgl. auch Cerami 1998, S. 8, 20. Cic. S. Rosc. 9, 30, 140. Cic. S. Rosc. 31.
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audacia ist hier selbstverständlich nicht diejenige deviante Form, die sich über die Grundsätze der res publica stellt, sondern sie bildet, wie oben gesehen, eines der Grundelemente des jugendlichen Rollenbildes, das es dem Ankläger erlaubt, Themen in einer Art und Weise vorzutragen, die für den Patron unzulässig wäre. Die Assoziation mit libertas ist gewiss kein Zufall. Letztere beinhaltet ebenso den Gedanken einer „Redefreiheit“, die zuweilen auch die Grenzen des Erlaubten auszutesten vermag und somit in das oben skizzierte Bild des accusator integriert werden muss.410 Die zweite Stelle spricht Erucius direkt an: Hierin hast du dich also getäuscht, Erucius, und du siehst, dass alles ins Gegenteil ausgeschlagen ist, dass man Sextus Roscius zwar nicht nachdrücklich genug, aber doch mit Freimut (libere) verteidigt.411
Libertas wird in diesem Kontext implizit zum Antonym der potentia.412 Die Erucius unterstellte Hoffnung, er würde den Sieg davontragen ohne sich auf die juristische Auseinandersetzung einlassen zu müssen, ist eine direkte Folge der Übermacht, die Chrysogonus im Laufe der gesamten Rede zugewiesen wird. Man könnte hinter versa esse omnia aber auch eine Andeutung des angestrebten Rollentausches erkennen, die das At-
410
411 412
Quint. inst. 2,12,4 belegt die semantische Nähe, die dazu führt, dass „Beschimpfungen“ manchmal mit „Freimut“ verwechselt werden. Val. Max. 6,2,praef. siedelt libertas zwischen Tugend und Laster an und fährt fort: Ac vulgi sic auribus gratior quam sapientissimi cuiusque animo probabilior est, utpote frequentius aliena venia quam sua providentia tuta – eine Feststellung, die ohne Weiteres auf die Verhaltensanforderungen an den jungen Ankläger angewandt werden kann. Unter diesem Gesichtspunkt wird das Ausmaß der Kritik Ciceros deutlich, der in der Rosciana der Gegenseite unterstellt, die Hintergründe des Prozesses bewusst verheimlicht zu haben (S. Rosc. 5). Dadurch hätten sich diese auch einer gravierenden Übertretung der akkusatorischen Rollenpflichten schuldig gemacht, sowohl mit Blick auf die im ersten Kapitel der Studie ermittelten Regeln der inimicitiae als auch in Bezug auf die vom Ankläger erwartete Offenheit. Cic. S. Rosc. 61: Quae quoniam te fefellerunt, Eruci, quoniamque vides versa esse omnia, causam pro Sex. Roscio, si non commode, at libere dici. Zu dieser Antonymie vgl. Drexler 1988a, S. 147; s. auch Cic. dom. 80; Cic. Planc. 33.
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tribut der Freiheit erneut als wesentliches Merkmal der Anklägerrolle ausweist.413 Um jedoch die große Bandbreite der libertas sowie ihre Funktion im forensischen Zusammenspiel zu erfassen, müssen wir auch auf diejenigen Reden blicken, in denen Cicero in seiner Position als Verteidiger – und ohne einen Rollenwechsel vollziehen zu wollen – diese Eigenschaft in Anspruch nimmt. So offenbart die Behandlung des Konzepts in der Sullana eine zweifache Rolle. Einerseits wird libertas im Zuge eines feierlichen Schwures evoziert, durch den Cicero beteuert, sein persönliches Ansehen nicht auf unerlaubte Weise zur Entlastung Sullas missbrauchen zu wollen: Daher rufe ich euch als Zeugen an, ihr Götter und Schutzmächte unserer Väter […]: ich vertrete die Sache des P. Sulla frei und unbefangen; ich versuche nicht, wissentlich eine Missetat zu verschleiern; ich schütze und verteidige hier kein Verbrechen gegen das Wohl der Gesamtheit.414
Libertas wird hier zur Garantie für die normkonforme Wahrnehmung der anwaltlichen Pflichten und exkludiert jeglichen Versuch einer suggestiven Machtanwendung. Für die zweite Manifestation der patronalen Freiheit muss auf eine im letzten Abschnitt diskutierte Passage hingewiesen werden.415 In jener Ausprägung stellt die Inanspruchnahme von libertas eine unerlässliche Konsequenz des von Torquatus vorgebrachten Tyrannenvorwurfs dar, sie bezieht ihre Legitimität allerdings ausschließlich aus ihrem reaktiven Charakter. Dadurch dass Torquatus eine 413
414
415
Libertas beinhaltet unter anderem das mutige Auftreten gegen persönliche Gegner (vgl. Kloesel 1967, S. 122; Cerami 1998, S. 20) und muss somit als Kernelement der inimicitiae wie auch der Anklägerrolle betrachtet werden. Cic. Sull. 86: Quam ob rem vos, di patrii ac penates, […] testor integro me animo ac libero P. Sullae causam defendere, nullum a me sciente facinus occultari, nullum scelus susceptum contra salutem omnium defendi ac tegi; vgl. auch Cic. Sull. 48, wo der Redner die freie Entscheidung darüber, wen man verteidigt, als Gegenentwurf zur Tyrannis präsentiert. Cic. Sull. 80; s. oben, S. 207-208; vgl. auch Cic. Sull. 25: […] sin te potentia mea, si dominatio, si denique aliquod dictum adrogans aut superbum movet, quin tu id potius profers quam verbi invidiam contumeliamque maledicti? Für libertas als Gegensatz zu regnum und dominatio vgl. Hellegouarc’h 1963, S. 551, 560-565; Achard 1981, S. 318-323; Jehne 2000a, S. 224.
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Devianz Ciceros beanstandet, übertritt er selbst die Norm und beansprucht eine illegitime überlegene Position, auf die ebenfalls mit libertas geantwortet werden muss. In beiden Situationen – wie auch im Falle der akkusatorischen Freiheit – steht libertas im Widerspruch zu einer potentia, die sich mitunter auch durch eine aktive Berufung auf die eigene auctoritas äußert, sie bildet aber einen betont defensiven Mechanismus, der punktuell gegen diejenigen Bestrebungen ins Feld geführt werden kann, die eine geregelte Gerichtsverhandlung beeinträchtigen. Dieser zielgerichtete Charakter ist auch in anderen orationes unverkennbar. So bezieht sich Cicero in der Cluentiana auf die Freiheit der Verteidigung, wenn er sich gegen die invidia stellt, die einen ordentlichen Prozess gefährdet.416 In der Rede für Sestius entschuldigt er sich dafür, dass er etwas „freimütiger“ (liberius) spricht,417 führt dies jedoch gleichermaßen auf die Angriffe zurück, die er seit seinem Konsulat hat ertragen müssen.418 Die Komplementarität der Begriffe auctoritas und libertas ist in der Forschung des Öfteren hervorgehoben worden. Vor allem in der politischen Kommunikation ist libertas dasjenige Mittel, das den Umgang der Magistrate mit ihren Machtbefugnissen kontrolliert.419 Dies führt dazu, dass das Begriffspaar ein Gleichgewicht der Kräfte impliziert und zugleich ein Aktivieren des betreffenden „Sinnkonzepts“,420 sobald ein Übergewicht des komplementären Gegenparts droht.421 Der Dualismus war folglich essenziell für das Funktionieren des politischen Systems der res publica.422 In dieser Funktion stellt libertas aber auch diejenige Freiheit dar, die es einem Bürger gestattet, die Quelle der auctoritas selbst zu bestimmen, und ihn entsprechend vor dem Zwang devianter Gegen-
416 417 418 419 420 421 422
Cic. Cluent. 142. In Cic. Cluent. 89 gibt der Redner vor, die Blicke der Richter würden ihn ermahnen, libere zu sprechen. Cic. Sest. 4. Cic. Sest. 14. Vgl. Brunt 1988a, S. 325; Hellegouarc’h 1963, S. 543. Als solches wird libertas untersucht von Raaflaub 2003. Zum Gleichheitsgedanken als Merkmal von libertas vgl. Wirszubski 1967, S. 12-19; Arena 2012, S. 65-67; Cerami 1998, S. 22. Kloesel 1967, S. 147; Brunt 1988a, S. 325; vgl. auch Wirszubski 1967, S. 22-30; für das analoge Begriffspaar libertas/dignitas vgl. ebd., S. 19-20.
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begriffe – wie potentia oder vis – schützt.423 Blicken wir auf die jovialen Verhaltensregeln in der Volksversammlung, so ist es ebendieses Sinnkonzept, das als „selbstverständliche Praktizierung der im Ritual der Volksversammlungen eingeschliffenen Verhaltensweisen“424 die Grundlage der Jovialität bildet und es dem Volk erlaubt, mit Nachdruck diese Pflicht der Nobilität einzufordern.425 Eine weitere Konnotation des Terminus bezieht sich direkt auf die Gerichte. Libertas wird häufiger mit den Begriffen ius oder lex in Verbindung gebracht, bisweilen sogar mit den Gesetzen selbst identifiziert.426 Analog zur gesellschaftlichen Funktion wird aber dadurch in erster Linie die Gleichheit vor dem Gesetz angesprochen.427 Vor Gericht wird libertas also zu einem essenziellen Instrument, das die Jovialitätspflicht des Patrons garantiert. Die Übertretung jener Norm, die das Negieren der auctoritas einfordert, geht zwangsläufig in potentia über und verlangt nach einer entsprechenden Antwort.428 Das Korrektiv dafür ist dem gesellschaftlichen Leben schlechthin entnommen worden, es belegt aber zugleich, dass die auctoritas des patronus keineswegs dasjenige Attribut war, das die Gerichtsverhandlung zu einer bloßen Zurschaustellung des sozialen Status herabgesetzt hätte. Die auch für die quaestio wesentliche Funktion des Konzepts hat Hans KLOESEL zusammengefasst: „Sobald die auctoritas aus einer schweigenden Selbstverständlichkeit zu einem Anspruch wird, tritt sie in konträren Gegensatz zur libertas“.429 Da auctoritas zu den inhärenten Rollenattributen des Patrons gehörte, musste libertas zu einem Schlagwort werden, das 423 424 425 426
427 428
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Vgl. ebd., S. 44; Brunt 1988a, S. 313. Jehne 2000a, S. 218. Ebd., S. 226; vgl. auch Kloesel 1967, S. 129. Vgl. Hellegouarc’h 1963, S. 546-549; s. auch Kloesel 1967, S. 137-139; Wirszubski 1967, S. 9-19; Brunt 1988a, S. 296-298. Die Gesetze werden in Cic. Cluent. 146 als fundamentum libertatis bezeichnet; vgl. auch Cic. Cluent. 155. Raaflaub 2003, S. 65. Brunt 1988a, S. 331-334 zeigt, dass libertas ebenso den Schutz durch das Gesetz impliziert; vgl. auch Arena 2012, S. 65. Vgl. auch Val. Max. 6,2,4: Als Cn. Piso Manilius Crispus anklagte, sagte er, er würde sich am meisten vor der potentia des Pompeius fürchten. Valerius Maximus lobt die Freiheit dieser Worte und merkt an, Piso hätte einen Gegner juristisch und den anderen mit libertas bekämpft. Kloesel 1967, S. 123.
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vornehmlich den Anklägern zugutekam. Dies war auch deswegen möglich, weil die unverblümte Redeweise der libertas und eine dazu passende Themenwahl die entsprechende Rollenkonsistenz gewährleisteten. Als Mittel gegen das deviante Übergewicht äußerer Faktoren stand sie jedoch allen zur Verfügung, die die Egalität vor Gericht wiederherstellen wollten, und bildete somit gleichermaßen den Weg, auf dem der Verteidiger gegen eine versteckte Macht des Anklägers vorgehen konnte. Umgekehrt war libertas aber nur ein Ausgleichs- und Korrekturmechanismus, dessen unbegründetes und vor allem übertriebenes Evozieren ebenso deviant war wie die offen zur Schau gestellte auctoritas. In der Caeliana wird Atratinus liebevoll nahegelegt, er solle auf allzu freimütige Worte verzichten.430 Auch diesbezüglich ist eine Analogie zum Bild des adulescens als accusator naheliegend, der angesichts der erwarteten Offenheit und Vehemenz seiner Rede stets eine Gratwanderung zwischen Skepsis und Hoffnung einzugehen hatte.431 Die faktische Außerkraftsetzung der sachfremden auctoritas hatte für die quaestio eine eminente Bedeutung. Wie Martin JEHNE festgestellt hat, führte das Jovialitätsgebot in den Volksversammlungen dazu, dass durch Verschweigen die soziale Distanz verringert wurde. War dies ebenso das Ziel der Normen, die in einer Gerichtsverhandlung zum Tragen kamen, so ergibt sich auch hier das in den vorhergegangenen Abschnitten der Arbeit eruierte Bild einer egalitären Grundausrichtung des rhetorischen Wettbewerbs, die vielfach erst durch eine Komplementarität der Attribute erreicht wurde. Auctoritas und libertas mussten sich gegenseitig in Schach halten und idealiter sollten auch beide verschwiegen werden. Als Reaktion auf entsprechende Devianzen stellten sie allerdings in fundamentaler Weise das Gleichgewicht der Kräfte wieder her. In einer Hinsicht jedoch unterscheidet sich die Zielsetzung dieser Form der libertas von ihrer Funktion in der Volksversammlung. Galt es für sie dort, ein konsensuales Abstimmungsverhalten sicherzustellen, gewährleistete die Freiheit vor Gericht, dass die Richter ungezwungen – d. h. „frei“ – entscheiden konnten, ohne auf diejenigen persönlichen Eigenschaften der Parteien Rücksicht zu nehmen, die dem Gleichheitsgedanken zuwiderliefen. 430 431
Cic. Cael. 8. Vgl. Cic. Cael. 43.
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Mit Blick auf diese Funktion ist auch der These Paul SWARNEYs zu widersprechen. Statusfragen und –unterschiede waren für den Sinn des forensischen Agons eine (meist unwillkommene) Begleiterscheinung der gesellschaftlichen Realitäten und keinesfalls das Ziel der richterlichen Entscheidungsfindung. Die Integration der Vorzüge dieser Realitäten in die Sinnstiftungsmuster der quaestio bei gleichzeitiger Entschärfung ihrer Nachteile war nicht nur eine logische Folge, sondern sie begründete zugleich die Stärke der spätrepublikanischen Gerichtshöfe. Dies bedeutet freilich nicht, dass die persönliche auctoritas des Patrons keinen praktischen Nutzen hatte. Deren (wenngleich verschwiegene) Präsenz konnte dem Redner des Öfteren die Sympathie der iudices sowie ein faktisches Übergewicht verschaffen. Im Hinblick auf die kulturimmanenten Prinzipien, die für die quaestiones relevant waren, wird jedoch evident, dass man sich darum bemüht hat, eventuelle Diskrepanzen aufzuheben und den Richtern die Möglichkeit zu geben, gewissenhaft und unter Beachtung derjenigen Normen, die auch theoretisch für ihre Rolle postuliert wurden, zu urteilen.
5
Bezugsgruppen des anwaltlichen Verhaltens: Richter und corona
Das Ansprechen der Erwartungen, die die Prozessparteien – wie auch die gesamte Gesellschaft – an die iudices gerichtet haben, geht in Ciceros Reden stets mit dem Rekurrieren auf bestimmte den Richtern zugesprochene Eigenschaften einher. Allgemeine Tugenden432 sowie Charakteristika ihrer Position und ihres Alters433 werden ebenso her-
432 433
Virtus (Quinct. 5; Mil. 4, 105), constantia (Quinct. 5). Auctoritas (S. Rosc. 154; Verr. 1,3; Cluent. 6, 107; Sest. 2, 144; Mil. 4), gravitas (Quinct. 5; div. in Caec. 8; Sull. 64; Flacc. 3; Sest. 119; Cael. 29; Mil. 22), severitas (S. Rosc. 8; div. in Caec. 8, 21; Verr. 1,30; 2,5,178; Caec. 6; Cluent. 56; Sull. 92; Arch. 3; Sest. 135; Cael. 29), dignitas (S. Rosc. 9; Cluent. 202; Sull. 64), potestas (Quinct. 6; S. Rosc. 154; Font. 40), vis (Caec. 6).
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vorgehoben wie Attribute der Milde und Menschlichkeit,434 geistige Fähigkeiten435 oder explizite Faktoren der Rechtsprechung.436 Besondere Bedeutung kommt darüber hinaus ihrer Gewissenhaftigkeit437 und der richterlichen fides zu.438 Dabei evoziert jedes Attribut die für das spätrepublikanische Rom spezifische Art der Rollenwahrnehmung und beinhaltet somit konkrete Verhaltensvorschriften, die nicht als Allgemeinplätze einer captatio benevolentiae angesehen werden dürfen.439 Eine Betrachtung des genauen Inhalts der am häufigsten angeführten Eigenschaften unter Berücksichtigung des Kontextes, der dazu geführt hat, dass sich Cicero ausgerechnet für die Benennung der betreffenden Qualität entschied, kann über die kulturellen Vorstellungen, die der richterlichen Aufgabenstellung zugrunde lagen, Aufschluss geben. Als bereits äußerlich wahrnehmbare Eigenschaft440 wird die severitas des Öfteren zum Charakteristikum des iudex.441 Sie begegnet uns unter anderem dann, wenn Cicero Gefahr läuft, sich gewisser Devianzen schuldig zu machen, und die Botschaft vermitteln möchte, dass er sich der Normübertretung bewusst ist. Die Abweichung gerät sowohl im Zuge seines Lobes auf die Dichtkunst des Archias442 als auch infolge der oben erwähnten digressio, die sich in der Sestiana nicht mit der patronalen gravitas vertrug, in Widerspruch zur Ernsthaftigkeit und Strenge 434
435
436 437 438 439 440 441 442
Misericordia (Quinct. 10; S. Rosc. 150; Sull. 92), mansuetudo (Cluent. 199; Sull. 92), clementia (Cluent. 202), lenitas (Sull. 92), bonitas (S. Rosc. 150), humanitas (Cluent. 95; Sull. 92; Arch. 3; Cael. 75; Balb. 19; Mil. 22). Sapientia (S. Rosc. 10, 154; Font. 25; Caec. 8; Cluent. 95, 159; Flacc. 3; Cael. 21, 22, 29, 44, 75; Balb. 19; Rab. Post. 11, 12; Mil. 4), prudentia (Quinct. 54; S. Rosc. 73; Cluent. 5; Cael. 19, 32, 45), consilium (Flacc. 3; Rab. Post. 11), providentia (Flacc. 3). Aequitas (Quinct. 4, 6; Cluent. 81, 156, 159, 199; Rab. Post. 45), iustitia (Mil. 22, 105), veritas (Quinct. 10; Verr. 1,3; Cluent. 81). Religio (Verr. 1,3; 2,1,22; 2,5,175; Font. 31; Caec. 5, 103; Cluent. 121, 159; Sest. 2; Cael. 22), diligentia (Cluent. 3, 121). Quinct. 5, 10; S. Rosc. 10, 140; Verr. 2,1,22; Font. 40; Caec. 103; Cluent. 3, 6, 81, 159; Cael. 21; Mil. 4, 22, 105. Vgl. Hartung 1974, S. 558. Vgl. ebd., S. 559. Zur juristischen Relevanz der severitas vgl. Val. Max. 6,3,praef.; s. auch Bernardo 2000, S. 69. Cic. Arch. 3.
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der Gerichte.443 Die severitas der Richter stellt also in erster Linie sicher, dass die Redner stets die von ihrer Position eingeforderten und in den bisherigen Kapiteln diskutierten Normen beachten.444 Relevant ist hierbei vor allem die Emotionslosigkeit des Begriffs.445 Severitas ist das Ergebnis einer rationalen Abwägung, die zu einem objektiven Urteil führen und von den beteiligten Personen – sowie von der subjektiven Haltung des Richters diesen gegenüber – abstrahieren soll.446 Dass die 443
444
445 446
Cic. Sest. 119; vgl. auch Hartung 1974, S. 559. Gravitas wird oft selbst mit severitas in Verbindung gebracht und bezeichnet die moralische Standhaftigkeit des Akteurs; vgl. dazu Achard 1981, S. 394-395. Die Bedeutung des Konzepts für die Wahrnehmung der richterlichen Pflichten lässt sich auch an seiner strikten Positionsbezogenheit ablesen. Severitas wird ausschließlich von der jeweils gespielten sozialen Rolle verlangt und ist z. B. ein wesentliches Attribut des Konsuls (Cic. Sull. 8; vgl. auch Bernardo 2000, S. 54-55). Als Markenzeichen der Richter steht der Begriff freilich in einem seltsam anmutenden Spannungsfeld mit der ebenfalls von ihnen erwarteten misericordia. So erscheinen diese bei Quint. inst. 4,1,16 als komplementäre Attribute, die bei den iudices gelobt werden müssen. Bernardo 2000, S. 14 sieht misericordia als Antonym zu severitas, hebt aber die Ambivalenz beider Begriffe hervor. Die Dichotomie hatte als Richtlinie für das Stimmverhalten allerdings eine essenzielle Funktion zu erfüllen. Der severitas Schuldigen gegenüber wird im Falle der Unschuld das Mitleid, zu dem die Richter ebenso fähig sein mussten, entgegengesetzt; vgl. Cic. Sull. 92; Gell. 14,4,3. Cicero kontrastiert die natürliche Veranlagung der Menschen zu misericordia mit der bisweilen von den Amtspflichten eingeforderten severitas (Sull. 8). Wenngleich mancher iudex eher zu Strenge tendierte, werden beide Attribute uneingeschränkt in den Dienst der Wahrheitsfindung gestellt; vgl. die Ausführungen Ciceros zum Richter L. Cassius in S. Rosc. 85: Hunc quaesitorem ac iudicem fugiebant atque horrebant ei quibus periculum creabatur ideo quod, tametsi veritatis erat amicus, tamen natura non tam propensus ad misericordiam quam applicatus ad severitatem videbatur; für den vergleichbaren Dualismus von humanitas und severitas vgl. Bernardo 2000, S. 59; für die Verbindung beider mit constantia und gravitas: ebd., S. 61. Vgl. Hartung 1974, S. 560; Bernardo 2000, S. 114. Vgl. ebd., S. 70, 77. Dementsprechend ist severitas in erster Linie die Folge eines richtig verstandenen Pflichtbewusstseins und kein Ausdruck prinzipieller Unbarmherzigkeit (ebd., S. 105). Ebd., S. 73 wird auch die „Unbestechlichkeit“ als Nebenbedeutung angeführt. Mäßigung und Mitleid sind mit
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Richter diese Objektivität auch praktizieren, garantiert die von ihnen ebenfalls erwartete und gleichermaßen emotionsfreie Gewissenhaftigkeit.447 Dieses Attribut geht allerdings in einem wichtigen Punkt über das vorherige hinaus. Die religio der iudices erlaubt nämlich auch die Erkenntnis darüber, wann vor Gericht die Wahrheit gesagt wird448 und vor allem wann eine Prozesspartei versucht, sich mit unerlaubten Mitteln einen Vorteil zu verschaffen,449 so dass Cicero bezeichnenderweise sowohl religio als auch veritas vom Reichtum des Verres bedroht sieht.450 An anderer Stelle merkt er an, dass es allein dem Redner obliege, die Gewissenhaftigkeit der Richter zu lenken, wodurch er explizit diejenige Überzeugungskraft meint, die ausschließlich ein plausibler Vortrag entfalten kann.451 Religio wird zur pflichtbewussten Einschätzung der Wahrhaftigkeit der Argumente,452 während severitas das ebenfalls glaubwürdig wirkende Auftreten der Anwälte kontrolliert. Voraussetzung für beide Qualitäten ist eine dezidierte Zurückweisung sämt-
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Blick auf die severitas auch deswegen wichtig, weil Letztere sich in ihrer emotionalen Ausprägung zu crudelitas entwickeln und ein objektives Urteil unmöglich machen würde; vgl. Cic. Sull. 93; s. auch Cic. Sull. 8; vgl. ferner Cic. Cael. 21, wo den Richtern nahegelegt wird, bei ihrer Entscheidung nicht von Schmerz (dolor) ergriffen zu werden. Die Ambivalenz des Begriffs geht nicht zuletzt darauf zurück, dass seine Ursprünge in der strengen Art der maiores liegen, so dass Cicero etwa in Cael. 29 mit der übertriebenen severitas gegenüber Jugendlichen zu kämpfen hat; für severitas als Merkmal der maiores vgl. Bernardo 2000, S. 34-39. Vgl. Hartung 1974, S. 560-561. Vgl. Cic. Font. 31. Die religio soll hier laut Cicero zur Einsicht führen, dass man den gallischen Zeugen nicht glauben könne. Der topos der Instrumentalisierung der iudices wird in Cic. Sest. 2 explizit auf die Gefahr für ihre religio bezogen. Ebenso müsse sich die Gewissenhaftigkeit der Richter in Cic. Cael. 22 der gegnerischen potentia widersetzen. Cic. Verr. 1,3. Cic. de or. 1,31. Religio setzt auch voraus, dass man gründlich informiert ist. So legitimiert Cicero seine ausführlichen juristischen Erklärungen in der Rede für Caecina damit, dass man nicht glauben solle, den Richtern hätte es an Gewissenhaftigkeit gefehlt (Caec. 5); für die Bewertung von religio und religiosus vgl. Gell. 4,9,1-12.
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licher Faktoren, die nicht der Rede oder dem Redner selbst entstammen, und demgemäß auch der Schutz vor einer persönlichen, offensiv thematisierten und außerhalb der Sache liegenden auctoritas. Die wesentliche Rolle bei der Entscheidungsfindung spielen jedoch Weisheit und Klugheit der iudices, die unerlässliche Vorbedingungen für alle anderen Attribute darstellen.453 In diesen primär geistigen Eigenschaften konkretisiert sich z. B. die Gewissenhaftigkeit der Richter, so dass sich sapientia/prudentia und das Aufspüren der Wahrheit im römischen Verständnis des Öfteren zu untrennbaren Größen entwickeln.454 Die ideelle Stellung der Weisheit als Oberbegriff wird auch darin ersichtlich, dass die wichtigsten Merkmale der Strenge und der religio ebenso in der Konzeptualisierung der sapientia enthalten sind. So erlaubt es den Richtern nur diese Tugend, die Glaubwürdigkeit der Argumente fundiert zu überprüfen und infolgedessen den Wahrheitsgehalt der Rede zu evaluieren.455 Überdies besteht die Aufgabe der sapientia darin, „die für das zu sprechende Urteil wesentlichen Faktoren zu erkennen und zu beurteilen“.456 Diese Vorschrift bezieht sich zum einen auf das Feststellen der juristisch relevanten Gesichtspunkte,457 zum anderen 453
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Hartung 1974, S. 564 weist darauf hin, dass in Konfliktsituationen zwischen unterschiedlichen Erwartungen sapientia immer das ausschlaggebende Kriterium ist. Cic. off. 1,15; vgl. dazu Hellegouarc’h 1963, S. 271-272; Klima 1971, S. 45, 15. Derjenige, der die Wahrheit am schnellsten durchschaut, ist für Cicero prudentissimus und sapientissimus (off. 1,16). Die Weisheit vermag es auch (meist im Zusammenspiel mit religio), die Glaubwürdigkeit der Zeugen richtig einzuschätzen; vgl. Cic. Font. 23; s. auch Cic. Cael. 19; Cic. Scaur. 15; vgl. dazu auch Hartung 1974, S. 564. Konsequenterweise wird prudentia einerseits mit den Gesetzen schlechthin in Verbindung gebracht (Cic. leg. 1,19), andererseits darauf aufmerksam gemacht, dass ein kluges Urteil nur dann möglich ist, wenn die Lust (voluptas) außen vor gelassen wird (Cic. fin. 2,37), was den Begriff, analog zu severitas und religio, in einer Sphäre verortet, in der das Zeigen von Emotionen unerwünscht ist; zur Verbindung von sapientia und prudentia mit gravitas vgl. Achard 1981, S. 397. Hartung 1974, S. 563. In Cic. Cluent. 159 sollen die Richter durch einen Blick auf die Gesetze und mithilfe ihrer sapientia erkennen, dass sie Cluentius nicht verurteilen dürfen – eine Passage, die zudem die Pflicht der iudices, wahrheitsgemäß zu
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begreift sie auch die Pflicht der iudices ein, unparteiisch und unter Nichtberücksichtigung externer Einflüsse zu entscheiden.458 Die Tatsache, dass ausgerechnet die Konzepte der sapientia und prudentia – die nicht selten mit iustitia zu einer Einheit verbunden werden –459 tragende Säulen der richterlichen Rollenattribute sind, erhält unter Rückgriff auf die oben postulierten komplementären Bilder der Redner eine besondere Signifikanz, für die uns die Definition des auctor ad Herennium einen Hinweis liefert: Klugheit ist die Schlauheit, welche nach einer bestimmten Überlegung eine Wahl treffen kann zwischen Gut und Böse.460
Die geistige Schärfe der Richter macht es ihnen somit in elementarer Weise möglich, zu derjenigen Wahrheit zu gelangen, die sich in Anbetracht eines rhetorischen Wettbewerbs zwischen dem amicus und dem inimicus des Angeklagten sowie der damit verbundenen Enthüllung sämtlicher Argumente, die diesen betreffen, nur einem klugen und weisen iudex offenbart. Akzeptiert man das egalitäre und aus der gesellschaftlichen Praxis schöpfende Modell der spätrepublikanischen Anwaltskonzeptionen, gibt es angesichts des darauf bezogenen Rollenbildes der Richter keinen Grund, den Quellenaussagen, die veritas
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urteilen, bekräftigt. Zugunsten von Sex. Roscius führt Cicero an, dass niemand ohne ein entsprechendes Motiv Verbrechen verübe, eine Erkenntnis, die sich den klugen (prudentissimi) Richtern freilich nicht entziehen könne (S. Rosc. 73). In der Caeliana dürfe es die sapientia der iudices nicht erlauben, dass Caelius den Vorurteilen gegenüber der Jugend zum Opfer fällt (Cael. 29), außerdem müssten die Richter anhand ihrer Weisheit auch die Irrelevanz eventueller (sachfremder) Verfehlungen des Angeklagten für die Entscheidungsfindung erkennen (Cael. 75). Weitere Beispiele für sapientia als Einblick in die ausschlaggebenden juristischen Faktoren finden sich in Cic. Mil. 4; Cic. Font. 25; Cic. Rab. Post. 11. Vgl. Cic. Cael. 21, 22, 32; Cic. Cluent. 5; Cic. Caec. 8; Cic. Balb. 19. Fast paradigmatisch für die vor Gericht relevanten Schlagworte ist die Passage in Cic. off. 2,34: prudentia sine iustitia nihil valet ad faciendam fidem; für die Vorgabe, auch den Gerechtigkeitssinn der Richter zu loben, vgl. Quint. inst. 4,1,16. Rhet. Her. 3,3: Prudentiae est calliditas, quae ratione quadam potest dilectum habere bonorum et malorum.
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unentwegt zum Ziel der römischen Gerichtshöfe deklarieren, zu misstrauen.461 Sind die bisherigen Attribute Ausdruck allgemeiner Prinzipien, welche die Grundsätze der Urteilsfindung betreffen, setzt der bereits erwähnte Begriff der fides die Richter in Relation zu den Prozessparteien, und prägt somit die gegenseitigen Verpflichtungen wie auch das Verhalten der Rollenträger untereinander. Bedeutsam sind vor allem die Reziprozität des Begriffs und seine Ausrichtung auf objektive Kriterien der Rechtsprechung. Der Glaube der iudices bedingt im Gegenzug eine Spielart der fides – als Vertrauenswürdigkeit der Richter und Vertrauen der Redner –, die sich sowohl durch die Gewissheit, die Richter würden pflichtbewusst entscheiden,462 als auch durch die Überzeugung, sie würden sich nicht der Machtfülle der Gegenseite beugen,463 manifestieren kann. Im (nicht selten vorgespielten, aber dennoch obligatorischen) Vertrauen auf die Aufrichtigkeit der eigenen Sache setzen die häufigen Appelle an die Schutzfunktion der Richter diese Objektivität nicht außer Kraft, sondern sie spiegeln die Aufgabe der iudices wider, als Repräsentanten der res publica einen für unschuldig befundenen Bürger vor den Angriffen seiner Feinde zu retten.464 Eine scheinbar nur beiläufig angedeutete Form des Vertrauens bekräftigt hierbei das zweite fundamentale Prinzip der forensischen Sinn461
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Vgl. Cic. Cluent. 5-6; Cic. Quinct. 5; Cic. Font. 17. Dies wird auch von den Stellen unterstützt, an denen veritas explizit in Widerspruch zu äußeren Faktoren gerät; vgl. Cic. Quinct. 84 (veritas vs. gratia); Cic. Quinct. 91 (veritas vs. opes). Die Suche nach der Wahrheit, die der Natur selbst entstamme (Cic. off. 1,13; Cic. fin. 2,46), ist für Cicero gleichermaßen ein Grundzug der Menschen und der Gerichte (off. 1,18; 2,18; 2,51). Für die richterliche Pflicht, nach dem Gesetz zu urteilen, spricht sich auch Riggsby 1999, S. 10-11 aus. Cic. Cluent. 81; Cic. Quinct. 5, 10. Vgl. Freyburger 2009, S. 214. Cicero appelliert z. B in der Rede für Cluentius an die fides der Richter, als er diesen nahelegt, gegen die sachfremde invidia vorzugehen; s. auch Cic. Quinct. 59 für den Gegensatz zwischen fides und gratia. Vgl. Cic. S. Rosc. 10; Cic. Cluent. 3; Cic. Mil. 4, 105; Cic. Font. 40; Cic. Caec. 103. In Mil. 21 spricht Cicero das Vertrauen des Pompeius in die Richter und – wenig überzeugend – dessen Hoffnung auf einen Freispruch an.
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deutungsmuster. Gleich zu Beginn der Rede für Sulla erwähnt Cicero die Zurückhaltung, die sein Klient nach dessen Verurteilung wegen ambitus an den Tag gelegt hat.465 Den Gegensatz zu Autronius stellt der Redner auch dadurch her, dass dieser nach dem Schuldspruch eine vermeintliche Feindschaft zur res publica eingegangen sei, während Sulla durch die Akzeptanz des Urteils den gesellschaftlichen Gepflogenheiten entsprach: Sulla indes war von dem Unglück so gebrochen und niedergeschlagen, dass er von seinem einstigen Ansehen nur das retten zu können glaubte, was er sich durch strikte Rechtlichkeit erhielte.466
In abgewandelter Form sind auch einige Stellen aus der Cluentiana von Belang. Die Vorverfahren, durch die sich Cluentius allmählich an Oppianicus herantasten wollte, werden von Cicero dazu benutzt, die letztendliche Einsicht in die Redlichkeit der Sache seines Klienten zu begründen. Ebenfalls beiläufig und ebenso selbstverständlich beruft sich der Redner im Zuge des Arguments, niemand hätte es moralisch vertreten können, sich weiterhin für C. Fabricius einzusetzen, auf bestehende Normen. So sei es zwar erlaubt, selbst für verdächtige Klienten einzutreten, wenn aber ein Urteil bereits gefällt worden ist, müsse man sich diesem fügen.467 Damit spricht Cicero das praeiudicium gegen Skamander an, das er in einen direkten Bezug zu allen darauffolgenden Verfahren setzt.468 Wenngleich in jenem Prozess freilich weder eine Entscheidung über die Schuld des Fabricius noch über die des Oppianicus getroffen wurde, belegt die Tatsache, dass Cicero die Richter von diesem Zusammenhang überzeugen möchte, auch die Entschiedenheit, mit der man gültige Rechtsurteile zu respektieren hatte:
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Cic. Sull. 1. Cic. Sull. 15: Hic se ita fractum illa calamitate atque adflictum putavit ut nihil sibi ex pristina dignitate superesse arbitraretur, nisi quod modestia retinuisset. Cic. Cluent. 57: Rem enim integram hominis non alieni quamvis suspiciosam defendere humanitatis esse putabamus, iudicatam labefactare conari impudentiae. Vgl. Cic. Cluent. 9, 55.
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Denn was hätten die Richter tun können? Wenn sie die Fabrizier unschuldig verurteilt hätten, dann hätten sie sich trotzdem bei Oppianicus gleichbleiben und den früheren Urteilen zustimmen müssen. Oder hätten sie aus sich selbst ihre eigenen Entscheidungen aufheben sollen, während Richter sonst bei Urteilen darauf zu achten pflegen, dass sie nicht von den Entscheidungen anderer abweichen?469
Als Gegenentwurf präsentiert Cicero den Fall seines Klienten. Die progressive Entfaltung seiner diesbezüglichen Argumentation beginnt mit der Feststellung, dass Cluentius, dessen causa Gegenstand vieler und langjähriger Gerüchte war, „fast“ (prope) schon von der öffentlichen Meinung abgeurteilt wurde.470 Im Folgenden richtet er an die iudices die Bitte, sich sein Plädoyer so anzuhören, als ob man über den Sachverhalt zum ersten Mal befinden würde, eine Prämisse, die selbstverständlich auch zutrifft471 und die der Redner später in aller Deutlichkeit formuliert: Doch freilich, es sind zahlreiche Urteile ergangen, dass Cluentius das Gericht bestochen habe. Nein – vielmehr ist diese Sache bis zum jetzigen Zeitpunkt überhaupt niemals um ihrer selbst willen vor Gericht behandelt worden.472
Ein rechtskräftiges Urteil hat aber maßgeblichen Einfluss auf das Verhalten der Bürger. Obwohl Cicero die Verurteilung Sullas der „allge469
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Cic. Cluent. 60: Quid enim illi iudices facere potuerunt? Qui si innocentes Fabricios condemnassent, tamen in Oppianico sibi constare et superioribus consentire iudiciis debuerunt. An vero illi sua per se ipsi iudicia rescinderent, cum ceteri soleant in iudicando ne ab aliorum iudiciis discrepent providere? Cic. Cluent. 7. Cic. Cluent. 8. Cic. Cluent. 88: At enim iudicia facta permulta sunt a Cluentio iudicium esse corruptum. Immo vero ante hoc tempus omnino ista ipsa res suo nomine in iudicium numquam est vocata. Die Bedeutung der Wahrheitsfindung für diesen Gedankengang wird im nächsten Satz unterstrichen: Ita multum agitata, ita diu iactata ista res est, ut hodierno die primum causa illa defensa sit, hodierno die primum veritas vocem contra invidiam his iudicibus freta miserit.
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meinen Missgunst bei Ämterbewerbungen“ (communi ambitionis invidia) zuschreibt,473 stellt er die Entscheidung an sich niemals infrage. In diesem Zusammenhang geht er auf den zwei Jahre zuvor eingebrachten Gesetzesantrag des L. Caecilius ein, der auf eine Milderung der für ambitus angesetzten Strafen abgezielt hatte,474 und offenkundig vom Ankläger als Versuch, den Schuldspruch Sullas ins Wanken zu bringen, dargestellt wurde. Dabei strebt Cicero in erster Linie den Beweis an, dass eine derartige Gesetzesänderung keinesfalls auch eine Revision des Gerichtsurteils bedeutet hätte.475 Nicht nur die Ausführlichkeit der Passage, sondern auch die von Cicero explizit erwähnte Schwere eines solchen Verstoßes lassen die Relevanz des gegnerischen Vorwurfs erkennen: Deine Rüge ist stichhaltig; denn die Ordnung des Gemeinwesens beruht zuallererst auf den rechtskräftigen Entscheidungen, und man darf, scheint mir, der Liebe zum Bruder nicht so viel zugestehen, dass jemand, um für das Wohl der Seinen einzutreten, dem Wohle aller zuwiderhandelt.476
Dadurch stellt Cicero eine weitreichende Verbindung zur res publica her.477 Die iudices agieren nicht nur als Vertreter der Gemeinschaft, ihre Entscheidung verkörpert zugleich die nicht weiter verhandelbare Position des Staates selbst. In dieser Funktion gilt ihre oberste Pflicht, wie bereits für die Redner festgestellt, dem Gemeinwesen,478 darüber hinaus entwickelt sich aber der Richterspruch auch in gesellschaftlicher Hinsicht zu einem handlungsleitenden Motiv. Die Beispiele des Autronius und Fabricius stellen Fälle dar, in denen der Anwalt das Mandat mit der Begründung, sein Patronat würde unmittelbar mit den Interessen der res 473 474 475 476
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Cic. Sull. 1. Vgl. dazu Berry 1996, S. 258. Vgl. Cic. Sull. 63-65. Cic. Sull. 63: Recte reprehendis; status enim rei publicae maxime iudicatis rebus continetur. Neque ego tantum fraterno amori dandum arbitror ut quisquam, dum saluti suorum consulat, communem relinquat. Die guten Absichten des Caecilius bei seinem Gesetzentwurf versucht Cicero auch dadurch zu untermauern, dass er dem Urheber attestiert, stets die Interessen des Staates vertreten zu haben (Cic. Sull. 65). Vgl. Cic. off. 1,88; Cic. S. Rosc. 154; vgl. auch Hartung 1974, S. 564.
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publica kollidieren, ablehnt. Die einer richterlichen Entscheidung verweigerte Akzeptanz wird demnach zum Synonym für eine Tat, die contra rem publicam verübt wird. Das gegenseitige Vertrauen, das vor Gericht herrschen muss, umschließt – auf normativer Ebene – die (deklarative) Gewissheit, dass die Richter zu einem gerechten Urteil kommen würden, die zu einer apodiktischen Verhaltensanforderung wird und eine unantastbare Stellung der iudices begründet. Davon trennt Cicero z. B. die zensorische Rüge, die er mit Blick auf das iudicium Iunianum thematisiert479 und im Gegensatz zu den Gerichtsurteilen aus unterschiedlichen Gründen vehement zurückweisen kann: Wie kommt euch daher der Gedanke, das als Urteil zu bezeichnen, was, wie ihr seht, das römische Volk aufhebt, die Geschworenen verwerfen, die Behörden nicht beachten, diejenigen, die dasselbe Amt innehaben, abändern und als Kollegen unterschiedlich handhaben?480
Die Erwähnung des Volkes an erster Stelle ist in diesem Kontext bezeichnend. Durch ihre Rollenübernahme haben sich die iudices in mehrfacher Hinsicht verpflichtet. Sie sind einerseits an die Gesetze gebunden, für deren richtige Auslegung sie die Verantwortung tragen – eine juristische Aufgabe, die, kraft des abgelegten Schwurs, auch in Verbindung zur Rechenschaft vor den Göttern und zu der den Prozessparteien geschuldeten Pflicht, richtig über diese zu urteilen, steht.481 Primäre 479 480
481
Cic. Cluent. 117-134. Cic. Cluent. 122: Qua re qui vobis in mentem venit haec appellare iudicia, quae a populo rescindi, ab iuratis iudicibus repudiari, a magistratibus neglegi, ab eis qui eandem potestatem adepti sunt commutari, inter collegas discrepare videatis?; vgl. dazu Riggsby 1999, S. 74-75, der zudem die Behandlung früherer Urteile in Ciceros Reden als von der jeweiligen Prozesstaktik abhängig sieht (ebd., S. 73), diesen jedoch auch eine starke meinungsbildende Funktion zugesteht (ebd., S. 77). Cicero spricht den richterlichen Eid des Öfteren an: S. Rosc. 8, 140, 152; Cluent. 29, 121, 164; Cael. 54; Quinct. 64; Verr. 1,46; s. auch Cic. inv. 1,70; 2,131; vgl. dazu Freyburger 2009, S. 216-217. Riggsby 1999, S. 6 sieht dies auch als Argument dafür, dass die Richter primär im Einklang mit den Gesetzen zu urteilen hatten; zu den Göttern als Urheber der richterlichen potestas vgl. Cic. Sest. 147; Cic. Mil. 83.
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Bezugsgruppe für die richterlichen Rollenattribute bleibt aber stets die Gemeinschaft des römischen Volkes.482 Im Zuge der Gerichtsverhandlung nimmt dieses nicht etwa die Position eines passiven Zuschauers ein, sondern es bringt seinerseits unterschiedliche Erwartungen mit, denen Rechnung getragen werden muss. Diesen Umstand spricht Cicero unter anderem in den Verrinen an. So werden einerseits Ansprüche an die Rollenübernahme ersichtlich, wenn der Redner vorgibt, die Anklage „unter lebhafter Billigung und Erwartung des römischen Volkes“ erhoben zu haben,483 andererseits betreffen die weit wichtigeren Forderungen das Verfahren selbst. Die skandalbehafteten senatorischen Gerichte stehen laut Cicero unter der Beobachtung der Bürger,484 eine Tatsache, die den iudices allerdings die Möglichkeit gibt, den guten Ruf der quaestiones wiederherzustellen.485 Es entsteht eine für die Bewertung der spätrepublikanischen Gerichtshöfe relevante Hierarchie: Doch dies ist ein Prozess, in dem ihr über den Angeklagten, das römische Volk über euch zu Gericht sitzt.486
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Vgl. Hartung 1974, S. 558, 565. Explizit auf das Gemeinwesen bezogen werden die Eigenschaften der Richter in Cic. Verr. 2,1,22 (fides und religio); 2,5,175 (religio); Cic. Flacc. 3 (consilium, gravitas, sapientia, providentia). Dementsprechend schenkt das Volk den iudices das Vertrauen (Cic. Cluent. 159; Cic. Sest. 147), das diese durch ihre Fürsorge für die res publica zurückzahlen müssen (Cic. Sull. 79). Als Ausdruck dieser Verantwortung muss ihr Urteil dem römischen Gesellschaftsideal entsprechen und für das Volk auch insofern wegweisend sein, als es zuweilen die öffentliche Meinung lenken und falschen Ansichten entgegentreten soll (vgl. Cic. Cluent. 4, 8). Hartung 1974, S. 562 zeigt, dass die Gewissenhaftigkeit der iudices objektivierbar ist und ebenso der Einschätzung durch die Bürger unterliegt. Die Taten der maiores als Leitfaden für die Richter werden in Cic. Cluent. 5 angesprochen. Cic. Verr. 1,2 (summa voluntate et expectatione populi Romani); für die Bewertung der Rechtmäßigkeit der Anklage durch das Volk vgl. auch Cic. S. Rosc. 57. Cic. Verr. 1,46. Cic. Verr. 1,1. Cic. Verr. 1,47: Hoc est iudicium, in quo vos de reo, populus Romanus de vobis iudicabit; vgl. auch Cic. Verr. 1,44.
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Dass er die Prozesse gegen Skamander und Fabricius als Vorentscheidungen über Oppianicus darstellen kann, begründet Cicero ebenfalls damit, dass dies den allgemeinen Ansichten entspreche,487 später führt er zugunsten Milos das Argument an, dass selbst das Volk die Ermordung des Clodius gutgeheißen hätte.488 Ähnlich wird in der Rosciana der Wunsch der Bürger nach Gerechtigkeit hervorgehoben,489 eine Erwartung, die der Redner bezeichnenderweise im Zuge seines Rollenwechsels mit der Forderung nach Bestrafung der Ankläger verbindet.490 Angesichts der Sanktionsmacht des populus sind dies mehr als bloße Willensbekundungen, sie haben mitunter auch konkrete Auswirkungen auf den Prozessverlauf, die man gelegentlich dem ciceronischen Briefcorpus entnehmen kann. So ist C. Sempronius Rufus laut M. Caelius „unter lebhaftem Beifall“ schuldig gesprochen worden,491 während das Urteil zugunsten Sestius’ gemäß Cicero auch deswegen staatsdienlich war, weil in der Bürgerschaft kein Dissens darüber geherrscht hat.492 In einem weiteren Brief berichtet Caelius vom Freispruch des M. Valerius Messalla, merkt jedoch an, dass in Anbetracht der starken Missbilligung dieser Entscheidung durch das Volk Messallas Verurteilung in einem zweiten, noch ausstehenden Verfahren wahrscheinlich unumgänglich sei493 – eine Befürchtung, die sich kurze Zeit später bestätigt.494 Das feststehende Urteil der Richter kann das Volk selbstverständlich nicht ändern, es kann dieses aber nachträglich mit einer (negativen) 487 488 489 490
491 492 493 494
Cic. Cluent. 56. Cic. Mil. 77. Cic. S. Rosc. 11. Cic. S. Rosc. 13. Zugleich wird aber die Vermutung geäußert, dass die Menge im ersten Strafprozess nach der Diktatur Sullas eine Verurteilung erwarten würde (S. Rosc. 28); Riggsby 1999, S. 66 geht jedoch vom Gegenteil aus und begründet dies mit dem Wunsch nach Stabilität. Nichtsdestoweniger wird hierin die Pflicht der Richter evident, notfalls gegen eine fehlgeleitete öffentliche Meinung zu entscheiden – wenngleich das Urteil im Nachhinein von der Gesellschaft sanktioniert werden muss. Cic. fam. 8,7,1 (maximo plausu). Cic. ad Q. fr. 2,4,1. Cic. fam. 8,2,1. Cic. fam. 8,5,1. In Cic. ad Q. fr. 3,4,1 wird ebenfalls die Missbilligung des Freispruchs Gabinius’ erwähnt und in ähnlicher Weise vermutet, dass er wegen der schlechten Volksmeinung im nächsten Prozess verurteilt werde.
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gesellschaftlichen Sanktion belegen. Unter diesen Umständen entwickelt sich die invidia zu einem sozial-normativen Instrument, das dieser Sanktion Ausdruck verleiht und dem Redner wie auch jedem Bürger die moralische Erlaubnis erteilt, die gerichtliche Entscheidung zu tadeln – eine Erlaubnis, die Cicero in seinen frühen Behandlungen des iudicium Iunianum dankend annimmt. Allerdings muss eine solche Infragestellung bedingungslos auf den Willen des Volkes als übergeordnete Sanktionsinstanz zurückgehen und darf nicht der subjektiven, nicht sanktionierten Bewertung des Einzelnen entstammen. Dadurch hat die öffentliche Meinung auf lange Sicht auch praktische Folgen, die – wie am Beispiel des Messalla erkennbar – für die Wiederherstellung des gesellschaftlichen Gleichgewichts unerlässlich sind. Ob sich der spätrepublikanische Gerichtsredner mit seiner oratio gleichermaßen an Richter und corona wandte, ist in der Forschung umstritten.495 Anhand der Implikationen der vorgestellten Passagen kann allerdings mit hoher Wahrscheinlichkeit von einer solchen Prämisse ausgegangen werden. Die Bürger begleiteten die Prozesse stets mit großem Interesse496 und die (nicht nur rhetorischen) Schriften Ciceros legen des Öfteren eine Ausrichtung auf die corona nahe.497 Bezeichnenderweise erhebt Cicero in der Rede für Sulla den Vorwurf, Torquatus hätte die den Ansichten des Volkes zuwiderlaufenden Erwägungen mit leiser Stimme vorgebracht,498 während er selbst freilich vorgibt, sämtliche Ausführungen laut vorzutragen, und dementsprechend suggeriert, dass er weder etwas verheimlichen noch standesspezifisch argumentieren 495
496 497
498
Exemplarisch können als Befürworter Lintott 2004, S. 76 und Powell / Paterson 2004, S. 32 angeführt werden, während sich Achard 1981, S. 28 dagegen ausspricht. Alexander 2010, S. 104-105 erachtet es als unmöglich, angesichts der Quellenaussagen eine Entscheidung zu fällen. Vgl. Cic. Cael. 21; Cic. Verr. 1,4; Cic. Att. 1,9. Vgl. Cic. Tusc. 2,3, wo gesagt wird, dass eine Rede vom Volk gebilligt werden müsse, da effectus eloquentiae est audientium adprobatio. Dadurch stehe die Rhetorik im Gegensatz zur Philosophie, die sich mit dem Urteil weniger Richter zufriedengibt (Cic. Tusc. 2,4). In Brut. 183-185 thematisiert Cicero die Zielgruppen des Redners und kommt zu dem Schluss, dass sowohl Experten als auch Laien überzeugt werden müssten, vermittelt aber zugleich den Eindruck, dass der praktische Erfolg der oratio von der Reaktion Letzterer abhängig sei. Cic. Sull. 30.
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möchte.499 Vor allem die soziale Überwachungsfunktion des populus muss dazu geführt haben, dass auf die Rechtschaffenheit der Urteile aufmerksam geachtet und hierfür eine genaue Begutachtung der Argumente der Redner vorgenommen wurde. Wenn die Entscheidung der Richter nicht nur eine juristische Sanktion, sondern auch eine gesellschaftlich verpflichtende Haltung zum jeweiligen Angeklagten bewirkt, trägt die Gemeinschaft ebenso die Verantwortung für deren Rechtmäßigkeit500 – was auch erklärt, wieso als ungerecht perzipierte Urteilssprüche zu langjähriger invidia oder gar zum Entzug des Vertrauens in die Gerichtshöfe führen konnten. Diese von ihrer Sanktionsinstanz ausgehende Verfügungsgewalt hatten die iudices stets vor Augen,501 ein Umstand, der sich zwangsläufig auf die Taktik der Redner auswirken musste. Das Infragestellen einer richterlichen Entscheidung stand somit ausschließlich der Bezugsgruppe, also dem Gemeinwesen als Ganzes, zu.502 Umgekehrt waren die Prozessparteien im Normalfall eines positiv sanktionierten Urteils zu demonstrativer Akzeptanz angehalten. Beide Normen werden nicht nur in den Dienst eines geordneten Verfahrens mit klar definierten Hierarchien gestellt, sie reflektieren zugleich die Risiken 499
500
501
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Cic. Sull. 33-34. In der Rede für Flaccus greift jedoch auch Cicero auf diese Methode zurück und versucht sie dadurch zu legitimieren, dass er vermeintlichen Hetzern im Publikum keine Angriffsfläche bieten wolle (Flacc. 66). Achard 1981, S. 28 erachtet die widersprüchlichen Stellen als Beleg dafür, dass das Ansprechen der corona eine untergeordnete Rolle gespielt hat. Allerdings weist bereits das Thematisieren der Lautstärke, auf das Cicero vor allem in der publizierten Rede hätte verzichten können, auf den devianten und erklärungsbedürftigen Charakter der Taktik hin. Die Frage, ob im spätrepublikanischen Strafrecht Nachfolgeprozesse unter dem gleichen Anklagepunkt überhaupt erlaubt waren, kann nicht endgültig geklärt werden, allerdings hat ALEXANDER, Michael C., Repetition of Prosecution, and the Scope of Prosecutions, in the Standing Criminal Courts of the Late Republic, Classical Antiquity 1, 1982, S. 141-166 die Annahme eines diesbezüglichen Verbotes plausibel gemacht. Vgl. Quint. inst. 4,1,21. Demnach erregt man die Furcht der Richter am erfolgreichsten, wenn man impliziert, das Volk würde ihr Urteil nicht gutheißen. Vgl. auch Tac. dial. 39,4. Er erklärt die aktive Beteiligung der Menge an den früheren Prozessen auch damit, dass sie die verhandelte Sache stets als ihre eigene betrachtete.
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der für die Sinnmuster der quaestio unentbehrlichen Verflechtung von gesamtgesellschaftlichen und juristischen Positionen. Diese Konnotation liefert darüber hinaus eine weitere Erklärung für die oben vorgestellten Anklägerdevianzen. Egon FLAIG hat auf die „habituelle Konsensorientiertheit“503 der römischen Gesellschaft aufmerksam gemacht, d. h. auf die Bestrebungen, deviantes Verhalten wieder in geordnete Bahnen der Normativität einzugliedern. Die Verantwortung, diesen Konsens herzustellen, oblag dem Volk, das sich dafür den vielfältigen Methoden kollektiver Kundgebungen bediente.504 Den iudices war es nur möglich, die ihnen zugewiesene Position als juristische Vertreter der res publica zu bekleiden, wenn es ebenfalls zu diesem sozialen Einvernehmen gehörte, dass ihr Urteil über jeden Zweifel erhaben ist. Galt Letzteres in der konsenswahrenden Volksmeinung als gerechtfertigt, so musste dies zwangsläufig die gesellschaftlich sanktionierte Klärung der betreffenden Feindschaft darstellen. Die inimicitiae, die vor Gericht ausgetragen wurden, fanden dort auch ihre Antwort.505 Jedes weitere Vorgehen hätte nicht nur destabilisierende Folgen für das Gemeinwesen gehabt, es hätte zudem die communis opinio angezweifelt und implizit den Konsens infrage gestellt.
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Fazit: Der Sinn der spätrepublikanischen quaestiones
Im ersten Teil der Studie ist versucht worden, die Schwierigkeiten, die sich hinsichtlich der Bewertung der spätrepublikanischen Gerichtshöfe ergeben, und die damit verbundene Frage nach den Kriterien der Urteilsbildung aus einer neuen Perspektive zu beleuchten, nämlich aus dem Blickwinkel der an die forensischen Rollenbilder und an das Zusammenspiel der Positionen geknüpften normativen Erwartungen. Das Bild, das in diesen Kapiteln gezeichnet worden ist, spricht für den Versuch der Gesellschaft, entweder gleiche Voraussetzungen für die Tätigkeit der Anwälte zu schaffen oder bei entgegengesetzten Attributen eine Gleichwertigkeit der Vor- und Nachteile sicherzustellen. 503 504 505
Flaig 2005, S. 218. Ebd., S. 218-219; Flaig 2003, S. 104-110. Ebd., S. 146 weist der Autor darauf hin, dass durch eine Verurteilung auch der Rache Genüge getan wurde.
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Die Erweiterung der gerichtspatronalen Semantik um die keineswegs identischen Freundschaftsbeziehungen stellt sich vor allem dann als hilfreich heraus, wenn man die Rollen des Verteidigers und des Anklägers als aufeinander bezogene und nur in Wechselwirkung zueinander zur vollen Entfaltung kommende Positionen konzipiert. Die persönliche Nähe, die sowohl patroni als auch amici theoretisch vorweisen mussten, spiegelt nicht nur den gesellschaftlichen Wunsch wider, jeglicher Form der Professionalisierung entgegenzuwirken, sondern auch die Vorschrift, für das Ausfüllen dieser Rolle denjenigen Personenkreis heranzuziehen, der in eminenter Weise prädestiniert war, den Fall und die Person sachkundig – wenngleich nicht objektiv – zu schildern. Auf der Gegenseite erlaubte es eine feste Größe der römischen Gesellschaftsstruktur, das Gleichgewicht zu wahren. Die institutionalisierte und ritualisierte Feindschaft, die eine genuine Überwachungs- und Kontrollfunktion wahrzunehmen hatte, führte dazu, dass der Ankläger ebenso sachkundig (und gleichermaßen subjektiv) sämtliche Argumente, die gegen den Angeklagten ins Feld geführt werden konnten, zur Sprache brachte. Allein die paradox erscheinende normative Verankerung dieser extremen Form der Parteilichkeit vermochte es, das nötige Instrumentarium bereitzustellen, das die (im Idealfall) mit religio und sapientia ausgestatteten Richter zu dem ebenfalls von ihnen erwarteten wahrheitskonformen Urteil gelangen ließ. So blieb der Sinn der römischen Gerichtsverhandlung nur dann gewahrt, wenn den iudices die ausführlichsten Informationen zur Verfügung standen, die einzig von ausgewählten gesellschaftlichen Positionen in einem chancengleichen Wettbewerb plausibel vorgetragen wurden – ein Prinzip, dessen Vorrangstellung sich nicht zuletzt durch die Vielzahl an Maßnahmen zur Eindämmung der inimicitiae bei gleichzeitiger Verabsolutierung der akkusatorischen Feindschaftspflicht manifestiert. Augenscheinlich wird diese Komplementarität angesichts der Altersdifferenz, die eine unentrinnbare Folge der den sozialen Positionen inhärenten „Statusdissonanz“ ist. Der scheinbar naheliegende Schluss, dass damit eine doppelte Abwertung der Anklägerrolle verbunden sei, wird durch einen Blick auf die rhetorisch relevanten Eigenschaften als irreführend entlarvt. Die Rolle des jugendlichen accusator ist mit Attributen gefüllt worden, die von der gravitas des Patrons nicht reproduziert werden konnten und die ihm durch die Zugeständnisse an eine vehemente Art des Vortrages einen viel größeren Spielraum gewährten als seinem 233
Gegenpart. Die Rollenkonsistenz wurde konsequentermaßen auf die emotionale Ebene übertragen, wodurch der gemäßigte und von Selbstbeherrschung geprägte Stil des staatsmännischen Patrons auf eine forsche und zuweilen übereifrige Vorgehensweise des adulescens traf. In dieser Hinsicht fand dementsprechend sogar eine Aufwertung des Anklägers statt, welche die nachteiligen Statusunterschiede zu kompensieren suchte. Zwei Parallelen zu der im ersten Kapitel thematisierten Rollenübernahme werden evident. Zum einen ist auch hier die Gleichheit durch einen strikten normativen Gegensatz und durch das Gleichgewicht der Vor- und Nachteile hergestellt worden, zum anderen findet der Wunsch nach größtmöglicher Ausführlichkeit der Argumente sein Pendant in der Ausschöpfung der ganzen (und ebenso antinomisch gestalteten) Bandbreite der sachlichen sowie emotionalen Vortragsstile. Diese Prinzipien werden auch von der graduellen Akzeptanz des ingenium bei gleichzeitiger Ablehnung der rhetorischen Kunstfertigkeit bestätigt. Hätte Letztere die persönliche Natur der Anwaltstätigkeit, die für die Plausibilität der Ausführungen essenziell war, außer Kraft gesetzt, war es nur einem begabten Redner möglich, die für die Urteilsfindung unerlässliche Gründlichkeit und Deutlichkeit des Vortrages zu gewährleisten. Dass sowohl die anfängliche Ambivalenz als auch die spätere normative Zementierung der Redegabe auf beide Rollen bezogen wurde, belegt ferner die Bemühungen, das Fundament der Egalität aufrechtzuerhalten. Die größte Gefahr für dieses Fundament kam vonseiten eines Attributs, das der gesellschaftlichen Position des Verteidigers immanent war, und dessen Gewicht zu der nachvollziehbaren Vermutung geführt hat, dass die spätrepublikanischen Gerichtsurteile nur bedingt auf Faktoren aufgebaut hätten, die einem allgemeinen Gerechtigkeitsempfinden entsprechen. Die hier angesprochene soziale und politische auctoritas der Person – die von derjenigen zu trennen ist, die einem norm- und rollenkonformen Verhalten sowie glaubwürdigen Argumenten entstammt – unterlag jedoch strikten normativen Vorschriften. Die Pflicht des Patrons, das Attribut nicht zu thematisieren, ja sogar sich von diesem loszusagen, wenn der Eindruck zu entstehen drohte, dass er allzu sehr darauf vertraute, mag wie ein Verschweigen des Selbstverständlichen ohne konkrete Auswirkungen erscheinen. Der Ausgleichsmechanismus, der für eine anwendungsorientierte Wiederherstellung der Kräfteverhältnisse zu sorgen hatte – und zugleich die essenzielle Bedeutung der Wah234
rung dieser Verhältnisse reflektiert –, wurde jedoch erneut einem kultureigenen Dualismus entnommen. Wie von Martin JEHNE gezeigt, hatte das Schlagwort der libertas als Antonym zu einer ostentativ in Anspruch genommenen auctoritas in den Volksversammlungen reelle und weitreichende Folgen. Dieser Gegensatz, der tief im gesellschaftlichen Wissensvorrat Roms verankert war, ist auch in den Gerichtsreden vielerorts präsent. Libertas wird zum Garanten dafür, dass die persönliche auctoritas des Patrons nicht über den Freispruch entscheidet, darüber hinaus erlegt das Konzept jeglicher Form der unerlaubten Machtausübung Schranken auf. Die Symbolkraft wie auch die praktische Signifikanz des Instruments kann nicht hoch genug eingeschätzt werden.506 Mit Blick auf das Gesamtbild der forensischen Rollenerwartungen ist es möglich, den Zusammenhang noch weiter zu präzisieren. Ein junger Ankläger, dem es normativ erlaubt ist, zuweilen einen schärferen (d. h. freimütigeren) Ton anzuschlagen, kann, wann immer es nötig wird, das Sinnkonzept der libertas für sich reklamieren und sich dadurch auf die konsenswahrende Funktion des Volkes als Sanktionsinstanz berufen. Erachtet die Gesellschaft seinen Appell als gerechtfertigt, übt sie ihrerseits den nötigen normativen Druck auf die Richter aus, der diese zur Nichtbeachtung äußerer Einflüsse ermahnt. Das Rollenbild der iudices ist wesentlich von ihrer Interaktion mit Rednern und Volk geprägt. Die Attribute, die ihnen zugesprochen werden, beziehen sich explizit auf objektive Faktoren der Entscheidungsfindung und bekräftigen implizit die Normen, die für die Prozessparteien eruiert wurden. Dies trifft sowohl auf die durch die richterliche severitas gewährleistete Befolgung der forensischen Verhaltensregeln als auch auf das gewissenhafte Ermitteln der für den Fall relevanten Argumente zu. Vor allem aber spiegelt sich der Rollenantagonismus der Redner in dem unverzichtbaren Anspruch an die iudices wider, mithilfe fundamentaler geistiger Eigenschaften wie sapientia und prudentia aus der Fülle widerstreitender Erwägungen die wahrscheinlichste Version erkennen zu können. Darüber hinaus wird eine besondere Verhaltensnorm zum Sinnbild für das zweite Leitprinzip der Gerichtsverhandlung. Die Prävalenz des Gemeinwohls, die auch im Hinblick auf die anwaltliche Rollenübernahme zum obersten Kriterium erhoben wird, verbietet es den Rednern, 506
Vgl. Jehne 2000a, S. 224-226.
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selbst frühere und zuweilen missliebige Gerichtsurteile in Zweifel zu ziehen. Die verpflichtenden Performanzen des Vertrauens werden zur demonstrativen Akzeptanz einer von der res publica selbst gebilligten Sichtweise und erfüllen eine unabdingbare konsenswahrende Funktion. Die Entscheidung darüber, ob ein bereits vorhandener Dissens erst durch einen ungerechten Richterspruch herbeigeführt wurde und demnach auch die rhetorische Infragestellung des Urteils legitimiert, durfte allein die Gemeinschaft des römischen Volkes als primäre Bezugsgruppe und Sanktionsinstanz der iudices fällen. Die Egalität der Attribute, die zumeist durch eine Komplementarität der Rollenbilder erreicht wurde, sowie die deklarative Akzeptanz der richterlichen Autorität – auf die im Gegenzug mit einem pflichtbewussten, gesellschaftsstabilisierenden Urteil geantwortet werden sollte – bilden die zwei sinnstiftenden Prinzipien der spätrepublikanischen quaestio. Damit sprechen sie aber zugleich ein Konzept an, das beide Aspekte in bemerkenswerter Manier miteinander verbindet und auch von den Quellen zur Grundlage der Rechtsprechung erklärt wird: aequitas als „Grundsatz des Gleichgewichts, des Ausgleichs von Einzelinteressen unter einer übergeordneten Auffassung vom Gemeinwohl“.507 Angesichts der außergewöhnlichen Übereinstimmung zwischen den theoretisch postulierten Merkmalen der aequitas und den hier ermittelten wie auch bisweilen unbewusst befolgten gesellschaftlichen Mechanismen der Gerichtsverhandlung erscheint das Misstrauen, mit dem diesbezüglichen Quellenaussagen oft begegnet wurde, als unbegründet. In seiner primären Bedeutung wird der Begriff auch von den antiken Schriften im juristischen Umfeld verortet und bildet das Fundament der im Prozess angestrebten Gerechtigkeit.508 Er dient der utilitas commu-
507 508
Jossa 1964, S. 277: „[…] un principio di equilibrio, di contemperamento degli interessi singoli in una visione superiore di bene commune“. Vgl. Schanbacher 2000, S. 370; Jossa 1964, S. 277. Als fons aequitatis werden die Gesetze in Cic. Cluent. 146 bezeichnet. Folgerichtig stellt aequitas sowohl Grundlage als auch Ziel der Gerichtsrede selbst dar; vgl. Cic. part. 98; Cic. top. 91. In Cic. part. 98 wird die divinatio zudem als Entscheidung über das in die Kategorie der aequitas fallende „Recht“, als Ankläger aufzutreten, bezeichnet. Konsequentermaßen gehöre laut Cicero das Recht auf Rache ebenfalls zur aequitas (Cic. top. 90).
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nis509 und benennt in erster Linie die richterliche Pflicht zur Unparteilichkeit,510 die vornehmlich darin besteht, sich denjenigen sachfremden Einflüssen zu widersetzen, die ein Ungleichgewicht herbeiführen könnten.511 Der Gedanke des Gleichgewichts stellt somit das zweite elementare Wesensmerkmal einer als „proportional fairness“512 verstandenen aequitas dar513 und verbindet beide Grundzüge zu einer untrennbaren Einheit – Gerechtigkeit ohne Gleichheit war der römischen Vorstellung von aequitas fremd.514 So hätte das deviante Vorgehen des Naevius zu einem „ungleichen Kampf“ (iniqua certatio) geführt,515 ebenso seien die (unerlaubten) Amtsbefugnisse aufseiten der Ankläger – wie von Cicero am Beispiel des Prozesses gegen Faustus Sulla erläutert – Ausdruck einer „ungleichen Lage“ (iniqua condicio).516 Das normative System, das gemäß den kulturellen Deutungsmustern der späten Republik und mithilfe der gegensätzlichen Rollenbilder von patronus/amicus und nominis delator/inimicus eingeführt wurde, offenbart damit die praktische Funktionsweise der aequitas und belegt zugleich ihre Stellung als das der quaestio zugrunde liegende Sinnkonzept. Für die Konzeptualisierung der Gerichtshöfe kann eine von Aulus Gellius erzählte Geschichte als bezeichnend gelten. Unsicher, ob er einem Ankläger Recht geben solle, der keinerlei Beweise vorlegen, aber einen tadellosen Charakter vorweisen konnte, wandte sich Gellius an 509 510
511
512 513 514
515 516
Vgl. Jossa 1964, S. 277-278. Hellegouarc’h 1963, S. 150. Als Attribut der iudices wird der Begriff vorrangig mit der Erkenntnis der Wahrheit in Verbindung gebracht; vgl. Cic. Quinct. 4; Cic. Cluent. 156. In der Rede für Cluentius geraten iustitia, veritas und aequitas des Öfteren in Widerstreit mit der invidia, die dem Angeklagten entgegenschlägt; vgl. Cluent. 2, 6, 202; zu diesem Gegensatz s. auch Hellegouarc’h 1963, S. 151. Harries 2004, S. 152. Vgl. Jossa 1964, S. 277; Enos 1988, S. 15. Vgl. Cic. part. 130: Aequitatis autem vis est duplex: cuius altera derecta et veri et iusti et, ut dicitur, aequi et boni ratione defenditur; altera ad vicissitudinem referendae gratiae pertinet; Cic. off. 1,64: Difficile autem est, cum praestare omnibus concupieris, servare aequitatem, quae est iustitiae maxime propria. Deutlich als Rechtsprinzip wird dieser Gedanke in Cic. top. 23 formuliert: Valeat aequitas quae paribus in causis paria iura desiderat. Cic. Quinct. 73. Cic. Cluent. 94.
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den Philosophen Favorinus um Rat. Dieser ließ Cato den Älteren zu Wort kommen und offenbarte dabei eine Hierarchie der richterlichen Pflichten. Sei die Ermittlung der Wahrheit anhand klarer Beweise nicht möglich, dann solle man sich für den „besseren Mann“ entscheiden. Könne man dennoch keinen Unterschied feststellen, dann müsse man den Angeklagten freisprechen.517 Ausschlaggebend ist dabei das oberste Kriterium. Erst wenn die „absolute“ Wahrheit nicht ermittelt werden kann, wird das ethos des Angeklagten wichtig. Die häufigen Charakterdarstellungen in den römischen Gerichtsreden stellen keinen Widerspruch zur Wahrheitsfindung dar, sondern sie sind das einzige (und beste) Mittel, um in einem Rechtssystem, das nur selten unumstößliche Wahrheiten ans Licht bringen kann – dafür aber von einer weitgehenden Unveränderlichkeit des Charakters ausgeht –,518 eine für die Wahrnehmungsmuster der Zeitgenossen „objektive“ Entscheidung zu fällen.519 Damit die Richter zu einem solchen Urteil gelangen konnten, war die 517 518
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Gell. 14,2,21. Zur Unveränderlichkeit des Charakters im römischen Verständnis vgl. auch RIGGSBY, Andrew M., The Rhetoric of Character in the Roman Courts, in: Powell, Jonathan / Paterson, Jeremy (Hrsgg.), Cicero the Advocate, Oxford u. a. 2004, S. 165-185; Alexander 2010, S. 104; Gildenhard 2011, S. 63. Vgl. Cic. Sull. 69: Omnibus in rebus, iudices, quae graviores maioresque sunt, quid quisque voluerit, cogitarit, admiserit, non ex crimine, sed ex moribus eius qui arguitur est ponderandum. Neque enim potest quisquam nostrum subito fingi neque cuiusquam repente vita mutari aut natura converti; s. auch Cic. Sull. 79. Ähnlich hatte Cicero schon Erucius belehrt, dass im Falle des Vatermordes nur das glaubwürdige Zeichnen eines unmenschlichen Charakters des Angeklagten die Richter überzeugen könne (S. Rosc. 38-39, 53, 62). Ebenso konnte man den Zeugen durch eine Infragestellung ihres Charakters die Glaubwürdigkeit nehmen (Cic. part. 49; Rhet. Alex. 1431b33-36). Dies geschah unter anderem dadurch, dass man ihnen eine Feindschaft zum Angeklagten attestierte (vgl. Cic. Font. 23). Somit kann das Bild der Redner, deren erwünschte Subjektivität auf eine objektive Haltung der Richter trifft, um die ebenfalls zu Sachlichkeit angehaltenen Zeugen erweitert werden. Aussagekräftig ist diesbezüglich Cic. Flacc. 21: Nam antea, cum dixerat accusator acriter et vehementer, cumque defensor suppliciter demisseque responderat, tertius ille erat exspectatus locus testium, qui aut sine ullo studio dicebant aut cum dissimulatione aliqua cupiditatis; vgl. auch Cic. Flacc. 12.
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Wahrscheinlichkeit der Argumente, die zudem von den im Idealfall sachkundigen amici und inimici vorgetragen wurden, ein der Wahrheit fast wesensgleicher Indizienbeweis.520 Darüber hinaus beinhalten die in der Forschung vielfach zu wörtlich genommenen Quellenbelege, die ein prinzipielles Misstrauen gegenüber der Position des Anklägers vermuten lassen,521 keineswegs auch eine unterlegene Stellung im forensischen Wettbewerb. Vielmehr gehen sie auf die Exklusivität seiner sozialen Rolle zurück, die lediglich einen kleinen, durch vorangegangene rituelle Handlungen öffentlich bekannten Kreis dafür legitimierte. Die Anklage eines Feindes stellte immer auch eine Herausforderung für den Konsens innerhalb der res publica dar, so dass verständlicherweise auf die dahinter liegende Motivation genau geachtet wurde. Wurden die aufgestellten Kriterien jedoch erfüllt, so konnte der accusator, wie Ciceros Vorsicht in der Caeliana belegt, ebenso die Sympathie des Publikums für sich beanspruchen und die gleichen Erfolgsaussichten genießen. Einen Hinweis auf die egalitäre Ausrichtung der römischen Gerichtsverhandlung mag auch einer Anekdote entnommen werden, die Quintilian wiedergibt: Zu der Gegenseite hinüberzugehen ist nicht respektvoll (verecundum) genug; denn auch Cassius Severus hat mit feinem Witz gegen jemanden, der es so machte, Demarkationslinien gefordert.522
Das symbolische Übertreten der forensischen Äquität wird zum Zeichen mangelnder verecundia. Somit entwickelt sich ein Begriff, der zutiefst im emotionalen Haushalt der römischen Gesellschaft verankert ist, zum Wächter über die Prinzipien der Gerichtsverhandlung.
520 521
522
Vgl. Quint. inst. 12,1,45; s. auch Quint. inst. 4,2,34. Vgl. Cic. off. 2,49-50; Quint. inst. 12,7,1. Die Aussagen werden von beiden Autoren in den gleichen Abschnitten relativiert; zum schlechten Ruf der Ankläger vgl. auch Cic. Vatin. 5; s. ferner Brunt 1988b, S. 372. Quint. inst. 11,3,133: Transire in diversa subsellia parum verecundum est; nam et Cassius Severus urbane adversus hoc facientem lineas poposcit.
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Zweiter Teil: Emotionale Performanzen
V
Intermezzo: Gefühle in der Geschichte
1
Emotionen in den Rhetoriktheorien des Aristoteles und Ciceros: eine kulturgeschichtliche Standortbestimmung
Die antike Welt ist eine Welt der Gefühle. Ob deskriptiv, wertend oder suggestiv, kaum ein Autor verzichtet darauf, an die Emotionen des zeitgenössischen Lesers zu appellieren oder die affektive Motivation der Akteure in die Analyse ihres Willensbildungsprozesses einfließen zu lassen.1 Derartige Erklärungsmuster offenbaren die hohe kulturelle Ak1
Die weit gefasste Begriffsbestimmung der Affekte (πάθη) in Aristot. rhet. 1378a20-23 lässt den Schluss zu, dass jede Form von Empfindung dazugehören könnte. Aus diesem Grund schränkt Cicero seine eigene Definition auch insofern ein, als er den griechischen Begriff ausdrücklich mit perturbatio, im Gegensatz zu morbus, wiedergeben möchte (Tusc. 4,10). Leider kann hier nicht ausführlich auf die Theorien der antiken Philosophie hinsichtlich des Wesens der Gefühle eingegangen werden (einen guten Überblick bieten KRAJCZYNSKI, Jakub / RAPP, Christof, Emotionen in der antiken Philosophie. Definitionen und Kataloge, in: Harbsmeier, Martin / Möckel, Sebastian (Hrsgg.), Pathos, Affekt, Emotion. Transformationen der Antike, Frankfurt/Main 2009, S. 47-78). Vor allem in der Platonischen Akademie hat man den Versuch unternommen, diesem Charakter habhaft zu werden, ein Unterfangen, das seinen Niederschlag in diversen Werken Platons findet (z. B. im Phaidon oder Philebos); vgl. Fortenbaugh 2002, S. 912; ERLER, Michael, Platon. Affekte und Wege zur Eudaimonie, in: Landweer, Hilge / Renz, Ursula (Hrsgg.), Handbuch Klassische Emotionstheorien, Berlin-Boston 2012, S. 19-43. Freilich bleibt diese Behandlung der Vorstellung eines „Leib-Seele-Dualismus“ verpflichtet (vgl. Plat. Phil. 47e23), den auch Cicero unter anderem in off. 1,101 vertritt, eine gewisse Motivationalität der Affekte jedoch nicht zwangsläufig exkludiert. So sind schon bei Aristoteles Gedankengänge erkennbar, die die Gefühle nicht ausschließ-
zeptanz, die – anders als heute – den Gefühlen als Handlungsdeterminanten entgegengebracht wurde.2 Was unter anderem auf das Theater3 oder auf historiographische Werke zutrifft,4 muss aber umso mehr in
2
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4
lich der Sphäre des Irrationalen zurechnen; s. dazu unten, S. 254-255; für den Einfluss von Platons Phaidros auf Aristoteles’ Emotionstheorie vgl. Solmsen 1938, S. 394, 402-404. Die antike Philosophie weist – vereinfacht formuliert – eine Entwicklung auf, die von Gefühlen als äußere Wirkungsmächte bei den Vorsokratikern über die Verinnerlichung und das Zugeständnis von Motivationalität bei Platon und (verstärkt) bei Aristoteles bis hin zu einer fast kognitivistischen Behandlung der Affektkontrolle durch die Stoiker führt (vgl. Konstan 2001, S. 9; Plamper 2012, S. 25-26). Zur antiken Konzeptualisierung der Gefühle und ihrer Rezeption vgl. auch SCHMITZ, Hermann, Die Verwaltung der Gefühle in Theorie, Macht und Phantasie, in: Benthien, Claudia / Fleig, Anne / Kasten, Ingrid (Hrsgg.), Emotionalität. Zur Geschichte der Gefühle, Köln u. a. 2000, S. 42-59. Carlin BARTON macht gleich zu Beginn ihrer Untersuchung des römischen Ehrbegriffs auf diesen kulturellen Unterschied aufmerksam: „What we, with our ideal of freedom from the befuddling fumes of passion, might ascribe to politics or economics, class or gender, the Romans would attribute to fear, desire, shame, arrogance, ambition, envy, greed, love, or lust“ (Barton 2001, S. 2). Der locus classicus für den Furcht-Mitleid-Dualismus als Markenzeichen der antiken Tragödie ist Aristot. poet. 1452a1-4: Ἐπεὶ δὲ οὐ µόνον τελείας ἐστὶ πράξεως ἡ µίµησις ἀλλὰ καὶ φοβερῶν καὶ ἐλεεινῶν, ταῦτα δὲ γίνεται καὶ µάλιστα (καὶ µᾶλλον) ὅταν γένηται παρὰ τὴν δόξαν δι᾽ ἄλληλα; s. auch die detaillierte Analyse in poet. 1452b30-1454a15. Für die Emotionen der antiken Historiographie vgl. MACMULLAN, Ramsey, Feelings in History, Claremont 2003 (bes. S. 1-50). Methodisch knüpft das Buch jedoch weniger an die interdisziplinären Erkenntnisse an und sieht sich eher als Antwort auf die „rationalen“ Erklärungsmuster von Ronald SYME; für die Auseinandersetzung mit dessen Römischer Revolution vgl. insbesondere ebd., S. 47-50. Einer anderen Vorgehensweise begegnen wir bereits bei SCHWARTZ, Eduard, Die Berichte über die catilinarische Verschwörung, Hermes 32, 1897, S. 554-608, der eine Verbindungslinie zur Tragödie hergestellt und die Existenz einer Strömung „tragischer Geschichtsschreibung“ postuliert hat. Dagegen vor allem WALBANK, Frank, History and Tragedy, Historia 9, 1960, S. 216-234, der die These der Beeinflussung beider Gattungen durch das frühgriechische Epos vertrat. Zuletzt hat MARINCOLA, John, Beyond Pity and Fear. The Emotions of History,
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einer direkten Interaktion, die vom Ziel der Überzeugung angetrieben wird, von Belang sein. Das Spezifikum der Kommunikationssituation einer Gerichtsrede führt dazu, dass die Emotionalität jene eigentümliche Ausprägung erfährt, die beinahe die gesamte Bandbreite menschlicher Affekte ausschöpft und ihren Niederschlag nicht nur im rhetorischen pathos, sondern gleichermaßen in den moralischen Argumenten des ethos findet. Die theoretischen Begrifflichkeiten sollen vorerst auch diese Einleitung begleiten, aus methodischen Erwägungen scheint es jedoch angebracht, hiernach auf diesbezügliche Konventionen zu verzichten. Durch eine Neukategorisierung, die sich an im Anschluss an dieses Kapitel erläuterten modernen wissenschaftlichen Schemata orientiert, soll vielmehr versucht werden, das Thema aus einer Perspektive zu beleuchten, die von antiken theoretischen Zwängen weitgehend abstrahiert. Um die verschiedenen Facetten der Emotionen sowie deren Lokalisation in Rhetorik und Gesellschaft zu bestimmen, muss jedoch einstweilen der Blick auf die Theorie gerichtet werden. Das pathos bildet in der Rhetorik des Aristoteles – neben logos und ethos5 – eine der drei Säulen, auf denen der Erfolg eines antiken Redners ruht. Das Werk ist indes rigoros bestrebt, eine Trennlinie zwischen die einzelnen πίστεις zu ziehen. Dies betrifft nicht nur die thematischen Gesichtspunkte einer jeden Taktik, sondern schließt explizit die unterschiedlichen Wurzeln der persuasiven Faktoren mit ein. Während sich logos durch die plausible Darstellung der Fakten manifestiert und ethos auf die durch den
5
AncSoc 33, 2003, S. 285-315 darauf hingewiesen, dass die Emotionalität der antiken Historiographie keineswegs auf die „tragischen Affekte“ der Furcht und des Mitleids beschränkt werden könne, sondern vielmehr durch eine umfassende Darstellung der inneren Motivation der Akteure ein glaubwürdiges und normengeleitetes Bild vermitteln möchte. In Anlehnung an Wisse 1989, S. 5 soll hier die latinisierte Schreibweise von ἦθος und πάθος bevorzugt werden. Der Autor weist an oben genannter Stelle auf die Polysemie der Begriffe und auf die daraus entstehenden Ambivalenzen hin. Für die Redekunst relevant ist die Unterscheidung zwischen dem nach innen gerichteten Wesen von ἦθος als „Charakter“ und πάθος als „Gefühl“ einerseits und den identischen Bezeichnungen der rhetorischen πίστεις andererseits; vgl. ebd., S. 60-65 für eine gesonderte Betrachtung des ἦθοςBegriffes.
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Charakter des Redners gewährleistete Glaubwürdigkeit seiner Ausführungen zurückgeht, wird das pathos allein der Gemütslage des Richters, die ihn zu einer günstigen Entscheidung verleiten soll, zugeschrieben. Demgemäß ist Ersteres in der Aussage selbst, Zweiteres in der Person des Redners verankert. Den emotionalen Aspekt verortet Aristoteles dagegen ausschließlich im Zuhörer, er stellt die affektive Resonanz auf einen bestimmten Typus von Argumenten dar.6 Gleichwohl ist der aristotelische Redner kein nüchterner Narrator der Ereignisse. Speziell in den attischen Prozessen, in denen man zumeist in eigener Sache sprach,7 konnte sich der Vortrag nicht von dem leidenschaftlichen Standpunkt des privaten Schicksalsschlages lösen; die Emotionen der Hörer zu wecken heißt zugleich gesellschaftlich diktierte, rollenspezifische Emotionen vorzuleben. Diesem Umstand hat, wenngleich nur schüchtern, auch die griechische Rhetoriktheorie Rechnung getragen.8 6
7
8
Aristot. rhet. 1356a1-4; s. dazu auch Fortenbaugh 1988, S. 261-262. Diese Differenzierung behält Aristoteles ausnahmslos bei, obschon er in vielerlei Hinsicht wegweisende Gedanken bezüglich der affektiven Persuasion artikuliert – etwa indem er die Verknüpfung des pathos mit einem bestimmten Teilbereich der Rede lockert; vgl. Solmsen 1938, S. 393. Folgerichtig bezieht sich die detailreiche Diskussion der rhetorisch relevanten Gefühle in Aristot. rhet. 2,2-11 ebenfalls nur auf diejenigen Umstände, die emotionale Reaktionen herbeiführen können. Gill 1984, S. 151-152 sieht eine ähnliche Verfahrensweise in Aristoteles’ Poetica. Auch hier konzentriert sich der Autor lediglich auf solche Affekte, die beim Zuschauer hervorgerufen werden, während er die Gefühle der personae unterschlägt. In der Bewertung dieser Analogie zeigt GILL allerdings Verständnis für ein derartiges Vorgehen vor Gericht: „It will not normally be useful to him [scil.: the speaker] to present himself as having acted from pathos instead of from his usual good ethos“ (ebd., S. 153). Dies verkennt jedoch die (selbst von Aristoteles eingestandene) Tatsache, dass der Redner kontextabhängig durchaus zu emotionalen Kundgebungen angehalten war. Ausnahmen von dieser Regel sind bei Kennedy 1968, S. 419-420 und 422426 vermerkt. Allgemein zu den rechtlichen und sozialen Verhältnissen der klassischen Polis: MACDOWELL, Douglas M., The Law in Classical Athens, London 1978; vgl. ferner COHEN, David, Law, Violence, and Community in Classical Athens, Cambridge 1995. Vgl. Aristot. rhet. 1408a16-24 und 1408b10-13; s. dazu auch Wisse 1989, S. 72 und Gill 1984, S. 155, beide mit der Einschränkung, dass die emotionalen
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War Aristoteles noch auf eine gewisse Exklusion bedacht, erscheint in Ciceros Rhetorica der integrative Schritt in vielerlei Hinsicht bereits als vollzogen. Die Trias wird zwar gedanklich übernommen,9 allerdings richtet sich das Augenmerk nun verstärkt auf die Interdependenz der Vorgehensweisen. Auf den ersten Blick scheint die Zielsetzung, die die römische Theorie formuliert, noch ganz an das griechische Vorbild angelehnt zu sein. Der Redner solle die Hörer informieren, auf ihre Gefühle einwirken und ihr Wohlwollen gewinnen.10 Somit nehmen die ersten beiden Vorschriften einen unmissverständlichen Bezug auf die Konzepte des logos und pathos, und legen die Vermutung nahe, dass die dritte Vorgabe, die primär durch das Gebot des conciliare wiedergegeben wird, mit dem griechischen ethos identisch sein müsste.11 Gerade die letztgenannte Absicht des Redners ist es jedoch, die einen wesentlichen qualitativen Unterschied zur griechischen Konzeption offenbart. Nicht die kühle Charakterdarstellung, die Aristoteles postuliert, ist für die römische Version des ethos bezeichnend, vielmehr wohnt sowohl dem Modus Procedendi als auch der Resonanz auf die entsprechenden Argumente eine zutiefst emotionale Komponente inne. Im Gegensatz
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Performanzen bei Aristoteles nur eine Rohfassung derjenigen Taktik darstellen, die mit Cicero zu ihrer vollen Entfaltung kommt. Fortenbaugh 1988, S. 272 weist außerdem darauf hin, dass die gezeigten Gefühle nicht zwangsläufig mit den beabsichtigten Reaktionen deckungsgleich sein müssen. So kann etwa die tiefe Trauer des Redners Hass auf die Gegenseite nach sich ziehen; weiterführend zu den Emotionen bei Aristoteles vgl. KREWET, Michael, Die Theorie der Gefühle bei Aristoteles, Heidelberg 2011 und Fortenbaugh 2002. Fantham 1973, S. 262, Anm. 1 und Wisse 1989, S. 223 zeigen, dass dies im De oratore ohne Zuhilfenahme der Terminologie geschieht. Dass Cicero dabei die griechische Theorie im Sinn hat, belegt jedoch Cic. or. 128: Duae res sunt enim, quae bene tractatae ab oratore admirabilem eloquentiam faciant. Quorum alterum est, quod Graeci ἠϑικὸν vocant […]; alterum, quod idem παϑητικὸν nominant. Eine ausführliche Diskussion der griechischen Termini und ihrer lateinischen Entsprechung ist bei Quint. inst. 6,2,8-10 zu finden. S. oben, S. 14 mit Anm. 10. Zumal diese gleichermaßen im exordium ihren Sitz hat, obwohl sie nicht darauf reduziert wird; vgl. Cic. inv. 1,20; Cic. part. 15, 28; Rhet. Her. 1,6; Quint. inst. 4,1,5.
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zur Rhetoriktheorie der klassischen Polis wird die ethische Überzeugungstaktik in die Nähe der affektiven gerückt, einerseits indem für beide die Intention formuliert wird, in der jeweils spezifischen Art und Weise auf die Gefühle der Hörer einzuwirken, andererseits dadurch, dass jeder Taktik zugleich charakteristische emotionale Performanzen zugewiesen werden. So steht dem sanften, zuweilen mitleiderregenden Stil des ethos die Verve des pathetischen Vortrages gegenüber,12 obwohl mitunter der Eindruck einer vermeintlichen Konvergenz zweier im griechischen Bereich dezidiert voneinander getrennter Verfahrensweisen entsteht.13 12
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Vgl. Schweinfurth-Walla 1986, S. 176. Die Interdependenz der Taktiken wird auch dadurch untermauert, dass Cicero des Öfteren die Effekte des pathos durch eine gewisse Zurückhaltung mildern will, umgekehrt aber gelegentlich dem ethos durch einen Anflug pathetischer Vehemenz mehr Kraft verleihen möchte (de or. 2,212); vgl. auch Wisse 1989, S. 239. Exordium und peroratio werden beide zu Orten, an denen die Emotionen der Hörer geweckt werden können (vgl. Cic. part. 4, 27; Quint. inst. 4,1,28), ja selbst die narratio bleibt davon nicht unberührt (Cic. part. 32; Quint. inst. 4,2,111112). Außerdem wird diese Angleichung insofern vorangetrieben, als das ethos nunmehr auf ein Terrain moralisch fragwürdiger Methoden geführt wird, wenn Cicero die Vorgabe erteilt, man solle nur logos offen zur Schau stellen, die anderen beiden πίστεις jedoch subtil einfließen lassen (de or. 2,310). In ähnlicher Manier behauptet auch Quintilian, dass die Aufgaben des Proömiums und die der peroratio im Grunde gleich seien, im letzteren Fall jedoch in ihrer vehementen Form erschienen (inst. 6,1,9); vgl. auch Cic. or. 128. Diese Verflechtung ging zu Zeiten Quintilians anscheinend so weit, dass viele Theoretiker nur noch zwischen sachlicher Argumentation und Gefühlserregung unterschieden haben (inst. 3,5,2). Allgemein zu Quintilians Emotionstheorie: LEIGH, Matthew, Quintilian on the Emotions (Institutio oratoria 6 Preface and 1-2), JRS 94, 2004, S. 122-140; BONS, Jeroen / LANE, Robert Taylor, Institutio oratoria VI.2: On Emotion, in: TellegenCouperus, Olga (Hrsg.), Quintilian and the Law. The Art of Persuasion in Law and Politics, Leuven 2003, S. 129-144. Dies wird auch von den Schwierigkeiten widergespiegelt, die sich in der Forschung bezüglich des Erfassens der Quintessenz dieser Taktiken offenbaren. So hat sich Elaine FANTHAM, ausgehend von der starken emotionalen Konnotation des conciliare, dafür ausgesprochen, für die ciceronische Rhetoriktheorie eine graduelle Steigerung des ethos anzunehmen, deren Endpunkt eine fast synonymische Verwendung von conciliare und movere bil-
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Die Relevanz dieses Perspektivenwechsels für die „Standortbestimmung“ der Gefühle in der römischen Rhetorik lässt sich am besten an der unterschiedlichen Konzeptualisierung des εὔνοια/benevolentiaBegriffs ablesen. Das Wohlwollen zählt für Aristoteles, zusammen mit der Freundschaft, zu den Gegenständen, deren Behandlung er sich für das pathos vorbehält.14 Sein Redner solle im Proömium zuallererst Glaubwürdigkeit unter Beweis stellen und dabei höchstens den eigenen guten Willen den Richtern gegenüber demonstrieren. Hingegen bekundet der ciceronische orator im exordium nicht nur die Normtreue seiner Prozesspartei, sondern er induziert den Hörern bereits im Zuge der Charakterdarstellung bestimmte Emotionen,15 mit dem Ziel, hierdurch jenes Wohlwollen, das eine unerlässliche Voraussetzung für die (juristisch und gesellschaftlich) positive Sanktionierung des Verhaltens bildet, zu
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den würde (vgl. Fantham 1973, S. 266-267, 273-275). Somit sei letzten Endes das ethos zu einer bloßen Unterkategorie des pathos geworden (ebd., S. 267-268). Dagegen zu Recht Wisse 1989, S. 236-240, der darauf hinweist, dass die beiden πίστεις durchgehend unterschiedliche Ziele verfolgten und folglich in der rhetorischen Theorie zu allen Zeiten getrennt behandelt wurden. Wenngleich für die Absichten der Arbeit eher zweitrangig, soll hier weiterhin von der sich auf Quintilian stützenden communis opinio ausgegangen werden, die den emotionalen Aspekt des ethos mit den „milden Gefühlen“ gleichsetzt und von den vehementen Emotionen, die durch das pathos hervorgerufen werden, abgrenzt; vgl. Quint. inst. 6,2,9; 6,2,12. So auch Gill 1984, S. 159 und May 1988, S. 5. Dagegen Wisse 1989, S. 240-241, der darunter nur diejenigen milden Emotionen verstehen möchte, die sich direkt auf den Charakter der Prozesspartei beziehen. Da seine These das Gefühl der Scham in den Mittelpunkt stellt, soll an späterer Stelle darauf eingegangen werden (s. unten, S. 290-292). Aristot. rhet. 1378a19-20. Vgl. Wisse 1989, S. 241; May 1988, S. 9; Fantham 1973, S. 269; Fortenbaugh 1988, S. 261. Ebd., S. 262-263 weist der Autor darauf hin, dass die Charakterdarstellung bei Aristoteles zwar eine emotionale Reaktion hervorrufen kann, in erster Linie jedoch einen (auch emotional) neutralen Zuhörer ansprechen soll. Schweinfurth-Walla 1986, S. 73-79 vertritt die These, dass auch bei Aristoteles ethos und pathos gewisse Überschneidungen aufweisen, der antike Autor dies jedoch nirgends explizit macht. Für Clark 1963, S. 113 bereitet Aristoteles allerdings schon das Terrain für das ciceronische ethos.
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gewinnen.16 Überdies zeigt sich ein weiterer fundamentaler Unterschied in der Neuverortung der Gefühle. Das einstige „Prärogativ“ der Richter, von Emotionen ergriffen zu werden, überträgt Cicero nunmehr gleichermaßen auf den Redner. Die eigenen (milden) Gefühlsbekundungen, etwa als Trauer oder Hoffnung, streben dabei auch insofern eine affektive Identifikation mit den Richtern an, als sie entweder ein Spiegelbild der gewünschten Empfindungen präsentieren oder durch eine Steigerung die Hörer zu vehementen Reaktionen – z. B. Hass auf die Gegenseite – verleiten. Ciceros ethos wird dementsprechend zu einem „ethos of sympathy“17 oder einem „gedämpfte[n] pathos“,18 das trotz der terminologischen Kongruenz den Emotionen eine viel umfangreichere Grundlage konzediert als das griechische Äquivalent. Zweifelsohne müssen diese Vorschriften in das Gesamtbild eines von rituell-performativen Elementen begleiteten exordium integriert werden, das die Sympathie der Richter nicht etwa allein durch eine sachliche Beschreibung charakterlicher Vorzüge erreichen will, sondern dies vielmehr durch eine offensive Außendarstellung des eigenen Seelenlebens anstrebt.19 Bei Cicero wird eine Tatsache angesprochen, die Aristoteles höchstens andeutet: die Präsenz eines reichhaltigen Vorrates an Gefühlen, die keinesfalls auf die Zuhörer beschränkt sind, sondern von allen Rollenträgern in einer quaestio zur Schau gestellt werden müssen, und denen im Gegenzug eine ebenso emotionale Bewertung des moralisch richtigen Verhaltens immanent ist. 16
17 18 19
So in Cic. or. 128, wo das ethos als Zurschaustellung von „Freundlichkeit“ (iucunditas) definiert wird, die das Wohlwollen der Richter nach sich zieht; ähnlich Cic. de or. 2,182; 2,322; Cic. part. 15. Rhet. Her. 1,8 erwähnt ausdrücklich die Darstellung der eigenen Notlage und Hilfsersuchen als geeignete Mittel, um Sympathie zu gewinnen und die Gegenseite dem Hass der Richter auszusetzen. Wisse 1989, S. 234. Andersen 2001, S. 43; vgl. auch Schottlaender 1967, S. 131-132. Sinnbildlich sind hierbei die unterschiedlichen Quellen, aus denen das Wohlwollen der Richter schöpfen kann (aus den beiden Prozessparteien, der Darstellung der Sachlage, aber auch aus den iudices selbst); vgl. Cic. de or. 2,321; Cic. inv. 1,22; Cic. part. 28; Rhet. Her. 1,8; ausführlicher Quint. inst. 4,1,6-26; vgl. dazu auch Loutsch 1994, S. 30-40; Martin 1974, S. 64-70; Lausberg 1973, S. 157-160.
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Evokation und Bekundung der Affekte kennzeichnen also den substantiellen Unterschied in der Konzeptualisierung des römischen ethos. Wenden wir uns der eigentlichen Manifestation des Emotionalen, dem pathos, zu, wird die Diskrepanz zwischen der ciceronischen Theorie und seinem Vorläufer noch evidenter. Bei einer Lektüre der aristotelischen Anweisungen kann man sich dem Eindruck einer weitgehend stiefmütterlichen Behandlung des pathos nicht entziehen. Bereits in der Einleitung zu seiner Rhetorik wird die Akzentuierung dieser Taktik in den zeitgenössischen Schriften getadelt,20 vielmehr seien es einzig logos und ethos, die in einer regelkonformen Verhandlung den Ausschlag geben müssten.21 Dagegen vermitteln die von Cicero aufgestellten Regeln ein gegenteiliges Bild. Unter den drei Pflichten des Redners ist die emotionale Einflussnahme diejenige, auf die er am wenigsten verzichten kann: Belehren ist Verpflichtung, Erfreuen geschieht den Zuhörern zu Ehren, Erregen ist notwendig.22
Für ihn sind gerade die Gefühle der Richter entscheidend und können selbst bei ungünstiger Prozesslage den Sieg noch davontragen.23 Mag 20 21
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Aristot. rhet. 1354a11-18; s. auch rhet. 1356a16-17. Vgl. Aristot. rhet. 1355a6-8 für die Höherwertigkeit des logos und 1356a1013 für die Überlegenheit einer positiven Charakterdarstellung; s. dazu auch Schütrumpf 1994, S. 97. Unerklärlich bleibt dagegen die Annahme einer Gleichwertigkeit der πίστεις bei Wisse 1989, S. 15 und May 1988, S. 2. Cic. opt. gen. 3: Docere debitum est, delectare honorarium, permovere necessarium; vgl. auch Cic. Brut. 89; ähnlich auch Quint. inst. 3,5,2. Ziehen wir Cic. or. 69 zum Vergleich heran, wo der Autor die necessitas mit der Persuasion schlechthin gleichsetzt, wird die elementare Rolle der emotionalen Beeinflussung ersichtlich. Cic. de or. 2,187; s. auch Cic. or. 128; vgl. dazu Schütrumpf 1994, S. 106107. Im Bewusstsein der Macht der Gefühle und seiner Überlegenheit im Anwenden dieser Taktik hat Cicero immer als Letzter das Wort ergriffen, um somit entscheidenden Einfluss auf das Urteil zu nehmen (Cic. Brut. 190; Cic. or. 130). Freilich ist dabei zwar in erster Linie an die starken Gefühlsregungen der peroratio zu denken, man darf nichtsdestotrotz im Zuge der emotionalen Instrumentalisierung die mildere und sich auf die gesamte Rede erstreckende Wirkung des ethos nicht unberücksichtigt lassen. Die emotionale Unberechenbarkeit ist es auch, die laut Cicero die Gerichtsrhetorik von
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dieser Antagonismus noch so sehr einer idealistischen Sichtweise des Aristoteles geschuldet sein,24 er offenbart zugleich ein elementares Problem der Ursächlichkeit. Seine Kritik der affektiven Manipulation geht mit dem Eingeständnis einher, dass ein Verzicht darauf aus prozesstaktischer Sicht nicht zu verantworten wäre. Ähnlich wie später Cicero weist Aristoteles darauf hin, dass die Menschen vorwiegend aus einer emotionalen Stimmungslage heraus entscheiden, so dass der Redner sich dieser „anthropologischen“ Realität stellen müsse.25 So zählt für ihn das pathos zwar nicht zur eigentlichen Redekunst, es spielt aber dennoch eine eminente Rolle für den rhetorischen Erfolg.26 Weit aufschlussreicher sind die Konsequenzen, die Cicero aus dieser Tatsache zieht. Das Gespräch, das er Crassus und Antonius im De oratore über die Notwendigkeit philosophischer Ausbildung führen lässt, erlaubt auch die Sichtweise einer „profanen“ Beschäftigung mit Emotionen. Laut Antonius müsse ein Redner nicht etwa – so wie Crassus es verlangt hatte – mit allen philosophischen Finessen vertraut sein, sondern vielmehr die Gefühle so behandeln, wie er sie aus dem gemeinschaftlichen Leben kennt.27 So wie ein orator die sozialen Normen unbewusst wahrnimmt
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25 26 27
den anderen Gattungen unterscheidet und sie zur anspruchsvollsten Aufgabe macht (vgl. de or. 2,72). Allerdings lassen Aristot. rhet. 1354a21-24 und 1355a1-3 auch auf eine Vorschrift schließen, in attischen Prozessen auf die emotionale Beeinflussung zu verzichten; s. auch Quint. inst. 6,1,7; vgl. Kennedy 1968, S. 426 mit Anm. 9. Schweinfurth-Walla 1986, S. 36 begründet dies weiterhin allein mit den moralischen Skrupeln des Aristoteles. Aristot. rhet. 1356a14-16; 1377b21-1378a1; s. auch rhet. 1354b8-11; vgl. dazu Schweinfurth-Walla 1986, S. 32. Vgl. Wisse 1989, S. 17-18, 20. Vgl. Cic. de or. 1,220: Quis enim umquam orator magnus et gravis, cum iratum adversario iudicem facere vellet, haesitavit ob eam causam, quod nesciret, quid esset iracundia […]?; ähnlich auch Tac. dial. 31,3. Philosophische Bildung hatte Crassus in Cic. de or. 1,59-60 gefordert und dabei die Sichtweise Ciceros wiedergegeben (vgl. Clark 1963, S. 12; Neumeister 1964, S. 23-25), die dieser später auch in Ich-Form kundtut (or. 16; 113-115; 118; 120). Die Verklärung der Vergangenheit durch Messalla in Tacitus’ Dialogus lässt diesen auch vermuten, dass die spätrepublikanischen Redner grundsätzlich in allen Fächern unterrichtet waren (Tac. dial. 30,5). Tatsächlich relativiert aber selbst Cicero diese Vorgabe, wenn er die Kenntnisse auf
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und sich in seiner Rede an diesen orientiert, wird er auch die zu einer Gelegenheit passende Emotion vor allem mittels seines gesellschaftlichen Sachverstandes identifizieren können: Wir haben einen scharfsinnigen und durch natürliche Veranlagung und durch Erfahrung klugen Mann nötig, der mit feinem Gespür erforscht, was seine Mitbürger und die Menschen, die er durch seine Rede von etwas überzeugen will, denken, fühlen, meinen, erwarten.28
Meinungen, Erwartungen und Gefühle gehören zu den inhärenten Attributen der Zuhörer, die jede Bewertung des Gesagten (und Gezeigten) mitprägen. So erklärt sich die Unverzichtbarkeit pathetischer Argumente aus der Logik der gesellschaftlichen Praxis heraus. Oder anders: Nicht erst die rhetorische Theorie hat das pathos in die Gerichtsverhandlung hinein transportiert, sondern der Habitus, emotionale Einschätzungen zur Grundlage von Entscheidungen zu machen, diktierte die Theorie.29 Die Bemerkungen Ciceros führen uns außerdem zu einem letzten Punkt. Um Gefühle gezielt instrumentalisieren zu können, müssen diese für den Redner nicht nur erkennbar, sondern ebenso „rational“ nachvoll-
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dasjenige Maß reduziert, das es einem Redner erlaubt, erfolgreich zu prozessieren (or. 14); vgl. Andersen 2001, S. 197; s. auch Pina Polo 1996, S. 89-90; vgl. allgemein dazu Fortenbaugh 1988, S. 269-270. Cic. de or. 1,223: Acuto homine nobis opus est et natura usuque callido, qui sagaciter pervestiget, quid sui cives iique homines, quibus aliquid dicendo persuadere velit, cogitent, sentiant, opinentur, expectent; ähnlich Cic. de or. 1,17; 1,54; 1,60; für die aus dem Alltag schöpfende Menschenkenntnis als Grundlage der Rhetorik vgl. auch Achard 2006, S. 103. So auch Solmsen 1938, S. 393. Fortenbaugh 2002, S. 114 zweifelt jedoch an, dass die Definitionen einzelner Gefühle in Aristot. rhet. 2,2-11 auch gesellschaftliche Relevanz haben. Dagegen Konstan 2006, S. 34: „But I should like to suggest that, for Aristotle, the manipulation of emotions in forensic and deliberative contexts represents in a concentrated form the way emotions are exploited in social life generally“. Letztere Annahme scheint plausibler, da weder Aristoteles explizit zwischen diesen beiden Formen unterscheidet noch Anlass dazu besteht, forensische Emotionsbekundungen anders zu konzipieren als ihre jeweilige gesellschaftliche Ausprägung; vgl. Gerhards 1988, S. 74-76 für eine soziologische Betrachtung der Gefühle „als Bestandteil der conditio humana“.
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ziehbar sein. Bezüglich der emotionalen Beeinflussung lässt Cicero auch Crassus sagen, dass [n]ur wer die Natur der Menschen und das ganze Wesen der menschlichen Psyche kennt und die Ursachen [eigene Hervorhebung], durch die das Gemüt erregt oder wieder besänftigt wird, ganz und gar durchschaut hat, wird durch die Rede das, was er will, erreichen können.30
Von einer causa in Verbindung zu Affekten zu sprechen scheint gewagt. Tatsächlich reicht dieser Gedanke jedoch mindestens bis Aristoteles zurück. Die Definitionen, die er in seiner Rhetorik den einzelnen Emotionen zur Seite stellt, weisen ausnahmslos ein zentrales motivationales Moment auf. So ist z. B. ὀργή „ein mit Schmerz verbundenes Streben nach einer vermeintlichen Vergeltung für eine vermeintliche Herabsetzung“.31 Für einen Redner wird die Ursachenforschung elementar, weil sie ihm ein Instrument zur Verfügung stellt, das eine Kausalitätskette zwischen dem Evozieren eines Umstandes und der darauffolgenden Emotion herstellt.32 Zugleich ist die Intentionalität eines solchen Gefühlsverständnisses nicht von der Hand zu weisen.33 Ohne eine kogni30
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Cic. de or. 1,53: Quae nisi qui naturas hominum vimque omnem humanitatis causasque eas, quibus mentes aut incitantur aut reflectuntur, penitus perspexerit, dicendo, quod volet, perficere non poterit; vgl. auch Cic. or. 118. Aristot. rhet. 1378a31-32: […] ὄρεξις µετὰ λύπης τιµωρίας φαινοµένης διὰ φαινοµένην ὀλιγωρίαν; ebenso heben die Definitionen Ciceros in Tusc. 4,16-21 die Motivationalität der Gefühle hervor. Die Ansicht der Stoiker wiedergebend, betont Cic. Tusc. 4,14: Sed omnes perturbationes iudicio censent fieri et opinione; vgl. auch Diog. Laert. 7,111-114 zu den stoischen Definitionen, die stets die „rationalen“ Entstehungsgründe der Emotionen in den Blick nehmen. Folgerichtig können Gefühle laut Chrysipp auch „rational“ gemieden werden (Diog. Laert. 7,111). Fortenbaugh 2002, S. 11-13 zeigt, dass Aristoteles die noch unklare Verbindung von Kognition und Emotion bei Platon aufgenommen und sie durch die Erklärbarkeit der Ursachen aus dem Bereich des Irrationalen herausgeholt hat; vgl. ebd., S. 18; s. auch Konstan 2006, S. 33-37. Wenn im Folgenden von Intentionalität gesprochen wird, dann ist damit nicht die „Intentionalität des historischen Subjekts“ (Sarasin 1996, S. 137) gemeint, sondern eine auf den objektiven Sinn ausgerichtete „kulturelle“ Intentionalität.
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tive Bewertung durch die Zuhörer zu implizieren,34 macht Aristoteles die Affekte in gewisser Weise empirisch fassbar und leistet somit eine nicht unerhebliche Vorarbeit zur modernen interdisziplinären Emotionsforschung.35 Um auf den anfänglichen Vorsatz einer kulturgeschichtlichen Standortbestimmung der Gefühle in der Rede zurückzukommen, können an dieser Stelle einige Schlussfolgerungen gezogen werden. In forensischer Hinsicht offenbart sich ein ubiquitärer Einsatz des Emotionalen, der, anders als noch bei Aristoteles, sowohl die Resonanz der Hörer als auch die Performanzen aller Beteiligten umschließt. Die Gefühle, die auf beiden Ebenen eine Rolle spielen, müssen (wie im nächsten Abschnitt gezeigt werden soll) in Relation zu ihrer Normierung und Sanktionierung, und folglich ebenfalls als Ausdruck gesellschaftlicher Wertmaßstäbe betrachtet werden. Eine gesellschaftliche Verortung der Emotionen ist auch insofern festzustellen, als die Affekte, die sich in den orationes manifestieren, stets auf Konzepte zurückgehen, deren Sinn in den sozialen Beziehungen der res publica und in den dazugehörigen Regeln zu suchen ist. Zum forensischen und gesellschaftlichen „Standort“ ge34
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Vgl. Fortenbaugh 2002, S. 17: „[…] Aristotle showed that emotional response is intelligent behaviour open to reasoned persuasion“. Vorsichtiger äußert sich Wisse 1989, S. 72, der die Emotionen zwar auf eine „rationale Basis“ gestellt sieht, jedoch nicht als im eigentlichen Sinne rational; vgl. ebd.: „It renders emotions intelligible, not necessarily intelligent“. In seiner ausführlichsten Behandlung der Gefühle werden diese für Cicero zwar zum Antonym der Vernunft (Tusc. 4,10-11), er weist aber jedem Affekt ein aus der ratio stammendes Pendant zu. So ist etwa das positiv konnotierte Gegenstück zu metus die cautio (Tusc. 4,13), der wir oben als Handlungsdeterminante für das Verhalten der nobiles in der Rosciana begegnet sind. So auch Fortenbaugh 2002, S. 12; vgl. auch Andersen 2001, S. 47-48. SCHERER, Klaus R., Zur Rationalität der Emotionen, in: Rössner, Hans (Hrsg.), Der ganze Mensch. Aspekte einer pragmatischen Anthropologie, München 1986, S. 180-191 (hier: S. 182) identifiziert drei mögliche Definitionen der „Rationalität“: „1. rational im Sinne von zweckmäßig, 2. rational im Sinne von verstandesmäßig und […] 3. rational im Sinne von vernünftig“. Im Folgenden (ebd., S. 182-189) analysiert er die drei Varianten unter Berücksichtigung des aristotelischen Werkes und kommt zu dem Schluss, dass bei Aristoteles Emotionen unter sämtlichen Gesichtspunkten als rational konzipiert werden.
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sellt sich jedoch eine dritte, gewissermaßen biologische Komponente. Den Gefühlen wird die Fähigkeit attestiert, auf interaktionale Stimuli so zu antworten, dass auch eine Evaluierung der Angemessenheit der Reaktion möglich ist. Wenngleich dies sowohl bei Aristoteles als auch bei Cicero ohne das Suggerieren eines kognitiven Bewertungsprozesses durch die handelnden Akteure vonstattengeht, kann sich die Ermittlung jener Kausalitäten für die historische Forschung als äußerst ertragreich erweisen. Für dieses Vorhaben soll der folgende wissenschaftstheoretische Exkurs das nötige Instrumentarium bereitlegen.
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Rationalität der Gefühle – Historizität der Emotionen
Im ersten Teil der Studie ist ein Bild entworfen worden, das die spätrepublikanischen Gerichtsverhandlungen als ein Zusammenspiel mehr oder weniger straff geregelter Normvorstellungen begreift, die zugleich dicht beschreibbar sind und Einblicke in die kulturellen Sinnzuschreibungen, die einer quaestio zugrunde lagen, gewähren. Das Ziel war es, das Streben der römischen Gesellschaft nach einem perfekten Gleichgewicht zwischen Anklage und Verteidigung unter Beweis zu stellen, ein Gleichgewicht, das mitunter gerade die gegensätzlichen Rollenbilder gewährleisten sollten. Der aufrichtige Wunsch der Gesellschaft, den Prozess ausschließlich in den Dienst der Wahrheitsfindung zu stellen – ein Vorsatz, der in der Forschung oft angezweifelt wurde –, lässt sich möglicherweise durch die Ermittlung der kulturellen Deutungsmuster hinter den forensischen Mechanismen besser verstehen. Somit richtete sich der Fokus auf die Rationalität und Sinnhaftigkeit der Rollennormen sowie auf Rechte und Pflichten, die den genuin römischen Beziehungen inhärent waren und vom gesellschaftspolitischen Vokabular der unterschiedlichen officia reflektiert werden. Anleihen bei der Soziologie haben für die geschichtswissenschaftliche Untersuchung der sozialen Strukturen ebenso Tradition wie die Übernahme des terminologischen Instrumentariums der Ethnologie durch die Historische Anthropologie und die Neue Kulturgeschichte. Zuweilen galt dies jedoch auch für die Ausklammerung der in der antiken Rhetorik allgegenwärtigen Emotionalität, der jegliches empirische Potential (zumal hinsichtlich des Erfassens „rationaler“ Gesellschafts256
strukturen) abgesprochen wurde. Gefühle galten lange Zeit als automatisierte „Nebenstimmen“,36 die parallel zu ebenjener Rationalität verlaufen und dem individuellen Seelenleben der Akteure idealiter einen vertrauten Ausdruck verleihen – wenngleich lexikalische Studien unermüdlich die mangelnde Deckungsgleichheit antiker und moderner Emotionsbegriffe betonen.37 Derart konzeptualisierte Gefühle werden zu anthropologischen Konstanten in einem Meer von Variablen, die entweder als nicht erklärungsbedürftige Tatsachen akzeptiert oder als zeitlich verbindendes Element zum Verständnis der historischen Rahmenbedingungen herangezogen werden.38 Doch lassen sich Emotionen tatsächlich ohne Weiteres auf behavioristische Reiz-Reaktion-Schemata reduzieren? Sind sie unveränderlich, universell und somit epochenübergreifend nachvollziehbar? Und nicht zuletzt: Erleichtert uns das „Einfühlen“ in die antiken Gefühlsäußerungen das historische Verständnis wirklich oder ist die unreflektierte Übernahme ein irreführender Anachronismus? Gesteht man diesen Fragen eine gewisse Berechtigung zu, so werden die Voraussetzungen für eine Emotionsgeschichte evident. Ihre Legitimation ergibt sich aus einer Reihe von Ausschlusskriterien. Werden Gefühle nicht mehr als Antonyme zur ratio gesehen, sind sie überdies historischem Wandel unterworfen und insbesondere kulturabhängig, so muss „Emotion“ in den Stand einer Kategorie erhoben werden, die sowohl explanans als auch explanandum für kulturgeschichtliche Beobachtun-
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Vester 1991, S. 11. Vgl. exemplarisch PÖSCHL, Viktor, „Invidia“ in den Reden Ciceros, in: Ders. / Liebermann, Wolf L. (Hrsgg.), Literatur und geschichtliche Wirklichkeit. Kleine Schriften II, Heidelberg 1983, S. 11-16. Der Einfluss der lexikalischen Studien auf die neue altertumswissenschaftliche Emotionsforschung ist anhand des noch zu besprechenden Konzepts der narrativen Skripte (Kaster 2005) offenkundig. Lucien FEBVRE hat bereits 1941 in einem bahnbrechenden Aufsatz dieses Problem angesprochen: „[…] quand cet historien nous aura dit: ‚Napoléon eut un accès de rage‘ ou bien ‚un moment de vif plaisir‘ — sa tâche ne serat-elle pas terminée?“ (Febvre 1952, S. 222). Plamper 2012, S. 54 ergänzt: „Das ist sie natürlich nicht, denn damit ist noch lange nicht gesagt, was ‚Wut‘ in Napoleons Zeit bedeutete und wie ein öffentlicher Wutausbruch aussah“.
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gen sein kann.39 Daher ist es unerlässlich, den nachfolgenden Erörterungen ein theoretisches und methodisches Fundament voranzustellen. Die folgende Einleitung soll also der Frage nachgehen, inwiefern sich das Verstehen von Emotionen unter Berücksichtigung ihres kulturellen Kontextes als ertragreich erweisen kann und, damit verbunden, in welchem Verhältnis die Gefühle zu den im ersten Abschnitt der Arbeit untersuchten „rationalen“ Normen stehen. Allerdings wird bei einem Streifzug durch die Wissenschaftsgeschichte schnell deutlich, dass die Suche nach vergleichbaren Problemstellungen ein überschaubares Bild zutage fördert. Der Diskurs über Gefühle war lange Zeit denjenigen kategorialen Denkschemata verpflichtet, die aus der Antike rezipiert und in das cartesianische Postulat des Leib-Seele Dualismus überführt wurden.40 Noch größer wurde die Kluft zwischen vernunftgeleiteter Kognition und irrationalen Emotionen verständlicherweise zu Zeiten der Aufklärung, und sie blieb auch in den darauffolgenden Jahrhunderten prägend für die Philosophie.41 Analog dazu nahmen die Biowissenschaften über hundert Jahre lang diesem für die Verflechtung psychologischer und physiologischer Phänomene repräsentativen Thema gegenüber eine von DARWIN geprägte Haltung ein. Die universalistische Sicht auf die Emotionen, die glei39
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Barbara ROSENWEIN hat zu Recht den Anspruch der Emotionsgeschichte formuliert, neue Perspektiven für die Bewertung alter Probleme zu eröffnen und somit als analytische Kategorie in die traditionellen Schulen der Geschichtsschreibung integriert zu werden: „Just as issues of gender are now fully integrated into intellectual, political, and social history, so the study of emotions should not (in the end) form a separate strand of history but rather inform every historical inquiry“ (Rosenwein 2010, S. 24). Ob allerdings in der Antike selbst ein dezidierter Widerspruch zwischen Kognition und Emotion geherrscht hat, ist angesichts der oben vorgestellten Konzeptualisierung Letzterer durch Aristoteles fraglich. Immanuel KANT sah die Gefühle als natürliche Dispositionen, die im Widerspruch zur Rationalität stehen und somit einer permanenten moralischen Selbstzensur unterliegen müssten; vgl. Armon-Jones 1986a, S. 34; vgl. ebd., S. 40 für die Konzeptualisierung der Emotionen als unbewusste Phänomene, die sich jeglicher Intentionalität und Funktionalität entziehen, bei DESCARTES und HUME. Für einen guten Überblick über die Entwicklung der Emotionsphilosophie von der Antike bis zur Aufklärung vgl. Plamper 2012, S. 20-34.
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chermaßen von dem bekannten neodarwinistischen Psychologen Paul EKMAN vertreten wurde, hielt nicht nur die Trennung von Vernunft und Gefühl aufrecht, sie widersetzte sich auch jeder Form zeitlichen Wandels im Erleben und Zeigen von Empfindungen – eine Tatsache, die wiederum jeglichen geisteswissenschaftlichen Zugang zur Thematik versperren musste. Erst allmählich geriet diese Betrachtungsweise, vornehmlich unter dem Einfluss eines neu einsetzenden kognitivistischen Paradigmas, ins Wanken.42 Für unsere Fragestellung, die sich der sozio42
Den Ausgangspunkt bildet DARWIN, Charles, The Expression of the Emotions in Man and Animals, London 1872, der die Universalität der Emotionen anhand einer evolutionären Analyse von Gestik und Mimik postuliert hat; vgl. dazu auch Plamper 2012, S. 195-206; Konstan 2006, S. 8-10. Auf dieser Grundlage entwickelte Paul EKMAN seine Theorie der Basisemotionen (zuerst in EKMAN, Paul, Universals and Cultural Differences in Facial Expressions of Emotion, in: Cole, James K. (Hrsg.), Nebraska Symposium on Motivation 19, Lincoln 1972, S. 207-282). Für eine kritische Auseinandersetzung mit EKMANs Thesen, speziell im Hinblick auf ihre Rezeption in der Geschichtswissenschaft, vgl. Plamper 2012, S. 177-193. DARWIN und EKMAN gingen von einer rein physiologischen Verortung der Gefühle aus, während kognitive Prozesse für sie keine Rolle spielten. Einer ähnlichen Vorgehensweise begegnen wir auch im Zuge der von William JAMES entwickelten und in Anlehnung an eine zeitgleiche Arbeit Carl LANGEs als James-Lange-Theorie bekannt gewordenen These, dass Emotionen bloße Reflexe körperlicher Prozesse seien, und somit Letzteren eine prävalente Stellung gebühre (JAMES, William, What is an Emotion?, Mind 9, 1884, S. 188-205); vgl. auch Frevert 2009, S. 187-188; zu diesem „organismischen Modell“ allgemein vgl. Hochschild 1990, S. 163-167. Rosenwein 2010, S. 5-8 und Frevert 2009, S. 188 weisen jedoch darauf hin, dass die Betonung des Körperlichen selbst in der Psychologie keine uneingeschränkte Zustimmung fand. So waren es neben den frühen Werken John DEWEYs (DEWEY, John, The Theory of Emotion. (I) Emotional Attitudes, Psychological Review 1, 1894, S. 553-569 und DERS., Human Nature and Conduct, New York 1922), der auf die Intentionalität und Situationsgebundenheit von Emotionen aufmerksam gemacht hat, vor allem Stanley SCHACHTER und Jerome SINGER, die dem kognitiven Moment größere Bedeutung beigemessen haben. Laut SCHACHTER / SINGER sind Gefühle sowohl das Ergebnis einer Bewertung des körperlichen Vorganges als auch der davon unabhängigen Rahmenbedingungen (SCHACHTER, Stanley / SINGER, Jerome, Cognitive, Social, and Physiological Determinants of
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kulturellen Konditionierung von Gefühlen widmet, ist die Beschäftigung mit den psychologischen und biowissenschaftlichen Erkenntnissen insofern lohnend, als eine Tendenz zur Überbrückung des alten Gegensatzes zwischen Rationalität und Affekt deutlich wird. Insbesondere die sogenannten „appraisal“-Theorien weisen in der Psychologie eine Reihe fruchtbarer Ergebnisse vor, welche die herausragende Rolle kognitiver Bewertungen für die Entstehung von Emotionen belegen.43 Angesichts der neuen technischen Möglichkeiten, die in den Neurowissenschaften Anwendung finden, kann dieses Problem derweil als gelöst betrachtet und eine Interdependenz von Denken und Fühlen postuliert werden.44 Daraus resultiert auch die transdisziplinäre Bedeutung einer solchen Neukonzeptualisierung. Die jahrhundertelange Dichotomie zwischen Vernunft und Gefühl kann nunmehr zugunsten einer holistischen Auffassung aufgegeben werden, die beide Elemente zu einem neuen Verständnis von „Rationalität“ zusammenfügt. Emotion und Kognition be-
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Emotional States, Psychological Review 69, 1962, S. 379-399); zu DEWEY vgl. die Besprechung in Hochschild 1990, S. 168-169; zu SCHACHTER / SINGER vgl. auch Plamper 2012, S. 239-241; Trepp 2001, S. 45; Frevert 2009, S. 188. Waren diese Ansätze zunächst schüchterne Versuche, die kognitive Komponente in den Diskurs über Emotionen zu integrieren, so scheint der Antagonismus mittlerweile überwunden. Dementsprechend gehen neuere Thesen von einer natürlichen Interdependenz aus – wie z. B. der innovative Vorschlag einer Zusammenführung von Kognition und Emotion in Luc CIOMPIs Theorie der „fraktalen Affektlogik“ (CIOMPI, Luc, Die emotionalen Grundlagen des Denkens. Entwurf einer fraktalen Affektlogik, Göttingen 20053 und DERS. / ENDERT, Elke, Gefühle machen Geschichte. Die Wirkung kollektiver Emotionen – von Hitler bis Obama, Göttingen 2011). Vgl. dazu Plamper 2012, S. 241-244. Ein Überblick über die „appraisal theories“ findet sich bei CLORE, Gerald L. / ORTONY, Andrew, Appraisal Theories. How Cognition Shapes Affect into Emotion, in: Lewis, Michael u. a. (Hrsgg.), Handbook of Emotions, New York 2008, S. 628–644. Frevert 2009, S. 189-190. Freilich hat die bio- und naturwissenschaftliche Beschäftigung mit Gefühlen mehrere Etappen durchlaufen als diese kurze Skizze deutlich machen konnte. Für eine detaillierte Vorstellung der „lebenswissenschaftlichen“ Theorien – so von Jan PLAMPER in Analogie zum englischen Begriff der life sciences benannt – sei deshalb auf Plamper 2012, S. 177-294 hingewiesen.
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dingen einander und stellen die Voraussetzungen für die Intentionalität menschlichen Handelns dar.45 Jedoch ist damit die zweite Bedingung, die für eine Historisierung der Gefühle vonnöten wäre, noch nicht erfüllt. Basieren die Emotionen auf kognitiven Prozessen und sind folglich zweckgebunden, so muss bewiesen werden, dass sich ihre Motivationalität eng an dem sozialen und kulturellen Umfeld orientiert, das sie hervorbringt.46 Erwartungsgemäß entwickelten sich die ersten Überlegungen zu einer gesellschaftlichen Kontextualisierung von Emotionen in der Soziologie. Émile DURKHEIMs Studien zum Selbstmord und seine Religionssoziologie, Max WEBERs „affektuelles Handeln“, aber insbesondere Georg SIMMELs Überlegungen zur Sozialität der Gefühle, exemplifiziert unter anderem am Beispiel der Scham, werden häufig als Vorläufer der soziologischen Emotionsforschung angeführt.47 Die Pionierleistung dieser Klassiker bestand darin, die gesellschaftliche Funktion der Gefühle erkannt zu haben, wenngleich auch sie – im Geiste ihrer Zeit – noch weit davon entfernt waren, den Antagonismus zur Rationalität dezidiert zurückzuweisen. Zu diesen Autoren gesellt sich das magnum opus von Norbert ELIAS, dessen Zivilisationstheorie auf dem „Vorrücken der Scham- und Peinlichkeitsschwelle“48 beruht und, trotz aller Kritik an seinem linearen zivilisatorischen Modell, implizit von einer Kontrollierbarkeit der in den Dienst der Staatsraison gestellten Gefühle ausgeht.49 45 46
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Vgl. Frevert 2009, S. 190. Andeutungen einer solchen Anlehnung finden sich bereits in der psychologischen Literatur, etwa bei TOMKINS, Silvan, Affects: Primary Motives of Man, Humanitas 3, 1968, S. 321-345. Vgl. Flam 2002, S. 61-89; Gerhards 1988, S. 33-43; Denzin 1984, S. 34-36; Neckel 2006, S. 124 (DURKHEIM). Flam 2002, S. 44-60; Gerhards 1988, S. 24-32; Denzin 1984, S. 33-34; Neckel 2006, S. 125; von Scheve 2009, S. 182-185 (WEBER). Neckel 1991, S. 81-106; Flam 2002, S. 16-43; Gerhards 1988, S. 43-51; Denzin 1984, S. 36-38; Neckel 2006, S. 125-127 (SIMMEL). Elias 2010, Bd. 2, S. 408. Vgl. ebd., S. 459: „Die Zwänge, denen heute der einzelne Mensch unterworfen ist, und die Ängste, die ihnen entsprechen, sie sind in ihrem Charakter, ihrer Stärke und Struktur entscheidend bestimmt durch die spezifischen Verflechtungszwänge unseres Gesellschaftsgebäudes“. Diese Zwänge sind für ELIAS jedoch bloße Formen historischen Wandels, die sich jeglicher
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Die neueren Ansätze der Emotionssoziologie und -geschichte stehen also in der Tradition – bzw. beruhen auf der Zusammenführung zweier elementarer Postulate – dieser Denkschulen. Die Vorarbeiten der soziologischen Klassiker zur gesellschaftlichen Rolle von Emotionen werden dabei durch eine Wahrnehmungs- und Deutungskomponente ergänzt. Gefühle sind nicht mehr „blind in Gang gesetzt[e]“50 Mechanismen, unterbewusste Phänomene, die gesellschaftsbildende Funktion haben, sondern sie gehen, wie spätestens seit der Rezeption neurowissenschaftlicher Erkenntnisse bekannt, auf eine situative Einschätzung der sozialen Rahmenbedingungen zurück. Diese Rahmenbedingungen sind freilich per definitionem nicht universell, sondern werden von den jeweils kulturimmanenten Sinnzuweisungen bestimmt. Erweitern wir somit den ursprünglichen Gedanken um den Begriff der Kultur als „selbstgesponnene[s] Bedeutungsgewebe“,51 kann die historische Relevanz der Emotionen nicht mehr angezweifelt werden. Da diese Feststellung jedoch einer Vorwegnahme der Ergebnisse des Kapitels gleichkommt, soll zunächst ein Blick auf die soziologische Literatur geworfen werden, um uns danach einigen Theorien zuzuwenden, die diese Ansätze für eine Geschichte der Gefühle fruchtbar gemacht haben. Den gemeinsamen Ausgangspunkt der emotionssoziologischen Theorien52 bildet die Erkenntnis, dass das Erleben und Zeigen von Gefühlen immer in einem gesellschaftlichen Kontext eingebettet ist. Dadurch soll jedoch die biologische Komponente keineswegs aus der Genese der Af-
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Motivationalität entziehen (vgl. ebd., S. 323-328); zu ELIAS’ Konzept der Scham vgl. auch Neckel 1991, S. 121-145. Die schärfste Kritik erlebten seine Thesen bei DUERR, Hans Peter, Der Mythos vom Zivilisationsprozeß, 5 Bde., Frankfurt/Main 1988-2002; vgl. zur Debatte auch PAUL, Axel T., Die Gewalt der Scham. Elias, Duerr und das Problem der Historizität menschlicher Gefühle, in: Bauks, Michaela / Meyer, Martin F. (Hrsgg.), Zur Kulturgeschichte der Scham, Hamburg 2011, S. 195-216. Elias 2010, Bd. 2, S. 327. Geertz 1987, S. 9. Der Anfang der Emotionssoziologie wird häufig mit der Veröffentlichung eines Aufsatzes von Arlie HOCHSCHILD in Verbindung gebracht (HOCHSCHILD, Arlie, The Sociology of Feeling and Emotion, Sociological Inquiry 45, 1975, S. 280-307); vgl. Flam 2002, S. 117; für eine Zusammenfassung der emotionssoziologischen Theorien der letzten Jahrzehnte vgl. von Scheve 2009, S. 38-69.
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fekte verbannt werden, vielmehr sei davon auszugehen, dass psychologische und physiologische Elemente mit den sozialen Faktoren zusammentreffen und zur Entstehung sowie zur Bekundung eines Gefühls in einer bestimmten Situation beitragen.53 Elementar ist in diesem Zusammenhang die subjektive Deutung der jeweiligen Interaktion durch das Individuum sowie dessen Interpretation im Rückgriff auf gesellschaftlich festgelegte Konventionen.54 Anders als früher bildet in der heutigen Forschung nicht mehr der Dissens darüber, ob den Gefühlen eine rationale Komponente innewohnt, den entscheidenden Streitpunkt, sondern ein quantitativer Aspekt, nämlich die Frage nach der Gewichtung von Bewusstem und Unbewusstem im Erleben einer Emotion.55 Galten einst Universalisten und Kognitivisten als unversöhnliche Widersacher, teilt sich die Emotionssoziologie nun – vereinfacht formuliert – in Positivisten und Sozialkonstruktivisten.56 Der Wortführer der positivistischen Seite, Theodore KEMPER, entwickelte seine Theorie auf der Grundlage von Macht-Status-Beziehungen, die er als essenziell für sämtliche Interaktionen erachtet. Die Ge53
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Zur Interdependenz von Kognition und Emotion vgl. ferner Gerhards 1988, S. 87-89. Von einer „Scheinkontroverse“ bezüglich der vermeintlichen Trennung beider Aspekte spricht Vester 1991, S. 69-74; zu dieser Komplementarität s. auch Armon-Jones 1986a, S. 32; von Scheve 2009, S. 40; Kessel 2006, S. 30; Frevert 2009, S. 190; Trepp 2001, S. 45; Saxer 2007, S. 15. Armon-Jones 1986a, S. 43; Saxer 2007, S. 17. Vielfach wird darauf hingewiesen, dass selbst die Basisemotionen erst durch eine Zuschreibung gesellschaftlicher Bedeutung entfaltet werden; vgl. Vester 1991, S. 43-44; Trepp 2001, S. 45. Kaster 2005, S. 9; Trepp 2001, S. 45. Flam 2002, S. 117; von Scheve 2009, S. 40-41. Neckel 2006, S. 129 schärft dieses Bild, indem er zwischen „Strukturalisten“, „Behavioristen“, „Sozialkonstruktivisten“ und „Sozialphänomenologen“ unterscheidet (in vereinfachter Form würden die ersten beiden Schulen der positivistischen Richtung angehören, während Letztere vornehmlich die sozialen Faktoren betonen). Er spricht sich außerdem für eine eklektische Vorgehensweise aus, dadurch dass er die Vorteile einer jeden Schule miteinander in Einklang bringen möchte (ebd., S. 132-133). Ebenfalls eklektisch geht bei seiner Emotionstheorie Jürgen GERHARDS vor (vgl. Gerhards 1988, S. 54). Von einer grundsätzlichen Vereinbarkeit biologischer und sozialkonstruktivistischer Ansätze geht auch Rosenwein 2010, S. 9-10 aus.
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fühle, die dabei entfaltet werden, wären demzufolge bloße Spiegelbilder dieser Verhältnisse und in ihrer Echtheit nicht anzuzweifeln.57 Soziale Normen – oder allgemeiner: kulturelle Phänomene – seien lediglich Produkte dieser Beziehungen und für die Entstehung der Affekte nicht ursächlich.58 Die Positivisten weisen also den somatischen Vorgängen die entscheidende Rolle bei der Herausbildung von Emotionen zu und betonen dadurch den Vorrang unbewusst-instinktiver Situationsauslegungen gegenüber den kognitiv-gesellschaftlichen Interpretationsleistungen.59 Dagegen muss eine kritische Einschätzung dieser Theorien nicht nur auf die Simplifizierung der normativen Mechanismen hinweisen, sondern auch auf den Rückfall in ein Reiz-Reaktion-Schema, das die Gefühle „gleichsam zu einem interpretationsfreien inneren Geschehen verwandel[t]“.60 So bedeutend Konzepte wie Macht und Status für die historische Forschung auch sind: Eine reduktionistische Vorgehensweise birgt die Gefahr in sich, die gesellschaftliche Dynamik normativer Schöpfungsleistungen und die Wechselwirkungen zwischen Mikro- und Makroebene außer Acht zu lassen. Für unsere Fragestellung (sowie unter Beibehaltung des im ersten Abschnitt der Arbeit eingeschlagenen Weges) ist hingegen die konstruktivistische Sicht, die besonderen Wert auf den sozialnormativen Ursprung der Gefühle legt, vielversprechend.61 Das 57
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Vgl. KEMPER, Theodore D., Auf dem Wege zu einer Theorie der Emotionen. Einige Probleme und Lösungsmöglichkeiten, in: Kahle, Gerd (Hrsg.), Logik des Herzens. Die soziale Dimension der Gefühle, Frankfurt/Main 1981, S. 134-154, bes. S. 138-139; s. dazu auch Flam 2002, S. 135. Vgl. allgemein zu KEMPER ebd., S. 134-136, 151-152; von Scheve 2009, S. 45-48. Vgl. ebd., S. 40. Neckel 2006, S. 130. Eine konstruktivistische Verfahrensweise wendet in der Sozialpsychologie auch AVERILL, James, A Constructivist View of Emotion, in: Plutchik, Robert / Kellerman, Henry (Hrsgg.), Emotion. Theory, Research and Experience, Bd. 1: Theories of Emotion, New York 1980, S. 305-339 an. Der Übernahme dieser Theorien ist allerdings eine Erklärung vorauszuschicken. Armon-Jones 1986a, S. 37-38 weist auf die Existenz einer radikal-konstruktivistischen Strömung hin, die natürliche Emotionen leugnet und alle Gefühle als sozial konstruiert sieht. Dagegen werden seitens der gemäßigten Vertreter eine Reihe von Primäremotionen zugestanden, gleichzeitig aber
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geistige Erbe von Erving GOFFMAN fortführend, aber auch in kritischer Auseinandersetzung mit diesem,62 gehen die Sozialkonstruktivisten von einem „Rollenspieler“ aus, der die gesellschaftlichen Anforderungen bewerten und sowohl sein Fühlen als auch sein Handeln an diesen anpassen kann. Claire ARMON-JONES resümiert, dass es vor allem vier Charakteristika seien, die die konstruktivistischen Thesen kennzeichnen: Emotionen (1) basieren auf von den Sinnstiftungsmustern der jeweiligen Kultur geprägten Wertvorstellungen, sie (2) werden im Zuge der Sozialisation und im Sinne der obigen Deutungen internalisiert, außerdem (3) stellen sie gesellschaftlich festgelegte Reaktionen dar, welche die Normkonformität dokumentieren und folglich (4) soziokulturell funktional sind, da sie deviantem Verhalten Einhalt gebieten und das gesellschaftliche Wertesystem bekräftigen.63 Das Kernelement dieser Thesen erlaubt uns, an die Ausführungen des ersten Teils anzuknüpfen. Aus konstruktivistischer Perspektive geht der emotionalen Performanz eine Einschätzung der Situation voraus, die unter anderem deren Vertrautheit, die spezifische Art der Interaktion, aber auch die eigene soziale Rolle und Position (sowie die des Interaktionspartners) definiert, und infolgedessen auf die gesellschaftlich richtige Emotion geschlossen wird.64 Analog zu den eingangs behandelten Normen werden diese Bewertungen bereits durch die Sozialisation verinnerlicht und jeweils bei Erfüllung der erforderlichen Kriterien abgerufen.65 Die Impli-
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darauf aufmerksam gemacht, dass selbst diese ihre Ausprägung durch den jeweiligen gesellschaftlichen Kontext erhalten. In Bezug auf die radikalere These merkt von Scheve 2009, S. 41 jedoch an, dass „[d]iese Position […] heute als isoliert und neueren Erkenntnissen zufolge als nicht haltbar bezeichnet werden [kann]“; vgl. auch Thoits 1989, S. 320. Hauptsächlich wird an GOFFMAN die fehlende emotionale Selbstreflexion der Akteure kritisiert; vgl. Hochschild 1979, S. 557-560; Hochschild 1990, S. 172-175; s. auch Neckel 2006, S. 130-131. Armon-Jones 1986a, S. 33-34; vgl. auch Armon-Jones 1986b, S. 57, 80-82. von Scheve 2009, S. 291-292; vgl. auch ebd., S. 108; Armon-Jones 1986a, S. 35; Denzin 1984, S. 52. Norman DENZIN bezeichnet diese Prozesse als „emotionale Praktiken“; vgl. ebd., S. 89. Hochschild 1979, S. 566 spricht, in Anlehnung an Erving GOFFMAN, von gesellschaftlichen „Rahmen“, die eine jede Situation mit der dazu passenden Emotion belegen. Flam 2002, S. 127-128; von Scheve 2009, S. 292. Ebd., Anm. 43 kritisiert der Autor die Annahme, dass die Bewertung eines jeden „Rahmens“ bewusst
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kationen dieser Feststellung können nicht hoch genug eingeschätzt werden. Die wissenssoziologischen Ansätze werden dadurch um ein elementares Moment erweitert, nämlich um die gesellschaftliche Konditionierung des emotionalen Verhaltens,66 die dem „homo sociologicus“ nicht nur einen „emotional man“ zur Seite stellt, sondern vielmehr den „homo sociologicus“ als „emotional man“ begreift.67 Folgerichtig spielt in den Bemühungen der Sozialkonstruktivisten die Theoretisierung jener gesellschaftlichen Konventionen, die sich speziell auf Gefühle beziehen, eine zentrale Rolle. Vor allem Arlie HOCHSCHILD hat sich diesem Thema gewidmet und die Konzepte der „Gefühlsnormen“ und der „Emotionsarbeit“ in den wissenschaftlichen Diskurs eingebracht. Erstere umfassen dabei sämtliche Regeln, die eine Gesellschaft hinsichtlich des erwarteten emotionalen Verhaltens, aber auch des Ausmaßes einer angemessenen Zurschaustellung von Emotionen festlegt,68 während die
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vonstattengeht. Dem kann man sich anschließen, da auch in diesem Fall die sozialisatorischen Internalisierungsmechanismen greifen. Ähnlich sieht Shott 1979, S. 1323 die Gefühle als „[w]ithin the limits set by social norms and internal stimuli“ konstruierte Reaktionen. Dies beugt zugleich einem gewissen Determinismus vor, da auch im Falle der Emotionsnormen ein Spielraum für das „richtige“ Gefühl entsteht. Hochschild 1979, S. 551 weist auf diese Lücke in der soziologischen Theorie hin; vgl. auch Neckel 2006, S. 134; von Scheve 2009, S. 109. Sinnbildlich für das Übergehen der Gefühle in der älteren Soziologie: Dahrendorf 2010, S. 79: „Homo sociologicus kann weder lieben noch hassen, weder lachen noch weinen“. Den Entwurf des „emotional man“, der im Gegensatz dazu sowohl lachen als auch weinen muss und als Bindeglied zwischen dem „homo sociologicus“ und dem „homo oeconomicus“ konzipiert worden ist, hat Helene FLAM in einer Reihe von Aufsätzen vorgeschlagen; vgl. FLAM, Helene, Emotional Man, I: The Emotional Man and the Problem of Collective Action, International Sociology 5/1, S. 39-56; DIES., Emotional Man, II: Corporate Actors as emotion-motivated Emotion Managers, International Sociology 5/2, S. 225-234; DIES., „From Emotional ‚Man‘, with Love“, in: Schützeichel, Rainer (Hrsg.), Emotionen und Sozialtheorie, Frankfurt/Main 2006, S. 195-222. Insgesamt kritisch dazu: von Scheve 2009, S. 196-202; ebd., S. 186-188 führt der Autor die Kritik auf die seiner Meinung nach immer noch zu stark deterministische Sicht des normativen Paradigmas zurück. Hochschild 1990, S. 73-84; Hochschild 1979, S. 563-566.
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„Emotionsarbeit“ auf eine subjektive Ebene abzielt und danach fragt, wie einzelne Teilnehmer am Interaktionsprozess, aus Rücksicht auf die sozialen Normen und um diesen zu entsprechen, die eigenen Gefühle handhaben und beeinflussen können.69 Um dem Verständnis des kulturell-emotionalen Haushalts einer Gesellschaft gerecht zu werden, müssten beide Aspekte insofern miteinander kombiniert werden, als die Emotionsarbeit einer Person immer als Ergebnis der jeweils gültigen Gefühlsnormen zu betrachten sei.70 Hiermit gelingt den Konstruktivisten auch der Spagat zwischen der Mikroebene der Individualität und der Makroebene gesellschaftlicher Institutionen. Den Gefühlen dürften dabei nicht etwa (in ethnozentristischer Manier) Kategorien wie „positiv“ oder „negativ“ zugrunde gelegt werden,71 vielmehr sollte sich die Aufmerksamkeit auf die Deutungsmuster und auf die Erwünschtheit einer Emotion innerhalb der jeweiligen Gesellschaft richten72 – ein Diktum, das speziell in der historischen Forschung zu beherzigen ist. Dementsprechend können selbst negativ konnotierte Affekte, wie etwa Wut oder Neid, durchaus eine funktionale und stabilisierende Rolle erfüllen.73 69
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Ebd., S. 561-563. Die Autorin erklärt, dass dies auf zweierlei Art geschieht: entweder durch Herbeiführung oder durch Unterdrückung bestimmter Gefühle (ebd., S. 561). Zudem kann die „Emotionsarbeit“ eine kognitive (Selbstsuggestion), körperliche (Kontrolle physiologischer Indikatoren) oder expressive (Kontrolle von Gestik und Mimik) Komponente beinhalten (ebd., S. 562). Diese drei Facetten sind für die Bekundung von Gefühlen eminent und sie begegnen uns ausnahmslos in Ciceros emotionalen Strategien. Ebd., S. 568. Das heißt zugleich, dass die Akteure bestrebt sind, die von ihnen eingeforderten Gefühle auch tatsächlich zu erleben, um einer auf Dauer belastenden „emotionalen Dissonanz“ zu entgehen (vgl. Hochschild 1990, S. 99-100). Plamper 2012, S. 327. Vester 1991, S. 28; Shott 1979, S. 1319; Flam 2002, S. 137; Böhme 1997, S. 536. Flam 2002, S. 134 weist explizit auf die Verbindung von Mikro- und Makroebene bei Arlie HOCHSCHILD hin. Da Emotionen immer zielgerichtet sind, wird außerdem die Ermittlung der Intention einzelner Gefühle bedeutsam, insbesondere wenn dies Einblicke in die kultureigene Wertigkeitshierarchie bestimmter Konzepte gewährt; vgl. Armon-Jones 1986a, S. 44; Frevert 2009, S. 203. Armon-Jones 1986b, S. 72-73; Armon-Jones 1986a, S. 35. Für die „strukturfunktionale Rolle“ der Emotionen vgl. auch von Scheve 2009, S. 294, 296.
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Die soziale Dimension der Empfindungen gebietet es zugleich, die Emotionalität auch auf benachbarte und in dieser Arbeit relevante Konzepte der Wissenssoziologie auszuweiten. Das Zeigen angemessener Gefühle gehört mitunter zu den Erwartungen an eine bestimmte Rolle74 und kann demzufolge zum Ziel der gesellschaftlichen Sanktionierung gemacht werden.75 Letzteres stellt einen topos soziologischer Emotionsforschung dar und ist die logische Folge der Komplementarität von Normen und evaluierenden Reaktionen.76 Darüber hinaus erlangen Affekte aber auch als Ausdruck sozialer Sanktionen große Bedeutung.77 Jon ELSTER unterscheidet zwischen materiellen und emotionalen Sanktionen, und kommt zu dem Schluss, dass Letztere insofern übergeordnet sind, als die materiellen Konsequenzen lediglich eine praktische Verwirklichung des bereits vorhandenen sanktionierenden Gefühls darstellen.78 Der in der Einleitung vorgestellte Forschungsgegenstand der Kultur profitiert somit am meisten von diesen neuen Erkenntnissen.79 Als „Kul74
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Vgl. Hochschild 1990, S. 83: „Mit Hilfe des Konzepts der sozialen Rolle […] läßt sich ein Teil der Gefühle beschreiben, die man anderen schuldet oder die einem zustehen. Rollenvorschriften liefern die Grundlage, nach der beurteilt wird, welche Gefühle einer bestimmten Ereignisabfolge angemessen erscheinen. Mit einem Wandel von Rollen ändern sich aber auch die Normen für das Erleben und Deuten von Ereignissen“; vgl. auch Elster 2002, S. 5. Vgl. ebd., S. 2. Vgl. Shott 1979, S. 1323; Armon-Jones 1986b, S. 70; von Scheve 2009, S. 253; Hochschild 1990, S. 74. Eine spezielle Form der Sanktion ist die „Selbstzensur“, also eine Art vorausblickende Zurückhaltung, welche die Person an der Übertretung einer Norm hindert und in emotionaler Hinsicht mit Begriffen wie etwa „Scham“ oder „Scheu“ in Verbindung gebracht wird (vgl. Elster 2002, S. 3; Shott 1979, S. 1323-1324). Vgl. von Scheve 2009, S. 290-291. Elster 2002, S. 3. Die Ethnologie hat wesentlich zur Diskussion über die Interdependenz von Kultur und Emotion beigetragen, vor allem durch die mikronesischen Forschungen von Catherine LUTZ (vgl. LUTZ, Catherine A., Unnatural Emotions. Everyday Sentiments on a Micronesian Atoll & Their Challenge to Western Theory, Chicago 1988). Außerdem ist die Verbindung von Rationalität und Gefühl zu einem beliebten Thema zeitgenössischer Philosophie geworden; vgl. COULTER, Jeff, The Social Construction of Mind, London
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turprodukte“80 werden normierte Emotionen zu einem Musterbeispiel sinnhafter Weltanschauungen und eignen sich in einem kaum geringeren Umfang als „rationale“ Normen und Werte für eine dichte Beschreibung gesellschaftlicher Deutungsmuster.81 Folgerichtig wurden die Vorarbeiten der Soziologie und Ethnologie binnen kürzester Zeit auch von der Geschichtswissenschaft rezipiert.82 Die meisten Autoren haben sich dabei an den konstruktivistischen Ansätzen orientiert, wenngleich es mit William REDDY eine in diesem Punkt prominente Ausnahme gibt.83 Den ersten theoretischen Versuch starteten bereits im Jahre 1985 Peter und Carol STEARNS. Das Novum ihres Programms war die Einführung des „Emotionologie“-Begriffs, unter den sie sowohl die Ein-
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u. a. 1979; DE SOUSA, Ronald, Die Rationalität des Gefühls, Frankfurt/ Main 1987; DERS., The Rationality of Emotions, in: Rorty, Amélie (Hrsg.), Explaining Emotions, Berkeley u. a. 1980, S. 127-151. Grundlegend für die phänomenologische Beschäftigung mit Emotionen bleibt aus Hermann SCHMITZ’ zehnbändigem Werk: SCHMITZ, Hermann, System der Philosophie, Bd. III/2. Der Gefühlsraum, Bonn 1969. Flam 2002, S. 136; vgl. auch Thoits 1989, S. 319; Kaster 2005, S. 9. Neckel 2006, S. 134 sieht Gefühle sogar als primäre Zugangsmöglichkeiten zu den kulturellen „Bedeutungsdimensionen“. Kulturabhängigkeit und Variabilität von Emotionsnormen werden auch bei Hochschild 1979, S. 572-573; Vester 1991, S. 103-105; Benthien / Fleig / Kasten 2000, S. 9-10; Frevert 2009, S. 192; Trepp 2001, S. 46 und Plamper 2012, S. 42-43 betont; für die kulturelle Variabilität von emotionalen Gesten vgl. Le Barre 1981, S. 155163. Selbstverständlich hat es auch innerhalb der modernen Historiographie gewichtige Vorläufer gegeben. Plamper 2012, S. 53 beginnt seine Erörterungen dazu mit dem spektakulären Satz: „Am Anfang der Emotionsgeschichte stand ein einziger Mann: Lucien Febvre“. Obwohl er diese Aussage im Folgenden relativiert, muss die Forderung FEBVREs nach einer Geschichte der Gefühle weiterhin als Geburtsstunde der Emotionshistorie gelten; allgemein zur Entwicklung der Emotionsgeschichte: ebd., S. 53-86. So fußen REDDYs „emotives“ auf der Sprechakttheorie von John L. AUSTIN (zu den „performatives“ AUSTINs vgl. Austin 2010, S. 29-31; Searle 1983, S. 108); s. auch REDDY, William, The Navigation of Feeling, Cambridge 2001. Dezidiert gegen den Konstruktivismus bezieht er Position in DERS., Against Constructionism. The Historical Ethnography of Emotions, Current Anthropology 38, 1997, S. 327-351; zu REDDY vgl. auch Plamper 2012, S. 297-313 und kritischer: Rosenwein 2010, S. 22-23.
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stellungen der Gesellschaft gegenüber „emotionalen Standards“ als auch die Mechanismen, durch die Institutionen die Aufrechterhaltung affektiver Normen gewährleisten, subsumierten.84 Die Autoren gingen dabei von der Prämisse der kulturellen Variabilität von Gefühlen aus sowie von der Existenz eines präzise definierten Sets an Emotionsnormen für jede Gesellschaft.85 Sie hielten allerdings an der Trennung von gezeigter Emotion und erlebtem Gefühl fest und postulierten sogar die Unmöglichkeit, echte Empfindungen hinter der „Emotionologie“ herauszuarbeiten.86 Die latente Devianzbereitschaft, die einer solchen Annahme inhärent ist, kontrastiert jedoch selbst mit den antideterministischen Theorien der Soziologie, die von einem grundsätzlichen Wunsch nach Konformität ausgehen. Außerdem ist für eine kulturgeschichtlich geprägte Fragestellung selbst die hypothetische Diskrepanz eher sekundär. Historiker haben des Öfteren darauf hingewiesen, dass die Emotionsgeschichte „es immer mit Repräsentationen von Gefühlen zu tun hat“.87 So zeigt Barbara ROSENWEIN, dass die Suche nach der Echtheit von Empfindungen nur dann kulturgeschichtlich relevant ist, wenn eine Authentizitätserwartung in der Gesellschaft herrscht und daraus Rückschlüsse auf die dahinter liegenden Vorstellungen möglich werden.88 Der Emotionologie setzt sie das Konzept der emotional communities entgegen,89 das die Analyse der klassischen sozialen Gemein84 85 86
87 88 89
Vgl. die Definitionen von „Emotionologie“ und „Emotion“ in Stearns / Stearns 1985, S. 813. Ebd., S. 814-815, 827. Vgl. ebd., S. 824. Von unterschiedlichen Seiten her hat dieses Vorgehen Kritik hervorgerufen. So zeigt Kessel 2006, S. 31, dass die subjektiven Gefühle immer auch Ergebnis der übergeordneten Strukturen sind. Frevert 2009, S. 206 weist zudem auf Quellengattungen – wie z. B. Briefe – hin, die einen guten Einblick in die Echtheit der Emotionen gewähren können, außerdem kritisiert sie die „hegemoniale“ Ausrichtung der Emotionologie auf gesamtgesellschaftliche Normbestimmungen (ebd., S. 207). Konstan 2009, S. 37-38 erinnert auch an die Wechselwirkung von Kognition und Emotion, die ein gewisses Maß an genuinem Erleben voraussetzt. Benthien / Fleig / Kasten 2000, S. 9; vgl. auch Kessel 2006, S. 30-31; Trepp 2001, S. 49. Rosenwein 2010, S. 21. Zuerst in ROSENWEIN, Barbara, Worrying about Emotions in History, American Historical Review 107, 2002, S. 821-845. Sie widerspricht dabei
270
schaften mit emotionstheoretischen Aspekten verbindet.90 Der gesamtgesellschaftliche Blick von STEARNS wird somit auf die Mikroebene fokussiert, was sowohl eine differenzierte Betrachtung der Normen in kleineren Rollensegmenten als auch die Analyse ihrer Dependenz von den übergeordneten Strukturen möglich macht. Eine speziell auf die Erfordernisse des klassischen Altertums zugeschnittene Theorie hat unterdessen der Altphilologe Robert KASTER entwickelt. Ausgehend von der Unterschiedlichkeit des antiken und modernen Emotionsvokabulars91 und von den divergierenden kulturellen Konnotationen scheinbarer Synonyme, erachtet es KASTER als irreführend, antike Begriffe schlicht durch ein modernes Pendant zu übersetzen.92 Er weist darauf hin, dass die Terminologie ein Spiegelbild gesellschaftlicher Wirklichkeiten darstellt, und schlägt das Aufstellen
90 91
92
dem „hydraulischen“ Modell von ELIAS, FEBVRE und HUIZINGA, das die Emotionen als „great liquids within each person, heaving and frothing, eager to be let out“ konzipiert (ebd., S. 834). Vgl. Rosenwein 2010, S. 11-12. Kaster 2005, S. 5. Maßgeblich zu dem Gedanken der kulturellen Bedingtheit von Emotionsbegriffen beigetragen hat die literaturwissenschaftliche Arbeit von WIERZBICKA, Anna, Emotions across Languages and Cultures. Diversity and Universals, Cambridge 1999. Auf diesen Aspekt wird auch anderenorts verwiesen: vgl. Konstan 2009, S. 27-28; Rosenwein 2010, S. 13; Vester 1991, S. 29; Shott 1979, S. 1319; Thoits 1989, S. 322; Saxer 2007, S. 17. Speziell für die Antike s. auch Konstan 2006, S. 3-5; Konstan 2009, S. 30; für die antike Terminologie des Zorns vgl. Harris 2002, S. 50-70. Lexikalische Untersuchungen können in vielerlei Hinsicht aufschlussreich sein. So zeigt z. B. Trepp 2001, S. 47, dass das Fehlen eines Emotionsbegriffs auf die kulturelle Absenz des diesbezüglichen Emotionskonzepts hindeutet. Rosenwein 2010, S. 13 weist aber darauf hin, dass ein Schweigen der Quellen möglicherweise auch der Tabuisierung eines Gefühls geschuldet sein kann. Kaster 2005, S. 6; vgl. auch Konstan 2006, S. 4. Harris 2002, S. 36 schreibt: „The study of classical emotions has been seriously impeded by our failure to realize, with a few noteworthy exceptions, that the relevant Greek and Latin terminology is very unlikely to correspond neatly to modern English usage“; zum Übersetzungsproblem vgl. KONSTAN, David, Translating Ancient Emotions, Acta Classica 46, 2003, S. 5-19; BRAUND, Susanna, Translation, in: Barchiesi, Alessandro / Scheidel, Walter (Hrsgg.), The Oxford Handbook of Roman Studies, Oxford 2010, S. 188-200.
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„narrativer Skripte“ vor, die den sozialen Beziehungen, innerhalb derer sich der jeweilige Emotionsbegriff äußert, sowie den Arten seiner Manifestation Aufmerksamkeit schenken und somit die kulturelle Grundlage des betreffenden Gefühls in den Blick nehmen. Ein Vorteil dieser Verfahrensweise sei, dass man es dadurch vermeidet, unterbewusst moderne Konnotationen auf antike Termini zu transponieren, außerdem würde die Methode auch den interdisziplinären Forschungen zur Sozialität der Gefühle Rechnung tragen.93 Ferner biete das Verstehen der narrativen Skripte die Möglichkeit, bestimmte Emotionen mithilfe einer kulturellen Kontextualisierung selbst dann zu erkennen, wenn der Autor die Empfindung nicht explizit benennt.94 Somit liefert KASTER eine Vorlage für das Herausarbeiten derjenigen sozialen Rahmen, denen wir oben als unverzichtbare Voraussetzung für das Abrufen situativ angemessener Gefühle begegnet sind. Die narrativen Skripte bilden verständlicherweise im zweiten Abschnitt der Arbeit eines der Leitmotive der Textanalyse. Dabei wird freilich keine umfassende Taxonomie der Begriffe angestrebt, vielmehr sollen diejenigen Skripte, die in der forensischen Interaktion Anwendung finden, auf ihre kulturelle und gesellschaftliche Relevanz hin untersucht werden. Konsequenterweise muss auch hier eine Einordnung in übergeordnete Deutungsstrukturen versucht und der Frage nachgegangen werden, auf welche Rahmenbedingungen des spätrepublikanischen Prozesses die Erwünschtheit oder das Verbot bestimmter affektiver Kundgebungen zurückzuführen ist. Die kulturelle Kontextualisierung steht somit im Vordergrund, ein Umstand, der es zudem verbietet, die Analyse auf rein textuelle Aspekte zu beschränken. Performative Elemente, die für die emotionale Kommunikation der Antike konstitutiv waren, und für die spätestens seit der Rezeption des praxeologischen HabitusBegriffs Pierre BOURDIEUs sowie infolge der althistorischen Arbeiten von Egon FLAIG das Bewusstsein geweckt wurde, sollen ebenfalls Berücksichtigung finden und deshalb kurz in einem letzten einleitenden Kapitel vorgestellt werden.
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94
Kaster 2005, S. 8. Konstan 2006, S. 5 sieht die Unterschiede im altgriechischen Vokabular ebenfalls als „grounded […] in the social world specific to the Greeks, which was in important ways unlike our own“. Kaster 2005, S. 10.
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3
Die performative Dimension emotionaler Normen
Neben einer Reihe weiterer „turns“ hat die geisteswissenschaftliche Forschung in den letzten Jahrzehnten laut Doris BACHMANN-MEDICK auch eine performative Wende erlebt. In Anbetracht des wissenschaftlichen Paradigmas, das wir im ersten Abschnitt der Arbeit befolgt haben, scheint es zunächst widersprüchlich, den „performative turn“, der in vielerlei Hinsicht gerade als Gegenentwurf zum „interpretive turn“ entwickelt wurde,95 in unser methodisches Spektrum integrieren zu wollen. Die Hinwendung zur praktisch-performativen Dimension des menschlichen Verhaltens muss jedoch nicht zwangsläufig die bisher besprochenen Modi der Realitätsdeutung exkludieren. Vielmehr erschließt sie ein Feld, das dieser Deutung einen wahrnehmbaren Ausdruck verleiht und die Symbole, jene „bedeutsame Zeichen“96, mit Sinn füllt.97 Deshalb weist BACHMANN-MEDICK auch auf die „vielschichtigen Überlappungen“ hin, die zwischen dem interpretativen und dem performativen Paradigma herrschen.98 Die Theatermetapher, die beiden Ansätzen eigen ist, hat diesbezüglich vielleicht mehr als nur symbolischen Wert.99 Es müssen daher diejenigen Berührungspunkte zur Sprache kommen, die eine Konvergenz nicht nur möglich machen, sondern sogar den optimistischen Schluss zulassen, dass sich die Vorgehensweisen gewissermaßen gegenseitig befruchten könnten. Die Herausarbeitung der Rolle des Performativen für die Wahrnehmungsschemata einer Gesellschaft ist untrennbar mit dem Namen Pierre BOURDIEUs verbunden. Seine in Abkehr von dem Strukturalismus entwickelte Theorie stellt die Suche nach der „Logik der Praxis“ in den Vordergrund.100 Als Schlüssel zum Verständnis dieser Logik dient für BOURDIEU das Konzept des Habitus, oder besser: der „Habitusformen, d. h. Systeme dauerhafter Dispositionen, strukturierte Strukturen, die ge95 96 97 98 99 100
Vgl. Bachmann-Medick 2009b, S. 104-105. Schütz 2004, S. 248. Vgl. Bachmann-Medick 2009b, S. 113. Ebd., S. 106. So sei Letzteres vielfach lediglich eine Erweiterung der „Kultur als Text“-Metapher. Vgl. ebd. mit dem Hinweis auf Victor TURNERs „soziales Drama“. Vgl. Bourdieu 2009, S. 228-317; Bourdieu 1987, S. 147-179; für den akademischen Werdegang BOURDIEUs vgl. Flaig 2002, S. 359-371.
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eignet sind, als strukturierende Strukturen zu wirken [beide Hervorhebungen im Original]“.101 Dies beruht zum einen auf der Verneinung der deterministischen Prämisse, dass Menschen allmächtigen verhaltenssteuernden Regeln unterliegen, zum anderen wird dadurch auch postuliert, dass das Handeln der Akteure bei aller Gestaltungsfreiheit denjenigen Grenzen verpflichtet ist, die von den objektiven Strukturen vorgegeben werden. Somit rückt BOURDIEU ein „dialektische[s] Verhältnis“102, nämlich die „Dialektik zwischen Interiorität und Exteriorität [kursiv im Original]“103 in den Mittelpunkt, eine nicht unerhebliche Parallele zum Spielraum, den wir oben in der Befolgung der Normen durch die Gerichtsredner beobachten konnten. Die Habitusformen bringen einerseits spezifische Handlungen hervor, sie bedingen andererseits auch deren Wahrnehmung und Einschätzung.104 Dies geschieht unbewusst, indem die Verhaltensmuster durch die sozialisatorischen Mechanismen internalisiert werden, sie sich jedoch den kognitiven Auslegungen durch die Beteiligten entziehen.105 Der Habitus sucht also nach der „Bedeutung des Impliziten, dessen, was die Akteure nicht aussprechen, aber bei ihren Handlungen als gültig voraussetzen“.106 Vergangene Erfahrungen bestimmen auch hier die Erwartungen an eine Situation, so dass sie zugleich reproduktiv auf zukünftige Ereignisse wirken.107 Somit sind die habituellen Dispositionen soziale Konstrukte, die dadurch einen „Sinn“ erhalten, dass ihnen eine bestimmte, von den Akteuren nicht zwangsläufig bewusst wahrgenommene Funktionalität zukommt.108
101 102 103
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106 107 108
Bourdieu 2009, S. 165; vgl. auch Bourdieu 1987, S. 98. Bourdieu 2009, S. 147. Ebd., S. 164; vgl. ferner ebd., S. 147-148, 182; Flaig 2002, S. 372; Kastl 2007, S. 380; zur Interdependenz von Zwang und Gestaltungsfreiheit der Gestik s. auch Wulf 1997, S. 521-522. Vgl. Kastl 2007, S. 379; Flaig 2002, S. 372. Ebd., S. 369. Bourdieu 2009, S. 179 weist darauf hin, dass wir es mit einer objektiven Motivationalität zu tun haben, die den subjektiven Sinnzuschreibungen der Handelnden übergeordnet ist. Flaig 2002, S. 369. Vgl. Bourdieu 1987, S. 101-102. Vgl. ebd., S. 97.
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Diese Erkenntnis positioniert das Konzept gleichzeitig in das jeweils charakteristische kulturelle Umfeld.109 Habitusformen sind das Ergebnis kultureigener Deutungsschemata und „transportieren eine historische Semantik“.110 Für unsere Zwecke relevant ist die Ausrichtung der Theorie BOURDIEUs auf die „Somatisierung fundamentaler Prinzipien einer sozialen Ordnung“,111 so dass der körperliche Ausdruck bei ihm essenziell für das Mitteilen der Bedeutung wird. Dazu bedient er sich eines aus der griechischen Antike entlehnten Begriffes: „Wie das Ethos oder der Geschmack […] die wirklich gewordene Ethik oder Ästhetik darstellen, so ist auch die Hexis der wirklich gewordene einverleibte Mythos, die dauerhafte Art und Weise, sich zu geben, zu sprechen, zu gehen, und darin auch: zu fühlen und zu denken; dergestalt findet sich die gesamte Moral des Ehrverhaltens in der körperlichen Hexis zugleich symbolisiert wie realisiert [sämtliche Hervorhebungen im Original]“.112 Gestik, Mimik, ja manchmal sogar scheinbare Instinktreaktionen sind zumeist das Ergebnis einer kulturellen sowie historischen Codierung und Konditionierung.113 So weist Egon FLAIG darauf hin, dass in BOURDIEUs Theorie nicht die „Sprache“, sondern das „Sprechen“ elementar ist, also das auf konventionalisierte Gebärden zurückgehende Vehikel zum Kommunizieren von Sinn.114 Emotionale Haltungen bilden die Basis dieser Gesten und werden dadurch versinnbildlicht. Sind die kulturell konnotierten Gefühle gesamtgesellschaftlichen Sinnzuschreibungen unterworfen und mit entsprechenden Sanktionen belegt, so manifestiert sich im Gestus auch die Relevanz der durch ihn illustrierten Wertvorstellung.115 109 110 111 112 113 114
115
Vgl. ebd., S. 181, 188; s. auch Flaig 2005, S. 221. Ebd., S. 210. Kastl 2007, S. 378. Bourdieu 2009, S. 195. Vgl. Le Barre 1981, S. 168; Wulf 1997, S. 516-517. Vgl. Flaig 2002, S. 378; s. auch Le Barre 1981, S. 163: „Die Sprache der Gesten […] ist eine Mixtur von physiologisch bestimmten Reaktionen und kulturellen Handlungen, und es ist schwierig, wenn nicht unmöglich, beide zu trennen“; für ihre Bedeutung in der antiken Kommunikation vgl. auch Achard 2006, S. 39-40. Vgl. Flaig 2005, S. 221; s. auch Wulf 1997, S. 520: „Gesten sind wichtige Elemente sozialer Interaktion. Sie geben Auskunft über zentrale Werte einer
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Pierre BOURDIEU hat seine Theorie zugleich um ein wichtiges Konzept erweitert. Es handelt sich hierbei um die „sozialen Felder“, auf denen unterschiedliche Spielregeln herrschen und folgerichtig verschiedene Habitusformen zum Tragen kommen bzw. unterschiedliche „Kapitalsorten“ eingefordert werden,116 ohne dabei eine Auffächerung der habituellen Verhaltensweisen des Einzelnen vorauszusetzen oder gar möglich zu machen. Infolgedessen ist ihm mitunter von den Anhängern der Rollentheorie vorgeworfen worden, dass ein hegemonial ausgerichteter Habitus-Begriff die Tatsache verkennt, „daß die Akteure über mehrere Habitus verfügten“,117 d. h. dass sie sich zwischen den Feldern so bewegen, dass auch die Zurschaustellung unterschiedlicher Kapitalsorten von ihnen erwartet werden kann. Die Kritik, die FLAIG mit dem Hinweis auf eine „oberflächliche“ Betrachtung und eine „Fragmentierung“118 der Individuen zurückweist, darf aber nicht so leicht ignoriert werden. Obwohl seine Verbindung zwischen Erfolgsaussichten auf einem sozialen Feld einerseits und Engagement auf dem selbigen andererseits zweifellos richtig ist, trifft eine Hierarchisierung nicht immer zu. So ist das Kapital, das bei einem Gerichtsredner vorausgesetzt wird, nicht zwingend mit demjenigen identisch, das dieselbe Person in ihrer politischen Tätigkeit an den Tag legen muss, wobei es kaum wahrscheinlich ist, dass das Engagement Ciceros auf einem dieser Gebiete darunter zu leiden hatte. BOURDIEUs Erkenntnis, dass verschiedene soziale Felder auch zu unterschiedlichen (internalisierten) Erwartungen und Verhaltensweisen führen, büßt aber durch ein gewisses „Fragmen-
116
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Gesellschaft und erlauben einen Einblick in ihre ‚Mentalität‘“; vgl. ferner ebd., S. 521. Ein theoretischer Vorschlag zur Zusammenführung einer auf William REDDY basierenden Ausprägung der Emotionsgeschichte und BOURDIEUs Praxeologie stammt von SCHEER, Monique, Are Emotions a Kind of Practice (and is that what makes them have a History)? A Bourdieuian Approach to Understanding Emotion, History and Theory 51, 2012, S. 193-220. Vgl. dazu Flaig 2002, S. 373; ebd., S. 375 macht der Autor deutlich, dass es für die Forschungspraxis unerlässlich ist, die „Zwänge des Feldes“ zu verstehen; für die Verbindung von Habitus und sozialen Klassen s. auch Kastl 2007, S. 376-377. So Flaig 2002, S. 381 in seiner Antwort auf diese Kritik. Ebd.
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tieren“ und das Zugeständnis eines „rollenspezifischen“ Habitus nichts von ihrer Attraktivität ein.
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VI Die normative Bedingtheit der Affektivität 1
Emotionen und forensische Praxis
Kehren wir zur Antike zurück, so drängt sich die Vermutung auf, dass die Idee eines „performative turn“ vielleicht nicht ganz neu ist. Wir können dies zunächst an dem Begriff der ἕξις festmachen, die bereits Aristoteles als das gebotene Maß der Zurschaustellung von Emotionen bezeichnet und damit zweifelsohne den Hintergrund der dem Gedanken der Angemessenheit inhärenten sozialen Sanktionierung im Sinn hat.1 Für die Erforschung der performativen Aspekte einer Gerichtsrede ist die rhetorische Theorie freilich der erste Anlaufpunkt. Cicero zitiert Demosthenes des Öfteren mit den Worten, dass der Vortrag für einen Redner an erster, zweiter und dritter Stelle stehen müsse.2 Dies entspricht selbstverständlich auch den Überzeugungen des römischen orator. Wiederholt verkündet er, dass eine gut vorgetragene Rede trotz dürftigen Inhalts beim Publikum weit mehr erreichen kann als Gedankenfülle ohne performatorische Substanz.3 Quintilian geht diesbezüglich sogar einen Schritt weiter und gesteht einem schlechten Vortrag die Macht zu, alle anderen Vorzüge einer oratio außer Kraft zu setzen.4 Diese Stellen alleine reichen schon aus, um dem performativen Moment der antiken Rede einen mindestens ebenso großen Stellenwert wie dem sprachlichen Gesichtspunkt beizumessen. Tatsächlich waren beide Aspekte mitunter komplementär. Gregory ALDRETE hat festgestellt: „When a Roman spoke before an audience, he was simultaneously com1 2 3 4
Aristot. eth. Nic. 1105b25-28. Cic. de or. 3,213; Cic. or. 56; Cic. Brut. 142; s. auch Quint. inst. 11,3,6. Vgl. Cic. de or. 3,213; Cic. or. 56; s. auch Rhet. Her. 3,19. Quint. inst. 3,3,3. An anderer Stelle sagt Quintilian, ihm sei eine mittelmäßige Rede, die von einem guten Vortrag begleitet wird, lieber als die beste Rede ohne diesen Vorzug (inst. 11,3,5).
municating in two languages, one verbal and one nonverbal, and the messages the two conveyed could be identical, complementary or different“.5 Daher ist es nur konsequent, wenn Cicero einen Begriff verwendet, der auch in das moderne Vokabular Einzug gehalten hat: den der Körpersprache.6 Die Relevanz eines emotional aufgeladenen Vortrages kann anhand zweier Geschichten aus Ciceros Brutus exemplifiziert werden. Im Jahre 138 v. Chr. ist ein senatus consultum erlassen worden, das die Konsuln damit beauftragte, die ominösen Morde im Sila-Wald, denen eine Reihe führender Bürger der Gegend zum Opfer gefallen waren, zu untersuchen.7 Um das Verbrechen aufzudecken, ist vermutlich eine quaestio extraordinaria eingerichtet worden.8 Die Verteidigung der angeklagten Pächter übernahm Laelius. Trotz seiner fundierten und sachlichen Darstellung ist die Verhandlung von den Konsuln nicht nur beim ersten Mal, sondern auch nach der zweiten Sitzung, in der Laelius „noch sorgfältiger und besser“ sprach, vertagt worden.9 Nun schien dieser begriffen zu haben, woran es lag, dass seine Ausführungen keinen Erfolg hatten, und er riet seinen Klienten, einen geeigneteren Anwalt zu verpflichten. Diese Eignung hat Laelius auf eine besondere Qualität zurückgeführt: Er glaube aber, gerade in diesem Falle könne die Verteidigung nachdrücklicher und wirkungsvoller von Servius Galba geführt werden, weil jener seine Reden mit größerem Feuer und mit mehr Schärfe halte.10
So folgten die Pächter seinem Rat und Galba, nachdem er nur eine Nacht zur Vorbereitung hatte, erschien vor den Konsuln: 5 6 7
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Aldrete 1999, S. 6. Cic. de or. 3,222 (sermo corporis); ähnlich auch Cic. or. 55 (eloquentia corporis). Cic. Brut. 85; vgl. dazu ERMANN, Joachim, Strafprozeß, öffentliches Interesse und private Strafverfolgung. Untersuchungen zum Strafrecht der römischen Republik, Köln u. a. 2000, hier: S. 118-122. Vgl. Kunkel 1962, S. 26, der den Prozess in das Jahr 136 v. Chr. verlegt; s. auch ebd., S. 59; vgl. Jones 1972, S. 29, 54-55; Gruen 1968, S. 29; Robinson 1995, S. 42. Cic. Brut. 86: […] multo diligentius meliusque […] Cic. Brut. 86: Sed se arbitrari causam illam a Ser. Galba, quod is in dicendo ardentior acriorque esset, gravius et vehementius posse defendi.
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Kurz, unter größter Spannung, vor zahlreichen Zuhörern, vor Laelius selbst führte Galba seine Sache mit solcher Intensität und solchem Nachdruck, dass nahezu nicht ein einziger Teil der Rede ohne Beifall blieb. Und auf seine vielen Klagen hin und durch das Mitleid, das er zu erregen wusste, wurden die Steuerpächter unter allgemeiner Zustimmung an jenem Tage von der Anklage freigesprochen.11
Galbas Erfolg bekräftigt die Aussagen des Demosthenes. Laelius, der ja schon wegen der längeren Einarbeitungszeit die Umstände des Falles zweifellos besser kannte, hatte es nicht geschafft, die Hörer auf einer emotionalen Ebene zu erreichen, eine Unzulänglichkeit, die gleichsam die Wirkung der gesamten Rede entschärfte. Das zweite Beispiel entnimmt Cicero, nicht ohne ein gewisses Mitleid für sein damaliges Opfer zu empfinden, der eigenen Biographie. Höchstwahrscheinlich im Jahre 64 v. Chr. brachte M. Calidius seinen Erzfeind, Q. Gallius, wegen ambitus vor Gericht.12 Letzterer soll kurz vor der Verhandlung noch versucht haben, diese durch die Vergiftung des Anklägers abzuwenden. Somit sprach alles – nicht zuletzt auch das normativ richtige Motiv der inimicitia – für den Kläger.13 Zudem brachte dieser stichhaltige Beweise vor und verhielt sich in seiner Anklagerede auch sonst besonders gewissenhaft.14 Allerdings unterlief ihm ein Fehler, der wahrscheinlich auch zur Folge hatte, dass Gallius letzten
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Cic. Brut. 88: Magna exspectatione, plurumis audientibus, coram ipso Laelio sic illam causam tanta vi tantaque gravitate dixisse Galbam, ut nulla fere pars orationis silentio praeteriretur. Itaque multis querelis multaque miseratione adhibita socios omnibus adprobantibus illa die quaestione liberatos esse. Die Anekdote untermauert zudem die eminente Bedeutung der von der corona zur Schau gestellten emotionalen Reaktion. Zur Datierung der Anklage vgl. Crawford 1994, S. 145-147; Alexander 1990, S. 107, Anm. 1. Zur Feindschaft zwischen den Gallii und den Calidii, die nicht nur auf diesen Prozess beschränkt war, vgl. Gruen 1974, S. 269-270. Ganz im Sinne des oben aufgezeigten Musters von Rache und inimicitiae ist Calidius später (51 v. Chr.) seinerseits von den Gallii angeklagt worden; vgl. ebd., S. 270; Crawford 1994, S. 147. Cic. Brut. 277.
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Endes freigesprochen wurde.15 Im Brutus zitiert Cicero aus seiner eigenen Rede: Würdest du derartige Dinge so vortragen, Marcus Calidius, wenn du dir sie nicht nur aus den Fingern gesogen hättest? Wo du doch mit deiner Eloquenz fremde Menschen so oft, so nachdrücklich gegen ihre Gefahren verteidigst – willst du da deine eigene Gefährdung nicht ernst nehmen? Wo waren denn die Zeichen der Entrüstung? Wo die Erregung, die doch selbst unberedten Geistern Rufe und Klagelaute entlockt? Dein Gemüt blieb unbewegt, und ebenso dein Körper: kein Schlag gegen die Stirn, auf den Schenkel, nicht einmal – was doch das wenigste wäre – ein Aufstampfen mit dem Fuße! Unseren Zorn zu entflammen? Weit gefehlt: Wir konnten uns ja während jener Stelle nur mit Mühe vor dem Einschlafen retten!16
So scheinen diese Passagen zunächst die Thesen des ersten Abschnittes zu entkräften. Müssen iustitia und aequitas nicht auf der Strecke bleiben, wenn es ausreicht, durch Schläge auf die Stirn oder auf die Schenkel den Freispruch zu erwirken? Um uns jedoch nicht dem Risiko einer vorschnellen oder anachronistischen Schlussfolgerung auszusetzen, sollen die Hintergründe dieses Verhaltens näher betrachtet werden.
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Eindeutige Belege dafür fehlen, doch scheint der Prozess mit einem Freispruch geendet zu haben; vgl. Gruen 1974, S. 270; Alexander 1990, S. 107. Crawford 1994, S. 147-148 vermutet dagegen, dass die spätere Klage gegen Calidius auf eine Verurteilung des Gallius hindeutet: „otherwise there would be little to avenge“ (ebd., S. 148). Cic. Brut. 278: Tu istuc, M. Calidi, nisi fingeres, sic ageres? Praesertim cum ista eloquentia alienorum hominum pericula defendere acerrume soleas, tuum neglegeres? Ubi dolor, ubi ardor animi, qui etiam ex infantium ingeniis elicere voces et querelas solet? Nulla perturbatio animi, nulla corporis, frons non percussa, non femur; pedis, quod minimum est, nulla supplosio. Itaque tantum afuit ut inflammares nostros animos, somnum isto loco vix tenebamus. Die Begebenheit wird auch bei Val. Max. 8,10,3 erzählt; s. auch Quint. inst. 11,3,155; vgl. Aldrete 1999, S. 15; allgemein zum pro Gallio vgl. Crawford 1994, S. 145-158. Auf ein ähnliches Erklärungsmuster führt Cicero die Verurteilung des P. Rutilius Rufus zurück, der stoisch blieb und sich geweigert hatte, an das Mitleid der Richter zu appellieren (de or. 2,227230).
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Man muss vor allem danach fragen, welchen gesellschaftlichen Stellenwert bzw. „Sinn“ die von Cicero geschilderten Performanzen hatten. Einen ersten Ansatzpunkt bieten diejenigen Passagen, die sich mit den Konsequenzen affektiver Kundgebungen beschäftigen. Cicero hat sich des Öfteren damit gerühmt, sein Talent, die Emotionalität der Hörer anzusprechen, hätte maßgeblichen Anteil an seinem Erfolg gehabt. Man darf daraus aber nicht ableiten, dass er das Auditorium ausschließlich durch „rationale“ Argumente zu „irrationalen“ Reaktionen bewegt hätte. Vielmehr war es die eigene zur Schau gestellte Betroffenheit und insbesondere die Echtheit seiner Empfindungen, die implizit auf das Publikum übertragen wurden17 und dazu führten, dass er die Prozesse non ingenio, sed dolore gewann.18. Für das Hervorrufen von Gefühlen bei den angesprochenen Hörern war die emotionale Performanz nicht nur hilfreich, sondern dringend erforderlich.19 Die rhetorische Theorie weist unentwegt darauf hin, dass nur diejenigen Redner auf eine solche Resonanz stoßen, die auch entsprechende Affekte vorleben können.20 Diese Feststellung lässt vorerst lediglich den evidenten Schluss zu, dass die Botschaft, die der orator mithilfe seiner Gefühle zu vermitteln beabsichtigt, auch die gesellschaftliche Akzeptanz des dadurch beeinflussten Publikums gewinnen muss, sie sagt aber noch nichts über die Praxis an sich aus.21 Eine emotionale Ansteckung, wie sie kulturübergreifend beobachtet werden kann, liefert selbstverständlich keine Erklärungen. Allerdings haben sich die antiken Autoren zusätzlich zu den pragmatischen Vorgaben auch mit dem Thema der Zuhörerpsychologie 17 18
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Cic. or. 132. Cic. or. 130; vgl. auch Quint. inst. 6,2,26, wo gesagt wird, dass es sogar lächerlich wirke, eine Rede ohne die dazugehörigen Performanzen vorzutragen. Vgl. Cic. de or. 2,73. Cic. de or. 2,190; 3,223; Cic. or. 99; Quint. inst. 11,3,2; vgl. auch Neumeister 1964, S. 158, 162. Graf 1991, S. 40 merkt zu Recht an, dass die Gestik des Redners vor allem an die Emotionen, nicht an die Vernunft der Zuhörer appelliert. Corbeill 2004, S. 110 unterstreicht – mit einem expliziten Hinweis auf BOURDIEU –, dass Ciceros Reden gerade wegen ihrer Ausrichtung auf die Zustimmung des Publikums tiefe Einblicke in römische Vorstellungen über Körperlichkeit gewähren.
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beschäftigt. Greifen wir auf die Implikationen der oben vorgestellten Emotionstheorien zurück, werden insbesondere diejenigen Quellenaussagen relevant, die auf die – im wahrsten Sinne – Signifikanz der Emotionen eingehen. Im De oratore erteilt Cicero die Anweisung, den Tonfall bei Bedarf an die Gefühle des Zorns oder des Mitleids anzupassen, da diese Affekte vornehmlich an der Stimme festgemacht werden könnten.22 Ähnlich rät er auch im Orator dazu, mit scharfer Stimme [zu] sprechen in den heftigen Partien und mit gesenkter in den ruhigen; will er [scil.: der Redner] Würde zeigen, mit tiefer Stimme, geht es um Rührung, mit bewegter.23
Die Stimmlage muss sich also denjenigen Emotionen anpassen, die der Redner kommunizieren möchte.24 Im Umkehrschluss bedeutet dies selbstverständlich, dass im Zuge des Kommunikationsprozesses keine Missverständnisse entstehen dürften. Die (nicht nur bei BOURDIEU) postulierte kulturelle Codierung körperlicher Signifikanten ist in diesem Zusammenhang elementar. Bevor eine externalisierte Gebärde den Hörer unbewusst auf die dazugehörige Sinnzuschreibung schließen lässt, muss er die Empfindung, die hinter dem betreffenden kulturellen Code steckt, erst erkennen. In den emotionalen Kundgebungen spiegeln sich somit die Konventionen der Gesellschaft über die richtige somatische Symbolik eines bestimmten Gefühls wider. Dieser Wiedererkennungswert ist, trotz vielfacher Überschneidungen, ein zutiefst kulturelles Phänomen, das, um es mit BOURDIEU zu sagen, zum Habitus (oder besser:
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Cic. de or. 3,217; eine systematische Behandlung der Stimme und Körperhaltung nimmt auch Rhet. Her. 3,20-27 vor; s. insbesondere Rhet. Her. 3,22. Hall 2010, S. 223 macht darauf aufmerksam, dass die Stimme sowohl das eigene Gefühl kommunizieren als auch diese Empfindung bei den Hörern hervorrufen möchte; vgl. auch Cic. Brut. 188 für eine Liste der Emotionen, die durch eine passende Vortragsweise evoziert werden können; vgl. allgemein dazu SCHULZ, Verena, Die Stimme in der antiken Rhetorik, Göttingen u. a. 2014. Cic. or. 56: […] et contenta voce atrociter dicere et summissa leniter et inclinata videri gravis et inflexa miserabilis. Cic. or. 55; vgl. auch Graf 1991, S. 41-42.
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zur Hexis) der Interaktionsteilnehmer gehört und es dem Redner möglich macht, illokutionäre Botschaften widerspruchsfrei zu übertragen.25 Das Publikum interpretiert zwar mithilfe der gesellschaftlichen Konventionen das Verhalten oder die Stimme als Ausdruck eines bestimmten Affekts, doch damit ist die erfolgreiche Persuasion noch nicht gewährleistet. Den Rahmen, der es der Performanz ermöglicht, auf eine positive Resonanz zu stoßen, bilden die geltenden sozialen Normen, oder anders: das decorum, das sich gleichermaßen im Körperlichen, in der Sichtbarmachung oder Unterdrückung passender sowie unerwünschter Gefühle manifestiert.26 Diese Ausprägung des Schicklichen ist dabei weder von seinem „rationalen“ Verständnis unabhängig noch bloße Unterkategorie, sondern sie ermöglicht dieses überhaupt erst, indem sie die inneren Werte und die Normkonformität kommunizierbar macht. Das decorum äußert sich für Cicero in Worten, Taten und Bewegungen des Körpers.27 Analog zu seinem sachlichen Pendant ist das körperliche decorum ebenfalls dem Diktat der Kohärenz unterworfen. Damit ist aber nicht nur die Übereinstimmung zwischen der gezeigten 25
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Aldrete 1999, S. 50-53 unterstreicht, dass das römische Publikum eine sehr gute Kenntnis der rhetorischen Gesten hatte; vgl. auch Connolly 2007, S. 140, die, in Übertragung der Metapher, den Körper des Redners als einen „Text“ sieht, den es sich zu lesen lohnt; s. auch ebd., S. 139; zur kulturellen Codierung der Gestik in Rom vgl. ferner Graf 1991, S. 51-52. Ebd., S. 44 erkennt der Autor die soziale Funktion der Gestik darin, dass sie die Erwartungen des Publikums an den idealen Redner widerspiegelt. So sieht Gunderson 2000, S. 61 den Körper auch insofern als „sozial“, als er die von der Gesellschaft sanktionierten Normen wiedergeben muss; vgl. ebd., S. 60-61 für das Körperliche als Zeichen eines vir bonus. So werden emotionale Vorschriften in Cic. off. 1,100-102 eindeutig als Teil des decorum behandelt. Ebenso legt Quintilian dem Vortrag wie auch der gesamten Rede das aptum zugrunde (inst. 11,3,30). Connolly 2007, S. 170 betrachtet das decorum als primär ästhetische Qualität, die durch Sehen und Hören wahrgenommen wird; vgl. auch Elster 2002, S. 5 für das Sichtbarmachen einer Emotion als Ziel der sozialen Norm. Cic. off. 1,126; explizit als Ausdruck des decorum findet diese Vorgabe bei Cicu 2000, S. 144 Erwähnung. Primär solle der Redner dabei den Eindruck der mollitia vermeiden (Cic. off. 1,129; Cic. or. 59; s. auch Quint. inst. 11,1,8); vgl. allgemein dazu EDWARDS, Catherine, The Politics of Immorality in Ancient Rome, Cambridge 1993, hier: S. 63-97.
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Geste und der Norm, auf die daraus geschlossen wird, gemeint, im forensischen Kontext wird vielmehr eine Trias von Gebärde, gesprochenem Wort und Wertvorstellung essenziell. Glaubwürdigkeit erhält eine Botschaft nur dann, wenn sie einen Gleichklang zwischen Affekt und Gesagtem herstellt.28 Erst in diesem Zusammenspiel wird das forensische decorum zu einem herausragenden Instrument der Persuasion, umgekehrt aber führt die Dezidiertheit dieser Bestimmung dazu, dass diesbezügliche Misstöne das unweigerliche Scheitern nach sich ziehen.29 Die emotionale Kohäsion visiert aber auch noch einen zweiten Bereich an, der sie für die folgenden Kapitel besonders interessant macht. Sie wird nämlich explizit mit gewissen Positionen oder Situationen in Verbindung gebracht, die eine entsprechende Verhaltensweise einfordern. Dies betrifft zunächst die Affekte, die den Vortrag begleiten und sich an den jeweiligen – schlichten, mittleren oder hohen – Stil der Rede anpassen müssen.30 Mindestens ebenso wichtig ist jedoch die Beachtung des Publikums, auf dessen soziale Stellung man auch aus emotionaler Perspektive Rücksicht nehmen muss,31 und insbesondere die der eigenen Rolle, die ebenfalls ein Set an affektiven Erwartungen beinhaltet. Die Rollenkonsistenz wird auch hier elementar, wenn Cicero sagt, dass selbst die unterschiedlichen Stilarten sich nach der Natur und dem
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Vgl. Cic. part. 25; Quint. inst. 11,3,61; s. auch Fögen 2009, S. 24, 26; Hall 2010, S. 222. Die falschen Indikatoren führen laut Quint. inst. 11,3,67 zwangsläufig zum Verlust von fides und auctoritas – die Glaubwürdigkeitsattribute der sozialen Rolle schlechthin; vgl. auch Müller 2011, S. 105-106. Cic. or. 86. In Cic. or. 42 wird zwar der prunkvolle Stil des Isokrates gelobt, zugleich aber als für das Forum unpassend erachtet; s. auch Quint. inst. 11,3,58; Cic. de or. 2,183; vgl. dazu Neumeister 1964, S. 186; Cicu 2000, S. 143. So ist für Cicero ein richtig verstandener Attizismus auch derjenige, der nicht einfach nur auf Redeschmuck verzichtet, sondern es als Zeichen des decorum vermeidet, Übertriebenes in die Rede einzubauen (or. 29). Exemplarisch für die Bedeutung der emotionalen Kohärenz ist die Anekdote über C. Gracchus, der stets einen Mann im Publikum beauftragt haben soll, ihn mittels einer Pfeife darauf aufmerksam zu machen, wenn sein Stil zu heftig oder unpassend wurde (vgl. Cic. de or. 3,225; Gell. 1,11,15-16; Val. Max. 8,10,1). Cic. de or. 3,210-211; Quint. inst. 11,1,43; 11,3,150.
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Charakter des Redners richten.32 Dabei können – und müssen – alle äußeren Eindrücke zu Signifikanten werden. Laut Cicero kommt nach der Stimme der Mimik die zweitwichtigste Rolle für das Kommunizieren eines Gefühls zu,33 gefolgt von einer zur Botschaft passenden Gestik.34 Der eminente Platz, den die Konkordanz zwischen Aussage und Gefühl innerhalb der rhetorischen Theorie einnimmt, kann aber in seiner gesamten Tragweite nur gewürdigt werden, wenn man den dritten Aspekt der Konzeptualisierung von Emotionen in Rom ergänzend hinzuzieht. Die rhetorische amplificatio, die untrennbar mit dem Evozieren und der Performanz von Gefühlen verbunden ist, wird in den theoretischen 32
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Cic. or. 52. Ähnlich sieht Quintilian die Beachtung des decorum nur dann als gewährleistet, wenn der Redner seinem gesamten Wesen treu bleibt (inst. 11,3,177); vgl. ferner Rhet. Her. 3,26. In rollentheoretischer Manier weist Corbeill 2004, S. 71 auf das geschlechterspezifische decorum in Rom hin; vgl. auch Wulf 1997, S. 519. Connolly 2007, S. 142-143 zeigt, dass der Körper in Rom auch zur Bestätigung des eigenen Status in der Gesellschaft diente; vgl. Quint. inst. 11,3,74, der anhand der Rolle des Vaters in der Komödie den Wiedererkennungswert der Emotionen, aber auch die positionsbezogene Angemessenheit exemplifiziert. Freilich ist das rollenspezifische emotionale decorum ebenfalls historischem Wandel unterworfen. Einen solchen könnte man hinter der Aussage Quintilians vermuten, dass Schläge auf die Stirn eher auf die Theaterbühne als zum Forum gehörten (inst. 11,3,123). Wie an der Calidius-Anekdote zu sehen ist, war diese Gebärde zur Zeit der späten Republik zweifellos eine aussagekräftige und normativ erlaubte affektive Performanz. Cic. de or. 3,223; vgl. auch Cic. or. 60, wo die Ausdruckskraft der Augen hervorgehoben wird: nam ut imago est animi vultus, sic indices oculi; ähnlich Cic. leg. 1,27; vgl. auch Cic. or. 55; Cic. de or. 3,221; Quint. inst. 11,3,72 und 75; für die Verbindung von Gestik, Mimik und decorum vgl. Fögen 2009, S. 28. Vgl. Cic. de or. 3,220; Rhet. Her. 3,26-27; Quint. inst. 11,3,85. Eine ausführliche Behandlung der angemessenen Gesten findet sich bei Quint. inst. 11,3,92-106; vgl. die detaillierte Analyse dieser Gebärden bei Aldrete 1999, S. 8-18, 36-43 und MAIER-EICHHORN, Ursula, Die Gestikulation in Quintilians Rhetorik, Frankfurt/Main u. a. 1989; s. dazu auch Hall 2010, S. 224-227; Fögen 2009, S. 30-33. Gunderson 2000, S. 75-76 betont den kommunikativen Aspekt der Handbewegungen, die sich, in kultureller Variation, ebenfalls der beabsichtigten Botschaft anpassen müssen.
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Schriften ebenfalls zu einer fundamentalen Taktik, um das Vertrauen (fides) der Hörer zu gewinnen.35 Glaubwürdig zu wirken bedeutet aber auch, dass die emotionale Reaktion des Redners als ein Abbild der Realität wahrgenommen wird.36 Die antike Sichtweise gibt Cicero an einer Stelle seines De oratore wieder: Jede Gemütsregung nämlich drückt sich von Natur aus (a natura) in einem bestimmten Mienenspiel, im Tonfall und der Gebärdensprache aus.37
Somit wird die Zurschaustellung einer Emotion zu einem mehr als nur bewussten kommunikativen Ereignis, vielmehr ist es die natürliche und unabwendbare Folge einer inneren Regung. Dies steht im Einklang mit den oben dargelegten Überzeugungen Ciceros hinsichtlich des Wesens der Gefühle, allerdings wird durch einen Vergleich mit anderen Quellen ersichtlich, dass es den Glaubensvorstellungen der römischen Gesellschaft ebenfalls nicht widersprach. Bei Quintilian wird der Vortrag deswegen essenziell, weil die Menschen selbst von den vorgespielten Gefühlen im Theater gerührt werden, so dass dies umso mehr gelten müsse, wenn es sich um die echten Empfindungen eines Redners handelt.38 Er geht jedoch von der Möglichkeit aus, Emotionen zu simulieren,39 so dass diese Stelle noch keinen Beleg für eine grundsätzliche Authentizitätsprämisse liefert – wenngleich dies aus der Perspektive der Hörer impliziert werden kann. Eine solche Prämisse lässt sich aber in den Schriften Senecas finden, wenn er alle körperlichen Ausdrücke als Indi35
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39
Vgl. Cic. part. 53: Est igitur amplificatio gravior quaedam adfirmatio, quae motu animorum conciliet in dicendo fidem. Die Anlehnung der amplificatio an die „rationale“ Beweisführung wird auch dadurch vorangetrieben, dass sie idealiter die gesamte Rede begleitet und dadurch ebenfalls zur Glaubwürdigkeit beiträgt (vgl. Cic. part. 27). Vgl. dazu auch Connolly 2007, S. 148. Cic. de or. 3,216: Omnis enim motus animi suum quendam a natura habet voltum et sonum et gestum. Quint. inst. 11,3,5. An späterer Stelle wird – quasi als Vorläuferargument zu DARWINs Theorie – der natürliche Ausdruck der Emotionen bei Tieren angeführt und mit dem weit größeren Wiedererkennungswert bei Menschen verglichen (inst. 11,3,67). Quint. inst. 11,3,62.
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katoren für genuine Gefühle betrachtet,40 sowie bei Aulus Gellius, der eine kurze Anekdote über den Schauspieler Polus wiedergibt. Dieser soll seine beste Leistung ausgerechnet dann an den Tag gelegt haben, als er sich wegen einer persönlichen Erfahrung am stärksten mit der Rolle identifizieren konnte.41 Freilich bildet Cicero diesbezüglich keine Ausnahme. Die Begründung der emotionalen Performanzen im De oratore geht mit der Annahme einher, dass bereits seine Vorstellungskraft einen Redner dazu bewegt, die passenden Gefühle auch tatsächlich zu erleben,42 zudem wird die Ehrlichkeit dieser Gefühle mit der „Unaufrichtigkeit“ derjenigen, die im Theater auf die Bühne gebracht werden, kontrastiert.43 Affekte waren im antiken Verständnis die genuine Externalisierung des Innenlebens.44 Folglich hatten auch die emotionalen Performanzen eine betont praktische Zielsetzung. Sie induzierten dem Hörer den Glauben an die Aufrichtigkeit der Emotion und hatten nicht zu unterschätzende Folgen für das Vertrauen, das man der gesamten Rede entgegenbrachte.45 Daraus ergibt sich nicht etwa die theoretische Anweisung, Gefühle bloß zu zeigen, sondern vielmehr die Pflicht, diese tatsächlich zu erleben.46 Somit war auch Cicero zum einen im kulturell geprägten
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45 46
Sen. epist. 52,12. Gell. 6,5. Cic. de or. 2,191. Cic. de or. 3,215. So auch Andersen 2001, S. 128. Wulf 1997, S. 517 weist diesbezüglich auf den Unterschied zwischen Mimik und Gestik hin. Während Letztere erlernbar sei, wäre die Unterdrückung der Mimik nur schwer zu bewerkstelligen; vgl. auch ebd., S. 518-519. Vgl. auch Aldrete 1999, S. 6; Gunderson 2000, S. 63. Vgl. Cic. de or. 2,196. In Cic. de or. 2,189 begründen die stets echten Gefühle des Antonius seine Überzeugungskraft. Aus diesem Gedanken heraus erklärt sich für Cicero auch das Phänomen, dass manche Redner schlechter schreiben als sie reden. Während sie auf der Bühne nämlich von Emotionen ergriffen werden, kann sich Ähnliches beim Schreiben nicht einstellen, was implizit Auswirkungen auf die Qualität der publizierten oratio hätte (Brut. 93). Quintilian merkt an, dass die Hochwertigkeit der Vorträge des Hortensius von der schriftlichen Überlieferung seiner Reden nicht widergespiegelt wird (inst. 11,3,8).
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Wissensvorrat gefangen, zum anderen versuchte er, diesen bestmöglich für seine Zwecke zu instrumentalisieren. Die drei oben vorgestellten Charakteristika bilden die Prämissen der emotionalen Interaktion im spätrepublikanischen Rom. Der kulturimmanente Wiedererkennungswert, die normative Integration des Gezeigten wie auch die Vorstellung einer weitgehenden Authentizität der kommunizierten Gefühle bedingen und begünstigen auch die affektiven Persuasionsmodi einer Gerichtsrede. Fügen wir die (emotions)soziologischen Voraussetzungen der Motivationalität und kulturellen Sinnhaftigkeit hinzu, können nicht nur die konkreten Ausprägungen der forensischen Gefühlsbekundungen, sondern auch ihre Funktionalität im Kontext der quaestio analysiert werden. Dies soll zunächst am Beispiel der Scham versucht werden, deren Bedeutung für eine erfolgreiche Rede bislang weitgehend vernachlässigt wurde.
2
Verecundia, pudor und das gesellschaftliche Regulativ der Scham
Die Wahl des Schamgefühls als primäres exemplum für forensische Emotionen wird zweifelsohne jeden Leser, der mit den Arbeiten Jakob WISSEs vertraut ist, verwundern. In seiner im Jahre 1989 erschienenen Monographie zu den rhetorischen Strategien des ethos und pathos nahm der Autor eine ausführliche und äußerst fundierte Entwicklungs- und Begriffsgeschichte dieser Konzepte von Aristoteles bis Cicero in Angriff, die in einigen entscheidenden Punkten der communis opinio widersprach.47 Die Gründe, die uns dieses Kapitel mit einem Rückgriff auf jenes Werk beginnen lassen, bedürfen einer kurzen Erläuterung. Eines der Anliegen WISSEs war der von ihm angestrebte Beweis, dass die auf Quintilian zurückgehende Annahme, die römische Rhetorik hätte ethos mit den „milderen Gefühlen“ (leniores affectus) gleichgesetzt, irrtümlich sei.48 Ausgangspunkt seiner Argumentation war die sicherlich zu Recht 47 48
Wisse 1989. Vgl. ebd., S. 223: „The widespread idea that for Cicero ethos denotes the gentle emotions will be shown to be wrong, at least if unqualified“. Der locus classicus für die Gleichsetzung des ethos mit den milden Gefühlen ist
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vorgenommene Entkräftung der von Elaine FANTHAM vertretenen These, die Begriffe würden eine graduelle Tendenz zur Synonymität aufweisen. Allerdings geht WISSE dabei einen Schritt weiter und fasst auch eine Neuevaluierung des ethos ins Auge. Dessen Konzeptualisierung als alle milden Emotionen umfassende Strategie weist er zurück und spricht sich dafür aus, lediglich diejenigen Gefühle darunter zu subsumieren, die direkt mit dem Charakter des Redners oder seines Klienten in Verbindung stehen.49 Dagegen wirft selbstverständlich die Frage, welche Gefühle es – insbesondere im Proömium – überhaupt geben könne, die weder auf Tugenden und Laster der Prozesspartei zurückgehen noch zu den heftigen Emotionen des pathos gehören, einen naheliegenden Zweifel auf. So ist die Beantwortung dieser Frage selbst für WISSE weit weniger ergiebig als erwartet. Durch eine Gegenüberstellung der in Aristot. rhet. 2,2-11 und Cic. de or. 2,206-211 besprochenen Affekte kommt der Autor zu dem Schluss, dass lediglich die Gefühle der Scham und Schamlosigkeit in diese Kategorie fallen könnten.50 Man muss also konstatieren, dass sich die Argumentation letztendlich allein auf die Absenz einer einzigen Emotion stützt, dessen forensische
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50
Quint. inst. 6,2,9: Cautiores voluntatem complecti quam nomina interpretari maluerunt. Adfectus igitur πάθος concitatos, ἦθος mites atque compositos esse dixerunt: in altero vehementes motus, in altero lenes, denique hos imperare, illos persuadere, hos ad perturbationem, illos ad benevolentiam praevalere. Quintilian antizipiert hier auch in bemerkenswerter Manier das Konzept der „narrativen Skripte“, indem er zu erkennen gibt, dass die Übersetzung der griechischen Begriffe ins Lateinische nur durch eine Umschreibung zu bewerkstelligen sei. Wisse 1989, S. 240-241. Ebd., S. 242-243 behauptet der Autor, Cicero würde die milden Emotionen, die nicht mit den Charakterdarstellungen zusammenhängen, vollkommen ignorieren. Ebd., S. 243. Zwar fehlen bei Cicero im Gegensatz zu Aristoteles auch νέµεσις (die WISSE zu Recht in die Nähe der invidia rückt), ζῆλος und καταφρόνησις (die er als typisch griechisch ansieht), außerdem πραότης, χάρις und ἀχαριοτεῑν (die jedoch zum Konzept des Wohlwollens gehören). Folglich zieht auch WISSE den Schluss: „The only candidates in Aristotle for missing in Cicero’s account, gentle emotions not dependent on the orator’s or his client’s character, are therefore αἰσχύνη (‚shame‘) and its opposite“.
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Relevanz WISSE im Folgenden auch infrage stellt.51 Dies macht das Thema wiederum für unsere Zwecke signifikant, da seine Erklärung, die Scham sei in einer Gerichtsverhandlung unerheblich, angesichts der spätestens seit Georg SIMMEL erkannten eminenten Bedeutung dieses Gefühls für das gesellschaftliche Leben befremdlich wirkt. Die These Jakob WISSEs spielt in doppelter Hinsicht für dieses Kapitel eine Rolle. Zunächst soll danach gefragt werden, ob die Scham grundsätzlich aus dem rhetorischen Repertoire zu verbannen ist oder ob nicht etwa ein Gesamtblick auf ihre soziale Funktion vonnöten wäre, um die Manifestationen dieses Gefühls auch in der Praxis zu erkennen. Erweist sie sich als forensisch relevant, kann anschließend im Wesen der Emotion selbst und in ihren gesellschaftlichen Assoziationen nach den Gründen für die Diskrepanz zwischen der Theorie des Aristoteles und dem Schweigen Ciceros geforscht werden. Hierbei ist den in einem früheren Kapitel postulierten Vorgaben zu folgen und von dem kulturell konnotierten Vokabular der Römer selbst auszugehen. Die gedankliche Nähe zur modernen Terminologie der Scham wird vornehmlich durch die Begriffe verecundia und pudor ausgedrückt, wenngleich auch diese keine semantische Exklusivität beanspruchen können.52 Eine Analogie zu heutigen Verhältnissen wird darin ersichtlich, dass im modernen Sprachgebrauch ebenfalls eine Nuancierung anhand von Bezeichnungen
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Ebd.: „But shame, whether strong or not, seems to play a very small part in rhetorical situations“. In der betreffenden Fußnote (S. 243, Anm. 84) fährt er fort: „It seems virtually useless in the judicial branch, and the arousing of shame in deliberative speeches, though certainly not out of the question, cannot have been frequent“. Konnotationen der Scham sind auch in anderen Termini enthalten, die entweder auf dazugehörige Verhaltensweisen oder auf die inhärente moralische Bedeutung Bezug nehmen. Da diese Begriffe jedoch in den Reden äußerst selten im Sinne von „Scham“ benutzt werden, sei an dieser Stelle nur auf die diesbezüglichen Forschungen hingewiesen: Stahl 1968, S. 81-92 (moderatio/modestia); ebd., S. 92-96 (temperantia); Vaubel 1969 (reverentia); Barton 2002, S. 213 (disciplina, modestia, temperantia). Steger 1997, S. 57 rückt auch pietas in die Nähe der schambehafteten Konzepte. Somatische und psychologische Vorgänge – wie die Schamröte (rubor) oder das Gewissen (conscientia) – sollen später auf ihre gesellschaftliche Bedeutung hin untersucht werden.
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wie Peinlichkeit, Scheu, Verlegenheit oder Schuld vorgenommen wird.53 Wie bereits gezeigt, implizieren selbst negative Spielarten der Emotionalität keineswegs eine pejorative Verwendung,54 allerdings werfen speziell im Falle der Scham die semantischen Feinheiten mehr Fragen auf als sie Antworten bereitstellen.55 Erschwerend kommt selbstverständlich die zeitlich-kulturelle Distanz hinzu. Der unübersehbare gesellschaftliche Bezug, der diesem Konzept, mit all seinen Konnotationen, inhärent ist, verbietet es, das Gleichheitszeichen zwischen antiker und moderner Terminologie zu setzen. Die Scham orientiert sich an den institutionalisierten Wertvorstellungen einer Kultur, sowohl was den ideellen Gehalt der Empfindung als auch die performativen Regeln betrifft, und sie manifestiert sich in den für die betreffende Gesellschaft typischen sozialen Interaktionen. Anders gesagt: Verecundia und pudor 53
54 55
Vgl. Landweer 1999, S. 43 (Scham vs. Peinlichkeit/Verlegenheit) und S. 4650 (Scham vs. Schuld); Neckel 1991, S. 47-52 (zu Scham- und Schuldkulturen), S. 108 (Scham und Peinlichkeit), S. 110-112 (Scham, Peinlichkeit, Verlegenheit); Shott 1979, S. 1325 (Schuld, Scham, Verlegenheit). Simmel 1983, S. 140 weist darauf hin, dass im Wesen des Scham-Begriffs selbst unterschiedliche Bedeutungen enthalten sein können, „wie eine leichte Derangierung des Anzuges und das Eingeständnis schwerster sittlicher Verfehlungen“, die jedoch letzten Endes ein Gemeinsames aufweisen, „von dem an ein einheitliches Gefühl die Verschiedenheit der Ursprünge auslöscht“; zur Terminologie vgl. auch BLANKENBURG, Wolfgang, Zur Differenzierung zwischen Scham und Schuld, in: Kühn, Rolf u. a. (Hrsgg.), Scham – ein menschliches Gefühl, Göttingen 1997, S. 45-55. Armon-Jones 1986b, S. 72 erwähnt die Scham ausdrücklich als eines der „negativen“ Gefühle, die eine funktionale Rolle haben können. Böhme 1997, S. 526 geht – nicht ganz ohne Ironie und in dialektischer Manier – auf die Prämissen ein, welche die Forschung bereits vor Beginn der Arbeit in Schwierigkeiten bringen (müssten): „Was ist sie [scil.: die Scham]? Ist sie überhaupt ein Gefühl? Manche sagen, sie sei eine körperliche Begleitreaktion eines Gefühls, nämlich der Schuld, oder eines Versagens oder einer Schwäche. Aber ist Schuld ein Gefühl? Unterscheiden wir nicht zurecht zwischen Schuld, die bestehen kann, ohne sie zu empfinden, und Schuldgefühlen, von denen wir durch und durch erfüllt sind? Und gewiß gibt es auch Schuldgefühle, ohne daß wir uns ihrer schämen. Schon gerät die erste Definition ins Schwimmen.“ In den darauffolgenden Zeilen begibt sich der Autor freilich in noch tiefere Gewässer (ebd., S. 526-527).
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unterscheiden sich von den heutigen Schambegriffen vor allem aufgrund von differierenden gesellschaftlichen Strukturen und Schwerpunktsetzungen, die freilich auch zu abweichenden Motivationen der jeweiligen Affekte geführt haben.56 2.1
Definition und gesellschaftliche Funktion der Scham
Dies spricht für die Notwendigkeit, die zeitgenössischen Deutungen – also die Skripte – zu erkennen, die den lateinischen Begriffen zugrunde lagen und ihre zwischenmenschliche Funktionalität konstituierten. Glücklicherweise können wir in diesem Fall nicht nur auf einer Reihe lexikalischer Studien aufbauen,57 sondern insbesondere auf den Forschungen Robert KASTERs, der seine Theorie unter anderem auf verecundia und pudor appliziert und den herausragenden gesellschaftlichen Stellenwert dieser Gefühlsbegriffe hervorgehoben hat.58 Im Folgenden muss also diese Bedeutung ermittelt und, wo moderne Parallelen möglich sind, mithilfe soziologischer Studien weiter ausgebaut werden. Die Konsequenzen der sozialen Signifikanz für die Praxis sollen hingegen im nächsten Unterkapitel anhand der Reden selbst besprochen werden. Im Zuge seiner Analyse der verecundia hat KASTER eine relativ homogene Verwendung des Begriffs festgestellt und die Ergebnisse in einer ausführlichen Definition zusammengefasst, die uns als Arbeitsgrundlage dienen soll. Aus diesem Grund müssen zumindest die wichtigsten Aspekte jener Emotion hier im Wortlaut wiedergegeben werden: „[V]erecundia animates the art of knowing your proper place in every social transaction and basing your behavior on that knowledge; […] verecundia establishes or affirms the social bond between you and others, all of whom (ideally) play complementary roles. […] [T]his means 56
57 58
Zwar soll der Begriff der „Scham“ auch in den nachfolgenden Abschnitten benutzt werden, er muss jedoch – auf die römischen Verhältnisse bezogen – als Ausdruck jener kulturell konnotierten Formen von verecundia und pudor verstanden werden, die wir im Folgenden näher betrachten. Stahl 1968; Vaubel 1969; Thomas 2006; Thomas 2007; Barton 2001; Barton 2002; Lossmann 1967; Döpp 2008. Kaster 2005, S. 13-27 (verecundia) und S. 28-65 (pudor). Vorarbeiten hat der Autor bereits in Kaster 1997 geleistet.
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that you will each gauge your standing relative to the others; you will each present yourself in a way that at least will not give offense […] and that preferably will signal your full awareness of the others’ face, the character they wear in the transaction and the respect that that character is due […]“.59 Pudor stellt dagegen ein komplexeres Gefühl dar, für das sich nichtsdestoweniger einige Kerngedanken festmachen lassen. So können trotz unterschiedlicher Ursprünge die Rahmenbedingungen, die diese Emotion hervorrufen, ausnahmslos auf die Konzepte der dignitas und existimatio zurückgeführt werden, was, ebenso wie im Falle der verecundia, für eine tiefe Verwurzelung im Netz zwischenmenschlicher Beziehungen spricht. Die Empfindung wird durch den drohenden Verlust der oben genannten Attribute evoziert und stellt implizit die Vergegenwärtigung einer sozialen Herabsetzung dar.60 Die Komplexität des pudor lässt KASTER insgesamt sechs Skripte identifizieren, die diesem Gefühl zugeordnet werden können.61 Für unsere Zwecke von Belang ist die vierte Ausprägung, die den schamerweckenden Anlass darin sieht, 59 60
61
Kaster 2005, S. 15. Vgl. ebd., S. 29; s. auch die aristotelische Definition von αἰσχύνη (rhet. 1383b13-15) als „eine Art von Schmerz und Beunruhigung über diejenigen Übel, die einem ein schlechtes Ansehen einzubringen scheinen, seien sie gegenwärtig, vergangen oder zukünftig“ (λύπη τις ἢ ταραχὴ περὶ τὰ εἰς ἀδοξίαν φαινόµενα φέρειν τῶν κακῶν, ἢ παρόντων ἢ γεγονότων ἢ µελλόντων). Für die griechische Konzeptualisierung der Scham grundlegend sind die Werke von CAIRNS, Douglas L., Aidôs. The Psychology and Ethics of Honour and Shame in Ancient Greek Literature, Oxford 1993 und WILLIAMS, Bernard, Scham, Schuld und Notwendigkeit. Eine Wiederbelebung antiker Begriffe der Moral, Berlin 2000. So tritt nach Kaster 2005 ein schamerweckender Verlust des Ansehens in folgenden Fällen ein: (1) ohne eigenes Zutun, als unabwendbare Tatsache („fact of life“) (S. 33-35); (2) ohne eigenes Zutun, aber durch eine Handlung Dritter, die direkten Einfluss auf das eigene Ansehen hat (S. 35-38); (3) ohne eigenes Zutun, jedoch als „Fremdscham“ für die Handlung eines Dritten, zu dem man eine soziale Bindung vorweisen kann (S. 38-42). Während diese drei Skripte eher zur universellen Natur der Scham gehören, erkennt KASTER in den letzten drei jeweils typisch römische Ausprägungen: die eigene Handlung führt (4) zu einer „Erweiterung des Selbst“ (S. 42-45), (5) zu einer devianten Zurückhaltung (S. 45-47) oder (6) zu einer „Herabsetzung des Selbst“ durch eine unwürdige Verhaltensweise (S. 47-48).
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dass man eine sozial ungerechtfertigte Position infolge einer „Erweiterung des Selbst“ anstrebt. Für sich eine höhere Stellung zu beanspruchen geht implizit auf Kosten der Interaktionspartner und führt zu einem – besonders für die Hierarchie römischer Gesellschaftsstrukturen – gefährlichen Ungleichgewicht. Pudor müsste dabei zum einen der Akteur fühlen, dessen Übertretung eine gesellschaftliche Sanktion und somit eine Minderung der existimatio nach sich zieht, zum anderen trifft die Beschämung auch diejenigen Bürger, deren Rang infolgedessen infrage gestellt wird. Relevanz gewinnt dieses Skript angesichts der Tatsache, dass dies der einzige Fall ist, in dem man eine weitgehende Synonymität zur verecundia konstatieren kann.62 Erhält pudor diese Konnotation, werden die Begriffe in vielen Fällen austauschbar und folglich kann auch eine Nähe der sie verursachenden Umstände postuliert werden. Somit müssen die Charakteristika des Skripts als Ergänzung zur obigen Definition hinzugezogen und zu einem Gesamtbild zusammengefügt werden. Zusammenfassend lässt sich also die „Scham“, die uns hier interessiert (verstanden als verecundia und die analoge Ausprägung des pudor), als ein Gefühl definieren, das sich ausschließlich mit Blick auf die sozialen Interaktionen manifestiert63 und zu erkennen gibt, dass man die eigene Position innerhalb des Gesellschaftsgefüges respektiert, indem man für sich nicht mehr in Anspruch nimmt als diese Stellung vorsieht. Spezieller offenbart sie sich dort, wo es sich um komplementäre Rollen in einem Bezugsfeld handelt und eine Übertretung zwangsläufig eine Minderung der Position des Gegenübers zur Folge hätte.64 Rücksicht62 63
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Ebd., S. 63. Allerdings betrifft diese Synonymität nur pudor als Veranlagung, nicht auch als aktives Gefühl. Vgl. ebd., S. 19: „But, beyond being an emotion that social life prompts, verecundia itself is crucial to making social life possible“; vgl. auch Thomas 2007, S. 355. Kaster 2005, S. 63-64 postuliert ebenfalls die Rollenkomplementarität als verbindendes Element von verecundia und pudor in der Form des vierten Skripts. Lossmann 1967, S. 342 sieht jedoch einen elementaren Unterschied zwischen pudor und verecundia darin, dass Ersteres sich unterbewusst und reaktiv manifestiert, während verecundia einer größeren kognitiven Kontrolle unterliegt und somit eine kalkulierte Reaktion darstellt. Dieser Ansicht haben sich auch Stahl 1968, S. 51 und Thomas 2006, S. 360-361, 366-368
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nahme und symbolische Bekräftigung der geltenden Normen durch Zurschaustellung von Akzeptanz bilden die zentralen Motive der Empfindung. Überschneidungen werden auch in der Ausrichtung der Emotionen erkennbar. Obwohl verecundia und pudor vornehmlich zur Stabilisierung der gesellschaftlichen Hierarchie beitragen und somit in erster Linie eine auf höhergestellte Bürger abzielende vertikale Orientierung vorweisen, können sich beide sowohl in einer Interaktion zwischen Gleichgestellten als auch gegenüber Personen mit niedrigerem Status manifestieren.65 Die faktische Synonymie der Begriffe wird folglich zu einem Schlagwort, das sämtliche Beziehungen der Bürger untereinander prägt und auch die Grundlage der „Jovialität“ bildet, die Martin JEHNE als wesentlichen Bestandteil der gesellschaftlich-politischen Kommunikation der res publica identifiziert hat. Aus dieser sozialen Funktion von verecundia/pudor ergeben sich zwei Konsequenzen. Die Scham kann zuweilen als Norm eingefordert werden, wenn der Akteur situativ die Akzeptanz der eigenen Stellung in Relation zu seinem Gegenüber demonstrieren muss. Sie darf also keineswegs als „negative“ Emotion stigmatisiert werden, vielmehr ist in gewissen Interaktionen von ihrer Erwünschtheit auszugehen. Im Vergleich zu heutigen Verhältnissen war sie auch in performativer Hinsicht ein viel stärkerer Indikator für die Normtreue des Handelnden,66 was Carlin BARTON zu Recht veranlasst hat, die Untrennbarkeit der Begriffe
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angeschlossen. Für verecundia und pudor als Sinn für die normativen Grenzen des Verhaltens vgl. auch Thomas 2007, S. 404-407; Thomas 2006, S. 365. Kaster 2005, S. 26-27. In diesem Sinne ist die semantische Divergenz der beiden Begriffe in der Forschung noch ungeklärt. Verecundia als Hauptbegriff für die gesellschaftliche Unterordnung kommt bei Lossmann 1967, S. 337 und Stahl 1968, S. 12 vor, während sie bei Vaubel 1969, S. 77 pudor nur als Ersatz dient. Noch dezidierter Thomas 2007, S. 412, der das hierarchische Element primär in pudor enthalten sieht und verecundia als Oberbegriff für statusübergreifende Interaktionen betrachtet. Carlin BARTON bezeichnet pudor sogar als gesellschaftliche „Fähigkeit“ (vgl. Barton 2001, S. 199); s. auch Barton 2002, S. 217, wo die Autorin darauf hinweist, dass die Beziehungen in Rom in viel stärkerem Ausmaß von emotionalen Kundgebungen geprägt waren: „The Roman did not perpetually have to display a ‚stiff upper lip‘“.
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„Ehre“ und „Scham“ in Rom zu postulieren.67 Zugleich ist die Empfindung auch als Metanorm zu betrachten. Sich im richtigen Moment von pudor oder verecundia berührt zu zeigen bedeutet, dass man die Veranlagung zu Scham überhaupt besitzt. Der Akteur gibt dadurch zu erkennen, dass er die sozialen Normen internalisiert hat,68 und vermittelt den Sanktionsinstanzen die Botschaft, dass er willens ist, sich nach den gesellschaftlichen Spielregeln zu richten.69 Die Scham wird demgemäß zur normativen Kontrollinstanz über alle in der Gesellschaft herrschenden Moralvorstellungen. Als Metanorm spielen pudor und insbesondere verecundia eine essenzielle Rolle, die in den gesellschaftstheoretischen, philosophischen und rhetorischen Schriften Ciceros ihren Widerhall findet. Sie sind für ihn Markenzeichen der zivilisatorischen Entwicklung und tragen maßgeblich zum Zusammenhalt der Gemeinschaft bei,70 zudem stehen beide an der Wiege des sozialen Verhaltens und werden zu einer unerlässlichen Voraussetzung für Mäßigung (temperantia), Zurückhaltung (modestia), Gerechtigkeit (iustitia) und überhaupt für Ehrenhaftigkeit (honestas).71 So ist verecundia mehr als nur eine Tugend unter vielen. In den Partitiones oratoriae macht Cicero die Gerechtigkeit zum Oberbegriff für sämtliche Normen, die den zwischenmenschlichen Bereich sowie die Beziehungen zu den Göttern regeln, und unterstellt ihr religio, pietas, fides, lenitas
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Vgl. ebd., S. 218-219; Barton 2001, S. 199-201. Vgl. Thomas 2006, S. 367; Engelen 2008, S. 47, 54. Barton 2001, S. 200; Elster 2002, S. 5; vgl. auch Wlosok 1980, S. 169: „Als ehrfürchtige Scheu, die darauf bedacht ist, die Regeln des schicklichen Verhaltens zu beachten, steht verecundia zur Scham, die sich bei der Verletzung solcher Regeln einstellt, zunächst im Verhältnis eines Vorgefühls, ist Schamhaftigkeit im weitesten Sinn“. Cic. off. 2,15: Urbes vero sine hominum coetu non potuissent nec aedificari nec frequentari, ex quo leges moresque constituti, tum iuris aequa discriptio certaque vivendi disciplina; quas res et mansuetudo animorum consecuta et verecundia est effectumque, ut esset vita munitior atque ut dando et accipiendo mutandisque facultatibus et commodis nulla re egeremus; vgl. auch Cic. off. 1,93, wo verecundia mit der Beachtung des decorum in Verbindung gebracht wird. Cic. fin. 4,18.
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und amicitia.72 Die alles überragende Schutzfunktion für diese Tugenden kommt indessen der verecundia zu: Wächter aber über alle Tugenden ist das Ehrgefühl (verecundia), das Schande meiden und vor allem Lob erlangen will.73
In Fortführung dieses Gedankens kann ebenfalls konstatiert werden, dass es für den heutigen Unterschied zwischen „Scham“ und „Schamgefühl“ in Rom keine Entsprechung gab.74 Verecundia und pudor bezeichnen gleichermaßen die situative Scham, die von einer spezifischen Handlung hervorgerufen wird, und die dazugehörige Disposition, die man durch Internalisierung erlangt.75 Diese Polysemie lässt darauf schließen, dass die römische Gesellschaft weitgehend von der Gültigkeit einer Kausalitätskette ausging: Derjenige, der durch seine Sozialisation die Fähigkeit verinnerlicht hat, sich gemäß den gesellschaftlichen Erwartungen zu verhalten, wird diese zwangsläufig im Laufe der Interaktion auch abrufen – ein Gedanke, der folgerichtig als Indizienbeweis vor Gericht großen Anklang finden musste. Parallelen zur modernen soziologischen Forschung sind dennoch unverkennbar.76 Eine conditio sine qua non für das Empfinden von Scham 72 73 74
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Cic. part. 78; vgl. auch Cic. top. 90 für den gleichen Gedanken. Iustitia wird dort allerdings durch aequitas ersetzt. Cic. part. 79: Custos vero virtutum omnium dedecus fugiens laudemque maxime consequens verecundia est; vgl. auch Cic. off. 1,99. Am ehesten wird der Charakterzug durch die Attribute pudens und verecundus suggeriert. Stahl 1968, S. 53 merkt an, dass pudens, durch die Betonung des moralischen Aspekts, weit häufiger die Veranlagung benennt als das synonymische verecundus. Kaster 1997, S. 4; Kaster 2005, S. 30. Ebd., S. 48 weist der Autor auf diese Verbindung hin. So führt die Sozialisation zum „dispositionalen“ pudor, der den Akteur davor schützen soll, der aktiven Scham ausgesetzt zu werden. Folglich sieht Stahl 1968, S. 52 pudor und verecundia gleichermaßen als „Tugend[en]“ und „Eigenschaft[en]“; vgl. auch Thomas 2006, S. 355; für die synonymische Verwendung von pudor und verecundia in beiden Fällen s. auch Kaster 1997, S. 4-5. Vgl. die Definition bei Neckel 1993, S. 245-246: „Scham ist ein Wertgefühl. Sie zeigt die Empfindung an, im eigenen Wertbewußtsein herabgedrückt oder bedroht zu sein“.
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ist in jeder Gesellschaft die Kenntnis der sozialen Normen und die (zumindest deklarative) Akzeptanz dieser Normen durch den Akteur.77 Ähnlich wie in Rom kann das Zeigen von Scham unter gewissen Umständen erwartet, ja sogar ihr Fehlen als Hinweis auf mangelnde „Feinfühligkeit“ gedeutet werden.78 Ihre funktionale Rolle ergibt sich daraus, dass sie zu einem Indikator für die gesellschaftliche Integration des Handelnden und somit zu einer elementaren Performanz der Rücksichtnahme auf die Interaktionspartner wird.79 Allerdings werden auch Unterschiede deutlich. Die Präeminenz der gesellschaftlichen Hierarchie für die Herausbildung von verecundia und pudor, aber auch die Wahrung der jovialen Kommunikationsregeln, die der ostentativen Zurschaustellung sozialer Überlegenheit entgegenwirken sollten, bilden – trotz kulturübergreifender Zusammenhänge zwischen Machtstrukturen und Scham – den für Rom typischen kulturellen Rahmen, in dem diese Emotionen entstehen. Die Verbindungslinie, die zwischen der Überhöhung der eigenen Stellung und dem Gefühl des pudor gezogen wurde, war hauptsächlich als Schutz einer gesellschaftlichen Ordnung gedacht, für die diese Bedrohung einen besonderen Stellenwert hatte. Der Balanceakt zwischen Jovialität und Konsens einerseits und der Wahrung der hierarchischen Grundstruktur andererseits spiegelt sich somit in den kulturellen Konnotationen der spätrepublikanischen Scham wider.
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Vgl. Armon-Jones 1986a, S. 33; Armon-Jones 1986b, S. 60; Neckel 1993, S. 247; Elster 2002, S. 2; Schultheiss 1997, S. 101. Landweer 1999, S. 37-38 weist darauf hin, dass das Gutheißen der Norm dabei unerheblich ist. Nichtsdestotrotz darf Scham nicht als rein äußerliches Gefühl angesehen werden. Ihre Funktionalität ist nur dann gewährleistet, wenn der Handelnde einen inneren Drang zur Befolgung der Norm verspürt (vgl. Wlosok 1980, S. 158). Vgl. Goffman 1986, S. 118, Anm. 6; s. auch Simmel 1983, S. 141, 144 für die „Herabdrückung des Ichgefühls“ durch die Anwesenheit Dritter als Kernelement der Scham; zu SIMMELs Schamkonzept vgl. auch Neckel 1991, S. 81-106; Flam 2002, S. 21-22. Samuel JOHNSON sagt über die Verlegenheit, die in solchen Situationen entsteht, dass „die Furcht vor Fehlern, die unser erstes Bemühen behindert, […] in dem Maße zerstreut [wird], wie unser Können dem sicheren Erfolg zustrebt. Die Schüchternheit, die der Schande vorbeugt, diese kurze, zeitweilige Scham […] kann deshalb nicht als unser Unglück angesehen werden“ (zit. nach Goffman 1986, S. 121, Anm. 9).
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Der zweite Unterschied betrifft die Konzeptualisierung von verecundia und pudor als handlungsleitende Motive. So sehr Scham selbst heutzutage die Einhaltung gewisser Normen und Konventionen kennzeichnen kann, als primäre Erwägung würde sie wohl kaum in diesem Kontext angeführt werden. Anders in Rom. Wie oben gesehen, handeln die Römer moralisch, weil sie ein Gespür für pudor und verecundia haben und diese Attribute vorweisen können. Eine Erklärung dessen kann unter Rückgriff auf die rechtsphilosophische Trennung von Scham- und Schuldkulturen bzw. „Scham- und Zornkulturen“ erfolgen.80 Weisen moderne westliche Rechtssysteme dem Konzept der Schuld – bzw. der Reaktion darauf als Ausdruck eines „gerechten Zorns“ – das wesentliche Moment für die juristische Entscheidung zu, wird in manchen Gesellschaften die moralische Selbstkontrolle zur Determinanten für die Befolgung der Rechtsnormen.81 Gewährleistet wird dies durch die permanente Beobachtung und Sanktionsbereitschaft der Mitbürger, die sich somit implizit zu einer die gesellschaftlichen Normen schützenden Instanz entwickeln. Antonie WLOSOK hat gezeigt, dass die römische Kultur in diesem Spannungsfeld eine Mittelstellung einnimmt und sowohl Elemente der „juristischen“ Zorn- als auch der „gesellschaftlichen“ Scham-
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Am ausführlichsten zuerst in BENEDICT, Ruth, Chrysantheme und Schwert. Formen der japanischen Kultur, Frankfurt/Main 2006; allgemein zu dieser Unterscheidung: Wlosok 1980 und Neckel 1991, S. 47-52. Die Unschärfe des Gegensatzpaares „Scham“ und „Schuld“ hat Wlosok, 1980, S. 158 veranlasst, den präziseren Terminus „Zorn“, verstanden als der „gerechte Zorn“ der richterlichen Instanz (ebd., S. 156), als Antonym zur „Schamkultur“ zu wählen; für weitere Kritik an dieser Unschärfe vgl. auch Neckel 1991, S. 49-51. Wie von Ruth BENEDICT für die japanische Gesellschaft festgestellt (für den Einfluss ihrer Forschungen vgl. ALBRECHT, Clemens, Anthropologie der Verschiedenheit, Anthropologie der Gemeinsamkeit. Zur Wirkungsgeschichte der Unterscheidung von Scham- und Schuldkulturen, in: Bauks, Michaela / Meyer, Martin F. (Hrsgg.), Zur Kulturgeschichte der Scham, Hamburg 2011, S. 177-193); vgl. auch Wlosok 1980, S. 158. Elster 2002, S. 3-4 sieht auch das antike Griechenland als eine für die „Schamkultur“ exemplarische Gesellschaft. Allerdings misst er ebd., S. 4 der Scham auch in modernen Gesellschaften eine größere Bedeutung bei.
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kultur aufweist.82 Pudor wird somit zur Reaktion auf eine bereits erfolgte Übertretung, zugleich aber auch zu einem internalisierten moralischen Zwang, der eine vorbeugende Wirkung entfaltet und in diesem Sinne auch artikuliert werden darf. Ausgehend von dieser Prämisse muss der Untersuchungsgegenstand in einem weiteren Punkt präzisiert werden. Manifestiert sich Schuld ausschließlich in retrospektiver Manier – etwa als Reue –, so kann die Scham zugleich ein präventives Moment enthalten.83 In dieser Form ist Letztere per definitionem eine Norm, deren Zurschaustellung vom Rollenträger eingefordert werden kann und erst ihre Abwesenheit negativ sanktioniert wird. Rückblickende Schuldeingeständnisse treten hingegen ausschließlich als Sanktion auf, unabhängig davon, ob sie von anderen Mitgliedern der Gesellschaft bestraft oder ob die eigenen Schuldgefühle – auch in Form von „Scham“ – zu einer Art Selbstsanktionierung werden.84 Diejenige Ausprägung, die uns im Folgenden interessieren wird, ist somit die prophylaktische, die insofern als persuasiv betrachtet werden kann, als sie ein auf positive Evaluierung abzielendes und normkonformes Bild des agierenden Redners vermitteln möchte.
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Wlosok 1980, S. 159. Die Formen der Schamkultur werden ebd., S. 160-165 anhand der zensorischen „Gerichtsbarkeit“ exemplifiziert; vgl. auch Elias 2010, Bd. 2, S. 409, der darauf hinweist, dass die Scham vor Normbrüchen in denjenigen Gesellschaften besonders ausgeprägt ist, in denen „Fremdzwänge“ am stärksten in „Selbstzwänge“ umgewandelt werden; s. auch Elster 2002, S. 3-4; Pöschl 1980, S. 15-16. Dabei wird in der soziologischen Forschung der Schuld ein stärkeres moralisches Motiv zugewiesen, während die Scham als Übertretung persönlicher Idealvorstellungen angesehen wird; vgl. Neckel 1993, S. 249; Schultheiss 1997, S. 98, 99-100; Shott 1979, S. 1325; s. dazu auch Engelen 2008, S. 5455. In einer „Schamkultur“ sind jedoch Überschneidungen zwischen Normen und Konventionen – und somit zwischen gesellschaftlichen Moralvorstellungen und persönlichen Idealen – unvermeidlich; s. auch unten, S. 310, Anm. 108. Für diese Unterscheidung im Wesen von verecundia und pudor vgl. auch Stahl 1968, S. 53.
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2.2
Die forensische Bedeutung der Scham
Als internalisierter Kompass moralisch richtigen Verhaltens kann das Schamgefühl also kaum aus der Darstellung sittlichen Handelns entfernt werden, wenngleich Cicero in den Gerichtsreden überraschend selten direkten Bezug darauf nimmt. Die These Jakob WISSEs belegt die scheinbar untergeordnete rhetorische Rolle eines Gefühls, das sich wegen seiner Universalität und impliziten Abstraktheit erst durch die Zurschaustellung situativer Tugendhaftigkeit konkretisiert. Verecundia und pudor werden vor allem als Schlagworte benutzt, um die grundsätzliche Normtreue oder Devianz der dargestellten Partei zu unterstreichen.85 So lassen sich des Öfteren Handlungen des Angeklagten auf dessen pudor zurückführen,86 gleichzeitig werden im Betragen der Gegenseite Manifestationen von impudentia und audacia erkannt.87 Diese Argumente zielen auf das fundamentale Merkmal der Vertrauenswürdigkeit ab und können demzufolge nicht als spezifisch forensische Ausprägungen der Scham betrachtet werden. Sie dienen dazu, den Charakter der beschriebenen Personen zu beleuchten, und fügen sich in die allgemeine Zielsetzung des rhetorischen ethos ein.88 Aufgrund seiner gesellschaftlichen Tragweite kommt dem pudor dabei eine wesentliche Funktion zu. Da er zum Ausdruck einer erfolgreichen Sozialisation wird, fasst er zugleich als Indikator für normtreues Verhalten alle Tugenden in sich zusammen. Wie oben gezeigt, evoziert dieser Gedanke eine Kausalitätskette, die der Veranlagung zum Empfinden von Scham eine 85
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Vgl. ebd., S. 54. Darin wird ebenfalls die oben besprochene Kontrollfunktion des inimicus ersichtlich. Plutarch sieht den „Vorteil“ der Feindschaften auch darin, dass sie den Menschen dazu zwingen, schamhaft zu leben (vgl. mor. 87D-E, 88A). Cic. Cluent. 83, 133; Cic. Sull. 15. In Cic. Cael. 9 wird das Schamgefühl des Klienten ausdrücklich auf seine Erziehung zurückgeführt und dadurch die Rolle der Sozialisation für die Herausbildung von pudor hervorgehoben. Cic. S. Rosc. 95, 118; Cic. Cluent. 12, 15, 26, 27, 67; außerdem Cic. Cael. 50, wo die impudentia Clodias eine Antithese zum Schamgefühl des Caelius bildet; zu audacia und impudentia als Gegenbegriffe zur Scham vgl. Stahl 1968, S. 54. Vgl. auch Cic. inv. 1,83 für die Vorgabe, einen Prozessteilnehmer grundsätzlich als verecundus oder inverecundus zu betiteln.
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entsprechende Reaktion folgen lässt und ein Indiz für Schuld oder Unschuld im Einzelfall liefert.89 Explizit wird dieser Assoziation in der Caeliana Ausdruck verliehen: Wenn die Sache wirklich passiert ist, dann ist bestimmt nicht Caelius der Urheber (was hätte er damit bezwecken können?); sie lässt ja auf einen jungen Mann schließen, dem es vielleicht nicht an Witz, wohl aber an Anstand (verecundia) fehlt.90
Noch deutlicher äußert sich Cicero in der Rede für Cluentius. Seine Aufforderung an die Richter, den Angeklagten freizusprechen, macht der Redner von einer Grundsatzfrage abhängig: Doch wenn ihr, wie es eure Denkungsart erheischt, Anstand (pudor), Redlichkeit und Sittenstrenge schätzt, so nehmt endlich die Bürde von diesem Manne […]91
Die Aufzählung schuldbefreiender Motive ist besonders aufschlussreich. Das Schamgefühl wird zum einen der Tugendhaftigkeit schlechthin gleichgesetzt, was angesichts der oben angeführten antiken Theoretisierungen von pudor nicht verwundert. Zum anderen wird es in einem Atemzug mit der Wahrheit genannt, der wir nicht nur als oberstes, sondern als einzig zulässiges Gebot für die Entscheidung der Richter begegnet sind. Es ist bezeichnend, dass pudor hier keineswegs als Selbstzweck erscheint. Können die iudices von der internalisierten Scham des Angeklagten überzeugt werden, spricht dies implizit für seine Unschuld und erlegt den Richtern sogar die Pflicht auf, dies als einen der Wahrheit wesensgleichen Beweis zu betrachten. Die Gedankenspiele, die Cicero in diesen Passagen vorträgt, stellen freilich bloße Syllogismen dar, die den immanenten gesellschaftlichen Charakteristika der Schambegriffe entspringen. Sie gewähren nichtsdestoweniger einen Einblick in die 89 90
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So auch Vaubel 1969, S. 82. Cic. Cael. 69: Quod etiamsi est factum, certe a Caelio non est factum (quid enim attinebat?); est enim ab aliquo adulescente fortasse non tam insulso quam non verecundo. Ähnlich soll auch in Cic. Sull. 74 die Zurückhaltung des Angeklagten als Hinweis auf dessen Unschuld gedeutet werden. Cic. Cluent. 200: Sin autem, id quod vestra natura postulat, pudorem, veritatem, virtutemque diligitis, levate hunc aliquando supplicem vestrum […]
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Wirkung dieser Schlagworte auf unterbewusste kulturelle Wahrnehmungsmuster. Da uns jedoch die Frage beschäftigt, ob der Scham auch eine Rolle für die performative Reproduktion forensischer Sinndeutungen zukommt, müssen diesbezügliche Erwartungen an die spezifischen sozialen Rollen gekoppelt werden, die in einer quaestio zum Tragen kommen. Die Bedeutung des Rollenkonzepts für das Schamempfinden ergibt sich schon aus der Erkenntnis, dass manche (schambehaftete) Normen keine allgemeine Gültigkeit besitzen, sondern explizit an bestimmte Positionen innerhalb der Gesellschaftsstruktur geknüpft sind.92 Unter diesem Gesichtspunkt wird Scham vor allem dann hervorgerufen, wenn die – reelle oder potentielle – Devianz solche Attribute betrifft, die ausschließlich zu einem präzise umrissenen Rollenbild gehören.93 Daraus ergibt sich, dass ein orator pudor empfinden musste, wenn er den in der ersten Hälfte der Arbeit vorgestellten Rollenattributen und dem dazugehörigen Verhalten nicht gerecht wurde, analog dazu aber die Scham in ihrer vorausblickenden Dimension zu einem Anhaltspunkt dafür wird, dass der Redner besonderen Wert auf die Wahrung ebenjener Attribute legt. Suchen wir nach diesbezüglichen Vorschriften in der rhetorischen Theorie, offenbart sich vor allem ein wiederkehrendes Motiv. Sowohl Cicero als auch Quintilian erwähnen – auf imperative Art – die Notwendigkeit, im Zuge der Wortergreifung Verlegenheit oder Scheu an den Tag zu legen. Die Einleitungen sollen schüchtern vorgetragen werden
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Vgl. Landweer 1999, S. 63. Ebd., S. 61 stellt die Autorin, in Anlehnung an die Arbeiten von Ernst TUGENDHAT, fest: „Scham empfinde man immer dann, wenn man sich gerade in jenen identitätsstiftenden Fähigkeiten als schlecht erweise“. Ebd., S. 64 sieht sie jedoch die moralisch beladenen und schamerweckenden Übertretungen von Rollennormen als Ausnahme und verweist diese eher in den Bereich der nicht moralisch konnotierten Konventionen – wenngleich Rollenbilder, die „besondere moralische Qualitäten“ einfordern, zugestanden werden. Angesichts der ethischen Anforderungen, die wir für die Rolle des orator ermittelt haben, und der analogen Bedeutung der Richterrolle für die res publica ist in diesem Fall jedoch zweifellos auch von starken moralischen Zwängen auszugehen.
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(principia verecunda),94 anderenfalls würde man sich dem Vorwurf der Unverschämtheit aussetzen.95 Die Scham-Performanzen zu Beginn der Rede gehen jedoch weit über gewöhnliche Richtlinien des decorum hinaus,96 im De oratore werden sie vielmehr zu einer quasi-juristischen Muss-Erwartung: Wer sich aber nicht schämt […], der verdient nach meiner Meinung nicht nur Tadel, sondern sogar Strafe.97
Die Worte, die hier Crassus in den Mund gelegt werden, mögen aus Gründen der Rollenkonsistenz mit einer gewissen zensorischen Strenge gesprochen worden sein, sie vermitteln dennoch einen Eindruck von dem Stellenwert, den diese Vorgabe genoss. Indem er eine soziale Norm in den Stand einer rechtlichen erheben möchte, verabsolutiert Crassus die Bestimmung und weist sie als gesellschaftlich nicht verhandelbar aus. Der pudor, mit dem der Redner seine Ausführungen beginnen musste, dient zwar der allgemeinen Selbstrepräsentation, er ist aber zugleich der unerlässliche Einstieg in ein viel komplexeres Netz kultureller Konnotationen, die die Scham im Laufe einer oratio erhält.98 94 95
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Cic. or. 124. Cic. de or. 1,119. Ferner lässt er Crassus sagen, dass diese Meinung bislang verschwiegen werden musste und er sie nur im engsten Freundeskreis vorzutragen wage. Damit kann aber nicht die Scham an sich gemeint sein, sondern vielmehr die Behandlung des pudor als rhetorischen Kunstgriff. Es entsprach folglich den Erwartungen der Hörer, dass sich die Schüchternheit auf natürlichem Wege einstellt und somit gar nicht erst explizit erwähnt werden müsse; vgl. auch Cic. part. 22; zu dieser Taktik als locus a timore vgl. Loutsch 1994, S. 510-512. Vgl. Cic. de or. 1,120. Nicht allein die Performanz des pudor rettet einen Redner vor dem Eindruck der Unverschämtheit, sondern die Wahrung des decorum in der gesamten Rede, die jedoch von der anfänglichen Scham garantiert wird. Cic. de or. 1,121: Quem vero non pudet, […] hunc ego non reprehensione solum, sed etiam poena dignum puto. Freilich gesellen sich zu den moralischen Qualitäten, die dadurch attestiert werden, auch zweckrationale Erwägungen. Quint. inst. 4,1,8-9 weist auf die Sympathie hin, die man einem Redner entgegenbringt, der sich als schwach präsentiert. Somit ist zum einen die Funktionalität für den orator gewähr-
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Für die exordia der hier behandelten Reden heißt dies vor allem, dass die zuweilen befremdlich wirkenden Selbstzweifel Ciceros als Ausdruck dieses normativ erwünschten Gefühls interpretiert werden müssen.99 Zudem können die Argumente nicht gesondert von dem gesellschaftlichen Postulat der internalisierten Scham betrachtet werden. Exemplarisch für diese Verschmelzung ist die Einleitung der Rede für Sex. Roscius. Bereits die ersten Sätze sollen deutlich machen, dass Cicero sich dieser Aufgabe nicht gewachsen fühlt, eine Unzulänglichkeit, die er vor allem an die Präsenz qualifizierterer patroni koppelt.100 Cicero vereint hier zwei Spielarten des pudor. Neben der noch zu besprechenden forensischen Ausprägung weist die Erwähnung der nobiles auf ein elementares Moment der oben ermittelten Definition hin. In Übereinstimmung mit dem vierten Skript Robert KASTERs gibt der Redner zu erkennen, dass er seine Position innerhalb der Gesellschaftsstruktur respektiert und sein Auftritt als patronus nicht auf Kosten einer Minderung der existimatio anderer gehen soll. Er umgeht somit die „Erweiterung des Selbst“, indem er die nobiles von der Patronatspflicht freispricht und sich selbst gewissermaßen als Notlösung präsentiert.101 Im Zuge der schamvollen Erläuterung seiner mangelnden Fähigkeiten heißt es ferner: Hierzu kommen äußerste Befangenheit (sie ist mir von meiner angeborenen Schüchternheit auferlegt) (quem mihi natura pudorque meus attribuit) und eure Würde, die Macht der Gegner und die Gefahren des Sextus Roscius.102
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leistet, der dadurch die Richter auf seine Seite ziehen kann, zum anderen hätten diese von einem unvorbereiteten Redner auch weniger im Hinblick auf eine eventuelle Täuschung zu befürchten (Quint. inst. 4,1,9). Eine Würdigung dieser Taktik müsste selbstverständlich weit bedeutendere Fragen der Gestik und Mimik mit einbeziehen, die jedoch im konkreten Fall nicht mehr nachvollziehbar sind; zu diesem Aspekt s. unten, Kap. VI. 2.3. Nicht zuletzt das Missverstehen dieser Vorgehensweise hat in späterer Zeit zum Bild des ängstlichen orator Cicero geführt; vgl. auch Powell / Paterson 2004, S. 6, Anm. 24; Fotheringham 2006, S. 74. Cic. S. Rosc. 1. Vgl. Cic. S. Rosc. 5: […] non electus unus, qui maximo ingenio, sed relictus ex omnibus, qui minimo periculo possem dicere. Cic. S. Rosc. 9: Huc accedit summus timor, quem mihi natura pudorque meus attribuit, et vestra dignitas et vis adversariorum et Sex. Rosci pericula.
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Die vermeintlich angeborene Veranlagung zu pudor bezieht sich auf ebenjenen gesellschaftlichen Aspekt. Ciceros Scham im Proömium wird für alle sichtbar und erklärt sich aus einer sozialisatorischen Integration in allgemeine Wertvorstellungen, die insofern zukunftsweisend ist, als sie zugleich den Fortgang der oratio unter dem Zeichen der verecundia gewährleistet.103 Gleichwohl haben die Rhetoriklehrer diese Vorschrift nicht erteilt ohne auch ihren Nutzen für den Redner zu explizieren. Eine erste Erklärung, die dem Wesen des Schamgefühls selbst entspringt, ist, dass man dadurch Achtung vor der Größe der Aufgabe zu erkennen gibt und implizit den Wunsch, dieser gerecht zu werden – zugleich aber auch die Sorge, dass dieses Vorhaben scheitern könnte.104 Dieser Konnotation wird in der Cluentiana Rechnung getragen, wenn Cicero seine frühere Verteidigung des Skamander rechtfertigt und hierfür eine Theoretisie-
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Im Kommentar zu dieser Stelle erachtet Dyck 2010, S. 73 die anfängliche verecundia als typisch ciceronisch, obwohl er auf die Crassus-Stellen im De oratore hinweist. Zwar könnte man meinen, dass Cicero auch dort anachronistisch vorgegangen ist, allerdings attestiert er z. B. Antonius im Zuge des Norbanus-Prozesses eine ähnliche Vorgehensweise (de or. 2,202), so dass kein Grund besteht, diese nicht als typisch römisch zu betrachten – zumal sie auf Erwartungen des Publikums abzielt und infolgedessen kaum freiwillig war. Einen ähnlichen Gedankengang könnte man auch im Vorverfahren gegen Caecilius vermuten (vgl. Cic. div. in Caec. 41-42 und 43). Cicero setzt hier die eigene Scham der mangelnden verecundia des Caecilius entgegen, was bei einer entsprechenden Entscheidung auch den Prozess gegen Verres unter den richtigen moralischen Voraussetzungen stattfinden ließe. Vgl. Cic. de or. 1,123; Quint. inst. 12,5,4; s. dazu auch Döpp 2008, S. 242243; Graff 1963, S. 82; Stahl 1968, S. 62. Für die „aktivierende“ Funktion dieser Furcht vgl. Claessens 1966, S. 90: „Mit der gegebenen Möglichkeit, scheitern zu dürfen und dem Erlebnis der Möglichkeit des Scheiterns selbst wird allerdings in der Regel das Bewährungsfeld auch als Angst- oder Furchtfeld gezeichnet“. Wenngleich Cicero in der Quinctiana des Öfteren insinuiert, das ingenium des Hortensius könnte die Richter auf unerlaubte Weise beeinflussen, ist die Angst, die er angesichts dieser rhetorischen Herausforderung zu erkennen gibt, durchaus auch als Zeichen jener Sorge zu verstehen (vgl. Quinct. 77); s. auch Sen. epist. 11,1,5.
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rung des Anwaltsethos unter besonderer Berücksichtigung der emotionalen Interpretation vornimmt: Zwar bin ich stets befangen, wenn ich zu reden beginne; sooft ich spreche, so oft glaube ich, nicht nur mein Talent, sondern auch meine Rechtschaffenheit und Pflichttreue aufs Spiel zu setzen: dass man nicht glaubt, ich machte mich für etwas anheischig, was ich nicht kann (das wäre eine Unverschämtheit) (quod est impudentiae) oder ich erreichte nicht, was ich erreichen könnte (das wäre gewissenlos oder leichtfertig) (quod est aut perfidiae aut neglegentiae).105
Die Passage ist in vielerlei Hinsicht für unsere Zwecke von Belang. Für ein besseres Verständnis bietet es sich an, an dieser Stelle kurz auf die soziologischen Forschungen (und insbesondere auf Georg SIMMEL) zu rekurrieren. Laut SIMMEL ist die Hauptursache für Scham die Wahrnehmung einer Diskrepanz zwischen der situativen Darstellung und einer Idealvorstellung des Selbst. Er konkludiert: „Es ist hier also durch die soziologische Lage die Konstellation des Schamgefühles gegeben: die Hervorhebung des Ichs und die gleichzeitige Herabdrückung desselben durch den Abstand zwischen einer unvollkommenen Wirklichkeit und einer ideell vorhandenen, normierenden Ganzheit“.106 Analog dazu stellt sich pudor ein, wenn der Redner sich mit der Gefahr konfrontiert sieht, den eigenen, aber auch den gesellschaftlichen Ansprüchen an eine Idealvorstellung vom orator nicht entsprechen zu können.107 Ein solches Ideal bleibt selbstverständlich unerreichbar und die Erwartungen an den Redner beschränken sich folgerichtig auf ein dezentes Maß an Kompetenz. Einen gewissen Perfektionismus an den Tag zu legen sendet jedoch
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Cic. Cluent. 51: Semper equidem magno cum metu incipio dicere: quotienscumque dico, totiens mihi videor in iudicium venire non ingenii solum, sed etiam virtutis atque officii, ne aut id profiteri videar quod non possim, quod est impudentiae, aut non id efficere quod possim, quod est aut perfidiae aut neglegentiae. Simmel 1983, S. 148; vgl. dazu auch Flam 2002, S. 22; Gerhards 1988, S. 45. Zu dieser Ausprägung der Scham vgl. auch Goffman 1986, S. 107.
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die Botschaft aus, dass er die Normvorstellungen nicht nur verinnerlicht hat, sondern diesen so gut wie möglich gerecht werden möchte.108 Allerdings findet diese Vorschrift nicht in einem luftleeren Raum Anwendung. Die Attribute, die Cicero in der Cluentiana als Folge einer Verfehlung in Gefahr sieht, setzen den Verteidiger einerseits in Relation zum Klienten, so dass eine schamerweckende Nachlässigkeit oder gar Inkompetenz an den Grundfesten der patronalen fides rütteln,109 andererseits hat dies auch auf gesellschaftlicher Ebene schwerwiegende Konsequenzen. Das Bewusstsein von der Größe der Aufgabe bezieht sich auf die Positionen des patronus und des Anklägers im agonal konzeptualisierten Prozess und implizit auf die Wahrung der egalitären Grundstruktur dieses Wettbewerbs durch (idealiter) moralisch und qualitativ gleichwertige Vorträge. Die Überzeugung des Gemeinwesens, in einer Gerichtsverhandlung die Wahrheit ans Licht bringen zu können, hängt entscheidend davon ab, ob die Anwälte ihre Argumente bestmöglich vortragen. Somit ist der vorausblickende pudor nicht nur eine Garantie für die Wahrung privater Bindungsverhältnisse, sondern in höchstem Maße Prämisse für die Funktionalität dieser elementaren Institution der res publica, und er bekräftigt dadurch auf emotionaler Ebene die im 108
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Vgl. auch Landweer 1999, S. 61: „Ohne selbst der jeweiligen Norm […] entsprechen zu wollen, würde man sich nicht schämen“. Zudem weist die oben angeführte Stelle aus der Cluentiana der Scham unmissverständlich einen Platz im moralischen Bereich zu, indem grundlegende gesellschaftliche Pflichten von einer Übertretung des pudor verletzt würden. Somit kann die soziologische Trennung von „moralischer“ Scham und „performativer“ Verlegenheit nicht aufrechterhalten werden (vgl. dazu Neckel 1991, S. 108; Shott 1979, S. 1325-1326). Die moralische Verfehlung manifestiert sich vornehmlich in einem performativen Versagen, so dass speziell für einen orator die Unterscheidung zwischen innerlich-gefühlter und durch äußere Faktoren verursachter Scham aufgehoben werden muss. Vgl. Cic. de or. 1,124-125. Antonius fügt hier einen weiteren Grund für die Scham des Redners hinzu. Lässt sich Fehlverhalten z. B. bei Schauspielern gelegentlich auf „einen schlechten Tag“ zurückführen, ist eine schlechte Rede für die Hörer immer Anzeichen von Dummheit (stultitia). So geht die Sorge des orator immer mit einer sanktionierenden Einschätzung seiner moralischen, aber auch intellektuellen Fähigkeiten einher. Ähnlich bildet auch in Quint. inst. 10,7,16 die Angst davor, sich zu blamieren, den größten Ansporn für den Redner; vgl. dazu auch Claessens 1966, S. 91.
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ersten Teil der Arbeit postulierte Rolle des Redners im Gesamtbild der römischen officia. Diese Erkenntnis evoziert auch ein Moment, dem wir bereits als wesentliche Voraussetzung für die Manifestation der Scham begegnet sind: das handlungsleitende Prinzip der Wahrung der eigenen Würde und zugleich des „Image“110 des Gegenübers. Pudor kann sich nur in Interaktionen äußern und setzt somit einen Personenkreis voraus, der über die Angemessenheit des Gefühls urteilt – sogenannte „Scham-Zeugen“.111 Dies erklärt auch die Allgegenwart der Empfindung. Da die Moralität des Verhaltens immer im Auge des Betrachters liegt, muss der Handelnde stets befürchten, dass seine Worte und Taten, trotz guter Absichten, als Ausdruck einer Devianz wahrgenommen werden.112 Der pudor artikuliert diese ständige Gefahr und zielt demnach auf eine Bewertung durch diejenige Bezugsgruppe ab, die über das soziale Ansehen auch befinden darf.113 Aus diesem Grund muss die Rollentheorie ein weiteres Mal zu Rate gezogen werden. Die Scham basiert insofern auf der Rollenteilung, als zum einen der handelnde Akteur mit positionsbezogenen Erwartungen konfrontiert wird, zum anderen das Gefühl selbst auf bestimmte Rezipienten ausgerichtet ist.114 Um die kulturellen Deutungen 110 111
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Vgl. dazu Goffman 1986, S. 15-16. Vgl. Kaster 1997, S. 8, der darauf aufmerksam macht, dass pudor, obwohl eine innere Empfindung, stets von der Beurteilung durch die Mitmenschen abhängt; zum Begriff der „Scham-Zeugen“ vgl. Landweer 1999, S. 94. Vgl. Kaster 2005, S. 18; s. auch Cic. Verr. 2,5,175. Kaster 2005, S. 59-60; Engelen 2008, S. 52. Aristot. rhet. 1384b25-27 zeigt, dass die Scham unterschiedliche Gründe haben kann, je nachdem vor welchen Personen man sich schämt; ähnlich auch Simmel 1983, S. 145. Abhängig von der jeweils gespielten Rolle – und insbesondere wenn gleichzeitig unterschiedliche Positionen ausgefüllt werden müssen – gerät der Akteur zuweilen in (zumindest für eine der betreffenden Rollen) schamerweckende Konfliktsituationen (vgl. Goffman 1986, S. 118-119). So erklärt sich auch der Konflikt, der Cicero in der Cluentiana veranlasst, seine früheren Aussagen zum iudicium Iunianum zu revidieren; vgl. auch die in Val. Max. 4,5,4 wiedergegebene Geschichte, dergemäß L. Licinius Crassus im Zuge seiner Bewerbung für das Konsulat aus Scham vor Q. Mucius Scaevola diesen fortzuschicken pflegte, bevor er sich zwecks Wahlwerbung zu dem Volk begab. Hier kontrastiert die Jovialitätspflicht des Kandidaten mit einer empfundenen Herabsetzung in den Augen
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dieser Emotion zu verstehen – und unter Rückgriff auf ihre offenkundige Intentionalität – ist es daher unerlässlich, die Scham-Zeugen in einer quaestio zu ermitteln und nach dem gesellschaftlichen Sinn der Scham-Pflicht in spezifischen Situationen zu fragen. Der erste Aspekt bereitet kaum Schwierigkeiten. Wenngleich die Einschätzung der Leistung eines Patrons vorrangig von der Zurschaustellung seiner Pflichttreue dem Klienten gegenüber abhing, erscheint Letzterer eher als sekundäre Bezugsperson. Ein Blick in die rhetorischen Handbücher verrät dagegen den besonderen Stellenwert der Richter. Als unmittelbare Repräsentanten der Bürgerschaft werden die iudices zur obersten Sanktionsinstanz für den Redner. So stellt Quintilian dem Respekt vor der großen Verantwortung ein zweites Erklärungsmuster für die verecundia-Pflicht an die Seite: Denn der Richter kann in der Regel die Selbstsicherheit eines um sein Recht Streitenden nicht leiden, und da er weiß, dass das Recht in seiner Hand liegt, verlangt er stillschweigend Achtung (reverentia).115
Das hierarchische Element, das hierin enthalten ist, widerspricht selbstverständlich der Realität. Ein Richter musste nicht zwangsläufig eine höhere soziale Stellung als der Redner vorweisen – tatsächlich war in Bezug auf den patronus oft das Gegenteil der Fall. Allerdings ist hierbei zu beachten, dass die Vorschriften sich nicht auf die sozio-politischen personae der Senatoren und Ritter beziehen, sondern auf die Richter-
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Scaevolas und belegt die Unmöglichkeit, beide Rollen ohne Schamempfinden auszufüllen. Cicero lässt diese Begebenheit von den Darstellern selbst erzählen (de or. 1,112). Quint. inst. 4,1,55: Odit enim iudex fere litigantis securitatem, cumque ius suum intellegat tacitus reverentiam postulat. Reverentia ist hier freilich als Synonym zur verecundia zu verstehen; ähnlich auch Quint. inst. 11,1,27: Adrogantes et illi qui se iudicasse de causa nec aliter adfuturos fuisse proponunt. Nam et inviti iudices audiunt praesumentem partes suas […]; für einen guten Überblick über die Erwägungen, die einen Redner zu einem sorgenvollen Beginn der oratio veranlassen, vgl. auch Plin. epist. 7,17. So kann zum einen die unpassende Einleitung die gesamte Rede in ein schlechtes Licht rücken, zum anderen weist Plinius auf eine „kollektive Weisheit“ der Zuhörer hin, die es ihnen ermöglicht, die Rede besser, aber auch strenger zu beurteilen.
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rolle als solche.116 Die Achtung, die man dieser entgegenbringen musste, ist die Ehrfurcht vor ihrer symbolisch-repräsentativen Funktion und wird implizit zur Achtung vor den Gesetzen und der maiestas der res publica selbst.117 Diese These untermauern auch die Situationen, in denen das Vokabular der Scham in Erscheinung tritt. Vereri als Ausdruck der legitimen Angst, unabsichtlich die Grenzen des Erlaubten zu verletzen, wird des Öfteren mit der Rücksichtnahme auf die Wünsche der iudices verbunden.118 So befürchtet Cicero, die Richter zu belästigen, wenn er über allzu klare Dinge spricht119 oder zu weitschweifig wird.120 Zudem wird die Scham, analog zu den Aussagen Quintilians, dort besonders wichtig, wo der Redner Gefahr läuft, sich gewisse Prärogative zu attribuieren, die zu den Vorrechten der iudices gehören. Die oben erwähnte Apologie seiner Verteidigung des Skamander schließt Cicero mit den Worten ab: […] ich habe so gekämpft […], dass ich eines zuwege brachte (ich sage es zögernd) (timide dicam): niemand glaubte, dass in jener Sache der Anwalt gefehlt habe.121
So wurde eine gewisse Scheu in der Einschätzung der eigenen Leistung erwartet, die zweifellos darauf zurückgeht, dass eine diesbezügliche Bewertung ausschließlich den Sanktionsinstanzen oblag. Größere Aussagekraft besitzen jedoch diejenigen Stellen, die die Funktion der Richter in ihrer gesamtgesellschaftlichen Tragweite ansprechen. Wie bereits gezeigt, verfolgt der Redner in der Cluentiana das Ziel, die Verurteilung des Skamander als einen Präzedenzfall darzustellen, durch den zugleich ein Verdikt über die laut Cicero untrennbar damit verbundenen späteren Anklagen gegen Fabricius und Oppianicus ge116 117 118 119 120 121
Goffman 1986, S. 119 zeigt, dass Verlegenheit stets von der sozialen Situation hervorgerufen wird, nicht von den Individuen selbst. Vgl. Lossmann 1967, S. 337; Kaster 1997, S. 26; Stahl 1968, S. 10. Allgemein zur positiven Konnotation von vereri: Lossmann 1967, S. 332335; s. auch unten, S. 328-331. Cic. S. Rosc. 82. Cic. Sest. 31. Cic. Cluent. 51: sic pugnavi […] ut hoc, quod timide dicam, consecutus sim, ne quis illi causae patronum defuisse arbitraretur.
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fällt wurde. Die logische Folge dieser (wenn auch fiktiven) Vorverurteilung war, dass er sich weigern musste, die Verteidigung des Fabricius zu übernehmen: Denn die noch unerledigte, wenngleich verdächtige Sache eines nicht ganz Fernstehenden zu verteidigen, glaubten wir, sei menschlich, doch der Versuch, was entschieden sei, ins Wanken zu bringen, eine Unverschämtheit (impudentia).122
Ähnlich in der Rede für Sulla: Der Angeklagte hatte sich bei den Konsulwahlen für das Jahr 65 v. Chr. durchgesetzt, er wurde aber infolgedessen wegen Wahlbestechung angeklagt und verurteilt. Ciceros Absicht ist es hier, das moralisch einwandfreie Verhalten seines Klienten als Reaktion auf dieses Urteil zu präsentieren: Doch hernach: wer hat P. Sulla nicht stets in trauriger, verzagter und gebrochener Stimmung erblickt? Wer hätte je vermutet, er meide die Öffentlichkeit und das Licht aus Menschenhass, und nicht aus Menschenscheu (pudore hominum)?123
Das Schamgefühl Sullas erlegt ihm somit die Pflicht auf, die Entscheidung der Richter selbst dann zu akzeptieren, wenn er diese als ungerecht empfindet, und auf die eigene soziale Herabsetzung mit einem freiwil-
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Cic. Cluent. 57: Rem enim integram hominis non alieni quamvis suspiciosam defendere humanitatis esse putabamus, iudicatam labefactare conari impudentiae. Cic. Sull. 74: Postea vero quis P. Sullam nisi maerentem, demissum adflictumque vidit, quis umquam est suspicatus hunc magis odio quam pudore hominum aspectum lucemque vitare? Das Argument wird bereits in der Einleitung der Rede vorbereitet (Sull. 1). Darüber hinaus hätte Sullas (dispositionaler) pudor dazu geführt, dass er, anders als Autronius, nicht zu den Waffen gegriffen hat, um seine Stellung zurückzuerlangen (Sull. 15). Schließlich sei diese Veranlagung ein Indiz dafür, dass er sich eines solchen Verbrechens gar nicht hätte schuldig machen können (Sull. 74, 75). Somit vereint Cicero sämtliche Spielarten des pudor, um ein Gesamtbild seines Klienten zu zeichnen.
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ligen Rückzug zu antworten, der pudor zu erkennen gibt.124 Das Zurücksetzen des Selbst trägt im Gegenzug dazu bei, dass die Stellung des Interaktionspartners aufgewertet wird.125 Hierin wird deutlich, dass die Scham, die den Richtern geschuldet wird, explizit auf ihre Position zurückgeht und personenunabhängig ist. Sullas Rückzug demonstriert die Akzeptanz einer unverrückbaren Entscheidung der res publica selbst, eine Haltung, die man von ihm in einer solchen Situation auch erwarten musste, damit der gesellschaftliche Konsens gewahrt bleibt.126 Die auf diesem Erklärungsmuster beruhende, überhöhte Stellung der Richter, die uns im ersten Teil auch im Hinblick auf die „rationalen“ Normen begegnet ist, wird durch pudor und verecundia auf emotionaler Ebene reproduziert. Scham ist das Zeichen einer Ehrfurcht,127 die angesichts der symbolischen Repräsentation der res publica durch die iudices indirekt auf eine höhere Instanz bezogen wird.128 Sie ist auch insofern in das Geflecht zwischenmenschlicher Beziehungen eingebettet, als sie ebenso die Gegenseitigkeit dieser Verhältnisse widerspiegelt und eine positive Resonanz einfordert. Darauf macht Cicero die Richter aufmerksam, wenn er im Gegenzug für die Normtreue der eigenen Prozesspartei die Hoffnung zu erkennen gibt, dass diese durch ein entsprechendes Ur124
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Vgl. schol. Bob. Sull. p. 9-10 Hildebrandt; vgl. auch Berry 1996, S. 167-168. Für die Verbindung von Zorn und Scham vgl. Landweer 1999, S. 43-44. Demgemäß blockiere man den Zorn der Mitmenschen, indem man Scham demonstriert; vgl. auch Barton 2001, S. 257-258 für den Rückzug als positiven Ausdruck des pudor, mit einem expliziten Hinweis auf P. Sulla. Vgl. ebd., S. 203. Damit vergleichbar ist eine Stelle aus der Rede für Milo, an der Cicero zu erkennen gibt, dass sein Klient freiwillig ins Exil gehen würde, wenn er glaubte, Pompeius würde ihn tatsächlich beseitigen wollen – eine Hypothese, die der Redner ebenfalls mit der Wahrung des Gemeinwohls begründet (Mil. 68). So bereits in Aristot. rhet. 1380a20-21; 1384a26; vgl. auch Landweer 1999, S. 96; Stahl 1968, S. 12; Thomas 2006, S. 356; Thomas 2007, S. 337; Vaubel 1969, S. 77. Landweer 1999, S. 98 weist auch darauf hin, dass das Ausmaß der Scham von der Autorität der Scham-Zeugen abhängt. Vgl. auch Engelen 2008, S. 50: „Scham ordnet die sozialen Beziehungen der Anerkennung“. Elster 2002, S. 9-10 zeigt auch, dass die Normen der Scham in hierarchischen Gesellschaften immer zur Festigung dieser Hierarchie beitragen.
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teil belohnt würde.129 Die fides, die sowohl ein fundamentales Attribut des Patrons als auch der Richter darstellt, ist gleichermaßen für den pudor elementar. So kann nur derjenige Scham demonstrieren, der fides an den Tag legt – und diese folglich auch als Gegenleistung erwarten darf –,130 was letzten Endes auf eine Reziprozität beider Eigenschaften vor Gericht hinausläuft.131 Es wird somit evident, dass die Scham eine Hierarchie konstituiert, welche die Rolle des Redners dem Richter unterordnet. Wie von Robert KASTER in seinem vierten Skript erkannt, manifestiert sich hierin das Verbot, eine Erweiterung der Position des orator anzustreben, die implizit zu einer Minderung der darauf bezogenen Rolle des Richters geführt hätte. Die Dezidiertheit dieser Bestimmung erklärt sich nicht zuletzt damit, dass dies mit einer Vergrößerung des Stellenwertes eines Individuums auf Kosten der res publica selbst gleichbedeutend wäre. Konsequentermaßen wird die Scham-Pflicht nicht auf das Proömium reduziert, sondern sie durchzieht das gesamte Verhalten des Redners.132 So weist die rhetorische Theorie des Öfteren darauf hin, dass ein respektloses Benehmen zu den größten Fehlern eines orator gehöre.133 Exemplarisch dafür ist das Betragen, das Cicero seinem Gegenredner, Erucius, in der Rosciana unterstellt, und das explizit auf einen Mangel an Achtung den Richtern gegenüber hindeutet: Es war der Mühe wert, wenn ihr es bemerkt habt, ihr Richter, seine Nachlässigkeit während der Anklage zu beobachten. […] Als er von denen, die zu sprechen verstehen und gewöhnlich auftreten, niemanden entdecken konnte, da begann er sich so nachlässig (neglegens) zu betragen, dass er sich setzte, wann es ihm einfiel, dann wieder auf und ab ging, bisweilen auch seinen Sklaven herbeirief […]; kurzum, er benahm
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Die gesellschaftliche „Zusammenarbeit“ von Redner und Richter ist ein beliebter topos. So erwartet Cicero z. B. von den iudices, die der Gemeinschaft zuwiderlaufende invidia im Zuge des Cluentius-Prozesses aktiv zu entkräften (vgl. Cluent. 4). Barton 2001, S. 268. Kaster 1997, S. 8-9; vgl. auch Barton 2001, S. 209-210. Dies trifft im stilistischen Bereich auch auf eine angemessene Verwendung des Redeschmucks zu; vgl. Thomas 2007, S. 335; Stahl 1968, S. 61. Quint. inst. 11,1,29-30; 11,3,56-59; 11,3,133.
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sich in eurer Sitzung und vor dieser Versammlung hier, als befände er sich in tiefster Einsamkeit.134
Die Bedeutung der Öffentlichkeit tritt darin anschaulich zutage. Gestik und Mimik eines Redners müssen stets der Tatsache Rechnung tragen, dass er von seinen „Scham-Zeugen“ beobachtet wird und er deswegen den strengen Verhaltenskodex, der ihm auferlegt wurde, auch zu respektieren hat.135 Die Schamlosigkeit, die Erucius zu erkennen gibt, übertritt in mehreren Punkten die Gebote des pudor. Die offensichtliche Verfehlung betrifft dabei mangelnde Ehrfurcht vor den Richtern, die zwangsläufig eine Nichtanerkennung der Autorität des res publica verrät.136 Betrachten wir erneut die pudor-Skripte, so wird die Relevanz des zweiten Skripts in diesem Fall ersichtlich. Die Beschämung der Richter lässt sich nicht zuletzt darauf zurückführen, dass das Verhalten des Anwalts negative Rückwirkungen auf ihr eigenes gesellschaftliches Bild hätte – ein Umstand, der einer iniuria gleichkommt.137 Die von der Gesellschaft erwartete Reaktion auf eine solche Herabsetzung ist im Normalfall Zorn und der Wunsch nach Wiedergutmachung, ein Wunsch, den die Richter freilich durch das Instrument ihrer Entscheidungsmacht
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Cic. S. Rosc. 59: Operae pretium erat, si animadvertistis, iudices, neglegentiam eius in accusando considerare […]. Postea quam invenit neminem eorum qui possunt et solent ita neglegens esse coepit ut, cum in mentem veniret ei, resideret, deinde spatiaretur, non numquam etiam puerum vocaret […], prorsus ut vestro consessu et hoc conventu pro summa solitudine abuteretur; vgl. auch Cic. S. Rosc. 60. Nicht ganz so scharf, aber ebenso deutlich tadelt Cicero auch die neglegentia des Torquatus (Sull. 44). Betrachtet man die Übertretungen, die KASTER für das vierte Skript feststellt, sind diese fast sämtlich im Verhalten des Erucius enthalten (vgl. Kaster 2005, S. 42-45). Kaster 1997, S. 11 erklärt zudem, dass ein Markenzeichen des fehlenden pudor darin besteht, sich in der Gesellschaft so zu verhalten, als ob die Mitmenschen nicht anwesend wären. Landweer 1999, S. 38 weist darauf hin, dass Scham nur dann eintreten kann, wenn die Übertretung unabsichtlich ist – ansonsten wäre Letztere ein Zeichen der Provokation. So ist Erucius’ Verhalten auch als eine Herausforderung der res publica zu interpretieren. Vgl. Kaster 2005, S. 35-38.
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befriedigen können.138 So lassen sich die Gedankengänge, die Cicero in seiner Argumentation verfolgt, durch einen Blick auf die kulturellen Hintergründe und Konnotationen des Gefühls besser verstehen und erlauben somit auch einen Einblick in die kognitiven Prozesse, die durch die subtile Beeinflussung der Hörer evoziert werden sollten.139 Zudem darf nicht vergessen werden, dass die Kritik, die Cicero an Erucius richtet, ebenso auf einen zweiten Aspekt abzielt. Die Übertretung der Verhaltensregeln durch den Gegenredner assoziiert Cicero bezeichnenderweise mit dem Vorwurf, dieser sei im Vertrauen auf die Machtmittel des Chrysogonus als accusator aufgetreten.140 Der Ankläger verletzt demnach nicht nur diejenigen Normen, welche die Position der Richter schützen, sondern er überhöht zugleich auf unerlaubte Art und Weise die eigene Stellung auf Kosten des Verteidigers.141 Der egalitäre Grundsatz wird naturgemäß außer Kraft gesetzt, wenn der verbale Schlagabtausch zugunsten äußerer Faktoren bewusst vernachlässigt wird und folglich die institutionellen Grundsätze der quaestio in doppelter Hinsicht tangiert. Dass die Scham auch die Rücksichtnahme der Redner untereinander kennzeichnet, belegt die Vehemenz, mit der Cicero in der Sullana auf die Angriffe des Torquatus antwortet. Dieser hatte die auctoritas, die der ehemalige Konsul zwangsläufig in diesem Prozess genießen musste, zum Thema gemacht und paradoxerweise dadurch eine Minderung der Stellung Ciceros als Anwalt angestrebt, indem er ihm die Übertretung des „Schweigegebots“ unterstellte.142
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Für Zorn als Reaktion auf die Übertretung des zweiten Skripts vgl. ebd., S. 35. Wlosok 1980, S. 156 hebt zudem hervor, dass die juristische Bestrafung Ausdruck eines „gerechten Zorns“ ist. Für ein ähnliches Fehlverhalten des Anwalts des Fabricius vgl. Cic. Cluent. 58: […] non intellegebat animos iudicum non illius eloquentia, sed defensionis impudentia commoveri. Vgl. Cic. S. Rosc. 61. Etwas für sich zu beanspruchen, das einem nicht zusteht, verletzt laut Cicero zwangsläufig die Grundsätze der Gemeinschaftsordnung (vgl. off. 1,21). Vgl. z. B. Cic. Sull. 2, 21-22; s. auch Cic. Sull. 30. Gell. 1,5,3 attestiert Torquatus am Beispiel eines Wortgefechts mit Hortensius einen grundsätzlich schamlosen Charakter. Die Inschutznahme der (legitimen Form der) auctoritas verbindet Cicero auch mit dem eigenen Schamgefühl (Sull. 85).
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Eine unterschiedliche Form schambehafteten Verhaltens begegnet uns in der Rede für Caelius. Diesmal greift Cicero nicht zum Mittel der Kritik, sondern er legt eine eher liebevolle Belehrung an den Tag: Da war ich erstaunt und peinlich berührt, dass man diesen Teil der Anklage ausgerechnet Atratinus überlassen hatte. Das gehörte sich nicht, das vertrug sich nicht mit seinem Alter, dagegen wehrte sich, wie ihr selbst beobachten konntet, das Anstandsgefühl (pudor) des vortrefflichen Mannes.143
Die Frage, die sich hierbei stellt, ist, wieso die drohende Gefahr für Atratinus, den Pfad der Tugend zu verlassen, Cicero „peinlich berühren“ sollte. Bemühen wir ein weiteres Mal die Ergebnisse KASTERs, drängt sich das dritte Skript auf, das besagt, dass Scham auch dann eintreten könne, wenn man eine gesellschaftliche Bindung und diesbezügliche Pflichten demjenigen gegenüber vorzuweisen hat, der die Grenzen des pudor verletzt.144 Die Fremdscham, die Cicero in diesem Fall empfindet, geht darauf zurück, dass solche Übertretungen immer auch die eigene existimatio gefährden.145 Das Gleichgewicht zwischen den Rednern 143
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Cic. Cael. 7: Quam quidem partem accusationis admiratus sum et moleste tuli potissimum esse Atratino datam. Neque enim decebat neque aetas illa postulabat neque, id quod animadvertere poteratis, pudor patiebatur optimi adulescentis. Die darauffolgende Belehrung gesteht Atratinus jedoch zu, in der Bewältigung der Aufgabe pudor demonstriert zu haben (Cael. 8); vgl. auch Cic. Planc. 58. Vgl. Kaster 2005, S. 38-42 („pudor by association“). Dies stellt auch ein Kernelement der modernen Fremdscham dar; vgl. Giddens 1997, S. 106107: „Schämt man sich für das Verhalten eines anderen, so deutet das auf bestehende Bindungen zu ihm hin, die eine gewisse Anerkennung der Verbindung mit dem anderen oder gar eine Verantwortung für ihn signalisieren“. Freilich gilt das umso mehr für die „Schamkultur“ und die starken sozialen Bindungen in Rom. Kaster 2005, S. 40; vgl. auch den Unterschied zwischen Scham und Peinlichkeit bei Neckel 1991, S. 108-109. Simmel 1983, S. 148 weist anhand des Beispiels eines fast leeren Vorlesungssaales darauf hin, dass man sich in einer solchen Situation stellvertretend für die Abwesenden schämt, nicht zuletzt weil man zu einem Repräsentanten der „Gemeinschaft“ der Vorlesungsbesucher wird.
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wäre dadurch gestört worden – wenngleich zugunsten Ciceros –, jedoch hätte die gesellschaftliche Bindung zu Atratinus gleichzeitig zu seiner eigenen Herabsetzung in den Augen des Auditoriums geführt. Pudor manifestiert sich also nicht nur vertikal, sondern er regelt gleichermaßen die sozial-normativen Beziehungen der Anwälte untereinander. Da diesen trotz unterschiedlicher Attribute die gleichen Chancen auf Erfolg in Aussicht gestellt wurden, kam der Scham die wesentliche Funktion zu, die Rollen beider Redner zu schützen. Sie stellte sicher, dass die oratores sich innerhalb des Rahmens der ihnen zugestandenen Rechte bewegen und somit die eigene Stellung nicht durch die Degradierung des Gegenredners überhöhen.146 Abschließend dürfen zwei Bemerkungen, die an das oben Gesagte anknüpfen, nicht unberücksichtigt bleiben. Bestand für den Redner die Pflicht, ein gewisses Misstrauen in die eigenen Fähigkeiten an den Tag zu legen, so durfte dies nicht dazu führen, dass die Zuhörer diese Meinung letztendlich bestätigten. Die Scham diente dazu, seine Sorge und sein Pflichtbewusstsein zu untermauern, sie bot ihm aber keinen Schutz vor einem allzu schüchternen Auftreten. So tadelt Cicero in der Cluentiana die Rede seines Gegners, indem er sagt: Wie ich ersehen habe, ihr Richter, bestand die Rede des Anklägers im Ganzen aus zwei Teilen. Mir schien, dass sich der eine auf die bereits fest eingewurzelte üble Nachrede (invidia) wegen des junianischen Prozesses gründete und nach Kräften hiervon ausging, der andere hingegen nur der Gewohnheit zuliebe schüchtern (timide) und ohne Zuversicht (diffidenter) den Beweis für die Anschuldigung der Giftmordklage berührte, worüber doch dieser Gerichtshof von Gesetzes wegen zu befinden hat.147
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Für die Wahrung des decorum in der rhetorischen Auseinandersetzung vgl. Quint. inst. 11,1,57. Die Angriffe des Gegenredners, L. Quinctius, will Cicero in der Tulliana zwar durch eine scharfe Antwort abwehren, er tue dies jedoch unter Berücksichtigung der verecundia (Tull. 5). Cic. Cluent. 1: Animadverti, iudices, omnem accusatoris orationem in duas divisam esse partes, quarum altera mihi niti et magno opere confidere videbatur invidia iam inveterata iudicii Iuniani, altera tantum modo consuetudinis causa timide et diffidenter attingere rationem veneficii criminum, qua de re lege est haec quaestio constituta. Kaster 2005, S. 46 merkt an, dass die
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Wir begegnen zunächst einem Motiv, das bereits diskutiert worden ist. Das Vertrauen des Redners auf äußere Machtmittel – in diesem Fall die ungünstige Volksmeinung – übertritt auch hier die Regeln des rhetorischen Wettbewerbs. Darüber hinaus enthält Ciceros Vorwurf jedoch eine weitere Implikation. Die schüchtern vorgetragene Rede wird zum Indiz dafür, dass die Anklage außer Stande war, glaubwürdige Belege für die Schuld des Cluentius zu präsentieren. So evoziert die Schüchternheit immer eine gewisse Furcht, der, wie später zu sehen sein wird, vor Gericht große Skepsis entgegenschlug.148 Der Redner ging also permanent eine Gratwanderung ein, die ihm einerseits nicht erlaubte, den Fall als bereits entschieden darzustellen – und somit von ihm stets eine gewisse Sorge einforderte –, andererseits aber kontinuierlich von ihm verlangte, den entlarvenden Eindruck der Unsicherheit zu meiden.149 Oder, um es ein letztes Mal mit den Skripten Robert KASTERs zu sagen: Man musste sich sowohl der „Erweiterung des Selbst“ (Skript 4) als auch dem Anschein eines feigen Rückzugs (Skript 5), der ebenso schamerweckend war, entziehen.150 Der zweite Punkt betrifft die Frage, ob die performative Scham ausschließlich den Patron anvisierte. Dies kann guten Gewissens verneint
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positive Scham von den negativen Epitheta der Schüchternheit (unter anderem timidus und diffidens) zu trennen sei. Lossmann 1967, S. 339 betont ebenfalls, dass zwischen Scham und Furcht in der Einschätzung eines Redners unterschieden werden müsse; vgl. auch Simmel 1983, S. 145, Anm. 3: „Eine Rudimentärerscheinung der Scham ist die Schüchternheit, die in der Herabdrückung des Ichbewußtseins vermittels einer Betonung, der es sich nicht gewachsen fühlt, entsteht“. Vgl. auch Kaster 2005, S. 11; Barton 2001, S. 200. Bezeichnenderweise behandelt ebd., S. 241-243 die Autorin das Thema unter dem Titel „The Balancing Act“. Der Aufforderung zu diesem „Balanceakt“ begegnen wir auch in den rhetorischen Handbüchern; vgl. Quint. inst. 11,1,25. Bezüglich des Norbanus-Prozesses lässt Cicero Sulpicius sagen, dass dieser zunächst geglaubt hätte, Antonius würde seine Rede ängstlich beginnen – was sich aber letzten Endes als verecundia herausgestellt hat (Cic. de or. 2,202). Vgl. dazu Kaster 2005, S. 43-45. Cic. part. 81 zeigt, dass Tugenden und Laster oft verwechselt werden, und weist explizit auf das Gegensatzpaar verecundia-timiditas hin; vgl. auch Plut. mor. 528F und 529F, wo der Autor die stoische Sichtweise auf diesen Antagonismus, selbstverständlich ohne sich ihr anzuschließen, wiedergibt.
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werden, da einerseits die rhetorischen Handbücher nirgends explizit unterscheiden, andererseits auch Rückschlüsse aus den inhärenten Rollenattributen des Anklägers möglich sind. Die Zurschaustellung von pudor war speziell bei einem Jugendlichen erwünscht,151 weil dieser in besonderem Maße die Akzeptanz der gesellschaftlichen Hierarchie demonstrieren musste.152 Insbesondere in der späten Republik war dies sicherlich eine Forderung, der angesichts zahlreicher Devianzen große Aufmerksamkeit geschenkt wurde. So erscheint in der Rosciana die Scham des M. Messalla als wünschenswert für sein Alter,153 ebenso wird Caelius’ adulescentia hauptsächlich von seinem pudor beschützt,154 zudem geht das Lob des Atratinus ausdrücklich auf dessen Schamgefühl ein.155 Vor allem in der Caeliana thematisiert Cicero die Verbindung von Scham und Jugend und schließt fast definitorisch ab: […] die Jugend schone das eigene Schamgefühl und verletze nicht das von anderen.156
Obwohl ein Charakteristikum des Jugendlichen, musste verecundia als Zeichen internalisierter Moralvorstellungen selbstverständlich ein Leben lang zur Schau gestellt werden.157 Der ältere Redner, der ein arrogantes Auftreten an den Tag legt, erfährt gleichermaßen eine moralische Ablehnung durch seine Hörer. Demgemäß begründen verecundia und pudor eine universelle forensische Norm, die selbst bei ansonsten divergierenden Gefühlserwartungen ein ethisch-emotionales Fundament der Egalität sicherstellt.
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Sen. epist. 11,1,1; vgl. auch Döpp 2008, S. 245. Vgl. Thomas 2007, S. 334-335. Cic. S. Rosc. 149. Cic. Cael. 9. Cic. Cael. 7. Cic. Cael. 42: […] parcat iuventus pudicitiae suae, ne spoliet alienam. Ähnlich zeichnet Val. Max. 6,1,praef. ein Bild der pudicitia als Beschützerin der Jugend. Vgl. Sen. epist. 11,1,3.
322
2.3
Der performative Aspekt
Eine Emotion, die dem Interaktionspartner kommuniziert werden muss, impliziert aber auch einen physiologischen Ausdruck, einen nichtsprachlichen Code, der innerhalb der jeweiligen Gesellschaft als unmissverständlicher Indikator für eine bestimmte Empfindung identifizierbar ist.158 Es ist bereits gezeigt worden, dass der körperlichen Expressivität eines Gefühls eine mindestens ebenso große Rolle zukommt wie seiner sprachlichen Artikulation. Im Falle der Scham ist sogar die Präeminenz Ersterer naheliegend. Diese Prämisse wird auch von den Quellen unterstützt. Das letzte Kapitel hat deutlich gemacht, dass pudor und verecundia – oder ihr Fehlen – sich im (gesamten) Verhalten einer Person manifestieren und infolgedessen für Anwesende erkennbar werden.159 In ähnlicher Manier knüpft die rhetorische Theorie die performative Scham-Pflicht des Redners an wahrnehmbare somatische Charakteristika. Die Stimme solle in diesem Fall gepresst (contracta)160 oder sanft (lenis)161 sein, gepaart mit einem dem pudor angemessenen Gesichtsausdruck.162 Letzteres muss gewiss auch im Sinne der von Quintilian erwähnten „Verfärbung“ verstanden werden.163 Tatsächlich stellt das Erröten diejenige physiologische Reaktion dar, die kulturübergreifend für die unter den Oberbegriff der Scham zusammengefassten
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Zur sprachlichen und nichtsprachlichen Codierung von Emotionen allgemein vgl. Vester 1991, S. 69-123; s. dazu auch Trepp 2001, S. 47; Denzin 1984, S. 92; vgl. auch das Zwinkern – mit all seinen Bedeutungsschichten – als Code, das Clifford GEERTZ in Anlehnung an Gilbert RYLE zur Verdeutlichung seiner „dichten Beschreibung“ angeführt hat (Geertz 1987, S. 1012). Vgl. auch Barton 2002, S. 213-214. Ohne explizit auf die „Schamkultur“ einzugehen, stellt auch hier die Autorin eine Verbindungslinie zwischen der ständigen Beobachtung durch die Mitbürger und manifester Scham als Folge der Überwachung her. Quint. inst. 11,3,64. Cic. de or. 2,182. Cic. de or. 2,182. Quint. inst. 12,5,4: Neque ego rursus nolo eum, qui sit dicturus, et sollicitum surgere et colore mutari et periculum intellegere.
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Gefühlsäußerungen repräsentativ ist.164 So entspricht auch auf sprachlicher Ebene dem lateinischen rubor im Deutschen die „Schamröte“.165 Diese Feststellung allein reicht jedoch nicht aus, vielmehr wäre es verfehlt, sie ohne Rücksicht auf den kulturellen Hintergrund stehen zu lassen. Dass die Externalisierung eines Affekts in unterschiedlichen Gesellschaften identisch ist, sagt freilich weder etwas über seine Bedeutung noch über seine Deutung durch die Zeitgenossen aus. Zwar geben die Reden über diesen Punkt kaum Auskunft,166 für die kulturelle Konzeptualisierung des Errötens mangelt es uns dennoch nicht an Quellen. Neben den speziell auf die Rhetorik bezogenen Richtlinien bei Cicero und Quintilian hat sich vor allem Seneca in einem seiner Briefe an Lucilius zu den körperlichen Erscheinungsformen der verecundia geäußert. Das Erröten erscheint dort zusammen mit dem ihm zugrunde liegenden Schamgefühl als Markenzeichen der Moralität eines Jugendlichen und zugleich als äußeres Indiz für dessen Tugendhaftigkeit.167 Dennoch dürfe der rubor nicht auf dieses Lebensalter beschränkt werden, vielmehr müsse er einen ehrenhaften Mann ein Leben lang begleiten.168 Die Expression der Empfindung geht folglich Hand in Hand mit ihrer Verinnerlichung und bildet eine für die Wahrnehmbarkeit der Emotion und somit für die positive Sanktionierung unerlässliche Voraussetzung.169 Allerdings wirkt Scham auch in entgegengesetzte 164
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Neckel 1991, S. 42-43; vgl. auch Giddens 1997, S. 119. Quint. inst. 11,3,71 spricht auch von einer für die Scham typischen Kopfbewegung, die allen bekannt sei. Barton 2001, S. 224 zeigt, dass die Nähe von Gefühl und Gefühlsausdruck in diesem Fall so groß war, dass man pudor und rubor fast synonymisch gebrauchte; vgl. auch Barton 2002, S. 212. In den hier untersuchten orationes kommt das Erröten ein einziges Mal vor: […] deinde ut ea in alterum ne dicas, quae cum tibi falso responsa sint, erubescas (Cic. Cael. 8). Diese Belehrung des Atratinus reiht sich in die wohlwollende Behandlung des Gegenredners ein, dem hiermit das normativ erwünschte Schamgefühl grundsätzlich attestiert wird. Sen. epist. 11,1,1; s. auch Macr. Sat. 1,6,17; Aristot. eth. Nic. 1128b15-18. Sen. epist 11,1,1; 11,1,3; vgl. auch Macr. Sat. 7,11,1 für das Erröten des Grammatikers Servius, das seine verecundia vor der Wortergreifung verriet. Vgl. Barton 2001, S. 224; Barton 2002, S. 215; s. auch ebd., S. 214: „The blush enabled the cultural norms […] to triumph ultimately over the will of even a powerful mortal.“
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Richtung. Wird sie kontextabhängig zu einem Indikator für Schuld oder für schlechtes Gewissen, kann dies ebenso stark am rubor abgelesen werden.170 So wird die Beschämung eines Feindes des Öfteren mit einer Handlung in Verbindung gebracht, die diesen erröten lassen solle.171 Für die kulturellen Glaubensvorstellungen werden die Aussagen Senecas in einem Punkt besonders wichtig. Die körperlichen Begleiterscheinungen lassen sich für ihn auf natürliche, unkontrollierbare Phänomene zurückführen und entziehen sich somit einer bewussten Einflussnahme.172 In besonderem Maße trifft dies auf den rubor zu, den selbst die besten Schauspieler, die alle anderen „Symptome“ einer Emotion nachzustellen vermögen, nicht simulieren könnten.173 Ähnlich hat sich schon Cicero keine Sorgen über mangelnde verecundia gemacht, da sich diese bei einem guten Redner auf natürlichem Wege einstellen würde.174 Eine gewichtige Gegenstimme stammt jedoch von Quintilian, der unter anderem die Vorgabe erteilt, das Erröten vorzutäuschen, falls die Reaktion nicht von selbst eintritt.175 Allerdings darf dieser Einwand nicht als Beleg für eine universelle Skepsis gegenüber der Wahrhaftigkeit des rubor gelten. Im Gegenteil: Er zeigt, dass die Hörer von einer Konvergenz von Fühlen und Zeigen ausgingen, so dass die physio170
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Vgl. Rhet. Her. 2,8, wo zu den Beweismitteln aus der consecutio unter anderem das Erröten des Angeklagten gezählt wird. Kaster 2005, S. 20 erwähnt ebenfalls, dass man sich als Redner vor den physiologischen Auswirkungen der Scham hüten musste, wenn dies als Hinweis auf eine falsche Aussage gedeutet werden konnte. Vgl. Cat. 42, wo die öffentliche Beschämungspraxis der flagitatio beschrieben wird, mit dem Kulminationspunkt: Quodsi non aliud potest, ruborem/ ferreo canis exprimamus ore (15-16). Barton 2002, S. 214 weist darauf hin, dass die Quellen des Öfteren das Erröten als derart große Strafe erachten, dass damit auch der Rache Genüge getan wird. Sen. epist. 11,1,2: […] natura vim suam exercet […] Sen. epist. 11,1,7. So sieht Barton 2002, S. 214 die Scham auch deshalb als bedeutenden Sanktionsmechanismus, weil sie nicht vorgetäuscht werden könne; ebd., S. 216-217 bezeichnet sie das Erröten als ein vitium, dem nichtsdestotrotz mit Nachsicht begegnet wurde. Cic. de or. 1,119-120. Zweifellos meint Cicero hier auch die dazugehörigen körperlichen Ausdrücke, ohne die verecundia nicht vermittelbar wäre. Quint. inst. 12,5,4. Diesen Gegensatz zu Cicero vermerkt auch Döpp 2008, S. 244.
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logischen Nebenerscheinungen notfalls simuliert werden mussten, um Glaubwürdigkeit vorzuspiegeln – wenngleich Quintilian als einziger annimmt, dass dies möglich sei.176 Dies erlaubt uns auch, die Deutung der forensischen Scham weiter zu konkretisieren. Das Erröten stellt im kultureigenen Wissensvorrat Roms die natürliche und unentrinnbare Konsequenz der verinnerlichten Moralvorstellungen dar, die untrennbar mit einem genuinen Erleben des Gefühls verbunden ist und die präsentierte Emotion sodann als echt kennzeichnet. Angesichts der obligatorischen emotionalen Performanz von pudor und verecundia vor Gericht weist der rubor auch auf eine dezidierte Authentizitätserwartung des forensischen Auditoriums hin.177 2.4
Ausblick
Die Funktion der Scham bestand somit vornehmlich darin, die im ersten Teil vorgestellten kulturellen Deutungen symbolisch zu reproduzieren. Wagt man einen Ausblick, so scheinen die gesellschaftlichen Veränderungen auch hinsichtlich der Performanz von pudor und verecundia Spuren hinterlassen zu haben. In sprachlicher Hinsicht äußert sich dies bei Quintilian: Falls aber jemand dies liest, […] so möge er wissen, dass meine Worte nicht die brave Wesensart (probitas) tadeln, sondern die Schüchternheit (verecundia), insofern sie ein Gefühl der Furcht (timor) ist, das den Sinn von dem weglenkt, was man tun muss.178
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Vgl. auch Gell. 19,6,1-3 und Macr. Sat. 7,11,4-9. Die auf Aristoteles zurückgehende Theoretisierung der Schamröte und des Erblassens als Bewegungen des Blutes im Körper lassen darauf schließen, dass auch hier die Autoren nicht von der Möglichkeit einer Beeinflussung ausgegangen sind. Kaster 2005, S. 61 zeigt, dass Erröten und Unbehagen gleichermaßen für verecundia und pudor typisch waren. Barton 2002, S. 217 schlussfolgert: „For this reason the Romans were not as ashamed of being ashamed as we are“. Quint. inst. 12,5,3: Sciat autem, si quis haec […] leget, non probitatem a me reprendi, sed verecundiam, quae est timor quidam reducens animum ab iis, quae facienda sunt.
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Verecundia wird bei ihm zu einem negativen Begriff, der im Gegensatz zur normativ richtigen und gesellschaftsregulierenden Scham steht.179 Ganz aus dem rhetorischen Usus verschwunden scheint die Praxis dagegen bei Tacitus: Wer wird heut wohl einen Redner ertragen, der zu Beginn von seiner schwachen Gesundheit spricht?180
In ähnlicher Manier beklagt Plinius die irreverentia der Jugend seiner Zeit in rhetorischen Belangen. Hatte man früher größeren Respekt vor der Aufgabe des Redners, so scheinen für ihn pudor und reverentia nun keinen Platz mehr vor Gericht zu haben.181 Mit Blick auf das gewaltsame Ende Ciceros, das seiner Beredsamkeit geschuldet sein soll, erachtet es Iuvenal mittlerweile als gefährlich, sich der Rhetorik überhaupt noch hinzugeben.182 Möglicherweise wird dahinter eine Entwicklung erkennbar, die den Habitus der Scham mitunter der Professionalisierung der Anwaltstätigkeit und der Auffächerung der Gerichtshöfe zum Opfer fallen ließ. Bestand in den republikanischen quaestiones noch eine Wechselbeziehung zwischen Redner und Richter, die Letztere zwar überhöht, aber dennoch als Teil einer aus der Gesellschaft schöpfenden Rechtsprechung konzi179
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Vgl. dazu Döpp 2008, S. 241, 243-244; ebd., S. 244 sieht der Autor jedoch den Grund dafür in der Rezeption der Stoa durch Quintilian; s. dazu auch Lossmann 1967, S. 343-345, der ebenfalls die veränderten gesellschaftlichen Bedingungen anführt. Quint. inst. 11,3,161 lässt aber erkennen, dass er der forensischen Ausprägung der verecundia gelegentlich auch eine positive Bedeutung zugesteht. Tac. dial. 20,1: Quis nunc feret oratorem de infirmitate valitudinis suae praefantem? Plin. epist. 2,14. Iuv. 10,118-124. Freilich liegt das auch an den wirtschaftlichen Erwägungen, die er in seiner siebenten Satire anführt; vgl. auch Iuv. 7,146 für das Bild der „weinenden Mutter“ als Metapher für die Redekunst. Jedoch gab es noch in der Spätantike mindestens eine Gegenstimme dazu. Bei Macrobius sind nämlich Erröten und die Scham eines Vortragenden – wenngleich nicht im juristischen Kontext – noch lebendig (vgl. Macr. Sat. 7,11,2), allerdings ist zu vermuten, dass der Autor hier auch in habitueller Hinsicht antiquarisch vorgeht.
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piert, könnte (zumindest auf der Ebene der „Mentalität“) der Gedanke der Professionalität dazu geführt haben, dass Gericht und Gesetz nun als abstrakte Entitäten erschienen, die den rhetorischen Wettbewerb auf einen moralisch immer weniger geregelten Schlagabtausch reduzierten.183 Es kann in diesem Zusammenhang zumindest vermutet werden, dass die sinkende Forderung nach einer dissimulatio artis, die mit der Professionalisierung einhergeht, auch die Notwendigkeit, verecundia an den Tag zu legen, schwächer werden ließ und somit die Veränderung der gesellschaftlichen und kulturellen Vorstellungen reflektiert.184
3
Die Funktionen der Furcht und der Angst
3.1
Vereri, timere, metuere: eine Überleitung
Wie bereits angedeutet, evoziert die Scham immer auch eine gewisse Angst – die „Versagensangst“, die den Redner antreibt und dafür sorgt, dass er seine Aufgabe gewissenhaft erfüllt. Die kulturübergreifende Nähe dieser beiden Termini wird auch von jenem Begriff reflektiert, den die Soziologie für die „Schamvariante, die uns im Alltag am meisten begegnet“,185 geprägt hat, dem Begriff der „Scham-Angst“.186 Anders als die situative Scham, stellt dies ein konstantes Gefühl dar, das nicht etwa plötzlich eintritt,187 sondern sich in seiner Omnipräsenz und Dauerhaftigkeit auf alle Interaktionen des Alltags verhaltenssteuernd auswirkt und vom Wunsch der „Bewahrung der persönlichen Würde“188 getragen 183
184 185 186 187 188
Achard 2006, S. 220 begründet den „Niedergang“ der Rhetorik auch mit dem Verlust der politischen Bedeutung. Ähnlich bereits bei Tac. dial. 36,1-8 (bes. 36,2), der gleich zu Beginn seines Dialogs feststellt, die Rhetorik seiner Zeit sei „verwaist“ (deserta); zu den Gerichtshöfen der augusteischen Zeit vgl. Bauman 1996, S. 50-64; s. auch Harries 2007, S. 21-22. Vgl. Neumeister 1964, S. 147; für eine Abnahme des Schamgefühls gegen Ende der Republik vgl. auch Kneppe 1994, S. 308. Jacoby 1997, S. 159. Vgl. Landweer 1999, S. 42. Ebd., S. 43. Jacoby 1997, S. 160; vgl. auch ebd., S. 160-161; Claessens 1966, S. 91.
328
wird. Der modernen Scham-Angst entspricht weitgehend die verecundia, die ihrerseits auch semantisch an der Schnittstelle zwischen Peinlichkeit und Furcht angesiedelt ist. Dass sie dennoch auch in diesem Unterkapitel kurz Erwähnung finden muss, liegt an der Tatsache, dass nicht etwa die Scham an sich als Regulativ des gesellschaftlichen Miteinanders angesehen werden darf, sondern ebenjener Konnex mit der Angst – oder vielmehr die Angst selbst, die sozio-funktional ist, insofern als sie in Verbindung zur Eifersucht, Schuld oder Scheu immer das bestimmende Prinzip repräsentiert: die Furcht vor dem Verlust eines inneren oder äußeren Wertes.189 Somit ist Scham zwar die konkrete Ausprägung einer elementaren forensischen Emotion, sie ist aber bloße Unterkategorie eines determinanten und viel weiter gefassten Gefühls.190 Diese Feststellung erinnert an die Konzeptualisierung des Begriffs in den Tusculanae Disputationes. Der Furcht (metus) untergeordnet ist dort unter anderem pudor – zusammen mit pigritia, terror, timor, pavor, exanimatio, conturbatio und formido.191 Freilich muss an dieser Stelle ebenfalls darauf aufmerksam gemacht werden, dass Übersetzungen nur unter dem Vorbehalt der narrativen Skripte vorgenommen werden können. So differenziert auch Cicero im Folgenden, wenn er die einzelnen Begriffe über ihre Stellung in bestimmten Interaktionen definiert. Die Unterkategorie des pudor weist jedoch explizit auf die oben angeführte Verbindung hin. Hatte der Autor dabei auch die Konnotation der verecundia im Sinn, so wird die positive, gar staatstragende Funktion durch einen Vergleich mit anderen Stellen evident. Es ist die verecundia, die dem Idealstaat Ciceros zugrunde liegt, indem sie als „natürliche Angst“ die Gesetzestreue garantiert.192 Damit steht die Schrift De re publica im Einklang mit dem verwandten De legibus, wo ebenfalls die als Urheberin der Scham zu verstehende Natur dem Menschen den Respekt vor den Gesetzen auferlegt.193 Das idealisierende Bild Ciceros, der gewiss in erster Linie eine selbstverständliche, internalisierte Rücksicht auf die Mitbürger im Blick hatte, kann nicht darüber hinwegtäuschen, dass damit 189 190 191 192 193
Vgl. Armon-Jones 1986b, S. 62. Kaster 2005, S. 16 sieht die Angst, die verecundia impliziert, am ehesten im englischen Verb „worrying“ enthalten. Cic. Tusc. 4,16. Cic. rep. 5,6; vgl. Barton 2002, S. 213. Cic. leg. 1,50.
329
auch ein angstbehaftetes Verhalten angesprochen wird. Die Verbindung, die er zu den Gesetzen und zum Staat herstellt, lässt die Scham zur Angst vor der darauffolgenden Strafe werden.194 Kehren wir zur forensischen Rhetorik zurück, wird die Interdependenz der Empfindungen deutlich.195 Das legitime vereri kommuniziert den Hörern immer den Wunsch Ciceros, Rücksicht auf die Gepflogenheiten zu nehmen, sei es in der Behandlung L. Sullas oder des Prozessgegners, sei es in der analogen Pflicht, die Erwartungen der Hörer (und vor allem der Richter) nicht zu missachten.196 Dieser Gedanke ist bisweilen auch im Vokabular der Furcht enthalten. In der Rede für Milo versucht Cicero anhand einer angsteinflößenden Hypothese den Richtern den Sachverhalt vor Augen zu führen, ein Argument, im Zuge dessen seine Scham-Angst, die Konventionen zu übertreten, zur regelrechten Furcht wird: Wäre es doch der Wille der unsterblichen Götter gewesen – verzeih mir, Vaterland, diese Worte; ich muss ja fürchten (metuo), dass sich dir gegenüber als ein Verbrechen darstellt, was ich für Milo als Zeichen meiner Dankbarkeit äußern will – wäre P. Clodius noch am Leben, ja
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Vgl. Gell. 19,6,3; 14,4,3; s. dazu auch Barton 2002, S. 213; vgl. ferner Cic. S. Rosc. 55, wo die Nützlichkeit vieler Ankläger mit der Furcht (metus) der potentiellen Verbrecher begründet wird. Auch in Cic. Tull. 10 wird metus zum Rechtsprinzip und zu demjenigen Instrument, das – ebenso wie in der Rosciana – die Verwegenheit (audacia) der Übeltäter im Zaum hält; s. auch Tac. dial. 5,5; für den Gegensatz von timor und audacia vgl. zudem Cic. Cluent. 15. Le Penuizic 2015, S. 149-150 spricht in diesem Zusammenhang von einer „pädagogischen Angst“. Cic. de or. 1,120 erklärt die Vorschrift, zu Beginn der Rede Scheu an den Tag zu legen, auch damit, dass der Redner die Reaktion des Publikums „fürchtet“ (pertimescit). Diese Angst ist freilich im Kontext eines sozialen Rollenversagens zu verstehen; vgl. auch Cic. de or. 1,123; 1,124-125. Die oben erwähnte konzeptionelle Veränderung bei Quintilian erkennt man nicht zuletzt daran, dass er den topos auf reverentia und den Respekt vor der Aufgabenstellung zurückführt, diese Gedanken jedoch explizit mit metus als Devianz kontrastiert (vgl. inst. 12,5,1; 12,5,2; 12,5,4). Vgl. Cic. S. Rosc. 82, 94, 95, 124, 135; Cic. Cluent. 41; Cic. Sest. 31.
330
wäre er Prätor, Konsul, Diktator, statt dass ich dieses Schauspiel erleben muss!197
Nichtsdestoweniger überwiegen die Unterschiede. Einerseits ist vereri im Gegensatz zu metuere oder timere immer moralisch konnotiert,198 andererseits offenbart sich eine wesentliche Divergenz in der Frage nach der „Rationalität“ der Gefühle. Ist Ersteres das Ergebnis eines kognitiven Bewertungsprozesses – und somit laut ciceronischer Definition nur bedingt als affectus zu betrachten –, manifestiert sich jene Angst, die nicht zwangsläufig auf konkrete, schambehaftete Interaktionen ausgerichtet ist, immer als eine irrationale Externalisierung des Innenlebens.199 Sie wird gewissermaßen unberechenbar und muss, sofern diesbezügliche Regelmäßigkeiten festzustellen sind, auch eine andere Funktion im Rahmen der Gerichtsverhandlung erfüllt haben. 3.2
Konzeptionen der Angst
Für die Begriffe der Angst und der Furcht kann somit eine ambivalente Stellung konstatiert werden. In Verbindung zur Scham erhalten sie zumeist eine positive, bisweilen gesellschaftsdienliche Konnotation, allerdings können sie für sich allein genommen auch das Gegenteil benennen und die Folge einer gegen die res publica gerichteten Haltung sein. Mit Blick auf die damit einhergehenden antiken Vorstellungen steht uns ne197
198 199
Cic. Mil. 103: Utinam di immortales fecissent – pace tua, patria, dixerim; metuo enim ne scelerate dicam in te quod pro Milone dicam pie utinam P. Clodius non modo viveret, sed etiam praetor, consul, dictator esset, potius quam hoc spectaculum viderem!; vgl. dazu Fotheringham 2013, S. 396-397. Eine vergleichbare Verbindung stellt auch der Beginn der Miloniana her: Etsi vereor, iudices, ne turpe sit pro fortissimo viro dicere incipientem timere (Mil. 1); vgl. dazu Fotheringham 2006, S. 66; Fotheringham 2013, S. 113-116; s. auch Cic. Mil. 21. Für eine Annäherung von formido an die gesellschaftsstabilisierende Funktion der verecundia vgl. Cic. Cael. 14; s. auch Cic. Rab. Post. 48. Vgl. Thomas 2007, S. 350; Vaubel 1969, S. 25; s. auch Stahl 1968, S. 11. Vgl. dazu Lossmann 1967, S. 332-334; s. auch ebd., S. 334: „[D]as vereri gehört an die Stelle des Handlungsablaufs, wo die Gefahr noch vermieden werden kann“. Dieses sei somit „eine notwendige Art von Furcht“ (ebd.).
331
ben Ciceros Sichtweise auch Aristoteles’ Konzeptualisierung zur Verfügung, zwei definitorische Versuche, bei denen die Autoren konsequentermaßen die motivationale Komponente des Gefühls in den Mittelpunkt rücken. So ist Furcht für Aristoteles „eine Art von Schmerz oder Beunruhigung, herrührend aus der Vorstellung eines bevorstehenden verderblichen oder schmerzlichen Übels“.200 Ebenfalls als motivational (wenn er nach Zenon alle Gefühle mit vermeintlichen Gütern oder Übeln in Verbindung bringt)201, jedoch als dezidiert antirational definiert Cicero die Empfindung: Furcht (metus) ist […] eine von der Vernunft abgewandte Vorsicht.202
Letztere Begriffsbestimmung bringt uns freilich näher an die römische Vorstellungswelt, die sich auch in der Resonanz widerspiegeln muss, mit der man den Performanzen der Angst begegnete.203 Dabei entsteht bei einer Lektüre der ciceronischen Taxonomie der Eindruck, dass die Entschlüsselung der feinen Differenzierungen der Furchtbegriffe wie auch ihrer gesellschaftlichen Funktion mithilfe der narrativen Skripte möglich sei. Der Autor nimmt eine Kategorisierung vor, die sowohl der Stärke und den psychischen Auswirkungen der jeweiligen Emotion als auch dem individuellen Bewertungsprozess Rechnung trägt. Dementsprechend definiert er den Schrecken (terror) als „eine erschütternde Furcht“, das Entsetzen (pavor) als „eine Furcht, die den Geist durcheinander bringt“, sowie das Grausen (formido) als 200 201 202
203
Aristot. rhet. 1382a21-22: […] λύπη τις ἢ ταραχὴ ἐκ φαντασίας µέλλοντος κακοῦ φθαρτικοῦ ἢ λυπηροῦ; vgl. auch Aristot. eth. Nic. 1115a9. Cic. Tusc. 4,11. Cic. Tusc. 4,13: est […] metus a ratione aversa cautio. Die motivationale Komponente wird im Zuge der weiteren Definitionen ersichtlich: Est […] metus opinio impendentis mali, quod intolerabile esse videatur (Tusc. 4,14); est enim metus futurae aegritudinis sollicita expectatio (Tusc. 5,52). Entgegen der Übersetzung von Olof GIGON ist an dieser Stelle metus mit „Furcht“ wiedergegeben worden, während für timor der Begriff der „Angst“ passender erscheint. Diese Trennung soll ebenfalls bei der Übersetzung der weiteren Passagen beibehalten werden; s. dazu die Erklärung unten, S. 335. Vgl. Böhme 1993, S. 316, der trotz der Subjektivität der Quellen in Bezug auf Gefühlskonzeptionen davon ausgeht, dass sie den „Zeitgeist“ erfassen.
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„eine dauernde Furcht“.204 Die subjektive Komponente ist vornehmlich für dasjenige Gefühl prägend, das uns in den Quellen – neben metus – am häufigsten begegnet: die Angst (timor) als „Furcht vor einem herannahenden Übel“.205 Das Nebeneinander dieser Hauptbegriffe hat vor allem Jean-François THOMAS im Zuge seiner lexikalischen Studien untersucht. Die von früheren Forschungen aufgestellte Prämisse, dass metus und timor des Öfteren austauschbar seien und die semantischen Finessen, trotz theoretischer Unterschiede, kaum von den Quellen reflektiert werden,206 ist auch von THOMAS weitgehend bestätigt worden,207 zugleich hat der Autor eine praktische Nuancierung herausgearbeitet, die das Postulat einer strikten Synonymie verbietet.208 Zwar bezieht sich diese weniger auf die Heftigkeit der jeweiligen Emotion,209 sie betrifft aber sowohl Ursachen als auch Ausrichtung der Affekte. So würde metus die Furcht vor einer konkreten, unmittelbaren Gefahrensituation (und somit eine „rationalere“ Variante) darstellen,210 timor dagegen sei eine innere, gewissermaßen diffuse und nicht auf einen bestimmten Stimulus zurückzuführende „Weltangst“.211 Damit verbunden ist nicht nur die Feststellung, dass die genauen Personen oder Umstände, die zu metus führen, immer klar benannt werden können, sondern auch der im timor enthaltene Gedanke einer subjektiven „Repräsentation“ der angstbehafteten Situation, einer Vorstellung von Gefahr,212 die dazu führt, dass der betroffene 204
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212
Cic. Tusc. 4,19: […] terrorem metum concutientem, […] pavorem metum mentem loco moventem, […] formidinem metum permanentem; zu terror vgl. auch Thomas 1999, S. 229-232; zu pavor: ebd., S. 227-229; Thomas 2015, S. 20-22; zu formido: Thomas 1999, S. 225-227; Thomas 2015, S. 22. Cic. Tusc. 4,19: […] timorem metum mali adpropinquantis; vgl. auch Thomas 2015, S. 14. Vgl. dazu Thomas 1999, S. 217. Vgl. ebd., S. 220, 223; Thomas 2015, S. 14-15. Vgl. Thomas 1999, S. 224. Thomas 2015, S. 19. Thomas 1999, S. 219, 220-221. Ebd., S. 224; zum Begriff der „Weltangst“ vgl. auch Böhme 1993, S. 315. Bisweilen kann aber auch timor die Antwort auf eine konkrete Gefahr sein (vgl. Thomas 1999, S. 221-222). Einen Überblick über die römischen Angstbegriffe bietet auch Kneppe 1994, S. 15-32. Vgl. Thomas 1999, S. 222.
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Akteur stets von diesem vagen, aber für ihn umso bedrohlicheren Gefühl beherrscht wird.213 In den forensischen Reden offenbart sich allerdings des Öfteren ein lockerer Umgang mit den Begrifflichkeiten, der zu dem Schluss führt, dass zumindest auf der Ebene der kulturellen Wahrnehmungsmuster metus und timor ähnliche Konnotationen evozierten. Exemplarisch dafür ist ein topos, den Cicero sowohl in der Cluentiana als auch in der Caeliana anwendet. Die Anthropomorphisierung des Hauses als Zeuge der Pietätlosigkeit Sassias gibt dem Redner die Gelegenheit, gleichermaßen die Emotion anzusprechen, die Cluentius’ Mutter – gewiss auch aus Scham vor den Penaten – hätte erleben müssen: Hat ihr denn nicht gebangt (timuisse) – wenn nicht vor der Macht der Götter und dem Urteil der Menschen, so doch vor der Nacht selbst und den Fackeln ihrer Hochzeit? Nicht vor der Schwelle des Schlafgemachs, nicht vor der Lagerstatt der Tochter, auch nicht schon vor den Wänden, den Zeugen der vorigen Vermählung?214
Zehn Jahre später wendet er die gleiche Taktik gegen Clodia an: Fürchtet (metuet) sie sich nicht vor dem Hause selbst – es könnte laut zu reden beginnen –, erschaudert sie nicht vor den Wänden, ihren Mitwissern, und vor jener Nacht des Unheils und des Jammers?215
Man muss angesichts dieser Übereinstimmung davon ausgehen, dass die Begriffe zuweilen identischen Gefühlen Ausdruck verleihen, die von den Zuhörern nicht nur richtig eingeordnet, sondern auch entsprechend mit Sinn gefüllt werden – wenngleich die von THOMAS ermittelten Im213 214
215
Thomas 2015, S. 19; Thomas 1999, S. 224; vgl. auch ebd., S. 220. Cic. Cluent. 15: Nonne timuisse, si minus vim deorum hominumque famam, at illam ipsam noctem facesque illas nuptiales! non limen cubiculi! non cubile filiae! non parietes denique ipsos, superiorum testes nuptiarum! Cic. Cael. 60: Nonne ipsam domum metuet, ne quam vocem eiciat, non parietes conscios, non noctem illam funestam ac luctuosam perhorrescet? In der Rede für Cluentius wird derselbe Gedanke auch durch reformidare ausgedrückt; vgl. Cluent. 27: Illa autem non admiratur audaciam, non impudentiam aspernatur, non denique illam Oppianici domum viri sui sanguine redundantem reformidat […]
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plikationen nicht selten eine erhebliche kommunikative Wirkung entfalten konnten. Das lateinische Phänomen ist ebenso mit Blick auf das heutige Vokabular zu beobachten. Eine moderne Unterscheidung der Termini, wie Sören KIERKEGAARD sie vorgeschlagen hat, indem er die „Furcht“ auf ein bestimmtes Objekt bezog und die „Angst“ dagegen zu einem inneren, nicht zielgerichteten Erlebnis machte,216 spielt auch im zeitgenössischen Verständnis eine allenfalls untergeordnete Rolle.217 So sollen im Folgenden die Begriffe, sofern sie für die Antike jene kulturelle Synonymität aufweisen, ebenfalls als austauschbar betrachtet werden, für die Textanalyse ist es jedoch von Vorteil, die Konnotationen dadurch zu bewahren, dass sich der gedankliche Dualismus zwischen metus/ Furcht und timor/Angst auch in der Übersetzung der Passagen widerspiegelt. Die Emotion, die uns hier beschäftigt, weist in einem weiteren Punkt geringere Probleme auf als das komplexe Konzept der Scham. Wurde diese durch das gesamte Verhalten einer Person suggeriert, manifestierte sich der Affekt der Angst wesentlich direkter. Ob die eigene Furcht den Richtern mitgeteilt oder eine solche dem Gegenredner unterstellt wird, bedarf es einer Verbalisierung, die mitunter ebenso explizit auf die somatischen Charakteristika des Gefühls eingeht. Aus diesem Grund ist es im Folgenden möglich, unsere Informationen direkt aus den orationes zu beziehen und sie in den für die Interaktion relevanten Kontext zu setzen. Im Gegensatz zu den meisten Forschungen, die die Rolle der Angst in der Antike thematisiert haben, soll hier nicht diejenige Furcht von Belang sein, die der Autor bei seinen Hörern hervorrufen möchte,218 216
217 218
Vgl. KIERKEGAARD, Sören, Der Begriff Angst. Übersetzt und mit Glossar, Bibliographie sowie einem Essay „Zum Verständnis des Werkes“ herausgegeben von Liselotte Richter, Hamburg 20023, hier: S. 40: „[E]r [scil.: Der Begriff Angst] [ist] gänzlich verschieden […] von der Furcht und ähnlichen Begriffen, die sich auf etwas Bestimmtes beziehen, während die Angst die Wirklichkeit der Freiheit als Möglichkeit für die Möglichkeit ist“; vgl. dazu auch Claessens 1966, S. 88. Vgl. Böhme 1993, S. 315. In dieser Ausprägung spielt die Furcht der Richter, die auch ihr Urteil zu beeinflussen vermag, vor Gericht freilich eine essenzielle Rolle, die jedoch kein forensisches Spezifikum darstellt, sondern stets gesamtgesellschaftliche
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sondern die kulturimmanenten Regeln, die das Zeigen und Erleben von Angst vor Gericht betrafen, wobei die jeweilige Ursache des Gefühls dort im Vordergrund stehen wird, wo sie eine unterstützende kommunikative Funktion erfüllt.219 3.3
Die Aussagekraft: Furcht als Indikator
Haben wir in einem früheren Kapitel die Vorrangstellung körperlicher Indikatoren für das Kommunizieren von Scham konstatiert, so kann diese Feststellung uneingeschränkt auf das hier untersuchte Gefühl übertragen werden. Joanna BOURKE hat die somatische Dimension der Angst in der Einleitung ihres Buches skizziert: „The emotion of fear is fundamentally about the body – its fleshiness and its precariousness. Fear is felt, and although the emotion of fear cannot be reduced to the sensation of fear, it is not present without sensation [sämtliche Hervorhebungen im Original]“.220 Um diese Prämisse für die Informationsvermittlung nutzbar zu machen, muss Furcht selbstverständlich nicht nur gefühlt werden, sondern auch kommunizierbar sein. Soll sie überdies ein genuines Spiegelbild des Seelenlebens der Akteure vermitteln und somit Aussagekraft besitzen, muss zudem von einer weitgehenden Authentizität des Affekts ausgegangen werden. Beide Voraussetzungen treffen auf die spätrepublikanische Gesellschaft zu und lassen die Angst zu einem wesentlichen Indikator in der forensischen Interaktion werden. Vor allem die rhetorischen Handbücher gewähren einen Einblick in die körperlichen Begleiterscheinungen der Empfindung. Ausgehend vom stimmlichen Wiedererkennungswert eines Affekts erteilt Cicero die Vorschrift, bisweilen auch einen „Ton der Furcht“ anzuschlagen, der als
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220
Hintergründe hat; vgl. dazu Cic. de or. 2,206; Quint. inst. 4,1,20; 4,1,33; s. auch Le Penuizic 2015, S. 150-151. Dass im Prozess jedoch auch die performative Furcht der Redner relevant ist, belegt z. B. Quint. inst. 6,2,21: Et metum tamen duplicem intellegi volo, quem patimur et quem facimus. Wie auch im Falle der Scham, ist mit Blick auf die Angst der Eindruck entstanden, dass diese vor Gericht eine sekundäre Rolle gespielt hätte (etwa bei Le Penuizic 2015, S. 147), eine Prämisse, die es auf den folgenden Seiten ebenfalls zu überprüfen gilt. BOURKE, Joanna, Fear. A Cultural History, London 2005, hier: S. 8.
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„gedämpft, unsicher und entmutigt“ beschrieben wird.221 In der Stimme manifestiert sich auch eine Nähe zur Scham, wenn jene beim Erleben von Angst ebenfalls knapp (contracta) sein solle.222 Die Erkennbarkeit der Emotion wird aber nicht auf die Tonlage beschränkt, vielmehr können auch hier sämtliche Körperbewegungen als Indikatoren des entsprechenden Gefühls gewertet werden. Quintilian zeichnet in einem längeren Abschnitt den Beginn der Miloniana aus einem performatorischen Blickwinkel nach und versucht zugleich Mimik und Gestik Ciceros nachzuempfinden.223 Selbst aus heutiger Perspektive noch nachvollziehbar und für die Zeitgenossen gewiss auf Anhieb erkennbar war ein Anheben der Schultern, das als Geste der Furcht interpretiert werden konnte – und um jeden Preis vermieden werden sollte.224 Der Gesichtsausdruck unterstützt freilich die Botschaft. Wie der rubor untrennbar mit der Scham verbunden ist, so wohnen auch der Angst „Erbleichen, Zittern und Zähneklappern“ inne.225 Darüber hinaus scheint die Authentizitätsprämisse in diesem Fall die körperliche Aussagekraft der meisten anderen Gefühlsbekundungen sogar zu übertreffen. Cicero zählt die Äußerungen, die unter Einwirkung von Emotionen getätigt werden, zu denjenigen topoi, die einer Rede auctoritas und fides verleihen, und bezieht sich dabei beispielhaft auf metus.226 Einer Anekdote des Gellius kann überdies entnommen werden, dass das Erleben (und Zeigen) von Angst selbst für die Stoiker keine Schande war, da diese als eine Emotion galt, die sich der Selbstkontrolle entzieht.227 Der Weise könne höchstens im Nachhinein über seine Emp-
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Cic. de or. 3,218: aliud metus, demissum et haesitans et abiectum […] Quint. inst. 11,3,64: […] in metu et verecundia contracta. Quint. inst. 11,3,47-51. Quint. inst. 11,3,83. Cic. Tusc. 4,19: pallor et tremor et dentium crepitus; vgl. auch Iuv. 13,223. Erblassen wird somit zu einem unweigerlichen Indizienbeweis für Schuld (vgl. Rhet. Her. 2,8). Bezeichnend ist die Darstellung des unsicheren Gesichtsausdrucks und des „häufigen Farbenwechsels“ Oppianicus’ im Laufe des Skamander-Prozesses (Cic. Cluent. 54: suspensus incertusque vultus, crebra coloris mutatio). Cic. top. 74. Gell. 19,1,15.
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findung reflektieren und sie als unzweckmäßig entlarven.228 Manifeste Furcht musste somit auf dem Forum gleichsam ein Schuldeingeständnis sein. Die somatischen Charakteristika des Gefühls stellen für Cicero „stumme Zeugnisse des Verbrechens“ dar,229 eine Meinung, die seine Zeitgenossen gewiss geteilt haben. In der Cluentiana berichtet der Redner von der Angst (timor), die er verspürte, nachdem er die Aussichtslosigkeit der Sache Skamanders erkannt hatte,230 ebenso wird im Zuge der Verteidigung Sullas die Vernunft zum Antonym der ständigen Angst des Autronius.231 Beeindruckend für die Zuhörer – und gleichermaßen entlarvend – muss folglich das Bild gewesen sein, das Cicero in der Rosciana von der Reaktion seines Gegenanwalts nach der ersten Erwähnung des Chrysogonus zeichnet: […] kaum hatte ich ihn berührt, da richtete sich der Mensch auf; er schien zu erstaunen; […] Hernach rannten unablässig Leute hin und her […]232
Die unabwendbare Konvergenz von Angstgefühl und äußeren Symptomen der Furcht bezieht Cicero auf ein konkretes Erklärungsmuster, das er ebenfalls in der Rede für Roscius illustriert. Einige Jahre zuvor hatte in Rom ein Verbrechen stattgefunden, das sich im Laufe der Zeit scheinbar zu einer cause célèbre entwickelte.233 Ein gewisser T. Cloelius ist im Schlaf ermordet worden und der Verdacht fiel erwartungsgemäß auf seine beiden Söhne, die im selben Zimmer die Nacht verbrachten. Da man diese aber bei offener Tür schlafend entdeckte, konnten sich die 228 229
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Gell. 19,1,17-20. Cic. part. 114: Consequentia quaedam signa praeteriti et quasi impressa facti vestigia; quae quidem vel maxime suspicionem movent et sunt quasi tacita criminum testimonia […]; vgl. ferner Cic. part. 112-113. Cic. Cluent. 51. Angst als ein Gefühl, das dem Angeklagten induziert werden müsse, begegnet uns auch im Vorverfahren gegen Caecilius: Nunc tantum id dicam, quod tacitus tu mihi adsentiare, nullam rem in me esse quam ille contemnat, nullam in te quam pertimescat (div. in Caec. 23). Cic. Sull. 17. Cic. S. Rosc. 60: […] quem simul atque attigi, statim homo se erexit; mirari visus est. […] Postea homines cursare ultro et citro non destiterunt […] So wird die eher profane Begebenheit noch von Val. Max. 8,1,13(absol.) erzählt.
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Richter nicht vorstellen, dass jemand ein solches Verhalten nach dem Mord am eigenen Vater an den Tag legen würde. Folgerichtig hat man die Cloelii freigesprochen.234 Die Deutung dieser Entscheidung, die trotz ihres topischen Charakters der römischen Vorstellungswelt zumindest nicht widersprach, schließt Cicero an die Erzählung an: Denn ihr dürft nicht glauben, dass es zugeht, wie ihr es oft auf der Bühne seht: dass die brennenden Fackeln der Furien die einer gottlosen und verbrecherischen Tat Schuldigen verfolgen und in Bestürzung versetzen. Die eigene Tücke und das eigene Grauen quält einen jeden am meisten; das eigene Verbrechen verfolgt ihn und schlägt ihn mit Wahnsinn; die eigenen bösen Gedanken und Gewissensregungen erschrecken ihn; das sind die Furien, die den Gottlosen unablässig zusetzen; sie wohnen in der eigenen Brust und fordern Tag und Nacht von den Kindern, Auswürfen der Verruchtheit, Buße für die Eltern.235
Die hier angesprochene conscientia nahm in Rom eine semantische Entwicklung, die vom „Mitwissen“ zur „Mitwisserschaft“ führte: „Der conscius ist nun entweder der Komplize schlimmer Taten anderer oder der vom Wissen um seine eigenen schlimmen Taten gequälte Delinquent“.236 In dieser Ausprägung war das Gewissen aber nicht nur inneres Erlebnis, sondern es zog ebenso die unentrinnbare Externalisierung der Schuld selbst nach sich. Dadurch legte es sowohl die Verfehlung im
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Vgl. Cic. S. Rosc. 64-65. Cic. S. Rosc. 67: Nolite enim putare, quem ad modum in fabulis saepe numero videtis, eos qui aliquid impie scelerateque commiserint agitari et perterreri Furiarum taedis ardentibus. Sua quemque fraus et suus terror maxime vexat, suum quemque scelus agitat amentiaque adficit, suae malae cogitationes conscientiaeque animi terrent; hae sunt impiis adsiduae domesticaeque Furiae quae dies noctesque parentium poenas a consceleratissimis filiis repetant; ähnlich auch Cic. Pis. 46; vgl. Cic. leg. 1,40; zur Stelle aus der Rosciana vgl. auch Landgraf 1914, S. 140; Dyck 2010, S. 132-133; Thome 2000, Bd. 1, S. 37; Gildenhard 2011, S. 113; Cloud 2009, S. 121. Der von Aischines (Tim. 190-191) übernommene topos ist freilich nicht römisch, er muss dennoch die Akzeptanz des Publikums gewonnen haben. So findet sich das Motiv des übermächtigen Gewissens auch bei Iuv. 13,1-4; 13,192-198. Thome 2000, Bd. 1, S. 35.
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Einzelfall als auch den gesamten Charakter einer Person offen.237 Als Ansprechen dieses internalisierten Wissens muss auch die Thematisierung der Rückkehr Milos nach Rom verstanden werden. Er gab sein reines Gewissen zu erkennen und dokumentierte dadurch seine Unschuld, eine Performanz, die, wenngleich sie im Falle Milos nicht gefruchtet hat, nicht unterschätzt werden darf: Wenn ihr jetzt noch nicht ganz einseht, […] dass Milo reinen und ungetrübten Sinnes – er wurde ja von keinem Verbrechen bedrängt, von keiner Furcht geplagt, von keinerlei Gewissensbissen gepeinigt – nach Rom zurückgekehrt ist, dann bedenkt bitte, […] wie rasch seine Rückkehr vonstattenging, wie er, während die Kurie noch brannte, auf dem Forum auftrat, mit welcher Seelengröße, welcher Miene, welchen Worten. […] Groß ist die Kraft des Gewissens, ihr Richter, groß in beiderlei Hinsicht: die fürchten nichts, die frei sind von Schuld, und die glauben stets, ihre Strafe vor Augen zu sehen, die gefehlt haben.238
Angst und Furcht sind laut Dieter CLAESSENS Gefühle, die „aktivierend“ wirken,239 eine Eigenschaft, deren negative Auswirkungen bereits Cicero in seinem De officiis erläutert hat. So bilden für ihn die Furcht davor, Schaden zu erleiden, und das darauf zurückzuführende Verlangen
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Vgl. Iuv. 13,239-249. Demnach kehre die wahre Natur des Einzelnen immer wieder zurück, so dass die Verbrecher letzten Endes ihrer Strafe nicht entgehen könnten. Allerdings zieht Iuvenal auch die Möglichkeit in Betracht, einen schlechten Charakter durch Verwegenheit (audacia) zu verschleiern (Iuv. 13,109-110). Cic. Mil. 61: Quod si nondum satis cernitis, […] pura mente atque integra Milonem, nullo scelere imbutum, nullo metu perterritum, nulla conscientia exanimatum, Romam revertisse, recordamini […] quae fuerit celeritas reditus eius, qui ingressus in forum ardente curia, quae magnitudo animi, qui voltus, quae oratio. […] Magna vis est conscientiae, iudices, et magna in utramque partem, ut neque timeant qui nihil commiserint, et poenam semper ante oculos versari putent qui peccarint; s. auch Cic. S. Rosc. 16. Roscius’ Vater zeigte sich nach dem Sieg Sullas täglich auf dem Forum, ein Umstand, der implizit auch sein reines Gewissen und die Treue zur sullanischen Partei belegen musste. Claessens 1966, S. 88.
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nach präventiven Maßnahmen elementare Formen des Unrechts.240 Daraus folgt, dass eine begründete und überzeugend dargelegte Angst des Anklägers zu einem ebenso starken Indiz für deviantes Verhalten werden kann, so dass die Emotion rollenübergreifend den fatalen Eindruck eines unbewussten, aber als Folge der Authentizitätsprämisse auch unabwendbaren Schuldeingeständnisses erwecken musste. Blickt man ein weiteres Mal auf die Bemerkungen CLAESSENS’, tangieren diese Affekte darüber hinaus ein fundamentales Prinzip der Gerichtsverhandlung: „Wo […] Angst und Furcht […] deutlicher auftreten, werden sie soweit als ‚disfunktional‘, d. h. den Zielen der Gesellschaft zuwiderlaufend, empfunden, daß diejenigen, die davon und darüber sprechen, bereits als Gegner der Gesellschaftsordnung angesehen werden“.241 Auf die quaestio bezogen, würde die Dysfunktionalität jedoch nicht nur diejenigen betreffen, die die Gefühle selbstreferentiell thematisieren, sondern gleichermaßen die Gegenseite, sofern dieser durch das Suggerieren der devianten Empfindungen des metus oder timor eine Infragestellung des gesellschaftlichen Konsenses glaubwürdig attestiert werden konnte. 3.4
Die kommunikative Funktion: vom Indikator zum Appell
Die diesen Emotionen zugesprochene Fähigkeit, sich über den Willen Einzelner hinwegzusetzen, führt unweigerlich dazu, dass sie ein elementares Instrument für die Diskreditierung des Prozessgegners bereitstellt. Ein derart negativ konzeptualisiertes Gefühl scheint jede Möglichkeit einer wohlwollenden Aufnahme durch die Zuhörer zu exkludieren. Dies untermauern zunächst auch diejenigen Stellen, an denen Cicero die potentielle Furcht vor dem Gerichtsverfahren selbst thematisiert. In der Rede für Quinctius bereitet seinem Klienten zwar die Tatsache, dass er um sein Vermögen kämpft, Angst, im Vertrauen auf die aequitas des
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241
Cic. off. 1,24. Dieser Vorwurf verbirgt sich auch hinter dem wiederkehrenden Motiv des ängstlichen Chrysogonus, der sich vor der Entdeckung seiner Machenschaften durch Sulla fürchtete (vgl. Cic. S. Rosc. 26, 132). Ähnlich wird ihm von Cicero nahegelegt, sich vor Roscius nicht zu fürchten, da dieser ihm nicht schaden könne (S. Rosc. 145). Claessens 1966, S. 89.
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Richters zeigt er sich dennoch uneingeschränkt zuversichtlich.242 In diesem Zusammenhang ist die Furcht als Anerkennung der richterlichen Entscheidungsmacht zu verstehen, die es einem Redner oder Angeklagten, wie auch im Falle der verecundia, verbietet, allzu selbstsicher aufzutreten. Dadurch wird sie zu einer der Scham nahestehenden Ehrfurcht, die eine gelungene Sozialisation und die Akzeptanz der vor Gericht herrschenden Hierarchie zu erkennen gibt.243 Sobald die Prozessparteien jedoch vor die Richter treten, weist nicht nur Cicero, sondern auch der Angeklagte jegliche Angst entschieden von sich. Diese Forderung geht in der Praxis so weit, dass ostentative Zurschaustellungen der Furchtlosigkeit essenziell für das Dokumentieren der Stärke des eigenen Falles werden.244 Seinen eigenen Aussagen zufolge übernimmt der Redner in der Rosciana den Fall, weil die fides eine größere Macht auf ihn ausübe als die Angst.245 Später gibt er zu erkennen, dass er selbst vor dem strengen Richter Cassius, den alle gefürchtet haben, standhaft bleiben würde.246 Umgekehrt wird die Aussagekraft der Emotion anhand eines oben diskutierten Eingeständnisses evident. Die Verteidigung des Skamander, von dessen Schuld sich Cicero allmählich überzeugen konnte, begann er nicht mehr mit verecundia, sondern geradezu mit timor. Infolgedessen war der spätere Prozess gegen Oppianicus auch dergestalt, dass Cluentius als Ankläger nichts zu befürchten hatte.247 Die dezidierte Zurückweisung der Angst erlaubte es folgerichtig einer gegenteiligen Emotion, nämlich der Hoffnung (spes) auf ein gerech242 243
244
245 246 247
Cic. Quinct. 6. In der Miloniana behauptet Cicero, dass sein Exil nicht etwa der Tatsache geschuldet war, dass er sich vor einem Prozess gefürchtet hätte, obwohl er zugleich erklärt, dass eine solche Angst verständlich gewesen wäre (Mil. 36). Cicero gibt des Öfteren vor, weder Zeugen (vgl. z. B. Sull. 79; Cael. 20) noch die Rede des Prozessgegners oder die Anklage selbst zu fürchten (vgl. Cael. 19, 23, 27; Mil. 72). Das Vertrauen in die Richter führt vielmehr dazu, dass er sich verspricht, von der inkriminierenden Zeugenaussage unterhalten zu werden (Cael. 66). Cic. S. Rosc. 31. Cic. S. Rosc. 85. Cic. Cluent. 20; vgl. auch Cluent. 10.
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tes Urteil der iudices, sich zu einer Kernperformanz der oratores zu entwickeln.248 Die Relevanz dieses Gefühls wird nicht zuletzt darin ersichtlich, dass die Richter mitunter zum Ziel einer gesamtgesellschaftlichen Hoffnung gemacht werden, die ihnen die hohe Verantwortung für die Stabilität der res publica in Erinnerung rufen soll.249 Spes wird unter den prüfenden Augen des Volkes zum emotionalen Ausdruck der fides zwischen einer gesetzestreuen – und zu Unrecht vor Gericht gestellten – Prozesspartei und einem gewissenhaften Richterkollegium, wodurch sich die quaestiones implizit zu demonstrativen Spektakeln des Vertrauens entwickeln.250 In diesem Sinne thematisiert Cicero jedoch die Empfindung auch aus entgegengesetzter Perspektive und entlarvt die Hoffnung der Ankläger als devianten Versuch, den persönlichen Feind in Bedrängnis zu bringen.251 In der Caeliana insinuiert er, dass niemand es gewagt hätte, überhaupt Anklage zu erheben, ohne sich auf die Machtmittel der Clodia stützen zu können.252 Die negative Konnotation geht allerdings weit über die Austragung privater inimicitiae hinaus und unterminiert die wesentlichen Ziele einer Gerichtsverhandlung. Spes beinhaltet in erster Linie die Erwartung, mithilfe der Richter ein ungerechtes Urteil zu erwir248
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Vgl. Cic. S. Rosc. 10, 150; Cic. Cluent. 200; Cic. Quinct. 5, 32, 98; zur Untrennbarkeit von Angst und Hoffnung vgl. Garcea 2007, S. 200; Spira 1987, S. 150. Vgl. Cic. S. Rosc. 11, 150. Vgl. Gell. 14,4,3. Zur Aufgabe des Richters gehöre es laut Gellius, den Schlechten Angst und den Guten Vertrauen einzuflößen. Andeutungen des Vertrauens ohne explizite Erwähnung der spes finden sich auch in Cic. Sest. 147; Cic. Cael. 19; Cic. Mil. 4-6, 36; vgl. auch Ciceros Vertrauen in die guten Absichten des Pompeius in Mil. 2-3, 70, 78. Die Ambivalenz der Hoffnung geht nicht zuletzt auf ihre Konzeptualisierung als irrationale und vernunftwidrige Emotion zurück; vgl. Spira 1987, S. 142144; Böhme 1993, S. 316, 320-321; Garcea 2007, S. 205; vgl. allgemein dazu HACKL, Anton, Die spes als negativer Charakterisierungsbegriff in Caesars Bellum civile, Ciceros Catilinariae, Lucans Pharsalia. Die elpis als negativer Charakterisierungsbegriff bei Plutarch und Thukydides, Diss Innsbruck 1962. Cic. Cael. 2: […] nec descensurum quemquam ad hanc accusationem fuisse, cui, utrum vellet, liceret, nec, cum descendisset, quicquam habiturum spei fuisse, nisi alicuius intolerabili libidine et nimis acerbo odio niteretur.
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ken.253 Besonders stark tritt dieses Motiv in der Rosciana hervor, wo sowohl Chrysogonus unterstellt wird, im Bewusstsein seiner Macht auf eine günstige Entscheidung zu setzen,254 als auch gegen Erucius der Vorwurf erhoben wird, in der Hoffnung auf einen „Raubüberfall“ und in der Erwartung, keinem Verteidigungsanwalt entgegentreten zu müssen, die Rolle des Anklägers übernommen zu haben.255 Die Ambivalenz der Richterposition, deren oben vorgestellte severitas leicht in acerbitas umschlagen und deviante Hoffnungen nähren konnte, veranschaulicht eine Stelle aus der Rede für Sulla: […] von den Anklägern in der Hoffnung (spes) auf Härte ausgesucht, von einem gütigen Geschick uns zur Schutzwehr der Unschuld bestimmt.256
In dieser Form ist spes aber ein zutiefst von Angst geprägtes Gefühl. Es ist vor allem die Furcht des Chrysogonus, die von den Richtern durch ein falsches Urteil gelindert werden solle,257 wie es auch Oppianicus’ metus vor einer Verurteilung geschuldet war, dass er laut Cicero zum „hoffnungsvollen“ Mittel der Bestechung greifen musste: Und hierbei will ich nicht anführen, was schon belastend genug ist: dass derjenige Bestechung geübt hat, der sich in Gefahr befand, der Furcht hatte (metuerit), dem sich in anderer Weise keine Aussicht (spes) auf Rettung bot […]258
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Vgl. Cic. Mil. 5; s. auch Cic. S. Rosc. 6; Cic. Sest. 2. Cic. S. Rosc. 141; vgl. auch S. Rosc. 28. Cic. S. Rosc. 61: […] confitere huc ea spe venisse quod putares hic latrocinium, non iudicium futurum. Cic. Sull. 92: […] ab accusatoribus delecti ad spem acerbitatis, a fortuna nobis ad praesidium innocentiae constituti; vgl. auch Cic. Cluent. 7. Konsequentermaßen ging auch Torquatus in seiner Rede auf die (negative) Hoffnung derjenigen ein, die allein aufgrund der auctoritas Ciceros einen Freispruch erwarteten (vgl. Sull. 21). Cic. S. Rosc. 6. Cic. Cluent. 64: Atque ego illa non argumentabor, quae sunt gravia vehementer, eum corrupisse qui in periculo fuerit, eum qui metuerit, eum qui spem salutis in alia ratione non habuerit […] So entspringe gemäß Cicero
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Diese Passage stellt eine vielsagende emotionale Verbindung her. Wurde der gegnerischen Prozesspartei erfolgreich Angst attestiert, entwickelte sich zwangsläufig jede Hoffnung des Widerparts – die gemäß den normativen Erwartungen auch kundgetan werden musste – zu derjenigen Form, die den forensischen Sinnzuschreibungen zuwiderlief. Die spes der Gegenseite impliziert stets den Versuch, das Gleichgewicht der quaestio ins Wanken zu bringen und einen unerlaubten sowie zumeist verhüllten Einfluss auf die Unparteilichkeit der Richter auszuüben.259 Darüber hinaus lassen die Quellen eine weitere, für die Gerichtsverhandlung besonders signifikante Konsequenz der Furcht erkennen. Jemanden zu fürchten heißt unweigerlich ihn zu hassen,260 ein Gefühl, das vor allem dann eintritt, wenn man sich in der eigenen Machtposition bedroht sieht,261 und freilich jede Hochachtung vor der gefürchteten bzw. verhassten Person ausschließt.262 Damit steht eine durch Angst verursachte Hoffnung in doppelter Hinsicht im Widerspruch zum Konzept der fides, das für die Beziehung zwischen Redner und Richter bestimmend war. Wie gezeigt, schließt dieses den Respekt vor der Position des Gegenübers ein, der es einem Akteur verbietet, die Rollenerwartungen an den Interaktionspartner zu unterminieren. Fides muss einerseits auf Wahrhaftigkeit beruhen, andererseits beinhaltet es ein uneingeschränktes gegenseitiges Vertrauen, das im römischen Verständnis ebenso als Gegenkonzept zur Furcht erscheint.263 Die positiv konnotierte
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auch die Anklage gegen Cluentius der Hoffnung auf den Einfluss der invidia (Cluent. 90). Die Hoffnung auf Straffreiheit ist laut Cicero die stärkste Triebfeder des Verbrechens (Mil. 43), umgekehrt veranlasst aber die Furcht vor einer Bestrafung den Übeltäter dazu, sich aktiv an der Bekämpfung des Staatswesens zu beteiligen (Cic. Sest. 99). In diesem Sinne werden spes und metus zu aussagekräftigen Indizienbeweisen für eine Tat (vgl. Cic. part. 113). Vgl. Cic. Sull. 83; Aristot. rhet. 1381b32-33. Cic. off. 2,23-24. Vgl. Macr. Sat. 1,11,12. Den für die römische Gesellschaft nicht untypischen Gegensatz belegt auch die Rosciana. T. Roscius Capito, einer der als Hintermänner der Anklage entlarvten Verwandten des Angeklagten, war Teil der Gesandtschaft, die die Bürger von Ameria an Sulla geschickt hatten, um sich für Sex. Roscius einzusetzen. In dieser Funktion untergrub Capito jedoch deren Absichten und machte gemeinsame Sache mit Chrysogonus. Seine Schuld wird von Cicero
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spes reproduziert ebendiese Prinzipien und spiegelt den Glauben wider, den man den Richtern als Repräsentanten der res publica schuldet. Dadurch wird zum einen die Stellung der iudices im forensischen Bezugsrahmen bekräftigt, zum anderen werden diese auch insofern verpflichtet, als die Hoffnung jenes elementare Attribut anspricht, das sowohl den Prozessparteien als auch der gesamten Bürgerschaft entgegengebracht werden musste. Die Instanzen der Furcht, die wir bislang betrachtet haben, sowie die inhärenten kulturellen Eigenschaften der Emotion müssten somit eine positive Konnotation der Empfindung vor Gericht unmöglich machen. Nichtsdestoweniger wird diese Annahme durch die häufigen Passagen, in denen Cicero offensiv mit den eigenen Ängsten umgeht, widerlegt. Den locus classicus bildet diesbezüglich das exordium der Rede für Milo: Es ist kaum angebracht, ihr Richter, Angst zu zeigen, wenn man für einen ungewöhnlich mutigen Mann das Wort ergreift, und es gehört sich schon gar nicht, dass ich – während T. Annius selbst mehr um das Wohl des Staates bangt als um sein eigenes – außer Stande bin, für die Verhandlung seines Falles ebenso viel Seelengröße aufzubringen.264
Diesen vermeintlichen Tabubruch hatte Cicero bereits in der Rosciana vollzogen, als er die Furcht der nobiles dafür verantwortlich machte, dass sie ihrer patronalen Pflicht nicht nachgekommen waren.265 In der Rede für Cluentius demonstriert er zwar das unerlässliche Vertrauen in das Pflichtbewusstsein der Richter, sein Mandat wird dennoch von einem allgegenwärtigen timor überschattet.266 Die letzten beiden orati-
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auch emotional illustriert, wenn er ihm unterstellt, seinen Partnern mit Furcht begegnet zu sein – und dadurch eine Regel übertreten zu haben, die der Redner zum gesellschaftlichen Prinzip erhebt (S. Rosc. 116-117). Metus wird somit zu einem natürlichen, der fides entgegengesetzten Gefühl. Cic. Mil. 1: Etsi vereor, iudices, ne turpe sit pro fortissimo viro dicere incipientem timere, minimeque deceat, cum T. Annius ipse magis de rei publicae salute quam de sua perturbetur, me ad eius causam parem animi magnitudinem adferre non posse. Vgl. Cic. S. Rosc. 5. Vgl. Cic. Cluent. 7: Ego me, iudices, ad eam causam accedere quae iam per annos octo continuos ex contraria parte audiatur atque ipsa opinione homi-
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ones – und vor allem eine besonders aussagekräftige Wortwahl – gewähren aber einen Einblick in die Hintergründe der Taktik: Alle, deren Anwesenheit bei diesem Prozesse ihr bemerkt, glauben zwar, man müsse ein durch ein neuartiges Verbrechen begangenes Unrecht abwehren; doch es selbst abzuwehren, wagen sie wegen der Ungunst der Zeiten (propter iniquitatem temporum) nicht.267 Und ich bedauere nicht, dass ich die Sache des A. Cluentius lieber jetzt als damals verteidige. Denn die Sache bleibt sich gleich und kann sich durchaus nicht ändern; doch die Ungunst der Zeit (temporis iniquitas) und die Missstimmung (invidia) ist gewichen […]268
Bezeichnenderweise entstammen diese Stellungnahmen denjenigen Reden, in denen Cicero zugleich die normwidrige spes der Gegenseite thematisiert. Die Antonymie von Furcht und Hoffnung entwickelt sich zu einer Antinomie der Devianzen und legitimiert offenkundig in bestimmten Fällen die Zurschaustellung von Angst. Zudem wird eine weitere Parallele darin ersichtlich, dass auch die Ursachen der gegensätzlichen Emotionen identisch sind. Seine Furcht in der Miloniana bezieht der Redner auf die neuen, durch die lex Pompeia geschaffenen Umstände
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num tacita prope convicta atque damnata sit, facile intellego. Sed si qui mihi deus vestram ad me audiendum benivolentiam conciliarit, efficiam profecto ut intellegatis nihil esse homini tam timendum quam invidiam; s. auch Cic. Cluent. 2. Cic. S. Rosc. 1: Omnes hi, quos videtis adesse in hac causa, iniuriam novo scelere conflatam putant oportere defendi; defendere ipsi propter iniquitatem temporum non audent; vgl. auch Landgraf 1914, S. 16. Ohne eine wörtliche Erwähnung der ungünstigen Zeiten wird das Motiv auch anderenorts angedeutet (vgl. S. Rosc. 3, 9, 91). Auf dieses Thema kam scheinbar auch der Ankläger Erucius zu sprechen (vgl. S. Rosc. 80); für die iniquitas temporum als Markenzeichen der sullanischen Diktatur vgl. auch Cic. Tull. 46. Cic. Cluent. 80: Neque me paenitet hoc tempore potius quam illo causam A. Cluenti defendere. Causa enim manet eadem, quae mutari nullo modo potest: temporis iniquitas atque invidia recessit […]; s. auch Cluent. 104; für weitere Anspielungen auf eine iniquitas temporum vgl. Cluent. 90, 91, 9395.
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des Prozesses269 und er scheut auch nicht davor zurück, Pompeius explizit zu erwähnen.270 In seiner Verteidigung des Cluentius war es die invidia, die das Volk aufgewiegelt hatte und sowohl die Quelle der Hoffnung für die Ankläger darstellt als auch die Angst Ciceros begründet.271 Die vom Redner thematisierte iniquitas erlangt in diesem Zusammenhang vor allem mit Blick auf ihre kulturelle Semantik eine besondere Bedeutung und weist auf ein Ungleichgewicht hin, das die egalitären (und somit in den Dienst der antonymischen aequitas gestellten) Normen der Gerichtsverhandlung außer Kraft zu setzen droht.272 Sobald der Prozess in eine vom Gegner bewusst herbeigeführte „Schieflage“ gerät, die ihn hoffnungsvoll stimmt, muss dieser Umstand die Angst derjenigen Partei evozieren, die die forensischen Grundsätze gewahrt sehen möchte. Darüber hinaus prangert die Furcht jedoch stets auch einen gesellschaftlichen Missstand an,273 der sich in den hier vorgetragenen Appellen widerspiegelt. Sowohl die Machtfülle des Chrysogonus als auch die Verschiebung der prozessualen Regeln durch ein neues und den Prinzipien der maiores zuwiderlaufendes Gesetz müssen ein gesamtgesellschaftliches Interesse geweckt haben. Dies gilt freilich umso mehr für die invidia, die die Quelle der Normübertretung in den fehlgeleiteten Ansichten der Sanktionsinstanz selbst verortet. Dieses Ungleichgewicht bewirkt zwangsläufig eine Umkehr der emotionalen Normativität, deren Auswirkungen sich an den Zuständen ablesen lassen, die in Rom laut Cicero zur Zeit seines Exils geherrscht haben und in der Sestiana aus-
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Cic. Mil. 1; vgl. auch Fotheringham 2006, S. 67. Darüber hinaus nennt die Autorin das Fehlen der üblichen corona (ebd., S. 68); vgl. Cic. Mil. 2. Zur Ermächtigung des Pompeius, Truppen auszuheben, vgl. auch Asc. Mil. 34C. Cic. Mil. 67. Die Angst Ciceros in der Miloniana verfolgt laut Fotheringham 2006, S. 71-72 das primäre Ziel, eine Identifikation mit den Richtern herbeizuführen; vgl. auch Cerutti 1996, S. 115-116. Vgl. Cic. Cluent. 1; s. auch Cluent. 95; vgl. dazu Pina Polo 1996, S. 113119. Aristot. rhet. 1382a34-35 weist auf die Verbindung zwischen Angst einerseits und einer auf Macht vertrauenden Ungerechtigkeit andererseits hin; für die Furcht Ciceros vor der gratia des Naevius vgl. Cic. Quinct. 1. Vgl. Claessens 1966, S. 88-89.
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führlich dargelegt werden.274 So sei es ein Markenzeichen der Zeit gewesen, dass die boni in Angst leben mussten, während die Feinde der res publica ungehindert (und furchtlos) Schrecken verbreiten konnten.275 Den emotionalen Rollentausch verbindet der Redner allerdings mit einer normativen Grundsatzfrage. Sieht sich der Staat mit solchen Umwälzungen konfrontiert, gehört es zu den Rollenpflichten der Konsuln, Mut zu zeigen und die Gemeinschaft von ihrer Angst zu befreien.276 Ebendiese Sorgefunktion für die res publica ist es, die Cicero in den quaestiones auch den Richtern zuspricht. Die Furcht des orator wird zu einem an die iudices gerichteten Appell, auf den diese angesichts einer Schieflage des Gerichtsverfahrens (wie auch der Gesellschaft insgesamt) ebenso mutig reagieren mussten.277 Die performative Furcht des Redners wird somit zu einem bewussten, perlokutionären Akt, der aber jenseits der forensischen Grenzen einen fundamentalen Mechanismus der res publica anvisiert. Dessen Funktionsweise hat Egon FLAIG anhand der Wirren um Ti. Gracchus und C. Octavius erläutert – genauer: anhand des squalor, als „ritualisiertes Trauerverhalten, mit dem bedrohte oder beleidigte Römer ostentativ ihr Leid ausstellten, um Solidarität und Sympathie zu gewinnen“.278 Der 274
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Die iniquitas wird auch in Cic. Sest. 104-106 angedeutet. Schol. Bob. Sest. p. 83 Hildebrandt zeigt zudem, dass die Darstellung der turbulenten Zeiten die pragmatische Zielsetzung verfolgte, Sestius zu entlasten. Cic. Sest. 1, 8, 11, 15, 35, 94; zum terror und timor, die von der Catilinarischen Verschwörung und insbesondere von Autronius ausgegangen waren, vgl. Cic. Sull. 66. Cic. Sest. 8, 139; vgl. auch Cic. Sull. 9; Cic. Sest. 38; Cic. Mil. 95. Dementsprechend erscheint die Devianz der Konsuln Piso und Gabinius, die diese Angst nur noch befeuert haben sollen, umso größer (Cic. Sest. 25). Der Gedanke verbirgt sich freilich auch hinter dem an C. Antonius gerichteten Vorwurf der Untätigkeit und Furcht (Cic. Sest. 12). Vgl. Cic. Mil. 3-4, 21; Cic. Cluent. 159. In Cic. S. Rosc. 9 werden die Richter ermahnt, vor allem in Anbetracht der iniquitas temporum der Rede aufmerksam zuzuhören. Die grundlegende Funktion der Angst als Appell wird auch von Claessens 1966, S. 88 angesprochen: „Es [scil.: das Bedrohtsein] ruft dazu auf, etwas zu tun, um der Angst oder Furcht abzuhelfen, sie zu mindern.“ Flaig 2005, S. 212; zum squalor vgl. auch Lintott 1968, S. 16-20; Hall 2014, S. 42-44; für den Unterschied zwischen squalor als Sichtbarmachung der
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squalor war vornehmlich ein Protestakt gegen die Vorgehensweise einer mächtigen Person,279 dessen Sanktionierung den Bürgern als „Wächter über Konsens und Eintracht“ oblag,280 selbst wenn der Normabschnitt die plebs nicht direkt betraf.281 Um erfolgreich zu sein, bedurfte er somit der gesellschaftlichen Billigung: „Ein squalor, den die Bürger für ungerecht erachteten, weil er einer ganz und gar ungerechten Sache diente, verpuffte wirkungslos“.282 Wenngleich Angstperformanzen und squalor freilich nicht identisch waren, weisen sie auch insofern ein Gemeinsames auf, als sie aufgrund der oben ermittelten Rolle des Volkes als oberste Sanktionsinstanz einen Appell an die gesamte Bürgerschaft darstellen und in eminenter Weise eine Übermacht dokumentieren, die imstande ist, das Normgefüge außer Kraft zu setzen.283 Essenziell sind jedoch die richtigen Voraussetzungen für einen solchen Appell. Wurde das Anprangern einer Devianz von den Richtern und der Gemeinschaft als gerechtfertigt angesehen, legitimierte dies nicht nur das offensive Thematisieren der eigenen Ängste, sondern es musste unweigerlich ein „perlokutionäres Nachspiel“ haben und demgemäß einen nicht unerheblichen Einfluss auf den Prozessausgang ausüben. Das Zusammenspiel der kommunikativen Intentionen von metus und squalor erlaubt womöglich auch die Neubewertung eines oft thematisierten prozesstaktischen Aspekts der Miloniana: die Weigerung Milos, durch einen squalor an das Mitleid der Richter zu appellieren.284
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Trauer und maeror als inneres Gefühl vgl. schol. Bob. Sest. p. 96 Hildebrandt. Das Buch von DEGELMANN, Christopher, Squalor. Symbolisches Trauern in der Politischen Kommunikation der Römischen Republik und Frühen Kaiserzeit, Stuttgart 2018 konnte leider nicht mehr berücksichtigt werden. Flaig 2005, S. 212; vgl. auch Kaster 2009, S. 312. Flaig 2005, S. 218. Ebd., S. 219, mit einem expliziten Hinweis auf die Gerichtsverhandlungen. Kaster 2009, S. 313 zeigt, dass der dadurch angeprangerte Missstand in den meisten Fällen den Staat selbst tangierte. Flaig 2005, S. 213; für die Reaktion der Gesellschaft vgl. auch Kaster 2009, S. 317-318. Laut Iuv. 15,131-137 stellt das Mitleid, mit dem man auf einen squalor reagierte, ein Wesensmerkmal der menschlichen Natur dar. Zur Verbindung von Angst bzw. Hoffnung und squalor vgl. auch Cic. Sest. 1, 54. Vgl. Cic. Mil. 92, 95; vgl. auch Quint. inst. 6,1,27.
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Christoff NEUMEISTER hat diesbezüglich vermutet, dass die Person des Angeklagten wie auch die persona, als die er in der Rede dargestellt werden sollte, keine Trauerperformanz zugelassen hätten.285 Jerzy AXER vertrat die Meinung, dass es die Absicht Ciceros gewesen sei, ein „gladiatorisches“ Bild seines tapferen amicus zu zeichnen.286 Gegen diese Thesen spricht jedoch nicht nur der von Milo vier Jahre zuvor vorgetragene squalor während des Sestius-Prozesses,287 sondern auch das gleiche Verhalten in dem zwei Jahre zurückliegenden Verfahren gegen Scaurus.288 Gehen wir allerdings davon aus, dass der Angeklagte in seinem eigenen Prozess die begründete Vermutung hatte, dass jenes Bild einer normwidrigen Übermacht nicht die Akzeptanz des Publikums hätte gewinnen können, so wären nicht nur die Unterschiede in seinem Verhalten erklärbar, sondern ebenso das Scheitern Ciceros, dessen Fehleinschätzung des gesellschaftlichen Sanktionswillens womöglich dazu geführt hat, dass die demonstrative Performanz der Furcht letzten Endes „wirkungslos verpuffte“ – ein Umstand, der darüber hinaus ein vielsagendes Licht auf die öffentliche Meinung des Jahres 52 v. Chr. wirft.
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Schluss: Die emotionale Reproduktion der Sinndeutungen
Im Jahre 1993 hat Willibald STEINMETZ in seiner neuhistorischen Dissertation das „Sagbare“ und das „Machbare“ in den britischen Parlamentsdebatten des 18. und 19. Jahrhunderts untersucht.289 Entsprechende Grenzen sind den spätrepublikanischen Gerichtsrednern ebenfalls auferlegt worden. Sie bedingen sowohl ihr Verhalten als auch die Themenwahl und die Modi, wie diese Themen angesprochen werden dürfen, vor allem aber betreffen sie die strikt normierten Regeln emotio285 286
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Neumeister 1964, S. 97. Axer 1989, S. 309; vgl. auch Hall 2014, S. 60-61; s. ferner ebd., S. 89-93; zu Milo als göttliches Instrument in der Ermordung Clodius’ vgl. Gildenhard 2011, S. 343-347. Vgl. Cic. Sest. 144. Asc. Scaur. 28C. STEINMETZ, Willibald, Das Sagbare und das Machbare. Zum Wandel politischer Handlungsspielräume – England 1789-1867, Stuttgart 1993.
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naler Kundgebungen, die ein Abbild der forensischen Sinnmuster bieten und zu deren Stabilisierung beitragen. Das Sagbare und das Machbare werden zum einen in den Dienst der egalitären Grundausrichtung des Prozesses gestellt, zum anderen bekräftigen sie die unangefochtene Vorrangstellung des von den Richtern verkörperten Gemeinwesens, dem sich die Redner stets unterordnen mussten. Die Wahrung dieser Grenzen garantierte aber bereits die emotionale Sozialisation der Römer, die von den Gefühlen der verecundia und des pudor geprägt war. Es wäre sicherlich nicht allzu gewagt, Letztere als emotionale Grundlagen des anwaltlichen Verhaltens zu bezeichnen. Laut Definition postulieren sie in eminenter Weise die Kenntnis der eigenen Position im gesellschaftlichen Gefüge und die Rücksichtnahme auf die Würde der Mitbürger. Die Komplementarität, die der interaktionalen Ausrichtung dieser Empfindungen inhärent ist, macht sie zugleich zu einem wichtigen Instrument für das Verständnis der in kleineren Rollensegmenten elementaren Beziehungen. So bekräftigt die Zurschaustellung jener Emotionen zwei wichtige Erkenntnisse des ersten Abschnitts der Studie. Zunächst reproduziert die Scham auf symbolischer Ebene die „Unantastbarkeit“ der Richter, deren beinahe sakrosankte Stellung zum Synonym für die Akzeptanz der republikanischen Gesellschaftsordnung wird. Dies evoziert jedoch im Gegenzug ein Vertrauensverhältnis zu den iudices, die als Folge einer positiven Sanktionierung ihrerseits mit fides antworten mussten. Die Achtung, die man höherstehenden Personen schuldet, und die dazu führt, dass man zugleich aktiv zur Wahrung ihrer Stellung beiträgt, ist das performative Kernelement dieser Deutung der Scham. Es ist sicherlich kein Zufall, dass jene Ausprägung des pudor vor Gericht eine Rolle gespielt hat, die mit der verecundia identisch ist und eine „Erweiterung des Selbst“ verbietet. In erster Linie war man als Redner angehalten, die Position der Richter zu respektieren, indem man diejenigen Grenzen nicht verletzte, die von der Rollenkomplementarität auferlegt wurden. Nur marginal ist in der rhetorischen Theorie die Vorgabe, dabei das Extrem übertriebener Schüchternheit zu meiden – wenngleich dies nicht minder wichtig war. Das erklärt sich schon aus der Logik der Rede; war man auf den Prozess vorbereitet, stellte sich die Selbstsicherheit von selbst ein. Dagegen wird ersichtlich, dass die Gemeinschaft besonderen Wert darauf gelegt hat, der ambitio entgegenzuwirken, zu der diese Selbstsicherheit führen musste. Man war sich der 352
Gefahr, die der Ehrgeiz für die soziale Hierarchie darstellt, bewusst, so dass die Dezidiertheit der normativen Bestimmung zugleich die Richterrolle, mit all ihren gesellschaftlichen Konnotationen, als besonders schützenswert ausweist. Dies belegt nicht zuletzt die Tatsache, dass die richterlichen Entscheidungen nicht nur in juristischen Belangen wegweisend waren, sondern auch die existimatio einer Person in der Gesellschaft bestimmten. Zweitens regelte die Scham auch die Beziehung der Redner untereinander. Wir haben im ersten Teil sehen können, dass entgegengesetzte Rollenbilder immer nach einem Gleichgewicht von Vor- und Nachteilen verlangen, identische normative Vorstellungen dagegen auch ein gleiches Maß an Rechten und Pflichten voraussetzen. Pudor und verecundia gehören wie kein anderes Gefühl in die zweite Kategorie, da sie zugleich auf der Metaebene von der allgemeinen Rücksicht auf die Stellung des Prozessgegners getragen sind. Fiel die Komplementarität in Bezug auf die iudices noch zu deren Gunsten aus, hätte die Überhöhung der eigenen Position auf Kosten der Gegenpartei unweigerlich die Aufhebung des Gleichheitsprinzips zur Folge gehabt. Dies konnte durch das Infragestellen grundlegender Attribute (bzw. des Umgangs mit diesen Eigenschaften) geschehen, aber auch infolge der „Absicherung“ durch äußere Machtmittel. In beiden Fällen wirkte die Internalisierung der Moralvorstellungen – und somit die Zurschaustellung von Scham – diesen Devianzen entgegen. Drohten die Grenzen des Sagbaren und des Machbaren vom Prozessgegner übertreten zu werden, standen dem Anwalt zudem eine Reihe performativer Möglichkeiten zur Verfügung, durch die er eine Wiederherstellung des Konsenses einfordern konnte. Diesbezüglich sind Performanzen der Furcht in den Gerichtsreden ein wiederkehrendes Thema. Im Sinne der emotionssoziologischen und emotionsgeschichtlichen Vorschriften müssen diese jedoch ein Gemeinsames aufweisen, einen interaktionalen Kontext, der das Gefühl innerhalb des vorgegebenen kulturellen Rahmens als angemessen oder als unpassend identifiziert. Es ist deshalb versucht worden, die Manifestationen der Angst anhand gewisser feststellbarer Übereinstimmungen zu kategorisieren. Die scheinbare Willkür, die den Gefühlen der Furcht oder der Hoffnung innewohnt,290 290
So z. B. Garcea 2007, S. 211.
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lässt sich am besten auflösen, wenn man die kommunikativen Intentionen der Affekte in den Blick nimmt. Solange die Rahmenbedingungen der Verhandlung von der Gesellschaft als normkonform perzipiert wurden, war die Zurschaustellung von Angst eine Devianz, welche die fides der Richter in Abrede stellte und den gesellschaftlichen Konsens hinterfragte. War die Normkonformität nicht gewährleistet, konnte sich die Performanz zu einem gesellschaftlichen Appell entwickeln, der, wie auch im Falle des squalor, eine Neuevaluierung der Rahmenumstände durch die Gesellschaft zur Folge haben musste. In ersterer Form diente das Verschweigen der Furcht der Bekräftigung jener Verhaltensweisen, durch die der Richterrolle – und implizit der Bürgerschaft als Sanktionsinstanz – die nötige Ehrerbietung erwiesen wurde. Die zweite Ausprägung betraf jedoch in erster Linie den Schutz der egalitären Grundordnung des Prozesses. Die performative Angst war ein (bewusst eingesetzter) Indikator für ein durch äußere Faktoren herbeigeführtes Ungleichgewicht – so z. B. die potentia eines Chrysogonus, die veränderten Prozessbedingungen in der Miloniana, die invidia, die Cluentius befürchten ließ, seine causa würde von vornherein auf die Missgunst der Richter stoßen, oder – wie die Aussagen Ciceros vermuten lassen – die auctoritas des Patrons, der Torquatus im Prozess gegen Sulla ebenfalls mit Furcht begegnete. Beide Pole der forensischen Angst können unter Rückgriff auf die im ersten Abschnitt ermittelten Sinnzuschreibungen und als eine emotionale Reproduktion ebendieser verstanden werden. Das im Laufe der Studie herausgearbeitete Bild ergänzt die Schlussfolgerungen Andrew RIGGSBYs um eine unverzichtbare praktische Komponente: Die Richter wollten ihrem Urteil nicht nur glauben, ihnen stand zu diesem Zweck auch ein ausgeklügeltes System zur Verfügung, das auf den kulturellen Vorstellungsmustern der römischen Gesellschaft aufbaute und die bestmögliche – wenngleich in der Praxis wohl nie zur vollen Entfaltung gekommene – Methode darstellt, um dem fundamentalen Sinnkonzept der aequitas zum Durchbruch zu verhelfen. Die Rollenbilder der Anwälte und ihre Beziehung zu den komplementären Positionen der Richter und der corona konkretisieren dabei den „Sinn“ einer für das öffentliche Leben der späten Republik elementaren Institution. Auf einer Metaebene determiniert die Konzeptualisierung der quaestio freilich auch die inhärenten Erkenntnismöglichkeiten einer Gerichtsrede. Die tiefe Verwurzelung der orationes im Alltag der Menschen, die Beleuchtung der gesamten vita ante acta als Mittel zur Verwirklichung 354
forensischer Sinnmuster, ostentative Offenlegung und Evokation einer breiten Palette innerer Gemütsregungen sowie das unablässige Streben nach einer positiven Sanktionierung durch alle Beteiligten prädestinieren die Rhetorik dafür, als Türöffner für das kulturelle Selbstverständnis der spätrepublikanischen Gesellschaft zu figurieren. So gilt auch in kulturgeschichtlicher Hinsicht die rhetorische Frage Ciceros: Denn was ist herrlicher als die Eloquenz, wenn man sich die Bewunderung der Zuhörer, die Erwartungen der Menschen, die sie benötigen, oder die Dankbarkeit der Klienten vor Augen führt?291
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Cic. off. 2,66: Quid enim eloquentia praestabilius vel admiratione audientium vel spe indigentium vel eorum, qui defensi sunt, gratia?
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1380a20-21: 315 A.127 1381b32-33: 345 A.260 1382a21-22: 332 A.200 1382a34-35: 348 A.272 1383b13-15: 295 A.60 1384a26: 315 A.127 1384b25-27: 311 A.114 1408a16-24: 246 A.8 1408b10-13: 246 A.8 Asc. Mil. 34c: 127 A.140; 348 A.269 36c: 60 A.54; 119 A.113 38c: 127 A.140 39c: 60 A.54 41c: 84 A.2; 116 A.95 42c: 68 A.90 Asc. Scaur. 28c: 351 A.288 Cass. Dio 37,38,2: 98 A.45 Cat. 42,15-16: 325 A.171 Cic. ad Q. fr. 2,3: 133 A.157 2,3,3: 133 A.158
2,3,5: 90 A.19 2,4,1: 229 A.492 3,1,11: 65 A.80 3,2,1: 83 A.1 3,4,1: 229 A.494 Cic. Arch. 1-2: 190 A.336 3: 190 A.336; 217 A.433; 218 A.434; 218 A.442 12: 190 A.336 26: 191 A.339 Cic. Att. 1,9: 230 A.496 1,10: 90 A.21 1,11,1: 169 A.277 1,13,5: 65 A.77 1,20,7: 88 A.14 2,1,3: 65 A.80 4,2,2: 65 A.80 Cic. Balb. 1: 85 A.5; 197 A.358 19: 218 A.434; 218 A.435; 222 A.458 58-59: 102 A.55 Cic. Brut. 85: 280 A.7 86: 280 A.9; 280 A.10 88: 281 A.11 89: 251 A.22 93: 289 A.46 106: 56 A.31 111: 197 A.361 122: 65 A.80 130: 141 A.184 142: 279 A.2 183-185: 230 A.497 184: 13 A.6
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185: 14 A.10 188: 284 A.22 190: 251 A.23 192: 17 A.17 207: 84 A.2 208: 84 A.2 209: 153 A.230 273: 143 A.196; 183 A.314 277: 281 A.14 278: 282 A.16 306-307: 102 A.56 325: 164 A.266 326: 164 A.266 327: 164 A.266 Cic. Caec. 3: 109 A.79 5: 181 A.312; 218 A.437; 220 A.452 6: 217 A.433 8: 218 A.435; 222 A.458 14: 80 A.45 28-29: 96 A.38 103: 218 A.437; 218 A.438; 223 A.464 Cic. Cael. 1: 129 A.146; 138 A.177; 201 A.372 2: 130 A.150; 131 A.151; 167 A.274; 343 A.252 6: 169 A.277 7: 155 A.234; 169 A.278; 319 A.143; 322 A.155 8: 167 A.274; 169 A.279; 183 A.315; 216 A.430; 319 A.143; 324 A.166 9: 102 A.56; 303 A.86; 322 A.154 10: 169 A.277 11: 169 A.277
14: 169 A.277; 331 A.197 16: 138 A.178 18: 155 A.234 19: 218 A.435; 221 A.455; 342 A.244; 343 A.250 20: 138 A.177; 342 A.244 21: 218 A.435; 218 A.438; 220 A.446; 222 A.458; 230 A.496 22: 218 A.435; 218 A.437; 218 A.438; 220 A.449; 222 A.458 23: 342 A.244 25: 183 A.315 27: 183 A.315; 342 A.244 28: 169 A.277 29: 166 A.271; 217 A.433; 218 A.435; 220 A.446; 222 A.457 30: 165 A.269; 169 A.277 31: 138 A.177 32: 218 A.435; 222 A.458 39: 169 A.277 42: 169 A.277; 322 A.156 43: 165 A.270; 216 A.431 44: 102 A.57; 165 A.270; 189 A.335; 218 A.435 45: 183 A.314; 188 A.333; 218 A.435 46: 189 A.334 47: 102 A.57 50: 303 A.87 54: 227 A.481 55: 138 A.177; 196 A.355 56: 141 A.183 60: 334 A.215 66: 342 A.244 69: 304 A.90 70: 59 A.47; 59 A.51 73: 161 A.257 74: 166 A.272
75: 138 A.177; 218 A.434; 218 A.435; 222 A.457 76: 163 A.260; 163 A.263; 165 A.270; 166 A.272 77: 102 A.57; 152 A.228 78: 138 A.177 105: 218 A.438 Cic. Cato 61: 194 A.348 Cic. Cluent. 1: 320 A.147; 348 A.271 2: 201 A.372; 237 A.511; 347 A.266 3: 218 A.437; 218 A.438; 223 A.464 4: 228 A.482; 316 A.129 5: 218 A.435; 222 A.458; 228 A.482 5-6: 223 A.461 6: 217 A.433; 218 A.438; 237 A.511 7: 225 A.470; 344 A.256; 346 A.266 8: 225 A.471; 228 A.482 9: 201 A.372; 224 A.468 10: 131 A.153; 155 A.234; 342 A.247 11: 126 A.131; 143 A.195 12: 303 A.87 15: 303 A.87; 330 A.194; 334 A.214 17: 187 A.331 18: 138 A.177 20: 126 A.131; 342 A.247 23-24: 132 A.155 26: 303 A.87 27: 303 A.87; 334 A.215 29: 147 A.208; 227 A.481 41: 330 A.196
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42: 126 A.131; 143 A.195 44: 138 A.177 49: 104 A.61; 121 A.119 49-50: 104 A.62 50: 121 A.119; 181 A.312 51: 309 A.105; 313 A.121; 338 A.230 53: 196 A.355 54: 337 A.225 55: 224 A.468 56: 104 A.61; 105 A.64; 217 A.433; 229 A.487 57: 116 A.95; 199 A.369; 224 A.467; 314 A.122 58: 318 A.139 58-59: 181 A.312 60: 225 A.469 64: 344 A.258 65: 131 A.153 67: 303 A.87 80: 347 A.268 81: 218 A.436; 218 A.438; 223 A.462 83: 303 A.86 88: 225 A.472 89: 214 A.416 90: 345 A.258; 347 A.268 91: 347 A.268 93-95: 347 A.268 94: 237 A.516 95: 218 A.434; 218 A.435; 348 A.271 104: 347 A.268 107: 217 A.433 117-134: 227 A.479 121: 218 A.437; 227 A.481 122: 227 A.480 133: 303 A.86 138: 64 A.75; 96 A.39 138-139: 199 A.369 139: 64 A.75; 124 A.126
386
140: 65 A.76 140-141: 64 A.75 142: 105 A.65; 147 A.209; 214 A.416 146: 215 A.426; 236 A.508 147: 58 A.38 155: 215 A.426 156: 218 A.436; 237 A.510 159: 218 A.435; 218 A.436; 218 A.437; 218 A.438; 221 A.457; 228 A.482; 349 A.277 164: 227 A.481 190: 138 A.177 199: 218 A.434; 218 A.436 200: 304 A.91; 343 A.248 202: 217 A.433; 218 A.434; 237 A.511 Cic. de or. 1,12: 17 A.17 1,17: 253 A.28 1,30: 19 A.21 1,31: 220 A.451 1,48: 17 A.17 1,53: 254 A.30 1,54: 253 A.28 1,59-60: 252 A.27 1,60: 253 A.28 1,69: 17 A.17 1,112: 312 A.114 1,119: 306 A.95 1,119-120: 325 A.174 1,120: 306 A.96; 330 A.195 1,121: 306 A.97 1,123: 308 A.104; 330 A.195 1,124-125: 310 A.109; 330 A.195 1,201: 50 A.5 1,208: 186 A.327 1,211: 52 A.17
1,220: 252 A.27 1,223: 18 A.18; 253 A.28 2,1: 186 A.326 2,30: 17 A.17; 186 A.325 2,68: 18 A.18 2,72: 252 A.23 2,73: 283 A.19 2,79: 14 A.10 2,80: 15 A.11 2,88: 164 A.266 2,115: 14 A.10 2,121: 14 A.10 2,128: 14 A.10 2,131: 17 A.17 2,153: 186 A.328 2,156: 185 A.323 2,159: 17 A.17 2,177: 185 A.324 2,182: 250 A.16; 323 A.161; 323 A.162 2,183: 286 A.30 2,187: 251 A.23 2,189: 289 A.46 2,190: 283 A.20 2,191: 289 A.42 2,192: 85 A.5 2,196: 289 A.46 2,202: 308 A.102; 321 A.149 2,203: 108 A.70 2,206: 336 A.218 2,206-211: 291 2,212: 248 A.12 2,227-230: 282 A.16 2,310: 248 A.12 2,314: 105 A.65 2,321: 250 A.19 2,322: 250 A.16 2,337: 18 A.18 2,344: 119 A.114 3,53-55: 12 A.4 3,66: 16 A.14
3,74: 162 A.257 3,76: 17 A.17; 19 A.21 3,93-95: 177 A.300 3,210-211: 79 A.37; 286 A.31 3,213: 279 A.2; 279 A.3 3,215: 289 A.43 3,216: 288 A.37 3,217: 284 A.22 3,218: 337 A.221 3,220: 287 A.34 3,221: 287 A.33 3,222: 280 A.6 3,223: 283 A.20; 287 A.33 3,225: 286 A.30 Cic. div. in Caec. 1: 84 A.3 2-3: 134 A.162 4-5: 126 A.132 6: 134 A.162 6-9: 134 A.161 8: 217 A.433 10: 38 A.95; 134 A.165 11: 134 A.162 12-13: 134 A.164 20: 152 A.228 21: 217 A.433 22-23: 134 A.165 23: 338 A.230 26: 126 A.132 29: 134 A.165 36: 181 A.310 37-39: 184 A.319 41-42: 308 A.103 43: 187 A.330; 308 A.103 52-60: 134 A.164 53: 185 A.320 54: 134 A.163 58: 134 A.165 61: 152 A.228 63: 126 A.133
387
70: 161 A.255 71: 134 A.163; 136 A.171 Cic. dom. 80: 212 A.412 93: 98 A.45; 203 A.383; 204 A.387 Cic. fam. 7,1,4: 91 A.23 8,2,1: 229 A.493 8,5,1: 229 A.494 8,7,1: 229 A.491 11,27: 116 A.95 11,28: 116 A.95 Cic. fin. 2,37: 221 A.455 2,46: 223 A.461 2,54: 57 A.38 4,18: 298 A.71 5,66: 112 A.87 Cic. Flacc. 1: 102 A.55 2: 131 A.150 3: 217 A.433; 218 A.435; 228 A.482 12: 238 A.519 21: 238 A.519 66: 231 A.499 Cic. Font. 17: 223 A.461 23: 109 A.79; 221 A.455; 238 A.519 25: 218 A.435; 222 A.457 31: 218 A.437; 220 A.448 40: 217 A.433; 218 A.438; 223 A.464
388
Cic. har. 17: 203 A.384; 204 A.387 49: 119 A.113 Cic. inv. 1,1: 52 A.17 1,1-6: 175 A.293 1,4: 175 A.294 1,6: 14 A.8 1,9: 14 A.10 1,15: 116 A.95 1,20: 15 A.11; 247 A.11 1,21: 84 A.3 1,22: 250 A.19 1,22-23: 15 A.11 1,24: 11 A.1 1,25: 110 A.82 1,26: 187 A.330 1,29: 124 A.127 1,34: 195 A.351 1,70: 227 A.481 1,83: 303 A.88 1,98: 185 A.324 2,67: 54 A.25 2,78-79: 116 A.95 2,131: 227 A.481 2,160: 51 A.13 2,166: 52 A.16; 200 A.371 2,168-169: 52 A.16 Cic. Lael. 19: 151 A.224 22: 102 A.54 35: 112 A.87 37: 114 A.90 40: 112 A.87 61: 112 A.87 69: 93 A.31 Cic. leg. 1,19: 221 A.455
1,27: 287 A.33 1,40: 339 A.235 1,50: 329 A.193 3,47: 146 A.206 Cic. Manil. 29: 119 A.113 40-41: 119 A.113 Cic. Mil. 1: 331 A.197; 346 A.264; 348 A.269 2: 348 A.269 2-3: 343 A.250 3-4: 349 A.277 4: 217 A.432; 217 A.433; 218 A.435; 218 A.438; 222 A.457; 223 A.464 4-6: 343 A.250 5: 344 A.253 6: 138 A.177 12: 127 A.136; 202 A.381 14: 106 A.67 15: 60 A.54 18-19: 119 A.113 21: 223 A.464; 331 A.197; 349 A.277 22: 217 A.433; 218 A.434; 218 A.436 36: 342 A.243; 343 A.250 37: 101 A.53 37-38: 101 A.53 38: 101 A.52 43: 345 A.259 61: 340 A.238 66: 119 A.113 67: 348 A.270 68: 315 A.126 70: 343 A.250 72: 342 A.244 77: 229 A.488
78: 343 A.250 83: 227 A.481 92: 350 A.284 95: 349 A.276; 350 A.284 103: 331 A.197 105: 217 A.432; 218 A.436; 223 A.464 Cic. Mur. 2: 97 A.40 3: 97 A.40; 149 A.214 8: 107 A.69 8-10: 155 A.234 10: 123 A.124 15: 155 A.234 43-46: 131 A.153 44: 38 A.94 56: 38 A.94; 131 A.150 58: 200 A.371 78: 136 A.168 Cic. off. 1,4: 78 A.29 1,7-8: 78 A.29 1,13: 223 A.461 1,15: 221 A.454 1,16: 221 A.454 1,18: 223 A.461 1,20: 132 A.154 1,21: 318 A.141 1,23: 109 A.79 1,24: 341 A.240 1,28: 136 A.170 1,31: 51 A.13; 114 A.91 1,32: 115 A.94 1,34: 139 A.179 1,57: 111 A.85; 114 A.91 1,58: 111 A.85; 114 A.91 1,59: 115 A.94 1,62: 120 A.115 1,64: 237 A.514
389
1,81: 118 A.110 1,83: 118 A.110 1,84: 120 A.116 1,88: 226 A.478 1,93: 298 A.70 1,94: 78 A.31 1,96: 79 A.39 1,97-98: 80 A.41 1,99: 299 A.73 1,100-102: 285 A.26 1,101: 243 A.1 1,107: 79 A.39 1,110: 80 A.40 1,115: 85 A.4 1,122: 166 A.272 1,126: 285 A.27 1,129: 285 A.27 1,142: 118 A.106 1,143: 118 A.106 1,153: 119 A.114 1,155: 52 A.17 1,158: 119 A.114 1,160: 114 A.91; 119 A.114 2,15: 298 A.70 2,18: 223 A.461 2,23-24: 345 A.261 2,33: 149 A.216 2,34: 222 A.459 2,48: 149 A.218; 166 A.272 2,49: 162 A.259 2,49-50: 239 A.521 2,49-51: 125 A.129 2,50: 38 A.95; 141 A.184; 142 A.193; 143 A.196 2,51: 122 A.122; 139 A.180; 223 A.461 2,66: 355 A.291 2,68: 155 A.234 2,69: 93 A.31 3,17: 52 A.15 3,26: 112 A.87
390
3,43: 80 A.45; 114 A.91 3,46-48: 52 A.15 Cic. opt. gen. 3: 14 A.10; 251 A.22 10: 38 A.93 Cic. or. 14: 253 A.27 16: 252 A.27 24: 11 A.1 29: 286 A.30 38: 185 A.324 42: 286 A.30 49: 14 A.10 50: 14 A.10; 105 A.65 52: 287 A.32 55: 280 A.6; 284 A.24; 287 A.33 56: 279 A.2; 279 A.3; 284 A.23 59: 285 A.27 60: 287 A.33 69: 14 A.10; 251 A.22 70: 79 A.34 71: 79 A.35 71-72: 79 A.37 72: 78 A.29 74: 79 A.39 86: 286 A.30 89: 117 A.105 99: 283 A.20 107: 174 A.291 113-115: 252 A.27 118: 252 A.27; 254 A.30 120: 252 A.27 123: 79 A.34 124: 306 A.94 128: 247 A.9; 248 A.12; 250 A.16; 251 A.23 130: 251 A.23; 283 A.18
132: 205 A.389; 283 A.17 140-146: 177 A.302; 191 A.337 145: 184 A.318; 191 A.339 146: 191 A.338 Cic. part. 4: 248 A.12 5: 124 A.127 15: 16 A.14; 247 A.11; 250 A.16 19: 124 A.127 22: 306 A.95 25: 286 A.28 27: 248 A.12; 288 A.35 28: 15 A.11; 247 A.11; 250 A.19 32: 14-15 A.10; 248 A.12 34-35: 124 A.128 40: 124 A.128 49: 238 A.519 53: 288 A.35 78: 299 A.72 79: 299 A.73 81: 119 A.113; 321 A.150 98: 236 A.508 112-113: 338 A.229 113: 345 A.259 114: 338 A.229 130: 51 A.10; 237 A.514 Cic. Pis. 46: 339 A.235 Cic. Planc. 1-4: 107 A.69 4: 97 A.41 5-6: 155 A.234 8: 155 A.234 24-26: 202 A.381 33: 212 A.412
58: 183 A.315; 319 A.143 72: 107 A.69 83: 187 A.330 91-94: 91 A.23 98-99: 107 A.69 Cic. Quinct. 1: 180 A.306; 181 A.309; 201 A.372; 348 A.272 2: 181 A.309 4: 180 A.306; 218 A.436; 237 A.510 5: 203 A.382; 217 A.432; 217 A.433; 218 A.438; 223 A.461; 223 A.462; 343 A.248 6: 217 A.433; 218 A.436; 342 A.242 7: 181 A.309 8: 174 A.291; 181 A.309 9: 139 A.179 10: 218 A.434; 218 A.436; 218 A.438; 223 A.462 12: 165 A.270 32: 343 A.248 33: 181 A.309 35: 181 A.309; 187 A.330 44: 181 A.309 45: 80 A.45 54: 218 A.435 59: 223 A.463 64: 227 A.481 72: 181 A.309 73: 237 A.515 77: 103 A.58; 187 A.330; 308 A.104 78: 150 A.219 79: 150 A.219 84: 223 A.461 91: 223 A.461 98: 343 A.248
391
Cic. Rab. perd. 1: 95 A.35 2: 107 A.69; 132 A.154 2-4: 107 A.68 47: 107 A.69 Cic. Rab. Post. 11: 218 A.435; 222 A.457 12: 218 A.435 45: 218 A.436 48: 331 A.197 Cic. rep. 1,39: 52 A.14 5,6: 329 A.192 Cic. S. Rosc. 1: 84 A.3; 116 A.97; 307 A.100; 347 A.267 2: 117 A.98; 120 A.118; 196 A.356 2-4: 150 A.219 3: 117 A.99; 159 A.246; 165 A.268; 171 A.285; 211 A.407; 347 A.267 4: 103 A.59; 196 A.356 5: 212 A.410; 307 A.101; 346 A.265 6: 201 A.373; 344 A.253; 344 A.257 7: 138 A.177 8: 217 A.433; 227 A.481 9: 160 A.253; 178 A.303; 201 A.374; 211 A.408; 217 A.433; 307 A.102; 347 A.267; 349 A.277 10: 218 A.435; 218 A.438; 223 A.464; 343 A.248 11: 229 A.489; 343 A.249 12: 172 A.287 13: 172 A.288; 229 A.490
392
15: 103 A.58; 103 A.59; 116 A.96 16: 340 A.238 17: 138 A.177 19: 138 A.177 26: 341 A.240 27: 103 A.59 28: 142 A.192; 229 A.490; 344 A.254 30: 138 A.177; 142 A.192; 211 A.408 31: 211 A.409; 342 A.245 32: 138 A.177 35: 201 A.375 37-82: 172 A.286 38-39: 238 A.519 42: 180 A.307 44-45: 188 A.331 46: 190 A.336 47: 150 A.219 49: 142 A.192 53: 238 A.519 54: 142 A.192 55: 127 A.137; 140 A.181; 330 A.194 56: 140 A.182 57: 228 A.483 58: 142 A.192 59: 97 A.43; 317 A.134 60: 317 A.134; 338 A.232 61: 212 A.411; 318 A.140; 344 A.255 62: 179 A.305; 238 A.519 64-65: 57 A.38; 339 A.234 67: 339 A.235 73: 218 A.435; 222 A.457 80: 136 A.169; 347 A.267 82: 187 A.330; 313 A.119; 330 A.196 83: 164 A.265; 173 A.289 83-123: 172 A.286
85: 219 A.444; 342 A.246 87-88: 138 A.177 89: 180 A.307; 180 A.308 91: 173 A.290; 347 A.267 94: 330 A.196 95: 303 A.87; 330 A.196 102-103: 198 A.361 116-117: 346 A.263 118: 303 A.87 122: 201 A.376 124: 330 A.196 124-142: 172 A.286 132: 341 A.240 135: 201 A.376; 330 A.196 140: 211 A.408; 218 A.438; 227 A.481 141: 344 A.254 144-145: 138 A.177 145: 341 A.240 148: 202 A.377; 211 A.406 149: 196 A.356; 322 A.153 150: 138 A.177; 218 A.434; 343 A.248; 343 A.249 152: 138 A.177; 227 A.481 154: 217 A.433; 218 A.435; 226 A.478 Cic. Scaur. 15: 221 A.455 Cic. Sest. 1: 349 A.275; 350 A.283 2: 217 A.433; 218 A.437; 220 A.449; 344 A.253 3: 100 A.48; 101 A.49 4: 214 A.417 6-13: 101 A.50 8: 206 A.392; 349 A.275; 349 A.276 11: 349 A.275 12: 349 A.276
14: 214 A.418 15: 349 A.275 22: 165 A.270 25: 349 A.276 31: 101 A.51; 313 A.120; 330 A.196 35: 349 A.275 38: 349 A.276 54: 350 A.283 69: 119 A.113 71: 101 A.51 86-87: 101 A.52 89: 101 A.52; 135 A.167 92: 101 A.52 94: 349 A.275 95: 101 A.52 99: 345 A.259 104-106: 349 A.274 115-118: 159 A.244 119: 159 A.245; 187 A.331; 217 A.433; 219 A.443 135: 217 A.433 139: 349 A.276 144: 217 A.433; 351 A.287 144-147: 101 A.51 147: 227 A.481; 228 A.482; 343 A.250 Cic. Sull. 1: 138 A.177; 138 A.178; 224 A.465; 226 A.473; 314 A.123 2: 96 A.37; 155 A.234; 205 A.391; 318 A.142 3: 154 A.233; 197 A.360 4: 196 A.356 5: 197 A.360 6: 112 A.86; 122 A.121 7: 154 A.233 8: 80 A.45; 80 A.46; 219 A.444; 220 A.446
393
9: 349 A.276 10: 197 A.360; 209 A.399 12: 148 A.211; 182 A.313; 197 A.360 13: 148 A.212 14: 148 A.210; 148 A.213; 198 A.361 15: 224 A.466; 303 A.86; 314 A.123 17: 338 A.231 18: 112 A.88; 122 A.121 18-20: 104 A.60 19: 113 A.89; 113 A.90 20: 197 A.360 21: 198 A.361; 202 A.380; 344 A.256 21-22: 318 A.142 22: 202 A.380 23: 155 A.234 25: 213 A.415 26: 92 A.26 30: 168 A.276; 230 A.498; 318 A.142 31: 133 A.159 32: 134 A.160 33: 209 A.399 33-34: 231 A.499 34: 198 A.361 35: 207 A.396 40: 155 A.234 44: 145 A.204; 317 A.134 46: 155 A.234; 165 A.267 47: 165 A.267; 168 A.275 48: 139 A.179; 149 A.214; 213 A.414 48-49: 155 A.234 50: 138 A.177 63: 226 A.476 63-65: 226 A.475 64: 217 A.433 65: 226 A.477
394
66: 349 A.275 69: 238 A.519 72: 150 A.219 74: 304 A.90; 314 A.123 75: 314 A.123 79: 228 A.482; 238 A.519; 342 A.244 80: 207 A.397; 213 A.415 83: 345 A.260 85: 208 A.397; 318 A.142 86: 213 A.414 90: 138 A.177; 138 A.178 92: 217 A.433; 218 A.434; 219 A.444; 344 A.256 93: 220 A.446 Cic. top. 23: 237 A.514 28: 53 A.19 73: 17 A.17; 194 A.348; 195 A.353; 197 A.360 74: 337 A.226 90: 236 A.508; 299 A.72 91: 236 A.508 97: 15 A.11 Cic. Tull. 3: 155 A.234 5: 38 A.93; 92 A.26; 320 A.146 10: 330 A.194 46: 347 A.267 Cic. Tusc. 2,3: 230 A.497 2,4: 230 A.497 3,16: 118 A.106 4,10: 243 A.1 4,10-11: 255 A.34 4,11: 332 A.201
4,13: 119 A.113; 255 A.34; 332 A.202 4,14: 254 A.31; 332 A.202 4,16: 329 A.191 4,16-21: 254 A.31 4,19: 333 A.204; 333 A.205; 337 A.225 5,52: 332 A.202 Cic. Vatin. 5: 239 A.521 Cic. Verr. 1,1: 228 A.485 1,2: 228 A.483 1,3: 217 A.433; 218 A.436; 218 A.437; 220 A.450 1,4: 230 A.496 1,20: 202 A.378 1,29: 96 A.38 1,30: 217 A.433 1,35: 202 A.378 1,38-39: 96 A.38 1,44: 228 A.486 1,46: 227 A.481; 228 A.484 1,47: 228 A.486 2,1,22: 218 A.437; 218 A.438; 228 A.482 2,1,157-158: 96 A.38 2,2,79: 96 A.38 2,3,1-2: 136 A.171 2,3,3: 162 A.259 2,3,6: 135 A.166 2,3,7: 143 A.198 2,5,174: 185 A.320; 202 A.379 2,5,175: 218 A.437; 228 A.482; 311 A.112 2,5,176: 108 A.70 2,5,178: 217 A.433
Diog. Laert. 7,111: 254 A.31 7,111-114: 254 A.31 7,116: 119 A.113 Dion. Hal. ant. 2,9-10: 91 A.25 2,10,1: 150 A.220 2,10,4: 151 A.221 Gell. 1,3,4: 114 A.91 1,3,13: 112 A.87 1,3,18: 114 A.91 1,3,23-25: 121 A.120 1,5,2: 164 A.266 1,5,3: 318 A.142 1,11,15-16: 286 A.30 2,4: 83 A.1 4,9,1-12: 220 A.452 4,9,14: 181 A.309 5,13,2: 114 A.91 5,13,4-6: 114 A.91 6,5: 289 A.41 12,8,5-6: 137 A.175 13,3: 102 A.55 14,2,21: 238 A.517 14,4,3: 219 A.444; 330 A.194; 343 A.250 15,11,1: 176 A.298 15,11,2: 176 A.299 15,11,3: 176 A.299 19,1,15: 337 A.227 19,1,17-20: 338 A.228 19,6,1-3: 326 A.176 19,6,3: 330 A.194 Iuv.
5: 157 A.241 7,106-107: 157 A.242 7,139-140: 157 A.242
395
7,146: 327 A.182 10,118-124: 327 A.182 13,1-4: 339 A.235 13,109-110: 340 A.237 13,192-198: 339 A.235 13,223: 337 A.225 13,239-249: 340 A.237 15,131-137: 350 A.282 Macr. Sat. 1,6,17: 324 A.167 1,11,12: 345 A.262 7,11,1: 324 A.168 7,11,2: 327 A.182 7,11,4-9: 326 A.176 Martial. 2,32: 123 A.124 Plat. Phaidr. 277b-c: 16 A.14 Plat. Phil. 47e2-3: 243 A.1 Plaut. Men. 571-587: 90 A.18 Plin. epist. 1,20,6-8: 66 A.85 1,20,9: 67 A.85 2,14: 327 A.181 7,17: 312 A.115 Plut. Cat. Mai. 22,2-5: 176 A.298 22,5: 176 A.298 Plut. Cat. Min. 23,3: 64 A.73
396
Plut. Cic. 24: 98 A.45 Plut. mor. 87B-C: 145 A.202 87D-E: 145 A.203; 303 A.85 88A: 303 A.85 528F: 321 A.150 529F: 321 A.150 Plut. Ti. Grac. 20,4: 114 A.90 Q. Cic. pet. 35: 103 A.59 40: 155 A.234 45: 115 A.94 Quint. inst. 2,4,5-7: 164 A.266 2,12,4: 212 A.410 2,14,5: 193 A.344 2,15,1-38: 17 A.16 2,15,2: 17 A.16 2,15,6: 14 A.9 2,17,1-41: 193 A.344 2,17,6: 186 A.326 2,17,21: 142 A.194 3,3,1: 14 A.10 3,3,3: 279 A.4 3,5,2: 14 A.10; 248 A.12; 251 A.22 3,6,93: 116 A.95 3,8,48: 196 A.357 4,1,5: 15 A.11; 247 A.11 4,1,6-26: 250 A.19 4,1,7: 114 A.91; 134 A.160; 197 A.361 4,1,8: 179 A.304; 197 A.360 4,1,8-9: 306 A.98 4,1,9: 192 A.343; 307 A.98
4,1,10: 117 A.105 4,1,11: 200 A.370 4,1,16: 219 A.444; 222 A.459 4,1,20: 336 A.218 4,1,21: 231 A.501 4,1,28: 248 A.12 4,1,33: 336 A.218 4,1,41: 84 A.3 4,1,52: 79 A.37 4,1,55: 312 A.115 4,1,71: 187 A.330 4,2,31: 124 A.128 4,2,34: 239 A.520 4,2,52: 124 A.128 4,2,111-112: 248 A.12 4,2,125: 197 A.361 5,11,36: 195 A.351 6,1,7: 252 A.24 6,1,9: 248 A.12 6,1,22: 132 A.154 6,1,27: 350 A.284 6,2,8-10: 247 A.9 6,2,9: 249 A.13; 291 A.48 6,2,12: 249 A.13 6,2,15: 164 A.266 6,2,21: 336 A.218 6,2,26: 283 A.18 6,5,9: 195 A.352 7,4,33-34: 83 A.1 7,4,34: 135 A.165 8,3,2: 180 A.306 8,3,5: 180 A.306 10,7,16: 310 A.109 11,1,8: 285 A.27 11,1,14: 79 A.37 11,1,15: 204 A.385 11,1,18: 204 A.385 11,1,25: 321 A.149 11,1,27: 312 A.115 11,1,29-30: 316 A.133 11,1,31-32: 164 A.266
11,1,43: 286 A.31 11,1,57: 320 A.146 11,1,68: 167 A.274 11,3,2: 283 A.20 11,3,5: 279 A.4; 288 A.38 11,3,6: 279 A.2 11,3,8: 289 A.46 11,3,30: 285 A.26 11,3,47-51: 337 A.223 11,3,56-59: 316 A.133 11,3,58: 286 A.30 11,3,61: 286 A.28 11,3,62: 288 A.39 11,3,64: 323 A.160; 337 A.222 11,3,67: 286 A.29; 288 A.38 11,3,71: 324 A.164 11,3,72: 287 A.33 11,3,74: 287 A.32 11,3,75: 287 A.33 11,3,83: 337 A.224 11,3,85: 287 A.34 11,3,92-106: 287 A.34 11,3,123: 287 A.32 11,3,133: 239 A.522; 316 A.133 11,3,150: 286 A.31 11,3,154: 14 A.10 11,3,155: 282 A.16 11,3,161: 327 A.179 11,3,177: 287 A.32 12,1,45: 124 A.128; 239 A.520 12,5,1: 330 A.195 12,5,2: 330 A.195 12,5,3: 326 A.178 12,5,4: 308 A.104; 323 A.163; 325 A.175; 330 A.195 12,7,1: 134 A.160; 239 A.521 12,7,3: 162 A.258 12,7,4: 111 A.84 12,7,5: 103 A.59 12,7,6: 114 A.91
397
12,7,7: 123 A.123 12,9,5: 192 A.343 12,10,50: 66 A.82 12,10,51: 66 A.82 12,10,53: 66 A.85 12,10,55: 66 A.83 12,10,56: 68 A.88 12,10,57: 66 A.83 Rhet. Alex. 1428a31-35: 16 A.14 1428b26-29: 166 A.271 1428b36-38: 166 A.271 1431b33-36: 238 A.519 Rhet. Her. 1,2: 17 A.16 1,3: 14 A.10 1,6: 15 A.11; 247 A.11 1,7: 15 A.11 1,8: 250 A.16; 250 A.19 1,10: 110 A.82 1,11: 187 A.330 1,14: 124 A.128 1,16: 124 A.127 1,17: 185 A.322 1,25: 116 A.95 2,3-5: 124 A.128 2,8: 325 A.170; 337 A.225 2,47: 185 A.324 3,3: 222 A.460 3,19: 279 A.3 3,20-27: 284 A.22 3,22: 284 A.22 3,26: 287 A.32 3,26-27: 287 A.34 4,32: 185 A.322 4,54: 120 A.116 4,57: 120 A.116
398
Sall. Cat. 11: 163 A.263 28,1: 112 A.86 schol. Bob. Mil. p. 61 Hildebrandt: 68 A.90 p. 67 Hildebrandt: 202 A.381 schol. Bob. Sest. p. 83 Hildebrandt: 349 A.274 p. 96 Hildebrandt: 350 A.278 schol. Bob. Sull. p. 7 Hildebrandt: 197 A.361; 198 A.361 p. 8 Hildebrandt: 148 A.212 p. 9 Hildebrandt: 198 A.361 p. 9-10 Hildebrandt: 315 A.124 Sen. epist. 11,1,1: 322 A.151; 324 A.167; 324 A.168 11,1,2: 325 A.172 11,1,3: 322 A.157; 324 A.168 11,1,5: 308 A.104 11,1,7: 325 A.173 52,12: 289 A.40 Suet. rhet. 25,1: 176 A.298; 176 A.299 Tac. ann. 11,5-7: 157 A.239 Tac. dial. 1,1: 157 A.240 2,2: 193 A.344 5,5: 330 A.194 19,2: 193 A.344 19,5: 193 A.344 20,1: 327 A.180
20,2-5: 193 A.344 22,2-3: 192 A.341 30,5: 252 A.27 31,3: 252 A.27 34,1-7: 102 A.56 35,1: 176 A.299 36,1-8: 328 A.183 36,2: 328 A.183 39,4: 231 A.502 Val. Max. 4,1,8: 137 A.175 4,2,1: 137 A.175 4,5,4: 311 A.114 4,7,1: 114 A.90
5,4,4: 130 A.149 5,6,praef.: 114 A.91 6,1,praef.: 322 A.156 6,2,praef.: 212 A.410 6,2,4: 215 A.428 6,3,praef.: 218 A.441 8,1,7(absol.): 139 A.180 8,1,11(absol.): 200 A.371 8,1,13(absol.): 338 A.233 8,10,1: 286 A.30 8,10,2: 164 A.266 8,10,3: 282 A.16 Vell. 2,3,1: 114 A.90
399
Sachregister Aequitas: 236-237 mit A.508; 239; 282; 341 – A. als Sinnkonzept: 237; 354 – Gleichgewicht: 207; 208; 230; 236 – Iniquitas: 348; i. temporum: 347-348 mit A.267 und 268; Ungleichgewicht: 206; 210211; 237; 348-349; 354 – Scham und a.: 299 A.72 Auctoritas – Emotionen und a.: 286 A.29 – Forensische a.: 96-97; 195197; 234 – Gesellschaftliche a.: 206; 217; 234 – Potentia: 200; 201-203 mit A.373; 210-211; gratia: 200; 201 A.372; 202 mit A.381; opes: 200; 201 A.372; 202; vis: 200; 201 – Sapientia und a.: 118 – Thematisierung der a.: 206209; 234 Authentizität – A. der Anklägerrolle: 110; 146-147 – A. der Emotionen: 283; 288289; 290 – A. der Furcht: 336; 337-338; 341 – A. des Gerichtspatronats: 107108; 110; 147; 150 – A. der Scham: 325-326 Constantia: 106; 174; 206 mit A.395 – Auctoritas und c.: 99 mit A.46; 113; 197 A.360
400
–
C. als Rollenkonsistenz: 77; 79-80 mit A.40; 172 Decorum: 78-79; 84; 158-159; 171; 182 – Ästhetik und d.: 12 A.4 – Emotionales d.: 285-286 mit A.26 und 27; 286 A.30; 287 A.32; 290 – Sapientia und d.: 79 – Scham und d.: 298 A.70; 306 A.96 Emotionen – Emotionale Reproduktion der Sinnmuster: 255; 262; 265; 268-269; 275; 290 – Emotionsgeschichte: 269-272 – Emotionssoziologie: 261; 262267 – Emotionstheorien (Antike): 243 A.1; E. bei Aristoteles: 245-246 mit A.6 und 8; E. bei Cicero: 247-248; Rationalität der Emotionen (Antike): 254255 mit A.35 – Kognition und E.: 258-261 – Kulturelle Codierung von E.: 275; 284-285; 290; kulturelle Bedingtheit von E.: 262 – Narrative Skripte: 257 A.37; 271-272; 291 A.48; 329 – Performanzen: 248; 255; 273; 279; 283; 288; Gestik: 275 mit A.114 und 115; 287 mit A.34; Mimik: 275; 287 mit A.33; Stimme: 284 mit A.22 – Soziale Normen und E.: 37; 255; 266; 270; 279; 290; Internalisierung: 265; 274
–
Soziale Rollen und E.: 265; 268 mit A.74; 286; emotionale Rollenkonsistenz: 286 Fides: 104; 108-110; 117 – Auctoritas und f.: 109; 185; 195 mit A.352; 197; 199 mit A.368; 204; 337 – Emotionen und f.: 286 A.29; 288; 289 – Performanzen des Vertrauens: 343 – Prudentia und f.: 149 – Staatsraison und f.: 104; 111116 Furcht – Angst und F. (Neuzeit): 335 – Conscientia: 339-340 – Definitionen der F. (Cicero): 332 mit A.202; D. (Aristoteles): 332 – F. als Appell: 346-351 – F. als Indikator: 336-341 – F. als „Rechtsprinzip“: 330 mit A.194 – F. als Schuldeingeständnis: 338-341 – Furchtlosigkeit: 341; Fides und F.: 345 mit A.263; 354; Performanzen der F.: 342 – Hoffnung und F.: 344-345 – Körperliche Ausdruckskraft der F.: 336; 337 – Metus und timor: 333-334 – Pallor: 337 mit A.225 – Performanzen der F.: 346-347; 349; 351; 354 – Squalor und F.: 350-351 mit A.283 – Vorsicht und F.: 119 mit A.113; 255 A.34 Habitus: 273-277; 284
– Hexis: 275; 279; 285 Ingenium: 178-185 – Akzeptanz des i.: 182-184; 234 – Ambivalenz des i.: 179-181; 197; 234 – Sapientia / prudentia und i.: 184 mit A.317 und 318 Inimicitiae: 127; 132; 232; 281 – Grenzen der Feindschaft: 137139 – I. als Motiv der Anklage: 125; 126-127; 130-132; Staatsraison und i.: 134-135; 143-144; 146 – Kontrollfunktion der i.: 145146; 233; K. und Scham: 303 A.85 – Pietas und i.: 128-132; 166 – Vertrautheit und i.: 147 Jovialität: 93 mit A.31; 209-210; 215; 297; 300 Jugend: 162-163 – Ambivalenz der J.: 165-166; 168-169 mit A.277; 216 – Ehrgeiz und J.: 162-164; 167 – Nachsicht gegenüber J.: 163; 164-165; 166-168; 170 – Skepsis gegenüber J.: 165-166 – Statusdissonanz: 161; 169-170; 177; 233 – Vortragsstil: 164-165; 167; 233-234 Kulturgeschichte – Deutungsschemata: 27; 28; 3233 mit A.75 – Dichte Beschreibung: 30-31; 110; 256 – Historische Anthropologie: 2425; 256 – Kulturbegriff: 26 – Kulturelle Codes: 20-22 – Mentalitätsgeschichte: 22-23
401
–
Nomologisches Wissen: 21 mit A.24; 28 – Sinn: 27-29; objektiver S.: 2728; 32; subjektiver S.: 27; Sinnkonzepte: 28-29; 214-215 Libertas: 211 – Auctoritas und l.: 207-208; 214-216; 235; potentia und l.: 212; 214; 215 – Gleichgewichtsprinzip und l.: 214 mit A.421; 216; l. als Gleichheit vor dem Gesetz: 215 – Jugend und l.: 212 mit A.410; 216; 235 Patron – Alter des P.: 117; 158 – Amicitia und clientela: 92; 9394; 150; 151; 233; amicitia und fides: 102; 108 A.73 – Begründung des Patronats: 94100; 107 – Frage der Professionalisierung: 100 A.47; 123-124; 155-157; 182; 189 A.335; 193; 233 – Gravitas des P.: 159-160; 185; 233; g. und auctoritas: 194 mit A.348 – Sapientia / prudentia des P.: 117; 118; 120; 171 mit A.285 – Schuldfrage: 122-123 Quaestio – divinatio: 83 mit A.1; 94; 110; 134 A.165 – Gesellschaftliche Relevanz der Gewalt- und Tötungsdelikte: 60; 61 Rhetorik / Kommunikation – Dissimulatio artis: 185-193; 234; Normveränderung: 190192 mit A.340
402
–
Ethos bei Cicero: 249-250; 290-291; 303; E. bei Aristoteles: 249-250 – Hörerzentriertheit: 13-16; Ausrichtung auf „rationale“ Normen: 16-19; Ausrichtung auf emotionale Normen: 252-253 – Pathos bei Cicero: 251; 253; 290-291; P. bei Aristoteles: 251-252 – Perlokutionärer Akt: 15 mit A.12; 349; perlokutionäres Nachspiel: 15 mit A.12; 199; 350 – Publikation der Reden: 62-68 – Skepsis gegenüber Rhetorik: 174-177 – voluntas: 11 A.1; 122 – Vortrag: 279-282 Richter – Aequitas der R.: 218 A.436 – Fides der R.: 218 mit A.438; 223 – Religio der R.: 218 A.437; 220-221; 233; 235; r. und veritas: 220 – Sapientia / prudentia der R.: 218 A.435; 221-222; 233; 235; Aufspüren der Wahrheit: 221; s. und iustitia: 222 A.459 – Severitas der R.: 217 A.433; 218-219; 220-221; 235; 344; s. und gravitas: 218; 219 A.443; s. und misericordia: 219 A.444 – Veritas: 218 A.436; 222-223 mit A. 461 Scham – Achtung vor den Richtern: 312-313; 342; 352-353 – Egalitätsgedanke und S.: 310; 318; 320; 322; 353
– –
Fides und S.: 310; 316; 352 Forensische S.: 291-292 mit A.51; 305-322; S. zu Beginn der Rede: 305-310 – Internalisierte S.: 299; 303305; 307-308; 353 – Jugend und S.: 322; 324; pietas und S.: 292 A.52 – Reproduktion der Sinnmuster: 310-311; 313-315 – Rubor: 323-324 – S. (Neuzeit): 299-300 – S. als soziale Norm: 297; S. als Metanorm: 298-299 – S.-Angst: 328-329; 330 – S.-Zeugen: 311-312 mit A.111; 315 A.127; 317 – Schuld und S.: 301-302 – Soziale Hierarchie und S.: 297298 mit A.65; 300; 316 – Soziale Rolle und S.: 305 mit A.93; 311 – Verecundia und pudor: 239; 292; 294-296; 296-297 mit A.64; 329; kulturelle Bedingtheit von v. und p.: 293-294; narrative Skripte (pudor): 295296 mit A.61 – Veritas und S.: 304 Sinn der Gerichtsverhandlung: 184; 217; 232-239; 256 – Akzeptanz der richterlichen Entscheidung: 224-227; 231232; 235-236; 352-353; 354 – Egalitätsgedanke: 153-155; 183-184 mit A.316; 200; 216; 222; 232-234; 236; 239; 256; 352; 354 – Enthüllung sämtlicher Argumente: 153; 155 mit A.235; 184; 222; 233; 234
–
Kriterien der Urteilsbildung: 33-35; 217 – Rollenkomplementarität: 153; 155; 161; 170; 216; 232; 234; 236; 256 – Sinn der Anklägerrolle: 146147; 167; 184 – Sinn des Gerichtspatronats: 94; 152-155; 184 – Vertrautheit: 147-149; 152 mit A.228; 153-155; 198-199; 233; Vertrauen und V.: 151-152 mit A.226; 152 A.227; persönliche Nähe: 150-151; 233 – Wahrheitsfindung: 122; 124; 238-239; 256; 310; Wahrscheinlichkeitsbeweise: 122; 124 mit A.127; 155; 239 Soziale Normen – Internalisierung von N.: 74 – Möglichkeit der Normengestaltung: 18 mit A.19; 74 mit A.6 – Mos: 53-55; 77; 176; m. und ius: 53-54; exempla: 77 mit A.23 – N. und Werte: 73 mit A.1; 7778 – Normveränderung: 156 – Soziale Sanktionen: 75; 76 Soziale Rollen: 36; 74-75 – Askribierte und erworbene Positionen: 84 mit A.4; 162 – Bezugsgruppe: 75-76 mit A.15; 109; 115; 191; 228; 231 – persona: 79-80; 84; 86; 99; 194 – Rollendistanz: 75 mit A.10 – Rollenkonflikte: 75-76; 99; 104; 116-120; 121-122
403
–
Rollenkonsistenz: 76-77; 86; 110-111; 158; 162; 171-173; 216; 234 Spes: 342-346 – Achtung vor den Richtern: 346 – Deviante Form der Hoffnung: 343-345; 347 – Fides und s.: 343; 346 – Hoffnung der Gesellschaft: 343 – Ungleichgewicht und s.: 345 Squalor: 349-351 Staatsraison: 114-116; 118; 120; 154
404
–
S. als Motiv der Anklage: 125; 134; 135-136 – Utilitas communis: 51-53; 61; 236-237; u. und ius: 52-53 mit A.18; 61-62; u. und honestas: 52 mit A.15 Volk – Corona: 230-231 – Konsenswahrende Funktion: 49; 210; 232; 235-236; 350 – V. als Sanktionsinstanz: 228230; 235-236; 350
cristian criste
criste · Voluntas auditorum ohl kaum eine Institution der römischen Republik hatte größere Macht über das Ansehen und das Schicksal von Bürgern unterschiedlichster Gesellschaftsschichten als die Gerichtshöfe des letzten vorchristlichen Jahrhunderts. Zugleich haben wenige Institutionen der Zeit mit Blick auf ihre Funktionsweise und Zielsetzung größere Forschungskontroversen ausgelöst. Das Buch rückt die Frage nach dem ›Sinn‹ der spätrepublikanischen quaestiones in den Vordergrund, indem es diesen in den kulturspezifischen Wahrnehmungsformen sucht, die das Verhalten der Akteure determinieren. Verteidiger, Ankläger und Richter werden als aufeinander bezogene und streng normierte Rollen begriffen, deren Zusammenspiel eine eminente sinnstiftende Funktion erfüllt. Die Rezeption neuerer Emotionstheorien enthüllt dabei auch die Stabilisierungsleistung der affektiven Kundgebungen und fördert das komplexe Bild eines Systems zutage, dessen normative Verankerung in den Dienst der übergeordneten Sinnmuster gestellt wird.
criste
Voluntas auditorum
Voluntas auditorum Forensische Rollenbilder und emotionale Performanzen in den spätrepublikanischen quaestiones
Universitätsverlag
isbn 978-3-8253-6907-1
win t e r
Heidelberg