Das Jenseits der Darstellung: Postdramatische Performanzen in Kirche und Theater 9783839451625

In this volume, discourses in theater and liturgical studies are put into dialogue against the background of "post-

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German Pages 214 Year 2020

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Inhalt
Das Jenseits der Darstellung
Regietheater heute?
Zur Performanz von Bildern im Theater
Post-dramatisches Theater und Praktische Theologie
Licht an. Licht aus.
Leidenswege: visualisiert, performiert, erinnert
Postdramatischer Gottesdienst?
Liturgische Präsenz, Liturgische Bildung, Performanz
Im Paradies der Zeichen
Auf dem Weg mit Theodorant und Theoskop
Ringbuch oder Partitur?
Theatrale Kategorien in der Praktischen Theologie
Autorinnen und Autoren
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Das Jenseits der Darstellung: Postdramatische Performanzen in Kirche und Theater
 9783839451625

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Thomas Klie, Jakob Kühn (Hg.) Das Jenseits der Darstellung

rerum religionum. Arbeiten zur Religionskultur  | Band 5

Editorial Religion ist ein Kulturphänomen. Sie zeigt sich in Kunst und Gesellschaft, in Ethos und Recht, in Sprache, Konsumkultur, Musik und Architektur. Eine Deutung spätmoderner Religion wird sich darum immer auch auf weitere Segmente der Gegenwartskultur einlassen müssen. Dies gilt auch und gerade aus der Perspektive der Religionsforschung innerhalb und außerhalb von Theologie. Jenseits der überkommenen polarisierenden Orientierungen am isolierten Subjekt oder am dogmatischen Normenkanon rückt Religion als dynamische Ausdrucksform performativer Praxis ins Zentrum der Aufmerksamkeit. Religionswissenschaft, Praktische Theologie und Kulturwissenschaft stellen sich dieser Aufgabe in je spezifischen Theoriezugriffen. Dabei werden Differenzen und Deutungskonflikte, Geltungsansprüche und Übergänge kenntlich gemacht und aufgeklärt. Denn die Frage nach religionskulturellen Formaten korreliert mit der nach religiösen Traditionen, theologischen Normierungen und sozialen Zuschreibungen. Diskurse zu Religion werden so in Bezugnahme auf religionstheoretische Fragehorizonte zum Gegenstand interdisziplinären Austauschs – empirisch, philologisch und historisch vergleichend. Die Bände dieser neuen Reihe widmen sich in unterschiedlicher Weise kulturellen Phänomenen und deuten sie semiotisch und ästhetisch in ihrer geschichtlich gewordenen Gestalt. Im Horizont fachlich gebundener Herangehensweisen wissen sich die Herausgeberin und die Herausgeber in besonderer Weise der Frage nach der Relevanz ihres Gegenstands verpflichtet. Die Reihe wird herausgegeben von Klaus Hock, Anne Koch und Thomas Klie.

Thomas Klie (Dr. theol.), geb. 1956, ist Professor für Praktische Theologie an der Theologischen Fakultät an der Universität Rostock. Seine Forschungsschwerpunkte sind Pastoral- und Religionsästhetik, spätmoderne Religions- und Kasualkultur und Religionshybride, Performanztheorie und Sepulkralkultur. Jakob Kühn (Dipl. theol.), geb. 1988, ist wissenschaftlicher Mitarbeiter für Praktische Theologie an der Theologischen Fakultät an der Universität Rostock und promoviert zum Thema Kasualrede. Seine Forschungsschwerpunkte sind Homiletik, Kasualtheorie sowie Sepulkralkultur.

Thomas Klie, Jakob Kühn (Hg.)

Das Jenseits der Darstellung Postdramatische Performanzen in Kirche und Theater

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

© 2020 transcript Verlag, Bielefeld Alle Rechte vorbehalten. Die Verwertung der Texte und Bilder ist ohne Zustimmung des Verlages urheberrechtswidrig und strafbar. Das gilt auch für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und für die Verarbeitung mit elektronischen Systemen. Umschlaggestaltung: Maria Arndt, Bielefeld Umschlagabbildung: »Das Jenseits der Darstellung«, Thomas Hirsch-Hüffell, Hamburg Satz: Frank Hamburger, Rostock Druck: Majuskel Medienproduktion GmbH, Wetzlar Print-ISBN 978-3-8376-5162-1 PDF-ISBN 978-3-8394-5162-5 https://doi.org/10.14361/9783839451625 Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier mit chlorfrei gebleichtem Zellstoff. Besuchen Sie uns im Internet: https://www.transcript-verlag.de Unsere aktuelle Vorschau finden Sie unter www.transcript-verlag.de/vorschau-download

Inhalt

Das Jenseits der Darstellung Zur Einleitung

Thomas Klie/Jakob Kühn  | 7

Regietheater heute? Deutschsprachige Bühnen zwischen dramatischem Rollenspiel und postdramatischen Überschreitungen

Andreas Englhart  | 13

Zur Performanz von Bildern im Theater

Barbara Gronau  | 31

Post-dramatisches Theater und Praktische Theologie

Thomas Klie  | 47

Licht an. Licht aus. Abwesenheit und Erfahrung

Dietrich Sagert  | 71

Leidenswege: visualisiert, performiert, erinnert Künstlerische Transformationen biblischer Texte raumtheoretisch hinterfragt

Antje Mickan  | 85

Postdramatischer Gottesdienst? Über die dramatische Ursituation der Scham

Klaas Huizing  | 107

Liturgische Präsenz, Liturgische Bildung, Performanz

Konrad Müller  | 125

Im Paradies der Zeichen Kreative Liturgie als postdramatische Stückentwicklung

Marcus A. Friedrich  | 147

Auf dem Weg mit Theodorant und Theoskop Zwei Ideen für theologisch-ethisches Theaterspiel

Katharina Gladisch  | 159

Ringbuch oder Partitur? Zu Textbild und Performanz im evangelischen Gottesdienst

Lars-Robin Schulz  | 175

Theatrale Kategorien in der Praktischen Theologie

Lisa Espelöer  | 193

Autorinnen und Autoren  | 211

Das Jenseits der Darstellung Zur Einleitung Thomas Klie/Jakob Kühn

Es ist ruhig geworden um das Theaterparadigma in der Praktischen Theologie. Die grundsätzlichen und kaum kontroversen Auseinandersetzungen mit den klassischen Kategorien und Paradigmen des Dramen-Theaters haben in den zurückliegenden 20 Jahren für wichtige Anstöße gesorgt. Im Kontext des ästhetischen Paradigmas rückte der Diskurs zur dramaturgischen Gestalt der evangelischen Liturgie bemerkenswerte Neuentdeckungen ins protestantische Bewusstsein. Inszenierung und Präsenz (Meyer-Blanck), Rolle (Friedrich), Leiblichkeit (Roth), Text (Plüss) und Spiel (Klie) waren fortan die zentralen Kategorien, über die man sich liturgiewissenschaftlich verständigte. Mittlerweile gilt der heuristische Ertrag der Beschäftigung mit Brecht und Stanislawskij, mit Grotowski und Brook als gesichert und approbiert. Die Theaterwissenschaft hat sich nahtlos in das breite Ensemble praktisch-theologischer Bezugswissenschaften eingereiht.1 Doch die Welt des Theaters verändert sich. Theater und performative Praxis bespielen mittlerweile ein sehr viel weiteres Feld. Und vor allem: Sie bespielen es in anderer Weise als das dramatische Theater.2 Und damit hat auch die das Theater denkende Theorie andere Gegenstände bekommen. „Die Definition dessen, was wir unter Theatralität verstehen, hat sich verschoben. Theatralität stellt sich nicht mehr dort ein, wo wir etwas mit großen Gesten und viel Getue geboten bekommen.“3 Der Theaterwissenschaftler Heiner Goebbels hat mit diesem Diktum 1 Vgl. hierzu den instruktiven von Irene Mildenberger, Klaus Raschzok und Wolfgang Ratzmann herausgegebenen Sammelband „Gottesdienst und Dramaturgie“. Liturgiewissenschaft und Theaterwissenschaft im Gespräch, Leipzig 2010. 2 Vgl. den Überblicksartikel von Andreas Englhart in diesem Band. 3 Goebbels, Heiner: Der Raum als Einladung. Der Zuschauer als Ort der Kunst, in: Ders.: Ästhetik der Abwesenheit. Texte zum Theater, Berlin 2012, S. 78–87, hier S. 85.

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vor allem das Totalwerden der Bühne und das Durchbrechen der „vierten Wand“4 im Blick, durch die der Zuschauer mehr und mehr zum „Spect-Actor“ (Augusto Boal), zum „Zuschauspieler“ wird. Diese Entgrenzung unterläuft die primär von der Produktion der theatralen Imagination her gedachte Dramaturgie – und relativiert damit auch deutlich die ihr darin folgende praktisch-theologische Rezeption.5 Was sich in den letzten beiden Dekaden als „postdramatisches Theater“ erst zaghaft andeutete, ist derzeit dabei, sich fest zu etablieren und stilistisch die dramaturgische Arbeit im Theater zu verändern. Diese Strömung kreist um die „Entdeckung des Zuschauers“6: Er wird „praktisch, mehr aber noch ästhetisch die zentrale Figur des Theaters, seiner Praxis und seiner Theorie“7. Zeitgleich hat sich aber auch die evangelisch-liturgische Praxis entgrenzt.8 Neue Formen werden erprobt, die die Partizipation der Gottesdienstbesucher neu ausloten. Emotional geladene Lobpreisgottesdienste haben deutlichen Zulauf, Zielgruppen­orientierungen kasualisieren die liturgische Kultur und in vielen Gemeinden haben sich alternative Formate etbaliert. Interaktion und Expressivität gewinnen an Bedeutung und setzen das klassische „Drama Gottesdienst“9 lediglich noch als Zitationsmarge und Kontrastfolie in Geltung. Möglicherweise verdanken sich beide Entwicklungen im Bereich performativer Darstellungskunst der Suche nach „Authentizitätsperformanz“10, Intensität

4 Diese Metapher meint die zum Publikum hin offene imaginäre Wand einer Guckkastenbühne, die zur zentralen Kategorie in der Theorie des naturalistischen Theaters am Ende des 19. Jh. wurde. 5 Vgl. hier v.a. den Beitrag von Lisa Espelöer in diesem Band. 6 Fischer-Lichte, Erika: Die Entdeckung des Zuschauers. Paradigmenwechsel auf dem Theater des 20. Jahrhunderts, Tübingen/Basel 1997. 7 Lehmann, Hans-Thies: Vom Zuschauen, in: Deck, Jan/Sieburg, Angelika (Hg.): Paradoxien des Zuschauens. Die Rolle des Publikums im zeitgenössischen Theater, Bielefeld 2008, S. 21–26, hier S. 26. Vgl. a. Hochholdinger-Reiterer, Beate/Boesch, Géraldine/ Behn, Marcel (Hg.): Publikum im Gegenwartstheater, Berlin 2018. 8 Aus der Fülle der Publikationen vgl. Kunz, Ralph: Der neue Gottesdienst. Ein Plädoyer für den liturgischen Wildwuchs, Zürich 2006; Friedrichs, Lutz (Hg.): Alternative Gottesdienste, Hannover 2007; Arnold, Jochen (Hg.): Andere Gottesdienste. Erkundungen und Reflexionen zu alternativen Liturgien, Gütersloh 2012. 9 Schilson, Arno/Hake, Joachim (Hg.): Drama „Gottesdienst“. Zwischen Inszenierung und Kult, Stuttgart 1998. 10 Reckwitz, Andreas: Die Gesellschaft der Singularitäten. Zum Strukturwandel der Moderne, Berlin 2017, 137ff.

Das Jenseits der Darstellung. Zur Einleitung | 9

und ludischer Qualität, die ihrerseits in umfassende Prozesse von Doing Culture11 eingelagert sind. Die in diesem Band versammelten Beiträge12 gehen im interdisziplinären Gespräch diesen Interferenzen nach. Ein Schwerpunkt sind dabei die postdramatischen Performanzen in Kirche und Theater – sie nehmen im Gespräch zwischen Praktischer Theologie und Theaterwissenschaft Gestalt an. Und in den Praxisbeispielen zeichnet sich ein ganz besonderer Zugriff auf „das Jenseits der Darstellung“ ab. Andreas Englhart kommentiert in seinem Beitrag die ästhetische Lage des deutschsprachigen Gegenwartstheaters. Seiner These: Das Gegenwartstheater ist zumeist Regietheater, weil es keiner Abbildungsästhetik folgt, ästhetisch hoch entwickelt ist und der Regisseur (bzw. ein Kollektiv) die künstlerische Gesamtverantwortung übernimmt. Das postdramatische Theater spielt mit der medialen Spezifität der Liveness. Trotz postdramatischer und performativer Einflüsse werden heute immer noch mehrheitlich Stücke gespielt, Theatertexte und Literatur inszeniert. Offenbar will der Mensch nicht ohne kleinere oder größere Geschichten auskommen. Barbara Gronau analysiert aus der Sicht der Theaterwissenschaftlerin das Phänomen des Sich-Zeigens. Was geschieht, wenn ein Etwas, eine Form, ein Lebewesen auf einem Schauplatz in die Sichtbarkeit tritt und zu einer lebendigen, bedrängenden Tatsache wird? Gronaus These: Hierbei wird nicht nur etwas wiedererkannt, sondern eine neue Welt eröffnet. Anhand von drei Beispielen zeigt sie auf, wie Wahrnehmungs-Parameter im zeitgenössischen Theater eingesetzt werden und welche Rolle Bildlichkeit darin spielt. Klar wird: Bilder im Theater ahmen nicht nur nach oder bilden etwas nur ab, sondern sie stellen eigene Realitäten her. Sie sind in hohem Maße performativ. Thomas Klie skizziert die bisherige praktisch-theologische Rezeption der Theatertheorie und geht dann dem Theorieentwurf von Hans-Thies Lehmann zum „postdramatischen Theater“ nach. Er zeigt überraschende Parallelentwicklungen in Theater und Kirche auf und plädiert für die Fortschreibung des wechselseitigen Theorietransfers. 11 Hörning, Karl H./Reuter, Julia (Hg.): Doing Culture. Neue Positionen zum Verhältnis von Kultur und sozialer Praxis, Bielefeld 2004. 12 Das Gros der Beiträge resultiert aus der Tagung „Bild und Performanz. Zur Bildlichkeit der liturgischen Dramaturgie“, die von der Theologischen Fakultät der Universität Rostock veranstaltet wurde (15.-17.3.2018). In einigen Fällen wird verallgemeinernd das generische Maskulinum verwendet. Derartige Formulierungen umfassen gleichermaßen weibliche und männliche Personen und sollen selbstverständlich gleichberechtigt angesprochen sein.

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Dietrich Sagert schaut von der postdramatischen Performanz in Bild und Theater aus auf den evangelischen Gottesdienst. Er plädiert mit Heiner Goebbels für eine „Ästhetik der Abwesenheit“ im Kultus und spielt diese Figur anhand einiger liturgischer Rubriken durch: Stille, Lesungen, liturgische (Nicht-)Präsenz, leere Bühne (Altarraum) und Sprechakte. Solche Strategien der Abwesenheit eröffnen künstlerische Erfahrungen bis hin zur „Anwesenheit des Anderen“. Antje Mickan schlägt anhand von drei Beispielen, zwei Ausstellungsprojekten in Kirchen und einem Passionsmusical, eine Brücke zwischen Kunst, Religion und Raum. Sie geht mit Nelson Goodman der Frage nach, wie sich in der späten Moderne Amalgame einer Religions- und Erinnerungskultur räumlich performieren. Bei Exponaten in Kirchenräumen können Artefakte sich gewissermaßen gegenseitig ins Spiel bringen. Klaas Huizing kritisiert in systematisch-theologischer Perspektive mit Bernd Stegemann die postdramatische Kehre in der Praktischen Theologie. Zugleich plädiert er für eine Rückkehr zum biblischen Realismus, zu biblischen Texten, die dazu tendieren, „Schlüsselsituation zu horizontalisieren“. Im Blick auf die evangelische Liturgie diskutiert er Aspekte, die dem postdramatischen Ansatz entsprechen (Leiblichkeit, Spielcharakter, Performativität), ohne dabei „in den Strudel dekonstruktivistischer Handlungslethargie zu geraten“. Ein postdramatischer Gottesdienst ist ein Gottesdienst, der sich vom alten Heilsdrama ganz entschieden befreit. Konrad Müller thematisiert die Fortbildungsarbeit im Bereich der „Liturgischen Präsenz“ nach Thomas Kabel. Hier werden mit einem der Schauspielausbildung entlehnten Methodenpotpourri Pfarrpersonen angeleitet, ihr liturgisches Handeln dramaturgisch zu optimieren. Die Grundlage ist dabei, dass hinter der Show, hinter dem Auftritt ein Sein sichtbar wird, das nicht mit einem formverliebten Ritual- und Körperspiel zu verwechseln ist. Anders als das „Evangelische Rituale“, das eher semiotisch argumentiere, geht es Kabel um Gesamtwirkung der Person, die sich dem Zugriff semiotischer Analyse eher entzieht. Marcus A. Friedrich setzt die in evangelischen Gemeinden mittlerweile üblichen alternativen Gottesdienstformate – das „zweite Programm“ oder wie er es nennt: „kreative Liturgien“ – in ein kritisch-konstruktives Verhältnis zum postdramatischen Theater. Zwischen Standup-Commedy und Verkündigung sind ihre Charakteristika: aktionsgeprägt, einmalige Aufführung und auf der ständigen Suche nach Originalität. Katharina Gladisch beschreibt, wie sie mit ihrem Projektteam zwei Stücke mit ethisch-theologischem Anspruch in Szene setzt. Hierbei spielt die das Fremde eine zentrale Rolle, eine Figur, die mit Bernhard Waldenfels prominent reflektiert. Dramaturgisch ist ihr zweiter Gesprächspartner Heiner Müller, der den „kontrollierten Wahnsinn“ zur Leitidee erhebt.

Das Jenseits der Darstellung. Zur Einleitung | 11

Lars-Robin Schulz geht am Beispiel des schwarzen Gottesdienst-Ringbuchs dem Verhältnis von Textbild und sprecherische Performanz nach. Wenn mit dem Ringbuch der Pfarrperson ein nennenswerter Anteil der gesprochenen Sprache im Gottesdienst gestaltet wird, dann ist dies für die Erforschung der sprechsprachlichen Performanz in der Liturgie keine Marginalie. Anhand ausgewählter Stichproben wird hier en détail die Qualität und Verständlichkeit mündlich realisierter schriftkonstituierter Textsorten bestimmt. Lisa Espelöer rekonstruiert den liturgischen Theaterdiskurs am Beispiel des Inszenierungsbegriffs von Michael Meyer-Blanck. Mit Recht weist sie darauf hin, dass in diesem Theoriezugriff die Rolle des Publikums bzw. der Gottesdienstbesucher deutlich unterbestimmt bleibt. Mit Rancière und Lazarowicz skizziert sie einen um die Publikumskategorie erweiterten theologischen Inszenierungsbegriff. Insgesamt versteht sich der Band in doppelter Weise als ein Diskursangebot: Die Praktische Theologie ist aufgefordert, das Theaterparadigma postdramatisch fortzuschreiben und die produktiven Impulse, die hiermit gesetzt wurden, auch auf die Rezeptionsmodi des gemeindlichen „Publikums“ auszuweiten, um damit auch die jüngsten Entwicklungen im Bereich der liturgischen Praxis deuten zu können. Und zugleich ist die Theaterwissenschaft aufgefordert, den von ihr favorisierten Ritualbegriff auch und gerade liturgisch zu schärfen. Auch wenn sich das neuzeitliche Religions- und Kultursystem funktional voneinander entfernt haben, sind Kirche und Kultur, Theater und Gottesdienst als soziale Phänomene über die ästhetische Erfahrung „jenseits der Darstellung“ nach wie vor eng mit einander verwandt.13

13 Die ästhetische Annäherung von Dramaturgie und Liturgie trotz institutioneller Trennung von Theater und Kirche ist die Grundthese von Michael Meyer-Blanck: Liturgiegeschichte als Theatergeschichte. Ein Gang durch die Geschichte des evangelischen Gottesdienstes mit Seitenblick auf die Theatergeschichte, in: Mildenberger, Irene/ Raschzok, Klaus/Ratzmann, Wolfgang (Hg.): Gottesdienst und Dramaturgie. Liturgiewissenschaft und Theaterwissenschaft im Gespräch, Leipzig 2008, S. 61–77, hier S. 63ff.

Regietheater heute? Deutschsprachige Bühnen zwischen dramatischem Rollenspiel und postdramatischen Überschreitungen Andreas Englhart

1.  A  KTUELLE ÄSTHETISCHE VIELFALT IM DEUTSCHSPRACHIGEN THEATER Im Folgenden soll es darum gehen, die aktuelle ästhetische Lage des deutschsprachigen Gegenwartstheaters zu skizzieren. Selbstverständlich ist ein solches Unternehmen generell und schon aufgrund des beschränkten Platzes zum Scheitern verurteilt. Dennoch soll auf den nächsten Seiten eine knappe Bestandsaufnahme versucht werden, die eine bestimmte Perspektive bevorzugt: Die der Herausforderung des deutschsprachigen Theaters durch das vom US-amerikanischen Theaterwissenschaftler Richard Schechner bereits in den 1960er-Jahren diagnostizierte und definierte „Postdramatic Theatre“1. Insbesondere die Übergänge des aktuellen Geschehens in den Theatern zwischen dramatisch/postdramatisch wird uns dabei interessieren. Für den regelmäßigen, auch gelegentlichen Theatergänger eröffnet sich gegenwärtig – und hier wird nur geringfügig übertrieben – ein Theaterparadies, zumindest was Quantität, Qualität und Vielfalt des Angebots an Inszenierungen auf deutschsprachigen Bühnen betrifft. Zu sehen bekommen die Besucher (immer noch) kreatives Regietheater, radikales Regisseurtheater, virtuoses Schauspielertheater und dem Autor verpflichtete Inszenierungen. Die Bühnen bieten Popästhetik, posthumanistisches Theater, Erzähltheater und die Authentizität des Dokumentarischen, ein Theater der Erfahrung sowie Stilelemente neuer Bürgerlichkeit, postdramatisches Theater, Performance (Art) und Installationen, 1 Schechner, Richard: Approaches to Theory/Criticism, in: The Tulane Drama Review, Vol. 10, No. 4 (Summer, 1966), S. 20–53.

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Video-Spiele, Überschreibungen und armes Theater im leeren Raum. Die in diesem Zusammenhang interessante Frage lautet, ob das heutige vielseitige deutschsprachige Gegenwartstheater nicht in Gänze oder zumindest in der überwiegenden Mehrzahl der Fälle als Regietheater begriffen werden kann.

2.  IMMER NOCH UND WEITERHIN REGIETHEATER? In der Diskussion dieser Frage verstellt eine auch in der Theaterwissenschaft gelegentlich erhobene Forderung, heutiges Theater solle sich von dem Regisseur befreien und dem Ideal des Kollektivs folgen, ästhetische Tatsachen (was nebenbei gesagt eine gar nicht so neue, vor allem seit der marxistisch grundierten Counter Culture der 1960er-Jahre immer wieder erhobene Forderung ist); in den Spielplänen unschwer feststellbar ist, dass auch heute noch die Regie im Theater die meistens führende Instanz bildet. Dabei ergeben sich in einer sich auf ihre Freiheiten, Grenzüberschreitungen und Gerechtigkeiten einiges einbildenden Institution Widersprüche, die man für die Regie folgendermaßen auf den Punkt bringen kann: Nieder mit den Despoten – es lebe das Genie! Der Schweizer Theatermacher Milo Rau schildert die übliche theaterinstitutionell und produktionspraktisch ambivalente Situation dramatisch prägnant: „Im Theater herrscht ein Umgangston, der ist echt Psycho und ich merks bei mir selber, ab und zu flipp ich aus, weil es diesen Stress gibt und ich entschuldige mich immer, weil ich mich wirklich schäme“2, so Rau, der unlängst in seinem Manifest für das Ende der autokratischen Herrschaften im Regietheater geworben hat: Der Theaterbetrieb solle zukünftig kollektiv und demokratisch organisiert werden; aber selbst Rau musste eingestehen, dass er letztendlich über das Ergebnis im Produktionsprozess alleine entscheide.3 Für den Intendanten der Berliner Schaubühne und Verfechter eines engagierten Stücketheaters Thomas Ostermeier scheitern Mitbestimmungsmodelle leider grundsätzlich und auf lange Sicht immer – das postdramatisch in Szene setzende Kollektiv „She She Pop“ feiert dennoch sein 25-jähriges Theaterjubiläum. Alle Hoffnungen auf Mitbestimmung bzw. Gleichberechtigung zum Trotz sind hierzulande dennoch meist die Regisseure, unter anderen Christopher Rüping, Anna Bergmann, Dusan Parizek, Sebastian Hartmann, Simon Stone, Claudia Bauer, Lisa Nielebock, sogar 2 Milo Rau, in: Kattanek, Claudia: Vom Ende des Despotismus. Demokratieversuche im Theater, https://www.deutschlandfunkkultur.de/vom-ende-des-despotismus-demokratieversuche-im-theater.media.278c57d88d0688bd6b689c9bddf403ea.txt. 3 Vgl. Rau, Milo: Das Genter Manifest. https://www.nachtkritik.de/index.php?option= com_content&view=article&id=15410:das-genter-manifest-das-neue-leitungsteamdes-ntgent-um-milo-rau-gibt-sich-zehn-radikale-regeln&catid=101&Itemid=84.

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die kollektiver arbeitenden Nicolas Stemann, René Pollesch, auch Yael Ronen, für das ästhetische Gesamtergebnis der Inszenierung verantwortlich.4 In diesem Sinn kann man davon ausgehen, dass Regietheater kein veralteter Begriff ist und heutiges deutschsprachiges Theater in seiner avancierten Form (weiterhin) als Regietheater bezeichnet werden kann; zudem sollte nicht übersehen werden, dass das sogenannte performative oder postdramatische Theater keineswegs neuer, jünger, avancierter oder aktueller als das Regietheater ist, denn im deutschsprachigen Theater sind sowohl das Regietheater als auch das Postdramatic Theatre dezidiert Kinder der kulturellen Umwälzungen der 1960er-Jahre: Für die eine Richtung stünden etwa Peter Zadek, Claus Peymann oder Peter Stein, für die andere das Living Theatre, Klaus-Michael Grüber, Robert Wilson oder der frühe George Tabori. Postdramatisches Theater wäre so meist auch Regietheater (da auch Kollektive wie etwa Markus&Markus oder Rimini Protokoll ihren jeweiligen ästhetischen Gestaltungswillen erkennbar durchsetzen), während Regietheater streng genommen nur in den wenigsten Fällen wirklich postdramatisches Theater ist. So wären Michael Thalmeier, Jette Steckel, Martin Kusej, Nurkan Erpulat, Ulrich Rasche oder Matjea Koležnik mit ihrer jeweils deutlich erkennbaren Regiehandschrift Vertreter des Regietheaters, aber keineswegs des postdramatischen Theaters. Regietheater wäre der großzügigere, weit mehr Ästhetiken auf und neben den deutschsprachigen Bühnen umfassende Begriff, wäre in seinem speziellen institutionellen Umfeld erst einmal so zu verstehen: Deutschsprachiges Gegenwartstheater ist meist Regietheater, weil es keiner plumpen Abbildungsästhetik folgt, ästhetisch hoch entwickelt ist und der Regisseur (bzw. ein Kollektiv) die künstlerische Gesamtverantwortung übernommen hat.

3.  WAS IST POSTDRAMATISCHES THEATER? Dennoch lassen sich entscheidende Differenzen zwischen dem „klassischen“ Regietheater seit den 1960er-Jahren und dem postdramatischen Theater ausmachen. Um die Differenzen deutlich zu machen, soll Peter Zadek als einer der Gründerväter des Regietheaters zu Wort kommen, der sich kurz vor seinem Tod kritisch gegenüber dem postdramatischen Theater geäußert hat. Zadek kritisiert es als 4 Vgl. Englhart, Andreas: Das Drama auf der Bühne, in: Englhart, Andreas/Schößler, Franziska (Hg.): Grundthemen der Literaturwissenschaft. Drama, Berlin 2019, S. 404– 419; Gronemeyer, Nicole/Stegemann, Bernd (Hg.): Regie (Lektionen), Berlin 2009; Rau, Milo: Das Genter Manifest, http://international-institute.de/stadttheater-der-zukunft-das-genter-manifest/; Roselt, Jens (Hg.): Regie im Theater. Regietheorien. Geschichte – Theorie – Praxis, Berlin 2015.

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Konzepttheater, das „so eins zu eins und plump und stilisiert“ sei, er sehe nur noch den Einfall, dem sich alles unterzuordnen habe, er vermisse einen betroffen machenden Realismus und die Geschichtenerzähler. Das, „was eigentlich der Sinn von Theater ist, nämlich über den Menschen etwas zu erzählen“5, das finde Zadek nicht mehr. Damit polemisierte Zadek gegen den zunehmenden Einfluss einer seit den 1980er-Jahren auch im deutschsprachigen Subventionstheater, den Stadt-, Landes- und Staatstheatern sichtbar in den Vordergrund tretenden Ästhetik der Performance oder Live Art im Theater. Eine postmoderne Vorstellungswelt (meist aus neostrukturalistischen Philosophien gespeist), neue Ästhetiken des Regietheaters sowie die tendenzielle Infragestellung der Spartengrenzen (Tanz, Performance Art, Musiktheater, Figurentheater, Film, Video, etc.) unterstützten den Einzug dieses postdramatischen Theaters, das die Bühnen einiger der wichtigsten Theater zwar nie restlos zu erobern, aber zumindest ästhetisch herauszufordern, oft gar zu prägen in der Lage war – von der früheren Berliner Schaubühne über die Volksbühne (Ost) bis hin zu den gegenwärtigen Münchner Kammerspielen. Richard Schechner fasste die experimentellen Ästhetiken der 1960er- und 1970er-Jahre in seiner Polarisierung zwischen einem progressiven ritualähnlichen Theater der Wirksamkeit und einem rückständigen Theater der Unterhaltung systematisch und historisch prägnant und so folgenreich,6 dass auf der Basis seiner Überlegungen und Schemata der polnische und später in den USA lehrende Theaterwissenschaftler Andrzej Wirth in den frühen 1980er-Jahren das Gießener Institut für Angewandte Theaterwissenschaft gründen konnte.7 Die Gießener Schule des postdramatischen Theaters wurde so mehr theoretisch als tatsächlich (denn performative Ästhetiken dominierten gerade in der freien Szene, von Fassbinder bis Sagerer, schon weit vor der Gründung Gießens) zum Hort des performativen Theaters, schuf sukzessive auch an öffentlich geförderten traditionellen Bühnen für die immer mehr reüssierende postdramatische Ästhetik spürbaren Rückenwind. Kaum gebremst wurde dieser performative Wind im Theater schon deshalb, weil sich das Präsentische, Korporale, Energetische, das dem postdramatischen Theater besonders eigen ist, generell in der medialen Spezifität der Liveness des Theaters heimisch fühlt. Die Ereignishaftigkeit des Theaters, die Atmosphäre, die reale Anwesenheit des Anderen, von Schauspielern und Zuschauern, der direkte Blick des Anderen ist etwas Besonderes, das sich auch heute (noch und wieder) 5 Zadek, Peter: Interview, SZ Nr. 196, Freitag 26.8.2005, S. 12. 6 Vgl. Schechner, Richard: Environmental Theatre, N.Y. 1973; Schechner, Richard: Essays on Performance Theory, N.Y. 1977. 7 Vgl. Wirth, Andrzej: Säkularisierung des deutschen Theaters, in: Gießener Universitätsblätter 181 (1985), S. 45–48; http://geb.uni-giessen.de/geb/volltexte/2013/9606/.

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im Theater gegen die flache Virtualität der medialen Bildwelten behauptet. Die Zukunft des Mediums Theater sichert dessen Liveness, die wiederum eine ständige Herausforderung für die Literatur im Theater ist, da sie das Spannungsfeld zwischen Theaterstück und Aufführung öffnet. Daher muss man immer etwas aufmerksamer und genauer sein, wenn man vom sogenannten postdramatischen Theater spricht. Denn es fällt an sich leicht, praktisch jede Theateraufführung als postdramatisches Theater zu bezeichnen, da jede Aufführung performative Anteile aufweist. Die heute meistzitierten Standortbestimmungen eines postdramatischen Theaters sind die des ehemaligen Assistenten von Andrzej Wirth, Hans-Thies Lehmann: Er griff Überlegungen Schechners und Wirths auf und machte sie in den 1990er-Jahren für das Politische im Sinne einer negativen Dialektik (Adorno) im Theater fruchtbar: Der Andere (als Existenz, zu Begegnender, Anwesender etc.) wäre ständig verstellt, durch das „sozio-symbolische Gesetz“, dies wäre „das gemeinsame Maß, das Politische der Bereich von dessen Bestätigung, Bekräftigung, Sicherung, Anpassung an den wandelbaren Lauf der Dinge, Abschaffung oder Modifizierung“. Dementsprechend existiere „eine unaufschiebbare Kluft schon im Politischen, das die Regel gibt, und der Kunst, die, sagen wir einfach, immer die Ausnahme ist: Ausnahme zur Regel, Affirmation des Nichtregelhaften sogar noch in der Regel selbst. Theater als ästhetisches Verhalten“ wäre „undenkbar ohne das Moment der Übertretung der Vorschrift, der Überschreitung“.8 Diese Überschreitung mache sich tendenziell, aber schon erkennbar in der postdramatischen Aufführung bei den Schauspielern bzw. Performern und Zuschauern oder Mitperformenden bemerkbar. In einer postdramatischen Aufführung verschwänden nicht alle Konstituenten des Dramas, also Handlung, Figur, Zeit, Raum und Dialog, oder werden total aufgelöst; postdramatisches Theater besetzte vielmehr den breiten-grauen Bereich zwischen den extremen Polen dramatisches Theater auf der einen und Performance als Live Art auf der anderen Seite. Der dramaturgische Graubereich verhinderte, dass man postdramatisches Theater synchron wie diachron ohne Schwierigkeiten definieren konnte. Evident war aber, dass eher performativ zu erlebende als semiotisch zu verstehende Formen des Tanztheaters, der Performance Art, des Site-Specific Theatres, der Soundcollage, der performativen Installation oder der Sprechoper nicht primär auf dramatischen Vorlagen basierten. Postdramatische Inszenierungen wie diejenige von Heiner Müllers Hamletmaschine (1977) durch Robert Wilson 1986 und dann 1989 durch den Autor selbst oder Müllers/Wilsons Civil Wars (1984) besaßen daran orientiert einen eher ritualhaften Charakter, suchten die unmittelbare Wirkung und Wirksamkeit in der Produktion und Rezeption, richteten kein Theater der Repräsentation zum 8 Lehmann, Hans-Thies: Postdramatisches Theater, Frankfurt am Main 1999, S. 457.

18 | Andreas Englhart

Verständnis des Anderen, sondern der Präsenz des Anderen ein. Nicht der traditionell-populäre Sinn einer kausalen Handlung, einer gesuchten Figurenidentität oder -psychologie, sondern der unmittelbare Ausdruck, die Energetik, die Anmutung, Präsenz, Atmosphäre oder das Erhabene drängten sich vor bzw. in die dramatische Repräsentation. Dadaistische Sinnaufbrüche, assoziative Montagen und rhythmische Muster subvertierten fest umrissene Handlungsräume, unterstützten dramaturgische Flächen oder räumliche Landschaften. Theatrale Mimesis baute wenig auf einer Ähnlichkeit zwischen Abbild (im Schauspielen) und Welt (als realistische Umwelt), kaum oder gar nicht auf eine psychologisch-realistische Repräsentation von Wirklichkeit. Die dramatische Handlung wich dem Ereignis. An die Stelle der Gestalt trat die Gestaltung in der Präsenz des Anderen, an die des Dialogs trat der Diskurs, an die der Figuren die Figuration als Prozess der ständigen Herstellung und Auslöschung (auch De-Konstruktion) von statischer Figurenidentität des Anderen.

4.  D ENNOCH WEITERHIN AUF DEN SPIELPLÄNEN: STÜCKE, THEATERTEXTE, LITERATUR Trotz einiger postdramatischer und performativer Einflüsse und durchaus lautstarker, sich in den Mittelpunkt drängender ästhetischer Verlautbarungen gegen das Dramatische und Literarische sind im aktuellen deutschsprachigen Theater das Stück und die Literatur weiterhin der Ausgangspunkt der überwiegenden Mehrzahl der Inszenierungen; selbstverständlich kann das Drama spätestens seit Beginn des 20. Jahrhunderts dabei keineswegs als ausnahmslos leitende Größe gelten. Rein empirisch betrachtet, aus streng quantitativer Sicht kann man in den letzten Jahren sogar von einer Zunahme des dramatischen und damit auch literarischen Elements auf den Bühnen zwischen Berlin, Hamburg, Wien und München sprechen. Das Angebot der Theaterverlage im deutschsprachigen Raum ist kaum mehr zu überblicken und Klassiker – von den antiken Tragödien über Shakespeare und Weimar bis zur Moderne – bilden weiterhin das Rückgrat der Spielpläne. Der Quantität der Dramatik auf den heutigen Bühnen entspricht eine breite dramenästhetische Vielfalt, wie etwa jeder Blick auf die Einladungen zum Festival „Stücke“ (Mülheim) von 1976 bis heute beweist.9 Dass Oliver Reese als neuer Intendant am Berliner Ensemble das Autorentheater als politisch relevantes Gegenwartstheater begreift und erklärtermaßen Berlin ein Theater der großen Erzählungen wiedergeben will (neben Ostermeiers stückelastiger Schaubühne; auch Khuons Deutsches Theater steht nicht im Verdacht, zu viel postdramatisches 9 Vgl. www.stuecke.de.

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Theater zu bieten), mag durchaus als Zeichen der Zeit verstanden werden. Vermittelnd kann festgestellt werden: Die auf den Bühnen reüssierende Dramatik lässt sich in den letzten Jahren keineswegs mehr von einer theoretischen Position aus einseitig in den Blick nehmen. Die Erklärungsversuche reichen vom nicht mehr dramatischen Theatertext Elfriede Jelineks, Oliver Klucks oder Thomas Köcks bis zur (Re-)Dramatisierung Theresia Walsers, Lukas Bärfuss’ oder Sibylle Bergs als Konfliktansatz in dialogischen Theaterstücken und Inszenierungen.10

5.  D  E-KONSTRUKTION ODER WIEDERKEHR DER GESCHICHTEN? Um die Differenz zwischen Regietheater traditioneller Art und postdramatischen Theater etwas mehr im Detail zu markieren, soll noch einmal die Bemerkung Peter Zadeks herangezogen werden: Das postdramatische Konzepttheater sei „so eins zu eins und plump und stilisiert“, er sehe nur noch den Einfall, dem sich alles unterzuordnen habe, und er vermisse einen betroffen machenden Realismus und die Geschichtenerzähler. Das, „was eigentlich der Sinn von Theater ist, nämlich über den Menschen etwas zu erzählen“11, das finde er nicht mehr. Dass dem Intendanten Reese wieder Erzählungen im Theater wichtig sind, ist keine banale Feststellung. Denn durch die mehr oder weniger in den Theatern und Produktionshäusern wie Kampnagel oder dem HAU reflektierten Einflüsse postmoderner Vorstellungswelten, Philosophien und Ästhetiken kamen (kausale) Geschichten in den letzten Jahrzehnten in starke Legitimationszwänge, wurden gar völlig abgelehnt. Dies scheint sich im Moment wieder etwas zu ändern, man denke nur an Simon Stones erzähllastige Überschreibungen, in denen Stone nicht nur als hermeneutisch aktualisierender Autor, sondern auch als realistisch auf der Bühne erzählender Regisseur agiert. Performatives bzw. der Performance nahes Theater wie das von Forced Entertainment, von Rimini Protokoll oder She She Pop oder

10 Vgl. Poschmann, Gerda: Der nicht mehr dramatische Theatertext, Tübingen 1997; Frei, Nikolaus: Die Rückkehr der Helden, Tübingen 2006; Haas, Birgit: Plädoyer für ein dramatisches Drama, Wien 2007; Pelka, Artur/Tigges, Stefan (Hg.): Das Drama nach dem Drama: Verwandlungen dramatischer Formen in Deutschland seit 1945, Bielefeld 2011; Englhart, Andreas/Pelka, Artur (Hg.): Junge Stücke. Theatertexte junger Autorinnen und Autoren im Gegenwartstheater, Bielefeld 2014; Kapusta, Danijela: Personentransformation. Zur Konstruktion und Dekonstruktion der Person im deutschen Theater der Jahrtausendwende, München 2011. 11 P. Zadek: Interview, S. 12. SZ Nr. 196, Freitag 26.8.2005, S. 12.

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die Aktionen von Marina Abramovicz verweigern zwar programmatisch und in actu eine in sich kohärente Geschichte. Nur wäre grundsätzlich zu diskutieren, ob der Mensch ohne kleinere oder größere Geschichten auskommen kann. Der Performer Tim Etchells findet für Produktionen von Forced Entertainment keinen Anfang und kein Ende. Wie Christoph Schlingensief, der sich in der Tradition von Dada, Surrealismus und Fluxusaktionen wie die von Joseph Beuys verortet, bewegend über die Einspielung von autobiographischen Material in einer seiner letzten Produktionen, dem Fluxus-Oratorium Die Kirche der Angst vor dem Fremden in mir (2008) dargestellt hat, ergäbe sich aus der Verbindung der eigenen Erfahrung mit kulturellen Rastern die Vorstellung von Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft, die für spätere Erinnerungen unabdingbar wären. Auch wenn Schlingensief seiner Erinnerung nicht traut, scheint er doch in der Suche nach Sinn und eigener Identität eine eigene Lebensgeschichte performativ einrichten zu wollen. Dies verweist zumindest indirekt darauf, dass menschliche Individuen also auf mehr oder weniger dramatische Handlungsstrukturen angewiesen sind, um dem unstrukturiert-komplex Anderen, dem gestaltlosen „Realen“ zu begegnen. „The mind is a storyteller“12, so Jonathan Gottschall. Menschen sehen ständig Gestalten und Gesichter in uneindeutigen Reizen wie etwa Wolken etc., sie besitzen einen angeborenen Hang zur Anthropomorphisierung. Sie konstruieren perpetuierend Storys, wie es gerade das immer noch aktuelle Erzähltheater aufzeigt: Vorbildlich waren hier Castorfs Volksbühne, 1999 etwa mit Dämonen von Fjodor Dostojewski, die Arbeiten von Johan Simons oder romannahe Theatertexte wie Jelineks Sportstück (1998). Eine dem Erzähltheater eigene epische Perspektive verlangt, dass die Schauspieler Distanz zum Bühnengeschehen halten, um dann – halb vorbereitet wirkend und unbewusst lauernd – plötzlich in eine gesteigerte Intensität des Dramatischen zu wechseln. Die Zuschauer erleben abrupte Übergänge zwischen zwei Formen des theatral Möglichen: Zwischen wirkungsvoller, performativer Ansprache durch den Erzählenden und dem Identifikation einfordernden dramatischen Dialog der Figuren. So eignet sich das Theater Geschichten dramatisch sowohl aus Romanen als auch aus Filmen an und stellt sie zugleich postdramatisch in Frage: Homers Ilias, Theodor Fontanes Effi Briest, Leo Tolstois Anna Karenina sowie Krieg und Frieden, Thomas Manns Zauberberg, Jack Londons Ruf der Wildnis, Jonathan Littells Die Wohlgesinnten, Uwe Tellkamps Der Turm, Clemens Meyers Als wir träumten und Helene Hegemanns Axolotl Roadkill. Stoffe von Gustave Flaubert bis Günter Grass und Filmstorys von Federico Fellini bis Luchino Visconti sichern den Theatern das, was ihnen eine radikale Postdramatik vorenthielt: Anregende und aufregende Storys, psychologisch glaubhafte Charaktere und auf die 12 Gottshall, Jonathan: The Storytelling Animal, N.Y. 2012.

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Lebenswelt der Zuschauer bezogene Konflikte. Andererseits erlauben sie dem Regietheater die partielle Aussetzung des Dramatischen, näherten sich so wieder dem Postdramatischen. Erzähltheater erschien so manchen als Inszenierung einer bewussten oder unbewussten Sehnsucht nach Geschichten. Dagegen spräche, dass viele Zuschauer die Roman- und Filmhandlungen bereits kannten. So ginge es im Erzähltheater vielleicht gar nicht so sehr um die Überraschung in der unvorhersehbaren Wendung des Anderen, sondern mehr um den einzelnen Moment, das ästhetische Erlebnis in der Präsenz des Ereignisses. Nicht der dramaturgisch sauber eingefädelte Konflikt, nicht die dramatische Handlungsspannung interessierten das Publikum, sondern die Spannung zwischen dem Geschehen auf der Bühne und den Zuschauern; der anhaltende Wechsel zwischen Rollenspiel und distanzierender Erzählung auf der Bühne lenkte die Aufmerksamkeit im Bruch der Ebenen auf den Moment und den performativen Akt der Herstellung einer Rolle bzw. des Verlassens derselben als dramaturgischer Umschlagsmoment. Insofern bezeichnete das Phänomen des Erzähltheaters den gegenwärtig höchst aktuellen ambivalenten theaterästhetischen Zustand des deutschsprachigen Regietheaters zwischen Vorführen und Einfühlen, zwischen Performanz und Rollenspiel. Wie das Beispiel des Erzähltheaters, aber eigentlich wie jede Theateraufführung zeigt, projizieren Zuschauer (auch als geforderte Mitperformer) Gestalten in unverbundene Teileindrücke, gehen von Kausalitäten aus, auch wenn diese seit Hume und Kant, erst recht seit Nietzsche außerhalb des anthropozentrischen korrelationistischen Zirkels der modernen Erkenntnis13 nicht mehr verifiziert werden könnten, aber vielleicht grundlegend über eine radikale Repräsentationskritik hinaus gesehen falsifizierbar sein können sollten. Dies scheint über das Erzähltheater dramatisch hinausgehend die anhaltende Widerstandskraft des dramatischen Textes auch in kausal nachvollziehbaren Handlungsstrukturen zu erklären, etwa in Stücken von Theresia Walser, Marius von Mayenburg, Roland Schimmelpfennig, Lukas Bärfuss, Oliver Bukowski, Moritz Rinke, Igor Bauersima, Jon Fosse, John von Düffel, Lutz Hübner, Philipp Löhle, Anja Hilling, Nis-Momme Stockmann oder Dirk Laucke. Spannend schien weiterhin – mit Schiller – die Realität hinter den Masken des Anderen und – mit Brecht – hinter den Geschäftsmauern. Auch die Regie inszeniert mit David Bösch, Roger Vontobel, Burkhard Kosminski, Alvis Hermanis oder Jette Steckel oft auffallend traditionell-dramatisch. Besonders 13 Korrelationismus nennt Quentin Meillassoux diese die Erkenntnis bestimmende Konstellation, vgl. Meillassoux, Quentin: After Finitude: An Essay on the Necessity of Contingency, London 2010; Meillassoux, Quentin: Time Without Becoming, Mailand 2014; Avanessian, Armen (Hg.): Realismus Jetzt. Spekulative Philosophie und Metaphysik für das 21. Jahrhundert, Berlin 2013; Vgl. hierzu Englhart, Andreas: Das Theater des Anderen, Bielefeld 2018.

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aktuell wirken, wie bereits angeführt, Simon Stones neorealistische Überschreibungen, die gerne naturalistische Texte ins aktuell Heutige übertragen und sich dezidiert an realistischen TV-Seriendramaturgien orientieren.

6.  DIE (NEUE) FRAGE NACH DER REALITÄT Ähnlich wie den Geschichten und den Perspektivierungen in Helden erging es der Realität und jeder Form des Realismus. In einigen performativen Produktion waren realistisches Acting, ja zum Teil jedes Acten (insbesondere in der Tradition von Stanislawski) überhaupt verdächtig. Die Performativität im Sinne eines Doing im Sprechakt hatte in der Postmoderne (mit Derrida, der Austin radikalisierte) keinen Grund mehr, von dem bestimmbar war, was Schauspielen und was echtes Handeln bedeute.14 Das hing selbstverständlich mit der Radikalisierung eines Skeptizismus zusammen, der der Moderne seit Kant und der Romantik inhärent war, sich aber in der Postmoderne theoretisch grenzenlos ausbreitete. Der Dramatiker Lukas Bärfuss stellt fest, dass „grundlegende Begriffe, wie etwa die Wahrheit“, in heutigen Zeiten im Gegensatz zu früher sogar in westlichen Demokratien „unsicher und verhandelbar geworden“ sind.15 So war das „Reale“ nur noch indirekt, als Energie oder Überschuss bemerkbar, keineswegs gab es nun mehr Halt für Thesen im möglichen Widerstand der Falsifikation, wie es vor einigen (sehr fern erscheinenden) Zeiten noch der damals die akademische Welt stark beeinflussende Karl Popper forderte.16 Im Theater und in der performativen Theorie dominierten dementsprechend Ansätze des Entzugs. Neuerdings werden Gegenstimmen zumindest in der Philosophie immer lauter. Umberto Eco, Maurizio Ferraris und Markus Gabriel kritisierten eine hermetisch-postmoderne Folie des ständigen

14 Vgl. Derrida, Jacques: Das Theater der Grausamkeit und die Geschlossenheit der Repräsentation, in: Derrida, Jacques: Die Schrift und die Differenz, Frankfurt am Main 1972, S. 341–398; Derrida, Jacques: Die Schrift und die Differenz, Frankfurt am Main 1982. 15 Bärfuss, Lukas: Interview, https://www.blick.ch/news/politik/abstimmungen/der-schweizer-erfolgsautor-lukas-baerfuss-ueber-seinen-aufstieg-von-der-gasse-zum-vorzeigeintellektuellen-ich-weiss-was-es-heisst-arm-zu-sein-id6448350.html. Bärfuss dialektisch argumentierend weiter: „Nach der US-Wahl ist auch Positives entstanden. Darauf muss man bauen. Die akademische Welt der USA muss sich zum Beispiel endlich wieder um den Begriff der Wahrheit kümmern.“ 16 Vgl. Popper, Karl: Logik der Forschung, Heidelberg 2002.

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Entzugs.17 Neuer und Spekulativer Realismus bewerten (post-)moderne Konstruktivismen als Übertreibungen: Eine soziale oder naturwissenschaftlich ermittelbare bzw. falsifizierbare Realität solle unabhängig von menschlichen Zuschreibungen existieren. Nicht jede Interpretation wäre potenziell gleichwertig und funktioniere je nach sozialer Situation, psychologischer Stimmung, biologischer Basis und sich ständig verändernder Umwelt gleich gut. Der neue Fokus auf die soziale und physikalische Wirklichkeit zeitigte in den Medien einen Trend hin zum vorgeblich Authentischen, selbstbehaupteten Wahren und inszenierten oder eben echten Echten. Dokumentarfilme erlebten eine Renaissance. Dokudramen und Dokusoaps bereicherten das mediale Angebot. Aktionskunst und performatives Theater stellten die Grenze zwischen Rollenspiel und alltäglichem Handeln in Frage. Youtube präsentierte privat-öffentliche Lebenswelten, Popkultur und Politik spielten mit dem Pathos der Authentizität. Beispielgebend wurde das in Gießen ausgebildete Kollektiv Rimini Protokoll (Helgard Haug/Stefan Kaegi/Daniel Wetzel), das die professionellen Schauspieler, die in der Rolle jemand Anderen spielt, durch die Laien als sogenannten Experten des Alltags ersetzte. Diese stellt sich im lockeren dramaturgischen Gerüst eines Themas wie globale Nachrichtenmedien oder indische Callcenter selbst auf der Bühne oder im theatralisierten Alltagsraum dar. Die Zuschauer sehen also etwas, das nicht mehr dramatischen oder theatralen Regeln der Vereinbarung folgt, sondern das traditionelle Vormachen vermeidet und direkter mit dem Publikum kommuniziert. Dramaturgisch herrscht jedoch keineswegs der Zufall, die Zusammenfügung aller Teile zur Gesamtinszenierung verantwortet Rimini Protokoll durch die Montage der Materialien, wozu auch die verschiedenen Expertendes Alltags gehören. Diese Experten des Alltags können auch die Zuschauer sein, die etwa wie in Weltklimakonferenz (2014) zu produktionstragenden Performer wurden. Grundsätzlich wurde von Rimini Protokoll in ihren postdramatischen Produktionen eine Struktur eingezogen, deren Anziehungskraft im Vergleich mit dem traditionellen dramatischen Theater bewusst zurückgenommen wurde, die Bindungskräfte zwischen dem Inszenierungszentrum und den einzelnen -elementen erschienen in der Aufführung postmodern grundiert eher schwach, undeutlich oder nicht begründet. Zugleich verwiesen die Experten des Alltags auf eine Sehnsucht nach Authentizität des Anderen bei gleichzeitigem Verdacht des ubiquitären Rollenspiels und Resonanzverlusts in einer Inszenierungsgesellschaft, auf die insgesamt gesehen das deutschsprachige Theater seit der Jahrtausendwende mit seinen vielfältigen innovativen Dramaturgien eines Dokumentartheaters antwortete. Im Verfehlen, in den Brüchen ergäbe sich idealerweise für die Zuschauer der Eindruck des Authentischen, aber auch in der Intuition, dass dabei 17 Vgl. Gabriel, Markus (Hg.): Neuer Realismus, Berlin 2014; Ferraris, Maurizio: Introduction to New Realism, London 2015.

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eine weitgehend unbewusste Realitätsprüfung in der Resonanz mit dem Anderen stattfand.

7.  DAS WIRKLICHE LEIDEN DES ANDEREN Neue politische wie gesellschaftliche und kulturelle Ereignisse nach der Jahrtausendwende, insbesondere eine veränderte soziale Wirklichkeit, eine Wiederkehr der Ökonomie als Thema und gegenwärtig besonders das Thema des Klimawandels, prägten die Bühnenangebote der letzten Jahre. Dies kulminierte in eine Richtung, polarisiert in ein von Milo Rau propagiertes dezidiert traditionell-ethisches „Trotzdem“ in der Inszenierung. Dieses nehme wieder ernst, dass ein „Wesen leidet und zu Grunde geht, dass jemand zusticht mit einer bestimmten Geschwindigkeit und einer bestimmten Kraftanstrengung und einem wirren Empfinden“. Es gäbe theatralisierbare „Positionen in diesem ‚Spiel‘“, die „REAL sind, die aus der allgemeinen symbolischen Verabredung herausfallen.“ Damit wäre jedoch nicht das lacansche Reale des performativ-postdramatischen Theaters gemeint, sondern das Leiden des Anderen, das der Solipsismus postmoderner Theaterformen nicht erreiche, für den er sich kaum oder gar nicht interessiere. Ethisch-moralische Produktionsperspektiven erreichten hingegen, dass „man von dieser REALITÄT selbst infiziert“ würde, „nicht nur belästigt, analysiert, abgestoßen oder hysterisiert, verpestet oder gereinigt, sondern gleichsam unheilbar verwirrt und zerrüttet“.18 Rau formuliert gerade vor dem Hintergrund seiner (Re)Enactments, die wie in Hate Radio (2010) oder (seinen viel kritisierten) Five Easy Pieces (2016) keineswegs die Realität des schrecklichen Vergangenen, aber die Atmosphäre des Horrors und Terrors evozieren wollen, eine manifeste Kritik an der Repräsentationskritik und damit an der Postmoderne seit den 1960er-Jahren – Theater solle sich wieder seiner traditionellen Funktion als moralische Anstalt der Aufklärung bewusstwerden. Dies steht in einem eigenartigen Einklang und zugleich in einem erkennbaren Kontrast zum Theater als sozialen Ort, wie ihn Matthias Lilienthal fordert. Und fast dialektisch zu verstehen oszillierte das Andere hierbei über den dem Ästhetischen – bei Rau wie bei Lilienthal – eigentümlichen Spalt, der in der gesellschaftlichen und ästhetischen Eigenart von Kunst immer wieder von neuem aufbricht. Für den Philosophen Christoph Menke wäre das Ästhetische „zwar befreiend und verändernd“, aber „nicht ‚politisch‘“. Damit stünde dem Sozialen im Theater (vgl. Lilienthals Theater als sozialer Ort) wieder die Unabhängigkeit 18 Milo Rau in einem Telefongespräch mit Elisabeth Bronfen, in: Bossart, Rolf (Hg.): Die Enthüllung des Realen. Milo Rau und das International Institute of Political Murder, Berlin 2013, S. 176f.

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der Kunst gegenüber (trotzig bis zur Peinlichkeit leider Frank Castorf in Fragen der Gendergerechtigkeit). Als „‚Gesamtentfesselung aller symbolischen Kräfte‘ (Nietzsche)“ sei es „weder produktiv noch praktisch“.19 Diese Kräfte schlagen polarisierend gesehen nach zwei Richtungen aus: Zum einen sublimiert im Theater als Auskunftsmedium, in dem auf der Bühne gesellschaftlich-soziale und politische Vorgänge dargestellt werden, die mit einer gewissen Notwendigkeit dramatische Konflikte, die menschliches Leben prägen, vermitteln und kritisieren. Zum anderen im energetischen Theater als performativen Akt, als Präsenz, die die Bedeutungszuweisung stört oder unterbricht und somit Stereotypen in der Wahrnehmung bewusst macht, dekonstruiert oder auflöst. Was ist dementsprechend heute politisch wirksames Theater: Politisches Theater (dramatisch) machen oder Theater politisch machen (postdramatisch)?20 Gerade für das Theater stellt sich uns in der Tradition eines bürgerlichen Theaterverständnisses Lessings (der mitleidigste Mensch sei der beste Mensch) die Frage, ob und wie uns das Leiden des Anderen betrifft. Berührt uns das Leiden der Anderen in ärmeren Schichten oder in Ländern der Dritten oder Vierten Welt, des Anderen als uns nicht ähnliche oder gar fremde Erscheinung auch oder besonders im Theater wirklich? Augenscheinlich tendieren neuere Richtungen im Theater dazu, Theater wieder als Kritik der übergreifenden Ästhetisierung des Anderen, auch gerade in einem posthumanistischen Theater, die mit einer gewissen Désinvolture in der postmodernen Inszenierungsgesellschaft einhergeht, zu verstehen. Aus ethischer Perspektive wäre zu fragen, ob die Gewalt des Realen als Parallelität der Sensationen „neben“ einer unbeteiligten symbolischen Ordnung auf der Bühne zu affirmieren wäre oder ob dialektisch eine bürgerliche Ästhetik des Mit-Leidens entgegengesetzt werden soll? Inwieweit kann das Theater heute noch eine moralische Anstalt im traditionellen Sinne sein? Wäre ein Blick zurück in die Hamburgische Dramaturgie mit ihrer Forderung nach gemischten Charakteren zu richten, in der Lessing in Furcht und Mitleid der Zuschauer das Wirkungsziel sah, mit der bürgerlich-eigenwilligen Interpretation Aristoteles’, all das sei uns „fürchterlich, was, wenn es einem andern begegnet wäre, oder begegnen sollte, unser Mitleid erwecken würde“. Und all dasjenige fänden wir „mitleidswürdig, was wir fürchten würden, wenn es uns selbst bevorstünde“.21 Noch heute finden sich in den populärvisuellen Medien Grundzüge der bürgerlichen Ästhetik des späten 18. Jahrhunderts: Durchscheinend vom bürgerlichen Trauerspiel über das bürgerliche Rührstück, das Melodram und das WellMade-Play des 19. Jahrhunderts bis zur Autoren- oder Qualitätsserie wie The Wire und den erfolgreichen, traditionell gebauten Stücken von Lars Noren (Dämonen) 19 Menke, Christoph: Die Kraft der Kunst, Berlin 2013, S. 14. 20 Vgl. Lehmann, Hans-Thies: Das Politische Schreiben, Berlin 2002. 21 Lessing, Gotthold Ephraim: Hamburgische Dramaturgie, Bd. 2 (Hamburg 1769), S. 81.

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bis Yasmina Reza (Der Gott des Gemetzels); auf den Bühnen weitergeschrieben und in Szene gesetzt durch Simon Stone, etwa in seiner Basler Inszenierung von Anton Tschechows Drei Schwestern. Stones Drei Schwestern erscheinen einigen jedoch unzeitgemäß wie eine TV-Serie, da sie den Realismus nicht als bürgerliche Ideologie entlarven. Für sie wäre die aktuelle posthumanistische, postdramatische Inszenierung von Susanne Kennedys Drei Schwestern an den Münchner Kammerspielen ein Theater der Zukunft, das sich von bürgerlicher Identität per se verabschiedet hat.

8.  M IT UND NACH BRECHT: POLITISCHES THEATER ODER THEATER POLITISCH MACHEN? Der unlängst verstorbene Johann Kresnik, Vertreter eines dezidiert politischen Tanztheaters, meinte auf die Frage zum politischen Theater, dass man, wenn man heute echte Flüchtlinge auf die Bühne bringt, nicht darüber reflektiere, wieso es Flüchtlinge gäbe.22 Dies verweist zumindest indirekt auf die Frage, ob man gegenwärtig politisches Theater und/oder Theater politisch macht bzw. ob man, und das wäre eine weitere spannende Unterscheidung, politisches Theater und/oder Theater politisch machen sollte? Selbstverständlich lassen sich weder dramatische noch theatrale Texte, also Dramen bzw. Theatertexte und Aufführungen bzw. Inszenierungen diesen beiden polarisierten ästhetischen Positionierungen trennscharf zuteilen. Dies umso mehr als heute neben allen reflektierenden Grabenkämpfen an sich alles möglich und in bestimmten Grenzen (die sich institutionell bzw. lokal am jeweiligen Tendenzbetrieb Theater einrichten) auch erlaubt, wenn nicht gefordert ist. Brechts Gestus initiierte für das Gegenwartstheater zwei Entwicklungen, die sich eigentlich widersprechen: Zum einen den Gestus nach Brecht als postdramatisches, performatives Theater der Wirksamkeit, das die Dialektik aufbrach und Bedeutungs- und somit Gestaltzuweisungen gegenüber dem Anderen verunmöglichte. Zum anderen ein neuer sozialer Realismus, der das Typische, die gesellschaftlichen, ökonomischen und politischen Strukturen unromantisch zu erkennen wie zu vermitteln sucht. Postdramatisches oder performatives Theater reagierte seit den 1960er-Jahren auf die Überkomplexität und ubiquitäre Theatralität der sozialen, politischen, wirtschaftlichen, biologisch-physikalischen und privaten Welt.23 Den gültigen Codes, mentale Stereotypen sowie traditionellen 22 Vgl. Johann Kresnik: „Den Körper in den Kampf werfen“. Johann Kresnik im Gespräch mit Ulrike Timm, https://www.deutschlandfunkkultur.de/choreograf-johann-kresnikden-koerper-in-den-kampf-werfen.970.de.html?dram:article_id=433708. 23 Vgl. Lehmann, Hans-Thies: Tragödie und dramatisches Theater, Berlin 2013.

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Gestaltungen im Rollenspiel wären das Unperfekte, der Fehler, das Versagen oder gar psychische und physische Verletzungen bis hin zum Tod entgegenzusetzen. She She Pop verbündeten sich in der Relevanz-Show mit dem gewöhnlichen Publikum, forderten in 50 Grades of Shame in der Tradition des Living Theatres zur Orgie der nicht allzu attraktiven Körper im Zuschauerraum auf, Gob Squad spielten in Super Night Show mit auf den Straßen der Stadt zufällig angetroffenen Passanten dilettantisch Liebesszenen. Alle Beteiligten erkannten: Der Andere, der sich in seiner Unähnlichkeit in nichts von mir unterscheidet, wäre genauso peinlich und unperfekt wie ich. René Polleschs zentrale Kritik ist dementsprechend die an der Ähnlichkeit im erkennbar Dramatischen. Wir spielen alle unsere Rollen, aber im Bewusstsein einer knallharten Normalität und eines Normalisierungsdrucks irgendwie immer zu schlecht. Gerade weil jeder gerne relevant wäre, einen perfekten Körper hätte und eine perfekte Rolle spielen wolle, gerate er in die Normalisierungsfalle, was durch die Präsentation unzusammenhängender Bedeutungsangebote und das Subvertieren jeder Perfektion und Professionalität zu dekonstruieren wäre. Dialektisch gesehen schlüge jedoch, so die Kritik an dieser postmodernen Theaterästhetik, in der gesuchten Unähnlichkeit der Solipsismus der reinen Selbstbezüglichkeit des Subjekts zurück. Von Thomas Ostermeier (Plädoyer für ein realistisches Theater) und Milo Rau (Was tun?) bis hin zu Peter Laudenbach und Bernd Stegemann (Lob des Realismus, Kritik des Theaters) wird dieser eine originäre biedermeierliche politische Naivität unterstellt.24 Performer erzeugten nur Aufmerksamkeit über Präsenzeffekte, der performative Freiraum würde nach Frank M. Raddatz (Das mimetische Dilemma), der die Möglichkeit der Grenzüberschreitung im schillerschen Spiel propagiert, eher das Herrschende bestätigen.25 Weder Produzierende noch Rezipierende lernten etwas über tatsächliche Macht- und Wirtschaftsstrukturen, die erlaubten, dass Wenige Macht und Geld hätten, Viele jedoch arm, ohne Einfluss und unwissend wären. Die Ibsen-Produktion Gespenster des Kollektivs Markus&Markus, in der Performer und betroffenes Publikum eine alte Frau in den Suizid begleiten, das Publikum „au24 Vgl. Ostermeier, Thomas: Erkenntnisse über die Wirklichkeit des menschlichen Miteinanders. Plädoyer für ein realistisches Theater, in: Kräfte messen. Das Körber Studio Junge Regie. Bd. 6, hg. von Kai-Michael Hartig, Hamburg 2009, S. 48–51; Ostermeier, Thomas: Theater im Zeitalter seiner Beschleunigung, in: Theater der Zeit 7/1999, S. 10–15; Stegemann, Bernd: Kritik des Theaters, Berlin 2013; Stegemann, Bernd: Lob des Realismus, Berlin 2015; Rau, Milo: Was tun? Kritik der postmodernen Vernunft, Berlin 2013; Engler, Wolfgang: Authentizität! Von Exzentrikern, Dealern und Spielverderbern, Berlin 2017. 25 Vgl. Raddatz, Frank M.: Das mimetische Dilemma, in: Lettre International 114 (2016), S. 76–81.

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thentisches“ Sterben im Videofilm miterlebt, provozierte hitzige Diskussionen. Doch die Attraktion beruhte insbesondere auf dem schockierenden Präsenzeffekt des Sterbens. Keineswegs versuchten Markus&Markus, die gesellschaftliche Situation zu erhellen, in der eine alte Frau „freiwillig“ den Tod suchte, in der in einer neoliberalen Effizienzgesellschaft ihrer offensichtlichen Altersdepression attraktive Angebote zur aktiv-leichten Sterbehilfe gegenüberstanden; wieso verweigerten Markus und Markus eine wie auch immer gestaltete Darstellung von eindeutigen Machtstrukturen? Weil, vor postmodern philosophierendem Hintergrund, jede Eindeutigkeit als Reduktion einer angeblich unendlichen Komplexität totalitär gegenüber dem Anderen wäre, weil in der Tradition althusserschem Posthumanismus das leidende Subjekt nicht im Zentrum theatral-postdramatischer Theoriebildung stünde. Diesen Posthumanismus in seiner negativen Perspektivierung den an Artaud und der Avantgarde orientierten spannenden Theaterexperimenten Susanne Kennedys unterzuschieben, wäre vielleicht schon deshalb ungerecht, weil Kennedy zentrale Aspekte unserer Gegenwart und mutmaßlichen Zukunft nur sichtbar zur Darstellung bringt. Dennoch wäre noch mal die Frage Kresniks aufzugreifen, was echte Flüchtende bzw. Schutzsuchende auf der Theaterbühne eines politischen Theaters zu suchen hätten. Ostermeier fordert deswegen ein realistisches Theater, das die soziale Gegenwart nicht eins zu eins widerspiegelte, sondern das Wesen des menschlichen Miteinanders in der Inszenierung des Anderen erfasst, insbesondere versteckte Macht- und Wirtschaftsbeziehungen entdeckt, diskutiert sowie kritisiert. Der Intendant der Schaubühne bezichtigt postmodern-performatives Theater der Kapitulation vor einer angeblich zu komplexen Wirklichkeit des Anderen, es bliebe programmatisch unentschieden; er würde gar von einem „kapitalistischen Realismus sprechen, weil diese Kunstform, ähnlich wie der sozialistische Realismus des Ostblocks, nichts anderes tut, als das Weltbild des Kapitalismus zu bestätigen und so keine Gefahr für die herrschende Doktrin darstellt.“26 In Ostermeiers Inszenierung von Ibsens Volksfeind (2012), die durch globale Regionen und Städte wie Berlin, Moskau, Neu Delhi, Istanbul oder Minsk tourte, öffneten die Figuren, ohne aus der Rolle zufallen, die Diskussion über Ethik, Moral, Ideale und lokale Realpolitik für das Publikum, nachdem Dr. Stockmann im 4. Akt seine berühmte Rede, angereichert mit Auszügen aus dem situationistisch-linken Manifest Der kommende Aufstand des Unsichtbaren Komitees, gehalten hat. In den oft hitzig-engagierten Diskussionen wurde das realistische Rollenspiel so weit wie möglich fortgeführt, wiewohl performative Elemente stärker betont wurden. Das Publikum war und spielte die von Dr. Stockmann einberufene öffentliche Anhörung, es funktionierte als Kulisse wie als reale lokale Bürgerversammlung. Ostermeier vermied mit seinem realistischen Inszenierungsstil dezidiert, den Han26 Th. Ostermeier: Erkenntnisse, S. 49f.

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delnden ihre schon von Ibsen intendierte Grauzeichnung zu nehmen. Die Figuren offenbarten im Spiel das weite Feld zwischen Auflehnung und Anpassung, ethisch redend und doch in der Entscheidung die eigenen Interessen nicht aus den Augen verlierend, widerstehend und ängstlich zugleich. Man konnte sich mit einigem Mut zur Selbsterkenntnis in allen Figuren als das inszenierte Andere spiegeln, erkannte in einem Theater der Neoaufklärung die eigenen Determinationen und einrichtenden Machtbeziehungen sowie -strukturen wieder. Mit Brecht ging es in Ostermeiers sozialem Realismus um Widersprüche, die sich dialektisch zumindest in der Erkenntnis des Drückenden zur Aufführung brachten, während zugleich eine neue Gesellschaftsordnung gefordert wurde. Neuer Realismus, Gesellschaftskritik und Aufruf zur Revolution ließen wieder eine Utopie zu und hatten den Mut zur Aufdeckung von Strukturen wie zur eindeutigen Benennung der Schuldigen.

9.  S  CHLUSS MIT DER GEDULD! BITTE MEHR FAKTEN UND ENGAGEMENT! Aktuellste Herausforderung für das Theater wie die anderen Medien ist also die wieder relevante Frage nach Wirklichkeit, Erkennen des „Bullshits“ und dringend notwendigem Engagement.27 Greta Thunberg beharrt auf dem Erschrecken angesichts der wissenschaftlichen Fakten des Klimawandels. Philipp Ruch vom Zentrum für politische Schönheit mit seinem selbst propagierten aggressiven Humanismus(!) plädiert dafür, dass nun endlich Schluss sei mit der Geduld.28 Milo Rau fordert, dass die Zeit der reinen Repräsentationskritik und fröhlichen Postmoderne vorbei sein müsse,29 es gehe „nicht mehr darum, die Welt darzustellen. Es geht darum, sie zu verändern. Nicht die Darstellung des Realen ist das Ziel, sondern dass die Darstellung selbst real wird.“30 Yael Ronen überträgt reale Konflikte ins Theaterspiel, Simon Stone entstaubt den Naturalismus, Nicolas Stemann setzt mehrfach reflektiert das Reale in Szene, Christiane Mudra sucht, findet und präsentiert Fakten aus dem Archiv der Unmenschen und Bernd Stegemann singt das Lob des Realismus. Die Welt sei gar nicht so überkomplex, wie postmodern behauptet – politisch Aufgeklärte wehren sich gegen eine postfaktische Vorstellungswelt, 27 Vgl. Distelhorst, Lars: Kritik des Postfaktischen, München 2019; M. Gabriel (Hg.): Realismus; Rau, Milo: Globaler Realismus, Berlin 2018. 28 Vgl. Ruch, Philipp: Wenn nicht wir, wer dann? Ein politisches Manifest, München 2015; Ruch, Philipp: Schluss mit der Geduld, München 2019. 29 Vgl. Rau, Milo: Was tun? Kritik der postmodernen Vernunft, Berlin 2013. 30 Rau, Milo: Das Genter Manifest („Erstens“), http://international-institute.de/stadttheater-der-zukunft-das-genter-manifest/.

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in der „alternative facts“ zur Normalität werden. Die Zeit der fröhlichen Postmoderne, ihrer programmatischen Indifferenz scheint vorbei zu sein. Für Hannah Arendt, die gerade an den Universitäten und in den Dramaturgien wiederentdeckt wird, stellt die Indifferenz die „größte Gefahr dar, auch wenn sie weit verbreitet ist“. Nur „ein bisschen weniger gefährlich ist eine andere gängige moderne Erscheinung: die häufig anzutreffende Tendenz, das Urteilen überhaupt zu verweigern.“ Diese Verweigerung wäre unter Umständen eine postmoderne, die – nicht unpolemisch zugespitzt – einiges dazu beigetragen hat, dass aus der kritischen Institution des Theaters ein selbstreferentieller Betrieb zur Befriedigung der satten Egos in reichen Ländern wurde. Aus dem „Unwillen oder der Unfähigkeit, seine Beispiele und seinen Umgang zu wählen, und dem Unwillen oder der Unfähigkeit, durch Urteil zu Anderen in Beziehung zu treten“, entstünden nach Arendt so die tatsächlichen „‚skandala‘, die wirklichen Stolpersteine, welche menschliche Macht nicht beseitigen kann, weil sie nicht von menschlichen oder menschlich verständlichen Motiven verursacht wurden. Darin liegt der Horror des Bösen und zugleich seine Banalität“.31 Soziales Engagement, das Mitleid mit dem Anderen, das Erkennen und Kommunizieren von manifesten Ungerechtigkeiten, Umweltkatastrophen sowie undemokratischen Machtstrukturen und eine neue Suche nach einer besseren Welt, nach Utopien, scheinen im neuen engagierten Theater Milo Raus, Philipp Ruchs, Christiane Mudras, Simon Stones oder Yael Ronens die aktuellsten Trends zu sein.

31 Arendt, Hannah: Über das Böse. Eine Vorlesung zu Fragen der Ethik, München 2006, S. 150.

Zur Performanz von Bildern im Theater Barbara Gronau

Bilder sind um uns und – wenn man der Neuropsychologie glauben darf – auch: in uns. Das Interesse am Bild ist spätestens mit der von Gottfried Böhm 1994 ausgerufenen „ikonischen Wende“1 in den Theoriedebatten angekommen. Hier stimmt man darin überein, dass unser Jahrhundert eine Zunahme medialer Bilder und ein vermehrtes Wissen um deren Inszenierung verzeichnet. Doch die Frage: Was ist ein Bild? scheint keineswegs abschließend geklärt. Unbestritten ist nur, dass Bilder Erkenntnisse vermitteln. Darin ähneln sie der Sprache. Zugleich unterscheiden sie sich von ihr, denn Bilder sind nicht nur abstrakte Zeichensysteme, sondern haben eine eigene Sinnlichkeit. Sie eröffnen Erfahrungsräume und sind selbst performativ: Sie bilden Welt nicht nur ab, sondern bringen diese hervor.2 Das Theater ist von jeher ein Ort der Bildlichkeit gewesen: Die antike Skene ebenso wie die barocke Perspektivbühne oder die Experimente der Avantgarden zeugen von der Vielfalt des Visuellen im theatralen Raum. Bildlichkeit ist dabei jedoch nicht nur zwei-dimensional zu verstehen, sondern szenisch. Im Theater beschränkt sich Bildlichkeit nicht nur auf Objekte (wie bspw. bemalte Kulissen), sondern umfasst auch menschliche Körper und zeitliche Abläufe. Oder anders gesagt: Im Theater werden Bilder physisch, temporal und „haptisch“3. Sie irritieren unsere Wahrnehmung und fordern uns heraus. Diese Herausforderung ist vielleicht das prägnanteste Merkmal des zeitgenössischen Theaters: Ein veränderter Umgang mit der Wahrnehmung der Zuschauer. Auch wenn Bedeutungen und Inhalte nach wie vor eine zentrale Rolle spielen, so verschiebt sich doch die Art ihrer Präsentation. Sie fordert den Zuschauern neue Aufmerksamkeiten, 1 Vgl. Böhm, Gottfried (Hg.): Was ist ein Bild? München 32001. 2 Vgl. Schwarte, Ludger (Hg.): Bildperformanz. Die Kraft des Visuellen, München 2011, S. 10–31. 3 Czirak, Adam: Partiziaption der Blicke. Szenerien des Sehens und Gesehenwerdens in Theater und Performance, Bielefeld 2012.

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Haltungen oder gar Spielbereitschaften ab.4 Das Gegenwartstheater – so die These – macht die Wahrnehmung selbst zum Thema, indem es die Grenzen zwischen Fiktion und Realität, zwischen Zuschauern und Akteuren verwischt oder mit der Aufmerksamkeit des Publikums spielt. Bilder haben daran entscheidenden Anteil. Im Folgenden soll es deshalb um eine rezeptionsästhetische Auseinandersetzung mit der Frage gehen: Wie nehmen wir im Theater wahr, und welche Effekte haben visuelle bzw. bildliche Ereignisse auf uns?5

1.  WAHRNEHMUNG IM THEATER In seinem Text das „Das Paradox der Phasmiden“6 beschreibt der französische Kunstwissenschaftler Georges Didi-Hubermann einen Besuch im Vivarium des Botanischen Gartens von Paris, den man als Analogie eines zeitgenössischen Theaterabends lesen kann: Im Vivarium werden Schlangen, Tiere mit scharfen Zähnen oder giftigen Stacheln ausgestellt. Es ist eine „Enklave von Lebewesen und Gefahren“7, wo „früher eine Totenstille“8 herrschte und heute Kinderscharen durch die Gänge laufen. Zum Spaß klopfen sie mit den Fingernägeln oder den Fäusten an die Glasscheiben; fasziniert von der Gefahr hinter der durchsichtigen Wand. Überall im Vivarium sind Szenen aus Mineralien oder Pflanzen aufgebaut und das Spiel besteht darin, das Tier (das Lebendige: vivere) zu entdecken. Die Schilder zeigen uns, wonach wir suchen sollen: der grünen Baumviper oder dem „Japanischen Riesensalamander“9. Doch in der Vitrine der Phasmiden („was sind Phasmiden? Schon das Wort selbst klingt irgendwie beunruhigend“10) erscheint wirklich nichts. Es handelt sich wohl um einen leeren Behälter, die Hälfte der Blätter sind „schon braun und ver4 Vgl. Lehmann, Hans-Thies: Postdramatisches Theater, Frankfurt am Main 1999. 5 Teile des vorliegenden Aufsatzes sind bereits erschienen: Gronau, Barbara: Theater und Visualität. Wahrnehmung im zeitgenössischen Theater, in: Fokus Schultheater. Zeitschrift für ästhetische Bildung, 13 (2014), S. 8–5. 6 Vgl. die Beiträge „Erscheinungen, Disparat“ und „Das Paradox der Phasmiden“ von Georges Didi-Huberman: Didi-Huberman, Georges: Phasmes. Essays über Erscheinungen in Photographien, Spielzeug, mystischen Texten, Bildausschnitten, Insekten, Tintenflecken, Traumerzählungen, Alltäglichkeiten, Skulpturen, Filmbildern, Köln 2001, S. 9–23. 7 Ebd., S. 15. 8 Ebd. 9 Ebd., S. 16. 10 Ebd., S. 17.

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modert (ein sicheres Zeichen für Vernachlässigung)“11, kein Kopf, kein Schwanz, keine lebende Seele ist hier zu sehen. Schon wendet sich der Autor ab, um den nächsten Glaskasten zu betrachten, als ihm im Seitenblick klar wird, dass diese Vitrine nicht leer ist, sondern lebt: die Tiere sind die Szenerie, sie sind der braune Blätterwald. „Ich weiß nicht, wie ich es ausdrücken soll. Wenn man dir sagt, dass es etwas zu sehen gibt, und du nichts siehst, gehst du normalerweise näher heran […]. Um die Phasmiden zu sehen, muss man genau umgekehrt den Blick planlos schweben lassen.“12

Die Tiere (die im deutschen übrigens Gespenstschrecken heißen) beschränken sich nicht darauf, ihre Umgebung zu imitieren; vielmehr sind sie „das, was sie fressen: der Zweig, das Geäst, die Dornen und Blätter. […] Ich sah, dass sich hier alles, wie in einem bösen Traum, langsam bewegte.“13 Die scheinbar private Episode erweist sich bei genauerer Analyse als Beschreibung aller Stufen eines Prozesses, den wir visuelle Erfahrung nennen können. Der Text erzählt von den Bedingungen und Vollzugsformen unserer Wahrnehmung – oder anders gesagt: Von der Art und Weise, wie, wann und warum etwas zur Erscheinung kommt.14 Im Zentrum steht dabei ein geradezu dramatischer Umschlag vom Nichtsehen ins Sehen. Etwas – eine Form, ein Lebewesen – tritt in die Sichtbarkeit und wird zu einer lebendigen, bedrängenden Tatsache. Hier wird nicht nur etwas wiedererkannt, sondern eine neue Welt eröffnet. Es ist ein beunruhigend-beglückender Prozess des Lernens, der paradigmatisch für die Wahrnehmung im Theater steht und eine genauere Betrachtung lohnt: 1. Ebenso wie das Vivarium ist das Theater ein besonderer Ort des Ausstellens und des Zeigens. Nicht von ungefähr leitet sich der Theaterbegriff aus dem altgriechischen Wortstamm thea (der Schau) ab und meint einen Platz, an dem sich etwas der Betrachtung Würdiges ereignet. Gezeigt wird hier sowohl im Sinne der Deixis – also des Verweisens auf etwas – als auch im Sinne der darstellerischen Selbstpräsentation. 2. Was jedoch auf diesem Schauplatz wahrgenommen werden kann, hängt wesentlich von den rahmenden Informationen und den begleitenden Hinweisen ab. Sie haben die Funktion, das Gezeigte abzugrenzen, herauszuheben und zu identifizieren. (So informiert etwa das Schild „grüne Baumviper“ über die 11 Ebd., S. 18. 12 Ebd. 13 Ebd., S. 19. 14 Hier erinnert der Titel an das altgriech. phasma: die Erscheinung, das Zeichen.

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Farbe, den Aufenthaltsort und die Klassifikation des Tieres, das hier gesucht werden soll.) Im Theater gehören nicht nur Uhrzeit, Stücktitel, Besetzungsliste und Premierendatum zu diesen rahmenden Informationen, sondern auch die eventuell vernichtende Zeitungskritik oder der Hinweis auf dem Ticket, von welcher Stelle aus sich das Ereignis entfalten wird. 3. Wie etwas wahrgenommen wird, liegt ganz unmittelbar an den sozialen Regeln und dem gesellschaftlichen Habitus, die festlegen, was ein adäquates Wahrnehmungs-Verhalten ist. Im Text von Didi-Huberman ist die früher verbreitete ehrfürchtige Stille von scheibenklopfenden Kindergruppen abgelöst worden, die keine Angst vor den zoologischen Exoten zu haben scheinen. Im Theater ist es stets heilsam, die gängige Konstellation vom stillen, im Dunklen verharrenden Zuschauer, der einem auf der Bühne angeleuchteten Geschehen beiwohnt, durch historische Rückblicke zu korrigieren. Es ist aufschlussreich sich zu vergegenwärtigen, dass Shakespeares Dramen für ein Publikum geschrieben wurden, das unter freiem Himmel, Körper an Körper gedrängt, Bier trinkend, lachend und mitunter derb schimpfend, Ophelias Sterbeszene beiwohnte; oder dass es im 17. Jahrhundert auch deshalb keine verdunkelten Zuschauerräume gab, weil das eigentliche Spektakel die Zuschauer selbst waren, die über Logen und Parkett hinweg einander beobachteten, kommentierten, besuchten oder Liebesbriefe schickten. Die Geschichte des Theaters ist mithin immer eine Geschichte von gesellschaftlich bedingten Wahrnehmungs-Konventionen. Ihre Analyse erzählt etwas über Blickverhältnisse als Machtverhältnisse. 4. Und schließlich geschieht Wahrnehmung im Theater immer als kollektiver Prozess. Es ist ein Geflecht aus Sehen und Gesehen-Werden. Das betrifft nicht nur den Zuschauerraum, in dem sich das Publikum vor- und füreinander präsentiert, sondern auch die Wahrnehmung und Adressierung der Zuschauer durch die Bühnendarsteller. Diese von Erika Fischer-Lichte als „Feedbackschleife“15 beschriebenen Interaktionen zwischen Bühnen- und Zuschauerraum reichen vom allbekannten Hustenanfall über türenschlagende Skandalbekundungen bis zu jenen Theaterformen, die uns (freiwillig oder unfreiwillig) in die Sichtbarkeit rücken und zu Mitspielern machen. Die Vierte Wand – jene unsichtbare Grenze zwischen der fiktionalen Welt auf der Bühne und der ihrer Beobachter – ist im zeitgenössischen Theater eher ein alter Lattenzaun, über den die Akteure lustvoll hinwegspringen. 5. Und schlussendlich erzählt der Text von Georges Didi-Huberman von einem Paradox, das paradigmatisch für das Gegenwartstheater ist: Die Phasmiden sind die Szene (sie sind die Blätter im Glaskasten). Diese Verunsicherung der klassischen Figur-Grund-Relation zeigt sich im Theater als Changieren 15 Vgl. Fischer-Lichte, Erika: Ästhetik des Performativen, Frankfurt am Main 2004.

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zwischen gleichrangigen Informationsgehalten: Alle Wahrnehmungsparameter sind gleich wichtig. Das ist der eigentliche Clou des Postdramatischen Theaters: Die traditionelle Hierarchie des Textes – als oberste sinnstiftende Instanz – ist zugunsten einer Gleichrangigkeit der künstlerischen Elemente aufgehoben. Im Effekt entstehen Szenen, die vom Zuschauer eine Art „gleichschwebender Aufmerksamkeit“16 fordern. Im Folgenden soll an drei Beispielen gezeigt werden, wie diese Wahrnehmungs-Parameter im zeitgenössischen Theater eingesetzt werden und welche Rolle Bildlichkeit darin spielt: Im ersten Fall geht es um ein tableau vivant von Stefan Bachmann und die Absenz von Visualität – also das Nicht-Sehen. Im zweiten Fall geht es um die ironische Umkehrung des voyeuristischen Zuschauerblicks in Frank Castorfs Dostojewski-Bearbeitung Der Idiot an der Volksbühne Berlin. Und im dritten Fall um die Zusammenführung von Blicken und Körpern in einer Videoinstallation des niederländischen Künstlers Dries Verhoeven. 1.1  Das lebende Bild Im September 2008 besuchte ich Stefan Bachmanns Adaption von Thomas Manns Roman Der Zauberberg im Berliner Maxim Gorki Theater. Nachdem die Zuschauer Platz genommen hatten, kehrte Stille ein, es wurde schlagartig dunkel und das einzig Sichtbare war eine kleine rote Zahlenkolonne, die vom oberen Bühnenportal herunter leuchtete: 1939. „Aha!“, so mein Dramaturgenhirn: „Der Regisseur verlegt die Geschichte an den Beginn des Zweiten Weltkriegs; wahrscheinlich wird er dieses unspielbare Mammutwerk aus der Perspektive seiner Rezeptionsgeschichte aufziehen.“ Aber: … es blieb dunkel. Unruhe breitete sich aus: Man murrte und räusperte sich leise, rutschte unruhig auf den Sesseln, starrte in das schwarze Nichts. Vielleicht gab es ein technisches Problem? Ein klackendes Geräusch und die rote Zahlenkolonne da vorne hieß nun 1-9-4-0, was von einem zischenden Ausatmen in den vorderen Reihen begleitet wurde. Ach so. Das war gar keine Jahreszahl, sondern eine Uhr mit der aktuellen Zeit des Abends (19:40 Uhr). Unendlich langsam schälten sich schemenhafte Gestalten aus dem Dunkel: Sechs Darsteller – auf Sanatoriumsliegen gebettet und bis zur Brust in wollene Decken eingemummelt – lagen regungslos auf der unablässig kreisenden Drehbühne. Aus dem Schnürboden begann es weiß und geräuschlos zu schneien. Nur das monotone Geräusch des Drehbühnenmotors untermalte das Bild dieser 16 Vgl. Lehmann, Hans-Thies: Über die Wünschbarkeit einer Kunst des Nichtverstehens, in: Merkur 48 (1994), S. 426–431.

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winterlichen Liegekur. 19:45 Uhr … Ein empörtes Getuschel hob an. Da musste doch was passieren! Wo blieb die Handlung? Wo blieb das Theater? Nach einem lauter Zwischenruf aus dem hinteren Teil des Saals: „Anfangen!“ verbündete sich das Publikum in einem langsam hysterisch werdenden Lachen, das von rhythmischem Klatschen begleitet wurde. Mittlerweile wurde jedoch nicht mehr dezent getuschelt, sondern laut und vernehmlich gesprochen, so als hätte die Aufführung noch gar nicht begonnen und die bewegungslosen Schauspieler da vorn wären gar nicht anwesend. Um 19:50 Uhr drohte der Tumult zu eskalieren: Schwarz gekleidete Damen und graumelierte Herren schickten Schimpftiraden in Richtung Bühne: „Das ist ja unerhört“ … „Unmöglich“ … „Hildegard wir gehen“. Um 19:51 Uhr – nach zwölf Minuten Dauer – betrat Marek Harloff die Bühne und sprach den ersten Satz. Er hatte es schwer, die Konzentration zurückzuerobern.

Abbildung 1: Stefan Bachmann „Der Zauberberg“ nach Thomas Mann, Maxim Gorki Theater Berlin 2008

Der hier geschilderte Abend verläuft bei jeder Vorstellung in gleicher Weise. Auch wenn die Liegekur auf der Bühne zahlreiche Assoziation zum Roman Thomas Manns bietet – etwa die dort geschilderten langen Jahre eines Klinikaufenthaltes oder das regelmäßige Einschneien der Patienten in den Schweizer Bergen – ihre Aufführung verwandelt sich stets in ein Duell, bei dem auf bewegungsloses Schweigen mit Tumult geantwortet wird. Woher rührt dieser Effekt? Bachmanns Zauberberg-Sequenz unterläuft eine zentrale Konvention des Theaters: Nämlich, dass es eine Kunst des Handelns ist. Dieses scheint hier in gewissem Maße außer

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Kraft gesetzt: Es gibt weder einen Plot noch einen dargestellten Konflikt und alle physischen Aktionen (Bewegungen, Gesten, Mimiken und Lautäußerungen) sind bis zum Nullpunkt reduziert. Die Szene ist in ihrer Stille so etwas wie das Gegenbild der schwitzenden, springenden und schreienden Körper auf zeitgenössischen Bühnen. Ihre Radikalität besteht in der Verlangsamung und Stillstellung der Handlung bzw. ihrer Verwandlung in ein Bild. Genaugenommen handelt es sich hierbei um ein lebendes Bild – ein tableau vivant – wie es sich seit der Goethezeit im Europäischen Kunstraum entwickelt hat. Das tableau vivant ist ein Zwitterwesen aus Plastik und Aufführung; es verlangt von seinen Betrachtern eine „Hingabe, wie sie der Musik ähnlich ist“17: still und zugewandt. Während die Betrachtung solch plastischer Bilder um 1900 ein beliebtes bildungs-bürgerliches Vergnügen war, löst die Abwesenheit von Action in unserem Beispiel aus dem zeitgenössischen Theater eine Krise aus. Hier sehnt das Publikum durch „Anfangen, Anfangen“-Rufe den Beginn einer Vorstellung herbei, die doch schon seit mehreren Minuten vor ihm abläuft. Die Stillstellung erzeugt eine Krise des Rahmens, bei der beständig die Frage im Raum steht: Ist das Theater oder nicht? Der Clou dieser Szene besteht also darin, dass gerade die Handlungslosigkeit, die Permanenz des Bildes den Aufführungscharakter der Szene besonders erfahrbar macht: seinen prozessualen und kollektiven Aspekt. Das Tableau lässt nicht nur die Spannung zwischen objektiver Zeit und gefühlter Zeit hervortreten, es entfacht zudem eine ungewohnte Dynamik zwischen Bühne und Zuschauerraum. Das tableau vivant von Bachmann ist eben nicht einfach eine Sinneinheit oder ein Abbild, das von den Zuschauern „gelesen wird“. Das Bild formt sich vielmehr als ein Ereignis, in dem die Menschen vor und hinter der Rampe miteinander verbunden sind. Die Wahrnehmung der Körper, die aufgeladene Atmosphäre im Raum und das permanente Ringen der Zuschauer um einen situativen Rahmen, sind paradigmatisch für die affektive Wucht, die Theaterbildern innewohnen kann. 1.2  S ehen und gesehen werden: Der Panoptismus und seine Parodie bei Frank Castorf Am Beginn von Dostojewskis Roman Der Idiot sitzen wir in einem Zug nach Sankt Petersburg und: „Es war so feucht und neblig, dass es schwer war, aus den Fenstern des Wagons auch nur zehn Schritte rechts und links zu von dem Bahnkörper etwas zu unterscheiden.“18 Das Auftaktmotiv der schwierigen Sicht führt Dos17 Tableaux vivants. Lebende Bilder und Attitüden in Fotografie, Film und Video. Ausstellungskatalog Kunsthalle, Wien 2002, S. 11. 18 Dostojewski, Fjodor: Der Idiot, München 1960, S. 5.

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tojewski im Roman als Changieren zwischen Spionage, Erkenntnis und Vision aus. Mehr als ein ganzes Jahrhundert später nimmt der Regisseur Frank Castorf den Roman zum Anlass für eine wegweisende Inszenierung über das Verstecken und das Zeigen im Theater, die ein Meilenstein im Gebrauch von Video auf der Bühne geworden ist. Die Berliner Volksbühne wird dazu von Bert Neumann in eine Neustadt verwandelt, bei der die Zuschauer statt der gewohnten Sitzreihen in eine kleine Stadt in Fertigbauweise eintreten, in der es neben einem Friseur, einer Partnervermittlung, einer Piazza und weißen Hochhäusern mehr als 30 verschiedene Kameras und Bildschirme gibt. In der Mitte dieser videoverkabelten Stadt sitzen wir – mitten auf der Drehbühne – eingesperrt in hölzerne Logen von je 8 bis 10 Zuschauern und einem kleinen schwarz-weiß Fernseher. Darin ist es warm und stickig.

Abbildung 2: Frank Castorf, Der Idiot, Bühnenbild der Neustadt von Bert Neumann, Volksbühne am Rosa Luxemburg Platz Berlin 2002, Foto: Thomas Aurin

Während das Medium Video bis dahin auf zeitgenössischen Bühnen traditionellerweise als Ergänzung zu den Liveszenen genutzt wurde, indem es vorab produzierte Filme, found footage usw. auf eine oder mehrere Leinwände brachte, begründen Castorf, der Bühnenbildner Bert Neumann und der Videokünstler Jan Speckenbach zu Beginn der 2000er-Jahre mit dem Prinzip der Livekamera eine neue Theater-Ästhetik. Hier sind es ganze Akte grandios gespielter Szenen, die uns ausschließlich über deren digitale Repräsentationen zugänglich gemacht werden. Festinstallierte Überwachungskameras kommen dabei ebenso zum Einsatz

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wie bewegliche Kameraleute, die mit den Schauspielern auf den Bühnen und in den Räumen agieren. Die Darsteller spielen bewusst und lustvoll mit dieser Situation; sie „spielen die Großaufnahme mit“19. Es wäre zu kurz gedacht, den Einsatz von Livevideos bloß als modischen Hinweis auf zeitgenössische Bilderfluten zu verstehen. Die Bilder haben vielmehr eine theater-intensivierende Funktion: Sie beschneiden und rahmen unsere Wahrnehmung, stellen einen Fokus her und intensivieren damit Mikroansichten eines Ganzen. Darüber hinaus führt das Nebeneinander verschiedener Leinwände stets dazu, dass sich das theatrale Geschehen und dessen mediale Repräsentation gegenseitig ausdeuten, kommentieren, ja persiflieren. „Die Überforderung – also das Gefühl des Zuschauers nicht mehr zu wissen, wo er hinschauen soll – ist von Castorf beabsichtigt. Hierbei geht es um die Gleichzeitigkeit bestimmter Handlungen und Welten, um die gleichzeitige Präsenz von Widersprüchen.“20 Es geht um verschiedene Ansichten desselben Geschehens. Voraussetzung ist, so der Videokünstler Jan Speckenbach, dass die Kamera nicht auf der Blickachse des Zuschauers liegt, sonst „spielt sie ausschließlich die primitive Rolle eines Opernglases, ist sie lediglich eine einfache Doppelung des Blicks. Es gilt immer zu bedenken, dass die Kamera eine dritte Position bezieht, die auf der Leinwand stattfindet“.21 Nicht zuletzt folgen die Kameras den Schauspielern bis in die engsten Winkel oder hinter die Bühne. Sie rücken ihnen auf den Leib oder beobachten aus kühler Distanz. So wird ein Gefühl von Intimität erzeugt, dass nicht mit falscher Authentizität zu verwechseln ist, denn „das, was normalerweise als Kameraspiel angesehen wird – ein zurückgenommenes, nuancierteres Spiel – ist mit den Live-Kameras nicht fruchtbar. Wenn man versucht, in diesem filmischen oder fernsehmäßigen Sinne zu spielen, wird es sofort uninteressant. Stattdessen muss man im Spiel für die Kamera noch stärker die Extreme suchen.“22 Und schlussendlich ist Castorfs Arbeit eine kluge und komplexe Auseinandersetzung mit dem Prinzip des Voyeurismus. Wenn die Darsteller im Laufe des sechsstündigen Abends immer öfter die Jalousien ihrer Neustadtwohnungen herunterziehen oder unserem neugierigen Blick einen Plastikvorhang entgegenset19 Speckenbach, Jan: Wege durch die Vierte Wand. Momente der Reflexivität. Ein Gespräch mit Ullrich Matthes (Schauspieler) und Jan Speckenbach (Videokünstler und VJ in Inszenierungen von Frank Castorf), in: Fischer-Lichte, Erika/Gronau, Barbara/ Schouten, Sabine/Weiler, Christel (Hg.): Wege der Wahrnehmung. Authentizität. Reflexivität und Aufmerksamkeit im zeitgenössischen Theater, Berlin 2006, S. 72–85, hier S. 76. 20 Ebd. 21 Ebd. 22 Ebd.

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zen, bleibt nur der starre Blick auf den Monitor und die darin erscheinende Fernsehästhetik. Das Theater mit seiner ganzen Logik des Zeigens wird hier an seine Grenze gebracht: Die haben einfach Spaß ohne uns. Schweinerei. Geld zurück. Man sieht ja gar nichts … Die Entmachtung des Zuschauers verläuft zudem über ein Raummodell, dass man in der Architekturgeschichte als Panoptismus kennt und das seine Anfänge im französischen Ancien Regime unter Ludwig XIV. hat. Das Panoptikum wird vom englischen Philosophen und Sozialtheoretiker Jeremy Bentham zum idealen Gefängnis ausgebaut: Das Gebäude, dass er entwarf, hatte verschiedene Elemente: „[…] an der Peripherie ein ringförmiges Gebäude, in der Mitte ein Turm, der von breiten Fenstern durchbrochen ist, welche sich zu der Innenseite des Rings öffnen, das Ringgebäude ist in Zellen unterteilt, von denen jede durch die gesamte Tiefe des Gebäudes reicht; sie haben jeweils zwei Fenster, eines nach innen, das auf die Fenster des Turm gerichtet ist, und eines nach außen, sodass die Zelle auf beiden Seiten von Licht durchdrungen wird. Es genügt demnach, einen Aufseher im Turm aufzustellen und in jede Zelle einen Irren, einen Kranken, einen Sträfling, einen Arbeiter oder einen Schüler unterzubringen. Jeder Käfig ist ein kleines Theater, in dem jeder Akteur allein ist, vollkommen individualisiert und ständig sichtbar. Die panoptische Anlage schafft Raumeinheiten, die es ermöglichen, ohne Unterlass zu sehen und zugleich zu erkennen.“23Beobachtbarkeit – so hat Michel Foucault in seiner oben zitierten Studie Überwachen und Strafen nachgewiesen – ist das zentrale Mittel moderner Herrschaftsausübung, es ist das Grundmodell moderner Disziplinierungs- und Regierungsformen. Castorfs Plattenbau-Dostojewski zitiert diese Betrachterkonstellation und bricht sie zugleich auf: Die Bilder, die wir aus den umliegenden Gebäuden zugespielt bekommen, wackeln, verschwinden und entziehen sich. Castorfs Inszenierung ist im besten politischen Sinne eine Antwort auf die Frage: Wer beobachtet wen unter welchen Bedingungen? 1.3  Vom Bild zur Raumaktion In meinem letzten Beispiel möchte ich vom Einfluss der Bildenden Kunst auf das zeitgenössische Theater erzählen.24 Schon immer haben Bildende Kunst und Theater eine gemeinsame Schnittmenge geteilt: Das Wissen um die Inszenierung von Räumen und Körpern. So deutlich es ein praktisches Wissen um die Verwandtschaft der beiden Kunstformen gab, so stark war ihre theoretische Abgrenzung. 23 Foucault, Michael: Überwachen und Strafen. Die Geburt des Gefängnisses, Frankfurt am Main 1993, S. 257. 24 Der Text folgt hier meinem Band: Gronau, Barbara: Theaterinstallationen. Performative Räume bei Beuys, Boltanski und Kabakov, München 2010, hier S. 150ff.

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Das ist noch bis in die 1960er-Jahre zu spüren, wenn der Kunstkritiker Michel Fried erklärt, das Theater würde die Malerei korrumpieren und pervertieren. Doch bereits in den Avantgardebewegungen um 1900 setzt ein Umdenken ein, das dann in die Formen mündet, die heute als Postdramatisches Theater, Performance-Art, Installationskunst usw. bezeichnet werden. Der Theaterwissenschaftler Peter Simhandl hat in seinem 1993 erschienenen Buch Bildertheater diese Geschichte als Einfluss von Malern auf das Theater herausgestellt und dabei an Appias Hellerauer Experimente, an Schlemmers Bauhaustänze sowie an die Bühnenarbeiten Robert Wilsons und Achim Freyers erinnert. Simhandls Beobachtung ist vollkommen richtig; sie muss jedoch meiner Ansicht nach um eine andere Tradition ergänzt werden. Neben der zweidimensionalen Logik des Bildes ist es vor allem die dreidimensionale Logik der Installation, die als Impulsgeber des zeitgenössischen Theaters fungiert. In Installationen werden Materialien, Medien, Sounds und Objekte in räumlichen Ensembles zusammengeführt, die den Charakter von Inszenierungen tragen. Die Besucher treten hier nicht nur einem Objekt oder einem Geschehen gegenüber, sondern in eine Situation ein, d.h. sie erfahren sich als Bestandteil eines architektonischen, atmosphärischen und sozialen Beziehungsfeldes. Wenn etwa Christoph Schlingensief das Publikum in Odins Parsipark durch ehemalige Militärgelände schickt, Christoph Marthaler das architektonische Innenleben der Volksbühne zu einer Straße der Besten ausbaut oder die Gruppe Signa uns zu Bewohnern von Krankenhäusern und Dorfgemeinschaften macht, dann zeigt sich, zu welch vielfältigen Formen das künstlerische Motto der Installationskunst „go in, instead of look at“25 das Theater inspiriert hat.26 In einigen Fällen hat das so entstehende Setting den Charakter eines Parcours, in dem verschiedene Stationen durch Wege verbunden sind, in anderen Fällen tragen die 25 Allan Kaprow in Julie H. Reiss (Hg.): From Margin to Center. The Spaces of Installation Art, London 1999, S. 24, Fußnote 39. 26 Auseinandersetzungen mit räumlichen Innovationen wurden noch in den 1980er-Jahren unter dem Stichwort des Bildertheaters diskutiert. Vgl. Simhandl, Peter: Bildertheater. Bildende Künstler des 20. Jahrhunderts als Theaterreformer, Berlin 1993. Dagegen behaupte ich, dass es hier weniger die zweidimensionale Logik des Bildes, als vielmehr die dreidimensionale Logik der Installation ist, die als Impulsgeber zeitgenössischer Theaterräume fungiert. Das heißt nicht, dass das Bild diesen Inszenierungen nicht als Präscript vorausgehen oder sie als monumentaler Rest überdauern kann, es kann als Medienbild auf Leinwänden und Bildschirmen erscheinen. Der Hauptaspekt von Theaterinstallation besteht jedoch weniger in einem zweidimensionalen visuellen Fokus als vielmehr in der räumlichen Erlebnisdimension, die die Körper und Handlungen von Akteuren und Publikum gleichermaßen umfasst.

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Räume den Charakter von Labyrinthen oder von geschlossenen Welten. Ob die Besucher eine Serie von Einzelszenen abschreiten oder ob sie sich frei durch ein Gelände bewegen (müssen), in jedem Fall entsteht die Aufführung erst durch die Bewegung des Publikums im Raum und ist gebunden an eine direkte Interaktion mit der Architektur, der Landschaft und den darin auftretenden Akteuren. Damit ist der jeweilige Ort nicht mehr bloßer Hintergrund der Inszenierung, sondern tritt in seiner institutionellen, sozialen oder architektonischen Funktion, seiner Geschichtlichkeit und seiner Materialität hervor. In allen Fällen ist es unmöglich, eine strikte Trennung von Bühne und Publikum bzw. Zuschauern und Akteuren zu behaupten. Die Verwirrungen, die dabei entstehen können, zeigen, dass im künstlerischen Umgang mit dem Bildlichen die räumlichen und zeitlichen Grundlagen des Theatralen immer neu konstelliert werden. Im Rahmen des Berliner Foreign Affairs Festival 2016 wurde die Installation Guilty Landscapes II des niederländischen Künstlers Dries Verhoeven zum ersten Mal in Deutschland gezeigt. Verhoeven, ein innovativer Grenzgänger zwischen Theater und Bildender Kunst, untersucht in diesem Zyklus konflikthafte Räume der globalisierten Welt: stillgelegte Fabriken, kriegszerstörte Städte, schadstoffbelastete Umwelten.27 In der Vorankündigung wird die Arbeit als Videoinstallation bezeichnet. Um sie zu sehen, muss man am Beginn eines Festivalabends einen nächtlichen Timeslot von 20 Minuten buchen und sich dann pünktlich bei einem Counter im Theaterfoyer melden. Ein Mitarbeiter des Abenddienstes führt die einzelne Zuschauerin durch den Seiteneingang hinter die Bühne in den Büround Probenbereich der Berliner Festspiele. In einem Treppenhaus nehme ich auf einem einsamen Stuhl direkt neben der Heizung Platz und warte. Nach zehn Minuten öffnet mir eine mit Handy, Plan und Headphone bewährte Inspizientin die Tür zu einem langgestreckten, fensterlosen Whitecube, in dem es dunkel, muffig und ziemlich warm ist. Der Raum ist leer und an der Stirnseite mit einem wandfüllenden Videobild bedeckt. Es zeigt eine weite endlose Landschaft in der Dämmerung in trübem, irgendwie zeitlosem Licht. Beim Nähertreten gibt sich die Landschaft als riesige randund endlose Müllhalde zu erkennen. Hütten stehen darauf. Im Vordergrund liegen Fässer, Metallschrott, Gummischläuche, Kinderwagenteile und Plastik in einem Pfuhl aus grünlichem Brackwasser. An seinem Rand sitzt ein Mensch. Sein Körper ist frontal ausgerichtet: ein junger Mann in Jogginghose und Basecap. Langsam bewege ich mich auf dieses riesige Bild zu. Etwa drei Meter davor steht eine graue Kiste, auf der ich Platz nehmen kann, um es in Ruhe betrachten zu können. Was für eine Szene: Bis zum Horizont schieben sich verrottete Teile 27 Vgl. Website von Dries Verhoeven http://driesverhoeven.com/en/project/guilty-landscapes/ (Zugriff 01.08.2018).

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und unkenntliche Materialien ineinander. Ich habe das Gefühl, meine Umgebung beginnt zu stinken. Ich stelle also meine Tasche zur Seite und folge der immersiven Kraft dieses Tableaus. Als ich dabei das rechte Bein ausstrecke, passiert etwas, das mich zutiefst erschreckt: Der Mann im Bild streckt sein Bein nach vorn. Ich erstarre, lausche. Dann bewege ich langsam meinen Oberkörper. Der Mann im Bild schaut nach vorn und tut das gleiche. Ungläubig strecke ich meinen Kopf nach vorn. Mit einem Schlag begreife ich, dass ich gesehen werde. Von ihm gesehen. Mitten im Brackwasser an einem anderen Teil der Erde. Der tätowierte junge Mann und ich sitzen zusammen in einem Raum oder eher in einer Szene (in der vielleicht jemand Drittes unser gemeinsames Verhalten studiert). Ich grinse. Er auch. Dann hebe ich den Arm und winke. Wie in einem Spiegel machen wir ein paar gemeinsame Gesten voreinander. Okay; jetzt will ich es aber wissen. Ich stehe auf und laufe vor dem Screen hin und her. Da vorn an der Wand, in ca. zwei Metern Höhe, entdecke ich ein kleines Kameraauge. Ich laufe nach rechts und nach links; mein Gegenüber folgt mir. Als ich mich an die rechte Seitenwand lehne, starrt er auf einen Punkt in Höhe seiner Knie und wartet. Aha; augenscheinlich bin ich aus dem Kamera-Radius verschwunden. Es gibt doch eine Zone der Unsichtbarkeit, einen Rand. Ich kehre zu meiner Kiste zurück und jetzt beginnt so etwas wie Akt II, denn mit einem zielgerichteten Druck auf einen halb aus dem Wasser ragenden Kassettenrekorder ertönt plötzlich eine schnelle, mir unbekannte Musik, die ich hören kann. Mein Gegenüber beginnt zu tanzen. Ich muss lachen, steige auf meinen Kistensockel und versuche, seine verdammt coolen moves irgendwie nachzuahmen. In diesem Moment rennen Assoziationen durch mein Hirn: Ich komme mir vor wie in einer pubertären Disco, in der man durch den Tanz mit einem Anderen verbunden ist, noch bevor man ein Wort miteinander gesprochen hat. Zugleich stehe ich mitten in einem postkolonialen Klischee, in dem ich als weiß positionierte Frau mit einem als schwarz positionierten Mann globale Verständigungstänze aufführe. Macht er das eigentlich mit allen Besuchern? Und weiß die technikbeladene Inspizientin da draußen eigentlich, in welchem Teil dieser Inszenierung ich jetzt gerade stecke? Plötzlich wird die Musik ausgemacht und mein Gegenüber setzt sich wieder auf seinen Pfützenrand. Wir schauen uns an. Irgendwann stehe ich auf, wende meine Handfläche nach vorn und gehe langsam auf den Screen zu. Ich schiebe sie vor die Kamera, bis sie diese ganz zudeckt und drücke die flache Hand gegen den Screen. Dann drehe ich mich um und verlasse den Raum. Im Seitenblick nehme ich ein weißes Schild mit dem Titel der Arbeit und der Unterschrift wahr: Episode II: Port-au prince. Ohne mit jemandem zu sprechen, verlasse ich eilig das Theater.

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Abbildung 3: Guilty Landscapes von Dries Verhoeven 2016, Foto by Willem Popelier and Christopher Hewitt

Dries Verhoevens Arbeit bringt in überraschender Weise ins Bewusstsein, dass Theater eine Raum- und Zeitkunst ist. Die Zuschauer werden dabei Teil eines intimen Dialogs mit einem entfernten, medial übertragenen Raum, der uns verstört und beschämt zugleich: Haiti ist eine „schuldbeladene Landschaft“, in der Kolonialisierung, Kriege und Umweltkatastrophen tiefe Spuren hinterlassen haben. Die Aufführung erzählt davon, aber nicht im Modus des distanzierten Vorführens, sondern im Modus einer plötzlichen und appellativen Begegnung. Im Zentrum der Installation steht nämlich das Grundmoment des Theaters, die „Liveness“28 oder auch das Sehen und Gesehenwerden – das hier durch eine Videoschaltung erzeugt wird. Das Bild vor mir repräsentiert nicht, es synchronisiert: zwei Kontinente, zwei Menschen, zwei Tageszeiten. Dieser unerwartete Zusammenschluss von entfernten Räumen und Zeiten in einer gemeinsamen Wahrnehmung konstituiert im besten Sinne des Wortes „performativ“ 29 eine eigene Wirklichkeit. Es ist die gemeinsame Wirklichkeit des Hier und Jetzt, bei der zugleich nicht vergessen werden kann, dass die Welten, Räume, Personen und Perspektiven getrennt bleiben. Die Installation von Dries Verhoeven übersetzt das, was „da28 Vgl. Auslander, Philip, Liveness. Performance in a Mediatized Culture, New York 1999. 29 Vgl. Fischer-Lichte, Erika: Performativität. Eine Einführung, Bielefeld 2012.

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zwischen“ liegt, in eine verstörende theatrale Szene, die nicht nur zu Deutungen aufruft, sondern uns in Aktionen verwickelt. Mit Dieter Mersch könnte man sagen: Die Arbeit sagt nicht, sondern zeigt.30 Sie vermittelt Erkenntnis nicht prädikativ, sondern konstellativ, durch das Eintreten in eine raumzeitliche Situation. Wissen wird eher destabilisiert als diskursiv vermittelt; die Installation initiiert Fragen, vielleicht Phantasien, zumindest einen Zustand des Nichtwissens. Meine Verunsicherung als Zuschauerin einer Theaterarbeit, als Zeugin einer Umweltkatastrophe und als Mitspielerin der Szene rührt nicht zuletzt aus der Überlappung von Körperwissen (ich bin hier in einem deutschen Theater) und situiertem Wissen (ich bin Teil einer raumzeitlich arrangierten Begegnung mit einem jungen Mann in der Karibik). Die Arbeit steht damit am Ende einer langen Entwicklung in der Theatergeschichte, in der die Parameter des Theaters – Raum und Zeit – nicht nur Hintergrund der Darstellung sind, sondern selbst zur Darstellung kommen. Das ist nicht einfach eine ästhetische Erweiterung, sondern zutiefst getragen von dem politischen Impetus in Raum und Zeit, die biologischen, kulturellen und sozialen Grundbedingungen unseres Daseins zu reflektieren. Im Umgang mit Raum und Zeit formen und beleuchten die Künste in exemplarischer Weise unser Verhältnis zur Welt.

2.  FAZIT Das zeitgenössische Theater zeigt eine große Bandbreite bildlicher Ausdrucksformen: Von der Ausstellung lebender Bilder als Performance der Stillstellung, über den Einsatz von digitalen Medienbildern auf großen und kleinen Leinwänden bis zu Verwandlung der Theaterräume in bildhaft ausgestaltete Installationen. Auf die Frage: Was ist ein Bild? (die in den zeitgenössischen Theoriedebatten so leidenschaftlich geführt wird) hat das Theater – so scheint mir – vor allem eine zentrale Antwort: Das Bild im Theater ist mehr als die visuelle Doppelung äußerer Realität. Bilder im Theater ahmen nicht nur nach (bilden nicht nur ab), sondern stellen vielmehr eigene Realitäten her: Sie sind in hohem Maße performativ. Die Erkenntnisse, die sie vermitteln, macht man nicht nur mit dem Kopf oder den Augen, sondern mit dem ganzen Körper, neben, mit und durch andere Körper. Theaterbilder sind physische Ereignisse.

30 Vgl. Mersch, Dieter: Epistemologie des Ästhetischen, Zürich 2015.

Post-dramatisches Theater und Praktische Theologie1 Thomas Klie

Die Welt des Theaters hat sich verändert. Und mit ihr die sie denkende Theorie. Was sich in den letzten beiden Dekaden erst zaghaft andeutete, ist derzeit dabei, sich durch­zusetzen und stilistisch die dramaturgische Arbeit im Theater zu verändern. Die Rede ist vom „postdramatischen Theater“. Damit ist ein Formenensemble gemeint, das sich als Theoriekonstrukt zunächst der diagnostischen Distanz der Theatertheorie ver­dankte, dann aber immer mehr auch als Programmbegriff Karriere machte. Hans-Thies Lehmann, einer der Vordenker des „postdramatischen Theaters“, hält diesen Ansatz für einen „adäquaten Ausdruck seiner Zeit“. So bespielen Theater und performative Praxis mittlerweile ein sehr viel weiteres Feld. Und vor allem: Sie bespielen es in an­derer Weise als das dramatische Theater. Auch wenn der dramatische Text auf dem Theater nach wie vor eine „anhaltende Widerstandskraft“ entfaltet2, hat sich die Theaterkunst deutlich verändert: „Wir finden die Aufmerksamkeit nicht mehr notwendigerweise im Zentrum von Figuren und Behauptungen. Und vor allem: Wir wollen selber finden und können das auch.“3 Das klassische Theater ist nurmehr eine Variante unter vielen, um das theatrale Geschehen zu organisieren. Hans-Thies Lehmann Lehmann nennt die Fülle der Phänomene, der er dem postdramatischen Theater zuordnet: 1 Dieser Beitrag ist eine überarbeitete und erweiterte Fassung meines Aufsatzes „Postdramatisch. Zur Rezeption des Theaterparadigmas in der Praktischen Theologie“, in: Klie, Thomas/Gladisch, Katharina (Hg.): Geschlossene Gesellschaft. Gespielt – gedacht – gepredigt. Identitätsdramen zwischen Text und Performanz, Münster 2016, S. 177–200. 2 Vgl. den Text von Andreas Englhart in diesem Band. 3 Goebbels, Heiner: Der Raum als Einladung. Der Zuschauer als Ort der Kunst, in: Ders.: Ästhetik der Abwesenheit. Texte zum Theater, Berlin 2012, S. 78–87, hier S. 85.

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‚Nomadische‘ Produktionsstrukturen, Networks, neue Formen passagerer Gemeinschaften und gemein­samer Kreation, intermediale Aktivitäten, die die elektronische Kommunikation ästhetisch und pragma­tisch nutzen, Projekte zwischen Ausstellung, Installation und Performance, Aktions- und Projektformen im urbanen Raum, dokumentarisch interessiertes Theater mit Laien, Verschaltungen von politischen und ästhetischen, künstlerischen und didaktischen Prozessen (lecture performance) in und mit unterschiedli­chen Institutionen […]. Die etablierten Theater sind nur noch eine von mehreren Trägerinstanzen dieser Aktivitäten, für die sogar die Idee von ‚Kunst‘ als solche nicht mehr fraglos das Zentrum ihres Interesses darstellt.4 Die Parameter verschieben sich – nicht grundsätzlich, aber doch merklich. Will nun auch die Praktische Theologie, die in den zurückliegenden 20 Jahren viel vom Theater gelernt hat, auch noch weiterhin von ihm profitieren, darf sie den Blick auf das, was sich aktuell auf dem Theater tut, nicht verschließen. Im Folgenden soll versucht werden, diese tektonischen Verwerfungen in der theatralen Theorie und Praxis auf die theateraffinen Performanzsysteme wie Liturgie und Predigt, (Religions-)Didaktik und Kybernetik zu beziehen. Vor allem im Bereich der Liturgiewissenschaft blickt das Theater-Paradigma auf eine lange Begriffsund Theoriekarriere zurück. Der „heuristische Wert des Vergleiches von Gottesdienst und Theater ist inzwischen unbestritten“5, die praktisch-theologische Rede von „Inszenierung“, „Rolle“, „Dramaturgie“ und „Präsenz“ hat sich weitgehend etabliert, ohne dass dabei die bleibenden Differenzen zwischen theatralem und religiösem Spiel eingezogen werden.

1.  THEATER UND KIRCHE – PARADOX UND FRIVOL „Die theatralische Situation auf ihren geringsten Nenner gebracht, besteht darin, dass A den B verkörpert, während C zusieht.“6 – Legt man diese Minimaldefinition zu­grunde und nimmt den christlichen Gottesdienst in den Blick, dann drängt sich die Analogie zwischen beiden ansonsten getrennten Bereichen sozialer Praxis geradezu auf. Im Theater wie in der Liturgie beruht die symbolische Kommunikation auf der Performanz des gemeinsam vor anderen bzw. mit und für andere Dargestellten. 4 Lehmann, Hans-Thies: Postdramatisches Theater, Frankfurt 52011, S. 4f. (Vorwort zur 3. Auflage). 5 Meyer-Blanck, Michael: Gottesdienstlehre, Tübingen 2011, S. 375. 6 Bentley, Eric: Das lebendige Drama. Eine elementare Dramaturgie, Hannover 1967 [The Life of the Drama. London 1965].

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Wird etwas mit dem Ziel verkörpert, einem anderen „etwas“ zu zeigen, dann nimmt mit dieser Imagination eine Differenz Gestalt an. Diese Differenz zwischen Rolle und Person, von Form und Inhalt, von Sujet und Subjekt ist das Wesen der theatralen Sphäre – auf der Bühne wie vor dem Altar. Spielende suspendieren sich für die Abfolge anschaulicher Momente von den sonst in ihrer Wirklichkeit geltenden Verhaltensregeln. Ein Drama eröffnet die Möglichkeit, lebensweltliche Verzweckungen außer Kraft zu setzen, um zeitweilig in die Lebenswelt eine Welt des „Als-ob“ einspielen zu können.7 Wer spielt, erzeugt eine Simultaneität konkurrierender Rationalitäten – gleichsam spie­lend. Insofern sich dieses Spiel zwar simultan zur Lebenswelt abspielt, zugleich aber im freien Vollzug mehr oder weniger weit über sie hinausragt, erlangt es die Qualität einer deutenden Darstellung. Der Gottesdienst ist der Exemplarfall religiöser Kommunikation, und in ihm tritt das Christliche ästhetisch prominent in Erscheinung. Evangelische Religion zeigt sich hier in tradierten Deutungsformen8, mehrdimensionalen Zeichenfolgen9 sowie in theatral or­ganisierten Dramaturgien10. Alle drei Merkmale zusammen prädestinieren die Gegen­stände der Liturgik geradezu für eine theatertheoretische Sichtweise. Meyer-Blanck fasst die Analogie präzise zusammen: „Denn auf jeden Fall ist die Liturgie phänomenal eine Form von Theater. Es handelt sich um eine geplante, angekündigte und allgemein zugängliche Form der Darstellung, bei der öffentlich gesprochen und gehandelt wird, so dass andere mitmachen, aber auch einfach zuschauen können.“11 Die Darstellungsgebundenheit der kirchlichen Botschaft lässt nach den Produktions- und Rezeptionsbedingungen fragen, unter 7 In dem bekannten Film „Das Piano“ von Jane Campion gibt es eine Szene, bei der Laien ein frommes Theaterstück als Schattenspiel aufführen. Ort ist das noch britischkoloniale Neuseeland. Bei diesem Theaterstück wird hinter einem weißen Bettlaken ein Mord mit einem Beil imaginiert. Die eingeborenen Aborigines, die als Zuschauer das Schattenspiel jedoch nicht durchschauen, springen entsetzt auf, laufen auf die Bühne und wollen dem vermeintlichen Mörder das Handwerk legen. Das Theaterstück geht daraufhin im Handgemenge unter. Die theatrale Differenz bricht in sich zusammen. 8 Der Introitus als Eingangsgesang für die Geistlichen lässt sich formgeschichtlich z. B. bis in die Zeit des atl. Tempelkults zurückverfolgen (vgl. Ps 118, 19). 9 Im Gottesdienst wechseln sprachliche Zeichen mit musikalischen (klangliche: Glocken, Orgel; gesangliche: Lieder, Wechselgesänge), kinesische Zeichen (gestische bzw. proxemische) mit Raumzeichen und Zeichen der Erscheinung (liturgische Präsenz; Gewänder). 10 Der Aufbau des Gottesdienstes entspricht einem konventionalisierten Handlungsverlauf, in dem biblisch-theologische Inhalte in szenisch verdichtete Vor-Gänge übersetzt sind. 11 M. Meyer-Blanck: Gottesdienstlehre, S. 375.

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denen die Gottesfeier Gestalt annimmt. So führt Peter Stolt die seinerzeit die für viele überraschende Wiederbelebung der evangelischen Liturgik in den 1990er Jahren ausdrücklich zurück auf „die Entdeckung des ,Dramatischen‘, das jede Liturgie in sich trägt“.12 Heinrich Alt war der erste evangelische Theologe, der 1846 diesen augenfälligen Pa­rallelen in einer umfangreichen Untersuchung nachgegangen ist.13 Seinen auf den ers­ten Blick „paradoxen oder frivolen Einfall“14 legitimiert Alt über die faktische Evidenz des umfangreichen historischen Materials, das er auf gut 700 Seiten zusammenstellt. Seine Kernthese ist, dass sich „überall, wo uns gottesdienstliche Bilder begegnen, auch Spuren von einer dramatischen Kunst“ finden, die „ihren letzten und tiefsten Grund in dem Glauben an einen Mittler zwischen Gott und den Menschen hat“15: Und so war für Alt gerade die Feier des Abendmahls der Grund, dass sich der christliche Gottesdienst selbst zu jenem, das ganze Erlösungswerk von der Schöpfung und dem Sündenfall an bis zu der Vereinigung der Gläubigen mit Christo im Sacrament um­fassenden symbolisch-liturgischen Drama gestaltete, woraus späterhin jene geistlichen Schauspiele her­vorgingen, die unter dem Namen ‚Mysterien‘ bekannt das ganze Mittelalter hindurch fortdauerten und für jene Zeiten in der That das geeignetste Mittel waren, das Volk mit der damals nur den wenigsten zugäng­lichen Bibel und dem Inhalt und der Bedeutung des ... ihm unverständlichen Gottesdienstes bekannt zu machen ...16

Die Theatralität des Gottesdienstes stand also zunächst ganz im Zeichen der Vermitt­lungsfunktion. Das liturgische Spiel war Ausdruck einer Heilsdidaktik, in der sich das Erlösungswerk dem analphabetischen Kirchenvolk vergegenwärtig12 Stolt, Peter: Zu diesem Heft, Vorwort zu Pastoraltheologie H. 82 (1993), S. 147. 13 Alt, Heinrich: Theater und Kirche in ihrem gegenseitigen Verhältniß historisch dargestellt, Berlin 1846. – Als außerordentlich wirksam erwies sich dann auch und gerade in der evangelischen Liturgik zwei Generationen später die kleine Monographie von Guardini, Romano: Vom Geist der Liturgie, Freiburg 1918. 14 H. Alt, Theater: S. III. 15 Ebd., S. IV. 16 Ebd., S. IVf. (Hervorhebungen im Original). Alt hebt in diesem Zusammenhang auch und gerade die Rolle der Fastnachtsspiele bzw. die der biblischen Schul- und Volkskomödien hervor, die in der Reformationszeit dazu genutzt wurden, um die neue Lehre „populär“ zu machen. Vgl. dazu S. 421ff. u. S. 459ff. In enzyklopädischer Breite ordnet Detlef Metz in seiner Tübinger Habilitationsschrift diesen Nexus auf. Metz, Detlef: Das protestantische Drama. Evangelisches geistliches Theater in der Reformationszeit und im konfessionellen Zeitalter, Köln u.a. 2013.

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te. Gut protestan­tisch fokussiert Alt hier auf den szenischen Ausdruck, in dem sich „die Worte und die symbolischen Handlungen gegenseitig erläuterten und ergänzten“.17 Im Theater wie in der Liturgie wird gesprochen und gehandelt, in beidem zeigt sich etwas. Jede Verkör­perung im Rahmen einer Darstellung hat Zeichencharakter – als Ausdruckshandlung gibt sie einem anwesenden Publikum zu deuten Anlass. Die protestantische Ausrichtung auf das Wortgeschehen schenkte allerdings der Wirkmacht liturgischen Spiels in der Folgezeit nur geringe Aufmerksamkeit. Als para­digmatisch für die ältere Liturgik kann Theodosius Harnack18 gelten, der eine Genera­tion nach Alt der „Mimik“ bspw. kaum mehr als acht Druckzeilen in seiner fast 1.200-seitigen ‚Praktische(n) Theologie‘ widmete: Die gottesdienstlichen Gebärden sollen „sehr maßvoll, einfach und natürlich gehalten sein“, und sie dürfen „ans Theatralische nicht einmal erinnern“. Auch das einflussreiche Rietschelsche ,Lehrbuch der Liturgik‘ betrachtete theatrale Zeichen lediglich als „Dekorum der liturgischen Stellung und Haltung“19.

2.  THEATER UND KIRCHE – THEATRUM MUNDI Die von Alt seinerzeit gelegte Spur wurde in der evangelischen Liturgiewissenschaft erst wieder aufgenommen, als man begann, den Gottesdienst über seine „anthropologi­schen Elemente“ zu erklären.20 Verstand man die Praktische Theologie Ende der 1960er Jahre in einer primär ethischen Lesart als „Handlungswissenschaft“21, so be­stimmte man sie seit den späten 1980er Jahren mehr und mehr als eine Wahrneh­mungstheorie.22 Programmatisch erfolgte dies in Albrecht

17 H. Alt: Theater: S. 18. 18 Harnack, Theodosius: Praktische Theologie, Bd. 1, Erlangen 1877; Bd. 2, Erlangen 1878 (Zitat: Bd. 1, S. 327). 19 Rietschel, Georg: Lehrbuch der Liturgik, Bd. 1, Die Lehre vom Gottesdienst, Berlin 1900, S. 482. 20 Werner Jetter wählte diesen Untertitel, um die Ausrichtung seiner wichtigen Abhandlung „Symbol und Ritual“ (Göttingen 1978) zu kennzeichnen. 21 Krause, Gerhard: Praktische Theologie. Texte zum Werden und Selbstverständnis der praktischen Disziplin der evangelischen Theologie, Darmstadt 1972; Daiber, KarlFritz: Grundriß der praktischen Theologie als Handlungswissenschaft. Kritik und Erneuerung der Kirche als Aufgabe, München 1977. 22 Ausführlich hierzu Klie, Thomas: Performanz, Performativität und Performance. Die Rezeption eines sprach- und theaterwissenschaftlichen Theoriefeldes in der Praktischen

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Grözingers Dissertation ‚Praktische Theologie und Ästhetik‘23, die bald eine breite Diskussion auslöste. Im Kapitel „ästhetische Praxis“ widmet er sich ausführlich dem „Kosmos des Spiels“ und der „Welt des Theaters“: „Die Dimension des Theologischen war in der Vorstellung vom Handeln des Menschen als einem Handeln auf der Welt als Bühne immer zu Hause.“24 Unter Bezug auf die barocke Theatrum-Mundi-Vorstellung kommt Grözinger zu dem Schluss: Es ist gerade ‚die Vielfalt der möglichen Perspektiven und Sinngebungen‘, die die Interpretation des in der Welt handelnden Menschen nach dem Modell des Theatrum Mundi eröffnet, die dieses Modell für die Praktische Theologie als Ästhetik so herausfordernd und reizvoll erscheinen lässt.25

Der folgende Rekurs auf die angelsächsisch-soziologische Lesart des Theatralischen (Erving Goffman, Richard Sennett), nach der menschliche Sozialität ein allgemeiner Ausdruck der comédie humaine ist, bedient dieselbe pantheatrale Deutungstradition. Die hiermit vorgenommene (soziologisch funktionale) Entgrenzung der Theatermeta­pher war jedoch für das Verständnis liturgischer Vollzüge von nur geringer theoreti­scher Auflösungsschärfe. Wenn buchstäblich alles theatrales Spiel sein kann, dann ist nichts mehr wirklich Spiel. Grözingers Verzicht auf eine explizite Auseinandersetzung mit einer Theatertheorie im engeren Sinne26 ging deutlich auf Kosten einer relativ allgemeinen kriteriologischen Bestimmung dessen, was, wie und durch wen sich eine religiöse Darstellung äußern kann. Es war jedoch das bleibende Verdienst Grözingers, mit dieser – dramaturgisch noch gänzlich unterbestimmten – pantheatralen Anleihe den lange Zeit die Diskussion be­stimmenden Handlungsbegriff aus seiner sozialtechnologischen Enge gelöst zu haben, auf die er v. a. mit der Rezeption humanwissenschaftlicher Konzepte in den 1970ern reduziert wurde. Er verstand nun Handlung nicht mehr in erster Linie als soziologisch bzw. ethisch bestimmbaren Wahlakt, sondern als ein moralneutrales Sich-Verhalten-zu. Die normativ-ethische Handlungstheorie öffnete sich für stilbildende Deutungs­vollzüge und damit für den Bereich des Per-

Theologie, in: Interkulturelle Theologie. Zeit­schrift für Missionswissenschaft 4 (2013), S. 342­–356. 23 Grözinger, Albrecht: Praktische Theologie und Ästhetik. Ein Beitrag zur Grundlegung der Praktischen Theolo­gie, München 1987. 24 A. Grözinger: Praktische Theologie, S. 206. 25 Ebd., S. 208 (mit Bezug auf Wilfried Barner). 26 Nur sporadisch wird Bertolt Brecht zitiert: Ebd., S. 35 (Anm. 46), S. 143 (in einem Nebensatz), S. 201 (mit Bezug auf Marx), S. 248 (Anm. 149).

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formativen – der Handlungsbegriff wurde darüber indirekt ästhetisch re-interpretiert.27

3.  THEATER UND KIRCHE – INSZENIERUNG Die explizite Begriffskarriere des Theatralen als ein liturgisches Spezifikum perfor­mativen Ausdrucks setzte erst ein, als sich das Interesse – im Rahmen der „phäno­menologischen Wende“28 des Faches – auf die Vollzüge und Formen richtete, in denen sich das neuzeitliche Christentum vermittelt. Hermann Timm rief „[d] as ästhetische Jahrzehnt“29 aus, und viele Praktische Theologen entsprachen diesem Programm in ih­rer Theoriebildung. Die gestiegene Aufmerksamkeit für die empirischen Bedingungen religiösen Ausdrucks ließ nach individuellem Stil30 und leib-räumlichen Prozessen fra­gen. In diesem Zusammenhang rückten auch neue Wahrnehmungsperspektiven in den Vordergrund: Raum31, Leib32, Gestalt33 – und dann auch mehr und mehr im emphatischen Vollsinne des Wortes: die Religion34. 27 Vgl. Klie, Thomas: Zeichen und Spiel. Semiotische und spieltheoretische Rekonstruktion der Pastoraltheologie, Gütersloh 2003, S. 27f. 28 Heimbrock, Hans-Günter (Hg.): Religionspädagogik und Phänomenologie. Von der empirischen Wendung zur Lebenswelt, Weinheim 1998. – Zwei Jahre zuvor hatte Manfred Josuttis eine Pastoraltheologie auf „verhaltens­wissenschaftlicher Basis“ vorgelegt: Josuttis, Manfred: Die Einführung in das Leben. Pastoraltheologie zwischen Phänomenologie und Spiritualität, Gütersloh 1996. 29 Timm, Hermann: Das ästhetische Jahrzehnt. Zur Postmodernisierung der Religion, Gütersloh 1990. 30 Korsch, Dietrich: Religion mit Stil. Protestantismus in der Kulturwende, Tübingen 1997. 31 Exemplarisch ablesbar an den Veröffentlichungen zur Kirchenpädagogik, z. B. Klie, Thomas (Hg.): Der Reli­gion Raum geben. Kirchenpädagogik und religiöses Lernen, Münster 1998. 32 Klessmann, Michael/Liebau, Irmhild (Hg.): Leiblichkeit ist das Ende der Werke Gottes. Körper – Leib – Prakti­sche Theologie, Göttingen 1997; Koll, Julia: Körper beten. Religiöse Praxis und Körpererleben, Stuttgart 2007. 33 Bizer, Christoph: Kirchgänge im Unterricht und anderswo. Zur Gestaltung von Religion, Göttingen 1995. 34 Einflussreich waren hier vor allem die beiden Bände von Grözinger, Albrecht/Lott, Jürgen (Hg.): Gelebte Reli­gion. Im Brennpunkt praktisch-theologischen Denkens und Handelns, Rheinbach 1997 bzw. von Failing, Wolf-Eckart/Heimbrock, Hans-Günter: Gelebte Religion wahrnehmen. Lebenswelt – Alltagskultur – Religionspraxis, Stutt-

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Im Zentrum stand dabei das Subjekt, wie es sich selbst vergewissert, dabei auf kulturelle Ressourcen zurückgreift und diese dann religiös imprägniert. Man nahm nun die empirischen Bedingungen von „Religion“ insofern ernst, als man voraussetzte, dass jede religiös-christliche Lebensäußerung erscheinungsvermittelt ist. Es ging „darum, über handlungswissenschaftliche Forschung und über empirische Hermeneutik hinaus zu einer integralen Wahrnehmung christlicher Lebenspraxis im Kontext von Alltag, Gesellschaft und Kultur zu gelangen“35. Jenseits der überkommenen polarisierenden Orientierungen am isolierten Subjekt bzw. am Normenkanon Systematischer Theologie rückte nun der Modus des Gegebenseins von Religion und Kirche in der Kultur sowie die Möglichkeit des Subjekts, diesen Gegebenseins gewahr zu werden, in den Mittelpunkt der Aufmerksamkeit. In diesem Sinne konnte dann Michael Meyer-Blanck 1997 ganz programmatisch im Zusammenhang mit der liturgischen Darstellung von einem kunstvollen Formenspiel reden und dieses dann präzise als „Inszenierung des Evangeliums“36 definieren. Unter Bezug auf den russischen Schauspieler, Regisseur und Theaterreformer Konstatin Sergejewitsch Stanislavskij37 fasste er die liturgische Präsenz streng rollentheoretisch als die „durch das Bewusstsein des Inszenatorischen gebrochene Authentizität“38. Inszenierung wird damit konsequent als ein Formbegriff in die liturgiewissenschaftliche Diskussion eingetragen: Das Handeln Gottes („katabatisch“) vollzieht und ereignet sich als menschliches Darstellungshandeln („anabatisch“). Inszenierung bringt zum Ausdruck, dass es das Evangelium nur unter den Bedingungen liturgischer, also menschlicher Darstellung und Aneignung gibt. Im wechselseitigen gottesdienstlichen Handeln tritt die Sinnhaftigkeit des Dargestellten gewissermaßen an die Oberfläche. Der Sinn symbolischer Komgart u. a. 1998; in anderer Zuspitzung Klie, Thomas/Kumlehn, Martina u.a. (Hg.): Lebenswissenschaft Praktische Theologie?!, PThW, Bd. 9, Berlin, New York 2011. – Als programmatisches Titelschlagwort ist „gelebte Religion“ jedoch schon 20 Jahre früher belegt durch Hanselmann, Johannes/Rössler, Dietrich: Gelebte Religion. Fragen an wissenschaftliche Theologie und kirchenleitendes Handeln, München 1978. 35 Failing, Wolf-Eckart/Heimbrock, Hans-Günter: Gelebte Religion wahrnehmen. Lebenswelt – Alltagskultur – Religionspraxis, Stuttgart u.a. 1998, S. 10. 36 Meyer-Blanck, Michael: Inszenierung und Präsenz. Zwei Kategorien des Studiums Praktischer Theologie, in: Wege zum Menschen 1 (1997), S. 2–16; Ders.: Inszenierung des Evangeliums. Ein kurzer Gang durch den Sonntagsgottesdienst nach der Erneuerten Agende, Göttingen 1997; vgl. Ders.: Agenda. Zur Theorie liturgischen Handelns, Tübingen 2013, v.a. S. 169ff., S. 267ff., S. 307ff. 37 Stanislavskij übte großen Einfluss aus auf Stella Adler und Lee Strasbergs „Methode“ (Method Acting). 38 M. Meyer-Blanck: Agenda, 2013, S. 279.

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munikation äußert sich.39 – Vor diesem Hintergrund erweist sich die traditionell zugeschriebene Rollenteilung in passiv rezipierende „Gottesdienstteilnehmer“ und aktive liturgische Darsteller dramaturgisch als rein konventionell-empirisches Konstrukt. Publikums- und Protagonistenrollen koinzidieren vielmehr in der gemeinsamen Darstellung. Beides sind Teilfunktionen eines kollektiven dramaturgischen Subjekts, die im Modus der Rezeption zusammenfallen. „Jeder Gottesdienstteilnehmer ist beides in einem: Darsteller und Erlebender, der Akteur seiner religiösen Selbstinszenierung und der Rezipient seiner im Medium von Liturgie und Predigt vermittelten Selbsterfahrung.“40 Die Pointe dieser Perspektive auf den Gottesdienst ist, dass es Meyer-Blanck hierüber gelingt, die reformatorisch-relationale Denktradition mit einem normativ gehaltvollen Schauspielkonzept zu korrelieren, dem des „Kunsttheaters“41, das sich in den Gründerjahren in Europa durchsetzte. Die dramaturgischen Grundlagen dieser Theaterarbeit gehen auf die Prinzipien der Meininger zurück, deren Reformen durch Gastspiele auch in Russland bekannt geworden waren.42 Mit ihnen begann insofern die Geschichte des

39 Schon Rudolf Bohren hebt in seiner theologischen Ästhetik den Performanz-Gedanken hervor (Dass Gott schön werde. Praktische Theologie als theologische Ästhetik, München 1975). Ohne die ästhetisch-performative Dimension bleibt für Bohren die „semantische Information“ theologisch-kirchlicher Praxis ohne Signifikanz: „Bei Gottes Schön-Werden geht es immer [...] um die Aufführung“ (S. 127f.). 40 Mit dieser These stützt Steck seine Theorie von der inszenatorischen Kultivierung der Frömmigkeitspraxis im spätmodernen Protestantismus. Steck, Wolfgang: Praktische Theologie. Horizonte der Religion – Konturen des neuzeitlichen Christentums – Strukturen der religiösen Lebenswelt. Bd. 1, Stuttgart u.a. 2000, S. 317. 41 Stanislavskij war Mitbegründer des „Moskauer Künstlertheaters“ (MChAT). – In New York trainierte z. B. Lee Strasberg nach Stanislavskijs Methode Hollywood-Schauspieler im berühmtem „Actors-Studio“. 42 Vom kleinen Hoftheater im thüringischen Meiningen ging Ende des 19. Jh. eine umfassende Theaterreform aus. Man inszenierte die klassischen Stücke erstmals wieder im Original; ihr genialer Intendant Ludwig Chro­negk setzte dabei auf die Gestaltungskraft des gesamten Ensembles. Mit diesem Ensembleprinzip trat man in eine wirkungsästhetische Konkurrenz zum verbreiteten Virtuosentum des 19. Jh. Im Medium theatraler Darstel­lungskunst zeichnete sich ein tiefgreifender kultureller Wandel ab (zugespitzt: Kollektivleistung vs. bürgerliches Subjekt). Die Meininger wurden vor allem durch ihre 81 Gastspielreisen (1874–1890) in Europa bekannt. Vgl. Fischer-Lichte, Erika: Kurze Geschichte des deutschen Theaters, Tübingen/Basel 21999, S. 217ff.

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modernen Regietheaters43, als hier die Aufführungen als kollektive Kunstwerke begriffen wurden, die jedoch dem inszenatorischen Gestaltungswillen eines einzelnen Spielleiters entsprangen. In etwa zeitgleich fragt Ulrike Suhr in Auseinandersetzung mit dem britischen Thea­terregisseur Peter Brook danach, was sich für die Liturgie vom theatralischen Prozess lernen lässt.44 Anders als Meyer-Blanck geht es Suhr jedoch weniger darum, dramaturgische Grundfunktionen (Präsenz, Rolle, Repräsentation) in einen fundamental­liturgischen Horizont einzuzeichnen, sondern vielmehr darum, die religiöse Dimension des Theaters in „Momenten verdichteten Lebens“ auszuloten (Brooks Kategorie des „heiligen Theaters“). Einen wichtigen Grundstein legte Marcus A. Friedrich mit seinem Beitrag zur Rezep­tion „von Schauspieltheorien und -techniken für die Pastoralästhetik“.45 Die dramaturgischen Entwürfe von Stanislavskij, Brecht und Grotowski ordnet er konsequent synoptisch „pastoralästhetischen Modellen“ zu: schöpferisch (Stanislavskij) – Dietrich Stollberg; episch (Brecht) – Karl-Heinrich Bieritz, Albrecht Grözinger, Michael Meyer-Blanck; spirituell (Grotowski) – Gerhard M. Martin, Manfred Josuttis. In inszenatorischer Perspektive argumentiert er gegen „die Trennung eines formal ,gespielten‘ und ,vorgemachten‘ und eines – wie auch immer inhaltlich besetzten – ,authentischen‘ Ausdrucks im darstellenden Handeln“46. Die Untersuchung verfolgt ein explizit liturgiedidaktisches Interesse, Vikarinnen und Vikare sollen sich Kompetenzen aneignen, die sie in Theorie und Praxis über das gestaltete Verhältnis von Form und Inhalt liturgischer Handlungen aufklären. Friedrichs Marburger Dissertation ist – neben der Berliner Theatersemiotikerin Fi­scher-Lichte – einer der Kronzeugen für Ursula Roths Arbeit zur „Theatralität des Gottesdienstes“.47 Roth fasst darin anhand der vier nicht immer trennschar43 Mit diesem – theaterwissenschaftlich unscharfen – Begriff wurden Inszenierungen belegt, in denen der Regis­seur (zu) starken Einfluss auf die (vermeintlichen) Intentionen des Autors nahm. 44 Suhr, Ulrike: Das Handwerk des Theaters und die Kunst der Liturgie. Ein theologischer Versuch über den Regisseur Brook, Peter, in Stolt, Peter u.a. (Hg.): Kulte, Kulturen, Gottesdienste. Öffentliche Inszenierung des Lebens, Göttingen 1996, S.  37–49, hier S. 39. 45 Friedrich, Marcus A.: Liturgische Körper. Der Beitrag von Schauspieltheorien und -techniken für die Pastoralästhetik, Stuttgart u.a. 2001. – In seinem Vorwort nimmt er explizit Bezug auf Meyer-Blancks Berliner Antrittsvorlesung von 1997. Vgl. auch den Beitrag von Marcus A. Friedrich in diesem Band. 46 M. A. Friedrich: Körper, S. 11. 47 Roth, Ursula: Die Theatralität des Gottesdienstes, Gütersloh 2006. – Vgl. a. die Leipziger Dissertation von Hans-Jürgen Kutzner, (Kutzner, Hans-Jürgen: Liturgie als Perfor-

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fen dramatur­gischen Basiskategorien den transdisziplinären Diskurs zwischen Liturgie-, Theater- und Kulturwissenschaft zusammen: „Inszenierung“ als Möglichkeitsbedingung von Aufführung, „Korporalität“48 als gewissermaßen mediale Bedingung von Spiel, „Wahrnehmung“ als Grundlage für die Bedeutungszuschreibung und schließlich „Performativität“ als Ausdruck der Ereignishaftigkeit theatraler Zeichenprozesse. Ein Jahr später erscheint die Basler Habilitationsschrift von David Plüss49, die anlog zu Klies spieltheoretischem Entwurf50 eine funktionale, im weitesten Sinn theatersemioti­sche Perspektive entfaltet. Allerdings setzt Plüss einen deutlich anderen Akzent. „In­szenierung“ wird hier als eine streng analytische Kategorie in Anschlag gebracht. Dies erweist sich insofern als funktional, als in der reformierten Schweiz der Agenden­zwang weitgehend aufgehoben ist und sich damit das je neu zu inszenierende Gesamt­kunstwerk Gottesdienst liturgischer Konventionen in großer kompositorischer Freiheit bedienen kann und muss. In gewisser Weise schließt diese Sinnsicht wieder an die ersten Versuche an, die „anthropologischen Elemente“ des Gottesdienstes in den Blick zu nehmen (in diesem Zusammenhang ist von einer „szenischen Anthropologie“ die Rede). Plüss wendet diesen Zugriff jedoch – erweitert um das inzwischen praktisch-theologisch aufgeordnete Begriffsinventar phänomenologischer Konzepte – ins Nor­mative. Er zielt auf einen Wechsel vom Paradigma „Text“ auf das Paradigma „Per­formance“. Damit sollen vor allem (mit Gumbrecht) liturgische Präsenzeffekte ins Zentrum gerückt werden. Im Gottesdienst geht es wesentlich um eine Kultivierung von kontingenten Gotteserfahrungen, die sich in biographischen Schlüsselszenen ereignet haben. Damit ist ein relativer Unterschied zum Inszenierungsbegriff Meyer-Blancks markiert: Nicht „das Evangelium“ soll in Szene gesetzt werden (dies könnte sakra­ mental-priesterlich missverstanden werden), sondern die „Suche nach dem göttmance? Überlegungen zu einer künstlerischen Annäherung, Berlin 2007), die weniger von Theatertheorie, als vielmehr auf der Basis des Kunstbegriffs von Joseph Beuys sich der liturgischen Performance (als „Gesamtkunstwerk“) nähert. 48 Diesbezüglich setzt die Berner Habilitationsschrift von Brigitte Enzner-Probst starke Akzente: Enzner-Probst, Brigitte: Frauenliturgien als Performance. Die Bedeutung von Corporealität in der liturgischen Praxis von Frauen, Neukirchen-Vluyn 2008. 49 Plüss, David: Gottesdienst als Textinszenierung. Perspektiven einer performativen Ästhetik des Gottesdienstes, Zürich 2007. 50 Th. Klie: Zeichen, S. 74ff. – Als theatertheoretisches Exempel führt der Vf. die Dramaturgie Edward Gordon Craigs an, der mit seiner Abkehr vom naturalistischen Theaterkonzept der Jahrhundertwende zum Protagonisten der „Stil­bühne“ wurde. Sein Ziel war die absolute Intensivierung der Darstellung über die Formensprachen von Panto­mime und Marionette („Übermarionette“).

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lichen Geheimnis“51. So gesehen soll eine liturgische Inszenierung in Anlehnung an Peter Brooks gewissermaßen die Bühne frei geben – paradoxerweise indem sie sie bespielt. So sehr dieses fundamentalliturgische Paradox theologisch einzuleuchten vermag, so wenig ist es davor gefeit, in der pastoralen Praxis pastoralästhetisch Kurzschlüssiges zu zeitigen. Die reformierte Absage an das lutherische Regietheater, das in großer Werktreue, das sonntäglich agendarische Skript des überkommenen Gottesdramas re-inszeniert, führt auf seiner Rückseite u. a. auch den autokratischen Meister einer nur durch ihn selbst legitimierten Zeremonie mit sich. Denn auch der Gestus liturgischer Selbstermächtigung ist kontingent. Hiermit ist eine Brücke geschlagen zum postdramatischen Theater, ohne dass ein Re­kurs schon explizit wird. Mit Meyer-Blanck ist an dieser Stelle jedoch mit Recht festzuhalten, dass der Theorietransfer zwischen Gottesdienstlehre und Theaterwissenschaft weitgehend einer Einbahnstraße gleichkommt. Das Theater interessiere sich zwar „seit dem 18. Jahrhundert ... für die Religion und seit der ,performativen Wende‘ der Gegenwart für Spiritualität, Transzendenz und Ritual, aber nicht für den Gottesdienst“.52

4.  THEATER UND KIRCHE – POSTDRAMATISCH Bei der kritischen Relecture der praktisch-theologischen Bezugnahmen auf die Thea­termetapher bzw. auf Kategorien aus der Theaterwissenschaft fällt auf, dass hier Re­gisseure und Dramaturgen rezipiert werden, die allesamt dem klassischen Paradigma des Dramen-Theaters zuzuordnen sind.53 Parallel zur Erweiterung des „religiösen Fel­des“ (Bourdieu)54 und dem damit einher gehenden Eindringen performativer Phäno­mene in Kultur und Gesellschaft55 hat sich jedoch der Phänomenbereich liturgischer Vollzüge deutlich ausdifferenziert. Es ist also zu fragen, ob – die bleibende heuristi­sche Valenz theaterästhetischer Theoriezugriffe voraus51 D. Plüss: Textinszenierung, S. 241 52 M. Meyer-Blanck: Gottesdienstlehre, S. 378. 53 Vgl. hierzu auch Mildenberger, Irene/Raschzok, Klaus/Ratzmann, Wolfgang (Hg.): Gottesdienst und Dramatur­gie. Liturgiewissenschaft und Theaterwissenschaft im Gespräch, Leipzig 2008. 54 Bourdieu, Pierre: Die Auflösung des Religiösen, in Ders., Religion. Schriften Bd. 13, Frankfurt/M. 2011, S. 243–249. 55 Vgl. Wirth, Uwe (Hg.): Performanz. Zwischen Sprachphilosophie und Kulturwissenschaften, Frankfurt/M. 2002; Hempfer, Klaus W./Volbers, Jörg (Hg.): Theorien des Performativen. Sprache – Wissen – Praxis. Eine kritische Bestandsaufnahme, Bielefeld 2011.

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gesetzt – hier nicht neue An­sätze in Anschlag gebracht werden müssen, die den anhaltenden Transformationen der liturgischen Landschaft gerecht werden. Neue Gottesdienstformate56 und -anlässe57 haben sich etabliert, vielfach werden alternative Zweitgottesdienste („2. Programm“) gefeiert, und das weite Feld der Kasualien hat sich nach innen wie auch nach außen pluralisiert („neue Kasualien“)58. Hollenweger spricht schon 2002 von einer „Pentekostalisierung der religiösen Landschaft.59 Zeitgleich erlebt die monastische Tradition der Stundengebete vielerorts eine ungeahnte Renaissance.60 Und quer dazu zeigt sich im Internet eine fluide und vielgestaltige Religionskultur.61 Die Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen wird auch und gerade für die Liturgik zu einem bestimmenden Teil ihrer Empirik. Wie das Aufkommen von Film und Fotographie an der Wende zum 20. Jh. zu neuen experimentellen Formen auf der Bühne und damit auch zu einer Krise der Diskursform des Theaters führte, so wird an der Wende zum 21. Jh. das neue Theater von der neuen technischen Darstellungsmatrix der Netz- und Video-Techniken überboten. Mediale Schwellen intensivieren innerhalb der entsprechenden 56 Aus der Fülle der Publikationen vgl. Kunz, Ralph: Der neue Gottesdienst. Ein Plädoyer für den liturgischen Wildwuchs, Zürich 2006; Friedrichs, Lutz (Hg.): Alternative Gottesdienste, Hannover 2007; Arnold, Jochen (Hg.): Andere Gottesdienste. Erkundungen und Reflexionen zu alternativen Liturgien, Gütersloh 2012. 57 Fechtner, Kristian/Klie, Thomas (Hg.): Riskante Liturgien. Gottesdienste in der gesellschaftlichen Öffentlich­keit, Stuttgart 2011. 58 Vgl. u. a. Grethlein, Christian: Grundinformation Kasualien. Kommunikation des Evangeliums an Übergängen des Lebens, Göttingen 2007; Kristian Fechtner: Kirche von Fall zu Fall. Kasualien gestalten und wahrnehmen, Gütersloh 2001; Fugmann, Haringke Gregor: Von Wendepunkten und Zeremonienmeistern. Kasualtheorien im Lichte zweier empirischer Untersuchungen, Frankfurt/M. 2009; Fendler, Folkert/Gattwinkel, Hilmar/ Klie, Thomas (Hg.): On demand. Kasualkultur der Gegenwart, Leipzig 2017. 59 Hollenweger, Walter J.: Das Kirchenjahr inszenieren. Alternative Zugänge zur theologischen Wahrhaftigkeit: Predigten – Oratorien – Mysterienspiele, Stuttgart 2002, 203. Dieses Stichwort nimmt auch Klaus Raschzok auf: Gottesdienst und Dramaturgie. Eine Einführung, in: I Mildenberger/K. Raschzok/W. Ratzmann (Hg.): Gottesdienst, Leipzig 2008, S. 15–45, hier S. 33ff. 60 Lumma, Liborius: Liturgie im Rhythmus des Tages. Eine kurze Einführung in Geschichte und Praxis des Stundengebets, Göttingen 2011; Budde, Achim: Gemeinsame Tagzeiten. Motivation – Organisation – Gestaltung, Stuttgart 2013. 61 Exemplarisch aus der Fülle der Publikationen Krüger, Oliver: Die mediale Religion. Probleme und Perspekti­ven der religionswissenschaftlichen und wissenssoziologischen Medienforschung, Bielefeld 2012; Klie, Thomas /Nord, Ilona (Hg.): Tod und Trauer im Netz. Mediale Kommunikation in der Bestattungskultur, Stuttgart 2016.

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Systemstellen das Nachdenken über das Ur-Eigene – unter den neuen Bedingungen. Die nun als „älter“ identifizierten Ausdrucksformen werden unter dem Eindruck des Neuen zwangsläufig selbstreflexiv. Solche selbstdeutenden Muster lassen sich in gleicher Weise auch im Bereich gisch-homiletischer Darstellung beobachten. Seit einigen Jahren gehören litur­ Übungen zur „liturgischen Präsenz“62 zum Standardprogramm in der pastoralen Aus-, Fort- und Wei­terbildung – ein Übungsprogramm, bei dem die gottesdienstlichen Stilgesten nicht etwa aus der diesbezüglich durchaus reichen kirchlichen Tradition entlehnt werden, sondern aus einer dramaturgischen Logik heraus rekonstruiert werden. Predigt und Gottesdienste werden zunehmend mit Methoden empirischer Wirkungsforschung ex­ploriert.63 Die EKD richtet im Rahmen des von ihr initiierten großkirchlichen Reform­prozesses Kompetenzzentren für „Evangelische Predigtkultur“ (Wittenberg) und „Qualitätsentwicklung im Gottesdienst“ (Hildesheim) ein. All dies erweckt den An­schein, als verlöre eine Großinstitution (oder Organisation?) ihr Systemvertrauen in die Wirkungsästhetik ihrer – sie immerhin allererst konstituierenden – symbolischen Kommunikation. Im Bereich des Theaters hat sich in jüngster Zeit, völlig unbeachtet von der Praktischen Theologie, eine Praxistheorie durchgesetzt, die zunächst als analytische Deskription der neueren Theater-Idiome gedacht war, dann aber bald auch als normativer Anspruch Resonanz fand: das postdramatische Theater.64 In postdramatischen Theaterformen werden die in Szene zu setzenden Textzeichen als funktional nur mehr äquivalente Komponenten eines gestischen, musikalischen, visuellen Gesamtzusammenhangs begriffen. Die Gattung Drama und der Spielort Theater treten mehr und mehr auseinander, damit auch fiktiver Text und Spiel, Werk und Performanz. Eine zunehmend simultane und mehrperspektivische

62 Vgl. Kabel, Thomas: Handbuch Liturgische Präsenz. Zur praktischen Inszenierung des Gottesdienstes, Bd. 1. Gütersloh 12002; Ders.: Handbuch Liturgische Präsenz. Bd. 2: Zur praktischen Inszenierung der Kasualien. Gü­tersloh 12007. 63 Vgl. exemplarisch Pohl-Patalong, Uta: Gottesdienst erleben. Empirische Einsichten zum evangelischen Gottes­dienst, Stuttgart 2011; Schwier, Helmut/Gall, Sieghard: Predigt hören. Befunde und Ergebnisse der Heidelberger Umfrage zur Predigtrezeption, Berlin 2008. – Vgl. die detailreiche Göttinger Dissertation von Bertram J. Schirr: Fürbitten als religiöse Performance. Eine ethnologisch-theologische Untersuchung in drei kontrastierenden Berliner Gottesdienstkulturen, Leipzig 2018. 64 Lehmann, Hans-Thies: Postdramatisches Theater, Frankfurt/M. 52001; Birkner, Nina (Hg.): Spielräume des An­deren. Geschlecht und Alterität im postdramatischen Theater, Bielefeld 2014.

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Wahrnehmung löst die gewohnte inszenatorische Sequenzierung ab. Lineares wird simultan, Sukzessives wird zirkulär:65 Eben darum geht es: Wie es das Theater schaffen kann, in einer Medienwelt Position, Situation, Erfah­rungsmöglichkeiten des Zuschauers zu befragen und weiterzuentwickeln. Und wie es dafür Formen fin­det, die wahrhaftig sind, also sich gegen leichten Konsum sperren, und zugleich die Live-Situation des Theaters und die Möglichkeiten der ‚Ästhetik des Performativen‘ (Erika Fischer Lichte) ins Spiel bringen – nicht zuletzt um Themen der Gesellschaft (wieder) wohlgemerkt in künstlerischer, nicht belehrender Weise zu artikulieren und sich dabei auf einen immer weiter geöffneten Raum kultureller Divergenz ein­zustellen.66

Ersetzt man bei diesem programmatischen Satz des Theatertheoretikers HansThies Lehmann die beiden Lexeme „Theater“ durch „Gottesdienst“ bzw. „Zuschauer“ durch „Christenmenschen“, dann ist damit zugleich auch der Horizont abgesteckt, unter den zeitgenössische Gottesdienst-Ästhetiken gestellt sind. Wenn die Prinzipien der dra­maturgischen Narration und der theatralen Figuration ihre Dominanz einbüßen, dann wird auch eine gottesdienstliche Form, die z. B. als Themen- oder Kasualgottesdienst die Kohärenz des agendarischen Dramas suspendiert und darüber die liturgischen Rollen neu vermisst67, kaum noch als eine „Bebilderung“ traditioneller Formen funktio­nieren. Wenn, um mit Elfride Jelinek zu sprechen, gegeneinandergesetzte emphatische „Sprachflächen“68 z. B. in Lobpreisgottesdiensten den „Geist der Liturgie“ und mit ihm den „heiligen Ernst“ der gottesdienstlichen Inszenierung aufs Spiel setzen69, dann stellt sich das kultische Gesamtkunstwerk deutlich anders dar. Die „Bretter, die die Welt bedeuten“, müssen heute wie auch die symbolische Ordnung des religiösen Kosmos in der Diversität konfligierender Zeichen neu zusammengesetzt werden. 65 H.-Th. Lehmann: Theater, S. 73. 66 Ebd., S. 6. 67 Klaus Raschzok vertritt z. B. die These: „Der weite Mantel der gottesdienstlichen Gestaltungsaufgabe wird von den befragten Pfarrerinnen und Pfarrern über die Fülle an zu konstatierender Diversität des Gottesdienstver­ständnisses gebreitet.“ Raschzok, Klaus: Rolle der Pfarrerinnen und Pfarrer, in: Schulz, Claudia/Meyer-Blanck Michael (Hg.): Gottesdienstgestaltung in der EKD. Ergebnisse einer Rezeptionsstudie zum „Evangelischen Gottesdienstbuch“ von 1999, Gütersloh 2011, S. 176–180, hier S. 180f. Vgl. auch Klie, Thomas: Seine Rolle finden, in: Ders.: Fremde Heimat Liturgie. Ästhetik gottesdienstlicher Stücke, Stuttgart 2010, S. 51–65. 68 Vgl. Klessinger, Hanna: Postdramatik. Transformation des epischen Theaters bei Peter Handke, Heiner Müller und Elfriede Jelinek, Berlin 2015. 69 R. Guardini: Liturgie.

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In beiden Systemen – Kirche und Theater – ist natürlich keineswegs einfach „nur“ eine neue Struktur an die Stelle der alten getreten. Wie das „normale“ Dramen-Theater fortlebt und dadurch überhaupt erst die Wahrnehmung des Neuen als „postdramatisch“ ermöglicht, so ist in nahezu jeder Dorfkirche der Sonntagsgottesdienst der „Normal­fall“70 kultischer Kommunikation. Die Wahrnehmungsweisen eines Großteils der Rezipienten sind also nach wie vor noch durch die traditionelle Norm determiniert. Mainstream und Avantgarde stehen weniger in einem Aufhebungs- als in einem kom­plex-gebrochenen Zitationszusammenhang. Der Bruch kultureller Konventionen hebt nicht nur stilistische Dissonanzen ins Bewusstsein, er ist immer auch parasitär auf das Bestehende bezogen. Das Original ist selbst im Entzug noch präsent, die Dekomposi­tion eines gefühlt Ganzen ist immer relativ.

5.  P OSTDRAMATISCHE SPIELZÜGE – HEURISTISCHE SCHNEISEN Der emeritierte Frankfurter Germanist und Theaterwissenschaftler Hans-Thies Leh­mann benennt in seiner Programmschrift 11 „postdramatische Theaterzeichen“ als In­dices für den Paradigmenwechsel auf der Bühne: Parataxis/NonHier­archie, Simulta­neität, Spiel mit der Dichte der Zeichen, Überfülle, Musikalisierung, Szenogra­phie/visuelle Dramaturgie, Wärme und Kälte, Körperlichkeit, „konkretes Theater“, Einbruch des Realen und Ereignis/Situation. Insgesamt lässt sich an diesen Verschie­bungen eine „strukturell veränderte Qualität“ der theatralen Textur ablesen: „Er wird mehr Präsenz als Repräsentation, mehr geteilte als mitgeteilte Erfahrung, mehr Prozess als Resultat, mehr Manifestation als Signifikation, mehr Energetik als Information“.71 Rückt man diese Umcodierungen in eine liturgiewissenschaftliche Perspektive, dann kann es natürlich nicht darum gehen, hier lineare Entsprechungen auf Entwicklungen in der Symbolsprache kirchlicher Religion abzubilden. Ein Gottesdienst ist ein Gottesdienst – ein Theaterstück ist ein Theaterstück. Schließlich ist es ja gerade die bleibende Differenz beider Inszenierungsmuster, die die wechselseitige Wahrnehmung zu einer kreativen Erschließung werden lässt. Allerdings finden sich in der aktuellen Gottesdienstpraxis durchaus funktionale Äquivalente, die postdramatisch über sich aufzuklären wären. Wenn hier der Versuch gemacht wird, in exemplarischer Dichte die beiderseits fluiden Entwicklungen kritisch-ko70 Fechtner, Kristian/Friedrichs, Lutz (Hg.): Normalfall Sonntagsgottesdienst? Gottesdienst und Sonntagskultur im Umbruch, Stuttgart 2008. 71 H.-Th. Lehmann: Theater, S. 146.

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härent aufeinander abzubilden, dann soll hier ein liturgiewissenschaftliches Desiderat markiert werden. Der Frage, ob – und wenn ja, wie – genau bestimmte Entwicklungen in der kultischen Kommunikation mit einer postdramatischen Formensprache korrelieren, muss in detaillierten Untersuchungen nachgegangen werden. Wenn im Folgenden der Fokus auf sieben der elf Lehmannschen „Stilzüge des postdramatischen Theaters“ liegt, dann sollen damit lediglich einige heuristische Schneisen geschlagen werden. Parataxis/Non-Hierarchie – Die hiermit angedeutete Enthierarchisierung der Thea­termittel findet sich auch im Gottesdienst, vermehrt natürlich in den sog. „alternativen Liturgien“. Nach dem Urteil der Arbeitsgruppe „Andere Gottesdienste“ der Liturgi­schen Konferenz fällt bei diesen neuen Formen insbesondere „der niedrige Grad der Ritualisierung“ auf.72 Die einzelnen Rubriken, so sie denn erkennbar inszeniert sind, werden durch eine „ansprechende oder unterhaltsame Gestaltung in eine rezeptions­freundliche Form gebracht“, die „verbrauchte Formen“ meidet, um attraktiv zu wir­ken.73 Dies betrifft oft auch den Wegfall biblischer Lesungen und den Ausfall des Abendmahls. Nach Maßgabe einer unterhaltenden Religionspraxis74 scheint hier „jeder Einzelheit ... das gleiche Gewicht zuzukommen“75. Simultaneität – Hiermit ist das ästhetische Double-Bind gemeint, auf das konkrete Einzelne zu achten und dabei zugleich auch das Ganze wahrzunehmen. Der Ausfall einer Totalen in der gottesdienstlichen Kommunikation spiegelt sich direkt im Para­digma des „offenen Kunstwerks“ bzw. in der Ästhetik der „dramaturgischen Homile­tik“. Die performative Wende76 hat die Sensibilität für Gestaltungs- und Inszenierungs­fragen auch in der Predigttheorie gesteigert77, doch das Interesse an leiblichen Gestaltungen im Gottesdienst erweist sich in dieser Teildisziplin als durchaus ambivalentes Phänomen. Denn es zeichnet sich empirisch eine Tendenz ab, über die religi­onsästhetische Euphorie die klare Verständigung über die Gegenwartsbedeutung der Heiligen Schrift zu vernachlässigen. Martin Nicol und Alexander Deeg konzipieren die Kanzelrede im Bereich der 72 Vgl. in zeitdiagnostischer Perspektive den Essay von Byun-Cul Han: Vom Verschwinden der Rituale. Eine Topologie der Gegenwart, Berlin 2019. 73 J. Arnold: Andere Gottesdienste, S. 145. 74 Vgl. dazu Grözinger, Albrecht: Predigt als Unterhaltung. Bemerkungen zu einer verachteten homiletischen Kategorie, in: PTh 76 (1987), S. 425–440; Schroeter-Wittke, Harald: Unterhaltung. Praktisch-theologische Ex­kursionen zum homiletischen und kulturellen Bibelgebrauch im 19. und 20. Jh. anhand der Figur des Elia, Frankfurt/M. 2000. 75 H.-Th. Lehmann: Theater, S. 148. 76 Ausführlich dazu: Th. Klie: Performanz, S. 342–356. 77 Das ästhetische Paradigma ist deutlich greifbar im Lehrbuch von Grözinger, Albrecht: Homiletik. Lehrbuch Praktische Theologie Bd. 2, Gütersloh 2008.

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formalen Homiletik78 programmatisch gemäß einer theatralen Logik.79 Allerdings werden die Theoriebezüge mit dem Hinweis auf die Nähe zu den „Performing Arts“ nur angedeutet. Nicol sieht die Predigt als ein „Ereignis in Analogie zur Performance im Bereich der Performing Arts“80. „Auf der Kanzel werden nicht Gedanken in einzelnen Punkten entwickelt, sondern bewegte Bilder in Sequenzen und Moves inszeniert.“81 Nicol versteht den biblischen Text hermeneutisch als „arrested performance“, der in „situationsbezogenen Interpretationen des Textes“ wieder zu „,Aufführungen‘ (performances)“ werden soll.82 Wenn dann „bewegte Sequenzen“, sog. „moves“, wie in einen Film aneinandergereiht werden und durch Schnitte eine „structure“ erhalten83, dann tritt die Analogie zum theatralen Performance-Verständnis deutlich hervor. Die „Dramaturgische Homiletik“ adaptiert die Einsichten der amerikanischen „New homiletic“ (u. a. Wilson, Buttrick, Wardlaw, Lischer) für den deutschen Sprachraum, sie ist aber wie die „Liturgische Präsenz“ eine systematisch eher unterbestimmte Praxistheorie. Die Generalthese dieser „neuen Homiletik“ (to make things happen) paraphrasiert einerseits den Titel von John Austins Klassiker (How to do Things with Words84), rekurriert aber theologisch auf die Hermeneutiken von Ebeling und Fuchs („Sprachereignis“ bzw. „Wortgeschehen“), die hier die wesentlichen Impulsgeber in den USA waren.85 Postdramatisch relevant ist in diesem Zusammenhang die Inszenierung eines Rezeptionsprozesses, der die Rezipienten den kohärenten Inhalt einer Predigt nur zu den Bedingungen sich reihendender „moves“ imaginieren lässt. Die 78 Nicol, Martin: Einander ins Bild setzen. Dramaturgische Homiletik, Göttingen 12002; Nicol, Martin/Deeg, Ale­xander: Im Wechselschritt zur Kanzel. Praxisbuch Dramaturgische Homiletik, Göttingen 12005. 79 Peter Cornehl bilanziert: „Die Liturgik befindet sich im Aufwind. Dagegen scheint das evangelische Flagg­schiff Homiletik momentan unter einer gewissen Flaute zu leiden, die hoffentlich bald vorübergeht.“ Cornehl, Peter: Der Evangelische Gottesdienst – Biblische Kontur und neuzeitliche Wirklichkeit, Bd. 1: Theologischer Rahmen und biblische Grundlagen, Stuttgart 2006, S. 14. 80 M. Nicol: Homiletik, S. 34. 81 Ebd., S. 36. 82 Ebd., S. 59. 83 M. Nicol/A. Deeg: Wechselschritt, S. 13ff. 84 Austin, John Langshaw: Zur Theorie der Sprechakte, Stuttgart 1972 [How to do Things with Words. Har­vard 1955]. 85 Dies berichtet Martin Nicol in seiner Erlanger Antrittsvorlesung: Preaching from Within. Homiletische Positionslichter aus Nordamerika, PTh 86 (1997), S. 295–309; vgl. Möller, Christian: Die homiletische Hinter­treppe. Zwölf biographisch-theologische Begegnungen, Göttingen 2007, S. 104f.

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hermeneutische Qualität der syntaktischen Ebene („structure“) sistiert damit de facto das Ideal einer expliziten Verknüpfung der Sinnelemente im rhetorischen Artefakt. Zugespitzt formuliert riskiert die Ästhetik der „Dramaturgischen Homiletik“ in der Praxis eine auf das Ganze zielende Sinnbildung, weil – in der Sprache Lehmanns – die „Strukturbildung stets nur als Ankoppeln an ausgewählte einzelne Substrukturen oder Mikrostrukturen der Inszenierung möglich ist und nie das Ganze erfasst“.86 Musikalisierung – Mit diesem Stilmittel ist beim Theater weniger die Entwicklung des Musiktheaters gemeint als vielmehr eine „weitergehende Idee von Theater als Musik“. Es geht hier um das rezeptionsästhetische Phänomen, das hierüber eine ganz „eigene auditive Semiotik“ entsteht.87 Im Bereich der aktuellen Gottesdienstgestaltung lässt sich diese Tendenz auch beobachten: Das Predigtlied, das im Idealfall die Gedanken der Predigt aufnimmt und die Gemeinde entsprechend „mündig“ macht, wird vielfach durch „meditative“ Orgelmusik ersetzt. An hochfrequentierten Feiertagen (Osternacht, Heiligabend) scheinen Predigtgottesdienste auf dem Rückzug zu sein und werden durch entsprechende konzertante Formate substituiert. Die „alternativen Gottesdienste“ sind sehr viel stärker als die sonntäglichen Gottesdienste durch eine Sphäre nieder­schwellig-populärer Musik bestimmt.88 Bei vielen Kasualien, vor allem aber bei Trauerfeiern89, rückt Instrumentalmusik ins Zentrum, die als mediale Konserve eingespielt wird. Aus der singenden (Kasual-)Gemeinde scheint mehr und mehr eine Musik hörende Gemeinde zu werden. – Was aber bedeutet diese Entwicklung, wenn sie sich denn zu einer liturgischen Dominante auswächst? Die Tradition des inhaltsstarken protestantischen Chorals ist schließlich kein liturgisches Adiaphoron, das sich schadlos durch einen instrumentalen Wohlklang substituieren ließe. Eine womöglich bald nur noch schweigende Gemeinde wäre zumindest keine evangelische Gemeinde mehr.

86 H. -Th. Lehmann: Theater, S. 151. 87 Ebd., S. 155 (Hervorhebungen im Original). 88 „Anders“ sind die „anderen Gottesdienste“ insbesondere „durch ihre andere Musik, und zwar, wie sofort zu präzisieren ist, durch ihre in zahlreichen Spielarten andere Musik. Die gewählte Musikart bringt an den Tag, welche Besucherschaft, welches Milieu ein konkreter ‚anderer‘ Gottesdiensttyp intendiert ist.“ – Arnold, Andere Gottesdienste, S. 157. 89 Vgl. v. a. Reinke, Stephan Alexander: Musik im Kasualgottesdienst. Funktion und Bedeutung am Beispiel von Trauung und Bestattung, Göttingen 2009; Blume, Cäcilie: Populäre Musik bei Bestattungen. Eine empirische Studie zur Bestattung als Übergangsritual, Stuttgart 2014.

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Szenographie, visuelle Dramaturgie – Bilder bestimmen nicht nur die digitalen Me­dien, sie dringen im Zeichen ihrer nahezu beliebigen technischen Reproduzierbarkeit auch in Theater- und Gottesdienstinszenierungen ein. Visuelle Dramaturgie heißt hier nicht die leiblich-gestische Bebilderung eines Textes, sondern die Entgrenzung des Bildgebrauchs bzw. ein quasi autonomer Bildgebrauch, der sich nicht einem Text un­terordnet.90 Dieses Phänomen, das durch den mittlerweile obligatorischen Beamer-Ein­satz zu einem Charakteristikum alternativer Gottesdienste geworden ist, äußert sich weniger in den Sonntagsgottesdiensten als im Phänomen der Kasualfotographie.91 Bei Trauerfeiern zählt das große Standbild des Verstorbenen bereits zur Standardrequisite. Viele Trauungen und Konfirmationen werden komplett videographisch erfasst, und die Modalitäten der Aufzeichnung werden zum Gegenstand – nicht selten kontroverser – Aushandlungsprozesse mit den Liturgisierenden. Dabei zwangsläufig aufkommende fundamentalliturgische Fragen nach Repräsentation und Referenz sind noch nicht ein­mal ansatzweise beantwortet. Körperlichkeit – In diesem Bereich theatraler Zeichen hat die evangelische Liturgie eine insgesamt erfreuliche Entwicklung zu verzeichnen. Die Valenz leiblicher Gestal­tung wird derzeit sehr viel stärker wahrgenommen als noch vor 20 Jahren. Auch die hierauf reflektierende Liturgik hat, nicht zuletzt auf der Basis theatertheoretischer Überlegungen, ein hohes Niveau erreicht. Wenn auch bei manchen Übungen zur „li­turgischen Präsenz“ nach der spezifisch religiösen Darstellungsfunktion zu fragen wäre, ist doch das allgemeine pastorale Problembewusstsein diesbezüglich deutlich gestiegen. Die Gefahr einer „autosuffizienten Körperlichkeit“ bzw. einer „auratischen Präsenz“92, die nach Lehmann die Semiotizität des Theaters in Frage stellt, scheint für den evangelischen Gottesdienst (noch) nicht zu bestehen. Einbruch des Realen – Interessanter wird es dann schon bei dem von Lehmann attes­tierten Phänomen eines „Ausbleibens fiktiver Illusionierungen“93 durch das Eindringen nicht-theatraler Wirklichkeit in die symbolische Ordnung. Was sich im Theater durch Gespräche mit dem Publikum, Einspielungen tagesaktueller Nachrichten oder im Ext­remfall: Selbstverletzungen (Marina Abramovic) etc. materialisiert, geschieht in (evangelischen) Gottesdiensten immer dann, wenn 90 H.-Th. Lehmann: Theater, S. 159. 91 Vgl. Marks, Matthias: Trost im Angesicht des Toten? Zur Bedeutung der Kasualfotographie in der heutigen christlichen Trauer- und Bestattungskultur, in: Klie, Thomas/ Kumlehn, Martina u.a. (Hg.): Praktische Theologie der Bestattung, PThW, Bd. 17, Berlin 2015, S. 543–574. 92 H.-Th. Lehmann: Theater, S. 163. 93 Ebd., S. 172.

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im liturgischen Formenspiel von symbolischer Kommunikation auf Information umgeschaltet wird (regelmäßig ist dies bei den Abkündigungen der Fall94, häufig in Predigten und regelmäßig bei sog. „Vor­stellungsgottesdiensten“, wenn nicht liturgisch agierende Gäste der Gemeinde präsen­tiert werden, z. B. Konfirmanden, Presbyter, Partnergemeinden). Zu denken ist in die­sem Zusammenhang auch an die Formate der Literatur-, Kino- und Theatergottes­dienste, bei denen andere Medien liturgisch ausgestellt werden. Zum Programm erho­ben ist diese „Realpräsenz“ para-liturgischer Personen z. B. bei den „Gottesdiensten mit Lebensexperten“95 oder ähnlichen Gottesdienstformaten. Friedrichs fasst dieses Stilelement „alternativer Gottesdienste“ unter der Überschrift „authentisch“ zusam­men: „Die Religionsfrage wird im institutionenkritischen Modus subjektiver Authenti­zität thematisiert. […] Nicht Amt und Institution, sondern persönliche Authentizität und Überzeugungskraft sichern die Botschaft ab. Deshalb kein Talar, deshalb der Bistrotisch“.96 Auch in die Predigt eingelagerte „Interviews“ mit Gottesdienstbesuchern oder Bibliolog-Sequenzen97 schaffen wie der bewusste Verzicht auf liturgische Kleidung eine Wirklichkeit eigenen Rechts, die die liturgischen Codierungen über das Stilmittel der Veralltäglichung umspielt. Hier konkurriert die Zeichenhaftigkeit der Darstellung mit einer „deutungslosen Konkretheit“, die „die Ästhetik des Einbruchs des Realen erst möglich macht“.98 Ereignis/Situation – Auch in diesem genuin theatralen „Stilzug“ lassen sich riskante Parallelen zwischen postdramatischem Theater und spätmoderner Liturgie aufweisen, ohne jedoch die bleibenden Differenzen zwischen beiden Inszenierungsformen vor­schnell zu verwischen. Die empirisch belegbare „Kasualisierung“ der Gottesdienst­kultur ist eine Nebenfolge eines sich wandelnden Zeitgefühls. Der kulturell wahr­nehmbare Lebensrhythmus vieler Zeitgenossen ist immer weniger durch wöchentliche Routinen bestimmt als durch fragmentierte „Zeitfenster“ und exponierte Anlässe, die eine ästhetische Verbesonderung verheißen. Die fortschreitende Erosion des – für Protestanten ohnehin ungewöhnlichen – regelmäßigen Gottesdienstbesuchs verstärkt diesen Trend zur Schaffung neuer liturgischer 94 Vgl. Klie, Thomas: Gemeinde prosaisch – die Abkündigungen, in: Ders.: Fremde Heimat Liturgie, S. 157–170. 95 Hirsch-Hüffel, Thomas: Gottesdienst mit Lebensexperten, in: Kathrin Oxen/Dietrich Sagert (Hg.): Übergänge. Predigt zwischen Kultur und Glauben, Leipzig 2013, S. 51– 84. 96 M. Friedrichs: Alternative Gottesdienste, S. 20. 97 Vgl. Pohl-Patalong, Uta: Bibliolog. Gemeinsam die Bibel entdecken im Gottesdienst – in der Gemeinde – in der Schule, Stuttgart 2006; Aigner, Maria Elisabeth: Bibliolog und Bibliodrama als pastorale Lernorte, Stuttgart 2014. 98 H.-Th. Lehmann: Theater, S. 175.

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Propria im Inszenierungsrahmen des sonntäglichen Ordinariums. Die regional definierten Propria sind so vielfältig wie deren heortologische Konsequenz – insgesamt und in the long run – präzise zu bestimmen ist: als Entritualisierung des Ordinariums. Die liturgische Kultur der Gegenwart tendiert dazu, gottesdienstliche Ereignisse künstlich zu schaffen, die sich primär nicht aus der Wahrung einer heiligen Zeit legitimieren, sondern die sonntäglich-obligatorische Repräsentation der Ostererfahrung nur noch als pragmatischen Slot für andere gemeindliche Kasus zu nutzen. Wenn situativ vordringlich Gebotenes den liturgischen (Sonntags-) Takt angibt, dann hat dies durchaus Anklänge an einen theatralen Gestus, der von seiner ‚pragmatischen‘ Einbettung in das Ereignis und die Situation des Theaters insgesamt nicht mehr abzulösen ist, sein Gesetz sich nicht mehr von der Repräsentation im Rahmen dieses Ereignisses herleitet oder von seinem Charakter als dargebotener Realität, sondern von der Intention, ein Ereignis herzustellen oder zu ermöglichen. In diesem postdramatischen Ereignistheater geht es um das im Hier und Jetzt real werdende Vollziehen von Akten, die in dem Moment, da sie geschehen, ihren Lohn dahin haben und keine bleibenden Spuren des Sinns, des kulturellen Monuments usw. hinterlassen müssen.99

6.  EPILOG Die im letzten Kapitel zusammengestellten Deutungen performativer Praxis wären missverstanden, läse man sie als eine liturgische Verfallsgeschichte. Gerade evange­lische Gottesfeiern zeichnen sich durch eine besondere gesellschaftliche Bezogenheit und religionskulturelle Schmiegsamkeit aus. Eine besondere Pointe liturgiewissen­schaftlicher Reflexion ist die dramaturgisch ausgewiesene Perspektive auf das heilige Spiel und seine Inszenierungsmodalitäten, die mit Heinrich Alt Mitte des 19. Jh. ihren Anfang nahm. Intendiert ist mit diesem Beitrag eine Stärkung dieser überaus frucht­baren Sinnsicht. Eine Liturgik, die dramaturgisch auf Augenhöhe argumentieren will, muss jedoch ihre Kategorien nachjustieren, um nicht in überkommenen Deutungsrou­tinen zu verharren. Das letzte Wort soll hier noch einmal Hans-Thies Lehmann be­kommen, der mit einem auch und gerade in liturgischer Hinsicht prophetischen Aus­blick, die Richtung andeutet, in die fortzuschreiten angezeigt ist: Vielleicht eröffnet das postdramatische ein neues Theater, in dem sich dramatische Figurationen, nach­dem sich Drama und Theater so weit auseinandertrieben, wieder zusammenfinden. Eine Brücke könnten die narrativen Formen, die schlichte, auch triviale Aneignung 99 Ebd., S. 178 (Hervorhebungen im Original).

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der alten Geschichten, nicht zuletzt auch das Bedürfnis nach einer Wiederkehr bewusster und artifizieller Stilisierung sein, um dem naturalisti­schen Bilderschaum zu entrinnen.100

100 Ebd., S. 260.

Licht an. Licht aus. Abwesenheit und Erfahrung Dietrich Sagert

Wenn während der sogenannten Lutherdekade und somit auch während des Jahres 2017 ein genuin lutherisches Thema gänzlich ausfiel, dann war es Luthers endzeitlicher Furor. Das beängstigende finale Grollen am Himmel ist verstummt. Und niemand hätte das angemessener zum Ausdruck bringen können als der berühmteste Student der Universität Wittenberg – nämlich: Hamlet. Und zwar mit Worten aus der Überlieferung Heiner Müllers: „Mein Drama findet nicht mehr statt.“1 – Das ist postdramatisch. Postdramatisch in dem Sinne, in dem sowohl griechisches Theater als auch christlicher Gottesdienst schon immer postdramatisch sind, nämlich „Nach der Tragödie“2; man könnte auch sagen, nach der Katastrophe oder nach dem Opfer. Und postdramatisch im lutherischen Sinne, der darin besteht, dass die lutherische Interpretation des paulinischen ex auditu mit der Übersetzung „aus der Predigt“3 einer radikalen Verschiebung vom Wer zum Was gleichkommt und somit eine entschieden entdramatisierende4 Praxis darstellt: Wo Drama war, soll Lehre werden.

1 Müller, Heiner: Hamletmaschine, 1977, 4. 2 Vgl. Nancy, Jean-Luc: Nach der Tragödie, Stuttgart 2008; Sagert, Dietrich: Immer schon danach. Vom Nutzen und Nachteil der Theatergeschichte und –Theorie für die künstlerische Ausbildung, http://www.predigtzentrum.de/content/documents/sagertvorlesung-klein.pdf (Zugriff 20.09.2019). 3 Sagert, Dietrich: Wer da?, Blog | Dietrich Sagert http://www.predigtzentrum.de/Seiten/ Blog%20von%20Dietrich%20Sagert.html (Zugriff 20.09.2019), Eintrag vom 20.11. 2017. 4 Vgl. Deleuze, Gilles: Die Methode der Dramatisierung, in: ders: Deux régimes de fous. Textes et entretiens 1975–1995, Paris 2003, S. 131–162. Zu bildtheoretischen Aspekten

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Weniger Drama geht nicht – meine Damen und Herren – und das erlebt man ja auch. Die Rezeptionen theatralischer und ästhetischer Theorien in theologischen Diskursen ändern an der Praxis in den Gottesdiensten und Predigten wenig. Das liegt zumindest teilweise daran, dass sie mit der Praxis in den Theatern kaum verbunden sind und daher stets etwas bemüht und wie von außen herangetragen wirken. – Ich vergröbere. Aber es kommt noch schlimmer: Das, was seit einigen Jahren postdramatisches Theater genannt wird und seine prominenteste theoretische Ausformung von Hans Thies Lehmann erfuhr,5 müsste theologische Theateraffinitäten schlagend als ein Missverständnis erweisen. Denn postdramatisches Theater kritisiert zuallererst die Dominanz des Wortes auf der Bühne und damit eine Hierarchie der künstlerischen Mittel einschließlich der Konzentration des Dramas auf einen psychologischen Konflikt. Wieder hat der berühmteste Student der Universität Wittenberg die passenden Worte: „Ich spiele keine Rolle mehr. Meine Worte haben mir nichts mehr zu sagen. […] Ich spiele nicht mehr mit.“6 Um diesem liebenswerten, aber doch Missverständnis zwischen Theaterwissenschaft und Liturgiewissenschaft einerseits und Homiletik andererseits zu entkommen, müsste man das Dramatische eines Gottesdienstes postdramatisch rekonstruieren. Man müsste also danach fragen, wo das Drama geblieben ist. In mindestens zwei Feldern lohnt es sich, zu suchen. Das eine Feld ist die Musik und hätte seine zentrale Referenz bei Bachs Matthäuspassion und ihrer für unseren Zusammenhang exemplarischen szenischen Realisierung an der Berliner Philharmonie von 20107 unter der Leitung von Simon Rattle und dem amerikanischen Regisseur Peter Sellars.8 Das andere Feld ist das Bild. Und damit haben wir das Thema dieser Tagung in den Blick genommen.9

dieser These vgl. Koerner, Joseph L.: Die Reformation des Bildes, München 2017, S. 41, S. 515. 5 Vgl. Lehmann, Hans-Thies: Postdramatisches Theater, Frankfurt am Main, 1999. 6 H. Müller: Hamletmaschine, 4. 7 Bach, Johann Sebastian: Matthäuspassion, Berliner Philharmoniker, Berlin 2010. Siehe auch: https://www.berliner-philharmoniker-recordings.com/rattle-sellars-matthaeus-passion.html. 8 Vgl. Sagert, Dietrich: Passio, in: Ders.: Versteckt. Homiletische Miniaturen, Leipzig 2016, S. 138–145. 9 „Bild und Performanz. Zur Bildlichkeit in der liturgischen Dramaturgie“; 15.–17. März 2018; Theologische Fakultät Rostock.

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1.  ICONOCLASH Der amerikanische Kunsthistoriker Joseph Leo Koerner hat vor mehr als zehn Jahren während eines einfachen Seminares eine Entdeckung gemacht. Koerner war dabei, seinen Studenten die Doppeldeutigkeit des berühmten Gemäldes Das Kreuz im Gebirge (1807/08) von Caspar David Friedrich zu erläutern.

Abbildung 1: Caspar David Friedrich, Das Kreuz im Gebirge, 1807/08, Öl auf Leinwand. Staatliche Kunstsammlungen Dresden, Gemäldegalerie Alte Meister

Die Doppeldeutigkeit bestand darin, dass Friedrich das Bild als Altarbild malte und die Auftraggeberin es in ihrem Schlafzimmer anbrachte.10 „Im Zuge der Reformation und der Aufklärung sei an die Stelle der organisierten Religion als dem 10 Vgl. Koerner, Joseph Leo: Caspar David Friedrich. Landschaft und Subjekt, München 1998, S. 57–60.

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Ort spiritueller Transzendenz das private Erleben von Kunst und Natur getreten.“11 Zur Veranschaulichung hatte Koerner das Bild während seiner Erläuterungen als Dia an die Wand des Seminarraumes hinter sich projiziert. Er nutzte dazu einen Überblend-Diaprojektor und hatte den linken Projektor bedient. Zum Vergleich und als Beleg seiner These schaltete er den rechten Projektor ein und projizierte ein weiteres Kruzifix an die Wand: die ebenfalls berühmte Predella des Altargemäldes von Lucas Cranach in der Wittenberger Stadtkirche von 1547.

Abbildung 2: Lucas Cranach d. Ä., Wittenberger Altar, 1547, Öl auf Holz, Stadtkirche Wittenberg

Cranach habe hier sein Kruzifix bewusst aus der Predigtszene herausgelöst und weder eine historische Kreuzigung noch eine Wundererscheinung oder ein geschnitztes Kruzifix dargestellt, sondern er habe in diesem zentralen Bild der Reformation einen ersten Schritt markiert, der in Friedrichs Landschaft ende. „Hatte die Reformation das Heilige in der abgesonderten Sphäre des inneren Glaubens angesiedelt, so erkundete die Romantik die dadurch entstandene Leere.“12 „Als ich jedoch“, so schildert Joseph Leo Koerner, „auf meinem Podest einen Schritt nach rechts trat, um auf die Stelle zu deuten, wo Cranach diese epochale Enthebung des Kreuzes dargestellt hat, geschah etwas Unerwartetes. Während ich auf das Kreuz zeigte, warf meine Hand genau da einen Schatten auf das an die Wand projizierte Bild, wo Luther seine Finger zu Christus hin ausstreckt. Und auf einmal schien alles miteinander zu verschmelzen. Prediger und Lehrer, Kanzel und Podest, Predigt und Vorlesung, Pfarrgemeinde und Studenten, fensterloser Chor und abgedunkelter Hörsaal. Alles schien Teil ein und desselben Gefüges zu sein. Und hier wie dort, als nach wie vor intendierter Bezugspunkt der Aufmerk11 Koerner, Joseph L.: Die Reformation des Bildes, 2017, S. 19. 12 Ebd., S. 20.

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samkeit, stand etwas im Zentrum, das – an der Wand hinter mir ebenso wie in Cranachs und Friedrichs Gemälde – auf fast unheimliche Weise projiziert statt unmittelbar verfügbar zu sein schien: das Bild, um das es ging, die Ikone Gottes.“13 In seinem im Jahre 2007 erschienenen und zehn Jahre später (2017) in die deutsche Sprache übersetzten Buch „Die Reformation des Bildes“ schildert Koerner die Entdeckung seines Seminares und kommt immer wieder auf sie zurück: Der Finger von Joseph Leo Koerner hatte „unbeabsichtigt auf das Bild des Gekreuzigten gedeutet.“14 Diese Geste führt Koerner zu der Erkenntnis, dass Cranachs und Friedrichs Kruzifixe „paradigmatische Instrumente“15 einer künstlerischen Praxis sind und als solche „Ikone und Ikonoklasmus zugleich“16. Beide Künstler hatten sich als historische Voraussetzung bilderstürmerischer Attacken zu erwehren, der eine durch die Wittenberger Bilderstürmer um Karlstadt, der andere durch Napoleon. „Beide verwendeten das Kruzifix, um dem Hammerschlag Einhalt zu gebieten, der ihnen Raum gegeben hatte, und ihn zugleich zu wiederholen: Cranachs Bild, indem es das Heilige von einer Welt der Fakten reinigte; Friedrichs Bild, indem es das Heilige in einer verarmten Welt aufspürte.“17 Das Kruzifix „stellt nicht einfach nur in einer von Bildern gereinigten Kirche ein sakrales Bild wieder her. Es verharrt vielmehr selbst in einem Zustand des Enthoben-Seins und bekräftigt mit bildnerischen Mitteln, dass das, was es zeigt anderswo und unsichtbar ist. Doch während es sein Erscheinen in dialektischer Weise negiert, behauptet es dennoch beharrlich seinen Platz.“18 Damit kommen wir zur zentralen Kategorie dieses ersten Teiles: Diese „Gleichzeitigkeit des Bilderbesitzens und Bilderzerstörens“ bezeichnet Koerner mit einem Wort des französischen Soziologen Bruno Latour als iconoclash. Latour hatte den Begriff iconoclash für eine gemeinsam kuratierte Ausstellung am Zentrum für Kunst und Medien in Karlsruhe geprägt.19 Wie schon bei Joseph Leo Koerner, so spielt auch bei Bruno Latours Konzept des iconoclash die Hand eine wichtige Rolle. Latour definiert iconoclash als „das, was eintritt, wenn Ungewissheit über die genaue Rolle der Hand besteht, die bei der Produktion eines [Bildes] am Werk ist: Ist es eine Hand mit einem Hammer, die im Begriff ist zu denun13 Ebd. 14 Ebd., S. 20f. 15 Ebd. 16 Ebd., S. 22. 17 Zu den kunstgeschichtlichen Konsequenzen vgl. ebd., S. 24f., S. 49–55. 18 Ebd., S. 24. 19 Vgl. ebd., S. 23. In seinem Beitrag zur Ausstellung stellte Koerner die These seines Buches erweitert dar und stellte fest, dass das christliche Bild in diesem Sinne von Anfang an ikonoklastisch war.

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zieren, zu entlarven, aufzudecken, bloßzustellen, zu enttäuschen, zu entzaubern, Illusionen aufzulösen, Luft rauszulassen? Oder ist es im Gegenteil eine achtsame und vorsichtige Hand, mit offener Handfläche, wie um Wahrheit und Heiligkeit zu ergreifen, herauszuholen, hervorzulocken, in Empfang zu nehmen, hervorzubringen, aufzunehmen, aufrechtzuerhalten, zu sammeln?“20 Nicht zufällig findet sich eine solche Ungewissheit über die Rolle der Hand in vielen Bildern selbst

Abbildung 3: Anonymer deutscher Künstler, Das Heilige Herz von Engeln gehalten, um 1480, handkolorierter Holzschnitt, Staatliche Museen zu Berlin, Kupferstichkabinett

20 Latour, Bruno: Iconoclash. Gibt es eine Welt jenseits des Bilderkrieges, Berlin 2002, S.15f.

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abgebildet. Joseph Leo Koerner las die Predella des Cranachaltares auf diese Art und – Sie erinnern sich – er hatte prompt seine eigene Hand im Spiel. Der französische Kunsthistoriker und Philosoph Georges Didi-Huberman deutet derartige Phänomene als Montage.21 Mit dieser Deutung des iconoclash als Montage entfalten wir die zentrale Kategorie unserer postdramatischen Rekonstruktion des Dramatischen im christlichen Gottesdienst auf dem Feld des Bildes. Zugleich markieren wir den Übergang vom Bildlichen ins Performative. „Zu was wird hier der Körper Christi? Auf diese Frage könnte man antworten, dass der Glaube und die Andacht eine Montage erfordern, die aus dem angebeteten Leib einen buchstäblich ‚unglaublichen‘, einen zugleich zerteilten (zerstückelten, auseinandergerissenen) und wieder zusammengesetzten Organismus macht: Einen wie in einem Rebus oder in einem Traum fortwährend verschobenen und verstellten Körper. Die Montage dramatisiert und fokussiert den Blick, indem sie neue organische Hierarchien erfindet. So ist das offene Herz hier der Teil, der beinahe monströs für das Ganze steht; […] Die dramatische ‚Nahaufnahme‘ dringt bis ins Innere des Leibes vor, sie wird zur paradoxen Endoskopie eines abwesenden Körpers. Gleichzeitig erfindet die Montage unerhörte Zusammenhänge, indem sie den Organismus der Passion überall ausbreitet. Sie zwingt den Blick zu einem Zickzackkurs von einer Figur zur nächsten, um aus jeder isolierten Figur die exegetische Figur aller anderen Figuren zu machen.“22 Mit folgenden Gesten kennzeichnet Didi-Huberman die Arbeit der Montage: Zugleich zerteilen und wieder zusammenfügen; neue unerhörte Zusammenhänge erfinden durch variable Anordnungen von innen und außen, Teil und Ganzes; einen Zickzackkurs des Blickens und Denkens verfolgen. Ihr heuristisches Prinzip besteht darin, aus jeder isolierten Figur die exegetische Figur aller anderen zu machen. Das – meine Damen und Herren – ist das Gegenteil von linearem Einordnen. Die Arbeit der Montage bringt Bewegung ins Wahrnehmen und Denken, sie dramatisiert, erzeugt Reibung und Konflikt. Didi-Hubermann fasst diese Bewegung als oszillierende Bewegung zwischen Anwesenheit und Abwesenheit zusammen. Er geht soweit, in dieser Bewegung zwischen Anwesenheit und Abwesenheit das Konstitutivum des Glaubens zu sehen: „Vermutlich gibt es keinen Glauben, ohne das Verschwinden eines Körpers. […] So hört Christus niemals auf, sich zu manifestieren, zu verschwinden und schließlich sein Verschwinden selbst zu manifestieren. Fortwährend öffnet er sich und verschließt sich wieder. Fortwährend kommt er zum Greifen nahe und zieht sich wieder zurück bis ans Ende der Welt. Beispielsweise, wenn er in seinem demütigen Tod und seinem 21 Vgl. J. L. Koerner: Reformation, S. 187. 22 Didi-Huberman, Georges: In den Falten des Offenen, in: Ders.: Phasmes, Köln 2001, S. 217.

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Begräbnis entschwindet, aber bald darauf in seiner glorreichen Auferstehung zurückerscheint. Seine Auferstehung bedeutet zugleich aber auch, in einer dialektischen Wendung, dass mit ihr die Zeit eines erneuten Verschwindens beginnt, die nun aber durch den Glauben ausgezeichnet ist: die menschliche Zeit, die Zeit der Gemeinschaft und der Liturgie, in der seine Abwesenheit zum Warten auf seine Wiederkehr […] wird.“23 Und wir gehen in unserer postdramatischen Rekonstruktion des Dramatischen noch einen Schritt weiter und analysieren die Bewegung der Montage selbst: Mit der Montage überträgt Didi-Huberman nämlich eine Kategorie des Kinos auf die Malerei zurück. Er nimmt damit nicht nur den Gedanken von Gilles Deleuze auf, dass das Bewegungsbild des Kinos das Denken selbst in Bewegung bringt. Deleuze sagt, dass die eigentliche Projektionsfläche eines Filmes das Gehirn sei, –­­le cerveau, c’est l’écran – sondern auch den Gedanken von Deleuze, dass sich in einem Bild die Zeit selbst bewegt: „[…] Es scheint mir offensichtlich, dass ein Bild nicht in der Gegenwart ist. Das was in der Gegenwart ist, ist lediglich das, was ein Bild ‚repräsentiert‘, aber nicht das Bild selbst. Das Bild selbst ist ein Ensemble von Zeitverhältnissen, durch die die Gegenwart nur hindurch fließt, sei es als vielfältige Gemeinsamkeit, sei es als kleinster gemeinsamer Teiler. Die Zeitverhältnisse sind nie in der gewöhnlichen Wahrnehmung zu sehen, aber sie sind im Bild, sobald es schöpferisch ist. [Ein Bild] macht die Zeitverhältnisse fühlbar, sichtbar, die nicht auf die Gegenwart reduzierbar sind.“24 Wir rekapitulieren: Iconoclash: Die Gleichzeitigkeit von Bilderbesitzen und Bilderzerstören oder die Ungewissheit über die Rolle der Hand. Montage: Zugleich zerteilen und zusammenfügen oder aus jeder isolierten Figur die exegetische Figur aller anderen machen. Bewegung zwischen Anwesenheit und Abwesenheit: Manifestieren, verschwinden, schließlich das Verschwinden selbst manifestieren oder fortwährend öffnen und wieder verschließen. Bewegung der Zeit: Ein Ensemble von Zeitverhältnissen, durch die die Gegenwart hindurchfließt oder Zeitverhältnisse, die nicht auf die Gegenwart reduzierbar sind. Mit diesen Begriffen haben wir vom reformatorischen Bild ausgehend rekonstruiert, wie das Dramatische im Gottesdienst postdramatisch gedacht werden kann. Nun ist hier nicht der Ort, sämtliche Aspekte eines Gottesdienstes genauer zu durchdenken. Welch einen Effekt unsere Begriffsvorschläge allerdings auf gottesdienstliches bzw. liturgisches Denken haben können, will ich Ihnen an einem Beispiel skizzieren. Nehmen wir nur die liturgischen Zeitbegriffe: Advent, anam23 Ebd., S. 211. 24 Deleuze, Gilles: Le cerveaux, c’est l’écran, in : Ders.: Deux régimes de fous. Textes et entretiens 1975–1995, Paris 2003, S. 270; Didi-Huberman, Georges: Quand les images prennent position- L’Œil de l’histoire, 1, Paris 2009, S. 171–179, hier S. 175.

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nesis/zikkaron, kairos, archè/bereschit, telos (synteleia) und setzen sie in Bewegung. Zunächst als einzelne Zeitbewegungen aus unterschiedlichen Richtungen auf einander zu bzw. voneinander weg; dann als zusammengesetzte, wechselseitige Bewegungen; schließlich mit unterschiedlichen Geschwindigkeiten und unterschiedlichen, wechselnden Gegenwartsbezügen … eben als Ensemble von Zeitverhältnissen, durch die die Gegenwart hindurchfließt, die sich aber nicht auf die Gegenwart reduzieren lassen. Eine von hier aus entwickelte Dramaturgie des Gottesdienstes würde eher einem Strudel gleichen als einer Linie oder einem Faden gleich welcher Farbe. Im Folgenden möchte ich zu einigen praktischen Konsequenzen meiner Überlegungen kommen und wechsele damit direkt ins performative Feld.

2.  ABWESENHEIT UND ERFAHRUNG Der Komponist und Theaterregisseur Heiner Goebbels reflektiert in seinem gleichnamigen Buch eine Ästhetik der Abwesenheit. Er tut dies auf eine erfrischend unsystematische Art und geht dabei von seiner praktischen Theaterarbeit aus. Ich möchte auf folgende Stichworte von Heiner Goebbels zurückkommen und sie in Bezug auf den Gottesdienst kommentieren: 1. Abwesenheit kann „als Verschwinden des Schauspielers/Performers aus dem Zentrum der Aufmerksamkeit“, was ein „Verschwinden von der Bühne“ einschließen kann, konkretisiert werden.25 Warum steht eigentlich im evangelischen Gottesdienst immer jemand vorne? Mit steigender Tendenz stehen Pfarrer – wenn Wege weit sind, sogar bei kürzeren Liedteilen – ständig im Altarraum herum. Inklusive so komischer Situationen, in denen er/sie sich selbst die liturgisch vorgesehenen Antworten gibt. (Wir erinnern uns: Liturgie ist responsiv oder antiphonisch konstruiert.) Die unbemerkte Komik derartiger Situationen wird dadurch verstärkt, dass sie bestritten wird: Jeder/jede ist gegen Klerikalismus, den die Amtstheologie ja auch nicht hergibt, dennoch wird mit steigender Tendenz liturgisch klerikal praktiziert, nicht nur in Großgottesdiensten. Ein Psalm könnte von der Gemeinde aus gebetet werden. Ein Großteil der Eingangsliturgie ebenfalls, wie auch Gebete. Da vorne könnte Platz gelassen werden. Wie soll denn jemand ankommen (Advent), wenn sein Platz ständig besetzt ist?

25 Goebbels, Heiner: Ästhetik der Abwesenheit. Texte zum Theater, Berlin 2012, S. 17.

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2. Abwesenheit kann konkretisiert werden „als Aufspaltung der Präsenz auf alle beteiligten Elemente“ oder mit anderen Worten „als eine Polyphonie der Elemente“.26 Wenn etwas zu sehen ist, dann muss es nicht noch einmal gesagt werden. Auch wenn etwas zu hören ist oder gesungen wird, muss es nicht noch einmal gesagt werden. Mit gesagt ist hier auch erklärt gemeint. Dies gilt im Gottesdienst vor allem für Vollzüge, wozu auch die Sakramente gehören. Sie haben eine eigene Kraft. Also: Wenn etwas getan wird, muss es nicht noch einmal gesagt werden. Nun gibt es im evangelischen Gottesdienst einen relativ hohen Wortanteil. Und auch da gilt es, die unterschiedlichen Sprechakte sprachlich und sprechend zu unterscheiden: Ein Gebet ist keine Predigt, eine Fürbitte keine Deklaration. Die unterschiedlichen Teile eines Gottesdienstes als unterschiedlich zu praktizieren, ihnen etwas zuzutrauen, hieße, sie polyphon zu gestalten. Dazu gehört selbstredend auch die Beteiligung anderer Personen und das heißt immer auch: Körper. Körper an der Polyphonie der Elemente eines Gottesdienstes zu beteiligen, eröffnet ein weites Denk- und Übungsfeld.27 3. Abwesenheit kann „als Entstehung von Zwischenräumen/Räumen der Entdeckung/Räumen, in denen Emotionen, Imagination und Reflexion sich ereignen können“28 konkretisiert werden. Stichwort: Stille. Stille im Gottesdienst muss eine gewisse Dauer haben, damit sie sich herstellen und als Zwischenraum agieren kann. Dazu müssen ihr Anfang und ihr Ende klar gestaltet sein, damit sie nicht als Fehler wirkt. 4. Abwesenheit kann „als Abschied von Expressivität“ 29 verstanden werden. Dieser Gedanke erlaubt uns, einen Blick auf die hochgradig unterschätzte Praxis der Lesungen in einem Gottesdienst zu werfen. Abgesehen davon, dass Lesen geübt sein will, kann ein Vermeiden expressiven Lesens so verstanden und praktiziert werden, dass der oder die Lesende möglichst den Text selbst wirken lässt und nicht illustrierend oder erklärend liest. Der legendäre Theaterregisseur Klaus Michael Grüber sagte Folgendes zu seinen Schauspielern: „Es ist ja immer so, wenn ihr mir das Wort frei bietet, dann bin ich dankbar, weil ich dann daraus etwas machen darf. Wenn ihr’s schon einbettet, in jede Schattierung geht, dann habe ich nur das Nachkauen von irgendetwas. Und ich möchte nicht, dass ihr

26 Ebd., S. 17. 27 Vgl. Sagert, Dietrich: Familiale Verwechselungen, in: Ders.: Versteckt, a.a.O., S. 57–68 und: Sagert, Dietrich: Körper, Blog I Dietrich Sagert, a.a.O. (Eintrag vom 17.06.2019). 28 Ebd., S. 17. 29 Ebd.

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mir meine Phantasie, das wenige, raubt, oder irgendwie diktatorisch einengt […].“30 5. Eine Ästhetik der Abwesenheit plädiert für ein „leeres Zentrum“ und dies in zweierlei Hinsicht, nämlich für eine „leere Bühne“ und für die „Abwesenheit dessen, was wir das ‚Thema‘ oder die ‚Botschaft‘ eines Stückes nennen“.31 Dieser Gedanke ist vielleicht der am meisten provozierende für einen Theologen oder eine Theologin. Doch er legt den Finger in die Wunde. Man kann unsere fünf Punkte zum Thema Abwesenheit so zusammenfassen, dass in der Freistellung der genannten Teile oder Vorgänge eines Gottesdienstes das eigentliche Drama für die Gemeinde, für die einzelnen Zuschauenden entsteht und eben nicht vorgeführt wird.32 Derartige Strategien der Abwesenheit schaffen Platz oder eröffnen Räume für etwas Unerwartetes, etwas, das man eben noch nicht weiß, kennt, gehört oder gesehen hat. Heiner Goebbels nennt diese Abwesenheit „die Anwesenheit des Anderen, als eine Begegnung mit einem ungesehenen Bild, einem ungehörten Wort oder Klang; als eine Begegnung mit den Kräften, die der Mensch nicht kontrollieren kann, die sich seinem Zugriff entziehen.“33 Im Unterschied zu Identifikationen mit dem Bühnengeschehen und den darin auftretenden Personen – im Sinne von Selbstbestätigung – eröffnen Strategien der Abwesenheit künstlerische Erfahrungen. Heiner Goebbels nennt sie „Erfahrung[en] durch Alterität“.34 Ich schließe also mit einem Plädoyer für Erfahrung von Andersartigkeit im Gottesdienst. Mit Erfahrung beziehe ich mich auf einen Erfahrungsbegriff, wie ihn das französische Wort expérience vorschlägt. Expérience meint nämlich Erfahrung und Experiment zugleich, also Erfahrung mit offenem Ausgang. Ein Gottesdienst sollte schönstenfalls Erfahrungsräume öffnen. Dann kann Drama entstehen. Und wenn Liturgie und Predigt unbedingt und dringend etwas vom Theater rezipieren sollten, dann ist es das Erfinden von Experimentierräumen, von Probesituationen, in denen man die Dinge übt – lautes Lesen zum Beispiel – und selbst absurdeste Sachen einmal ausprobieren kann, selbst oder gerade dann, wenn man sie im Gottesdienst nicht macht.

30 Rüter, Christoph: L’homme de passage. Der Regisseur Klaus Michael Grüber, WDR/ arte 1999. 31 H. Goebbels: Ästhetik, S. 17. 32 Vgl. ebd., S. 18. 33 Ebd. 34 Ebd.

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3.  LICHT AUS Die Jalousien werden heruntergefahren und das Saallicht ausgeschaltet. Am Meer, etwas abseits, sitzt Hamlet und blickt aufs Wasser hinaus. Fern blinkt eine grüne Boje. Weiter vorn am Strand graben seine Totengräber ihre Gruben. Später schleifen sie Hamlet durch den Sand zurück auf die nahegelegene Bühne. (Ein kleines grünes Licht blinkt regelmäßig.) Erster Totengräber: Oft geschieht es, dass er sich nach vorn wirft, wie das Meer auf den Strand. Zweiter Totengräber: Aber er kann es noch nicht. Er wirft sich nach vorn. Kommt zurück und wirft sich von neuem vor. Seine Anstrengung wächst, er wird bald in Form kommen. Erster Totengräber: Er muss ja. Die Zeit ist aus den Fugen. Zweiter Totengräber: Er war Hamlet. Erster Totengräber: Er hatte aschblondes Haar und trug keinen Bart mehr, seit er von der Universität zurück ist. Zweiter Totengräber: Wittenberg! Seine sehr leise Stimme klingt rebellisch bei einigen Konsonanten. Hamlet: Wer da? Erster Totengräber: Hamlet ist ein kleiner Mann von sanguinischem Temperament. Seine Epidermis ist blass, weil schlecht durchblutet. Hamlet: Ich bin nicht Hamlet. Ich spiele keine Rolle mehr. Zweiter Totengräber: Er ist von gebeugter Haltung, aber nicht in den Schultern, sondern vom Kreuz her in der Art eines Wilden, der einer Spur folgt. Hamlet: Mein Drama findet nicht mehr statt. Zweiter Totengräber: Moralisch gesehen ist er eher ein Sportler als ein Angeber.

Licht an. Licht aus. Abwesenheit und Erfahrung | 83

Erster Totengräber: Der Geist ist sein zufälliger Trainer, er vertraute ihm, nachdem er seine Zertifikate geprüft hat. Zweiter Totengräber: Er hält, allen möglichen Vorwänden folgend, die Tat zurück, wenn er sich seiner Form nicht sicher ist. Hamlet: Ich spiele nicht mehr mit. Erster Totengräber: Er will sich seiner Form nicht sicher sein. Hamlet: Ich bin nicht Hamlet. Zweiter Totengräber: Still, still, verstörter Geist! Erster Totengräber: Wo ist eigentlich Ophelia? Zweiter Totengräber: Ah, Ophelia! Sie hatte blondes Haar, so wie der Mond, der durch eine zerfahrene Wolke scheint. Sie war groß und sie war schlank. Erster Totengräber: Sie war das Opfer einer Junggesellenmaschine: Jedermann weiß, dass, wenn zwei elektrodynamische Maschinen miteinander in Kontakt sind, die mit der höheren Spannung die andere auflädt.  Zweiter Totengräber: Du willst sagen, dass, wenn eine Maschine wirklich Liebe produzieren könnte…  Erster Totengräber: Ja, klar, dann würde die Maschine sich in den Menschen verlieben. Zweiter Totengräber: Wenn sie mit dem Schlachtermesser in eure Schlafzimmer tritt, dann werdet ihr die Wahrheit wissen. Das grüne Blinken hört auf. Bläuliches Licht geht an. Hamlet: O löste dieses allzu feste Fleisch Sich auf und schmölze weg in einen Tau! Oder hätte der Ewige sein Gebot nicht Aufgestellt gegen Selbstmord! O Gott! Gott! Brich, Herz, und, Hamlet, beiss auf deine Zunge.

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Totengräber: Auf eine Art und Weise der Unähnlichkeit stellt sich eine Beziehung zwischen Hamlet und Herkules her. Hamlet: Nun, seht ihr, welch ein nichtswürdiges Ding Ihr aus mir macht? Ihr wollt auf mir spielen; Ihr wollt tun, als kenntet Ihr meine Griffe; Ihr wollt in das Herz meines Geheimnisses dringen; Ihr wollt mich von meiner tiefsten Note bis zum Gipfel meiner Stimme hinauf prüfen: und in dem kleinen Instrument hier ist viel Musik, eine vortreffliche Stimme, dennoch könnt ihr es nicht zum Sprechen bringen. Wetter! Denkt Ihr, dass ich leichter zu spielen bin als eine Flöte? Nennt mich, was für ein Instrument Ihr wollt, Ihr könnt mich zwar verstimmen, aber nicht auf mir spielen. Ich war Hamlet. Ich stand an der Küste und redete mit der Brandung. Im Rücken die Ruinen von Europa. Die Hähne sind geschlachtet. Der Morgen findet nicht mehr statt. Lass mich dein Herz essen, das meine Tränen weint! Ein Mobiltelefon klingelt. Hamlet geht dran. hamlet: Hallo? Ophelia: Ich bin Ophelia. Die der Fluss nicht behalten hat. Ich gehe auf die Straße, gekleidet in mein Blut. Willst du mein Herz essen, Hamlet (lacht)? Black Licht an. Die Jalousien werden wieder hochgefahren, das Saallicht eingeschaltet. 35

35 Text: Dietrich Sagert. Nach Motiven von Henri Michaux, Heiner Müller, Tristan Tzara, Alfred Jarry und William Shakespeare. Lesung: Dietrich Sagert. Ophelia: Florina Speth.

Leidenswege: visualisiert, performiert, erinnert Künstlerische Transformationen biblischer Texte raumtheoretisch hinterfragt Antje Mickan

Zu den großen anthropologischen Grundthemen wie der Suche nach Glück, Seligkeit, Liebe gehört der Blick auf die Schattenseite menschlicher Existenz, auf Leidenserfahrungen und die Frage nach Wegen zur Überwindung von Leiden entschieden hinzu. Noch immer prägend dafür, wie das Phänomen Leid in christlicher Religionskultur wahrgenommen, gedeutet und wie damit konkret umgegangen wird, sind die literarische Verdichtung des Motivs des leidenden Menschen im Buch Hiob und die Erzählungen der Passionsgeschichte in den Evangelien.1 Diese Schriften haben weit über den Kontext religiöser Frömmigkeitspraxis hinaus eine Wirkungsgeschichte entfaltet und ein bis heute in verschiedenen Sparten der Kunst wiederkehrendes Sujet begründet. So geben Präsentationen künstlerischer Umsetzungen biblischer Leidenstexte auch in der Gegenwart einem nicht allein religiösen Publikum Impulse zur Auseinandersetzung. Drei Fallbeispiele sollen im Folgenden das Material bereitstellen, um zu zeigen wie dabei Resonanzen zwischen divergenten Sichtweisen und Ausdrucksformen entstehen können. Dass bei der Begegnung von „Kunst und Kirche“ Erwartungsgewohnheiten gestört und ein neues Sehen möglich werden kann, entspricht im kunst- bzw. kulturwissenschaftlich informierten theologischen Diskurs gegenwärtig einem weitgehenden Konsens.2 Was in diesem Beitrag über eine Veranschaulichung dieses 1 Vgl. Witte, Markus: Hiobs viele Gesichter. Studien zur Komposition, Tradition und frühen Rezeption des Hiobbuches, Göttingen 2018, S. 65–80. 2 Vgl. u.a. kunstundkirche.com; theomag.de/09/pg1.htm; kkd.nordkirche.de/stiftungkunst-kirche/ueber-uns.html (alle letzter Zugriff 30.04.2019).

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Entdeckungspotentials hinaus geboten wird, ist der analytische Blick auf das Wie dieses Geschehens, also auf den Weg, um das erhoffte Erfahrungs- und Erkenntnispotential zu erfassen. Und es sollen produktive Anschlüsse auch für religiöse Bildung und Seelsorge erkennbar werden.3 Neben dem Plädoyer für kreative Umgangsweisen mit der Leidensthematik in kulturellkirchlicher Arbeit steht in diesem Aufsatz das Interesse, den Her­ ausforderungen einer sich kulturell diversifizierenden Gesellschaft in Praktischer-Theologie durch Theoriekonzepte zu begegnen, welche die Wahrnehmung von Komplexität ebenso fördern wie sie zu einem operativen Umgang mit komplexen Geschehenszusammenhängen in einem hybriden Feld zwischen Kunst und Religion führen.4 In diesem Beitrag wird mit einer raumtheoretisch begründeten sowie durch die Einbindung performanztheoretischer und kunstphilosophischer Konzepte erweiterten Untersuchungsperspektive gearbeitet.5 Angesichts des gegebenen Rahmens wird die Theorieerläuterung aber – zugunsten der Darstellung und Analyse von Praxis – auf eine kurze Skizze von Grundgedanken beschränkt.

1.  T HEORETISCHE GRUNDGEDANKEN DER FELDFORSCHUNG Kunst als Praxis – eine Analyseperspektive Beim Besuch von Ausstellungen und der anschließenden Erarbeitung eines raumanalytischen Protokolls wurde der von Nelson Goodman vertretene Ansatz einer Aktivierungsnotwendigkeit von Kunst besonders berücksichtig. Diese Perspektive nimmt Sprachhandlungen in den Blick, die selbst bei weitgehendem Verzicht 3 Ein Überdenken des Verhältnisses von Kunst und Religion bietet insgesamt der Band Mickan, Antje/Klie, Thomas/Berger, Peter A. (Hg.): Räume zwischen Kunst und Religion. Sprechende Formen und religionshybride Praxis, Bielefeld 2019. 4 Insbesondere die Aufnahme einer relationalen Raumperspektive ins theologische Denken bedeutet in dieser Hinsicht einen großen Fortschritt. Vgl. Wüthrich, Matthias: Raum Gottes. Ein systematisch-theologischer Versuch, Raum zu denken, Göttingen 2015. Zur in Praktischer Theologie zunehmend Beachtung findenden Dimension der Inszenierung bietet eine instruktive Zusammenfassung Roth, Ursula: „‚Inszenierung‘ und darüber hinaus. Ein Beitrag zur praktisch-theologischen Inventur“, in: Merzyn, Konrad/Schnelle, Ricarda/Stäblein, Christian (Hg.): Reflektierte Kirche. Beiträge zur Kirchentheorie, Leipzig 2018, S. 169–193. 5 Zu den theoretischen Grundgedanken des Ansatzes vgl. Mickan, Antje: „Kunst-Religion. An den Grenzen des Unterscheidbaren“, in: Dies./Th. Klie/P. A. Berger (Hg.): Räume, S. 207–231, hier S. 214–217.

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auf explizite Verbalisierungen neue, allerdings schillernde Wirklichkeiten schaffen.6 Laut Goodman bezieht sich Kunst auf Kunst, Kunst bringt Kunst hervor, so dass Kunstrezipierende die Bedeutung des einen Werkes auf ein anderes beziehen (können).7 Ebenso lenkt bei den hier besprochenen Ausstellungen die Wahrnehmung eines Artefakts den Blick auf weitere Artefakte und raumkonstitutive Zeichen,8 die damit in Verbindung zu bringen sind. So können Werke sich gewissermaßen gegenseitig ins Spiel bringen. Den Anfang nimmt oft eine irgendwie geartete Aktivierung eines Objekts, beispielsweise durch exponierte Aufstellung, Beleuchtung oder wortsprachliche Hinweise. Denn „Kunstwerke müssen ebenso wie Maschinen oder Personen eher als dynamische Entitäten angesehen werden, die oft in Gang gebracht, wieder neu in Gang gebracht und in Gang gehalten werden müssen“9. Das ist nicht nur eine für den Diskurs um große Meisterwerke zutreffende Aussage, sondern nach dem weitgehend gleichen Prinzip erfolgt im hier besprochenen Forschungsfeld die Ausstattung von Räumen. Durch bewusste Positionierung treten bestimmte Eigenschaften eines Werkes hervor, werden für Rezipientinnen und Rezipienten Impulse gegeben, um von dort aus Bezüge herzustellen.10 Dieser Moment,11 wenn die Betrachtenden selbst in Aktion gehen, ein Erkenntnisprozess aufgrund des Wahrgenommenen einsetzt, ist nach Goodman wesentlich dafür, dass von Kunst gesprochen werden kann. So verstanden ist Kunst eine erlernbare Praxis. 6 Zur damit angenommenen Performativität der untersuchten Praxis vgl. Fischer-Lichte, Erika: Ästhetik des Performativen, Frankfurt am Main 102017, ferner Gronau, Barbara: „Ausstellen und Aufführen. Performative Dimensionen zeitgenössischer Kunsträume“, in: Fischer-Lichte, Erika u.a. (Hg.): Die Aufführung. Diskurs – Macht – Analyse, München 2012, S. 35–48. 7 Vgl. Goodman, Nelson: „Kunst in Aktion“, in: Steinbrenner, Jakob/Scholz, Oliver R./Ernst, Gerhard (Hg.): Symbole, Systeme, Welten. Studien zur Philosophie Nelson Goodmans, Heidelberg 2005, S. 33–42; ähnlich zu einer Hermeneutik des Sehens Soeffner, Hans Georg: „Bilder des Zen – Möglichkeitsräume“, in: A. Mickan/Th. Klie/P. A. Berger (Hg.): Räume, S. 131–153. 8 In relationaler Perspektive ist Raum nicht eine ontologische, als absolut vorgegebene Größe, sondern Raum entsteht als erkennbare Struktur durch das Zueinander von Zu-Unterscheidendem, vgl. u.a. Löw, Martina: Raumsoziologie, Frankfurt a. M. 92017, S. 27f. 9 N. Goodman: „Kunst in Aktion“, S. 34. 10 Vgl. das Konzept von Spacing und Syntheseleistung bei M. Löw: Raumsoziologie, S. 158–161. 11 Zu Goodmans These, dass nicht „Was ist Kunst?“ zu fragen sei, sondern „Wann ist Kunst?“, vgl. Ders.: Weisen der Welterzeugung, Frankfurt a.M. 31995, S. 76–91.

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Im Modus der Aktiviertheit verweisen Objekte auf sich selbst. Mit Nelson Goodman gilt es nun weiter zu fragen, ob das, was an Bedeutung gezeigt wird, ein Ganzes darstellt, so dass eine Denotation12 vorliegt: etwas verweist auf etwas anderes und beide Zeichen können wechselseitig füreinander verwendet werden. Oder führt das Gezeigte einen Aspekt von einer bedeuteten Eigenschaft bzw. einem Thema aus? Goodman spricht in diesem Fall von Exemplifikation,13 was die wechselseitige Übersetzung der Zeichen ineinander nicht zulässt, sondern nur dieses eine Zugehörige zu einem Ganzen hervorhebt. Denn „Exemplifikation ist Besitz plus Bezugnahme“.14 Erweitert man diesen bildtheoretischen Ansatz auf das durch die Platzierung von Kunstwerken geschaffene Raumensemble, ist folglich bei der Analyse stets zu fragen, ob mehrere aktivierte Objekte ein gemeinsames Thema exemplifizieren und wie Beziehungen zwischen diesen Objekten und zu ihrem Kontext konstruiert bzw. inszeniert sind. Konkret kann das heißen, dass aufgrund eines Ausstellungstitels oder aufgrund der soziokulturellen Bedeutung eines Ausstellungsortes die gezeigten Objekte – unabhängig von einer ursprünglichen künstlerischen Intention bei ihrer Erschaffung – als Exemplifikationen eines bestimmten Phänomens plausibel gedeutet werden können, dass etwa – wie bei der unten besprochenen Ausstellung in Lassan – Werke zu sozialpsychologischen Fragen durch den Ort „Kirche“ und das benachbarte Objekt „Altar“ auch vom Künstler eher nicht intendierte religiöse Deutungen mit anstoßen. Handlungsrahmen – Hybride Räume der Kunst und Religion Insbesondere in Gebieten mit einem geringen Kirchenmitgliedschaftsanteil innerhalb der Bevölkerung (z. B. Mecklenburg-Vorpommern) zählt die alternative Nutzung von Kirchengebäuden als freie Orte der Kunst und Kultur inzwischen zum Üblichen. Hinsichtlich der dort situierten Praxis hat sich eine größere Deutungsoffenheit herausgebildet, die es ermöglicht, dass selbst Gottesdienste und Andachten unter bestimmten Voraussetzungen, wenn sie beispielsweise eine Ausstellung

12 Vgl. Goodman, Nelson: Sprachen der Kunst. Entwurf einer Symboltheorie, Frankfurt a.M. 1995, S. 15–17. – Die bei Eco übliche Unterscheidung zwischen Denotation und Konnotation findet sich bei Goodman selbst nicht, vgl. dazu den produktiven Anschluss von Esser, Andrea: „Kunst als Symbolsystem“, in: J. Steinbrenner/O. R. Scholz/G. Ernst (Hg.): Symbole, S. 61–73. 13 Vgl. N. Goodman: Sprachen, S. 59–63. 14 Ebd., S. 60.

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eröffnen oder ein Festival begleiten, als Kulturprogramm wahrnehmbar sind.15 Andererseits wird hier vielfach einem öffentlichen Publikum – jenseits von Liturgie und Predigt – über künstlerische Produktionen die Auseinandersetzung mit anthropologischen Grundfragen eröffnet, teils unter expliziter Bezugnahme auf die biblische Texttradition. Ob letztere allerdings wie bei den im Weiteren vorgestellten Fällen von den Kunstschaffenden als „hochrangige, Jahrtausende alte Literatur“ (Udo Rathke), dem Gebiet der „Mythen und Märchen“ (Peter Glas) zugehörig oder als Zeugnis der eigenen Religion und Glaubenszugehörigkeit (Thomas Riegler) verstanden und verwendet wird, variiert in gegenwärtiger Praxis ebenso individuell wie die Rezeptionsweise der präsentierten Werke. Was für die Eine ein freies Reflexionsspiel mit Assoziationen „im allgemein humanistischen Sinn“16 anstößt, mag für den Anderen zutiefst religiöse Empfindungen freisetzen und den Sinn von Glaubensinhalten widerspiegeln. Die symbolischen Formen und sozialen Felder Kunst und Religion kommen dann in einem aufs Ganze gesehen nicht exakt bestimmbaren Verhältnis gemeinsam zum Ausdruck, so dass von einem kulturellen Hybrid sowohl mit Blick auf das künstlerische Werk zum Bibeltext, als auch mit Blick auf Werke der Kunst an sakralen Orten gesprochen werden kann.17 Für ein produktives Aufnehmen der Spannung innerhalb dieser sich so konstituierenden hybriden Interaktionsräume ist eine symmetrische Beziehung zwischen Akteurinnen und Akteuren der Kunst und der Religion wesentlich. Dies scheint heute noch immer nicht selbstverständlich.18 Praktiken von Kunst und Religion treten mindestens seit dem 19. Jahrhundert immer wieder in Konkurrenz zuein­ ander.19 Doch ist auf gesellschaftlicher Ebene ein Lernprozess gegenwärtig im Fortschreiten begriffen, bei dem es darum geht, die Ansprüche einerseits auf ästhetische Freiheit des Ausdrucks, andererseits auf Rücksicht gegenüber religiö-

15 Vgl. Käckenmeister, Thomas: „Außeralltägliche Performanz als Merkmal religionshybrider Phänomene“, in: Berger, Peter A./Hock, Klaus/Klie, Thomas (Hg.): Religionshybride. Religion in posttraditionalen Kontexten, Wiesbaden 2013, S. 203–216. 16 Büssing, Stefanie: „Hiobsbotschaften in ungewöhnlichem Ambiente. Bis zum 8. Oktober sind in der Petrikirche 40 Arbeiten des Künstlers zu sehen“, in: Ostseezeitung vom 11.09.2017, ostsee-zeitung.de/Nachrichten/Kultur/Hiobsbotschaften-in-ungewoehnlichem-Ambiente (letzter Zugriff 30.04.2019). 17 Vgl. A. Mickan: Kunst-Religion. 18 Vgl. Zybok, Oliver: „‚Am Nullpunkt der Religion‘. Kunst in der Kirche“, in: A. Mickan/ Th. Klie/P. A. Berger (Hg.): Räume, S. 113–129. 19 Vgl. z. B. die literaturwissenschaftliche Perspektive von Auerochs, Bernd: Die Entstehung der Kunstreligion, Göttingen 22009, hier S. 71.

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sen Bedeutungen, Gefühlslagen und Erwartungen wechselseitig zu respektieren.20 Kirchen sind allerdings alles andere als White Cubes.21 Was hier gezeigt wird, hat immer einen zeichenhaften Kontext, der kaum auszublenden ist, sondern mitspricht,22 potentiell auch ganz konkret als verbale religiöse Kommunikation wie bei einer Predigt zur Vernissage. So entsteht für die subjektive Wahrnehmung eine Resonanz23 zwischen Werk und Kontext oder auch zwischen Werk und einer dadurch inspirierten religiösen Praxis. Die Art und Weise dieser Resonanz ist ein gutes Stück weit von kulturellen Codierungen abhängig und so als Möglichkeit beschreibbar. Wird bei einer solchen Beschreibung sensibel mit Fragen der Deutungsmacht von Kunst bzw. Religion umgegangen, so ist dieses Vorgehen unbedingt zu unterscheiden von einer Vereinnahmung – beispielsweise eines Kunstwerkes durch eine für absolut genommene religiöse Deutungsvariante und der damit verbundenen Unterstellung einer dem Werk immanenten religiösen Dimension.

20 Vgl. O. Zybok, „Am Nullpunkt“; Mertin, Andreas: „Die Erfahrungsräume ‚Kunst‘ und ‚Religion‘. Überlegungen zu ihren Gemeinsamkeiten und Differenzen, in: A. Mickan/ Th. Klie/P. A. Berger (Hg.): Räume, S. 97–112. 21 Auf eine gewissen Ausnahme, d.h. das Arbeiten mit zurückhaltenden weißen Wänden bei der Gestaltung liturgischer Räume in der ersten Hälfte des 20. Jh., sei an dieser Stelle hingewiesen. Sie betrifft insbesondere Arbeiten des Architekten Rudolf Schwarz, die im Zusammenwirken mit Romano Guardini entstanden. Vgl. Schwarz, Rudolf: „Liturgie und Kirchenbau“, in: burg-rothenfels.de/fileadmin/Mediendatenbank/70_ Wer_wir_sind/Burgbrief_konturen/konturen_Burgbrief_02_2004.pdf (letzter Zugriff 30.04.2019), S. 6–16. – Vgl. zum Mitsprechen von (Kirchen)Architektur Fischer, Joachim: „Gebaute Welt als schweres Kommunikationsmedium der Gesellschaft. Architektur und Religion aus architektursoziologischer Perspektive“, in: Karstein, Uta/ Schmidt-Lux, Thomas (Hg.): Architekturen und Artefakte. Zur Materialität des Religiösen, Wiesbaden 2017, S. 49–69. 22 Vgl. Fischer, Joachim: „Interphänomenalität. Zum Erscheinungsverhältnis von Gesellschaft“, in: A. Mickan/Th. Klie/P. A. Berger (Hg.): Räume, S. 21–43, hier S. 41. 23 Vgl. zu Resonanz als Beziehungsmodus Rosa, Hartmut. Resonanz. Eine Soziologie der Weltbeziehung, Berlin 2016, S. 298.

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2.  T  RANSFORMATIONEN UND INTERFERENZEN. EXEMPLARISCHE FALLANALYSEN 2.1  Z eichnungen zum Buch Hiob: eine Ausstellung in St. Petri zu Rostock Vom 10. September bis 8. Oktober 2017 fand in der Rostocker St. Petri-Kirche eine Ausstellung mit Bildern von Udo Rathke, einem der renommiertesten bildenden Künstler Mecklenburg-Vorpommerns, statt.24 Als Veranstaltungsträger kooperierten die Galerie „wolkenbank kunst + räume“25 und die evangelische Innenstadtgemeinde Rostock26 miteinander. Institutionelle Kunst und institutionelle Religion spannen also mit dieser Interaktion einen Rahmen auf, der Aussagen über kulturelle Konventionen der Deutung und Bedeutung zulässt. Galerie und Kirchengemeinde bringen außerdem Relationen zu unterschiedlichen sozialen Netzwerken in das sich aus Anlass der Veranstaltung konstituierende Beziehungsgefüge ein.27 Öffentliche Kommunikation als Impuls für mögliche Raumsynthesen Aus einer Perspektive des öffentlich Wahrnehmbaren auffällig ist bei der Ausstellung Udo Rathkes in St. Petri eine Art Arbeitsteilung zwischen den ausrichtenden Institutionen. Während die Kirchengemeinde eher formal beteiligt scheint, indem sie das Nordschiff der St. Petri-Kirche zur Verfügung stellt, mit personellen Mitteln Unterstützung bei der Einrichtung und Durchführung leistet und auf die Ausstellung öffentlich hinweist, steuert die Galerie auch Inhaltliches bei. Sie lädt eine Lübecker Kunsthistorikerin als Rednerin zur Eröffnung ein und formuliert einen Informationstext, der auch 2019 noch auf der Galeriewebsite zu lesen ist: „Hiob, diese alttestamentarische Figur, ist sprichwörtlich für einen Menschen als Spielball höherer Mächte und Sinnbild für das Ringen um seinen Glauben an eine Gerechtigkeit auch in unbegreiflicher Not. Diese Geschichte in der klaren und poetischen Luther-Übersetzung nahm Udo Rathke als Ausgangspunkt für seinen Zeichnungszyklus. ‚Es ist höher denn der Himmel; was willst du tun? Tiefer denn die Hölle; was kannst du wissen? Länger denn die Erde und breiter denn das Meer…‘ Wie dunkel kann eine Zeichnung sein, bevor sie sich im vollkommenen 24 Vgl. udo-rathke.de (letzter Zugriff 30.04.2019). 25 Vgl. wolkenbank-galerie.de/ (letzter Zugriff 30.03.2019). 26 Vgl. innenstadtgemeinde.de/evig/ (letzter Zugriff 30.03.2019). 27 Zur Manifestation von Beziehungsgefügen als Bestimmung von relationalem Raum vgl. M. Wüthrich: Raum Gottes, S. 27–89.

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Schwarz verliert? Udo Rathke erkundet diese Frage ausgehend von skripturalen Bewegungen; aus dem Schreiben der Lutherzeilen heraus entwickeln sich die dichten, existenziell bedrohlichen Räume seiner Zeichnungen. Die Ausstellung leistet somit einen spannenden, eigenständigen Beitrag zum Reformationsjahr.“28 In einer – möglicherweise unter Mitarbeit der Innenstadtgemeinde – etwas erweiterten Fassung führen diese Worte auch auf einem Informationsposter in der Petrikirche in die Werkpräsentation ein. Während die Anmerkung zum Reformationsjubiläum hier allerdings fehlt, sind Aussagen zur Arbeitsweise Rathkes und zur zeichenhaften Bedeutung der Farben ergänzt.29 Die ersten Informationen zur Ausstellung werden ein größeres Publikum jedoch über die Ostseezeitung erreicht haben, und zwar erstmalig am 8. September 2017 innerhalb eines Interviewporträts Rathkes im Zusammenhang einer Sonderbeilage zu Künstlerinnen und Künstlern aus Mecklenburg-Vorpommern,30 dann am 11. September 2017 noch konkreter und umfassender in einem Artikel zum Ausstellungsbeginn.31 Dort ist u.a. zu erfahren, dass Rathkes eigentliches Sujet die Landschaft sei,32 er durchaus auch Literarisches schon früher als Inspirationsquel28 wolkenbank-galerie.de (letzter Zugriff 30.04.2019). 29 „Jegliche illustrative Handlungsbeschreibung vermeiden ist es der Rhythmus des Textes im Verein mit der enthaltenen Botschaft, die Rathkes zeichnerische Bewegungen zu Bildern gerinnen läßt, welche auf nichts Fertiges zielen, sondern einen notathaften, fast spielerischen Charakter haben. Das dominierende Schwarz der pigmentierten Tinte oder des metallischen Graphits wird in den Zeichnungen von Rot und Blau sekundiert – Rot als Farbe von Feuer und Blut und Symbolfarbe des Lebens, Blau als Farbe des Himmels und Symbolfarbe des Geistes – Farben, die in der christlichen Ikonografie für den Weltzusammenhang stehen.“ Galerie wolkenbank kunst +räume in Zusammenarbeit mit der Evang.-luth. Innenstadtgemeinde Rostock: Informationsplakat im Ausstellungsraum. 30 Vgl. Büssing, Stefanie: „Dichtung als Zusammenspiel von Farbe und Form. Im Künstlerhaus Plüschow überträgt Udo Rathke literarische Inhalte in seine eigene künstlerische Formensprache“, in: Ostseezeitung, 08.09.2017, ostsee-zeitung.de/Mehr/Kunst­boerse/ Dichtung-als-Zusammenspiel-von-Farbe-und-Form (letzter Zugriff 30.04.2019). 31 Vgl. Büssing, Stefanie: „‚Hiobsbotschaften‘ in ungewöhnlichem Ambiente. Bis zum 8. Oktober sind in der Petrikirche 40 Arbeiten des Künstlers zu sehen“, in: Ostseezeitung, 11. 09. 2017, ostsee-zeitung.de/Nachrichten/Kultur/Hiobsbotschaften-in-ungewoehnlichem-Ambiente (letzter Zugriff 30.04.2019). Es wird weder der Redakteurin beim Schreiben noch einem größeren Teil der Leserschaft entgangen sein, dass die Hiobsund Leidensthematik an diesem Symbol-Datum eine Art besonders bitteren Beigeschmack erhalten. 32 Vgl. S. Büssing: „Dichtung“.

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le nutzte33 und sich mit den im Herbst 2017 präsentierten „Zeichnungen zum Buch Hiob“ einen für ihn neuen Stoff vorgenommen habe: „An eine derart hochrangige, Jahrtausende alte Literatur habe ich mich anfangs gar nicht herangetraut. Aber das Thema hat mich nicht mehr losgelassen.“34 Die Sache an sich hat demnach auch für Nicht-Theologen Faszinationskraft. Wie er im Interview außerdem mitteilt, wurde Rathke zwar als Kind getauft, würde sich aber dennoch nicht als religiösen Menschen bezeichnen.35 In Rostock, wo der weitaus überwiegende Teil der Stadtbevölkerung sich als nicht-religiös versteht, man gleichzeitig aber mit Stolz von der Petri-, Nikolai- und Marienkirche als Zeugnisse der Geschichte (und Anziehungspunkte für Touristen) spricht, eröffnet diese Positionierung höchstwahrscheinlich mehr Interesse, als sie enttäuscht. Sie ist von der Redakteurin auch gleich als einleitendes Zitat ihres Artikels zum Beginn der Ausstellung verwendet worden. Derselbe schließt dann wiederum mit einer ähnlich relativierenden Aussage zu Rathkes „Botschaft“. Diese sei „weniger im religiösen als im allgemein humanistischen Sinn zu verstehen: ‚Es geht darum, das Leben trotz aller Widrigkeiten durchzustehen und nicht aufzugeben, gerade in der heutigen Zeit‘“.36 Die Taufe von Rathke (geb. 1955 in Grevesmühlen) gehört zu seiner Geschichte, dem damals (noch) Üblichen, wie auch die mit den alten Kirchen verbundene Religion zu dem gehört, was in früheren Zeiten von den Menschen als wahr angenommen werden konnte. So könnte eine unter der Leserschaft der regionalen Presse weit konsensfähige Stellungnahme lauten und als Konzept dann auch die Deutung des Wahrgenommenen, mit Martina Löw gesprochen, die auf den Raum bezogene „Syntheseleistung“ beim Ausstellungsbesuch mit anleiten.37 Der Künstler befasst sich in seiner öffentlich kommunizierten Perspektive entsprechend mit antiker Kunst, mit Texten, die anthropologische Grundeinsichten in prosaischer und lyrischer Sprache zum Ausdruck bringen.

33 Seine Reihe „Inferno“ bspw. ist inspiriert durch Dantes Göttliche Komödie entstanden. Vgl. S. Büssing: „Dichtung“; udo-rathke.de/installationen/index.html (letzter Zugriff 30.04.2019). 34 Zitat Rathke in: S. Büssing: „Hiobsbotschaften“. 35 Vgl. ebd. 36 Ebd. 37 Vgl. Löw, Martina: Raumsoziologie, Frankfurt a. M. 92017, S. 158–161.

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Abbildung 1: Udo Rathke, Zeichnungen zum Buch Hiob, 2017, Nordwand in St. Petri zu Rostock (Foto: U. Rathke)

Materialer Raum Als direkten Zugang zum alttestamentlichen Textraum hat Rathke eine „antiquierte[] Version der Luther-Übersetzung“38 zur Hand genommen. Für das Ausstellungspublikum spielt das durchaus eine Rolle, denn es wird infolgedessen mit altertümlich anmutenden Formulierungen konfrontiert, welche auf den Zeichnungen selbst und im ausgelegten Begleitmaterial zu lesen sind. Die Bedeutung der Dimension Zeit, die Frage nach Spannungen zwischen dem aktuellen Jetzt und erinnerter Vergangenheit, ist zudem durch die Platzierung der Bilder auf den Wänden mit teils abblätternder Farbe hervorgehoben, also allein schon durch diese beiden Umstände – alte Sprachform auf alter Wand – die Relevanz von Zeit als ein wesentlicher Raumaspekt aktiviert.39 So war es der „morbide Charme“40 des nördlichen, fast nur mit einem Altar möblierten Kirchenschiffs von St. Petri, der Udo Rathke dazu bewegte, diesen Ort für seinen Zeichenzyklus zu wählen. Für 38 S. Büssing: „Hiobsbotschaften“. 39 Dieser Aspekt korrespondiert mit den Ausführungen zur Bedeutung der Zeitdimension von M. Witte: Hiob, S. 81–100, so wäre für ein theologisch interessiertes Publikum bei einem Gesprächskreis zur Ausstellung ein Rekurs auf diese Text empfehlenswert. 40 S. Büssing: „Hiobsbotschaften“.

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ihn sei hier „Energie“41 geradezu spürbar. Zudem habe ihn an der Figur des Hiob besonders die Kraft beeindruckt, die dieser angesichts seines Leidens entwickle.42 Transformationen und Resonanzen Zuerst beim Lesen, dann beim Schreiben tritt Rathke in leibliche Auseinandersetzung mit dem Bibeltext. Er begibt sich in die identifizierende Sicht des leidenden Hiobs hinein, beginnt seine Zeichnung aus dem Schreiben von Aussprüchen und transformiert aus der Einfühlung heraus das Wahrgenommene in seine Sprache der Farben und bildhaften Formen.43 Unabhängig von der biblischen Sprecherfigur der je zitierten Fragen, Klagen, Belehrungen oder weisheitlichen Antworten ist es stets die subjektive Perspektive, die Resonanz des leidensfähigen Menschen auf diese Worte und Umstände, welche die Arbeit anleitet und den Bildinhalt ausmachen. Dieser Übertragungsprozess gleicht einem Aufbrechen der harten, linearen Textstruktur in einen zweidimensionalen und dennoch fluid erscheinenden Bildraum hinein. Die hinter Glas gerahmten Zeichnungen sind schließlich auf den Hintergrund der Kirchenwände appliziert, sie tragen Nummern und können nun vom Publikum linear abgeschritten, quasi wie ein Bilderbuch gelesen und doch mehr oder weniger bewusst mit dem mitgesehenen Kontext in Verbindung gebracht werden. Dabei werden in schillernder Weise die Sinne der Betrachtenden angesprochen, emotionale Reaktionen und Erinnerungen provoziert, so dass im subjektiven Erleben neue Relationen zu anderen physischen und psychischen Räumen entstehen. In einer Kette von Überlagerungsprozessen (der alte Text/die aktuelle Einfühlung des Künstlers – die alte Wand/das aktuelle Bild – das alte Thema/die aktuelle Empfindung und Erinnerung der Rezipierenden) werden Verbindungen über die Zeiten hinweg geknüpft. So performiert diese Ausstellung unter Mitarbeit der Rezipierenden das Thema Menschheit und Menschsein auf einer zeitlosen bzw. transtemporalen Ebene mit der Erfahrung von Leid als einem wesentlichen Charakteristikum und Bindeglied.

41 Ebd. 42 Vgl. S. Büssing: „Dichtung“. 43 „Durch die Überlagerung verschiedener Strukturen hat sich der Text in eine Bildersprache übersetzt.“ Zitat Rathke in: S. Büssing: „Hiobsbotschaften“.

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Abbildung 2: Udo Rathke, „Siehe da, er sei in deiner Hand. – Warum hast du mich aus Mutterleib kommen lassen? Ach, daß ich wäre umkommen, und mich nie ein Aug gesehen hätte!“ (Hi 2,6.10,18), Graphit auf Papier, 2017, 59 x 36 cm (Foto: C. Völzer)

Farbraum und Erinnerung Rathkes Zeichnungen wirken dynamisch, wo sich schwarze oder dunkelblaue Linien verdichten auch finster. Die Bedeutung eines „schreienden Rots“ beispielsweise lässt sich im Zusammenspiel mit der Textstelle, „Rufe doch, was gilt’s ob jemand antwortet“ (Hi 5,1), in ganz neuer Weise erfahren und in erschütternder Deutlichkeit mit seinem zerschundenen Körper entblößt – aber aufrecht – erscheint der dem Leid ausgelieferte Gerechte im Werk zu Hi 2,6.10,18: „Siehe da,

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er sei in deiner Hand. – Warum hast du mich aus Mutterleib kommen lassen? Ach, daß ich wäre umkommen, und mich nie ein Aug gesehen hätte!“ (vgl. Abb. 2.) Auseinanderstobende schwarze Knäuel mit wirren, losen Fäden, teils noch verbunden, sind entstanden zu: „So es aber an dich kommt, wirst du weich, und nun es dich trifft, erschrickst du“ (Hi 4,5). Die verbildlichten subjektiven Assoziationen des Künstlers aktivieren wiederum subjektive Assoziationen beim Publikum. Dabei erscheint diese Kunst frei, auch dahingehend, dass sie religiöse, eventuell theologisch gebildete Subjekte nicht in eine rein humanistische Perspektive zwingt, sondern – unabhängig von einer Frage nach der Intension des Künstlers – auch das Einbeziehen von Glaubensvorstellungen und theologischen Konzepten ins Deutungsspiel ermöglicht. Die intensiven Farben Rot, Schwarz, Blau, Weiß verbunden mit dem bedrängenden Thema sprechen bei der Rezeption der Leidensbilder in starker Weise ein körperliches Empfinden und das vorsprachliche Körpergedächtnis an.44 Über die Bild-Texte kommen dann auch Impulse zu Kog­ nitivem hinzu. Es ist kaum möglich mit allen Werken beim Ausstellungsbesuch gleichermaßen in Resonanz zu treten. Während der Künstler eine unbestimmte Zeit zur Erstellung seiner Zeichnungen zur Verfügung hatte, präsentiert sich dem Publikum der Zyklus hier in einem Ensemble – beim Abschreiten der Bilder vielleicht für eine knappe halbe Stunde – mit seiner ganzen Wucht. Und anders als das Hiobbuch in seiner letzten Fassung bietet die Ausstellung einzelne Sequenzen zur Auseinandersetzung, ohne aber auf ein konkretes Ziel, ein gutes Ende der Geschichte hinzusteuern. Wer diese Ausstellung besucht und wem sich Sinnfragen in Bezug auf die menschliche Existenz, auf Schuld, Schuldlosigkeit oder Gerechtigkeit stellen, ist zunächst allein gefordert, diese zu lösen. Aber, die Macht, der sich Hiob gegenübersieht, heißt Gott, der Ort der Werkpräsentation ist eine Kirche. Damit sind Fragen und thematische Fokussierungen für mögliche Anknüpfungen in der Gemeindearbeit vorbereitet. Dabei bietet sich nicht allein der Einbezug einer exegetischen Sicht auf den bearbeiteten Stoff an. Für Ausstellungsgäste, die sich gemeinsam mit anderen mit biografischen Themen befassen wollen, beispielsweise in einem kirchlichen Arbeitskreis, in psychodramatisch arbeitenden Gruppen oder auch im Rahmen des Vikariats, präsentiert sich mit dieser Veranstaltung starkes impulsgebendes Material. Dies sollte aufgrund der nicht vorhersehbaren Kopplung des Zu-Sehenden mit eventuell traumatischen Eindrücken der Rezipierenden natürlich keinesfalls unbedacht zum Einsatz kommen.

44 Zu Bildern als Medien der Erinnerung vgl. Bartoniczek, Andre: „Bilder“, in: Gudehus, Christian/Eichenberg, Ariane/Welzer, Helmut (Hg.): Gedächtnis und Erinnerung. Ein interdisziplinäres Handbuch, Stuttgart 2010, S. 202–216, hier 212–214.

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Abbildung 3: Interferenz von selbständigen Raumstrukturen im hybriden Raum der Ausstellung

2.2  „ Traum und Trauma“: eine Ausstellung in St. Johannis zu Lassan Während bei der Ausstellung Udo Rathkes in St. Petri textartige Linearität sowohl mit Blick auf die Werke selbst als auch durch ihre nummerierte Abfolge noch erkennbar ist, konstituiert sich bei der zweiten hier untersuchten Ausstellung „Traum und Trauma“ Raum aus der Publikumsperspektive über weniger gelenkte Bezüge. Und auch hinsichtlich der Relationen zum biblischen Text(Raum) ist nicht die gleiche Direktheit wie bei den Hiob-Bildern zu erkennen. Umso überraschendere Resonanzen ergaben sich aus dem Zusammenspiel der Objekte. Ausrichterin der Veranstaltung ist die von Ulrike Seidenschnur 1998 gegründete und kuratierte „Galerie in der Kirche St. Johannis zu Lassan“ 45. Sowohl die Galerie als auch die Kirchengemeinde St. Johannis sind Mitglied im Netzwerk „Kräu-

45 Zur Galerie mit jährlichen Ausstellungen vgl. Seidenschnur, Ulrike: „Kunst und Kirche im Lassaner Winkel. Galerie in der Kirche St. Johannis zu Lassan“, in A. Mickan/Th. Klie/P. A. Berger (Hg.): Räume, S. 175–188.

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ter, Kunst und Himmelsaugen“46 im Lassaner Winkel.47 Regionale Akteure dieser strukturschwachen Region im Hinterland Usedoms haben sich hier zusammengeschlossen. Bei aller Verschiedenheit des Angebots – von der Massagepraxis, über den Kräutergarten bis hin zur „Europäischen Akademie für heilende Künste“ – ist das Verbindende wohl am ehesten der idealistische Anspruch, mit dem Angebot positiv in die Region hineinzuwirken, den Menschen Sinnvolles zu bieten und nicht hauptsächlich ein ökonomisches Eigeninteresse zu verfolgen.48 Darüber hinaus wird im Anschluss an unterschiedliche Konzepte und Weltvorstellungen von den Netzwerkakteuren überwiegend auch eine spirituelle Dimension des Menschen angesprochen. Vom 14. Mai49 bis 2. Oktober 2016 waren Bilder von Harald Herzel50 und Skulpturen von Peter Glas51 in der Lassaner Kirchengalerie zu sehen. Herzel präsentiert hierbei einerseits Landschaftsmalerei, anderseits Werke, die sich mit umstürzenden Erfahrungen zur Wendezeit im Osten Deutschlands befassen. Bei Peter Glas sind es vorwiegend sozial-anthropologische Themen, teils auch mit Zitation neutestamentlicher Tradition,52 die er mit seinen Eisenskulpturen und -figurengruppen umsetzt. Insgesamt handelt es sich um 94 Exponate, für die das gesamte Kirchengebäude als Ausstellungsraum dient. Die Objekte im Altarraum wurden von Pfarrer Dr. Reinhard Kuhl, die übrigen von der Kuratorin Ulrike Seidenschnur 46 lassaner-winkel.de/startseite/index.html (letzter Zugriff 30.04.2019). 47 Vgl. zu Lassan die beiden im Abstand von 20 Jahren erschienenen Reportagen über diese Stadt: „Letztes Loch vor der Hölle“. Die Schriftstellerin Katja Lange-Müller über Lassan, ein typisches Städtchen in Vorpommern, in: Der Spiegel 43/1996, S. 54–59, im Archiv von Spiegel Online: spiegel.de/spiegel/d-9108990.html (letzter Zugriff 30.04.2019); Margarete Groschupf: Lassan, ich komme! Die kleine Stadt am Peenestrom, erschienen bei Deutschlandradio Kultur am 29.05.2016: deutschlandfunkkultur.de/lassan-ich-komme-die-kleine-stadt-am-peenestrom.942.de.html?dram:article_ id=352595#top (letzter Zugriff 30.04.2019). 48 Zur ausführlicheren Selbstdarstellung der Leitlinien des Netzwerkes vgl. lassaner-winkel.de/netzwerk/index.html (letzter Zugriff 30.04.2019). 49 Dieser Beginn entspricht der in ganz Mecklenburg-Vorpommern stattfindenden Veranstaltung Kunst:Offen, bei der alljährlich zu Pfingsten professionelle und HobbyKünstlerinnen und Künstler in ihre Ateliers, Werkstätten und Galerien einladen. Vgl. auf-nach-mv.de/kunstoffen (letzter Zugriff 30.04.2019). 50 Vgl. harald-herzel.de (letzter Zugriff 30.04.2019). 51 Vgl. perterglas.eu (letzter Zugriff 30.04.2019). 52 Dass er diese Werke unter „Märchen und Mythen“ fasst, ist im Ausstellungsraum nicht ersichtlich. Die Kategorien auf der Website von Glas sind „Mythen und Märchen“, „Realität und Verantwortung“, „Experimente“, peterglas.eu (letzter Zugriff 30.04.2019).

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positioniert. Es entstand dabei freilich kein lineares Nebeneinander, sondern eine Art Netzstruktur korrespondierender Bedeutungen. Durch die gruppierende Einrichtung der durchweg mit Titeln versehenen Werke nach thematischen Gesichtspunkten waren den subjektiven Sehweisen Impulse gegeben. Zwei im Weiteren besprochene Ensembles zeigten dabei besonders auffällig das Potential, bei der Rezeption Relationen erkennen zu lassen, und zwar zwischen den Ensembles untereinander, je zum zeichenhaften Ort ihrer Positionierung und darüber hinaus zu einem rahmenartigen Bilderzyklus.53 Sichtachsen und Sinnproduktion Beim Betreten des Innenbereiches der Lassaner Kirche kann das Publikum der Ausstellung „Traum und Trauma“ zunächst an den Wänden ringsum Landschaftsgemälde sehen, die zum üblichen abschreitend-linearen Betrachten einladen. Sie sind überwiegend in erdigen braun-grünen und blauen Farbtönen gehalten. Und das Publikum erkennt zugleich an offenbar ausgesuchten Stellen positionierte Skulpturen und Figurengruppen aus Eisen. Dem religionskulturell nicht ganz ungeübten Blick mag dabei recht schnell eine Spannung auffallen, welche die Aufmerksamkeit von den harmonisch wirkenden Bildern ablenkt. So ist auf einem Seitenaltar, gleich dem Eingang gegenüber, ein Werk mit vier Figuren und dem Titel „Das Urteil des Paris“ zu sehen. Links daneben liegt eine aufgeschlagene Bibel. Die Frage, interpretiert hier etwa der antike griechische Mythos die biblische Tradition oder umgekehrt, ist damit provoziert. Diese Spannung aktiviert die Aufmerksamkeit auf ähnliche Konfrontationen divergenter „Welten“54 bzw. Kultursphären, auf die sich die folgende Darstellung nun ausschnitthaft konzentriert. Beim hier analyseleitenden Ausstellungsbesuch ist die Kuratorin anwesend und gibt im Kurzgespräch Hinweise zur Gleichaltrigkeit, zur je ostdeutschen Herkunft und zur ursprünglichen Profession der Künstler.55 Außerdem vermittelt sie Informationen zu einem besonderen Ausstellungsbereich mit „heftigen“ Bildern 53 Dass sich der Ausstellungstitel „Traum und Trauma“ ursprünglich auf die Exponate zur Bearbeitung der Wendezeit von Harald Herzel bezogen war, von hierher übernommen und auch auf die Landschaftsbilder geweitet wurde, erschloss sich erst in einer nachträglichen Recherche zu den Künstlern, nachdem bei der Analyse genau diese Werke in den Mittelpunkt gerückt waren und stützte damit die auf der Wahrnehmung vor Ort basierende Deutungshypothese. Vgl. harald-herzel.de/mensch-und-gesellschaft/ (letzter Zugriff 30.04.2019). 54 Vgl. N. Goodman: Weisen. 55 Harald Herzel war wissenschaftlich-künstlerischer Lehrbeauftragter an der Uni Potsdam für den Lehramtsstudiengang Kunst, Peter Glas dagegen ist Physiker, war als Wissenschaftler an der Berliner Akademie der Wissenschaften tätig, wuchs wie Herzel in

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von Harald Herzel, welche die Ereignisse der Wendezeit verarbeiten. Auf dem Weg zu diesem etwas abgesetzten Ensemble im Vorraum zu einem Treppenaufgang fällt zunächst der Hochaltar mit den dort eingerichteten Figurengruppen ins Auge. Direkt auf dem Altartisch vor dem Kreuz befindet sich eine Kreuzigungsgruppe mit dem von Peter Glas gesetzten Titel „Der fehlende Schatten“.56 Und tatsächlich sind auf der alle drei Figuren verbindenden Bodenplatte beim genauen Hinsehen nur rechts und links dunkle Schattenrisse zu erkennen, am Fuße des mittleren Kreuzes dagegen nicht. Von dort gleitet der Blick zu zwei weiteren Skulpturenensembles mit einem der biblischen Tradition entlehnten Titel, der Schuld und den Umgang mit Schuld thematisiert: Rechts neben dem Altar befindet sich das Werk „Wer von euch ohne Sünde ist“ (vgl. Joh 8,7). Es zeigt eine Reihe von vier Gestalten und eine fünfte, davorstehende mit einem Stein in der erhobenen Hand. In einer weiteren Szene „Beim letzten Abendmahl“ scheint es wiederum um Schuldzuweisungen zu gehen, so richtet beispielsweise eine der Figuren den ausgestreckten Arm und Zeigefinger auf eine andere.57 Durch ihre kantig-schrundige und grob gestaltete Silhouette spiegeln die Skulpturen grundlegende Eigenschaften menschlichen Daseins und Miteinanders ungeschönt. Dass Peter Glas sich selbst nicht als religiös versteht und diese Arbeiten in seinen Werkzyklus zu Mythen und Märchen einordnet,58 ist für das unvorbereitete Publikum nicht deutlich zu erkennen. Der „Gesichtsausdruck“, die groß aufgerissen erscheinenden Augen des schattenlosen Jesus am Kreuz des Objekts auf dem Altar könnte ein christliches Subjekt aber zumindest irritieren und provokante Reflexionen über die Menschlichkeit Christi anstoßen.59 Möglicherweise wird darüber hinaus ein hier nicht konkret beschreibbarer Abstand zu traditionellen christlichen Deutungen doch unterschwellig durch die Formensprache kommuniziert, die mit der Formensprache Harald Herzels erstaunlich korrespondiert. Denn indem die Aufmerksamkeit beim Ausstellungsbesuch nun vom Altar weg, hin zu den farblich schrillen, drastischen Bilder Herzels im abseitigen Ausstellungsbereich wandert, wird fast unweigerlich nicht allein das Thema Schuld und Beschuldigung mitder DDR auf, hat aber mit der Kunstausübung erst im Ruhestand begonnen. Beide sind zur Zeit der Ausstellung 75 Jahre alt. 56 Vgl. die Fotografie des Objekts auf der Website des Künstlers: peterglas.eu/mythen.php, Bild 25 und 26 (letzter Zugriff 30.06.2019). 57 Vgl. peterglas.eu/mythen.php, Bild 27 (letzter Zugriff 30.06.2019). 58 Vgl. peterglas.eu/mythen.php (letzter Zugriff 30.04.2019). 59 Tatsächlich ist der Blick von vorn auf die Figurengruppe und gerade auf den fehlenden Schatten aber durch eine aufgeschlagene Bibel verdeckt, so dass wohl nur besonders aufmerksame Ausstellungsgäste sich mit der Bedeutung dieses Werkes intensiver werden auseinandergesetzt haben.

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genommen, sondern auch eine Ahnung, dass ähnliche Erfahrungen die jeweiligen künstlerischen Ausdrucksweisen motivierten. Diese Malerei ist nicht schön, aber eindrücklich. Insbesondere Darstellungen einer abrutschenden nackten Frau und eines nackten, kopfüber stürzenden Mannes bilden innere Zustände und traumatische Verrückungen ab.60 Bei der Reflexion der thematisierten politischen und sozialen Verstrickungen ist den Ausstellungsgästen das zuvor gesehene „Wer von euch ohne Sünde ist“ aber zumindest potentiell noch präsent und kann damit Einfluss auf die Deutung, die eigenen Erinnerungen und urteilende Schlussfolgerungen nehmen. Im zweiten Schritt als Frage vorbereitet ist in diesem Raum der Bezug der psychosozialen Thematik der Kunst von Harald Herzel und Peter Glas zu zentralen Aussagen der christlichen Evangelien. Weltliche bzw. kulturelle Exemplifikationen zu „Traum und Trauma“ wurden durch die den Raum einrichtende Arbeit von Pfarrer Reinhard Kuhl und Kuratorin Ulrike Seidenschnur um eine theologische Dimension – als Gesprächsangebot – erweitert. Wer diesen Transzendenzbezug nicht herstellen mag, kann das spannungsreiche Zentrum der Ausstellung eingebunden und aufgefangen sehen in dem ringsherum an den Kirchenwänden zu sehenden, sich aus harmonischen Darstellungen der Landschaft am Peenestrom zusammensetzendem Bilderband bzw. im dort thematisierten größeren Ganzen der Natur. Für die Auseinandersetzung mit den aktiv oder passiv als leidvoll erfahrenen Ereignissen der Wendezeit einschließlich daraus resultierender Nachwirkungen bis in die Gegenwart oder für die Auseinandersetzung mit der Thematik von Schuld, Scham und Verstrickung im Allgemeinen bietet diese Ausstellung sehr anregenden Stoff, der sich insgesamt um etliche Aspekte reicher zeigte als hier dargestellt. In Lassan wurde er in Form von Gottesdiensten zur Vernissage und Finissage auch explizit mit einer christlichen Sichtweise verknüpft. 2.3  „ Es ist vollbracht“: ein Passionsmusical in der Braunschweiger St. Aegidienkirche Ein in verschiedener Hinsicht sich deutlich von den beiden dargestellten Fällen unterscheidendes Beispiel sei hier ergänzend noch kurz umrissen. Diese Differenzen beziehen sich insbesondere auf Sparte und Format der Kunst, welche den biblischen Text aufnimmt und transformiert zur Darstellung bringt. Der evangelische Kirchenmusiker Thomas Riegler nahm für sein Passionsmusical „Es ist

60 Vgl. Fotografien der Bilder „Aufbrechen“ und „Abstürzen“ von 1995 (Acryl auf Leinwand) auf der Website des Künstlers: www.harald-herzel.de/mensch-und-gesellschaft/ (letzter Zugriff 30.06.2019).

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vollbracht“ den Text des Matthäusevangeliums zur Grundlage.61 Den Anstoß für das Werk hatte ein Auftrag im Rahmen der Wetterauer Kirchenmusiktage 2004 gegeben, der den Anspruch bot, die Passion als Thema zu bearbeiten.62 Während Riegler das Stück für Kinder konzipierte und in der eigenen kirchenmusikalischen Praxis mit Kindern (ca. 10- bis max. 14-jährig) einstudiert – lediglich für die Rolle des Jesus rät er zur Besetzung mit einem älteren Jugendlichen – wurden die Hauptrollen bei der hier rezipierten Aufführung in der Braunschweiger St. Aegidienkirche am 01.04.2017 unter Leitung von Bernhard Schneider durchweg mit 14- bis 18-Jährigen aus der Jugendchorgruppe der Pueri Cantores besetzt. Zudem finden sich im Internet Beispiele der Mitwirkung auch von Erwachsenen.63 Schon die Erarbeitung des Stücks kann daher zu einer – potentiell generationenübergreifenden – Auseinandersetzung mit der Passionsthematik in der Kirchengemeinde beitragen. Auch wenn Kirchenmusik sich heute zumeist als religiöse und angewandte Kunst bzw. Gebrauchskunst versteht, wird dabei doch mit einer Sprache der Kunst gearbeitet, die von verbaler Gottesdienstsprache zu unterscheiden ist und ein neuartiges Verstehen der bekannten Leidensgeschichte Jesu ermöglicht. So hat die musikalische und musikalisch-inszenierende Transformation der biblischen Passion eine eigene lange Geschichte.64 In ihrem Verlauf waren Aufführungen nicht allein an den Ort Kirche gebunden, sondern wo freiere Textvariationen das Libretto bildeten und eine Schaubühne errichtet wurde, trennte sich im 18. Jahrhundert die Passionsaufführung vom liturgischen Rahmen und fand in Nebenkirchen, Konzert- und Opernhäusern statt.65 Angesichts der aktuellen vielfachen Öffnung von Kirchgebäuden für säkulare Veranstaltungen stellt sich heute in Bezug auf den Umgang mit musikalisch-performativen Werken zur Leidensgeschichte Jesu dagegen stärker die Frage, ob es sinnvoll sein kann, die Aufführung in einen Gottesdienst zu integrieren oder nicht. Thomas Riegler sieht sich bei seiner musikalischen Umsetzung der Passion insbesondere von Johann Sebastian Bachs Matthäuspassion beeinflusst. So enthält auch sein Musical eine Doppelchor-Szene mit Kreuzigungs-Rufen. Die Komposition lässt hier allerdings durch ein Klarinettensolo die orientalisch-tänzerisch 61 Vgl. Riegler, Thomas: Es ist vollbracht. Kindermusical zur Passion, Leinfelden-Echterdingen 2008. 62 Dieser Abschnitt bezieht sich teils auf ein Telefoninterview mit Thomas Riegler am 27.02.2018. 63 Vgl. z. B. alsfeld-evangelisch.de/musical-es-ist-vollbracht-a-2977.html (letzter Zugriff 30.04.2019) 64 Vgl. von Fischer, Kurt: Die Passion. Musik zwischen Kunst und Kirche, Kassel 1997. 65 Vgl. von K. Fischer: Passion, S. 80–102.

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wirkende Stimmung anfachen, während Streicher den Ernst der Thematik zum Ausdruck bringen. Und die Wahl zwischen Jesus und Barabbas wird auf moderne Art (Emporhalten von Demonstrationsschilder und lautes Rufen) durchgeführt. Immer wieder wechseln dabei die Sängerinnen und Sänger ihre Positionen, so dass es keine festen Rollen pro und contra Jesus zu geben scheint. Die Verknüpfung der Erfahrungswelt der Kinder und Jugendlichen mit den traditionellen Erzählsträngen hat nach Rieglers Erfahrung für den Erfolg seiner Stücke66 größere Bedeutung. Und eine Motivation, das Genre Musical zu wählen, sei für ihn, dass es Kindern Spaß macht. Das ist mit Blick auf die Umsetzung der Passionsthematik, wie Riegler mitteilt,67 nicht ohne Kritik in einer renommierten kirchenmusikalischen Zeitschrift geblieben. Auch wenn der Chor von St. Aegidien bei den Proben von „Es ist vollbracht“ sicher Spaß hatte, war die Aufführung doch von einer beeindruckenden und sehr angemessenen Ernsthaftigkeit geprägt. Der Spannungsbogen des Matthäusevangeliums mit der Abendmahls-Szene im Zentrum ist konsequent durchgehalten und mit mal schwungvollen, mal berührenden Partien ausgestaltet. Das Publikum taucht gewissermaßen in einen Klang- und Gefühlsraum ein und die innere Beteiligung wird vielfach noch dadurch verstärkt, dass die eigenen Kinder oder Enkelkinder auf der Bühne agierten. Dabei ermöglicht die Inszenierung auch sozialkritische Interpretationsweisen, die von Religion Abstand nehmen und die Thematik eher wie in den zuvor besprochenen Fällen von Udo Rathke und Peter Glas auf einer allgemein menschlichen Ebene betrachten. Beispielsweise erscheinen ein Handeln um des ökonomischen Gewinns und um der Liebe Willen zueinander in sehr eindeutiger Opposition bei gleichzeitiger Anschaulichkeit menschlicher Schwäche und Verführbarkeit.

3.  RESÜMEE DER DREI FALLSTUDIEN Die Bilderausstellung zu Hiob erlaubt im Veranstaltungsraum eine lineare Verfolgung des bildlich umgesetzten Textes. Sie spricht dabei auch unbewusste Ebenen des körpereigenen Gedächtnisses an und aktiviert so einen starken Bezug zur eigenen Lebensgeschichte und Leidenserfahrung. Dabei enthält sie sich jeder wertenden Deutung, aber auch des expliziten Trosts. Der Ausstellungsort Kirche tritt in der die Analyse leitenden Perspektive stärker mit seiner geschichtlichen als mit

66 Von Riegler erschienen sind bislang die Kindermusicals: „Israel in Ägypten“, „König David“ und „Wir zeigen Gesicht“. 67 Bezug auf Telefoninterview der Autorin mit Thomas Riegler am 27.02.2018.

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seiner religiösen Bedeutung in Relation zu den Werken. Dennoch ist von guter Anschlussmöglichkeit für religiöse und theologische Fragen auszugehen. Im Fall der Gemeinschaftsausstellung in der Lassaner Kirche scheint sich der soziale Hintergrund der veranstaltenden Kirchengalerie, das Netzwerk, auch in der Struktur des Ausstellungsraumes zu spiegeln. Auf den ersten Blick nicht als zusammengehörig Erkennbares zeigt sich aufgrund der Positionierung – im Zusammenspiel mit den durch Sichtachsen verknüpften, bedeutsamen anderen Objekten – als sinnvoll aufeinander beziehbar, nicht mehr nur als in sich aussagekräftig, sondern zugleich als Teilaussage eines größeren Zusammenhangs. Das Angebot einer christlichen Perspektive der Deutung kann dabei in so nicht zuvor erwarteter Weise entdeckt werden. Am stärksten mit allen Sinnen angesprochen wird das Publikum von den betrachteten drei Fällen beim Passionsmusical des Kirchenmusikers Thomas Riegler. Über berührende Musik, eine mit modernen Elementen ausgestaltete Inszenierung eines weithin bekannten Bibeltextes und das authentische Spiel der vertrauten oder zumindest bekannten Darstellenden wird das Publikum intensiv in das Geschehen hineingenommen, so dass bedeutende Aspekte des christlichen Glaubens neu erfahrbar und erkennbar werden können. Gleichzeitig vermag aber auch eine Anschlussfähigkeit der biblischen Thematik an pressierende Herausforderungen und Diskurse der Gegenwart hervorzutreten. Dass hier Passion quasi weichgespült werde, ist ein denkbarer Vorwurf an ein solches Format, der aber nicht dem Erleben entspricht, das die aktiv und passiv Beteiligten bei der Braunschweiger Aufführung und der Komponist selbst als Erfahrung aus seiner Arbeit schildern.

Postdramatischer Gottesdienst? Über die dramatische Ursituation der Scham Klaas Huizing

1.  T HEATERWISSENSCHAFT ALS NACHBARDISZIPLIN DER THEOLOGIE Das Wort Drama nimmt sich eine Auszeit. Gehätschelte Wortverbindungen wie Drama-Queen wirken albern und gehen im Duden in Rente. Selbst Boulevardblätter verwenden das Wort nur noch auffallend sparsam. Publikumsgängig sind allenfalls popmoderne Revitalisierungen, gerne im Krimiformat verpackt: „Kaiserschmarrndrama“1. Mehlspeisen gehen immer. Und auch die Theaterwissenschaft, Horchposten der Veränderungen im Bühnenbetrieb, tut sich schwer mit ihrer Kernvokal Drama, deshalb wird ihr jetzt ein entscheidungsschwaches „post“ vorangesetzt. Postdramatisches Theater, bitte. Als seien postdramatische Stückeschreiber Athleten der Aufheiterung. Das sind sie selbstredend nicht, sie sind allenfalls redselig, kommen nervös quasselnd nie zum Punkt, als würden sie auf der Bühne nachspielen, was Derrida, Heidegger lässig imitierend, mit dem berüchtigten Kunstwort der differance vorgedacht hat: Der Sinn wird unendlich verschoben und kommt nie ins Ziel. Dramatisches Blut? Fehlanzeige. Wenn überhaupt, dann blutet die materialermüdete Zunge der Schauspieler. Inzwischen ist ein heftiger Streit ausgebrochen, denn der Theatermann Bernd Stegemann, der jetzt auch sein politisches coming out hinter sich hat,2 klagt gegen die Verflüssigungsmetaphorik der Postdrama-Enthusiasten erneut einen knallharten Realismus ein, wirft mit rhetorischer Verve den Postdramatikern vor, letztlich nur nützliche Idioten und Steigbügelhalter des verhassten Neoliberalismus zu 1 Falk, Rita: Kaiserschmarrndrama. Ein Provinzkrimi, München 2018. 2 Bernd Stegemann steht mit Sarah Wagenknecht in der ersten Reihe der Bewegung „Aufstehen“.

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sein. Die Sache ist noch nicht entschieden. Das Ende ist offen. Wie in schlechten Theaterstücken. Der Theologie, namentlich der Praktischen Theologie, die seit Längerem das Gespräch mit der Theater- und Literaturwissenschaft sucht, kann der Streit nicht egal sein, denn zumal für liturgische Debatten war der Import aus der angrenzenden Disziplin bisher befruchtend. Die „performative Kehre“3 im Fach speist sich auch aus diesen Importen. Verlockend muss für Grundsatzfragen der Liturgie das postdramatische Angebot sein, weil für den Protestantismus die Gottesdienstliturgie bekanntlich nicht, wie man es gerne dem Katholizismus unterstellt, eine Reinszenierung des Opfers intendiert. Postdramatik scheint für den Protestantismus, der sich vom Messopferdrama nobel entfernt hält, der richtige Weg zu sein, um die eigene Profilschärfung für Dritte sichtbar und spürbar zu machen. In vier Exkursen will ich das Thema angehen. Ein erster Teil inventarisiert den spannenden Streit in der Nachbardisziplin. Es ist auch ein Streit über die Qualitäten der französischen Meisterdenker, die den Spielraum für das postdramatische Theater abzirkeln. Der von Bernd Stegemann intonierte „Lob des Realismus“4 verrechnet die Postmodernitätsschäden dieser Denkkultur. Innerhalb der Praktischen Theologie ist bereits vor Jahren die performative Wende ausgerufen worden. Sie wird jetzt postdramatisch asphaltiert. Die Bauarbeiten laufen noch. Bodenraumversiegelung ist stets ein Grund zur Nachfrage. Von diesem Streit her blicke ich im dritten Teil auf biblische Texte. Meine These lautet: Biblische Texte zielen, trotz aller eingeschriebenen Binnendramatik auf ein gutes Ende und bieten eine ausgefuchste Tragödienkritik. Genauer: Es gibt durchaus dramatische Situationen, das ja, aber sie horizontalisieren Schlüsselsituationen, die Angebote zur Tragödienverhinderung anbieten, indem sie transparent machen, wie Gewalt, wie Schuld und Sünde, entstehen. Vielleicht ist auch die protestantische Sünden-Verbiesterung in anthropologischen Fragen höchst einseitig und exegetisch gar nicht gedeckt. Vielleicht ist die Heilsfrage ganz anders zu gewichten. Ein letzter Teil fragt, wie man die für eine Liturgie attraktiven Elemente, die dem postdramatischen Ansatz entsprechen – etwa Leiblichkeit, Spielcharakter, Performativität – retten kann, ohne in den Strudel dekonstruktivistischer Hand3 Klie, Thomas/Leonhard, Silke (Hg.): Performative Religionsdidaktik: Religionsästhetik – Lernorte – Unterrichtspraxis, Stuttgart 2008; Ders.: Evangelische Liturgie. Ein Leitfaden für Singen und Sprechen im Gottesdienst, Leipzig 2015; Ders.: Fremde Heimat Liturgie. Ästhetik gottesdienstlicher Stücke, Stuttgart 2010; Ders./Kumlehn, Martina/Kunz, Ralph/Schlag, Thomas (Hg.): Lebenswissenschaft Praktische Theologie?! Berlin/New York 2011. 4 Stegemann, Bernd: Lob des Realismus, Berlin 22016.

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lungslethargie zu geraten. Was soll in der Liturgie erfahren werden? Ich plädiere dafür, Heil vom Schuldbegriff zu entkoppeln. Erfahren wird ein gemeinschaftliches Fest der Erwählung, die eine kräftige Handlungsenergie für den Alltag aus sich entlässt.

2.  D  ER STREIT UMS THEATER – POSTDRAMATISCHES THEATER UND DER SCHREI NACH REALITÄT „Viele Inszenierungen, die ich in den letzten Jahren sah, wirkten so, als sei der Darsteller auf der Bühne dazu da, uns vor dem Stück, der Aufführungstradition und dem toten Autor zu beschützen. Er steht an der Rampe wie ein Mediator. Schlimmstenfalls wie ein Türsteher. Und hinter ihm, als graue Eminenz verbirgt sich der oberste Herr des Theaters, der Spielleiter. Er ist der wahrhaft freie Mann im ganzen System. Er ist derjenige, der aus den Stücken jene Figuren und Motive ‚herausholt‘, die ihn ‚interessieren‘. […] In ihrem Schatten sind die Schauspieler bloße Erfüllungsgehilfen, Angehörige einer szenischen Putztruppe, die sich für das Regiekonzept in den Kampf stürzen – mit dem Publikum, der eigenen Scham und vor allem: mit der Figur, die sie zu spielen haben“, schreibt in gekonnter Empörungsrhetorik und mit einem Hauch von Trauer der Feuilleton-Redakteur der ZEIT, Peter Kümmel.5 Kümmel unterschätzt freilich das zentrale Problem, das sich hinter der scheinbaren Empathiereserve der Schauspieler verbirgt. Der Theoretiker des postdramatischen Theaters, Hans-Thies Lehmann, überzeugt mit einer genealogischen Erkundung: Das postdramatische Theater steht in seiner Deutung am vorläufigen Ende einer langen Tradition von Umwandlungen, „die gegenüber den Postulaten Einheit, Ganzheit, Versöhnung und Sinn das Recht des Disparaten, Partiellen, Absurden, Hässlichen behaupten. Es nahm inhaltlich und formal immer mehr gerade das auf, was man sonst, voller Ekel, nicht (mit Hegel gesprochen, K.H.) ‚aufheben‘ wollte.“ Weil kein Rhapsode oder keine Stimme des Erzählers mehr eine Versöhnungsleistung erbringen kann, tritt eine „notwendige Pluralität von Stimmen“ in den Vordergrund, die ihr je eigenes Recht einfordern. Schauspieler sind nicht länger nur noch Werkzeuge, sondern sie spielen mit ihren Masken, und wenn sie sie anlegen, dann ergibt sich fast zwangsläufig eine Performance, in die das eigene 5 Vgl. Kümmel, Peter: Zum Start der Spielzeit: Euch muss nichts peinlich sein! Verwandlung ist das Wesen des Theaters. Auf unseren Bühnen findet sie nur noch verschämt statt. Eine Verlustmeldung – und der Versuch einer Erklärung, in: DIE ZEIT, No 38, 13. September 2018, Feuilleton, S. 43f.

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Sprechen auch Einzug hält. Dieser Riss zwischen der Rollenidentität und dem eigenen Selbst kann für den Zuschauer und den Kritiker leicht als Peinlichkeit oder Lustlosigkeit missverstanden werden, aber das postdramatische Theater gibt der „‚Gestalt‘ als Totalität, Mimesis, Modell den Abschied.“6 Hans-Thies Lehmann identifiziert als postdramatische Theaterzeichen prompt: „Entzug der Synthesis, Traumbilder, Synästhesie, Performance text.“7 Und durchaus folgerichtig wird dem Körper im postdramatischen Theater neue Aufmerksamkeit geschenkt: „Das postdramatische Theater geht immer wieder über die Schmerzgrenze, um die Abspaltung des Körpers aus der Sprache zu revozieren und in das Reich des Geistes – Stimme und Sprache – in die schmerz- und lustvolle Körperlichkeit wieder einzutragen. […] Indem postdramatisches Theater von mentaler, intelligibler Struktur fortstrebt zur Exposition intensiver Körperlichkeit, wird der Körper absolutiert. Das paradoxe Resultat ist vielfach, dass er alle anderen Diskurse vereinnahmt. Es vollzieht sich also eine interessante Volte: Indem der Körper nichts anderes als sich selbst vorzeigt, erweist sich die Abkehr vom Körper der Signifikanz und die Hinwendung zu einem Körper sinnfreier Geste (Tanz, Rhythmus, Anmut, Kraft, kinetischer Reichtum) als die äußere denkbare Aufladung des Körpers mit einer das gesamte gesellschaftliche Dasein betreffenden Bedeutsamkeit. Es wird zum einzigen Thema.“8 Der Schauspieler im postdramatischen Theater spielt häufig nicht (nur) eine Rolle, sondern er ist Performer, der sich dem Publikum aussetzt, mit ihm kommuniziert, eine Präsenz produziert, die den Betrachter nicht draußen lässt, vielmehr mit ihm eine Transformation anstrebt. Darin aber unterscheiden sich, wie Lehmann einschärft, Theaterarbeit und Performance-Kunst: In der Theaterarbeit bleibt „die Transformation und Wirkung der Katharsis 1) virtuell, 2) freiwillig und 3) künftig. Das Ideal der Performance-Kunst ist dagegen ein Prozess und Moment, der 1) real, 2) emotional zwingend und 3) hier und jetzt geschieht.“9 Und auch weil die Sprache im postdramatischen Theater sich selbst ausstellt, erfährt schließlich das Subjekt seine Dissemination: das Ich ist „Opfer der es durchströmenden Impulse“10, die die

6 Lehmann, Hans-Thies: Postdramatisches Theater, Frankfurt am Main 1999, S. 67, S. 68, S. 71. Thomas Menke hat an Hegels Ästhetik gezeigt, wie im antiken Drama bereits die Gefahr einer Pluralität schlummert, die aller Versöhnung trotzt. Vgl. zudem Menke, Christoph: Tragödie im Sittlichen. Gerechtigkeit und Freiheit nach Hegel, Frankfurt am Main 1996. 7 Ebd., S. 6, S. 139–184. 8 Ebd., S. 163–165. 9 Ebd., S. 248. 10 Ebd., S. 279.

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personale Identität sprengen. Es zerstreut sich, sampelt Geschichten, Tonspuren, theatralische Moves, Affektskulpturen. Gegen diese dekonstruktivistische Flatrate-Performance des postdramatischen Theaters hat in einer gekonnten Empörungskurve, die sich um den argumentativen Feinschliff nicht immer schert, populistische Volten absichtsvoll einsetzend, der Theatermann Bernd Stegemann in Stellung gebracht: „Die Realität meldet sich seit einigen Jahren mit Gewalt zurück. Das Ende der Geschichte scheint vorbei zu sein. […] Die wattierten Zeiten, in denen man mit einer Aussage wie: ‚Der Golfkrieg findet nicht statt‘ als großer Philosoph galt, enttarnen sich langsam als das, was sie schon immer waren: die geschwätzige Seite der neoliberalen Ideologie.“11 Stegemann holt aus zu einem vielseitigen, auf drei Essaybände verteiltes Lob des Realismus. „Mit Realismus ist hier immer eine dialektische Kunst gemeint, die eine gemeinsame Erfahrung von Realität provoziert. Wenn etwas Gegenständliches wiederzuerkennen ist, ist das noch keine realistische Kunst. Es bedarf immer noch der zweiten Begegnung, durch die Erkennen eine Weitung erfährt, sodass dasjenige, was wiedererkannt wird, zugleich als etwas angeschaut werden kann, das so noch nicht erfahren wurde. […] Realismus soll hier also eine ästhetische Methode heißen, mit der man einer immer noch widersprüchlicheren Welt noch beikommen kann.“12 Wiedererkennen und Kritik gehen also Hand in Hand. Realismus heißt also „aufgrund eines ästhetischen Erlebens die reale Umwelt mit anderen Augen sehen“13. Nochmals etwas anders formuliert: „Realismus ist ein philosophischer Begriff. In ihm wird die dialektische Bewegung beschrieben, einen gesellschaftlichen Widerspruch in den Details des Lebens anschaubar zu machen. […] Künstlerischer Realismus ist also immer eine Reaktion auf die Erfahrung der Entfremdung des Subjekts.“14 Stegemann macht eine knallige Gleichung auf: „Dekonstruktion und Ausbeutung haben in der Postmoderne einen erfolgreichen Bund geschlossen. Die alltäglichen Folgen sind im Selbstverständnis des sogenannten dezentrierten Subjekts sichtbar: Man ist trainiert darin, jede Information wahrzunehmen, doch zugleich sind die möglichen Konsequenzen auf ein Minimum reduziert. […] Abgehärtet gegen die tägliche Zerteilung des Ich ist man gleichzeitig ängstlich um seinen inneren Kern bemüht. Und genau an dieser Stelle des flexiblen Menschen tritt das beherrschende Phantasma der Postmoderne hervor: die Sehnsucht nach Authentizität. […] Die egozentrische Pointe besteht darin, dass als wahr nur noch gelten kann, was sich irgendwie richtig oder gut anfühlt. Es ist egal, ob die Wider11 B. Stegemann: Realismus, S. 7. 12 Ebd., S. 11. 13 Ebd., S. 20. 14 Stegemann, Bernd: Kritik des Theaters, Berlin 22014, S. 111.

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sprüche aufhebbar, tragisch oder ironisch sind, was zählt, ist das »Ich fühle«, und das bestimmt, welche Differenzen als unproblematische Wahrheiten anerkannt werden.“15 Dankbar lädt Stegemann Autoren wie David Graeber, Slavoj Žižek, Markus Gabriel, Maurizio Ferraris, Armen Avanessian ein, mit ihm gemeinsam gegen die Dekonstruktivisten (und Konstruktivisten) Anstrengungen zu unternehmen, „um aus dem immer komplexer werdenden Labyrinth von Differenzierungen einen Ausweg zu suchen.“16 Aufgabe des Theaters kann es nach Stegemann nicht sein, die „zersplitterte Realität in zersplitterten Formen zu wiederholen. […] Darin besteht die gesamte Idee des postdramatischen Theaters, des Theaters, das selbst potenziell zu einer Zirkulation von Gegenständen und Zeichen wird, oder von Körper und Zeichen, allerdings von in ihren leidenschaftlichen oder zerrissenen, aber gleichzeitig hoffnungs- und ausweglosen Beziehungen beinahe objektivierten Körpern.“17 Leidenschaftlich beklagt Stegemann, dass im postdramatischen Theater die dramatische Situation ausbleibt. Schuld daran ist „die Ablehnung der Mimesis und die Dominanz des Performativen. Was für alle Formen von dramatischen Situationen bisher galt – das Erscheinen einer anderen Realität in der Realität der Bühne und die Irrealisierung der ersten Realität des Theaters durch die Arbeit der Mimesis – ist nun abgeschafft.“18 In der Postmoderne wird Realismus nur noch „derjenigen Realität zugesprochen, die das Kunstwerk selbst ist und die es durch rekursive Verweise auf seine eigene Realität herstellt. Ab jetzt gilt die Gleichung: Je mehr Fremdreferenzen ein Kunstwerk hat, desto unrealer ist es als Kunstwerk, und je selbstreferenzieller es ist, desto realer erscheint es. […] Die darstellende Kunst hat diese Opposition kopiert, indem sie mit der performativen Wende und den selbstreferentiellen Techniken des Postdramatischen dem Primat der ästhetischen Immanenz folgt. Damit gliedert sie sich in den Reigen ästhetischer Ereignisse, die sinnliches Spüren und vexierhafte Selbstbegegnungen ermöglichen wollen.“19 Der Ehrgeiz postdramatischer Theatermacher besteht darin, wie Stegemann in einer pointierten Formulierung sagt, „das Kunstwerk von mimetischen Verunreinigungen freizuhalten“20. Um satte Vergleiche nie verlegen, parallelisiert Stegemann religiöse Fundamentalisten und postmoderne Künstler, denn beide „lehnen die Möglichkeit von Darstellung grundsätzlich ab. […] Während die einen im Moment der Darstellung 15 B. Stegemann: Realismus, S. 60. 16 Ebd., S. 61. 17 Ebd., S. 82. 18 Ebd., S. 133. 19 B. Stegemann: Kritik, S. 113. 20 Ebd., S. 114.

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ein Sakrileg an dem darin Dargestellten sehen, wird von der anderen Seite die Möglichkeit von Darstellung überhaupt abgelehnt.“21 In einer hübschen dialektischen Volte wird dem postdramatischen Theater vorgehalten, die Fiktion verabschiedet zu haben. „Der ästhetische Argwohn gegen die Fiktion zersetzt jede Arbeit am Realismus. Dabei liegt in der menschlichen Befähigung zur Mimesis die Grundlage für seine Kultur. […] Durch die wechselseitige Wahrnehmung in der gemeinsam geteilten Welt der Fiktion erkennen die Zuschauenden sich selbst als Teil einer Gesellschaft wieder. […] Eine Einübung in die Anerkennung der eigenen Begrenztheit und die daraus folgende Angewiesenheit auf Solidarität ist seit der antiken Tragödie die wesentlichste Wirkung des Theaters.“22 Anders gewendet: „Die dramatische Handlung ist seit ihrem Auftreten auf der Bühne der antiken Polis eine Form der Darstellung, die den Unterschied von berechenbarer Tätigkeit und sozialem Handeln reflektiert.“23 Realistisches Theater wird zu einem vor dem Neoliberalismus geschützten Ort: „Die letzten Orte, an denen Menschen ohne kapitalistische Verwertungsinteressen zusammenkommen können, brauchen Diskurse und Mittel der Gemeinschaftsbildung, die der Erschöpfung und der Sehnsucht entsprechen.“24 Wo das nicht geschieht, verkommt Theater zum „Lifestyle-Produkt“25 und das Spielen auf der Bühne ist nicht länger eine „kritische Kunst“26. Weil die postdramatische Ästhetik auf eine „Abschaffung von Figur, Handlung und dramatischer Situation“27 abhebt, wird ein gemeinschaftliches Erlebnis unwahrscheinlich. Auch vor den postdramatischen Stückeschreibern wie Kathrin Röggla, René Pollesch und Elfriede Jelinek macht Stegemanns dialektische Empörungsprosa nicht halt. Elfriede Jelineks Wirtschaftskomödie „Die Kontrakte des Kaufmanns“ etwa inszeniert die Bankenkrise als „blitzartige Entwertung der Worte und der Werte“,28 indem sie als verquere Mimesis Liquiditätsflüsse in der Sprache inszeniert. Mit Sprache wird auf der Bühne „nicht gehandelt, es wird kein Gespräch geführt oder ein Gefühl ausgedrückt. Damit sind die drei bisherigen Funktionen des Sprechens auf der Bühne abgeschafft“29. Jelinek schreckt nicht vor Kalauern, müden Heideggerianismen, karnevalesken Wortspielen zurück: „Die schie21 Ebd., S. 116. 22 Ebd., S. 122, S. 123. 23 Ebd., S. 146. 24 Ebd., S. 124. 25 Ebd., S. 289. 26 Ebd., S. 161. 27 B. Stegemann: Realismus, S. 187. 28 Ebd., S. 174. 29 Ebd., S. 175.

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re Masse an verirrten Sätzen und aufeinandergetürmten Wortspielen produziert eine aggressive Energie der Mitteilung, die nichts Genaues mehr mitteilen kann und will. […] Das Mittel der Postmoderne, das Elfriede Jelinek wählt, ist nicht mehr die dramatische Narration, sondern die delirante Predigt.“30 Letztlich bleibt die Aufregung über die Bankergier und die Gier der Anleger folgenlos, weil im Dekonstruktionsmarathon der Zeichen das Verstehen auf der Strecke blieb. Eine Systemfrage wird so nicht gestellt und kann so auch nicht gestellt werden. Auch politisch will Stegemann die Systemfrage stellen. Dekonstruktion, so seine Generalthese, macht sich, offenbar unbemerkt, gemein mit dem Neoliberalismus. „Seine Hauptwirkung besteht einerseits darin, dass es die Begriffe des kritischen Denkens, mit dem die materiellen Lebensbedingungen und Eigentumsverhältnisse analysiert werden können, vollständig mit dem Mittel der Dekonstruktion zerstört hat. Und zum anderen hat eben diese Dekonstruktion nicht nur zu einer Zersplitterung des Denkens geführt, sondern die Subjekte und ihre Solidargemeinschaften sind atomisiert worden, sodass nicht mehr soziale Klassen dem Kapital gegenüberstehen, sondern vereinzelte Individuen.“31 Stegemann hadert durchaus nachvollziehbar mit dem bürgerlichen Liberalismus, weil der Liberalismus zwar als Verteidiger der Menschenwürde Verdienste hat, aber der eingelagerte Freiheitsbegriff auch eine große Koalition mit dem ökonomischen Neoliberalismus einging. „Freiheit bedeutet heute eben nicht mehr individuelle Freiheit, sondern Deregulierung des Kapitals und Flexibilität der Menschen.“32 Im hohen Ton beklagt Stegemann den Verlust des Klassenbegriffs. „Heute lebt das liberale Bürgertum in der Illusion, dass der Kapitalismus seine bösen Seiten haben mag, doch der Einzelne in ihm durch reflektiertes Handeln unschuldig bleiben kann. Die ideologische Basis für die Verdrängung besteht darin, dass sich der Einzelne nicht mehr als Teil einer Klasse versteht.“33 Stegemann unterteilt drei Klassen: die eigentlichen Kapitalisten, das breite bürgerliche Spektrum und die nicht kleine Klasse prekärer Existenzen.34 In dieser Frage trifft er sich mit aktuellen Vorschlägen aus der Soziologie. Andreas Reckwitz spricht ebenfalls erneut von Klassen, gewichtet sie aber etwas anders: dem einen Prozent der Superreichen stehen (etwa gleich große) drei Klassen gegenüber: eine hochgebildete Akademikerklasse, das Gros der alten Mittelschicht, jetzt als nichtakademische Mittelschicht charakte-

30 Ebd., S. 178. 31 Stegemann, Bernd: Das Gespenst des Populismus. Ein Essay zur politischen Dramaturgie, Berlin 32017, S. 70. 32 Ebd., S. 73. 33 Ebd., S. 97. 34 Vgl. ebd., S. 24.

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risiert, und eine neue Unterklasse, die Dienstleistungsklasse.35 Postpostdramatisches Theater hat sich um diese neue Klassenbildung zu kümmern, so das Ergebnis. Und nach Stegemann geht das nur, wenn eine dramatische Situation inszeniert wird. Postdramatisches Theater wird dagegen emeritiert, weil es – vielleicht ungewollt dem neoliberalen Dispositiv aufgesessen – die Modernitätsschäden des Neoliberalismus unbearbeitet lässt, sogar häufig verschärft und verlängert. So die vielwortige und atemlose Diagnose. Auch Stegemann neigt zur Hyperventilation.

3.  W  AS SOLL ERLEBT WERDEN, BITTESCHÖN? DIE PERFORMATIVE WENDE IN DER PRAKTISCHEN THEOLOGIE Intuitiv leuchtet mir die performative Wende innerhalb der Religionspädagogik sofort ein: Nach dem vielbeklagten Traditionsabbruch macht es guten Sinn, Schülerinnen und Schüler durch eine gekonnte Inszenierung eine religiöse Lebensdeutung zunächst körpernah erfahren zu lassen, um sich anschließend in einem Gespräch über die Lebensdienlichkeit dieser Deutung auszutauschen. Das gelingt dann – und nur dann –, wenn auch die Schülerinnen die oben von Lehmann eingeforderte Differenz zwischen Theaterspielen und Performance-Kunst im Auge behalten. Die Transformation muss als „virtuell, frei und künftig“36 wahrgenommen werden, andernfalls verkommt der Religionsunterricht zu einer mäßig verschleierten missionarischen Veranstaltung.37 Deshalb gilt: „In einer gelungenen Inszenierung bleiben die Mechanismen der Selbstdistanz intakt – die Lernenden wissen also, dass und was sie gerade spielen.“38 35 Reckwitz, Andreas: Die Gesellschaft der Singularitäten. Zum Strukturwandel der Moderne, Berlin 2017, S. 275: „Wir haben es in der Spätmoderne (wieder) mit einer Klassengesellschaft zu tun. Diese existiert jedoch nicht nur im engen materiellen Sinne, vielmehr handelt es sich auch und gerade um kulturelle Klassen. Neben den ungleich verteilten materiellen Ressourcen (Einkommen und Vermögen) unterscheiden sich die Klassen hinsichtlich ihrer Lebensstile – und ihres kulturellen Kapitals – grundsätzlich voneinander.“ 36 H.-Th. Lehmann: Theater, S. 248. 37 Vgl. Dressler, Bernhard/Klie, Thomas: Strittige Performanz. Zur Diskussion um den performativen Religionsunterricht, in: Ders./Leonhard, Silke (Hg.): Performative Religionsdidaktik. Religionsästhetik – Lernorte – Unterrichtspraxis, Stuttgart 2008, S. 201–224. 38 Leonhard, Silke/Klie, Thomas: Ästhetik – Bildung – Performanz. Grundlinien performativer Religionsdidaktik, in: Ders./Dies. (Hg.): Performative Religionsdidaktik. Religionsästhetik – Lernorte – Unterrichtspraxis, Stuttgart 2008, S. 20.

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Nur konsequent betonen Thomas Klie und Silke Leonhard in einem gemeinsamen Essay, religionsästhetische Bildung ziele darauf, „Geschöpflichkeit als Gabe der Bildsamkeit transfunktional, also ohne Zweck wahrzunehmen und zu gestalten.“39 Nicht länger wird dem Handlungsbegriff alle Aufmerksamkeit geschenkt, vielmehr rückt die Wahrnehmung ins Zentrum des Interesses, denn „die ästhetische Dimension von Bildung und Lernen“ gründet in der „Wahrnehmung: Wahrnehmung gestaltet sich ebenso als aktiv gestaltendes, erschaffendes Einwirken auf die Welt (poiesis) wie als pathisch-empfängliches Aufnehmen derselben (aisthesis), aber auch als kritische Betrachtung dergleichen (katharsis).“40 Wer, so die Pointe, „die Welt im Modus verheißungsvoller Teilhabe durch Rezeption“ erschießt und „perspektivische Weltsichten durch Modellierung und, wenn man so will, ‚Konstruktion‘ auf sinnfällige Lebensgestaltung“, ausrichtet, steht auf der Schnittstelle „ethischer und ästhetischer Bildung“41. Als „Basiskategorien“ der Performativen Religionsdidaktik werden ausgegeben: „Körper, Raum, Sprache, Liturgie, Text und Kunst“.42 Gleich einer Parallelaktion wird die performative Kehre auch in der Praktischen Theologie und Liturgiewissenschaft vorangetrieben. In einem rezenten Aufsatz hat Thomas Klie43 die äußerst fruchtbare und hoch spannende Debatte inventarisiert und nach Anschlussmöglichkeiten für postdramatische Einsichten gefragt. In die Inventarisierung eingelagert werden auch markante Deutungsdifferenzen zwischen lutherischem und reformierten Spiel- und Inszenierungsverständnis klar: Weil der Agendenzwang in den Schweizer Gemeinden nahezu wegfällt, kann (oder droht) sich eine gottesdienstliche Inszenierung stark zu verselbständigen. David Plüss etwa will vom Textparadigma konsequent auf das Performance-Paradigma umstellen, dann aber werden nicht mehr Evangeliumstexte szenisch aufbereitet, sondern eine kontingente Gotteserfahrung inszeniert, die Anknüpfungspunkte für biographische Schlüsselsituationen bieten.44

39 Ebd., S. 17. 40 Ebd., S. 17. 41 Ebd., S. 18. 42 Ebd., S. 19. 43 Vgl. Klie, Thomas: Post-dramatisch. Zur Rezeption des Theaterparadigmas in der Praktischen Theologie, in: Gladisch, Katharina/Ders. (Hg.): Geschlossene Gesellschaft. Gespielt –gedacht – gepredigt. Identitätsdramen zwischen Text und Performanz, LIT 2016, S. 177–200. 44 Vgl. Plüss, David: Gottesdienst als Textinszenierung. Perspektiven einer performativen Ästhetik des Gottesdienstes, Zürich 2007. Der Titel des Buches ist leicht missverständlich.

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In seinem Gespräch mit Lehmanns postdramatischer Theaterpoetik sucht Thomas Klie nach Bezügen zwischen postdramatischer und kirchlicher Symbolsprache, nennt Parataxis/Non-Hierarchie, Simultaneität, Musikalisierung, visuelle Dramaturgie, Körperlichkeit, Einbruch des Realen, Situation, beklagt aber auch die Tendenz, durch die „religionsästhetische Euphorie“ werde die klare „Verständigung über die Gegenwartsbedeutung der Heiligen Schrift“45 vernachlässigt. Nicht zufällig erinnert Klie an Autoren, die bereits im 19. Jahrhundert zum ersten Mal Theater und Kirche aufeinander bezogen haben wie etwa Heinrich Alt, für den das „liturgische Spiel“ ganz im Zeichen der „Heilsdidaktik“46 stand. Auch für Klie wie für Dressler zielen gottesdienstliche und religionsdidaktische Performanzen letztlich auf das „Christusereignis“47. Selbstredend soll sich die Praktische Theologie nicht länger am „Normenkanon der Systematischen Theologie“48 orientieren – das fordert in meiner Alterskohorte auch niemand mehr –, aber die Rede vom Christusereignis ist extrem voraussetzungsvoll, hat die alte Heilsfrage, die Frage nach Schuld und Sünde im Schlepptau. Stegemann spricht, wie oben gelesen, statt von Sünde von Entfremdung – ein Austausch von Vokabeln, den bekanntlich auch Paul Tillich bereits befürwortet hatte –, an dieser zentralen Stelle im Diskurs steht Klie deutlich näher bei Stegemann als bei Lehmann, ist eher ein Vertreter der Postpostdramatik. Ein zweiter Punkt kommt hinzu: Die drohende Performanz des Performativen dokumentiert die Einseitigkeit rezeptionsästhetischer Annäherung. So wichtig und unverzichtbar die rezeptionsästhetische Kehre war, die Rede vom Christusereignis überdeckt die Frage, wie biblische Narrative produktionsästhetisch Strategien ersinnen, um religiöse Erfahrung zu inszenieren. Auch der Heilige Geist hat eine Grammatik. Und die muss konsequent erforscht werden. Thomas Klie fordert wiederholt dazu auf, erneut anthropologische Fragen präziser in den Fokus zu rücken. Wie steht es um die Bildbarkeit des Menschen? Wie um die Lebenskunst? „Praktische Theologie wird sich als eine das Leben deutende Wissenschaft“ auch „gestischen Erscheinungsformen“ widmen.49 Ich möchte dem Vorschlag folgen und ein an biblischen Narrationen radikal neu justiertes, weniger

45 Th. Klie: Post-dramatisch, S. 194. 46 Ebd., S. 180. 47 B. Dressler/Th. Klie: Performanz, S. 215. 48 Th. Klie: Post-dramatisch, S. 183. 49 Klie, Thomas: Alltagsreligion – Sonntagskultur. Das praktisch-theologische Interesse an den Oberflächen, in: Ders./Kumlehn, Martina/Kunz, Ralph/Schlag, Thomas (Hg.): Lebenswissenschaft Praktische Theologie?! Berlin/New York 2011, S. 149–162, hier S. 149.

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sündenverbiestertes Menschenbild präsentieren und zugleich Nachdruck auf die Geste der Scham legen.

4.  D IESSEITS DES DRAMAS – BIBLISCHE NARRATIONEN ALS TRAGÖDIENKRITIK Fraglos. Die biblischen Narrationen bedienen häufig das Stilmittel des Dramas. Der Alttestamentler Helmut Utzschneider hat schlüssig das „Drama als Genre der prophetischen Literatur“50 ausgewiesen. Und es gibt Komödien (ist Hiob nicht eher eine Komödie als eine Tragödie?51), komische Helden wie Jona oder Bileam, Trickstergestalten wie Jakob und Ester, sogar prophetische Satire bei Amos.52 Nimmt man aber den Kanon in den Blick, dann gilt: Ende gut, alles gut. Der hochdramatische Karfreitag, der Tag der Klage, ist bekanntlich nicht der Endpunkt einer dramatischen Geschichte. Ostersonntag ist schlagende Tragödienkritik. Literaturwissenschaftlich gedeutet, haben die biblischen Narrationen ein kitschkräftiges Achtergewicht. Dass allerdings die biblischen Narrationen überhaupt so viel dramatisches Potential besitzen, liegt am falschen Austrag einer zentralen dramatischen Situation. Es gibt, so meine These, an zentraler Stelle in den biblischen Narrationen eine dramatische Schlüsselsituation, an der sich alles entscheidet. Wer diese dramatische Situation überliest, vergibt alles, muss die Anthropologie nachtschwarz einfärben und landet bei schlechter Theologie. Seit Jahren wiederhole ich gebetsmühlenartig in nahezu jedem Essay oder Buch die bei allen Alttestamentlern von Rang aufgelesene These: Von Sünde ist erstmals in der Kain- und Abel-Erzählung explizit die Rede, von einer Sündenfallgeschichte zu sprechen macht wenig Sinn, diese Narration beschreibt, wie die amerikanische Philosophin Martha C. Nussbaum deutlich machen kann, eine Phase der Aufklärung und der Ernüchterung im menschlichen Leben: „In dem Maße, in dem alle Kinder ein Gefühl der Allmacht genießen, spüren auch alle Kinder Scham über die Erkenntnis ihrer menschlichen Unvollkommenheit: Das ist eine universale Erfahrung, die der biblischen Geschichte von unserer Scham angesichts unserer Nacktheit zugrunde liegt.“53 50 Utzschneider, Helmut: Michas Reise in die Zeit. Studien zum Drama als Genre der prophetischen Literatur. Stuttgarter Bibelstudien 180, Stuttgart 1999. 51 Vgl. den großartigen Aufsatz von Whedbee, William: The Comedy of Job, in: Semeia 7 (1976), 1–39. 52 Matthiae, Gisela: Humor (AT), in: WiBiLex, Stichwort 21610. 53 Nussbaum, Martha C.: Women and Human Development. The Capabilities Approach, Cambridge 2000, S. 99f.

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Wenn sich Adam und Eva außerhalb der paradiesischen Naivität plötzlich über ihre Nacktheit schämen (Gen 3,7), dann ist damit folgende Erfahrung beschrieben: Plötzlich werden die Protagonisten sich darüber klar, dass künftig unser Selbstbild auch durch die Augen des Anderen auf dem Prüfstand steht, ich als Person aber zugleich einen Anspruch auf Intimität habe. In dieser biblischen Szene geht es primär nicht um menschliche Sexualität, wie in der älteren Literatur zum Thema immer wieder behauptet wurde, sondern um künftige mögliche intersubjektive Schamerfahrungen, die sich gesichtshaft darstellen, genau dann, wenn in einer Situation durch meine Handlung ich in den Augen der/des Anderen, der/die mir wichtig sind, schamvoll erleben muss, dass mein eigenes Selbstbild in die Krise und mein soziales Kapital in eine galoppierenden Inflation gerät: Ort der für mich erlebbaren hochdramatischen Situation ist das unbekleidete Gesicht. Ich plädiere dafür, sehr deutlich zwischen Schamhaftigkeit und Scham zu unterscheiden. Scham hat eine positive, charakterformende Qualität, denn die Scham hält dazu an, Tugenden auszubilden, die mein Leben als Leben im Kontext mit anderem Leben zu einem gelingenden Leben macht. Scham hat eine positiv lebensdienliche Funktion, die dazu anleitet, gemeinschaftsfähig oder gemeinschaftstreu zu agieren. Scham fordert dazu auf, die Unwucht in den sozialen Beziehungen neu auszubalancieren. Eine biblische Narration kann diese Sicht der Dinge plausibilisieren. Schamhaftigkeit steht dagegen für den durchaus nachvollziehbaren Wunsch, Räume persönlicher Intimität zu schützen. In der Kain- und Abel-Erzählung führt die Figur Gott Kain in eine Schamsituation, indem er das Opfer von Kain im Unterschied zum Opfer Abels ignoriert. Gott meldet sich, als Kain in einer Melange aus Wut und Scham den Kopf senkt, selbst zu Wort – wahrscheinlich eine spätere, aus der Weisheitstradition eingespeiste dramaturgische Neuerung –, stellt sich als freundschaftlicher Ratgeber vor, der Kain darauf hinweist, dass er dazu neige, unbeherrscht zu sein und somit Aggressionsgefühlen wie Neid und Eifersucht, die soziale Kontexte kontaminieren, keine Grenze setze. Gott plädiert also für Selbstbeherrschung und Sensibilität54 als Basistugenden. Wenn die nicht eingehalten werden, so die Pointe, stehe die 54 Im engen Rahmen dieses Essays kann ich nur darauf verweisen, dass Ernst Tugendhat mit Adam Smith als die zwei Basistugenden, die wir wechselseitig voneinander fordern können, Selbstbeherrschung und Sensibilität auszeichnet. Alle Mitglieder in einer liberalen Gesellschaft müssen sich, wenn gegen diese Tugenden verstoßen wird, schämen. Scham ist in diesem Fall ein notwendig von allen geteiltes Gefühl, die Schamzeugen müssen sich empören. Auch die biblische Kain- und Abel-Erzählung fordert diese Tugenden ein. Es gibt also einen überlappenden Konsens zwischen Philosophie und Theologie in dieser Frage. Dazu ausführlich: Huizing, Klaas: Scham und Ehre. Eine theologische Ethik, Gütersloh 2016.

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Sünde vor der Tür (Gen 4,7). Sünde meint in diesem Kontext: Verfehlung des Lebenszieles im sozialen Kontext. Der Protagonist Kain allerdings empfindet die Passivität der Schamsituation als so bedrängend, dass er es vorzieht, Abel, den Gott ihm scheinbar vorzieht, zu ermorden. Sein Selbstbild als Erstgeborner ist offenbar so fest eingebrannt, dass er sich in seiner Eifersucht auf die Anerkennung Abels durch Gott dazu entschließt, keine Korrekturen an seinem Selbstbild vorzunehmen, sondern es vorzieht, schuldig zu werden. Hierin entdecke ich den (vorsichtiger: einen) Ursprung von Gewalt: Weil ich in der Schuld Handlungssouveränität erreiche, ziehe ich die Schuld der Scham vor. Ich verschiebe die Scham in die Schuld. Schuld ist offenbar in dieser dramatischen Situation attraktiver als eine durch die Schamsituation angezeigte Charakterjustierung.55 Die Geschichte geht bekanntlich noch weiter: Gott vergibt Kain die Tat nicht einfach, Kain muss vielmehr mit dieser Schuld künftig leben, aber Gott verpasst ihm ein Kainsmal, in meiner Lesart einen Aggressionsstopper, der Kain vor Rache durch Dritte schützt. Gott macht eine Differenz auf, unterscheidet zwischen Werk und Person, vielleicht sollte man sagen: seinem unverlierbaren Status der Erwählung. Später wird man diese Differenz als Rechtfertigungslehre genauer benennen. Hier hat sie ihren Ursprung.56 Vor diesem hier aufgespannten Horizont lesen sich die biblischen Erzählungen als Trainingsgeschichten, um immer wieder die Schwelle der Gewalt, der Schuld und Sünde, zu markieren. Längst sind wir darüber aufgeklärt, dass viele der erzählten Geschichten einen fiktiven Charakter haben, folgt man der Einschätzung von Bernd Stegemann, dann ist diese Fiktionalität durchaus von Vorteil, ist doch nach seinem Urteil, wie oben zitiert, die menschliche Befähigung zur fiktionalisierten Mimesis Grundlage der Kultur: Menschen erkennen sich in der gemeinsam bewohnten Welt der Fiktion wieder, verstehen ihre Begrenztheit und Angewiesenheit auf Solidarität. Richtig: Die auf die Kain- und Abel-Erzählung folgenden Erzählungen zeigen wenig Fortschritt in der Vermeidung von Gewalt, Gott selbst greift sogar zur Gewalt und macht Tabula rasa (hat er sich über seine Schöpfung geschämt und Gewalt vorgezogen?), gestattet den Menschen nach dem Neustart mit Noah sogar eine Aggressionskanalisation, indem die ehemals vegetarische Schöpfung aufgegeben wird: der Mensch darf jetzt Tiere schlachten und verzehren, um die Gewalt zu kanalisieren. (Vielleicht war diese Kehre auch nur eine nicht uneigennützige Volte der Priesterklasse, die sich am Opferfleisch satt 55 Vgl. dazu ausführlich Williams, Bernard: Scham, Schuld und Notwendigkeit. Eine Wiederbelebung antiker Begriffe der Moral. Aus dem Englischen von Martin Hartmann, Berlin 2000. 56 Vgl. Katharina Gladisch: https://theoskop.com/home/wahnsinn-um-drei-ecken/ (Zugriff 21.09.2019).

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aß.) Mir ist trotz dieser milde ernüchternden Sicht auf die Menschen weiterhin wichtig: Schuld und Sünde sind beherrschbar,57 vielleicht neigt der Mensch zu aggressiven Ausbrüchen, sie sind aber durchaus tugendethisch einzuhegen. Zur Misanthropie und sogar zur Rede von einem grundsätzlich versklavten Willen besteht kein Anlass. Innerhalb der Erzählgemeinschaft des Christentums ist diese Pointe leider nicht hinreichend zur Darstellung gekommen, deshalb müsste diese dramatische Ur-Situation auch innerhalb der Gottesdienstliturgie viel prominenter – etwa in der Predigt – zur Darstellung kommen.

5.  P OSTPOSTDRAMATISCHE LITURGIE – EINE NEUE VERORTUNG DES HEILS Mit dem praktischen Theologen Wilfried Engemann teile ich die Vorbehalte gegen eine zu einseitig auf Schuld- und Sündenfragen zentrierte Theologie, die sich auch in liturgischen Bezügen spiegelt. Als „motivgeschichtliches ‚Urkriterium‘ von Religion“ macht Engemann „ihre Lebensdienlichkeit“58 aus, diese glaubt er gefähr57 Nach Thomas Krüger wäre es im Rekurs auf Genesis 1–­9 eher angemessen, von einem Sündenfall nach dem Paradies zu sprechen. „Der ‚Sündenfall‘ wäre dann nicht im Paradies zu verorten, sondern eher in einem schleichenden Überhandnehmen der Sünde und der Gewalttätigkeit zwischen der Zeit Kain und Abel und der Sündflut.“ (7) Thomas Krüger sagt treffend, dass die berühmten Stellen über das verdorbene Herz in Genesis 6,5f. und 8,21f. als „‚universal-anthropologische‘ Aussagen“ etwa bei Paulus rezipiert worden sind, diese Rezeption aber nicht dem „‚ursprünglichen Sinn‘ entspricht“ Krüger, Thomas: Das menschliche Herz und die Weisung Gottes. Studien zur alttestamentlichen Anthropologie und Ethik, Zürich 2009, S. 136. 58 Engemann, Wilfried: Als Mensch zum Vorschein kommen. Anthropologische Identifikationen religiöser Praxis, in: Engemann, Wilfried (Hg.): Menschsein und Religion. Anthropologische Probleme und Perspektiven der religiösen Praxis des Christentums, Wien 2018, S. 17–42, hier S. 24. Vgl. auch Ders.: Das Lebensgefühl im Blickpunkt der Seelsorge. Zum seelsorgerlichen Umgang mit Emotionen, in: WzM 61(2009), S. 271–286. Vgl. Ders.: Als Mensch zum Vorschein kommen. Anthropologische Identifikationen religiöser Praxis, in: Ders. (Hg.): Menschsein und Religion. Anthropologische Probleme und Perspektiven der religiösen Praxis des Christentums, Wien 2018, S. 37: „Ein protestantisches Identitätskonzept sollte dagegen anschlussfähig sein an Einsichten über den Menschen, die (auch) jenseits theologischer Wissenschaften gewonnen wurden und die falsche bzw. verkürzte Rezeption Darwins überwinden.“ Vgl. auch Bauer, Joachim: Prinzip Menschlichkeit. Warum wir von Natur aus kooperieren, München 2008.

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det, wenn Theologie einen Hiatus aufmacht zwischen Christsein und Menschsein: „Die Gottesdienstliturgie als kultischer Kern des Christentums steht am stärksten in der Gefahr, Menschen an eine Glaubenskultur heranzuführen, durch die sie in eine bizarre Zwickmühle geraten. Sie werden in endlosen Rechtfertigungsschleifen faktisch vor die Alternative gestellt, entweder gerne Mensch oder christlich zu sein. Das zeigt sich auch an dem nach wie vor dominanten moralischen Sündenbegriff, der Menschen in allem, was an Gutem von ihnen erwartet wird […], stereotyp ein ‚zu wenig‘ unterstellt.“59 Hellsichtig auch kritisiert Engemann „die Verkürzung der Erfahrung von Heil auf alles, woran der Mensch angeblich keinen Anteil hat“, denn diese Verkürzung führt dazu, „dass Glauben faktisch auf die Kategorie einer Gewissheit reduziert wird.“60 Aufgabe des religiösen Kultus in der Beichte, im Bekenntnis oder im Gebet, ist es nach Engemann, die „Glaubenshaltung von Menschen als Gesamtausdruck der Beziehungen“ zur Darstellung zu bringen: „Auch die Predigt kommt in der Regel an einen für ihr Gesamtverständnis weichenstellenden Punkt, an dem der Mensch sich selbst zum Thema und auf eine ganz bestimmte Weise zu verstehen gegeben wird, nämlich im Horizont der Beziehung zu sich selbst, zu den anderen und zu Gott. Bei diesen Sequenzen des Gottesdienstes hängt alles davon ab, dass ein Mensch als der, der er ist, aus der Deckung kommen kann. Er soll zu sich selbst, zu den anderen und zu Gott in Beziehung treten können, ohne sich in der Glaubenshaltung, die sich in diesen Beziehungen manifestiert, verkrümmen zu müssen.“61 Hintersinnig verschiebt Engemann den Sündenbegriff, denn eine falsche Liturgie (als Folge einer falschen Theologie) führen zwangsläufig dazu, dass Menschen im Gottesdienst zu einer Petrifizierung und Abschottung ihres Selbstbildes geraten. Damit wäre in der Tat der phänomenale Sachverhalt der Sünde umschrieben. An einer Stelle im Diskurs zögere ich zuzustimmen, denn Engemann spricht wiederholt von einem leidenschaftlichen Lebensgefühl, das es zu erreichen gelte.62 Die Rede von Lebensgefühl erinnert freilich sehr stark an Authentizitätsbestrebungen im Dekonstruktivismus, die gegen die Zersplitterung in der Postmoderne aufgeboten werden. Der französische Philosoph Tristan Garcia hat in seinem Buch „Das intensive Leben“63 mit guten Argumenten ein Leben, das sich an

59 W. Engemann: Mensch, S. 31. 60 Ebd., S. 37. 61 Ebd., S. 32. 62 Vgl. ebd., S. 20. 63 Vgl. Garcia, Tristan: Das intensive Leben. Eine moderne Obsession, Berlin 2017.

Postdramatischer Gottesdienst? Über die dramatische Ursituation der Scham | 123

Gefühlsintensitäten orientiert, als Überforderung demaskiert.64 Zumindest ist der diskursleitende Begriff des (leidenschaftlichen) Lebensgefühls nicht unmittelbar transparent für soziale Werte und Fragen der Gerechtigkeit.65 Als Systematiker plädiere ich dafür, die Rede vom Heil in der Gotteslehre zu verorten: Schöpfung = Erwählung = Heil, lautet mein Angebot. Menschen sind von Gott erwählt, all inclusive, versteht sich. Der dogmatische Topos der Erwählung hat seinen Platz also ebenfalls in der Gotteslehre.66 Alle Menschen sind bleibend erwählt. Das ist die frohe Botschaft biblischer Narrationen. Aber auch das zeigen die Erzählungen: Es gibt eine dramatische Ur-Situation, die präzise beschreibt, wie das Heil in die Krise gerät. Es wäre naiv zu leugnen, dass es keine Schuld oder Sünde gibt. Auch Schuld und Sünde haben einen Ort im Gottesdienst, sofern sofort daran erinnert wird, dass in den biblischen Narrationen durchaus nicht durchgehend Schuld mit einem verlässlich-gnädigen Pardon von Seiten Got-

64 Das Angebot, das er selbst anbietet, eine Balance aus Langeweile und Intensität, kann nicht überzeugen und erinnert eher an Ratgeberfloskeln. 65 Thomas Klie fordert mit Kolleginnen und Kollegen Praktische Theologie als Lebenswissenschaft zu betreiben. Vgl. auch Korsch, Dietrich: Life science – gelebte Religion – Theologie als Lebenswissenschaft, in: Klie, Thomas/Kumlehn, Martina/Kunz, Ralph/ Schlag, Thomas (Hg.): Lebenswissenschaft Praktische Theologie?! Berlin/New York 2011, S. 341–344. „Von […] der doppelten Verfassung – umweltabhängig und umweltaneignend – ist das Leben zur steten Steigerung gezwungen, als Anpassung nicht nur, sondern in der Form der Bereitstellung überkomplexer, nichtfunktionaler Möglichkeiten: Leben ist Selbststeigerung (Nietzsche) – und nur im Modus der Selbststeigerung liegt die Möglichkeit seiner Selbsterhaltung. […] Wir haben – schon längst – mit Hybriden zu rechnen, in denen technische Verschaltungen die unmittelbare Rückbezüglichkeit organismischen Lebens stützen und fördern. Nicht die Technik siegt über die Natur, sondern das Leben leibt sich die Technik ein.“ D. Korsch: Life, S. 343. Vgl. auch die formidablen Bände: Bahr, Petra/Schaede, Stephan (Hg.): Das Leben I. Historischsystematische Studien zur Geschichte eines Begriffs, Tübingen 2009; Schaede, Stephan/Hartung, Gerald/Kleffmann, Tom (Hg.): Das Leben II. Historisch-systematische Studien zur Geschichte eines Begriffs, Tübingen 2010. 66 Bereits Karl Barth hat 1942 diesen Vorschlag unterbreitet. Er ist der erste Dogmatiker, der „die Erwählungslehre als einen integrierenden Bestandteil der Gotteslehre“ (KD II/2, 85) präsentiert. Bei Barth freilich wird dieser Gedanke trinitätstheologisch verankert, weil er so das Sündenthema besser glaubt in den Griff zu bekommen. In dieser Frage folge ich Karl Barth nicht.

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tes begegnet wird.67 Und häufig tritt in liturgischen Zugriffen zu wenig das Opfer der Gewalt in den Blick. Zunächst und zumeist ist der christliche Gottesdienst aber ein Fest der Erwählung, ein Fest der Lebensgaben Gottes.68 Der Gottesdienst ist ein vor dem Neoliberalismus geschützter Ort, in dem jene Kraft vermittelt wird, aus der Gemeinschaftserfahrung heraus jene Schäden, die der Neoliberalismus verursacht hat, im Alltag mit Lust anzugehen. Anders als die Postdramatiker halte ich (mit Stegemann) die Re-Inszenierung einer dramatischen Ur-Situation für unabdingbar, weil diese Ur-Situation die Schwelle für Gewalt und Sünde markiert. Auf „Figur, Handlung und dramatische […] Situation“69 mag ich nicht vollständig verzichten. Und doch will ich in einer zentralen Frage den kritischen Impuls der postdramatischen Bewegung aufnehmen: Zwar halte ich die Rede für eine Dissemination des Subjekts für kräftig übertrieben, aber Aufgabe des Theaters und auch des kirchlichen Theaters ist es, das eigene Selbstbild stets hinterfragbar und offen zu halten. Wir müssen beschämbar bleiben. Eine schamlose Gesellschaft wäre eine unfreie und geschlossene Gesellschaft. Ein Gottesdienst feiert die Lebensgaben, erzeugt Lust, das Heil des Lebens gemeinschaftlich zu bewahren und gegen drohendes Unheil vorzugehen. Postdramatischer Gottesdienst? Ja, – sofern darunter ein Gottesdienst verstanden wird, der sich vom alten Heilsdrama ganz entschieden befreit. 67 Vgl. Lütze, Frank Michael: „So ist Versöhnung […] eine Aufgabe, die noch mehr vor als hinter uns liegt“, in: Pastoraltheologie 100 (2011), S. 316–331. Hellsichtig schreibt Lütze: „Wenn wir den semantischen Reim von Schuld und Vergebung für einen Augenblick außer Geltung setzen, wenn wir uns vorübergehend dem breiten Traditionsstrom entziehen, der in der Schuldentsorgung das Zentralanliegen des Christentums sieht, so werden daneben einige Seitenlinien sichtbar, die auf von Gott gewährte Lebensmöglichkeiten im Angesicht bestehender Schuld hinweisen.“ F. M. Lütze: Versöhnung, S. 324. Lütze verweist sowohl auf die Kain-Erzählung als auch auf den Josefslegendenkranz, die ohne Versöhnung auskommen. 68 Dazu Jörns, Klaus-Peter: Liturgie der Feier der Lebensgaben Gottes, in: Deeg, Alexander/Mildenberger, Irene/Ratzmann, Wolfgang (Hg.): Angewiesen auf Gottes Gnade. Schuld und Vergebung im Gottesdienst, Leipzig 2012, S. 129–134. Vgl. auch: Albrecht, Christian: Sinnvergewisserung im Distanzgewinn. Liturgische Erwägungen über das Wesen des evangelischen Gottesdienstes zwischen Feier und Fest, in: ZThK 97 (2000), S. 362–384. Rössler, Dietrich: Unterbrechungen des Lebens. Zur Theorie des Festes bei Schleiermacher, in: Cornehl, Peter/Dutzmann, Martin/Strauch, Andreas (Hg.): In der Schar derer, die da feiern. Feste als Gegenstand praktisch-theologischer Reflexion, Göttingen 1993, S. 33–40. 69 B. Stegemann: Realismus, S. 187.

Liturgische Präsenz, Liturgische Bildung, Performanz Konrad Müller

1.  HINFÜHRUNG In den Jahren 2002 und 2004 erschienen mit dem von Thomas Kabel verfassten „Handbuch Liturgische Präsenz“1 und dem „Evangelischen Zeremoniale“2 zwei Veröffentlichungen, die die Aufmerksamkeit ihrer Leser auf das liturgische Verhalten im Gottesdienst richten wollten. Fragen der Gestalt, der Formen und des Kontextes liturgischen Handelns waren ihr zentrales Thema. Das Erscheinungsdatum beider Publikationen fiel damit in die Zeit eines erhöhten Interesses an der Frage der gottesdienstlichen Aufführung. Der Schauspieler und Regisseur Thomas Kabel hatte einige Grundsätze seiner Regiearbeit in ein liturgisches Trainingsprogramm gegossen, das Ende der 1980er und Anfang der 1990er Jahre des vergangenen Jahrhunderts eine regelrechte Nachfragewelle nach den Grund- und Aufbaukursen „Liturgische Präsenz“ ausgelöst hat. Die folgenden Überlegungen befragen das Konzept der Liturgischen Präsenz nach Thomas Kabel auf seinen theoretischen Hintergrund hin. Die Ergebnisse dieser Analyse sollen einen Beitrag dazu leisten, das Theoriesetting der Liturgischen Präsenz nach Thomas Kabel besser zu verstehen. Dies mündet abschließend in Überlegungen, wie dem allgemein anerkannten Anliegen der Liturgischen Präsenz, dem Auftreten stärkere Aufmerksamkeit zu widmen, Rechnung getragen und deren berechtigte Anliegen weiterentwickelt werden können.

1 Kabel, Thomas: Handbuch Liturgische Präsenz. Bd. 1: Zur praktischen Inszenierung des Gottesdienstes, Gütersloh 2002. 2 Zeremoniale-Ausschuss der Liturgischen Konferenz (Hg.): Ein Evangelisches Zeremoniale, Gütersloh 2004.

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2.  DIE BOTSCHAFT DER FORMEN Vergleicht man das vom Zeremoniale-Ausschuss der Liturgischen Konferenz herausgegebene „Evangelische Zeremoniale“ mit Kabels Veröffentlichungen,3 so fällt auch dem unbefangenen Leser sofort auf, dass sich hinter den eher oberflächlich zu beschreibenden Differenzen bezüglich des angemessenen liturgischen Verhaltens tiefe Differenzen hinsichtlich der Frage verbergen, was liturgisches Tun kennzeichnet und wie es wahrgenommen wird und wie es wirkt. Das „Zeremoniale“ kann seine semiotische Grundausrichtung nicht verleugnen. In den Vorüberlegungen zu Gottesdienst und Raum, mit denen das Kapitel über Gestik und Körpersprache beginnt, heißt es: „Menschen versammeln sich in einem Raum, bereit, dem Unfassbaren zu begegnen, das Quelle, Inhalt und Ziel ihres Lebens ist. Sie vermitteln einander die Begegnung in Zeichen, d.h. in Symbolen, Sprache und Gesten.“4 Solchen Äußerungen liegt erkennbar ein zeichentheoretischer, semiotischer Denkansatz zugrunde. Die Wirkung der Person, ihres Auftretens und ihres Redens, wird primär von der Botschaft her gedacht, die mit den Zeichen verbunden ist. Dass hier das „Handbuch Liturgische Präsenz“ anders denkt,5 ist nicht nur der Absicht des Werkes geschuldet, Hilfen zur praktischen Inszenierung des Gottesdienstes zu geben, wie es der Untertitel zum Ausdruck bringt. Es geht bei der Arbeit in „Liturgischer Präsenz“ um die Gesamtwirkung der Person, die sich dem Zugriff semiotischer Analyse in einem bemerkenswert hohen Maße entzieht. Wer erlebt, wie in den Kursen von Liturgischer Präsenz nach Thomas Kabel6 der Auftritt der Teilnehmer im Gottesdienst wahrgenommen wurde und wird, bekommt einen deutlichen Eindruck davon, dass Körpersprache und Gestik in vielen Fällen nicht in ihrem intendierten Zeichengehalt, also von ihrem kommunikativen Anliegen her verstanden, sondern als Anzeichen für die Person des Liturgen oder der Liturgin und deren Verhältnis zur Gemeinde, zur eigenen Rolle und zu dem, was sie sagt, interpretiert wird. Grüßt beispielsweise jemand die vor ihm stehende oder 3 Thomas Kabel hat im zweiten Band des Handbuchs (Kabel, Thomas: Handbuch Liturgische Präsenz. Bd. 2: Zur praktischen Inszenierung der Kasualien, Gütersloh 2007) die Grundsätze der Liturgischen Präsenz auf Taufe, Konfirmation, Trauung, Ordination und Bestattung angewendet. 4 Zeremoniale-Ausschuss der Liturgischen Konferenz (Hg.): Zeremoniale, S. 73. 5 Leider ist der aufführungstheoretische Hintergrund der „Liturgischen Präsenz“ nicht ausführlich dargelegt worden. Dies hat zu mancher Spekulation Anlass gegeben, die diesem Konzept nicht gerecht wird. 6 Ist in den folgenden Ausführungen von „Liturgischer Präsenz“ die Rede, so ist damit immer Liturgische Präsenz nach Thomas Kabel gemeint.

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sitzende Gruppe, indem er die Hände öffnet, hängt es oft entscheidend von vielfach kaum wahrnehmbaren Bewegungs- und Haltungsdetails ab, ob dieselbe Bewegung als natürlich oder als zwanghaft, als zugewandt oder als künstlich interpretiert wird. Was dann häufig bei denen, die begrüßt werden, ankommt, ist nicht oder nicht nur bzw. nicht hauptsächlich die Botschaft des Grußes, die semiotisch intendiert sein mag, sondern ein allgemeiner Eindruck vom Gegenüber, der in dem, was er tut und sagt, zeigt, wie er sich in seiner Rolle fühlt, wie sein Verhältnis zu den Anwesenden im Besonderen und zur aktuellen Situation im Allgemeinen ist und welchen Wert er dem gibt, was er sagt oder zeigt. Man wird also zwischen Zeichen und Anzeichen unterscheiden müssen.7 Das Zeichen transportiert absichtsvoll einen Inhalt. Das Anzeichen ist demgegenüber stumm. Es ist wie der Rauch des Feuers. Das Anzeichen sagt nichts Bestimmtes, ist nicht mit einer bewussten Intention verbunden und wird daher auch je nach Disposition der Wahrnehmenden und deren Verhältnis zu derjenigen Person, die wahrgenommen wird, unterschiedlich empfunden: Auf die Präsenz gottesdienstlichen Auftretens gewendet, kann dies bedeuten: War die Geste ein unwillkürlicher Ausdruck von Unsicherheit und Nervosität? Oder muss sie als Ausdruck einer inneren Spannung verstanden werden, die zwischen dem Liturgen und seiner Gemeinde existiert? War die Bewegung schlicht nur linkisch – und wenn sie so empfunden wurde, was bedeutet dies? Oder kann die Liturgin sich gerade nur nicht gut konzentrieren, weil so viele andere Sachverhalte sie beschäftigen und ablenken, sodass sie sich gerade nicht gut in ihre Rolle finden kann? – Die Erfahrung der Arbeit in liturgischer Präsenz ist, dass die Anzeichen, die in der Wahrnehmung der Teilnehmer mental wieder in Zeichen zurückverwandelt werden, oft sehr unterschiedlich (und auch oft sehr viel stärker) wahrgenommen werden als die Zeichen bzw. der Inhalt dessen, was auf der Textebene gesagt worden ist. Oft werden sogar Zeichen, die eine bestimmte kommunikative Funktion erfüllen sollen, als unbewusste Anzeichen eines Sachverhalts interpretiert, der mit dem Kommunikationsakt eigentlich nicht zur Sprache hätte kommen sollen.8 7 Vgl. auch Husserl, Edmund: Logische Untersuchungen, Hamburg 2009, Bd. 2, S. 30– 32. 8 Es wäre interessant einmal zu untersuchen, welche Voreinstellungen seitens der Wahrnehmenden bei der Interpretation von Anzeichen mitwirken. Aus der Erfahrung des Verfassers heraus neigen jedenfalls manche dazu, das Verhalten ihres Gegenübers psychoanalytisch zu deuten; Interpretationen, die die entsprechenden Anzeichen stärker vor dem Hintergrund sozialer Beziehungen deuten, treten demgegenüber, zurzeit wenigstens, zurück. Dass bestimmte Bewegungen oder ein bestimmtes Auftreten oft physiologische Hintergründe haben, wird demgegenüber gerne vernachlässigt. Grundsätzlich bleibt als Frage, ob nicht bestimmte Verhaltensereignisse manchmal besser ungedeutet

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Generell kommt es möglicherweise sogar häufiger vor, als man im Allgemeinen vermutet, dass Gesten, die als Zeichen gedacht sind, nicht einmal als solche erkannt, sondern nur als Anzeichen gewertet werden. In einem Kurs betete eine Person, den Teilnehmern des Kurses zugewandt, so mit gefalteten Händen, dass die beiden Daumen ein Kreuz bildeten. Damit dies die Gemeinde sehen konnte, wurden dabei die gefalteten Hände so von ihrer natürlichen Handstellung, die nach schräg oben gewiesen hätte, in die Waagerechte gedreht, dass zwar alle die überkreuzten Daumen sehen konnten, in der Wirkung aber die unnatürliche Haltung der Hände die Aufmerksamkeit der meisten Kursteilnehmer auf sich gezogen und entsprechende Kommentare ausgelöst hat. Mehrere Rückmeldungen haben diesen Gebetsgestus als Anzeichen gewertet, dann allerdings unterschiedlich interpretiert. Keiner aber hat das darin intendierte Zeichen überhaupt als solches wahrgenommen, geschweige denn seinen Sinn und die damit verbundene „Haltungsabsicht“ verstanden. Ich plädiere aus pragmatischen Gründen noch einmal für die hier phänomenologisch verstandene Unterscheidung von Zeichen und Anzeichen, ohne damit in eine vertiefte Diskussion der Semiotik eintreten zu wollen: Wahrnehmung jedenfalls konzentriert sich eben in allen kommunikativen Vollzügen nicht nur auf den Text. Was vom Liturgen oder der Liturgin vielleicht als Zeichen gedacht ist, oder was zu dem, was er an Zeichen sendet, nebenher geschieht, mag dann in der Realität zum Anzeichen werden, das dann sogar die Wahrnehmung dominiert. In einem solchen Fall kann es die Botschaft, die intendiert ist und in Form von Worten und Sätzen oder durch ein als Konvention etabliertes Gestogramm (wie die erhobenen Hände beim Segen) gesendet wird, überblenden oder übertönen. Kommunikation ist insofern nicht nur ein Verständigungsgeschehen, in dem sich zwei oder mehrere Personen vorwiegend mit einem Informationsaustausch beschäftigen. In der Kommunikation bleiben im Regelfall beide Personen, die miteinander in einen Zeichenaustausch getreten sind, zueinander in mehr oder minder großem Umfang im Modus beobachtender Distanz.9 Kommunikation ist im Regelfall eingebettet in eine Haltung der begleitenden Beobachtung, die sich auf die gesamte Situation bezieht, in der die Kommunikation stattfindet, sodass also auch ein in kommunikativer Absicht besuchtes Kontaktgeschehen wie der Gottesdienst nicht unbedingt nach den ihm innewohnenden Inhalten und Kombleiben sollten. Nicht jede als „Freudscher Versprecher“ bezeichnete Fehlleistung verdient dieses Prädikat. 9 Dies hängt auch mit verschiedenen Kommunikationsintentionen zusammen. Während die eine Person vielleicht wirklich etwas Bestimmtes sagen möchte, muss das Gegenüber nicht notwendig diese Absicht übernehmen und sich auf den Inhalt des Gesagten konzentrieren.

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munikationsabsichten, sondern nach den damit verbundenen Formen und den real oder vermeintlich darin zum Ausdruck kommenden Sachverhalten interpretiert wird. Jede Form ist und wirkt immer zugleich als Zeichen und als Anzeichen, das vom „reinen“ Inhalt abgehoben ist. Anders als das „Handbuch Liturgische Präsenz“ hat sich das „Evangelische Zeremoniale“ vor allem auf die Zeichendimension gottesdienstlichen Verhaltens fokussiert. Zur Gestik des Grußes genügt es ihm deswegen, darauf hinzuweisen, dass sich „das Ausbreiten der gebeugten Arme als Einladungsgeste (Ansatz einer Umarmung)“10 aus dem menschlichen Miteinander ergibt. Es versteht Bedeutung oder Sinn hier vornehmlich so, dass diese historisch gewachsen sind. Auch liturgische Wendungen wie „Im Namen des Vaters und des Sohnes und des Heiligen Geistes“ werden von ihrem geschichtlich gewordenen Aussagewert her verstanden, den man kennen muss. Das „Handbuch Liturgische Präsenz“ hat demgegenüber eine deutliche Tendenz, die Aufmerksamkeit viel stärker auf das zu fokussieren, was zum Gesagten oder zu dem in einem Gestus Kommunizierten hinzukommt. Es diskutiert deswegen den liturgischen Gruß und seine Gestaltung oder Aufführung auf ganzen vier Seiten11, und schließt die Ausführungen dieses Kapitels mit dem Hinweis, wie wichtig das Wie gegenüber dem Dass der entsprechenden Zeichen ist, seien es Gesten, Orte oder Worte: „Nicht die alten Formen sind dafür verantwortlich, dass etwas heute nicht mehr funktioniert, es ist die entscheidende Frage, wie die Worte gesprochen werden, mit welcher Absicht und mit welcher Motivation.“12 Deutung setzt nicht nur am Zeichen, sie setzt auch am Anzeichen an. Letztere bestimmen maßgeblich über die von Person zu Person je unterschiedliche Wirkung von Texten. Uta Pohl-Patalong hat den Sachverhalt, der aus der Perspektive der Arbeit mit den Methoden der Liturgischen Präsenz beschrieben wurde, im Jahr 2011 so formuliert: „Die praktisch-theologisch breit reflektierten Funktionen des Gottesdienstes wurden lange postuliert, ohne danach zu fragen, ob und inwiefern diese von den Gottesdienstteilnehmenden erlebt werden. So wird in den einschlägigen liturgischen Entwürfen der Gegenwart die Teilnehmenden-Perspektive kaum thematisiert. Möglicherweise zeigt sich im Handlungsfeld Gottesdienst besonders

10 Zeremoniale-Ausschuss der Liturgischen Konferenz (Hg.): Zeremoniale, S. 75. 11 Vgl. Th. Kabel: Liturgische Präsenz, S. 52–55. 12 Ebd., S. 55. Dabei bleibt diese Aussage allerdings hinter der Theorie, die der Liturgischen Präsenz zugrunde liegt, zurück. Im gottesdienstlichen Auftreten zeigt sich zwar oft, aber eben nicht immer und auch nicht in der Hauptsache, Absicht oder Motivation. Vgl. dazu unten die Ausführungen im Kapitel „Text, Kontext, Subtext, Präsenz, Beziehung“ (oben S. 11).

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deutlich eine Kluft zwischen einer theorieorientierten Beschreibung religiöser Praxis und ihrem faktischen Erleben.“13

3.  WAHRNEHMEN UND ERLEBEN Man kann diese Feststellungen nur unterstreichen. Die Arbeit in Liturgischer Präsenz hat deutlich gezeigt und weist immer wieder neu auf, dass eine textuell fixierte, von Inhalten und Botschaften ausgehende Wahrnehmungstheorie des Gottesdienstgeschehens zu kurz greift. Die intendierten Zeichen, die nichtintendierten Anzeichen und die Wahrnehmungsumgebung spielen in der Wirkung eines Auftritts zusammen. Menschen hören Worte, aber verstehen manchmal nach den Gesten und der Körperhaltung, die diese Worte begleiten. Sie sehen Gesten, empfinden aber manchmal ein Unbehagen, wenn dieser Gestus in diesem Raum statthat. Oder sie sind in einem Kirchenraum, den sie als wunderbar erleben, und das erzeugt dann eine innere Offenheit für das, was kommt. Im Zusammenhang der Auswertung der Untersuchung für den Kirchenraum zitiert Uta Pohl-Patalong eine Frau mit folgenden Worten: „also – wir haben eine wunderbare Floristin hier, ehrenamtlich anscheinend, die ganz entzückenden Blumenschmuck herstellt […]. Also wirklich … irgendwie ist das, wie soll ich sagen, ist das der warme Umhang, oder wie soll ich sagen für mich, also diese Dinge, die mich eigentlich dann bereit machen, all das zu verfolgen, was dann eben kommt.“14 Wer mit den Methoden der „Liturgischen Präsenz“ arbeitet, kann immer wieder wahrnehmen, wie die Wahrnehmung durch das Gesamt aller sinnlicher Eindrücke, die Innenerfahrungen eingeschlossen, bestimmt wird. Wollte man dies in einem rezeptionsästhetischen Grundsatz ausdrücken, müsste man vielleicht sa13 Patalong, Uta Pohl: Gottesdienst erleben. Empirische Einsichten zum Evangelischen Gottesdienst, Stuttgart 2011, S. 52. Und sie zitiert in diesem Zusammenhang als Zeugin Konstanze Kemnitzer, die in einer Podiumsdiskussion zur Situation des Gottesdienstes zum Abschluss eines Symposions des Gottesdienst-Instituts der Evang.-Luth. Kirche in Bayern als eines der zentralen Ergebnisse dieser Veranstaltung feststellte: „Empirische Erkenntnisse über das Erleben der Gottesdienst Feiernden sind noch viel zu spärlich.“ (Ebd., S. 52f.) Dieses Zitat ist seinerseits entnommen aus Kemnitzer, Konstanze: Auf dem Weg. Zusammenfassung der Podiumsdiskussion, in: Kerner, Hanns (Hg.): Zwischen Heiligem Drama und Event. Auf dem Weg zu einer zukunftsfähigen Agende, Leipzig 2008, S. 171–173, hier S. 171. 14 Das Zitat von Gertrude findet sich in U. P. Patalong: Gottesdienst, S. 177. Die eckige Klammer ist Bestandteil des Zitats und verweist auf eine Auslassung.

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gen: In allem, was wir wahrnehmen, bleiben wir zuerst einmal in einem kritischen Abstand zu dem, was auf uns einströmt. Auch zu den Informationen, die uns gegeben werden, halten wir kritische Distanz. Wir fügen deswegen unsere Wahrnehmungen in eine innere Vorstellungswelt ein, die entscheidet, worauf sich unsere Aufmerksamkeit richtet und wie wir die Anzeichen, die alles Kommunizieren begleiten, interpretieren. Je fremder dabei die Situation ist, in der wir uns vorfinden, oder je vertrauter sie uns erscheint, desto stärker wird sie nach ihren Anzeichen bewertet, und die Bedeutung des Zeichens, des rein Informationellen tritt zurück. Die Hinwendung der Praktischen Theologie zu den Begriffen des Erlebens und des Erlebnisses, die in den Jahren nach 1990 eingetreten ist, hatte insofern ihr gutes Recht. Die Frage, die sich allerdings in diesem Zusammenhang zunehmend stellt, lautet jetzt, wie man Erlebnis fasst oder ob man bei den Begriffen Erleben oder Erlebnis stehen bleiben kann oder nicht.15 Es sind wieder die Erfahrungen mit der Arbeit in Liturgischer Präsenz, die es als zu kurz gegriffen erscheinen las15 Uta Pohl-Patalongs Veröffentlichung über das Gottesdiensterleben setzt sich an verschiedenen Stellen kritisch mit einer Untersuchung auseinander, die durch das Institut zur Erforschung der religiösen Gegenwartskultur in Bayreuth durchgeführt wurde und die das Verhältnis von Alltag, Ritual und Bedeutungszuweisung bei evangelisch Getauften in Bayern untersucht hat. Zusätzlich zum Forschungsbericht (Martin, Jeannett: Mensch – Alltag – Gottesdienst. Bedürfnisse, Rituale und Bedeutungszuschreibungen evangelisch Getaufter in Bayern, Berlin 2007 [bayreuther forum TRANSIT 7]), wurden deren Ergebnisse von Hanns Kerner und Haringke Fugmann für interessierte Laien aus den Gemeinden in einigen Broschüren zusammengefasst, die das Gottesdienst-Institut der Evangelisch-Lutherischen Kirche in Bayern veröffentlicht hat. – Stellt man die methodische Asymmetrie beiseite, die darin besteht, dass eine nicht-wissenschaftliche Publikation, die aufgrund ihrer Zielsetzung auf Detailbegründungen verzichtet, im Rahmen einer liturgiewissenschaftlichen Veröffentlichung nach einem abweichenden Theoriemodell beurteilt wird, dann wird doch durch den Vergleich beider Auswertungen deutlich, dass Kerner stärker die je individuellen Prägungen, die den jeweiligen Aussagen zugrunde liegen und die auch aus den Einzelinterviews heraus begründet werden, mit in seine Interpretation einbezieht. Dabei kann er sich auf die Ergebnisse berufen, die im Forschungsbericht von Jeannett Martin veröffentlicht wurden. – Es bleibt ein methodologisches Desiderat der Sozialwissenschaften, präzise zu bestimmen, wieweit Zitate und Meinungsäußerungen, die erhoben wurden, selbsterklärend sind, und ob nicht jegliche Interpretation von Daten, die man erhoben hat, wesentlich durch die Begründungszusammenhänge beeinflusst ist, die sowohl die Methodik der Erhebung der Daten als auch deren Auswertung bestimmten. Zudem besteht immer die Gefahr der Zirkularität: Ergebnisse, die sich abzeichnen, werden in die Analysen weiterer Daten eingezeichnet und begründen dann, was sie vorausgesetzt haben.

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sen, wenn man dort jenen Ausgangspunkt gefunden zu haben meint, von dem aus sich gottesdienstliche Wahrnehmung (als transsemiotisches Ereignis) erschließt. Dies hängt mit der doppelten Perspektive zusammen, welche die Arbeit in Liturgischer Präsenz kennzeichnet. Man kann deren bifokale Sicht an ihrem methodischen Kern ablesen: In der Liturgischen Präsenz zeigt zuerst eine Person, wie sie einen bestimmten Abschnitt des Gottesdienstes, beispielsweise die Begrüßung, die Predigt oder den Schlussteil des Gottesdienstes, gestaltet. Es folgt dann aber eine Rückmeldungsrunde, in der diejenigen, die den Auftritt gesehen haben, beschreiben sollen, was sie beim Auftritt beobachtet haben und wie das von ihnen Beobachtete auf sie gewirkt hat. Die Rückmeldungen gehen dabei nicht an den Trainer bzw. die Trainerin in Liturgischer Präsenz, sondern an diejenige Person, die den gottesdienstlichen Abschnitt gestaltet und gezeigt hat. Alle sind dabei gehalten, ihre Wahrnehmung nicht zu filtern, sich jeglicher Urteile oder Beurteilungen zu enthalten und auf die Beschreibung einer Wahrnehmung und ihrer Wirkung zu konzentrieren. Eine der evidenten Erfahrungen bei diesen Runden ist, dass häufig genug nicht nur der liturgische Auftritt, sondern auch seine Wahrnehmung durch subjektive Vorprägungen bestimmt ist. Die Arbeit mit den Methoden der Liturgischen Präsenz arbeitet nicht nur am Auftreten einzelner Personen, sondern auch an der Wahrnehmungskompetenz aller Teilnehmer. Was den einen überzeugt, mag die andere als unangemessen und unangenehm empfinden.16 Danach werden Auftrittsalternativen erprobt und durchgespielt. Mit anderen Worten: Wie es ein verfehlter Textreduktionismus wäre, unsere Worte und Sätze wie für sich seiende Qualitäten aufzufassen, die man isoliert betrachten könne, um eine plausible Prognose für das Wirken von Texten abgeben zu können, so wäre es ein ebenso verfehlter Erlebnisreduktionismus, nun zu meinen, im Erleben oder im Erlebnis eine letztgültige Kategorie gefunden zu haben, die uns die Wahrnehmung und Wirkung von Gottesdiensten erschließt.17

16 Ein Problem der Veröffentlichungen Kabels ist, dass sie sich fast ausschließlich auf handwerkliche Fragen fokussieren und Aspekte dieser Arbeit, die präsentes Auftreten fördern will, kaum ansprechen. Insofern hatte Helmut Wöllenstein nicht unrecht, wenn er das Vorwort zu Band 1 des Handbuches Liturgische Präsenz pointiert mit der Bemerkung einleitet: „Dieses Buch hätte eigentlich nicht geschrieben werden dürfen. Nährt es doch einmal mehr die Illusion, man könne durch die Lektüre von Büchern Wesentliches für das praktische Verhalten im Gottesdienst lernen.“ Th. Kabel: Liturgische Präsenz, S. 9. 17 Ausdrücklich sei darauf hingewiesen, dass solch ein entsprechender „Erlebnisreduktionismus“ den in diesem Essay zitierten Theologen nicht unterstellt wird. Dass allerdings das Problem, wie die als „Erlebnisse“ formulierten Urteile zu interpretieren sind,

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In Entsprechung dazu, wie das Zeichen nicht nur aus sich heraus begriffen werden kann, sondern zur Deutung eines auch die Anzeichen berücksichtigenden Kontextes bedarf, so ist auch das Erleben keine für sich seiende Qualität, sondern bedarf, um recht verstanden zu werden, einer phänomenologischen Theorie der das Erlebnis grundierenden Akte und Dispositionen. Zu solchen individuellen Dispositionen gehören beispielsweise die von Jeannett Martin in ihrer Veröffentlichung über eine ritualtheoretische Untersuchung beschriebenen „Grundeinstel­ lungen“18 oder die von Uta Pohl-Patalong zitierten emotionalen Reaktionsbereitschaften, die (weitgehend) auf erlernte Muster zurückgehen oder lebenswelt- und lebensformspezifisch profiliert sind.19 Dem Erleben liegen seinerseits eben auch Vorprägungen und Prägungen zugrunde. Die Kunst der Arbeit in Liturgischer Präsenz liegt darin, dass sie im Gespräch, das auf die Beobachtungsrunde zur Präsentation einer gottesdienstlichen Sequenz folgen kann, entsprechende Vorprägungen und Prägungen sichtbar machen kann, ohne den Schutzraum der am Prozess teilnehmenden Personen zu verletzen. Die Überlegungen des vorausgegangenen Kapitels hatten uns zu einer Grundsatzfrage geführt: Was wirkt, wenn Menschen gottesdienstlich handeln oder gottesdienstliche Handlungen wahrnehmen? Der Text? Der Kontext? Der Habitus derer, die auftreten? Anderes? Man wird darauf antworten müssen: All dies wirkt … und es wirken auch seitens der Wahrnehmenden innere Prägungen mit, die der eigenen Introspektion sowohl derer, die vor einer Gruppe agieren, als auch derer, die den Kollegen oder die Kollegin wahrnehmen, nur begrenzt zugänglich sind.

4.  IMAGINATION – ERZÄHLUNG – ROLLE Insofern besteht ein guter Teil der Kunst der Arbeit mit den Methoden der Liturgischen Präsenz darin, wie sich das Gespräch zu einem Auftritt gestaltet, nachdem die Teilnehmenden erste Beobachtungen geäußert haben. Dabei ist auch die Selbstbeobachtung und -einschätzung der agierenden Person mit eingeschlossen. Diese Gespräche, die sich bei Übungen in Liturgischer Präsenz oft ergeben, zeigen Vorprägungen unterschiedlichster Art auf. Sie können im Zusammenhang virulent ist, zeigt sich an der unterschiedlichen Interpretation von Kerner und PohlPatalong. 18 Vgl. J. Martin: Mensch, S. 113–138. 19 Vgl. U. P. Patalong: Gottesdienst, S. 83f., zur emotionalen Prägung des Erlebens.

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dieses Artikels nicht systematisiert oder gar vollständig dargestellt und interpretiert werden. Anhand dreier zentraler Stichworte lässt sich aber ein Eindruck vermitteln, wie sich solche Prägungen äußern können. 4.1  Imagination Ganz offensichtlich spielen im liturgischen Tun und Wahrnehmen der Menschen Imaginationen eine große Rolle. Erkenntnis ereignet sich immer im Zusammenspiel der Instanzen von Vernunft, Verstand und Einbildungskraft. Am Umgang mit und am Erleben von kirchlichen Räumen wird dies oft sichtbar. Ein Team beispielsweise, das den Gottesdienst leitet und gestaltet, geht aus der Sakristei an seine Plätze im Kirchenraum und muss dabei am Altar vorbei. Viele liturgische Akteure äußern hier ein Unbehagen. Müsste man nicht stehen bleiben, sich zum Altar wenden und sich vor dem Bild des Gekreuzigten verneigen? Gegen dieses Votum der Einbildungskraft, das freilich nicht alle teilen, rebelliert dann oft genug die Vernunft, die Gottes Gegenwart nicht an das Kreuz auf dem Altar binden will, oder der Verstand, der sich überhaupt fragt, ob solch christologisch konnotierte Geographie des Inneren einem rationalen Gottesglauben zugemutet werden soll. Ignoriert man also nicht besser den Altar, den man kreuzt? – Menschen erleben den Altar sehr unterschiedlich. Für die einen ist er ein heiliger Raum, für andere „nur“ ein funktionaler Gegenstand. Die Gespräche nach einem liturgischen Auftritt zeigen dabei immer wieder, dass Kirchenraum sowohl als ein heiliger Ort des Friedens wahrgenommen als auch einer rein rationalen, nur funktionalen Abwägungen verpflichteten Betrachtung unterzogen werden kann. Ein Wahrnehmungsriss zieht sich dabei nicht nur zwischen Person und Person. Nicht zu selten geschieht es, dass auch die Beobachter selbst unschlüssig sind, wie sie ihre Wahrnehmung letztendlich beurteilen wollen. Ein Riss zieht sich dann auch im Menschen selbst durch sein eigenes Empfinden. Menschen imaginieren. Sie imaginieren den Kirchenraum, die Person, die sie sehen, und die durch die Liturgie manchmal erzeugte Welt und Innenwelt. 4.2  Erzählung Die Imagination, die Transparenz der wahrgenommenen Welt auf eine andere Wirklichkeit hin, die unser Empfinden so entscheidend beeinflusst, ist dabei oft an eine Erzählung gebunden. Im Rahmen einer Fortbildung zum Abendmahl begründete eine Frau ihre Hochschätzung des Abendmahls damit, dass nur beim Abendmahl, und zwar im Abendmahlskreis, im Gottesdienst ein Ort vorgesehen sei, in dem sie den Menschen in die Augen sehen könne und dem Liturgen von

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Angesicht zu Angesicht begegne. Wer die Abendmahlsfeier als Christusbegegnung imaginiert, empfindet schlicht jedes einzelne Element einer Abendmahlsfeier und des Raumes, in dem sie stattfindet, anders als diejenige Person, die in der Feier des Abendmahls eine neue Gemeinschaft und Weltwirklichkeit symbolisiert und vorweggenommen sieht. Man überlege, was es heißt, wenn die Kategorie des „Heiligen“ sich von der Kategorie des „Utopischen“ ablöst oder sogar, weil als Symbolisierung von zwischenmenschlicher Verbundenheit verstanden, von Transzendenzvorstellungen und -empfindungen gelöst und mit einer Atmosphäre freundlichen Zueinanders oder, wie im zitierten Beispiel, tiefer Begegnung assoziiert wird. Die beschriebene Wahrnehmungsdifferenz hängt dabei weniger von der Lehre als von einer Erzählung ab, die Menschen bewegt. Diese Erzählungen, die Narrationen, die unsere einzelnen Vorstellungskreise, ja unser Leben bestimmen, stehen zu unserer inneren Imagination von Welt in einem inneren, unlösbaren Zusammenhang. Wer die Arbeit in Liturgischer Präsenz kennt, erfährt dabei, dass sich die Menschen im wahrsten Sinn des Wortes in je anderen Welten bewegen und, sobald die Dimension ihrer Imaginationen sichtbar wird, oft große Schwierigkeiten haben, einander zu verstehen. Auf welche Erzählungen wiederum diese imaginierten Welten weisen, ist den Menschen oft selbst nicht vollumfänglich bewusst. Imaginationen sind eben nicht nur der Reflex philosophischer oder dogmatischer Überzeugungen. Sie sind eher Resultate der eigenen Biographie, in der imaginierend erlebt und deutend verarbeitet wird und das Bewusstsein „nur“ kommentierend begleitet, filtert, korrigiert, verstärkt und unsere Aufmerksamkeit organisiert. Erzählungen prägen Imaginationen. Imaginationen prägen Erzählungen. Beides ist in unsere Person eingesenkt. Aus beidem erwächst das gottesdienstliche Auftreten, und beides prägt auch die Wahrnehmung dieses Auftritts. 4.3  Rolle An dieser Stelle muss zumindest die Bedeutung der Rolle erwähnt werden. Indem nämlich in der Rolle die Liturgen ihre Imaginationen und Erzählungen auf sich und auf die Gemeinde übertragen, entstehen jene Verhaltensmuster, die über die Atmosphäre des Gottesdienstes und ihren Ereignischarakter zentral mit entscheiden. Zum Ereignis und zum Erlebnis wird der Gottesdienst durch die Rollen, die er repräsentiert. Wer die oben skizzierten Beispiele bedenkt, entdeckt sofort den Zusammenhang zwischen imaginierter Welt, Erzählung und Rolle, wenn er die Stichworte Priester oder Prediger, Moderatorin, oder Unterhalterin, hört oder den gottesdienstlichen Dienst vorwiegend als Gebetsdienst oder als Verkündigungsdienst oder als Unterhaltung qualifiziert.

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Dabei zeigt die Arbeit in Liturgischer Präsenz, dass das gottesdienstliche Rollenangebot sehr viel reicher ist, als seine Umsetzung in der Praxis oft erahnen lässt. Denn so sehr auch eine bestimmte Rolle (wie diejenige der Verkündigenden oder diejenige des Moderierenden) auch das Gesamt eines Gottesdienstes prägen mag – innerhalb einer jeden Gottesdienst-Komposition sind doch viele Sub-Rollen gesetzt, die ein je eigenes Auftreten verlangen. Die Begrüßung, das Gebet, die Ansage eines Liedes, das Sündenbekenntnis mit Gnadenzuspruch, die Lesung, die Predigt, die Feier des Abendmahls, die Fürbitten, das Vaterunser, der Segen, das Interview, die Sendung etc. sind liturgische Elemente mit eigenem Rollenprofil. Jedes unserer etablierten „Gottesdienst-Systeme“ enthält, im Regelfall zumindest, Gebete, Elemente der Verkündigung, der Gemeinschaft, des Singens oder Hörens von Musik und des Segens und fordert vom Liturgen bzw. der Liturgin, sie in je spezifischer Weise mit Leben zu füllen. In der Rolle werden die Imaginationen und Weltvorstellungen sowie die Erzählungen, die Menschen leiten, zwar nicht sichtbar. Sie werden aber von den Anderen, die auch am Gottesdienst teilnehmen, erlebt.20 War oben von der Botschaft der Formen geschrieben worden, so ist diese Botschaft der Texte und der Formen, die sich mit der Botschaft der Personen verbindet, synthetisiert in der Botschaft der Rollen. Es geht immer um beides – und die große Herausforderung jenes Konzeptes, das Thomas Kabel unter dem Stichwort „Liturgische Präsenz“ entwickelt hat, besteht darin, nicht so zu tun, als ob nur die Ausdrucksgestalten, die Texte und Formen, oder der Auftritt derjenigen, die mit diesen Texten und Formen umgehen, wirken. Dies würde zu einer unsachgemäßen Reduktion liturgischer Präsenz auf Handwerk führen. Analog wäre es verfehlt, alles auf die Botschaft der Person zu fokussieren. Dies überdehnt und überlastet 20 In diesem Zusammenhang stellt es ein wichtiges Teilproblem liturgischer Aufführungspraxis dar, dass in der weit überwiegenden Zahl aller Auftritte den gottesdienstlich Handelnden zu wenige Rollenmuster zur Verfügung stehen, sodass beispielsweise Liturgie gerne (als Fortsetzung der Predigt mit anderen Mitteln) homiletisiert oder (lernprozessual eingeordnet und auf diese Weise) pädagogisiert wird. Analoges geschieht auch in der Predigt, wo, vor allem in den Kasualien, Verkündigung als Symbolisierung seelsorgerlichen Einfühlungsvermögens poimenisiert oder, obwohl sie sich als Predigt am Sonntag an die Glaubenden wendet, als Ruf zu Umkehr und oder zum Engagement kybernetisiert oder als Belehrungsveranstaltung didaktisiert wird. Aber: Die Begrüßung, das Sündenbekenntnis, das Gebet, das Credo, die Predigt, das Abendmahl und der Segen leben eigentlich davon, dass sie sich voneinander abheben. Den christlichen Gottesdienst zeichnet eine – allerdings durch ein gottesdienstliches Grundverständnis synthetisierte – Rollenvielfalt aus. Man kann häufig eine unangemessene Vereinheitlichung und Typisierung der liturgischen Rollenprofile beobachten.

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liturgische Präsenz hin auf eine (nicht nur methodisch fragwürdige, sondern auch potentiell übergriffige) Arbeit an oder mit der Person. Liturgische Bildung hat immer mit dem Umgang mit Formen und mit der Arbeit an der Person zu tun. Zum Ziel kommt sie aber erst dort, wo Menschen zu ihren Rollen finden – also dort, wo zu den Gesichtspunkten von Text, Form, Person und Rolle noch die Frage nach der Beziehung hinzutritt. Ganz in der Rolle, ganz bei der Sache, ganz bei der Gemeinde, ganz bei sich zu sein – dem sich anzunähern ist das Ziel der Liturgischen Präsenz. Ihre Arbeit ist, recht verstanden, Bildungsarbeit im Kontext eines offenen Systems namens Gottesdienst.

5.  Z  UR BEDEUTUNG VON KULTUR UND KOMMUNIKATION Neben den erwähnten systeminternen, binnenkirchlichen Faktoren spielen dabei natürlich auch die kulturelle Signatur einer Gemeinde, die ihr vertrauten kommunikativen Muster sowie das gesamtgesellschaftliche Umfeld entscheidend mit. Die kulturrevolutionäre Wirkung der Bewegung der 1968er Jahre hat Imaginationen und Erzählungen transformiert und Rollenangebote neu erschaffen, die, wenn auch nur mit begrenztem Erfolg, und in Pfarrerschaft und Gemeinde zeitlich verschoben, zu einer neuen Gottesdienstkultur geführt und neue Formen des Gottesdiensterlebens etabliert haben. Die damit verbundene weitere Pluralisierung der Gottesdienstlandschaften hat einen erhöhten Selbstklärungsbedarf seitens der Liturgen erzeugt, was ihre Rolle, die sie leitenden Erzählungen sowie die eigenen, inneren imaginierten Welten betraf. Nicht zu selten ist es dabei zum „clash of cultures“ gekommen – wenn die Gemeinde in ihrer Mehrheit oder wenn die Gottesdienstgemeinde oder wenn das Team, das eine andere Form des Gottesdienstes vorbereiten wollte, eine je andere spirituelle und gemeindliche Lebensform bevorzugt hat. Es ist die Erfahrung dieses Clashs der Lebensformen, die in den 1980er und 1990er Jahren jenen Boden bereitet hat, auf dem dann die Arbeit in Liturgischer Präsenz als eine undogmatische, nichturteilende Form der Klärung und Selbstklärung liturgischer Konzepte, der eigenen und derjenigen Anderer, so viel Resonanz hat erfahren können. Dabei konnten viele lernen: Der Clash der Lebensformen, wenn auch in wechselnder Intensität, ist seit zweitausend Jahren ein bleibendes Kennzeichen kirchlichen Lebens. Dessen Grundlage aber bleibt das Miteinander derjenigen, die zu einem besonderen Dienst beauftragt sind, mit denen, für die sie tätig werden.

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6.  EXKURS: AGENDE UND SPINE An dieser Stelle darf ein Exkurs nicht unterbleiben. – Mit den Formen, mit der Person, mit dem Raum, mit den Imaginationen, Erzählungen und Rollen der Menschen, die Gottesdienst feiern und mitfeiern, sowie mit den gesellschaftlichen und sozialen Kontexten hatten wir bereits einige wesentliche Träger benannt, die auf die Wirkung des gottesdienstlichen Geschehens Einfluss haben. Dieser Einfluss geschieht dabei zum Teil indirekt, sofern nämlich diejenigen, die den Gottesdienst leiten, für alle Gottesdienstbesucher in ihrem Tun anzeigen, ob und in welcher Hinsicht sie Formen schätzen, ob sie sich im Raum wohlfühlen oder von welchen Imaginationen, Erzählungen und Rollenvorstellungen sie bewusst oder halbbewusst oder vorbewusst geleitet sind. In gottesdienstlichen Agenden, die Kirchen und Kirchenverbände herausgeben oder für die sich Gemeinden entscheiden, kondensieren all diese Fragen. Im besten Fall imaginieren diese Bücher Rede von Gott, erzählen aus dem Leben und aus der Heiligen Schrift, führen Schritt für Schritt in die Weite und in die Tiefe des Geheimnisses der Glaubenszeit und erzeugen ein Miteinander, in dem die verschiedenen Rollenträger des gottesdienstlichen Geschehens, die Gemeinde eingeschlossen, einander begleiten, stützen und tragen. Die Grundkurse in Liturgischer Präsenz (nach Thomas Kabel) haben deswegen immer eine Spine-Übung enthalten, die eine wesentliche Hilfe zur Selbstklärung sein will. Selbstklärung geschieht dabei immer im Verbund mit Klärung: Die Ordnung, die ich in „meiner“ Gemeinde, in der ich tätig bin, erlebe, ist jene Form, in der ich mich ausdrücke, und in der mich die Gemeinde erlebt. Die diese Spine-Übung leitende Fragestellung lautet: ,Was will ich als Pfarrer/ Pfarrerin im Gottesdienst für mich erleben und erfahren.‘21 Alle Teilnehmer suchen und finden für sich in der Spine-Übung ein Bild oder einen Satz, im Bedarfsfall auch einen Begriff, der für sie wie ein Leitfaden sein kann, der sie durch den Gottesdienst führt und ihnen hilft, innere Widerstände zu überwinden oder Rollen zu klären. Dabei sind alle in der Wahl ihrer Antworten frei: Ob sie für sich Sicherheit wünschen oder einen Ort der Verlangsamung, die ihnen im Gottesdienst wieder hilft, zu sich zurückzufinden, ob sie (wie in einer Gruppenarbeit zur Konfirmation) für den Konfirmationsgottesdienst ein Beziehungsgeschehen als Spine formulieren: „Herzlich willkommen in der Gemeinschaft der Glaubenden“, oder

21 Dabei ist immer darauf zu achten, dass die Fragestellung verstanden wird: Nicht, was ich will, dass andere erleben, sondern was ich in meiner Rolle als Liturg, Liturgin für mich erleben will, soll befragt werden.

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ob sie für sich ein biblisches Bild22 auswählen: Der Spine gibt Antworten, mittels derer sich die Liturgen über ihr eigenes Tun aufklären, es sich selbst im eigentlichsten Wortsinn erhellen wollen. Dass der Spine übrigens aus diesem Grund nie Reflex nur einer Theologie oder Reflex nur der Person, sondern immer situationsund augenblickgebunden formuliert werden sollte, ist eine seiner Stärken. Die Spine-Übung kann und will dem liturgischen Tun in einer bestimmten Situation immer wieder neu Energie und Klarheit zuführen – und sie zeigt, wie sehr Liturgen sich reduzieren würden, wenn sie immer nur von ihrer Theologie oder ihrer Authentizität her denken oder handeln wollten. Der Spine-Übung kommt für das Verständnis der Arbeit in Liturgischer Präsenz eine Schlüsselrolle zu. Sie hat den Kursteilnehmern jene Freiräume aufgezeigt, mit denen sie äußere rituelle Vollzüge begleiten können – und hat häufig eine emotionale Nähe zu liturgischen Teilvollzügen schaffen können, die dann auf das gesamte gottesdienstliche Geschehen ausstrahlt. Wer weiß, dass er im Gottesdienst immer auch etwas für sich findet, wird das anzeichnend zum Ausdruck bringen – und darin allen am Gottesdienst Teilnehmenden ein Gespür vermitteln, dass Gottesdienst im Ganzen oder dass dieses Element des Gottesdienstes im Besonderen bedeutsam ist. Ohne solche der Sprache oder der bewussten Wahrnehmung weitestgehend entzogenen Anzeichen der Bedeutsamkeit aber wird für alle, die Gottesdienste erleben, der Gottesdienst entweder als fremd oder als leer erlebt, oder aber als eine früher als bedeutsam erlebte, jetzt aber verloren gegangene Welt. Liturgische Präsenz hat insofern immer damit zu tun, dass hinter der Show, hinter dem Auftritt ein Sein sichtbar wird – und nirgendwo hat man dieser Arbeit mehr geschadet als dort, wo Liturgische Präsenz mit formverliebtem Ritual- und Körperspiel verwechselt worden ist. Zurück zur Spine-Übung. Sie kann, sie will, sie soll helfen, Agende oder jegliche im Vergleich zur Agende alternative Ordnung als einen spirituellen Weg zu verstehen, der auch für mich von Bedeutung werden kann. Zu entdecken, dass die Agende oder ihre Substitute aus dem Bereich alternativer Gottesdienstformen nicht nur ein (autoritativ vorgeschriebenes) Rollenbuch für den Pfarrer oder die Pfarrerin sind, sondern ein Rollenbuch, in dem die Rollen der Gemeinde und des Liturgen vor Gott eine transsubjektive narrative Gestalt gewonnen haben, in der sich ein geistlicher Weg abbildet, hat eine der wesentlichen Nebenwirkungen der Kurse in Liturgischer Präsenz sein können. Dies ist insbesondere immer dort wirksam geworden, wo die Arbeit mit den Methoden der 22 Besonders gut eignen sich alle biblischen Begriffe, Wendungen, Verse oder Abschnitte, die ein Geschehen an uns ausdrücken wie beispielsweise Ps 31,9b: „Du stellst meine Füße auf weiten Raum“.

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Liturgischen Präsenz sich nicht auf die Vermittlung handwerklicher Erkenntnisse beschränkt, sich kirchen- und agendenpolitisch festgelegt oder einem relativistischen Grundsatz der Förderung individueller Authentizität verschrieben hat. In der Spine-Übung, die im Handbuch Liturgische Präsenz ausführlich beschrieben ist,23 ist deutlich geworden, dass die Arbeit in Liturgische Präsenz nicht ergebnisfixiert, sondern prozessorientiert gestaltet sein will. Sie ist ein Bildungsgeschehen. Sie ist in der Gestalt, die sie unter Thomas Kabel gewonnen hat, ein Bildungsprogramm, das Bildung als Beziehungsarbeit versteht.

7.  TEXT, KONTEXT, SUBTEXT, PRÄSENZ, BEZIEHUNG Ich fasse die bisherigen Überlegungen zusammen: Gottesdienstliche, liturgisch-homiletische Bildungsarbeit ist lange Zeit ganz überwiegend textbezogen verstanden und geleistet worden. Als textbezogene Arbeit steht sie in einem semiotischen Kontext und fragt primär nach der Bedeutung dessen, was getan wird. Die Arbeit in Liturgischer Präsenz nach Thomas Kabel hat demgegenüber einer ganzheitlich ansetzenden Methode zur Geltung verholfen, die auch der Erkenntnisfunktion des Intuierens gerecht werden will. Sie hat insofern den semiotischen Denkansatz nicht völlig aufgehoben. Sie hat ihn aber wohl durch einen, wie bereits formuliert wurde, transsemiotischen Ansatz ergänzt, in dem die Zeichen, die wir senden, immer in Verbindung mit Anzeichen wahrgenommen werden. Gerade diese Anzeichen wirken abhängig von der persönlichen Prägung und Disposition. Dadurch aber werden sie immer von Person zu Person unterschiedlich „verstanden“. Zeichen und Anzeichen zusammengenommen bilden insofern einen uneindeutigen Ko-„Text“24. Gerne wird in Zusammenhang mit körpersprachlichen Ausdrucksformen dann von Subtext gesprochen und geschrieben – aber ist der Subtext, der sich in einem Gestogramm äußert, wirklich primär Text? Wie stark doch all die vermeintlichen Zeichen als Anzeichen interpretiert werden können und interpretiert werden, hat sich immer dann gezeigt, wenn Wahrnehmungen unterschiedlich gedeutet worden sind. In der Deutungsvielfalt der Interpretationen gottesdienstlicher Auftritte hat sich dabei erwiesen, dass sowohl typenspezifische, soziologisch zuordenbare Paradigmen und rein individuelle Dispositionen über die Wahrnehmung entscheiden. Aus den Erfahrungen mit Liturgischer Präsenz

23 Vgl. Th. Kabel: Liturgische Präsenz, S. 245. 24 Das Wort „Text“ wird wohl dem Zeichen-, nicht aber dem Anzeichencharakter dessen gerecht, was wir „senden“. Daher die Anführungszeichen.

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lassen sich deswegen letztlich keine Folgerungen für die Normativität gottesdienstlichen Handelns ableiten. Der Theorie nach ist also Liturgische Präsenz zurückhaltend, was Interpretationen betrifft. Dies betrifft sowohl die Bewertung gottesdienstlicher Ordnungen als auch das liturgische Handeln der einzelnen Personen. Denn der Subtext zeigt, wenn man die Erfahrungen in der Arbeit der Liturgischen Präsenz auswertet, vor allem auch Beziehungen – etwa die Beziehung einer liturgisch agierenden Person zu sich selbst, zu den Menschen, die anwesend sind, und zur Form, in der sie handelt – ohne dass allerdings doch mehr als nur ein Ausschnitt dieser Beziehung wichtig wird. Verbundenheit wird zwar, wenn auch meistens nur in einer gewissen Unschärfe, als Verbundenheit, Störung als Störung, Unsicherheit als Unsicherheit, Souveränität als Souveränität sichtbar. Jedoch bleiben die entsprechenden Signale meistens so unbestimmt, dass doch die Gründe und Hintergründe dazu nicht aufleuchten und nicht einmal vermutet werden können. Beim Subtext lassen sich also, anders als beim Kontext, die Hintergründe für das Auftreten beispielsweise der Liturgen nur dann versprachlichen und verstehen, wenn zum Subtext, in dem sie sich anzeichnend ausdrücken, auch eindeutig dazugehörige Informationen benannt werden können. Liturgische Präsenz hat deswegen auf die Selbstfestlegung auf theologische oder anthropologische oder ritual- bzw. liturgietheoretische Vorannahmen verzichten müssen – denn ihr Thema ist nie die „richtige“ Form des liturgischen Handelns gewesen, sondern die Arbeit an Beziehungen. Von daher achtet Liturgische Präsenzarbeit immer das Gegebene: die Person, die Ordnung, den Raum, die Anwesenden – und versucht, wo Spannungen in diesem Gefüge sichtbar werden, nicht zu entscheiden, sondern zu vermitteln. Liturgische Präsenz ist in dieser Hinsicht nicht immer zutreffend interpretiert worden.25 Ohne Zweifel beachtet sie bei gottesdienstlichen Auftritten die Kategorie des Personalen in besonderer Weise. Aber: Hinter der Betonung der Wirkung des Personalen lag nie die Vorstellung, in der Arbeit mit der Person den Schlüssel gefunden zu haben, durch den sich jegliche Form den Menschen vermitteln könne. Es ist vielmehr die in einer Form persönlichen Auftretens sichtbar werdende Beziehung (zu sich selbst, zur Ordnung, nach der man feiert, zur Gemeinde – auch zu Gott?), die im Auftritt einer Person, im Zusammenspiel von Text, Kontext und 25 Die Geschichte der Liturgischen Präsenz ist insofern ein Drama, als man häufig ihre Absicht nicht verstanden und beispielsweise den handwerklichen oder den personalen Aspekt überbetont hat. Sie verfehlt ihr Ziel, wenn sie aufs Handwerkliche reduziert wird oder die Grenzen zu therapeutischer Arbeit überschreitet. Auch geht es bei Liturgischer Präsenz nie nur um Authentizität oder den Rausch einer (formbezogenen) Selbstinszenierung auf öffentlicher Bühne oder um die Entdeckung neuer Wirkungspotentiale.

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Subtext, sichtbar wird, und die immer auch nach Weiterentwicklung drängt. Weil Beziehung sich immer wandelt. Zwar hat Liturgische Präsenz gegenüber einer vereinfachenden, botschaftsfixierten Semiotik den Auftritt der Liturgen, der Prediger, stark gemacht, aber nicht als Ausdruck der Person oder der Persönlichkeit, sondern als Ausdruck vielfältiger Beziehungen. Nach innen und nach außen. Das Ziel der Arbeit in Liturgischer Präsenz liegt deswegen eigentlich in unerreichbarer Ferne: Ganz bei sich, ganz bei der Form, ganz bei den Menschen, ganz in der Rolle zu sein und zu bleiben. Dies zu stärken war und ist ihre bleibende Absicht.26

8.  PERFORMANZ Diese Absicht zu erreichen ist in der Präsenzarbeit immer dann gelungen, wenn sie selbst theorieoffen geblieben ist und sich weder theologisch noch anthropologisch festgelegt hat. Bestätigt hat sich dies oft dadurch, dass nach Grund- oder Aufbaukursen, die meistens zur Gestaltung von Kasualien angeboten wurden, viele Teilnehmer signalisiert haben, dass sie jetzt zur Gemeinde, in der sie Gottesdienst feiern, zu sich und zum Gottesdienst oder gar zur Gottesdienstordnung selbst eine neue Beziehung gefunden hätten. Die Rückmeldungsrunden am Ende von Kurswochen haben diesen Aspekt der Beziehungsstiftung oder Beziehungspflege, die auf dem Feld des Gottesdienstes durch die Arbeit in Liturgischer Präsenz geschieht, immer wieder hervorgehoben. Ohne Zweifel liegt darin einer der Gründe für den großen Erfolg des Konzeptes der Liturgischen Präsenz nach Thomas Kabel. Menschen sind aus den Kursen mit einer neuen Beziehung zu ihrer Arbeit in die Gemeinden zurückgekehrt. Dabei hat sich auch für sie viel geklärt – und sie haben zum Teil zugleich erfahren, wie sie selbst in dem, was sie tun, erfolgreicher geworden sind. Dennoch ist die große Welle der Liturgischen Präsenz abgeebbt. Dies hat eine Reihe von Gründen, von denen hier nur noch einer erwähnt werden soll. Zeitweise 26 Man könnte deswegen die Liturgische Präsenz in ihren Implikationen bezüglich des Bildungsbegriffs nur bedingt kompetenztheoretisch deuten. Wenn die genannten Überlegungen zutreffen, ist die Arbeit an der eigenen Präsenz grundsätzlich unabschließbar. Zwar lässt sich auch der Kompetenzbegriff prozessual interpretieren und gegen ein habituelles Kompetenzverständnis abheben. Aber es bleibt doch ein konstitutives Element der Arbeit mit den Methoden der Liturgischen Präsenz, dass die Klärung, die durch die Arbeit an der Präsenz geleistet werden soll, immer auch die Klärung von Beziehungen ist und in jeglicher Hinsicht im Fluss bleibt.

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haben sich nämlich mit dieser Bildungsarbeit Erwartungen verbunden, die fast notwendig enttäuscht werden mussten. Denn, das war die Erfahrung vieler, die aus den Kursen in die Gemeinde zurückkehrten, auch wenn Gottesdienste „besser“ oder „performanter“ gestaltet worden sind, es sind deswegen noch lange nicht mehr Menschen in Gottesdienste gekommen. Man hat, gerade auch wegen ihrer hohen, unmittelbar erfahrbaren persönlichen Wirksamkeit, die Reichweite der Wirkung von Präsenzarbeit mancherorts überschätzt.27 Dies aber hat damit zu tun, dass auf den Feldern der Praktischen Theologie häufig ein performanztheoretischer Optimismus anzutreffen ist, der nach meiner Einschätzung zumindest zum Teil auf einer zu oberflächlichen Rezeption sprachphilosophischer Performanztheorien beruht. Wenn etwa Austin28 in seinen aufschlussreichen Untersuchungen über Sprechhandlungen feststellen konnte, dass wir mit Sprache nicht nur informieren, sondern eben auch handeln und Recht setzen – seine Beispiele sind unter anderem die Schiffstaufe oder das Jawort auf dem Standesamt –, dann ist diese, die soziale Performanz beschreibende Wirksamkeit von Sprache oft unzulässig auf die emotive Innenwirkung von Text, Wort und Satz bezogen worden. Man kann dann Vorstellungen begegnen, dass das Segenswort auch als Segen empfunden, die Äußerung, man würde sich über jeden Anwesenden freuen, auch als beziehungsstiftend erlebt werden würde etc. Liturgische Präsenz hätte hier aber regelrecht entmythologisierend wirken können. Denn genau das ist es, was in ihr erlebt wird: Worte, die geglaubt werden, haben Macht. Sie haben Performanz. Ja. Wird aber dazu der Subtext als widersprüchlich erlebt, werden sie ohnmächtig. Treffen meine Worte auf eine Gruppe, die viele meiner 27 Neben dem ganz banalen Effekt, dass jeglichem Auf ein Ab folgt, dass also Bewegungen wie diejenige der Liturgischen Präsenz immer ihre Hoch-Zeit haben, bevor sie enden oder in die reguläre Aus-, Fort- und Weiterbildungsarbeit Eingang finden, ist als wichtiger dritter Grund schließlich zu nennen, dass viele, die unter der Überschrift der Liturgischen Präsenz aufgetreten sind, nicht immer ein klares Bild dieser Arbeit und ihrer Chancen und Grenzen besessen haben. Als besonders schwierig hat sich dabei erwiesen, dass mancher Kursteilnehmer, nachdem er an einem oder vielleicht auch mehreren Kursen teilgenommen hatte, sich danach befugt fühlen konnte, solche Kurse selbst in seinem Pfarrkapitel oder an anderer Stelle durchzuführen. Dies hat immer wieder zu einer Reduktion der Arbeit an Liturgischer Präsenz auf die handwerkliche Dimension geführt. Seltener hat mancher Liturgische-Präsenz-Epigone – meist ohne entsprechende Ausbildung – die Arbeit an der Person zu stark in den Vordergrund gerückt. Hier rächt sich, dass es in der Liturgischen Präsenz nie zu einer Standardisierung gekommen ist. 28 Vgl. Austin, John L.: Zur Theorie der Sprechakte (Originaltitel: How to do things with Words), Stuttgart 1979.

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Anzeichen, die ich sende, als unglaubwürdig erlebt, weil sie ein ablehnendes Verhältnis zu allem haben, was mit Christentum zu tun hat, werden sie vielleicht sogar als lächerlich empfunden. Nur wo hinter dem Wort eine als glaubwürdig eingeschätzte Person steht oder eine Gemeinschaft, für die das Gesagte Bedeutsamkeit hat, oder eine eigene, alte Erfahrung oder eine Frage, die alle bewegt, nur dort wird Sprache wirksam. Performant. Performativität ereignet sich nur in Beziehung. In sozialen Beziehungen und in inneren Welten, durch die Menschen im Medium der Person, die sich äußert und handelt, das, was sie wahrnehmen, auf Imaginationen und Erzählungen zurückbeziehen. An dem so verstandenen Performanzphänomen erweist sich sowohl die Grenze der Liturgischen-Präsenz-Arbeit als auch deren unaufgebbare Bedeutung für die Bildung und Ausbildung von Theologen29. Dabei sei an dieser Stelle nicht unterschieden, ob sie ehren-, neben- oder hauptamtlich tätig sind: Die Arbeitsform Liturgische Präsenz erzeugt einen Zugang dazu, wie Menschen in jenen Lebensund Arbeitsbezügen, die ihnen wichtig sind, auf andere wirken. Indem der Trainer oder die Trainerin in Liturgischer Präsenz dann nach einem ersten Auftritt mit einer Person am Staging, am Blocking, am Gestogramm, der Körperhaltung, der Stimmführung, der inneren Haltung, an Vorstellungen und Erzählungen arbeitet und Klärungen zu erreichen sucht, werden verschiedene Faktoren erlebbar gemacht, die die Wirkung gottesdienstlichen Verhaltens im Sinne der Intention der Kursteilnehmer, mit denen gearbeitet wird, oft tiefgreifend verändern. Gelingende Arbeit mit den Methoden der Liturgischen Präsenz hat deswegen immer dafür sensibilisiert, wie unverfügbar Performanz ist. Und doch können wir an der Wirkung unseres Auftretens, nicht nur in Gottesdiensten, sondern in allen Kontexten, arbeiten. Im Sinne dieses holistischen Performativitätsverständnisses ist in den Kursen von Liturgischer Präsenz übrigens immer wieder auch die Bedeutung des Symbolischen für das gottesdienstliche Tun und Erleben auf allen Ebenen wichtig geworden. Denn ob etwas Symbol ist, das von einer Gemeinschaft getragen wird und sie zum Ausdruck bringt, oder ob es nicht Symbol ist, gehört auch wesentlich zu den Faktoren, die gottesdienstliche Performativität beeinflussen. Arbeit an liturgischer Präsenz besitzt deswegen im letzten immer auch eine kirchliche Dimension.

29 Diese Aussage über Theologen gilt eigentlich für alle, die öffentlich zur Leitung von Gottesdiensten beauftragt sind.

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9.  ZUSAMMENFASSUNG Ich halte deswegen jene Arbeit, die unter dem Stichwort Liturgische Präsenz sich in unseren Kirchen etabliert hat, nicht nur für einen wichtigen, sondern sogar für einen unverzichtbaren Bestandteil liturgischer Bildung. Man mag dabei diese Arbeit, nimmt man die Gestalt, die ihr Thomas Kabel gegeben hat, zum Maßstab, methodisch weiterentwickeln. In ihrer Klärungskraft für die liturgischen Akteure ist sie unverzichtbar. Denn sie klärt nicht nur das je eigene Selbstverständnis und Selbstbewusstsein. Sie klärt auch Beziehungen und lässt unmittelbar erfahren, wie das jeweilige System Gottesdienst funktioniert. Bisherige Bemühungen, die vom gemeindlichen Aufgabenfeld geforderten Selbst- und Systemklärungsprozesse mit den Methoden der Liturgischen Präsenz in die erste oder zweite Ausbildungsphase zu integrieren, haben dabei aber leider meistens nur die Qualität eines Alibis. Denn es ist nicht die punktuelle Erfahrung eines komplexen Ineinanders unterschiedlicher Faktoren, die, wenn sie angemessen berücksichtigt werden, das liturgische Auftreten verbessern und die Wirkung des Auftretens derer verstärken, die gottesdienstliche agieren. Ihr Ziel, ja ihre Absicht erreicht Liturgische Präsenz erst dann und nur dort, wo sie in einen Prozess einmündet, der eine synthetische Kraft entwickelt und das Tun der einzelnen Liturgen wieder in Kontakt bringt mit deren eigenem Selbstverständnis, den Erwartungen ihrer Gemeinden und der all dies umfassenden, permanent fließenden kirchlichen Identität. Liturgische Präsenz intendiert ein Bildungsgeschehen. Ihre unverzichtbare Rolle wird sie allerdings immer nur dann erfüllen können, wenn sie sich als subsidiär begreift: Als eine Hilfe zur Selbstklärung, die zugleich das Verständnis des Anderen, das mir als Text oder Kontext, als Ordnung oder Erwartung begegnet, vertieft.

Im Paradies der Zeichen Kreative Liturgie als postdramatische Stückentwicklung Marcus A. Friedrich

Der Beginn als Pastor in einer neuen Gemeinde ist immer wieder ein hochinteressantes Geschehen. Es ist, als ob man eine neue Spielstätte mit ihrem Hausensemble als Intendant, als Regisseur, als Darsteller kennenlernen würde. Man hat schon etwas gehört, man hat schon das eine oder andere gesehen. Aber wie im Haus wirklich gespielt wird, das weiß man nicht, bis es los geht. Ich hatte nach sieben Jahren in Südtirol dazu die Gelegenheit im September 2018 in St. Nikolai in Flensburg, einer großen Stadtkirche mit 500 Plätzen und einer vitalen Gemeinde. Es ging auf Erntedank zu und die Vorbereitungen für den Generationengottesdienst standen an. „Wir machen doch wieder eine Aktion!“, so war aus dem Munde der Engagierten zu hören. Aha, eine Aktion! Was verbirgt sich dahinter? Ich ließ es mir erklären und lud die üblichen, aber auch die unüblichen Verdächtigen zu einem Vorbereitungstermin ein: eine Mutter aus dem Kinderchor, die gerne mit vorbereitete, weil sie zwei Töchter im Kinderchor hatte und im Kirchenvorstand war. Sie ist bekannt für ihr kreatives, manuelles Geschick und ihre guten Kontakte in die Handwerkerszene, eine hervorragende Beschafferin. Den sogenannten Stadtpastor, Inhaber einer freifliegenden Pfarrstelle für Kirche in der Stadt, er nennt sich gerne „Artist in Residence“. Er hatte im Rahmen eines Projektes des Seniorenbeauftragten der Stadt, das man zivilreligiös nennen könnte, der Seniorenwoche zugesagt, den Erntedankgottesdienst als Abschlussgottesdienst zu gestalten. Schließlich war auch der Küster dabei, der durchaus ein für Küster und zugleich Kirchenvorsteher nicht selbstverständliches, kreatives Interesse an Gottesdienstgestaltung hat. Und die heimliche Regentin im Ehrenamt, die 70-jährige pensionierte Lehrerin, die ihr Leben für die Gemeinde lebt.

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1.  A KTIONISTISCHE GOTTESDIENSTE ZU BESONDEREN ANLÄSSEN – DER ZWEITE KANAL Wir machen eine Aktion! Es ist mittlerweile Standard in vielen Gemeinden, dass sich ein zweiter Kanal gottesdienstlichen Lebens entwickelt hat. Nicht nur im Zuge der Eventisierung der Kultur, sondern auch aus dem Bedürfnis heraus, alternative Festformen zu finden, die nicht traditionsdominiert rituell, sondern in Form und Inhalt zeitgenössisch sind, was immer das heißen mag. Daraus ist allerdings bereits auch wieder eine recht junge Tradition in der evangelischen Kirche geworden, mit guten theologischen Gründen. Geht es doch darum, das Priestertum aller Gläubigen in der Weise liturgisch zu inszenieren, dass darin Christenmenschen in der Gemeinde Sprache, Stimme und Ausdruck verliehen wird. Das ist der Anspruch, der im liturgischen Aufbruch seit den 1970ern formuliert und erprobt wurde, und hinter den heute wohl nicht mehr zurückgegangen werden kann. Unter den gegenwärtigen Bedingungen eines sich abzeichnenden Theologenmangels bekommt dieser Prozess noch einen weiteren Schub. Die Ausnahme eines von Laien verantworteten Gottesdienstes könnte, jedenfalls von den Beteiligten her, zur Regel werden. Die Frage ist allerdings, ob die damit verbundene sogenannte „Laisierung“ der Kirche nicht durch den liturgischen Aufbruch der 1970er und 1980er inhaltlich wesentlich mit provoziert wurde. Merkmal der Liturgien auf dem zweiten Kanal, besonders zu klassischen oder kasualen Festtagen ist, dass sie wie postdramatische Stücke „erfunden“ werden. Das bringt sie deutlich in die Nähe postdramatischer Theaterstücke. Merkmal von aktionsgeprägten Gottesdiensten ist es auch, dass sie in der entwickelten Form häufig nur einmal zur Aufführung kommen auf der ständigen Suche nach Originalität, der unsere Kultur in vielen Bereichen unterworfen ist. Ähnlich kann man bei postdramatischen Stücken beobachten, dass sie häufig nicht länger als eine Spielzeit überdauern. Vor allem im freikirchlichen Spektrum, bei ökumenischen Gruppen oder Klientelkirchen ist die andauernde Suche nach sogenannten „Fresh Expressions“ verbreitet.1 Man muss allerdings eben sehen, wie lang sie „fresh“ bleiben. Weil die gegenüber einer agendarisch rituellen Gottesdienstform notwendige Kreativität in der Vorbereitung und Durchführung solcher alternativer Liturgien im Gottesdienst besonders von Bedeutung ist, möchte ich sie im folgenden „kreative Liturgien“ nennen.

1 Vgl. u. a. Hermelink, Jan/Pohl-Patalong, Uta (Hg): Fresh expressions of church – auf Deutsch?, Gütersloh 2018.

Kreative Liturgie als postdramatische Stückentwicklung | 149

Schon einige Zeit ist es nun her, dass ich in meiner Untersuchung „Liturgische Körper“2 die Rückkehr der rituellen Dimensionen und Funktionen persönlichen darstellenden Handelns im Schauspiel als Anknüpfungspunkte für den Dialog mit der Liturgischen Bildung entwickelt habe. Ich sehe nun die Arbeit an diesem Sammelband als Chance, die Praxis neu zu reflektieren, und zwar in Richtung auf die Möglichkeit, das schöpferische Gesamtgeschehen als postdramatische „kreative Liturgie“ zu beschreiben. Ich sehe hier grundsätzlich zwei verbreitete Entwicklungsrichtungen der gottesdienstlichen Formen, die gleichsam zwei Pole in der gottesdienstlichen Landschaft sind, hin zu einer strengeren rituellen Disziplin im Sinne des programmatischen Diktums des Theateranthropologen Richard Schechner: „From Ritual to Theatre an Back“3, und hin zu einer postdramatischen, schöpferischen Liturgie der Bilder, die sehr offensichtlich Merkmale des postdramatischen Theaters aufweist.

2.  K  REATIVE LITURGIE ALS POSTDRAMATISCHE STÜCKENTWICKLUNG Liturgie als pastorales Regie-Theater im Gottesdienst hat ausgedient. Ist dann kreative Liturgie gleichsam postdramatische Stückentwicklung? Die Frage möchte ich im Folgenden erörtern. Zuvor ein paar Worte zu meinen wichtigsten Quellen: Viele Beobachtungen im Hinblick auf das postdramatische Theater habe ich gewonnen in der Begegnung mit der Regisseurin und Schauspielerin Sylvia Deinert und dem Fundus Theater, Hamburg, einem bundesweit prämierten Kinder- und Jugendtheater, dass sich wesentlich als Laboratorium mit Kindern und Jugendlichen versteht. Deinert hat die postdramatische Dramaturgie eindrucksvoll und sehr konkret dargelegt in ihrem Buch „Das WIE zum Sprechen bringen. Postdramatische Stückentwicklung im Kindertheater“4. Die Erkenntnisse dieses Buches werden im Folgenden im Dialog zwischen Liturgik und Theaterwissenschaft einfließen. Der zweite Gesprächspartner bei meinen Überlegungen ist der Theaterwissenschaftler Bernd Stegemann, der mit dem postdramatischen Theater

2 Friedrich, Marcus A.: Liturgische Körper. Der Beitrag von Schauspieltheorien und -techniken für die Pastoralästhetik, Stuttgart 2001. 3 Schechner, Richard: From Ritual to Theatre and Back. The Structure/Process of the Efficacy-Entertainment Dyad, in: Educational Theatre Journal, Vol 26, No. 4 (Dezember 1974), S. 455–481. 4 Deinert, Sylvia: Das WIE zum Sprechen bringen. Postdramatische Stückentwicklung im Kindertheater, Frankfurt am Main 2005.

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hart in die Kritik geht und einige scharfsinnige Analysen liefert, die Trennlinien ziehen lassen. Doch bevor wir ästhetisch-methodisch fortfahren, hier einige Gedanken zum Begriff des Postdramatischen in praktisch-theologischer Sicht: Man könnte sich ja zunächst fragen, ob christliche Liturgie im theologischen Sinne nicht ohnehin immer postdramatisch ist. Das grundlegende Heilsdrama liegt bereits hinter den Beteiligten. Das spiegelt sich auch im Charakter und in der Anordnung schnell aufeinander folgender, wechselnder dramatischer Impulse: Kyrie, Gloria, Sanctus und Agnus Dei, um nur einige Rubriken zu nennen, werden in ihrer ästhetischen Überformung eher kontrolliert, im besten Falle eher gelassen als dramatisch zum Ausdruck gebracht. Sie stellen in der Perspektive des Auferstandenen, um hier einmal Brecht zu bemühen, die Welt vom Standpunkt „überwundener Schwierigkeiten“5 dar. Die Liturgie allerdings nur episch zu nennen, würde ihr nicht gerecht. Es scheint immer beides da zu sein, das Dramatische und das Postdramatische. Am deutlichsten verbinden sich epische und dramatische Dimensionen der liturgischen Inszenierung zum Beispiel in der Einsetzung des Abendmahls. Die Einsetzungsworte in der dritten Person, „in der Nacht, da er verraten ward …“ signalisieren eine Vergangenheit bei gleichzeitiger leiblicher Vergegenwärtigung in der ersten Person Präsens. Die Oblate wird aufgenommen, vielleicht sogar noch gebrochen. Die Dramatik ist allerdings auch hier stark zurück genommen, die Vergangenheit ist die führende Zeit, ist die zukünftige Zeit. Ist Liturgie damit nicht immer postdramatisch? Ja und Nein. Evangelische Liturgie, zumal die lutherische, ist insofern immer auch dramatisch, als sie im Sakrament, das sich aus Wort, Element und Aktion verwirklicht, die Gegenwart Christi realisiert. Christliche Liturgie ist, sofern sie nicht jetzt schon in vollständiger Verzückung endet, allerdings auch prä-dramatisch, insofern sie die eschatologische Perspektive mit Blick auf die dramatische Wiederkunft Christi einnimmt und gestattet. Nun wird man aus theaterwissenschaftlicher Sicht einwenden, die Rede vom postdramatischen Theater sei ja nicht in erster Linie zeitlich gemeint. Die Bezeichnung bringt aber zugleich eine Verlegenheit zum Ausdruck, die doch auch etwas mit einer historischen Entwicklung zu tun hat. Was also war vor der aktuellen Dramaturgie? Was wird verabschiedet? Wie nennt man das Andere, das Neue? Ich versuche es im Folgenden einmal zusammenzufassen: Verabschiedet wird das in sich abgeschlossene Drama, der Mythos, der zur Reinszenierung zwingt, begrüßt wird das neue, originäre Spiel, in dem sich schöpferische Freiheit auf Ge5 Brecht, Bertold: Große kommentierte Berliner und Frankfurter Ausgabe, Bd. 22, Frankfurt am Main 1988ff., S. 645.

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genwart, Situation und Zukunft hin verwirklicht. Verabschiedet wird der theatrale Raum als Raum der kunstvollen Illusion, als Raum des Als-ob. Begrüßt wird das emergierende Bild, das im nächsten Moment wieder diffundiert. Verabschiedet wird eine strenge Textbindung der Inszenierung, begrüßt werden erfundene gestische und szenische Impulse in einer Welt, in der das bewegte Bild Leitmedium ist. Verabschiedet wird die Grenze zwischen Publikum und Darstellenden, begrüßt wird die „unmittelbare“ Konfrontation und Begegnung mit der Wirklichkeit und den Menschen jenseits des theatralen Raums, die auch medial gebrochen wird. Verabschiedet wird die Dominanz eines Regisseurs, dem Darstellende zu folgen haben. Begrüßt wird die partizipative, gemeinsam voranschreitende Kreation einer Bilderfolge mit verschiedenen Medien der Darstellung. Verabschiedet wird die Unterscheidung von Rolle und Person, begrüßt wird die sogenannte authentische Figur. Beim letzten Punkt möchte ich zunächst verweilen: Als postdramatisch werden Darstellungsformen auf der Bühne bezeichnet, die an der Stelle kunstvoller Darstellungsformen die theatrale Illusion, genauer die Unmittelbarkeit und Authentizität im performativen Darstellungsakt verwirklichen. Auf den Bühnen des deutschen Theaters ist damit heute weit verbreitet, was in der kirchlichen Kultur mit klaren politischen Haltungen bereits in den 1970ern und 1980ern, in der Kirchentagsbewegung, aber eben auch in den kreativen Liturgien heute an der Tagesordnung ist: authentische Stimmen, die mit dem Auditorium in Kontakt treten und (ihre) Lebensgeschichten erzählen. In der religiösen Binnensprache würde man sagen: die, die „Zeugnis ablegen“. Die berührt sind und die, die berühren wollen, sollen mit der Berührung aber auch Impulse zur Veränderung, gar der Befreiung setzen. Ahmt hier Theater auf der Suche nach Wirksamkeit religiöse Darstellungsformen, Gemeinde nach? Ich vertrete die These, dass der Relevanz- und Resonanzkrise postdramatische Theaterkultur und Gottesdienstkultur mit den gleichen inszenatorischen Mitteln begegneten und begegnen. Ich will von einem gelungenen Beispiel erzählen: Es war mir ein großes Vergnügen, Christoph Schlingensief und sein Ensemble auf seiner Bahnhofsmission in Hamburg begleiten zu dürfen. Das ist jetzt schon lange her und war 1997 im Prinzip eins seiner ersten Theaterprojekte jenseits der Bühne im Auftrag der Bühne, damals des Schauspielhauses. Im Prinzip war Schlingensief in vielerlei Hinsicht ein Pionier des Postdramatischen. In diesem Projekt, bei dem wir als „wanderndes Gottesvolk“ die Peep-Show, die Scientology-Zentrale und den Katholischen Dom aufsuchten, ist der emanzipatorische, ja beinahe befreiungstheologische Grundimpuls deutlich sichtbar geworden. Der Tanz des Schauspielers Bernhard Schütz in den Kellern der Dianetik, in dem er immer wieder den Satz rief: „Ich will meine Fehler behalten!“ kam einem politischen Manifest gleich. Bernhard Schütz war er selbst und war eine Figur, er spielte keine Rolle. Christoph Schlingensief war mit

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einem Ensemble unterwegs, in welchem die Mitwirkenden wie in einer Gemeinde und in unserem Aktionsgottesdienst sie selbst waren. Ihre Qualität lag darin, dass sie authentisch waren, nicht darin, dass sie besonders gut spielen konnten. Es ist bezeichnend, das Schlingensief mit den Elementen und Darstellungsformen der religiösen Sphäre spielte: Kirchentag und Bahnhofsmission in Begegnung mit Scientology und dem katholischen Dom.6 Eine durchaus verwandte und für den religiösen Kontext genuine Idee brachte nun 2017 in unseren Erntedank-Aktionsgottesdienst der Stadtpastor in die Vorbereitung ein: Es könnten doch Menschen verschiedener Generationen assoziativ für sich persönlich und vor der Gemeinde den Satz auslegen „Du erntest, wo Du nicht gesät hast, und sammelst ein, wo du nicht ausgestreut hast.“7 Damit wiederholte er für diesen Aktionsgottesdienst, was sich in vielen Aktionsgottesdiensten des zweiten Kanals etabliert hat als „Gottesdienst mit Lebens-Experten“8. Alexander Deeg schreibt über die gleichnamige Arbeit des langjährigen Leiter des Gottesdienstinstitutes der Nordkirche Thomas Hirsch-Hüffell: „Es ist – so die Grundüberzeugung des Projektes – keineswegs so, dass Pfarrerinnen und Pfarrer Fragen des Lebens schon immer in besonders herausgehobener Weise durchdringen.“9 Aus biblischen Texten und authentischen Stimmen ergäbe sich dann eine „liturgisch-homiletische Kollage“10. Ich finde es aufschlussreich, dass auch im Diskurs um das postdramatische Theater der Begriff der Experten auftaucht, hier als „Expert-Spectators“. Die Theaterwissenschaftlerin Sibylle Peters beschreibt in ihrem Vorwort, dass es ein Problem der Differenz zwischen Bühne und Zuschauerraum zu bearbeiten gibt: „Damit haben auch die, die ein solches Theater machen, die ,expert practitioners‘, ein Problem: Sie wollen, dass man sich gemeinsam einsetzen kann für Bedingungen, unter denen postdramatisches Theater sich entfalten kann. Sie wollen die ,expert spectators‘ mitnehmen ins Paradies der Zeiten.“11 Ist es nicht erstaunlich, wie religiös-utopisch getränkt sich hier die Beschreibung des postdramatischen Theaters darstellt? Was ist das „Paradies der Zeichen“12, fragen wir einmal Sibylle Peters zurück: „Dieses Paradies ist das Reich der Figur und ihrer Transformation: 6 Vgl. dazu ausführlicher: Friedrich, Marcus A.: Passion Impossible. Obdach im Vorübergehen, in: KuKi, 61. Jg., 1998, Nr. 3, S. 173–178. 7 Mt 25,24b. 8 Vgl. www.jungekirche.de/2011/2011/hirsch_hueffell.html. 9 Deeg, Alexander: Predigt, in: Handbuch für Kirchen- und Gemeindeentwicklung, hgg. von Ralph Kunz und Thomas Schlag, Neukirchen-Vlyn 2014, S. 249. 10 Ebd., S. 249. 11 Peters, Sybille: Im Paradies der Zeichen, in: S. Deinert: Sprechen, S. 7. 12 Ebd., S. 7.

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Die ersten Figuren, die im Prozess entstehen, sind verkörperte Metaphern, Verbindungen zwischen den Elementen. […] Raumwege […] Figuren wie Tanzfiguren, in denen allmählich Figurationen im Sinne dramaturgischer Bögen sich ab zu zeichnen beginnen. […] Postdramatisches Theater, das bedeutet hier, dass an die Stelle, die zuvor die szenische Arbeit am dramatischen Text innehatte, die Transformationen der Figur treten.“13 Wir sprachen vier Gemeindeglieder zwischen 75 und 10 Jahren an und realisierten damit eine Subjektivität von beteiligten „Expert-Believers“, die Bernd Stegemann eben gerade für das postdramatische Theater folgendermaßen beschreibt: „Die so hervorgebrachte Subjektivität führt zu den oft beobachtbaren Ausdrucksmitteln: Das betroffene, moderierte Sprechen, der direkte Kontakt mit den Zuschauern, die ehrlich vorgetragene Geschichte, die Betonung, dass alles hier und jetzt stattfindet und wahr ist.“14 Ja, das ist eben der Unterschied zwischen Theater und Kirche, könnte man sagen, davon geht Kirche immer aus. Aber weiter, denn uns interessiert die ästhetische Praxis. Bevor wir genauer erörtern, was die Idee einer Figur statt Person und Rolle für den Kontext kreativer Liturgien bedeuten könnte, einen Blick auf die veränderte Handhabung des Textes: Auch hier lassen sich interessanter Weise exemplarisch Parallelen zur postdramatischen Dramaturgie entdecken. Die biblische Aussage „Du erntest, wo Du nicht gesät hast, und sammelst ein, wo du nicht ausgestreut hast“ ist zweifelsohne eine stimulierende biblische Aussage, die in prägnanter Kürze zur Sprache bringt, wie Menschen in Wachsen und Werden, Geben und Empfangen über die Generationen voneinander abhängig sind. Der Satz impliziert zugleich lediglich eine immanente Transzendenz – setzt also auch keine Sprachkompetenz in der Rede von Gott voraus, was die Protagonisten im Hinblick auf theologische Rede in ihrer Vorbereitung entlastet. Was mich allerdings sehr beeindruckt hat ist, dass der Text in seinem Kontext eine völlig andere, problematische Bedeutung hat, die im Zitat nicht vorkam. Im Sinne einer postdramatischen Dramaturgie ist es bezeichnend, dass sich hier für den Gottesdienst etwas verwirklichte, was im Umfeld von Kasualien (das sind Gottesdienste zu einem persönlichen Anlass) vielfach schon lange die Regel ist, nämlich dass biblische Verse ihrem biblischen Kontext entnommen und frei ohne diachronen oder synchronen, geschweige denn historisch-kritischen Text-Bezug ausgelegt werden. An die Stelle der akademisch gepflegten exegetischen Sorgfalt, auch an die Stelle eines dogmatischen Umgangs mit der Schrift als 13 Ebd. 14 Stegemann, Bernd: Immer wenn echte Menschen auf der Bühne sprechen, ist Dilettantismus im Spiel, https://www.sueddeutsche.de/kultur/essay-achtung-echte-menschen-1.3318236-2 (Zugriff 17.10.2019).

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norma normans etwa, ist in den letzten Jahrzehnten ein viel freierer Umgang mit dem biblischen Text getreten. (Mein Vikarsanleiter erzählte vor 15 Jahren, dass er sich vier Stunden Zeit für die Exegese des Sonntagstextes nähme.) Diese Freiheit mit dem offenen Text setzt ihrerseits Gestaltungsräume frei und löst die Hierarchie zwischen theologischen Experten (sukzessive „Spieler-Experten“) und „Lebensexperten“ manchmal bis ins Unkenntliche auf. Auch in unserer Vorbereitung wurde der Kontext des biblischen Gleichnisses im Vorbereitungsteam geradezu neutralisiert und damit Raum für freiere Inspiration gelassen. Dabei kamen andere Prozesse in Gang, die sinnvoll und nötig waren. Ich müsste aber eigentlich noch einen Schritt zurückgehen, denn nicht einmal dieser Text stand am Anfang der kreativen Liturgie-Entwicklung, sondern nur der Anlass, der Tag, das Fest „Erntedank“. Die Kunst scheint mir allerdings, will man dem Ansatz folgen, nicht nur bei dem zu bleiben, was im Jahr vorher getan wurde. Der Anspruch, etwas Neues entstehen zu lassen, ist allerdings auch unausgesprochen Konvention. Das Paradies der Zeichen lockt, und mit dem Paradies der Zeichen sind auch die Mitwirkenden zu locken. Im Sinne einer aktuellen Kreativität ist damit auch die Wahrnehmung dessen vonnöten, was man pastoral früher mit Ernst Lange die „homiletische Großwetterlage“ nannte: „Auf der Suche nach dem neuen Theaterstück müssen wir offen und aufmerksam dafür sein, wie die Welt uns erscheint. Wir nehmen dafür zunächst das an, was uns auffällt und was sich ereignet.“15 Für die postdramatische Stückentwicklung beschreiben Deinert und andere. „In einer Stückentwicklung, in der kein Text am Anfang steht, geschieht all das jedoch in gewisser Weise gleichzeitig: Worte, Bilder, Materialien, Klänge wirbeln durcheinander. Ein großes Nichts tut sich auf, das die Fülle des Möglichen erhält. […] Und tatsächlich könnte man den Beginn einer postdramatischen Stückentwicklung mit dem Vorhaben vergleichen, ein Rätsel zu lösen, das man selbst erst erschaffen hat.“16 So ist es mit der freien Assoziation, in der gemeinsam Bilder imaginiert werden. Ich würde sie natürlich in theologischer Perspektive eher als Raum der – im besten Fall – geistbewegten Inspiration bezeichnen. Wir hatten eine assoziative Runde, in der wir in der Vorbereitungsgruppe alles zusammentrugen, was uns einfiel. Das waren nun bezeichnenderweise Bilder: Bilder von vergangenen Erntedankfesten, Bilder der Gemeinschaft, des mit Erntegaben geschmückten Altars, Bilder von den langen Tafeln, an denen nach dem Gottesdienst gemeinsam Suppe gegessen wurde. Diese Imagination von Bildern bzw. Handlungen setzte sich tatsächlich im Statement einer Protagonistin im Gottes15 S. Deinert: Sprechen, S. 28. 16 Ebd., S. 21.

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dienst selber fort: „Erinnert ihr Euch noch an die letzten beiden Erntedankgottesdienste als ihr Stockrosensamen unserer Nikolaikirche ausgesät habt, oder als ihr das kleinste Samenkorn, den schwarzen Senf, in Töpfchen gesät habt […]. Wenn ich nun den halben Apfel hier so anschaue, denke ich an die Generationengottesdienste zurück. Verachte nie den kleinen Kern, er wird einmal ein großer Baum, sagt ein afrikanisches Sprichwort.“ „Im Deuten und Befragen der ersten Bilder entstehen gewissermaßen Vokabeln, die dann in verschiedenen Zusammenhängen erprobt werden. Die ersten Gestaltungsprozesse und Experimente konturieren so etwas wie eine Bilder-Sprache des Stücks. Das audiovisuelle Ergebnis ist am Ende komplex geworden wie ein Text, die Vokabeln aber sind geblieben.“17 In unserer Vorbereitungsrunde verdichtete sich eine gemeinsame Vorstellung vom Apfel – eines Apfels, der Zeichen von Säen und Ernten der Lebensfrüchte werden sollte. Der Apfel, für den wir uns als ernte-typische Frucht entschieden, sollte zugleich Vehikel und Katalysator für die Verwandlung der Mitfeiernden von einfachen Gemeindegliedern zu „Expert-Believers“ sein. Wie sehr sich hier im liturgischen Raum wirklich Figuren transformieren, ist fraglich. Mindestens allerdings ist ein Rollenwechsel zu beschreiben, sie treten im Gottesdienst aus der Gemeinde auf die Bühne des Altarraums, sie treten ans Handmikro und wandeln als Autoren ihres eigenen Textes eher assoziativ das Textbild des Verses und das Apfelbild in ein persönliches Statement um. Jede Generation sollte durch je ein Statement zur Sprache kommen. Bezeichnend, dass die 70-jährige Figur sagt: „Ich sollte über den Apfel sprechen“. Sie erlebt sich nicht als Erfinderin der kreativen Liturgie – entgegen dem Wunsch des „Expert-Pastors“ gegenüber den „Expert-Believers“. Das berührt zwei Themen im Prozess der kreativen Gottesdienstgestaltung: Kreative Liturgien sind aus zeitökonomischen Gründen und aus mangelnden methodischen Kenntnissen in Aktionsgottesdiensten oftmals Standup-Commedy. Anspruch und Wirklichkeit, die Mitwirkenden selbst im Paradies der Zeichen aufleben zu lassen, sind zweierlei. Brauchen kreative Liturgien in ihrem überschaubaren zeitlichen Gestaltungsprozess Intentionalität und Intuition einer einzelnen Person oder eines kleinen Teams? Ich vermute: ja. Sonst ist es nicht zu schaffen. Diese Führungsrolle ist aber immer abzugleichen mit dem Anspruch, die Handelnden sich selbst transformieren zu lassen. Eine gute Freundin, die beim Fundus-Theater spielt, erzählte oft davon, wie viele unendliche Stunden sie die Themen und Gestaltungsimpulse miteinander durchsprechen, bis endlich ein Stück entsteht. Langfristige Gestaltungsprozesse kreativer Liturgien im kirchlichen Milieu konnte ich selbst bezeugen, als ich Jugendlicher war. Was haben wir damals wo17 Ebd., S. 26.

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chenendenlang in Mauloff im Taunus von der Beratungsstelle für Gottesdienstgestaltung Frankfurt aus unter der Leitung von Friedrich Karl Barth in der Großgruppe die Schritte zu den Liturgischen Tagen auf den Kirchentagen entwickelt! Dazu gehörte auch, dass die Autoren Barth und Horst ihre neuen Texte uns schlichten Jugendlichen genauso zur Kritik vorgelegt haben wie den Pastorinnen und Pastoren, die da auf diesen Großveranstaltungen mitwirkten. Und das dauerte und dauerte – und war dadurch sorgfältig entwickelt und gut erprobt. Beeindruckend auch, wie viele Geldmittel dafür eingesetzt wurden. Ähnliche Ausdauer finde ich heute bezeichnenderweise nur noch in den Kirchenclowns-Langzeitausbildungen von Gisela Matthiae18, die ja auf eine Weise auch von den Parametern des Theaters bestimmt sind, andererseits aber immer schon Elemente des postdramatischen Bildertheaters in sich tragen. Kirchenclownerei ist oft Begegnungstheater, geht also in Beziehung zu den Betrachtenden. Clownerei setzt auch bei der Entwicklung der Figur an, der Figur, die sich aus der Person entwickelt, und nicht am Text. Hier realisiert sich etwas, das die Dramaturginnen des Postdramatischen so beschreiben: „Indem wir danach fragen, was uns eine bestimmte Figur-Grund-Relation herstellen lässt, erfahren wir etwas darüber, welche Formen und Figuren zu Themen, Bildern und Geschichten werden könnten. Und so beginnt unsere Stückentwicklung nicht mit einer bestimmten Geschichte und der Frage, wie sie mit den Mitteln des Figurentheaters auf die Bühne zu bringen wäre. Sondern sie beginnt mit jenen Figuren, die auf der Szene der Wahrnehmung erscheinen, und wir lauschen den Geschichten, die sie zu erzählen haben.“19 Kirchenclownerei im Gottesdienst schafft explizit über die Figuren neue, kreativ liturgische Bilder, die entstehen und sich wieder auflösen. Zurück zur kreativen Liturgie des Erntedankfestes: Zum Aktionsgottesdienst gehört eben auch, dass die Teilnehmenden selbst aktiv werden, wie Teilnehmende am postdramatischen Theater umherwandeln, Rezeptionsentscheidungen treffen, Medien wechseln. Im Aktionsgottesdienst geschieht das meistens im Umgang mit einem Objekt. Das Leitsymbol Apfel, so hätte man früher wohl gesagt, ist in Bewegung zu bringen. Dabei kann jeder, der mit Objekten in kreativen Liturgien arbeitet, folgendes beobachten: „Es ist, als trage jedes Ding den ihm gemäßen Handlungsraum schon in sich. Und in diesem Sinne gilt es die Dinge als Handlungsträger zu entdecken. Sie auf die ihnen eigene Funktionalität, auf die Möglichkeiten von Handlungen hin zu erproben, die treibender Teil einer Geschichte werden kann.“20 18 Vgl. Matthiae, Gisela: Clownin Gott. Eine feministische Dekonstruktion des Göttlichen, Stuttgart 22001. 19 S. Deinert: Sprechen, S. 29. 20 Ebd., S. 46.

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Wir haben nicht lange geprobt. Aber wir haben natürlich gefragt, was kann mit dem Apfel geschehen? Was soll mit dem Apfel geschehen unter den Bedingungen der persönlichen Saat- und Erntegeschichten der „Expert-Believers“. Wie können die anderen Gemeindeglieder ihr Glaubenswissen in Resonanz auf das Geschehen gestisch zum Ausdruck bringen? Bei Folgendem sind wir im Vorbereitungskreis gelandet: Zunächst ein Apfeldruck im Seitenschiff, dazu den Apfel teilen und bemalen, dann auf einer weißen Postkarte den Querschnitt abbilden, dann die Möglichkeit, eine zustellbare oder unzustellbare Dankesbotschaft zu verfassen an einen Menschen, ein Wesen, von dem der einzelne im Leben erntet. Wohin mit der Botschaft? Trocknen lassen und nach der Suppe mit nach Hause nehmen bzw. abschicken an die Person, der einer danken will. Oder eben, sofern der bereits im Jenseits ist, zurück an den Paradiesbaum, eine Birke im Altarraum, quasi im Zeichen an Gott geschickt. Wie kamen wir zu diesem Gestaltungsimpuls im Gespräch? Wir hatten den Apfel, der nach Transformation rief. Aber wir hatten auch das ganze andere Vokabular im Kontext des biblischen Wortes. Deidert beschreibt es treffend so: „Im Deuten und Befragen der ersten Bilder entstehen gewissermaßen Vokabeln, die dann in verschiedenen Zusammenhängen erprobt werden. Die ersten Gestaltungsprozessen und Experimente konstruieren so etwas wie eine Bilder-Sprache des Stücks. Das audiovisuelle Ergebnis ist am Ende komplex geworden wie ein Text, die Vokabeln aber sind geblieben.“21 Zwei Aspekte möchte ich darin hervorheben, die auch für kreative Liturgien gelten: der Aktionsgottesdienst ist ein audiovisuelles Ergebnis mehr als ein Sprachereignis, eine komplexe Bildersprache entsteht mit den Vokabeln, die wir zusammen eingeführt haben. Die Komplexität der Bildsprache bei gleichzeitiger Klarheit der Bilder sagt etwas über die Qualität des kreativen Prozesses aus. Wir alle kennen Beispiele missglückter illustrativer Beteiligungsaktionen im Gottesdienst, die immer das Risiko der Infantilisierung der Gemeinde in sich tragen, also genau nicht den Handelnden als „Expert-Believer“ würdigt. Gelingt indessen die Komposition einer postdramatischen kreativen Liturgie, dann ist darin das allgemeine Priestertum aller Gläubigen auf herausragende Weise verwirklicht.

21 Ebd., S. 26.

Auf dem Weg mit Theodorant und Theoskop Zwei Ideen für theologisch-ethisches Theaterspiel Katharina Gladisch

1.  E  RSTE IDEE: OPFER(WOHL)GERÜCHE IM SPRÜHNEBEL DES „THEODORANTS“ Theodorant ist der Name eines 2016 an der Universität Rostock gegründeten Kabarett-Teams, dessen Ansinnen es ist, „mit frischem Duft humoristischer Opfergaben den stinkigen Muff aus theologischen Diskursen zu pusten.“1 Das ist eine ganz steile Aussage – zumal im Rahmen einer Publikation innerhalb der theologischen Diskurse. Da Kabarett aber im Kern provokativ ist und als Theokaba­ rett sogar einen (vorsichtigen) prophetischen Anspruch erhebt (falls vorsichtige Prophetie kein Widerspruch ist), möge es hier stehen und sei es als Standpunkt an dem sich die theologischen Diskurse (wie auch immer man sie jemals lokalisieren könnte) abarbeiten können – sollte der Muff-Vorwurf untragbar oder besser unerträglich sein. Mit diesen Ambivalenzen und Sprachschwierigkeiten sind wir mitten im Feld der Kunst: Denn es könnte immer alles auch anders sein, als gerade behauptet. „Tatsächlich schreibe ich gern übers Theater, weil ich dadurch etwas behaupten und es gleichzeitig in Abrede stellen kann“2, sagt Heiner Müller und führt das Vorhaben des Theodorants mit diesem triftigen Bekenntnis an den Rand der akademischen Sprach- und Ausdrucksweise. Vielleicht schon über den Rand hinaus, vielleicht schon abgestürzt und nicht mehr kompatibel mit der akademischen Redeweise, vielleicht nicht akzeptabel. Vielleicht aber auch ein produktiver,

1 So auf dem Webauftritt der Gruppe: https://theoskop.com/theodorant/ (Zugriff 12.12.2018). 2 Müller, Heiner: Theater ist kontrollierter Wahnsinn. Ein Reader. Texte zum Theater, hrsg. v. Detlev Schneider. Berlin 2015, S. 76.

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kreativer Störenfried, ein Stachel, der das Sinnenspektrum der zumeist noch recht kognitiven akademischen Zugänge belüften könnte. Vielleicht im Grenzbereich, in dem mit Bernhard Waldenfels neue Verknüpfungen aus Eigenem und Fremdem weniger hergestellt als zugefallen sein könnten, aufgefunden und (hand)greiflich (gemacht) werden könnten. So müsste man Ethik betreiben, im Grenzbereich, das fordert Waldenfels in seinem Grundlagenwerk „Der Stachel des Fremden“3. Was Waldenfels, wohl im Rück- und Vorgriff auf verschiedene Kunstformen entfaltet4, das versucht das Programm und das Team des Theodorants, nämlich (waldenfelsisch grundgelegte) Ethik in ästhetischer Form zu betreiben. Es schließt damit an die performative Wende in den Kulturwissenschaften und auch der Praktischen Theologie an. Und will die theoretischen Erkenntnisse, die hier für eine praktisch-theologische Arbeit vor allem im kirchlichen und schulischen (Um-)Feld gewonnen wurden, tatsächlich praktisch ausagieren. Insofern ist das Ansinnen des Theodorants, mit allen Sinnen an und in ethischen Grenzbereichen Ethik performativ zu betreiben. Dabei das Medium des Theaterspielens zu nutzen basiert auf der Einsicht, dass Theater seine Herkunft in der „anthropologischen Fähigkeit zu Fiktionalisierung und Darstellung“5 hat. Die menschliche Existenz sei, so Iser, von einer grundlegenden anthropologischen Exzentrizität geprägt, die sich im Theater zwischen den Polen Spielende und Zuschauende vollziehe. Mit Plessner sei der Mensch ein Wesen, das sich selbst zusehe, indem es sich von sich selbst distanziere. „Als institutionalisierte Kunst kann [das Theaterspiel] betrachtet werden als Modus, in dem sich eine Gesellschaft jeweils selbst betrachtet und reflektiert.“6 Auch wenn es damit nicht unbedingt ein genuin ethisches Medium ist, weil aus den Betrachtungen Anderer und von Anderem nicht zwangsläufig der Rückschluss auf sich selbst als Eigener und Eigenes folgen muss und weil aus der Betrachtung des Ästhetischen nicht zwingend ethische Erwägungen folgen 3 Waldenfels, Bernhard: Der Stachel des Fremden, Frankfurt am Main 1990. „Anstatt Grenzerfahrungen vorweg zu moralisieren, sollte man vielmehr versuchen, Ethos von Grenzachtung und Grenzverletzung her zu denken. Was sich anbietet, ist ein Grenzverhalten, das sich auf Fremdes einläßt, ohne es dem Eigenen gleichzumachen oder es einem Allgemeinen zu unterwerfen […] Der Aufenthalt auf der Schwelle, der daraus folgt und der einen lebhaften Grenzverkehr ermöglicht, mag Ethos heißen in dem alten Wortsinn, der jeder Gesetzesmoral vorausliegt.“ Ebd., S. 39f. 4 Besonders prononciert in: Waldenfels, Bernhard: Sinne und Künste im Wechselspiel. Modi ästhetischer Erfahrung, Frankfurt am Main 2010. 5 Hentschel, Ingrid: Zum Verhältnis von Ritual und Theater, in: Hentschel, Ingrid/Hoffmann, Klaus (Hg.): Theater-Ritual-Religion, Scena Bd. 1, S. 107–112, hier S. 110. 6 Ebd., S. 110.

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müssen, ist die Nähe von Ästhetik und Ethik in der Arbeit des Theodorants exemplarisch deutlich sichtbar.7 Wenn also Theodorant Ethik betreiben will mit performativen Mitteln, dann ist das einerseits ein praktisch-theologisches und religionspädagogisches Anliegen, das den jetzigen Stand der performativen Überlegungen versucht praktisch unterrichtlich und gemeindlich zu implementieren. Der theologisch-theatrale Duft schwebt dabei diffus über dem pädagogischen, poimenischen und kybernetischen Reflexions- und Wirkungsfeld. Schwammige Übergangsbereiche sind allerdings auch in der Akademik ein bekanntes Phänomen und nicht selten Orte von Fruchtbarkeit. Ob das Theodorant dabei andererseits möglicherweise selbst performativ ist, wäre eine im engeren Sinne theologische Frage. Wenn also Name und Programm im Sinne eines Searlschen Sprechaktes oder eines performativen Aktes wirklich werden würden, hieße das, dass sich auch wirklich eine Opfergabe vollziehe, wenn im dramatischen Behaupten eine Opfergabe erbracht wird. Dass also Theodorant in seinem ethisch-ästhetischen Agieren einen Dienst zum Wohlgefallen von Menschen und Gott tue (und nicht nur behaupte). Und dass ganz im wörtlichen Sinne die Namensgebung behauptet, dass Gott (sich) im Theodorant wirklich gibt. Eine steile theologische Behauptung, die sich nach Selbstüberschätzung und überhobenem Sendungsbewusstsein anfühlt. Da hier über theologisches Theater nachgedacht wird, kann das aber behauptet und zugleich wieder in Abrede gestellt werden, wie wir von Heiner Müller gelernt haben. Zum Beispiel mit dem Verweis auf die Unverfügbarkeit Gottes, der nicht mit menschlicher-theologischer Rede in Eins gesetzt werden kann, sondern diese immer transzendiert. Aber vielleicht kann menschlich-theologische Rede doch in Zwei oder Drei oder noch mehr Vielfalt mit Gott gleich? gesetzt werden, sodass er (sich) von Zeit zu Zeit, von „Fall zu Fall“ auch im Theodorant gibt, so wie in mancher Predigt, so wie in manchem Ritual, so wie in mancher Seelsorge-Begegnung, so wie in manchem akademischen Vortrag. Dass Gott also (sich) wirklich gibt, das ist Wunsch und Anspruch der ethisch-theatralen Arbeit des Theodorants in Schulen, Gemeinden und Öffentlichkeit. Ob er diese Gabe schenkt und er und andere wiederum die Opfergabe annehmen mögen, liegt außerhalb aller performativen und kognitiven Verfügung, aber nicht außerhalb von Wunsch und Phantasie.

7 „Ästhetik als vieldimensionale Wahrnehmungsfähigkeit und Ethik als Fähigkeit zum sittlich guten Handeln sind in der Kunst der Lebensführung aufeinander bezogen. Wahrnehmung geht dem Handeln voraus“. Schulz, Petra: Exzentrisch werden. Verrückt in der Bibel und anderswo. Didaktik und Praxisvorschläge, Jena 2010, S. 10.

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2.  KAIN BISSCHEN SCHULDIG, ABEL? Eine erste Duftnote haben wir mit dem Projekt einer performativen Ethik in der Storchengrundschule in Cammin nahe Rostock gesetzt. Und zwar mit der Geschichte vom Brudermord nach missglückter Opfergabe. Die Schüler fanden schnell zu der Erkenntnis, dass kein bisschen Schuld bei Kain liegt, sondern dass Gott die Chose hier ganz schön aus dem Ruder hat laufen lassen. Er hätte ja nicht Abel bevorzugen müssen. Und das systematisch. Nun, vielleicht hatten wir uns hier zu sehr auf Kains Seite geschlagen. Denn in unserer Geschichte gärte der Geschwisterzwist schon seit Jahren. Wie in manchen echten Familien. Klasse 6 fand die ganze Familie müsse in Therapie. Klasse 1 hingegen offenbarte die eigenen Strategien, wenn die Wut mal wieder in einem hochkocht. Aus dem Fenster zu brüllen, ist eine gute Idee. Besonders in der Schule. Als Projektteam8 konnten wir in diesem Ethiktheater-Unterricht beobachten, wie ethisches Lernen sich narrativ, leiblich und performativ vollziehen kann und welch entscheidende Stelle dabei „Leerstellen“, „Als-ob-Situationen“, die Möglichkeit zum „Perspektivwechsel“ und das Spüren von Atmosphären und Emotionen haben. Das theologische Ethiktheater versteht sich damit als ein Versuch, eine Didaktik des Perspektivwechsels praktisch umzusetzen. Es zielt damit „auf die Fähigkeit, die eigene und fremde Wirklichkeit neu und anders sehen zu lernen – nicht zuletzt um das Eigene im Fremden und das Fremde im Eigenen zu entdecken.“9 Zuerst jedoch zum Procedere: Auf Grundlage der Erzählung von Kain und Abel hat das dreiköpfige Kabarettteam zunächst die „Basisstory“ relativ nahe am Bibeltext gespielt. Es folgte ein erster Reflexionsgang durch die Moderatorin, die bewusst nicht Theater spielte, um eine Rollendiffusion zu vermeiden. Die Reflexionen blieben dabei zunächst noch auf der Wahrnehmungsebene: Was habt ihr gesehen? Was habt ihr gefühlt? Und nahm dann die einzelnen Figuren in den Blick: Wie hat sich Kain wohl gefühlt, als sein Opfer verschmäht wurde? Wie habt ihr Gott an der Stelle wahrgenommen, als er sich für Abels Opfer entschied? Was hat es in euch ausgelöst? Nachdem die ersten Eindrücke gesammelt waren, begann das Theaterteam einzelne Momente und Passagen der Geschichte erneut zu spielen. Dafür wurde die Triade Gott-Abel-Kain zunächst umgewandelt in eine 8 Ich danke den stud. theol. Juri Grascht, Eva Rahnenführer und Victor Sudmann, die dieses Projekt konzeptionell und schauspielerisch entscheidend gestaltet haben. 9 Kumlehn, Martina: Perspektivwechsel und narrative Verdichtung. Hermeneutische Zugänge zum Thema Flucht im Religionsunterricht, in: ZPT 2017, 69 (1), S. 48–58, hier S. 52. Das Denken, Fühlen und Handeln anderer zu verstehen führe wie durch einen Spiegel zu einer veränderten Selbstwahrnehmung und -reflexion.

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Familiensituation zwischen einem Vater und seinen Söhnen Kain und Abel, damit die Schüler durch die möglicherweise vorhandene Annahme, Gott sei und handle ganz anders als Menschen und insofern sei ein Zugriff auf seine Beweggründe unmöglich, in ihren Reflexionen zum zwischenmenschlichen Geschehen nicht irritiert würden. Eine der Leerstellen der Geschichte (Warum verschmäht Gott eigentlich das eine Opfer?) füllten wir mit der lebensweltlichen Familienkonstellation zweier um die Gunst des Vaters rivalisierender Brüder, die ein Bruder gewinnt. In der Reflexion wurde erkennbar, dass für die Schüler der Totschlag insofern seine Abstraktheit verlor, dass nun an Kain seine (möglicherweise schon jahrelange) Kränkungserfahrung, sein Frust, sein Opfergefühl für die Schüler leiblich spürbar wurden. Seine Beweggründe wurden so sicht- und greifbar, ohne dass daraus schon eine Beurteilung seines Verhaltens folgen musste. Denn hier ging es darum probeweise „in die Schuhe“ Kains zu steigen, „mit seinen Augen“ in die vor ihm liegende Situation zu schauen und von seinem Ort aus die Situation zu erfassen. Der Ort spielt in ethischen Erwägungen bekanntlich eine große Rolle. Im Anschluss an Waldenfels Verweis, Ethik wieder im (nicht zuerst moralischen) Wortsinn des ethos zu fokussieren, erscheint Ethik insofern ganz basal als Versuch den gewohnten Ort eines oder mehrerer Menschen zu erfassen. Mit Johannes Fischer ist Ethik im Wesentlichen ein Phänomen der „Lokalisierung“10, beruht also grundsätzlich darauf, von welchem Ort aus ich mich zu einer Situation, anderen Menschen, zur (Um-)Welt verhalte. Aber auch Abel und der Vater wurden auf diese Weise in ihren Ansichten, Gefühlen, Beweggründen und Verhaltensweisen plastischer (sicher nicht komplett durchsichtig, denn das In-die-Schuhe-Steigen hat bekanntlich seine intersubjektiven Grenzen). Auf diese Weise erlebten und benannten die Schüler, dass hier verschiedene Sichtweisen und Logiken und verschiedene Ausgangspunkte aufeinandertreffen und die Situation von verschiedenen Seiten aus bewegen.11 Als einer der zentralen Momente in der Geschichte vom Brudermord wurde in mehreren Spielvarianten die Situation unmittelbar nach dem Totschlag gespielt. Der Schockmoment ist nach Waldenfels einer der zentralen Momente des Überschusses des Fremden über das Eigene, an dem eine Situation in besonderer Weise 10 Fischer, Johannes: Theologische Ethik. Grundwissen und Orientierung, Stuttgart 2002, S. 16. 11 Interessant dazu Heiner Müllers Reflexion zu einer Theateraufführung: „Die Grundintention war vielleicht, das Publikum in seiner Bequemlichkeit und seinen Konventionen zu stören. […] Die Inszenierung gab jeder Figur recht, wenn sie gerade dran war. Und dann war die andere Figur dran und sagte das Gegenteil, und der wurde auch recht gegeben. Dadurch hatte der Zuschauer nie die Gelegenheit, sich auf einen überlegenen Standpunkt zu stellen. Das war die Absicht.“ H. Müller: Theater, S. 83f.

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ethisch virulent ist.12 „Das Fremde zeigt sich, indem es sich unserem Zugriff entzieht. Es wirkt, ehe wir uns versehen. Es setzt ein als ein Pathos, das uns ergreift, bewegt, verwundert, erschreckt und mitreißt […] Gegen das Fremde haben wir kein Heilmittel außer der Antwort, mit der wir uns auf das Überraschende und Ungewohnte einlassen.“13 Was könnten also Kain und der Vater in einer solchermaßen chaotischen Situation tun? Die Schüler wurden nach ihren Antwortideen zu einem denkbaren Verhalten gefragt und eine Auswahl ihrer Vorschläge dann gespielt. Die Schüler hatten so die Möglichkeit, selbst in die Situation einzugreifen, sie stellvertretend durch die Schauspielenden durchspielen zu lassen. Gleichzeitig blieben sie auf Distanz und waren nicht selbst im Sog der Situation. Diese Distanz ist für den Lernprozess von zentraler Bedeutung. Denn die Schüler werden durch die Wahrnehmung und Reflexion von Theaterspielvarianten Zeuge von Varianten des Lebensspiels. „Dieser Verhaltensspielraum scheint mir von zentraler Bedeutung für die Struktur der ästhetischen Erfahrung. […]. Vielmehr ist sie nur zu verstehen als Möglichkeit, innerhalb der Kontinuität unseres Lebenszusammenhanges in eine Distanz zur Erfahrung zu treten und einen Verhaltensspielraum zu entdecken, der innerhalb unseres Erfahrungsraums liegt. Die ästhetische Erfahrung veranschaulicht Erfahrung, sie macht alternative Erfahrungsräume und -möglichkeiten erfahrbar, sie distanziert uns von der Unmittelbarkeit, von den Verstrickungen in unserem Alltag.“14

Was macht der Vater also mit dem tot darniederliegenden Abel, wenn Kain in Schockstarre handlungsunfähig ist? Informiert er die Polizei und riskiert so, seinen zweiten Sohn auch noch zu verlieren? Verstößt er ihn und überlässt ihn seinem Schicksal? Vertuschen die beiden die Tat, indem sie Abel im Keller verschwinden lassen? Oder wenn es ganz absurd wird: Was macht es mit den Schülern, wenn der Vater und Kain nach dem Todschlag selbst am Boden liegen, aber in einem Lachkrampf, weil Abel so lächerlich aussieht und ja überhaupt schon immer „ein Ding zu laufen hatte“. Die Ambivalenzerfahrung angesichts solch einer unerhörten Entwicklung sprang den Schülern geradezu aus dem Gesicht. Darf man das? In einer 12 „Was über die Grenzen unserer Ordnung hinausgeht, ist deshalb nur fassbar als dieser Überschuß, der unsere Kräfte überragt, als dieses Mehr, das sich unseren Zugriffen entzieht.“ Die Antwort darauf wäre für ihn eine „responsive Rationalität, die aus einem antwortenden Reden und Tun erwächst und jede bestehende Ordnung sprengt, ohne sie durch eine umfassende Ordnung zu ersetzen.“ B. Waldenfels: Stachel, S. 27. 13 B. Waldenfels: Sinne, S. 241f. 14 Mieth, Dietmar (Hg.): Erzählen und Moral. Narrativität im Spannungsfeld von Ethik und Ästhetik, Tübingen 2000, S. 18.

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solchen Situation zu lachen? Und warum fühlt es sich trotzdem so befreiend und erlösend an? An dieser Stelle kam in die Spur einer performativen Ethik in besonders augenscheinlicher Weise der „kabarettistische Duft“ zur Wirkung. Mit Peter Berger kam hier die emanzipatorische und dynamische Funktion „erlösenden Lachen(s)“15 zum Vorschein. Kabarett bietet eine „Plattform, wo alles verhöhnt werden kann, selbst was ‚heilig‘ ist, um entdecken zu können, was gültig ist.“16 Schließlich wurde auch das Ende neu inszeniert, nämlich als ob Kain ins Gefängnis gehen müsste.17 Die Schüler, die selbst ein Urteil darüber fällen durften, was mit Kain geschehen sollte und ihn mehrheitlich „in den Knast stecken“ wollten, konnten die Figur nun befragen, wie sie sich fühlt, allein in der Zelle, was für Gedanken ihr durch den Kopf gehen, ob sie eher traurig ist, wütend oder verzweifelt. Soll Kain Besuch kriegen? Kommt sein Vater? Ist Kain, obwohl er so fatal gehandelt hat, nun selbst als Hilfsbedürftiger anzusehen und zu umsorgen? Wie kann Kain in einer solchen Sackgasse in ein neues Leben starten? Welche Rolle spielt dabei Versöhnung und wie ist diese gestaltbar? In einer unserer Spielvarianten begegnet der Geist Abels Kain nachts in der Zelle und die beiden Brüder sprechen miteinander und schließen Frieden. Selbst die Schüler der Klasse 1/2 erfassten dieses Spiel schon als entscheidenden Aufbruch einer Traumatisierung Kains. Überhaupt war an dieser Stelle interessant zu beobachten, wie die Schüler aus ihrer zunächst relativ ungnädigen Einschätzung (Kain müsse selbst sterben oder lebenslang in Haft) wieder in reflexive Bewegung kamen, als sie Kains Gedanken und Gefühle erlebten. Selbst nach Stundenschluss wurde der Kain-Schauspieler von einer Schülerin noch gefragt, „ob es denn sehr schlimm war im Gefängnis“. Hierin zeigt sich neben der Möglichkeit zur Distanzierung die andere Seite der Medaille eines theatralen Ethikunterrichtes: das Involviertsein. Die Schüler waren in dieser Stunde wirklich dabei, ergriffen, verbunden mit den Figuren, und dennoch nicht diese selbst, da sie in der Rolle der Zuschauenden bleiben durften. 15 Berger, Peter: Erlösendes Lachen. Das Komische in der menschlichen Erfahrung, Berlin 22014. Ron Jenkins schätzt Lachen mit Blick auf eine Parodie des Autors Dario Fo ein als „Befreiung vom religiösen Dogma, das das Publikum einlädt, Christus und den Clown im Bereich einer freien religiösen Aufklärung zu verbinden.“ zit. n. Hentschel, Ingrid/Hoffmann, Klaus (Hg.): Spiel-Ritual-Darstellung. Scena Beiträge zu Theater und Religion, Bd. 2, Münster 2005, S. 11. 16 I. Hentschel/K. Hoffmann (Hg.): Spiel-Ritual-Darstellung, S. 11. 17 Dressler schätzt ein, dass Schüler sich in aller Regel auf virtuelle Weise, gleichsam im Modus des „als ob“, in den unterrichtlichen Denkräumen“ bewegen. Im Theaterbereich wird dies vielleicht nur besonders gezielt und sichtbar angesteuert. Dressler, Bernhard: Performativer Religionsunterricht http://www.bibelwissenchaft.de/stichwort/100017/ S. 9. (Zugriff 16.12.2018).

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Die Suggestions- und Manipulationskraft, die diese Art des Involviertseins mit sich bringt, muss natürlich bedacht werden und erfordert insofern pädagogische Umsicht, dass der Spielraum immer wieder offen gehalten wird trotz aller Standpunktbestimmung, die diese Art des Ethikunterrichtes hat. Ja, es gibt hier deutlich sichtbare Standpunkte und Verortungen. Es muss aber auch sichtbar werden, dass diese wechseln oder zugleich existieren mit anderen Standpunkten und Verortungen und dass jede gespielte Situation eine situative Konstellation ist, die zunächst eher als Phänomen wahrzunehmen ist und erst im nächsten Schritt zu ebenfalls probeweisen Urteilen führen kann.18

3.  Z WISCHENSCHRITT: MARIA UND MARTHA KOCHEN UND JAKOB SIEHT BOHNEN, ABER KEINE ENGEL Einen Grundkurs in leiblicher Stärkung bietet Theodorant im Rahmen einer Weiterbildungsmaßnahme der Rostocker Stadtmission an. In vierstündigen Workshops spielen wir mit Leib und Seele für selbige der Mitarbeitenden der Stadtmission. Es geht um das Thema Resilienzförderung. Das Projekt trägt den Namen OPeRA.19 Das steht für „Organisationale und Personale Resilienz in der Arbeitswelt“ und wird im Rahmen des europäischen Programms rückenwind+ durch das Bundesministerium für Arbeit und Soziales und den Europäischen Sozialfonds gefördert.20 Besonders an dieser Weiterbildungsmaßnahme ist, dass alle Mitarbeitenden der Stadtmission in den Workshops zusammenkommen: Pflegeleitung, Altenpfeger, Köche, Kitaerzieher, Hausmeister. Die Mitarbeit an dieser Initiative ermöglicht es uns das schulische Projekt einer performativen Ethik im Bereich der Erwachsenenbildung zu erproben. Das Format spielt hier ebenfalls mit der Bipolarität von Involviertsein und Distanzhaben. Im vierstündigen Workshop werden in einem Wechsel von szenischem Spiel und Gedankenspiel aller Zuschauenden die Dynamiken der Geschichte von Jesu Besuch bei den Schwestern Maria und Martha erlebt und reflektiert. Leerstellen der Geschichte werden von den Zuschauenden und Theodorant variantenreich gefüllt, Emotionen verdichtet in den Raum gestellt, Charakterzüge pointiert und kabarettistisch übertrieben als Projektions- und Übertragungsfläche angeboten. Über 18 Thomas Ziehe beurteilt „Probedenken“ und „Probehandeln“ als grundlegende Modi unterrichtlicher Kommunikation. Vgl. Dressler, Bernhard: Performativer Religionsunterricht. http://www.bibelwissenchaft.de/stichwort/100017/ S. 9 (Zugriff 16.12.2018). 19 https://rostocker-stadtmission.de/der-verein/opera/ (Zugriff 14.12.2018). 20 https://www.bagfw-esf.de/aktuelles/ (Zugriff 14.12.2018).

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das Vorgehen bei den Schülern hinaus enthält der Workshop ein Modul, in dem die Zuschauenden aufgefordert werden, sich in eine der Rollen hineinzuversetzen und aus der Rolle heraus einen Satz zum Geschehen zu formulieren und den anderen Figuren entgegenzuschleudern, nachdem in der Gruppe das Erleben der und mit der jeweiligen Figur reflektiert wurde.21 Einen weiteren Schritt auf dem Weg des Ethiktheaters geht der ebenfalls im Rahmen dieses Stadtmissions-Projektes durchgeführte achtstündige Workshop mit dem Titel Jakob und die zauberhafte Himmelsbohnenleiter.22 Er arbeitet mit dem Märchen Jakob und die Zauberbohne23 und mit der biblischen Geschichte von Jakobs Schau der Himmelsleiter. Der Workshop lässt nun erstmals die Zuschauenden in drei Modulen auch zu Akteuren werden und selbst Szenen entwickeln und spielen. Der Workshop fand in den Räumen der „Geschichtenwerkstatt“24 in Rostock statt und arbeitete mit den hier vorhandenen kreativen Möglichkeiten, Geschichten mit verschiedenen Materialien und Medien zu gestalten: szenisch, haptisch (mit Knete, Lego, Bausteinen, Magneten, Farbe), akustisch (mit diversen Instrumenten) und digital (PC-basierte Spielvarianten). Nachdem die Jakobsgeschichte in Grundmotiven, aber ohne sie schon „auszuerzählen“ im Raum stand, konnten die TeilnehmerInnen zunächst ein sie besonders ansprechendes Motiv an den Stationen der Geschichtenwerkstatt bearbeiten. In einem Rundgang durch diese sehr persönliche Ausstellung wurden so erste Gedanken und persönliche Verortungen zur Thematik sichtbar. Theoretisches Hintergrundkonzept, das bereits am Vortag in einem Theoriemodul durch die Mitarbeitenden des OPeRA-Projektes eingebracht wurde, waren die Überlegungen von Victor Frankl zur Resilienz. Im Anschluss an Emmy Werners Längsschnittstudie „Die Kinder von Kauai“ bestimmt er als entscheidende Resilienzfaktoren „die sichere Bindung an eine konstante Bezugsperson, aber auch Humor, die Bereitschaft, Hilfe anzu21 Den theoretischen Hintergrund für diese Übung bieten die Erwägungen von Chantal Mouffe zu einer agonalen Streitkultur. Vgl. dazu Mouffe, Chantal: Über das Politische. Wider die kosmopolitische Diskussion, Frankfurt am Main 2017; Mouffe, Chantal: Agonistik. Die Welt politisch denken, Frankfurt am Main 2014. Sowie ein Essay von Strengers, Carlo: Zivilisierte Verachtung. Eine Anleitung zur Verteidigung unserer Freiheit, Frankfurt am Main 2015. Bei allen Anfragen an deren Gesamtkonzepte scheint das praktische Ausagieren des kämpferischen Momentes das beide Autoren fokussieren im vorläufigen, spielerischen Rahmen des Theaters als ein attraktives Testfeld für die Wirkungen eines agonalen Umgangs zwischen Menschen. 22 Ich danke meinen Kollegen Dr. Michael Fiedler für die inspirierende Zusammenarbeit in diesem Workshop. 23 Als Erzählvariante auch bekannt unter dem Titel Hans und die Bohnenranke. 24 http://www.kirche-mv.de/GeschichtenWerkstatt.6492.0.html (Zugriff 14.12.2018).

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nehmen, und verschiedene Formen von Spiritualität.“25 Für Frankl sind Resilienz und Sinnfindung aufs Engste miteinander verwoben, da „die Sinnfrage sich insbesondere im Leiden stellt, wenn sich Freiräume schließen und Menschen Gefahr laufen, daraufhin am Leben insgesamt zu zweifeln oder zu verzweifeln.“26 Die Freiräume können im vorläufigen, versuchsweisen Theaterspiel (wieder) geöffnet werden, so als ob dies im täglichen Leben auch ginge. Damit können in (gefühlten) Situationen der Enge und Verschlossenheit Potential und Spielraum exemplarisch entdeckt und neue Handlungsmöglichkeiten zunächst imaginär gefunden werden. Neben dem Ort ist insofern der Raum wichtiges Element des performativen Theaters, da hier Grenzen mit dem ganzen Körper wahrgenommen, aber kraft der Phantasie im Spiel verschoben werden können. Mit Frankl bewegten sich die KursteilnehmerInnen auf den drei Sinnstraßen der „schöpferischen Werte“ (selbst durch den Einzelnen hervorgebracht), der „Erlebniswerte“ (aus der (Um-)welt Erfahrenes, z. B. Naturerfahrungen) sowie der „Einstellungswerte“ (das persönliche Sich-Verhalten zum Erlebten und zu sich selbst).27 Am Vortag hörten sie diese Werte und reflektierten sie abstrakt in Bezug auf ihre Arbeits- und Lebenssituationen, im Theaterworkshop füllten sie sie dramatisch mit (eigenem) Leben. So entstand bspw. in einem inszenierten Vorstellungsgespräch, in dem eine Bewerberin gnadenlos „abgeschmettert“ wurde, sowohl für die beteiligten Schauspieler als auch für die Zuschauenden ein geradezu räumlich spürbar sich ausbreitender, „widerlicher Duft“ eines sich über das Gegenüber ermächtigenden Arbeitsklimas. Im Reflexionsgespräch über eine Matrioschka-Szene, in der die Muster der Mutter Jakobs ausagiert wurden, kamen dann tatsächlich frustrierende Muster im Arbeitsleben einiger Teilnehmer an die Oberfläche, sodass das Theater hier performativ in die Lebenswirklichkeit überging. Die Szene bewirkte, was sie fingierte. Und so kam es zu einem Konfliktgespräch zwischen einer Teilnehmerin und der Leitung, das die psychodramatische Wirkung ethischen Theaters verdeutlichte und in dieser Situation zum Glück produktiv für beide Seiten genutzt werden konnte. Hier wurde insofern ein „geschlossener Freiheitsraum“ gespürt, emotional und intellektuell benannt und vorsichtig in einer zwischenmenschlichen Begegnung wieder geöffnet. Die Jakobgeschichte, die auch biblisch ein Paradebeispiel für zwischenmenschliche Verstrickungen über die ganze Biographie der Figur des Jakobs ist, diente in diesem erlebnisreichen Workshop als Exempel unser aller Verstricktsein 25 Frankl, Victor: Wer ein Warum zu leben hat. Lebenssinn und Resilienz, Weinheim/Basel 2017, S. 9. 26 Ebd., S. 15. 27 Vgl. Frankl, Victor: Ärztliche Seelsorge. Grundlagen der Logotherapie und Existenzanalyse, München 72017, S. 92f.

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in Geschichten, wie es Schapp so prononciert entfaltet hat.28 Dabei spannt sich, mit Waldenfels gesprochen, das ethische Potential im Zwischenbereich von Geschlossenheit und Offenheit auf. Denn die Geschichten zeugen einerseits von gelebten Tatsachen, die fix sind, andererseits auch von einer Offenheit zur Zukunft, die Gestaltungsspielraum ermöglicht. „In der ‚imaginativen‘ ästhetischen Erfahrung werden phantasievoll neue Lebensmöglichkeiten entworfen und entdeckt, die Lebenswelt wird zum Material für kreative Gestaltungen, die eine imaginative Überschreitung der gewohnten Begrenzungen und Sichtweisen der Lebenswelt darstellen.“29

4.  Z  WEITE IDEE: DA SIND NOCH MEHR KARTEN IM SPIEL MIT DEM „THEOSKOP“ Um die Verstrickungen in die eigenen (Lebens-)Geschichten und die wechselwirkenden Verquickungen mit den Geschichten Anderer geht es auch in dem Theaterstück Zerrissen und Beschützt zum psychiatrischen Krankheitsbild der Borderline-Persönlichkeitsstörung. Neben dem Kabarettteam Theodorant gibt es außerdem das zweiköpfige oder besser „zweileibige“30 Projektteam Theoskop, eine Wortbildung aus Theologie und Stethoskop, das medizinethisch-theologische Performances auf die Bühne bringt.31 Das Borderline-Stück wurde im Dezember 2018 auf einer Ethik-Tagung zur Frage „Was ist eigentlich normal?“ an der Evangelischen Akademie Loccum uraufgeführt. Um die zwei mit Borderline diagnostizierten Hauptfiguren Alice und Fabian herum entfaltet sich ein Zweipersonen-Schauspiel mit sechs Figuren, zwei Psychiatern, dem Vater von Alice und der Stiefmutter von Fabian. Neben einem Einblick in zentrale Auswirkungen des Krankheitsbildes im systemischen Miteinander und therapeutischen Antwortversuchen auf die Fremdheitserfahrungen32im Horizont der Borderline-„Störung“ hat 28 Vgl. Schapp, Wilhelm: In Geschichten verstrickt. Zum Sein von Mensch und Ding, Frankfurt am Main 52012. 29 D. Mieth (Hg.): Erzählen, S. 16. 30 „Theater ist ein Dialog zwischen Körpern und nicht zwischen Köpfen.“ H. Müller: Theater, S. 115. 31 Webauftritt: https://theoskop.com/ (Zugriff 14.12.2018). Ich danke meinem Projektpartner Victor Sudmann für die kreative Zusammenarbeit mit Leib und Seele, bis hin zum Mitnachdenken über diesen Artikel. 32 Auch dieses Theaterstück ist in seinem theoretischen Fokus eine Auseinandersetzung und kreative Umsetzung der Phänomenologie Waldenfels‘. Zum Antwortverhalten im Umgang mit Fremdheitserfahrungen – Response – vgl. bspw. die Artikel Zwischen Pa-

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das Stück seinen Grundimpuls in der Anti-Stigma-Arbeit in Bezug auf das „Labeling“ psychisch erkrankter Menschen. Es knüpft damit an die Erwägungen zu einer „anthropologischen Psychiatrie“ des Hamburger Psychiatrieprofessors Thomas Bock an. Im Anschluss an Frankl entfaltet er psychische Erkrankungen als Eigen-Sinn. Entsprechend des allgemein menschlichen Dranges zur Sinnfindung und -gebung seien auch psychische Krankheiten sinnstiftend. Die eigensinnige Verquickung von funktionalen und dysfunktionalen Sinnstrukturen ist dabei zuweilen bis zur Unkenntlichkeit verwoben und überdies abhängig von der Unterscheidung, was „normal“ und „unnormal“, „krank“ und „gesund“ sei. Im Grenzgebiet von individueller, kreativer Sinngebung und der „gesellschaftlichen Eingebundenheit jeder Sinnkonstruktion“ (Hugo Mennemann)33 ringt dieses Theaterstück mit Festlegungen und Öffnungen, mit dem Segen und Fluch von Diagnosen, mit (un)kontrolliertem Wahnsinn und irrer Hoffnung entgegen dem Augenschein. Wirklichkeitsauffassung wird hier in ihrer Diffusität, situativen Undurchschaubarkeit und Deutungsabhängigkeit für die Spielenden und Zuschauenden erfahrbar. „Adorno hat gesagt, eine der Wirkungen der Kunst für unsere Wirklichkeitsauffassung läge darin, daß die Kunst die Einsicht vermittelt: es könne auch anders sein. Ästhetische Erfahrung lehrt nicht, daß auch anderes denkbar sei, sondern sie macht erfahrbar: es könnte auch anders sein. Dieses Distanzierungspotential der ästhetischen Erfahrung scheint mit dem Beitrag des Ästhetischen zur Reflexion auf die Elemente und Bedingungen des guten Lebens.“34

Wer die Figuren in diesem Stück allein und miteinander agieren sieht, erhält einen fiktiven Einblick in die leiblichen Prozesse eines zwischenmenschlichen Systems im Umfeld des Borderline-Phänomens. Dabei zielt das Stück neben der Verflüssigung und Irritation von im weitesten Sinne „diagnostischen“ Festlegungen auf das versuchsweise Angebot einer „Sinnstraße“, einer Hoffnungsspur, die in das dargestellte Durcheinander im Grenzland, an der „Borderline“35 „einbricht“36 und im Wortsinn kreativen – neu geschöpften – Handlungsspielraum ermöglicht. Es

thos und Response sowie Antwort auf das Fremde: Waldenfels, Bernhard: Grundmotive einer Phänomenologie des Fremden, Frankfurt am Main 42012. 33 Zit.n. Bock, Thomas/Klapheck, Kristin/Ruppelt, Friederike (Hg.): Sinnsuche und Genesung. Erfahrungen und Forschungen zum subjektiven Sinn von Psychosen, Köln 2014, S. 20. 34 D. Mieth (Hg.): Erzählen, S. 26. 35 Die Erkrankung hieß bei ihrer erstmaligen Schilderung zunächst „Borderland“. 36 Waldenfels, Bernhard: Hyperphänomene. Modi hyperbolischer Erfahrung, Berlin 2012, S. 9.

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fußt dabei auf den Theoriekonzepten von Salutogenese37 und Recovery38 und stellt diese in den christologischen Deutungshorizont von Heil und Erlösung. Gleichzeitig inszeniert es Borderline als einen „Spaziergang auf der Bruchkante“, welcher der spätmodernen Gesellschaft einen Spiegel vorhält. So behauptet bspw. Sarnecki, dass die „Borderline-Persönlichkeitsstörung wie geschaffen“39 für den Anspruch spätmoderner Leistungsgesellschaften sei, da in ihr schizophrene, dissoziierende, nicht integrierte, aufgesplitterte Persönlichkeitsstrukturen gewissermaßen eine besonders adäquate Entsprechung des strukturellen Verlustes von Sinn, Konsistenz und Stetigkeit sind. Da diese „Entsprechung“ allerdings von den Betroffenen und deren Umfeld in den meisten Fällen mit massiven Leidenserfahrungen und daher im Wortsinn als pathologisch erlebt werden, weist dies auf ein dysfunktionales Verhalten hin. Wenn aber eine adäquate Entsprechung auf eine gesellschaftliche Anforderung dysfunktional ist, könnte dies ein Indiz für dysfunktionale, gesellschaftliche Strukturen sein und die Borderline-Erkrankten ungewollt eine kritische oder gar prophetische Stimme in Bezug auf gesellschaftliche Entwicklungen. Dann wären nicht mehr nur die Borderliner im Grenzbereich, was wiederum eine zentrale Forderung der anthropologischen Psychiatrie ist: Nicht durch Kriterien- und Diagnosemanuale einen Graben zwischen die „Kranken“ und die „Gesunden“ zu buddeln, sondern das Verhalten psychisch Erkrankter als Teil eines allgemein anthropologischen Spektrums zu werten. „Borderliner“ und „Nicht-Borderliner“ unterscheiden sich demnach nicht in Bezug auf ihre Fähigkeit Angst, Wut, Leere usw. zu empfinden. Hierin sind wir Menschen vielmehr existentiell verbunden. Unterschiede bestehen jedoch graduell und in der Kombination einzelner oder mannigfaltiger leidverursachender Symptome und des heilsamen Umgangs mit ihnen. Das Theaterstück Zerrissen und Beschützt konnte in der Gesamtdramatik der Loccumer Tagung gelesen werden wie ein Kommentar zur von Organisator Klaas Huizing geforderten „Normalitätsfiktionskompetenz“. Er stellte dabei im Anschluss an Jürgen Link die entscheidende Funktion von Kunst und Literatur heraus, die „Applikationsvorlagen für Denormalisierungen (z. B. Marginalisierungen)“40 bieten. Als eine solche Applikationsvorlage, die – im Vergleich zur Romanlektüre 37 Vgl. dazu Antonovsky, Aaron: Salutogenese. Zur Entmystifizierung der Gesundheit, Tübingen 1997; Cott, Andreas: Das Modell der Salutogenese von Aaron Antonovsky. Stellenwert und Nutzung für die Prävention und Rehabilitation, München 2014. 38 Vgl. Th. Bock/K. Klapheck/F. Ruppelt (Hg.): Sinnsuche, S. 18. 39 Sarnecki, Miriam K.: Nur die Bodenhaftung nicht verlieren. Die Borderline-Persönlichkeitsstörung – eine kreative und fatale Kompensation psychosenaher Beeinträchtigung, Gießen 2016, S. 56. 40 Link, Jürgen: Versuch über den Normalismus: Wie Normalität produziert wird, Göttingen 52013, S. 41.

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– das Gefühl unnormal und marginalisiert zu sein leiblich spürbar in den Raum stellt, versteht sich auch das Theaterstück Zerrissen und Beschützt. Und es greift in ästhetischer Darstellung Carolin Emckes Vorschlag angesichts der gesellschaftlichen Mechanismen von Exklusion und Marginalisierung auf. Sie fordert „Räume der Phantasie zurückzuerobern […] Zu den Strategien gegen Exklusion und Hass gehört deswegen auch, Geschichten vom gelungenen, dissidenten Leben und Lieben zu erzählen, damit sich jenseits all der Erzählungen vom Unglück und von der Missachtung, auch die Möglichkeit des Glücks als etwas festsetzt, das es für jeden und jede gibt.“41 Hierin sieht auch Kumlehn die „Lebensdienlichkeit“ von Religion in Bildungsprozessen: Dass sie dem Einzelnen „Handlungs- und Ausdrucksmöglichkeiten“ anbietet „angesichts radikaler existentieller Differenz- und Grenzerfahrungen in Glück und Leid“, wenn sie die Aufmerksamkeit darauf zu lenken vermag, „was unsere Wahrnehmung kreativ unterbricht und irritiert, was in der Gleichung des Lebens nicht aufgeht und als Unerklärliches angesprochen werden muss.“42 Gelungenes, dissidentes Leben – diese Karte wollen wir mit dem Theaterstück ins Spiel der gesellschaftlichen Wahrnehmung und des Handelns angesichts dieser bringen und damit einen ästh-ethischen Impuls setzen.43

5.  WEGWEISUNG OHNE BEKANNTES ZIEL Wenn Carolin Emcke angstfreie, phantasievolle Räume fordert, dann kann theologisches Theater möglicherweise solche Räume (neben anderen) zur Verfügung stellen. Im Unterschied zum Alltagserleben eröffnet Theatererleben Fischer-Lichte zufolge „dem Zuschauer die Möglichkeit, sich mit Unsicherheit und Destabilisierung, mit Entgrenzung und Grenzüberschreitung, mit Irritation und Verstörung, spielerisch auseinanderzusetzen.“44 Die Vorläufigkeit des Probe-Handelns eröffnet so Wahrnehmungs-, Denk- und Handlungsspielraum, weil es zunächst im Übertragungsraum der Fiktion stattfindet. Die leiblichen Auswirkungen der Phantasie-Figuren sind aber in der Raumatmosphäre spürbar, zugleich erfassen die Zuschauenden die geteilten existentiellen Erfahrungen. So bewegt sich das 41 Emcke weist dabei der Kunst eine entscheidende Rolle zu. Emcke, Carolin: Gegen den Hass, Frankfurt am Main 2018, S. 216f. 42 Kumlehn, Martina: Dynamis der Differenz. Differenztheoretische Impulse für religiöse Bildungsprozesse im Zeitalter des Pluralismus, in: Klie, Thomas/Korsch, Dietrich/ Wagner-Rau, Ulrike (Hg.): Differenzkompetenz. Religiöse Bildung in der Zeit, Leipzig 2012, S. 45–60, hier S. 56. 43 Vgl. dazu P. Schulz: Exzentrisch, S. 10. 44 I. Hentschel/K. Hoffmann (Hg.): Spiel-Ritual-Darstellung, S. 45.

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Theaterspiel wiederum selbst im Grenzbereich und zieht die Zuschauenden möglicherweise in dessen Bann: „In der ‚imaginativen‘ ästhetischen Erfahrung werden phantasievoll neue Lebensmöglichkeiten entworfen und entdeckt, die Lebenswelt wird zum Material für kreative Gestaltungen, die eine imaginative Überschreitung der gewohnten Begrenzungen und Sichtweisen der Lebenswelt darstellen.“45 Damit wäre das hier vorgestellte theologische Ethik-Theater eine auf die Bühne gebrachte „kreative Response“46 – ein Ausagieren des von Waldenfels vorgeschlagenen Grenzverhaltens. Allerdings ist der Clou an Waldenfels’ Grenzland gerade der, dass es jeglicher Ein-Ordnungsmöglichkeiten entbehrt. Im Grenzland kenne ich mich also nicht aus. Vielleicht wären wir dann mehr bei Heiner Müller, der gefragt, was Theater für ihn sei, zur Antwort gab: „Kontrollierter Wahnsinn, ganz einfach. Es ist ein Freiraum, in dem man – sprich: der Künstler – spielen kann. Wobei es natürlich vom Ausmaß des Wahnsinns abhängt, inwieweit er kontrollierbar ist. Wahnsinn heißt dabei, daß man im Idealfall an keine Verantwortung gebunden ist. Insofern ist alles Verrückte Kunst.“47 Wie aber kommt man im Sinne eines ästh-ethischen Grenzbereiches dann doch wieder zu Kontrolle, zum Paradox der „vorsichtigen Prophetie“? Noch ist nicht einmal das Erschrecken vor dem wiederentdeckten Ästhetischen ausgestanden und irritiert das »Fluktuieren der Einbildungskraft zwischen Sinnlichkeit und Verstandesbegriffen« (Mollenhauer). Das Andere am Ästhetischen, seine Wildheit, sein Hang zum Chaotischen und Prozessualen muß erst abgeschätzt, seine Funktion Bewegkraft zu sein, muß erst erkannt und erprobt worden sein. Was ein logischer Schluß oder ein Werturteil ist, hat man schnell herausgefunden. Aber was ist ein »Bild«, wo und wie bildet sich die ahnungsvolle Gewissheit des Spürens?48

Diese Frage scheint mir für das von uns begonnene Projekt einer performativen, theologischen Ethik wegweisend. Aber das ist nur eine Spur. Was vorerst genügt: denn Weg wird Weg im Gehen.49

45 D. Mieth (Hg.): Erzählen, S.16. 46 Waldenfels, Bernhard: Ordnung im Zwielicht. Frankfurt am Main 1987, S. 177. 47 H. Müller: Theater, S. 177. 48 Selle, Gerd: Experiment ästhetische Bildung. Aktuelle Beispiele für Handeln und Verstehen, Reinbek 1990, S. 18f. Weiterführend zu dieser Frage: B. Waldenfels: Sinne, S. 18–39. 49 Vgl. Heidrich, Peter: Weg wird Weg im Gehen. Beiträge zu Spiritualität, Religion und Märchendeutung, hrsg. v. Hermann Michael Niemann und Karl Schulz, Münster 42010.

Ringbuch oder Partitur? Zu Textbild und Performanz im evangelischen Gottesdienst Lars-Robin Schulz

Von der Praktischen Theologie nicht beachtet und in praktischen Arbeitshilfen kritisiert, besteht in evangelischen Gottesdiensten eine Praxis, die die Performanz maßgeblich mitbestimmt: Die Arbeit mit dem Ringbuch. Mit ihm wird ein nennenswerter Anteil gesprochener Sprache im Gottesdienst gestaltet. In welcher Beziehung stehen aber Textbild und sprecherische Performanz? Was hat das Geschriebene mit dem Gesprochenen zu tun? Wie verhält sich der Plan zur Realität? Dieser Zusammenhang soll im Folgenden näher betrachtet werden. Dazu ist zunächst ein knapper Überblick über die Literatur zu geben. Dann soll die Analyse empirischer Daten ein Einblick in die sprechsprachliche Performanz ermöglichen. Abschließend soll gezeigt werden, welche Potentiale für Forschung und Praxis in einer tiefergehenden Beschäftigung mit diesem Phänomen stecken.

1.  DER GOTTESDIENST ALS TEXT Friedrich Kalb prophezeite in den 1980er Jahren: „Die Agende der Zukunft wird sich möglicherweise als eine Art Ringbuch (mit auswechselbaren Blättern) darbieten, aus dem einerseits die feste Grundstruktur ersichtlich wird, in das aber auch ergänzendes Material aufgenommen werden kann.“1 Mehr als zwanzig Jahre später ist dieser Zustand offensichtlich Realität geworden. Kim Apel vergleicht 2006 in seiner rezeptionsästhetischen Studie Die Gemeinde im Eingangsteil des ev. Gottesdienstes den gesamten Gottesdienst mit einem Text im Ringbuch: „Man-

1 Kalb, Friedrich: Grundriss der Liturgik. Eine Einführung in die Geschichte, Grundsätze und Ordnungen des lutherischen Gottesdienstes, München 21985, S. 47.

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che Seiten werden jede Woche ausgewechselt, andere sind fester Bestandteil.“2 Er fügt in der Fußnote erklärend hinzu: „Die Metapher des ‚Ringbuches‘ legt sich schon vor dem Hintergrund seines extensiven liturgischen Gebrauchs nahe.“3 Der Weg vom Gottesdienst-als-Text zum Text des Gottesdienstes ist nicht weit. Da verwundert es, dass die semiotische Forschung, die die Zeichenwelt des Gottesdienstes als Textwelt zu lesen beansprucht, bislang keine Notiz von diesem liturgischen Gerät nahm. In seiner Studie Gottesdienst als Text verweist Jörg Neijenhuis auf „[d]as Codeparadigma Objektsprachen“, unter die er auch die „ikonischen Codes [wie] die Vasa sacra et non sacra, Altar, Taufstein, Kanzel, Ambo, auch Gesangbücher sowie Agende und Lektionar, Kerzen und Blumen“4 fasst. Zum „Sprechcode“ notiert Neijenhuis, dass damit ein Code gemeint ist, der „dem Sprecher nahe leg[t], eine bestimmte Buchstabenfolge deutsch oder englisch auszusprechen“5. Er nennt den Text, der dem Gottesdienst zugrunde liegt, auch nicht unter den Schriftcodes (wohl aber die „Liednummern [und] Platznummerierungen“6). Im zweiten Teil seines Buchs, einer videographischen Studie, führt er die Theorie an die Empirie heran. Besonders die semiotische Analyse des Eingangsteils des Gottesdienstes ist eine nähere Betrachtung wert. Nach dem Einzug zum Orgelvorspiel beschreibt er die Begrüßung durch den Domprediger: „[N]un tritt der Domprediger an den Ambo, blickt die Gemeinde an und beginnt zu sprechen. […] Der kinetische Code aus dem Paradigma Körpersprachen – der Pfarrer blickt die Menschen an – wird ebenfalls erstmalig benutzt. […] Der Domprediger beginnt mit einer Begrüßung und stellt den Wochenspruch Matth 11,28 voran (Jesus Christus spricht: Kommet her zu mir alle, die ihr mühselig und beladen seid. Ich will euch erquicken.).“7 Auf Grundlage dieser Beschreibung mag man eine frei gesprochene Begrüßung unter Verwendung memorierter Zitate vermuten. Die dem Buch beigegebene DVD zeigt jedoch ein anderes Bild.8 In manchen Phasen blickt der Liturg in die Gemeinde, in anderen ist sein Blick auf den Ambo gerichtet, wo eine Textvorlage zu vermuten ist. Das folgende Transkript entspricht den

2 Apel, Kim: Die Gemeinde im Eingangsteil des Ev. Gottesdienstes. Rezeptionsästhetische Überlegungen, in: Jahrbuch für Liturgik und Hymnologie, Bd. 45, Göttingen 2006, S. 54–80, hier S. 61. 3 Ebd., S. 61, Fußnote 45. 4 Neijenhuis, Jörg: Gottesdienst als Text. Eine Untersuchung in semiotischer Perspektive zum Glauben als Gegenstand der Liturgiewissenschaft, Leipzig 2007, S. 145. 5 Ebd., S. 117. 6 Ebd. 7 Ebd., S. 247. 8 Vgl. zu den folgenden Ausführungen ebd., DVD Teil 1, ab 00:05:58.

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Transkriptionskonventionen nach GAT-2-Basistranskript9 mit ungefähren Pausendauern. Alle Teile, die mit Blick in die Gemeinde gesprochen wurden, sind durch Unterstreichung markiert. Vor dem transkribierten Abschnitt blickt der Pfarrer erst in die Gemeinde, dann 2,3 Sekunden auf den Ambo. (BEISPIEL 1)  BEGLEITMATERIAL NIJENHUIS (05:58–06:51) 01 jesus christus spricht, (-) kommet HER zu mir Alle, (-) die 02 ihr mÜhselig und beLAden seid, (–) ICH will Euch erquIcken 03 (0.6) DIEser tröstende und aufmunternde spruch soll uns (-) in 04 dieser nEUen wOche beGLEIten (–) SEIen sie (.) herzlich 05 willKOMmen geheißen hier in der oberpfarr-und domkirche (-) 06 sie die sie als GÄSte hier sind eben is noch eine große 07 JUgendgruppe gekommen (-) die die sie ausm ausland HIER (-) 08 MIT uns gOttesdienst fEIern (-) wOllen (–) wir freun uns dass 09 aus unsrer PARTnergemeinde MARL auch eine vertretung unter uns 10 ist. An diesem kurzen Beispiel wird deutlich, wie sich die liturgische Arbeit am Textbild auf die Performanz auswirkt: Bei 65 Silben, die in die Gemeinde gesprochen wurden, gab es sieben deutlich hörbare Betonungen. Bei 49 Silben, die mit Blick auf das Blatt gesprochen wurden, gab es 14 deutlich hörbare Betonungen. Der Großteil der Pausierungen findet sich in den gelesenen Passagen. Die vermutlich spontane Bezugnahme auf die Jugendgruppe (Z. 6f.) ist deutlich flüssiger gesprochen, als der vorhergehende Teil. Die Begrüßung ist eine Mischform aus freier Anrede und Lesung. Ähnlich verhält es sich mit den Einsetzungsworten im Abendmahl, die der Liturg augenscheinlich von einem am Mikrofon angebrachten Text abliest, wobei hier der Lesungsanteil aufgrund der gebundenen Sprache noch weiter in den Vordergrund rückt.10 Neijenhuis nimmt dann doch zwei Mal Bezug auf die „Unterlagen“11 des Liturgen, behandelt sie hier aber nicht als semiotisch relevante Objektsprache. Neijenhuis hätte das Ringbuch in seine Analyse aufnehmen können und sollen, da der schwarze Hefter in A4-Größe deutlich sichtbar das Geschehen begleitet und sich

9 Vgl. Selting, Margret/Auer, Peter/Barth-Weingarten, Dagmar et al.: Gesprächsanalytisches Transkriptionssystem 2 (GAT 2) (Gesprächsforschung – Online-Zeitschrift zur verbalen Interaktion, 10/2009, S. 353–402.); online verfügbar unter www.gespraechsforschung-ozs.de/heft2009/px-gat2.pdf (Zugriff 12.10.2018). 10 Vgl. J. Neijenhuis: Gottesdienst, DVD Teil 3, ab 01:03:57. 11 Ebd., S. 252, S. 356.

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das Lesen aus diesem Hefter direkt auf die Sprach-, Sprech- und Schauform des Gottesdienstes auswirkt. Während die Liturgiewissenschaft bislang noch keine Notiz vom Ringbuch genommen hat, ist dieses Utensil von der Ratgeberliteratur auf dem evangelischen Markt als Thema schon lange entdeckt worden. Sie schätzt es aber nicht sehr. Thomas Kabel äußert sich despektierlich: „Von manchen Liturgen habe ich den Eindruck, dass sie regelrecht ein Liebesverhältnis zu ihrem Ringbuch haben […]: ,Ich und mein Ringbuch, wir bilden eine Einheit‘; ,Du lässt mich nicht allein‘. Der Stuhl neben ihnen wird freigehalten für das Ringbuch“.12 Er empfiehlt dringend die Begrüßung ohne dieses Utensil, da die „Kommunikation […] immer vor Perfektion gehen“13 solle. Thomas Hirsch-Hüffel schließt sich ihm an,14 auch die Praktische Theologin Corinna Dahlgrün äußert sich nur restriktiv hinsichtlich Format und Lesbarkeit.15 Der Blick auf die theologische Theoriebildung und die Praxisliteratur hilft also wenig zum Verständnis der Schriftbild-Performanz-Intermedialität. Darum soll im Folgenden ein genauerer Blick auf das Phänomen geworfen werden.

2.  D AS RINGBUCH IN AKTION: EMPIRISCHE EINSICHTEN IN DIE TEXTBASIERTE SPRACHLICHKEIT Ein Blick in die liturgische Praxis verspricht neue Einblicke in das Verhältnis von Textbild und Performanz im Gottesdienst. Die hier dargestellte Studie hat explorativen Charakter. Es wurden alle grundlegenden Informationen erhoben, die sich auf die äußeren Merkmale, mithin das Bildliche des Ringbuchs beziehen. Dazu werden Daten präsentiert, die den sprecherischen Umgang mit dem authentischen Textmaterial im Gottesdienst erhellen. Die folgenden Ausführungen zielen darauf ab, das Verhältnis von Bild und Performanz empirisch über sich aufzuklären.

12 Kabel, Thomas: Handbuch liturgische Präsenz. Band 1: Zur praktischen Inszenierung des Gottesdienstes, Gütersloh 22003. 13 Ebd., S. 44. 14 Vgl. Hirsch-Hüffell, Thomas: Gottesdienst verstehen und selbst gestalten, Göttingen 2002, S. 87f. 15 Vgl. Dahlgrün, Corinna: Persönliche Vorbereitung, in: Fendler, Folkert (Hg.): Qualität im Gottesdienst. Was stimmen muss, was wesentlich ist, was begeistern kann, Gütersloh 2015, S. 207–215, hier S. 209.

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2.1  Theoretischer Hintergrund im Kurzabriss Im gesetzten Rahmen bieten sich linguistische und sprechwissenschaftliche Theorien als Bezugsgröße und Leitfaden an. Einen ersten geeigneten Rahmen für die Einordnung der zu betrachtenden Text-Sprech-Phänomene bieten Peter Koch und Wulf Oesterreicher, die in ihren Studien Mündlichkeit und Schriftlichkeit als „unterschiedlichen Kommunikationsmodi“16 betrachten. Schriftlichkeit sei ihrer Konzeptionalität nach eher mit einer Sprache der Distanz, Mündlichkeit mit einer Sprache der Nähe zu vergleichen.17 Die Autoren unterscheiden ein Kontinuum auf konzeptioneller Ebene (gesprochen vs. geschrieben) und eines auf medialer Ebene (graphisch vs. phonisch).18 Das phonische Sprachereignis „Predigt“ etwa verorten sie nahe dem Pol geschrieben/Distanz zwischen dem näheren Sprachereignis „Vorstellungsgespräch“ und dem „distanzierteren Vortrag“.19 Sprachliche Nähe entstehe, so Wulf und Oesterreicher, durch spontane, reziproke, dialogische und gemeinsame Gesprächskonstitution, durch Linearität, Redundanz und Expressivität, während sprachliche Distanz durch Planung, Monologizität, Sachlichkeit und die Benennung von Kontexten, durch hierarchische Komplexität und Explizitheit bestimmt sei.20 Der Sprechwissenschaftler Norbert Gutenberg ergänzt diese Theorie um seine Überlegungen zu mündlich realisierten schriftkonstituierten Textsorten (mrskT).21 Dabei macht er drei Ecktypen auf. Zuerst behandelt er die vorverfasste Rede (Typ 1). Hierunter fasst er etwa fremdverfasste Reden wie Gelegenheitsreden mit Freiräumen für Namen, die für einen Zweck bereitgestellt werden (in unserem Kontext ist an Agendentexte für Amtshandlungen zu denken), sowie Hörfunk- und Fern-

16 Koch, Peter/Oesterreicher, Wulf: Sprache der Nähe – Sprache der Distanz. Mündlichkeit und Schriftlichkeit im Spannungsfeld von Sprachgeschichte und Sprachtheorie, in: Deutschmann, Olaf/Flasche, Hans/König, Bernhard et al. (Hg.): Romanistisches Jahrbuch 36/1985, Berlin/New York 1985, S. 15–34, hier S. 15. 17 Vgl. ebd., S. 18–23. 18 Vgl. ebd., S. 17f. 19 Vgl. ebd., S. 18. 20 Vgl. ebd., S. 20f. und Dies.: Schriftlichkeit und Sprache, in: Günther, Hartmut/Otto, Ludwig (Hg.): Schrift und Schriftlichkeit: Ein interdisziplinäres Handbuch internationaler Forschung, Berlin/ New York 1994, S. 587–604, hier S. 590. 21 Vgl. Gutenberg, Norbert: Mündlich realisierte schriftkonstituierte Textsorten, in: Brinker, Klaus/Antos, Gerd/Heinemann, Wolfgang et al. (Hg.): Text- und Gesprächslinguistik – ein internationales Handbuch zeitgenössischer Forschung, 1. Halbband, Berlin/ New York 2000, S. 575–587.

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sehnachrichten.22 Einen zweiten Ecktyp (Typ 2) bilden die Wiedergebrauchsreden (er nennt hier etwa den einem Taufakt zu Grunde liegenden Text) und literarische Texte, wie etwa Gedichte und Dramentexte.23 Unter Ecktyp 3 fasst Gutenberg Stichwortkonzepte, bei denen die Vorbereitungstiefe zwischen den rhetorischen Produktionsstadien der Inventio und der Elocutio bzw. der Pronuntiatio schwankt und deren Verfertigung stark auf die Imaginations- bzw. Erinnerungsleistung (Memoria) des Orators angewiesen sei.24 Abschließend liefert Gutenberg eine Liste, in die er u. a. Textsorten aus dem kirchlichen Feld, etwa Abkündigung und Gebet aufnimmt, die er als „Wiedergebrauchsreden“ zählt.25 Inwiefern die Einordnungen der empirischen Überprüfung standhalten, wird an den nun folgenden Beispielen zu klären sein. 2.2  Methodische Orientierung Die Studie hat explorativen Charakter und soll erste Hinweise für eine datenbasierte Beschreibung des eingangs umrissenen Phänomens der textgestützten Gottesdienstfeier und damit zum Verhältnis von Textbild und Performanz liefern. Es wurden Tonaufnahmen und Ablaufskizzen von insgesamt vier Gottesdiensten angefertigt. Zusätzlich wurden die Textunterlagen, die den Gottesdiensten im Verlauf zugrunde lagen, dokumentiert. Die Pfarrpersonen, die sich als Probanden zur Verfügung gestellt haben, wurden im Voraus um Einwilligung zur Audioaufnahme und im Nachhinein um Freigabe der Texte gebeten. Aus den Audioaufnahmen wurden nach dem Gesprächsanalytischen Transkriptionssystem 2 (GAT-2)26 Basistranskripte zum gesamten Wortteil der Gottesdienste erstellt. Durch das wiederholte Abhören der Rohdaten und Analyse mit dem Phonetikanalyseprogramm PRAAT27 wurden im GAT-2-Basistrankript folgende verbale und paraverbale Elemente eingetragen: primäre Phänomene wie Pausengestaltung, Artikulationsgeschwindigkeit (temporale Merkmale) und Betonungsmuster (Haupt- und Nebenbetonungen), sowie ggf. sekundäre Phänomene der Stimmqualität wie etwa

22 Vgl. ebd., S. 567f. 23 Vgl. ebd., S. 577f. 24 Vgl. ebd., S. 578. 25 Vgl. ebd., S. 582f. 26 Vgl. M. Selting: Transkriptionssystem 2. Online verfügbar unter www.gespraechsforschung-ozs.de/heft2009/px-gat2.pdf (Zugriff 12.10.2018). 27 Vgl. Praat: doing phonetics by computer. Online verfügbar unter www.fon.hum.uva.nl/ praat/, (Zugriff 12.10.2018).

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Heiserkeit.28 Aus den so textlich aufbereiteten Daten wurden dann Artikulationsgeschwindigkeit (Silben pro Sekunde) und Pausenzeitquotient (Verhältnis der Gesamtdauer einer komplexen Äußerung zur reinen Sprechzeit) ermittelt. Diese Daten geben Aufschluss über die Wirkungsfaktoren gesprochener Sprache.29 Nach Abschluss aller Analysen wurden Personen und Orte anonymisiert. Betrachtet werden Teile aus zwei Gottesdiensten, die in der Evangelischen Kirche in Norddeutschland außerhalb der Kirchenjahres-Festzeiten gehalten wurden. Die Ergebnisse aus den beiden Einzelfallstudien sollen nun zunächst einzeln dargestellt und daraufhin verglichen werden.30 Um den Rahmen dieses Beitrags einzuhalten und dennoch eine gute Kontrastivität zu gewährleisten, wird die Darstellung der Beispiele auf die liturgischen Stücke Tages- bzw. Kollektengebet und Abkündigungen beschränkt.31

28 Vgl. zu den Standards: Selting, Margret: Probleme der Transkription verbalen und parverbalen Verhaltens, in: Brinker, Klaus/Antos, Gerd/Heinemann, Wolfgang et al. (Hg.): Text- und Gesprächslinguistik – ein internationales Handbuch zeitgenössischer Forschung, 2. Halbband, Berlin/New York 2008, S. 1059–1068. 29 Vgl. z. B. Kowal, Sabine: Über die zeitliche Organisation des Sprechens in der Öffentlichkeit. Pausen, Sprechtempo und Verzögerungen in Interviews und Reden von Politikern. Bern 1991; Meinhold, Gottfried: Zeitparameter gesprochener Sprache. Forschungsbericht, Unveröffentlichtes Manuskript 1995; Kranich, Wieland: Bühnensprechen im Musiktheater und Schauspiel. Überlegungen auf der Basis einer experimentalphonetischen Untersuchung, in: sprechen, 54/2012, S. 33–57. 30 Wie bereits in vorherigen Studien festzustellen war, gibt es den Normalfall Sonntagsgottesdienst kaum. In den meisten Gottesdiensten zeigen sich Abweichungen zur Agende. Da in einem der beiden hier untersuchten Gottesdienste Gebärdensprachdolmetscher mitwirken, ist der Ablauf nach Bekunden der Pfarrperson ausführlicher, als sonst. Da die angeführten Beispiele nicht repräsentativ sein können, ist diese Besonderheit ebenso vernachlässigbar, wie der Umstand, dass der andere Gottesdienst mit verhältnismäßig wenigen Personen gefeiert wurde. 31 Theoretische Betrachtungen zum diesen Stücken können hier nicht weiter ausgeführt werden. Sie finden sich etwa einführend bei Meyer-Blanck, Michael: Gottesdienstlehre, Tübingen 2012, S. 124, S. 514f.; Klie, Thomas: Fremde Heimat Liturgie. Ästhetik gottesdienstlicher Stücke, Stuttgart 2010, S. 157–169; Gojny, Tanja: Kollektengebet. Artenschutz für eine bedrohte liturgische Spezies? in: Bubmann, Peter/Deeg, Alexander: Der Sonntagsgottesdienst. Ein Gang durch die Liturgie, Göttingen 2018, S. 129–134; Eyselein, Christian: Abkündigungen. Last und Lust einer liturgischen Sprachform, in: Bubmann, Peter/Deeg, Alexander: Der Sonntagsgottesdienst. Ein Gang durch die Liturgie, Göttingen 2018, S. 237–243.

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2.3  Gottesdienst G Der Gottesdienst G wurde in einer großen Dorfkirche an einem Sonntagmorgen gefeiert. Der Hochaltar steht im Chorraum. An den Stufen zum Chorraum steht links das Redepult. Die Gottesdienstgemeinde umfasste etwa 75 Personen. Die Pfarrperson wurde durch eine Lektorin und durch ein Team aus Gebärdendolmetschern unterstützt. Die Unterlagen umfassten einen ausführlichen und zum Teil ausformulierten Ablauf im Format A5 hochkant, der in Schriftgröße 11 (unpaginiert, Serifenschrift, Flatter- und Blocksatz, ein- und eineinhalbfacher Zeilenabstand) in einem schwarzen Ringbuch gefasst war, sowie den Psalm in Format A4 (nicht dokumentiert), die Predigt im Format A4 in Schriftgröße 14 (paginiert, Serifenschrift, Blocksatz, eineinhalbfacher Zeilenabstand) und die Abkündigungen im Format A4 Schriftgröße 9 (einseitig, ausformuliert, mit Fettdruck der Themenangaben/Stichworte, Serifenschrift, Flatter- und Blocksatz, einfacher Zeilenabstand). Eine besondere Betrachtung von mündlich realisierten schriftkonstituierten Texten kommt nun dem als Gebet gekennzeichneten Tages-/Kollektengebet und der Abkündigung des Kollektenzwecks zu.

Abbildung 1: Tagesgebet aus dem Ringbuch des Gottesdienstes G (Ausschnitt aus Seite 2)

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(BEISPIEL 2)  TAGESGEBET GOTTESDIENST G 01 lasst uns Beten. (4,3) leBENdiger gOtt; (0,7) an diesem mOrgen 02 kommen wir VOR dich mit allem; (0,5) was Uns bewEgt– (.) und 03 was uns Umtreibt; (1,0) vor dIch bringen wir unsere FREUde, 04 (0,5) und unseren kUmmer. (0,9) unsere WEIte, (0,7) und 05 unseren zwEIfel– (1,4) wir wIssen, (0,4) dass dU uns HÖRST; 06 (0,6) durch unser WORT, (0,5) durch unsere GESten? (0,7) durch 07 unser FÜHlen und unseren GLAUben; (1,3) du bist uns NAH, (1,3) 08 wir BITten dich; (0,7) sei du auch in dIEser stunde bEI uns 09 wenn wir GOTtesdienst feiern- (0,9) umFANge uns mit dEInem 10 sEgen; (0,3) HEUte, (0,5) und an Allen kommenden Tagen; (0,9) 11 das BITten wir, (0,5) In JEsu namen;(1,3) Amen; Die Pfarrperson orientiert sich stark am Text des abgedruckten Gebets (Abb. 1, Beispiel 2).32 Auf Grundlage der Überschrift „Gebet:“ fügt sie die moderierend-liturgische Einleitung („lasst uns beten“ Z. 1) hinzu. Dabei blickt sie mit dem Ringbuch in der Hand in die Gemeinde und dreht sich dann zum Altar. Ihre Stimme wird jetzt durch ein Mikrofon verstärkt. Das Possessivpronomen „unsere“ in der 5. Zeile der Vorlage ändert sie vom Akkusativ Plural in den Akkusativ Singular (Z. 5) und gleicht damit an die vorhergehende alternierende Reihe der Possessivpronomina an. Der Pausenzeitquotient von 1,5 bildet die häufigen Pausen ab. Den 18 Satzzeichen in der Vorlage entsprechen 17 Pausen (keine Pause vor der Konjunktion in Z. 9). Die Kopula „und“ kommt fünfmal vor, viermal nach einer Pause. Im fünften Fall (Z. 7) wiederholt sich das dreimal vorangegangene „und“ nicht, es folgt auch keine Pause. Die Formel „in Jesu Namen“ wird durch eine Pause abgetrennt. Die Artikulationsgeschwindigkeit ist mit 4,6 Silben pro Sekunde relativ hoch. Die Intonation am Ende der durch Pausen strukturierten Intonationsphrasen ist sehr unterschiedlich. Die Pfarrperson nutzt häufig fallende (;) und stark fallende (.) Tonhöhenbewegungen, auch ohne Zusammenhang mit dem Abschluss von Sinneinheiten (Z. 2, 4, 5, 8), wo eher steigende oder gleichbleibende Intonation zu erwarten wäre. Die nachgeschobene modal bestimmende Reihung „durch …“ (Z. 6–7) im Nominalstil bekommt somit ein noch stärkeres Gewicht. Die textlich vorgegebenen Sprecheinheiten werden weiter gekürzt und der Text erhält einen stark thetischen Charakter. Durch die genannten Faktoren vermittelt sich ein flüssiger, wenn auch bedächtiger Höreindruck, der durch die semantische Dichte noch verstärkt wird.

32 Hier und in den folgenden Beispielen zeigen Unterstreichungen Abweichungen vom vorgegebenen Text an.

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Abbildung 2: Ausschnitt Kollektenzweck vom Abkündigungsblatt des Gottesdienstes G

(BEISPIEL 3)  KOLLEKTENZWECK GOTTESDIENST G 01 die kollEkte die wir gleich beim nÄchsten lied einsammeln 02 möchten ist heute beSTIMMT, (0,3) für das zentrum für mission 03 und ökuMEne. (2,3) LEben und geRECHtigkeit in AFrika; (.) das 04 is sozusAgen, (.) die Überschrift dieses proJEKtes; (0,9) 05 gerechtigkeit– (0,3) ist für ein lEben in frIEden und in 06 FREIheit– (0,5) im grunde eine GRUNDvoraussetzung; (0,7) viele 07 mEnschen in den lÄndern AFrikas ham kein ZUgang zu sAUberem 08 wAsser zu nAhrung, (0,4) gesUndheitsversorgung oder (.) 09 BILdung; (0,6) und eine geRECHte tEIlhabe an resSOURcen, 10 (0,3) ihrer lÄnder– (0,7) bliebt ihnen verSAGT. (0,6) die 11 lutherischen pArtnerkichen in südAFrika, (0,3) in KEnia in 12 tansania, (0,4) und in der demokrAtischen republik verSUchen, (0,4) einen AUSgleich für benachteiligte 14 menschen zu schaffen. (0,5) das geht auf ganz Unterschiedliche 15 Art und WEIse; (0,5) gerEchtigkeit frIEden und bewAhrung der 16 SCHÖPfung– (0,4) ist ein grOßes THEma– (0,4) das sich durch 17 verschIEdene proJEKte, (0,4) im lEben der mEnschen dort ZEIGT; 18 (.) und chAncen erÖffnet, (0,3) für ein gerechtes lEben; (0,3) 19 auch DORT. (0,4) darum lEg ich ihnen– (0,4) die kollekte für 20 hEUte !SEHR! an ihr hErz; Die Pfarrperson liest die Abkündigungen vom Lesepult aus und blickt gelegentlich auf. Bei der Abkündigung des Kollektenzwecks (Abb. 2, Beispiel 3) orientiert sich die Pfarrperson nur phasenweise an der textlichen Vorlage, mithin nur bis zur

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ersten Hälfte des Textes. Hier finden wir deutlich mehr näheorientierte Sprache bzw. konzeptionelle Mündlichkeit, etwa in der Modalpartikel „sozusagen“ (Z. 4), in der Redundanz (Z. 6 und 15–19), in der Numerusinkongruenz „ist“ nach einer Reihung (Z. 16), in der direkten Ansprache mit verkürztem „leg ich ihnen“ (Z. 19), das Nähe herstellt und dem expressiven „sehr“ (Z. 20). Die Pfarrperson beginnt mit einem Bezug auf die zeitlichen Handlungsumstände (Z. 1–2) und bindet die Überschrift und die ersten Worte aus der Vorlage in ihre Moderation (Z. 1–4) ein (Z. 2–3). Die im zweiten Teil der Vorlage benannten Umstände fasst sie knapp in der Formulierung „das geht auf unterschiedliche Art und Weise“ (Z. 14–15) zusammen, um daraufhin die bereits benannten Themen zu wiederholen („Gerechtigkeit“, „Frieden“, Z. 15; „gerechtes Leben“, Z. 18) und zu erweitern („Bewahrung der Schöpfung“, Z. 15–16). Sie schließt mit dem Verweis auf die Kollekte, wobei sie die Textvorlage spontan variiert („Kollekte“ statt „Spende“) und personalisiert („darum leg ich ihnen … an‘s Herz“, Z. 19–20). Während die Artikulationsgeschwindigkeit auf die gesamten Abkündigungen im Durchschnitt mit 4,1 Silben pro Sekunde vergleichsweise gering ist, steigt sie in der Abschlussparaphrase dieses Beispiels auf 4,6 Silben pro Sekunde nach 4,2 Silben pro Sekunde in der textidentischen Passage. Der Pausenzeitquotient liegt innerhalb der gesamten Abkündigungen stabil bei 1,2 und somit deutlich niedriger als im vorherigen Beispiel des Gebets. Die Intonationsabschüsse sind sowohl im gelesenen, als auch im frei gesprochenen Teil an den Phrasen orientiert. Die Betonungshäufigkeit ist durchgehend eher hoch und übersteigt das kommunikativ Nötige an Betonungen für Sinneinheiten, Kontrastakzente etc. Das Zusammenspiel dieser Faktoren vermittelt einen durchgängig flüssigen Höreindruck, der Abschluss suggeriert emotionale Nähe.

2.4 GOTTESDIENST T Der Gottesdienst T wurde im Gemeinderaum eines kleinen Dorfes an einem Sonntagnachmittag gefeiert. An der Frontseite des Raums stehen links der Altar und rechts ein Harmonium, dazwischen ist die Tür. Zum Gottesdienst erschienen 6 Personen. Die Pfarrperson wurde durch eine Gemeindepädagogin unterstützt. Die Unterlagen umfassten einen Übersichtsablauf und einen ausführlichen und zum Teil ausformulierten Ablauf im Format A5 hochkant, der in verschiedenen Schriftgrößen 11‑14 (unpaginiert, Serifen- und seifenlose Schrift und Kapitälchen, Flatter- und Blocksatz, ein- und eineinhalbfacher Zeilenabstand) in einem schwarzen Ringbuch gefasst war, sowie einer Textvorlage in Format A4 mit Zitaten von Gemeindemitgliedern (zweiseitig unpaginiert, serifenlose Schrift, Flattersatz, einfa-

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cher Zeilenabstand). Die Predigt enthält durch „Pause“ gekennzeichnete Hinweise auf temporale Gestaltung. Auch hier sollen das Tages-/Kollektengebet und die Abkündigung des Kollektenzwecks näher betrachtet werden.

Abbildung 3: Tagesgebet aus dem Ringbuch des Gottesdienstes T

(BEISPIEL 4)  TAGESGEBET GOTTESDIENST T 01 wir bEten; (4,5) hallo GOTT, (1,2) hier SIND wir; (1,6) heute 02 NACHmittag, (1,3) schon wieder MÜde? (0,6) oder noch WACH; 03 (1,1) beDRÜCKT oder FROH, (1,3) wir DANken dir für das LICHT 04 (.)für die SONne, (0,8) die jeden tag neu AUfgeht; (1,2) es 05 gab auch SCHATten in dieser woche, (1,2) manchmal sind die 06 AUfgaben des tages zu GROSS; (0,9) und unser mUt zu KLEIN. 07 (2,0) manchmal– (1,0) sind wir UNS oder den anderen etwas 08 SCHULdig geblieben. (1,7) was geLUNgen ist, (1,1) und was 09 NICHT, (1,1) ALles können wir in deine hÄnde legen; (1,2) 10 gottseiDANK (2,1) Amen, Die Pfarrperson spricht das Gebet vom Lesepult in Richtung Gemeinde und blickt dabei gelegentlich auf. Sie orientiert sich stark am Text des abgedruckten Gebets (Abb. 3, Beispiel 4). Sie realisiert die Überschrift „Gebet“ durch die Information „Wir beten.“ (Z. 1). Es erfolgt eine spontane Ersetzung der Tageszeit und im Anschluss daran die Anpassung des Folgetextes (Z. 2). Allen Satzzeichen in der Vorlage entspricht eine Pause. Weitere Pausen gibt es vor der Kopula „und“ und im Rahmen der spontanen Umformulierung (Z. 2). Der Pausenzeitquotient

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von 1,7 bildet die sehr häufigen und verhältnismäßig langen Pausen ab. Auffällig ist die Häufung steigender (,) oder stark steigender (?) Tonhöhenbewegungen am Ende von Intonationsphrasen bei Satzschlüssen (Z. 1, 2, 3, 5). Die Pausen erscheinen so deutlicher als Spannungspausen. Die Artikulationsgeschwindigkeit ist mit 4,4 Silben pro Sekunde weder besonders niedrig noch besonders hoch. Die Betonungshäufigkeit ist durchgehend eher hoch, was aber auch mit der Kürze der Äußerungseinheiten zu tun hat. Auffällig sind die mündlichkeitsnahe Anrede „Hallo“ (Z. 1) und „Gottseidank“ (Z. 10) zu Beginn und am Schluss des Gebets. Durch die genannten Faktoren vermittelt sich auch hier ein flüssiger, wenn auch bedächtiger Höreindruck.

Abbildung 4: Ausschnitte Kollektenzweck aus dem Ringbuch des Gottesdienstes T

(BEISPIEL 5)  KOLLEKTENZWECK GOTTESDIENST T 01 am AUSgang? (0,9) vor dem ich grade STEhe, (0,4) sammeln wir 02 eine kolLEKte; (0,6) hier steht das BASTkörbchen, (0,4) DA 03 können sie sich dann erLEICHtern; (0,3) und– (0,6) die 04 kolLEKte ist am heutigen sonntag zu EIner hälfte bestimmt– 05 (0,3) für die ARbeit des blAUen KREUzes (.) in DEUTSCHland– 06 (0,8) das is sozusagen eine CHRISTlich geprägte arbeit unter 07 dem dach der diakoNIE, (0,8) die sich; (0,9) mit SUCHTkranken 08 (.) den angehörigen von suchtkranken und deren famIlien 09 befasst; (1,4) in MECKlenburg gibt es vierunddreißig 10 blaukreuzbeGEGnungsgruppen– (.) EIne davon zum beispiel in 11 SÜdow33;(0,6) das sind so Ehrenamtlicher treffen Ehrenamtliche 12 TREFfen; (0,4) und– (2,0) eine wichtige ARbeit; (1,1) die wir 33 Der Ortsname wurde unter Beibehaltung der Silbenstruktur geändert.

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13 mit unsrer kollEkte unterSTÜTzen– (.) der ZWEIte teil der 14 kollekte; (0,4) ist– (0,5) für die arbeit in unsrer eigenen 15 KIRchengemeinde bestimmt. Die Textvorlage der Abkündigungen ist im Ringbuch für den Gottesdienst T auf mehrere Seiten verteilt. Bei der Abkündigung des Kollektenzwecks (Abb. 4 Beispiel 5) orientiert sich die Pfarrperson teilweise an der textlichen Vorlage nur bis zur ersten Hälfte des Textes. Sie spricht die Abkündigungen mit dem Ringbuch in der Hand von dem Ort zwischen Altar und Tür aus mit Blick zur Gemeinde. Wir finden deutlich mehr mündlichkeitsnahe Sprache bzw. konzeptionelle Mündlichkeit, als im Gebet. Zu nennen sind hier die von einer Zeigegeste begleitete deiktische Formel „Hier steht das Bastkörbchen“ (Z. 2) gefolgt von der näheerzeugenden Doppeldeutigkeit „Da können sie sich erleichtern“ (Z. 2–3). Die Einführung des Kollektenzwecks folgt auf eine als Häsitationspartikel eingefügte Kopula „und …“. Bei der Information zur hälftigen Bestimmung: „zur einen Hälfte bestimmt …“ (Z. 4) fehlt der unmittelbare Anschluss, der am Ende der hier präsentierten Sequenz als Umformulierung des Vorlagentextes „der zweite Teil … ist … bestimmt“ (Z. 13–15) erscheint. Die Modalpartikel „sozusagen“ (Z. 6) und die Formulierung „das sind so …“ (Z. 11) sind deutlich mündlichkeitsnah. Eine weitere Kopula als Häsitationspartikel „und …“ steht vor der summierenden Zusammenfassung des Vorgenannten als „eine wichtige Arbeit“ (Z. 12). Die Pfarrperson beginnt mit einem Bezug auf die zeitlichen und örtlichen Handlungsumstände (Z .1–3) und beginnt dann mit den ersten Worten aus der Vorlage (Z. 5), die dann bis Z. 10 geringfügig angepasst verlesen wird. Die Pfarrperson erzeugt Nähe durch Personalisierung der erbetenen Spende als „wir mit unserer Kollekte“ (Z. 12–13). Die Nennung der nahen Kleinstadt (Z. 11) verweist auf einen gemeinsamen Lebenshorizont. Während die Artikulationsgeschwindigkeit auf die gesamten Abkündigungen im Durchschnitt bei relativ langsamen 4,1 Silben pro Sekunde liegt, steigt sie zu Beginn des hier präsentierten Ausschnitts auf 4,7 Silben pro Sekunde, während der gelesene Teil wieder bei 4,1 Silben pro Sekunde liegt. Das Ende liegt wieder bei 4,5 Silben pro Sekunde. Der Pausenzeitquotient liegt innerhalb der gesamten Abkündigungen konstant bei 1,3 und somit deutlich niedriger als im vorherigen Beispiel des Gebets. Die Intonationsabschüsse sind sowohl im gelesenen, als auch im frei gesprochenen Teil an den Phrasen orientiert. Die Betonungshäufigkeit liegt über dem Normalmaß. Das Zusammenspiel dieser Faktoren vermittelt besonders in den frei formulierten Passagen einen Höreindruck, der von direkter Ansprache persönlicher Nähe und Spontaneität geprägt ist.

Zu Textbild und Performanz im evangelischen Gottesdienst | 189

2.5 V  ERGLEICH UND ZWISCHENFAZIT AUS DEN EMPIRISCHEN EINBLICKEN Die beiden Gottesdienste ähneln sich hinsichtlich des hier betrachteten Umgangs mit den Texten in den Ringbüchern sehr. In beiden Gottesdiensten war das Gebet die Lesung einer Wiedergebrauchsrede, ist also nach Gutenberg dem Typ 2 der mündlich realisierten schriftkonstituierten Textsorten zuzurechnen.34 Besonders deutlich wurde das bei Gottesdienst T. Das Gebet war allem Anschein nach für einen Morgengottesdienst verfasst und musste spontan angepasst werden. Neben der deutlich stärkeren Allgemeinheit und abstrakteren Semantik der Gebete zeigten diese auch in beiden Fällen einen erhöhten Pausenzeitquotienten und niedrige Artikulationsgeschwindigkeit im Vergleich zu Vergleichswerten aus der Spontansprache. Die Abkündigung des Kollektenzwecks beinhaltete in beiden Fällen sehr ähnliche und sogar identische Phänomene: Die Erzeugung von Nähe zu den Rezipienten durch Personalisierung und die spontane Erweiterung der Textvorlage sind hier genauso zu nennen, wie der große Textbezug auf den ersten Teil der Vorlage bei Zusammenfassung des jeweils zweiten Teils. Die Textvorlage wurde teils als Lesung und damit entsprechend dem mrskT-Typ 2 genutzt.35 Darüber hinaus diente sie als Stichwortsammlung, also eher als Konzept für die freie Rede, bzw. Typ 3 in der Systematik Gutenbergs.36 Die Abkündigungen sind eine komplexe Textform. Der Pausenzeitquotient lag in beiden Fällen deutlich unter dem Wert, der für die Gebete gemessen wurde. Die Artikulationsgeschwindigkeit war, besonders in den frei formulierten Passagen deutlich näher an den für Spontansprache zu erwartenden Werten. In allen Beispielen fanden sich häufige Betonungen, in den Gebeten auch gleichmäßige Betonungsmuster, was die Wahrnehmung wiederum von der spontanen Sprache entfernt.

3.  D  IE PARTITUR DES GOTTESDIENSTES: EIN VIELVERSPRECHENDES FELD FÜR FORSCHUNG UND PRAXIS Gottesdienste können mit Hilfe gesammelten Textmaterials angemessen gefeiert werden, das wurde deutlich. Das Ringbuch ist mehr als eine Hilfe, es ist ein geradezu notwendiges Instrument. Die hier betrachtete Praxis ist vermutlich weit 34 Vgl. N. Gutenberg: Textsorten, S. 557f. 35 Vgl. ebd., S. 557f. 36 Vgl. ebd., S. 578.

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verbreitet, sodass sich die These Friedrich Kalbs bestätigt hat, dass „der Liturg [und die Liturgin, lrs] […] nicht mehr wie früher eine fertig ausgearbeitete Liturgie ablesen kann, sondern dass er [bzw. sie, lrs] (wie zur Predigt) selbst einen Teil der Gestaltungsarbeit zum Gottesdienst überhaupt leisten muss.“37 Und man wird wohl auch seiner abschließenden Einschätzung zustimmen können, dass „diese Praxis […] eine Einübung und Erfahrung voraus[setzt], die in der gegenwärtigen theologischen Ausbildung so noch nicht vermittelt wird“38. Es gilt, die Chance zu erkennen, die sich aus einer Konsolidierung dieser Praxis ergibt. Zu klären wäre, welche Sprechstile für welchen Liturgen und welche Liturgin welchem gottesdienstlichen Genre und welchem liturgischen Element in ihrer jeweiligen Sprachform angemessen sind. Hierfür kann es natürlich keine allgemeinen Festlegungen geben. Die praktische Forschung kann hier nur von den Gesprochene-Sprache-Studien profitieren. Das Ziel muss die sprecherische Realisation einer Sprache sein, die Menschen emotional und kognitiv in ihrem (Glaubens-) Leben zu orientieren vermag. Das Ziel sind ferner Hilfsangebote für einen theologisch wie ästhetisch qualitätsvollen Gottesdienst. Der Diskurs um Qualität und Verständlichkeit mündlich realisierter schriftkonstituierter Textsorten wird in der Sprechwissenschaft geführt, derzeit insbesondere unter dem Stichwort „Radioästhetik“39. Aus den Fortschritten der dortigen Forschung kann die Praktische Theologie analytische Kategorien und Vergleichswerte beziehen und auf Grundlage weiterer empirischer Forschung die Produktions- und Wirkungsästhetik von Gottesdiensten tiefer verstehen. Die hier vorgelegte explorative Studie ist ein erster Beitrag hierzu. Von einer höheren Sensibilität für die Intermedialität der Leitung von Gottesdiensten und von einer damit verbundenen Würdigung des Ringbuchs kann auch die Praxis profitieren. In der Sprechwissenschaft werden entsprechend aufgearbeitete Vorlagen für professionelles Sprechen als „Sprechpartituren“40 bezeichnet. Verstehen wir die gottesdienstlichen Textsammlungen als „Partituren“, könnten diese nicht nur zur gottesdienstlichen Struktur und Vollständigkeit, sondern auch zu seiner Ästhetik beitragen. Eine individuell gestaltete Partitur trägt in Umfang,

37 F. Kalb: Liturgik, S. 47. 38 Ebd., S. 47. 39 Vgl. zum aktuellen Forschungsstand Apel, Heiner/Bose, Ines/Schwenke, Anna: Zum Beitrag von Informationsstruktur und Prosodie für die Hörverständlichkeit von Radionachrichten, in: Vinckel-Roisin, Hélène/Gautier, Laurent/Modicom, Pierre-Yves (Hg.): Diskursive Verfestigungen. Schnittstellen zwischen Morphosyntax, Phraseologie und Pragmatik im Deutschen und im Sprachvergleich, Berlin 2018, S. 279–291. 40 Ebd., S. 282.

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Format und Textbild den Notwendigkeiten der Aufführung und den Bedürfnissen der Ausführenden Rechnung. Eine erste Bewegung in diese Richtung findet sich in der Schreibung in „Sprecheinheiten“41, die das neue Lektionar vorsieht. Weitere Bemühungen in diese Richtung, theoretisch wie praktisch, sind zu wünschen.

41 Vereinigte Evangelisch-Lutherische Kirche Deutschlands (VELKD)/Union Evangelischer Kirchen in der EKD (UEK) (Hgg.): Lektionar, Leipzig 2018, S. XXXVf.

Theatrale Kategorien in der Praktischen Theologie Lisa Espelöer

„Auch beim Theater gilt, daß nicht einfach der Inhalt eines Stückes wiederholt wird, weil dieses zeitlos gültig wäre. In einer guten Inszenierung wird eine neue, im Moment der Aufführung zur Geltung kommende Wirklichkeit gesetzt. […] Eine neue Wirklichkeit erlangt Geltung, wenn das Publikum durch die Inszenierung provoziert wird, die neue Realität der Vorstellung als eigene neue Realität aufzufassen. Je offener die Inszenierung ist, um anderen zum Zeichen zu werden, desto eher ereignet sich neue Wirklichkeit nicht nur auf der Bühne, sondern im ganzen Theater. Die Aktion im Theater ist ‚Show‘, sie ist ‚Spiel‘, sie ist ‚Performance‘; aber sie ist vor allem Darstellung, weil sie Zeichencharakter hat. Die Darstellung weist über sich hinaus auf eine andere Realität. Bei einer guten Inszenierung interpretiert der Zuschauer seine Realität als eine neue.“1 Erleben von Wirklichkeit und im Gottesdienst Erleben von Wirklichkeit des Evangeliums – dieses Ziel des praktischen Erlebens theoretisch zu erfassen, versucht Michael Meyer-Blanck in Analogie zum theatralen Geschehen. Seine liturgische Theorie formuliert er unter Hinzunahme der theaterwissenschaftlichen Kategorien Inszenierung, Präsenz und Authentizität. Diesem Ansatz soll hier nachgegangen werden. Er bildet die Grundlage für die Auseinandersetzung mit den Bedingungen und Chancen einer solchen Analogiebildung zwischen Theater und Gottesdienst. Zugleich sollen Möglichkeiten diskutiert werden, diesen Ansatz weiterzuführen – also gewissermaßen mit Meyer-Blanck über Meyer-Blanck hinauszugehen. Einleitend soll die praktisch-theologische Fragestellung, die sich aus dieser Analogiebildung ergibt, kurz skizziert werden. Im Gottesdienst wird ein Raum 1 Meyer-Blanck, Michael: Inszenierung und Präsenz. Zwei Kategorien des Studiums Praktischer Theologie, in: Wege zum Menschen, 49/1, (1997), S. 2­–16, hier S. 5f.

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geschaffen, um Gottesbegegnung gemeinschaftlich zu erleben und zu feiern. Dabei haben sich im Laufe der Christentumsgeschichte konventionalisierte gottesdienstliche Formen, Liturgien, entwickelt. Diese umfassen die Elemente Gebete, Lesungen, Gesänge, Predigt und Abendmahl, die in je eigener Weise einen Resonanzraum für die Gottesbegegnung eröffnen. Das christliche Gottesbild beinhaltet jedoch, dass die Nähe Gottes und das Wirken des Wortes Gottes den Menschen unverfügbar bleiben. Aus den Möglichkeiten des menschlichen Handelns und Gestaltens der Gottesbegegnung (anabatisch, auf Gott gerichtet) und der gleichzeitigen Nicht-Verfügbarkeit der Gotteswirksamkeit (katabatisch, auf den Menschen bezogen) ergibt sich eine Spannung, die in der praktisch-theologischen Theorie immer mitschwingt und die nicht einseitig entschieden bzw. nicht nur in der einen oder anderen Richtung einbezogen werden darf. Unter diesem Vorbehalt werden die Gestaltungsmöglichkeiten der Weitergabe und Feier des Evangeliums praktisch-theologisch diskutiert.2 Für den Einbezug der rezeptionsästhetischen Bedingungen von Gestaltbarkeit bzw. Darstellbarkeit religiösen Erlebens dient die Analogie von Theater und Gottesdienst. Beispielhaft wird im Folgenden die begriffliche Rezeption der Theaterbegriffe Inszenierung, Präsenz und Authentizität rekonstruiert und diskutiert.

2 Das Problem der Darstellbarkeit des Wortes Gottes durch Menschen stellt sich in der Theologie seit der Reformationszeit. Besonders zur Zeit des Zweiten Weltkriegs und danach, in der sog. Wort-Gottes-Theologie bzw. Dialektischen Theologie, wurden alle Reflexionsformen wie Darstellung, Rhetorik und Inszenierung des Evangeliums abgelehnt. Seit den 1960er-Jahren öffnete sich die Theologie einem Perspektivwechsel und neben den theologischen Inhalten konnte auch wieder über die Gestaltung und Wirkung gottesdienstlicher Handlungen gesprochen werden. Die Kernfrage, wie das Wort Gottes unter menschlichen Bedingungen wirkt oder nicht wirkt, bleibt allerdings bestehen und muss immer wieder neu in die theologische Diskussion einbezogen werden.

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1.  INSZENIERUNG UND PRÄSENZ IN DER LITURGIE 1.1  Inszenierung: der performative Gottesdienst Obwohl der Inszenierungsbegriff mittlerweile fest in der praktisch-theologischen Theorie, vor allem innerhalb der Liturgik, etabliert ist,3 gibt es bisher keinen konsenten Inszenierungsbegriff, der sich auch lexikalisch abbilden würde.4 Meyer-Blanck führt den Inszenierungsbegriff als Erster prominent in seine liturgische Theorie ein und verankert ihn theologisch. Den Ausgangspunkt seiner Überlegungen bildet der Inszenierungsbegriff im Hinblick auf die Form bzw. Darstellung, die ihren Inhalt hervorbringt, ihn sichtbar und erfassbar macht: „Inszenierungen bestimmen die Praxis des Evangeliums. Nicht ob das Evangelium an sich wahr ist, ist die entscheidende Frage, sondern ob es in einer konkreten Situation für konkrete Menschen wahr wird, ob es tröstet, lehrt, orientiert, begeistert, zum Handeln hilft.“5 Hiermit löst Meyer-Blanck den Inszenierungsbegriff deutlich aus dem ursprünglichen Theaterkontext heraus. Er nutzt die analogen Vollzüge von Theater und Gottesdienst, um den liturgiewissenschaftlichen Diskurs zu befruchten, also vom Theater aus das Augenmerk auf die Ausführung und Wirksamkeit der Liturgie zu lenken und diese auf den ersten Blick ungewohnte Perspektive auf der Theorieebene anschaulich zu machen. Inszenierung versteht er als den Inbegriff der konstitutiven und wechselseitigen Verbindung von Inhalt und Form.6 Wie im Theater eine Handlung gezeigt und anschaulich gemacht wird, so kommt das Evangelium im Gottesdienst über seine Darstellung erst zur Wirkung und darin zu seiner Wahrheit. Meyer-Blanck entdeckt eine Entsprechung der performativen 3 Vgl. Meyer-Blanck, Michael: Inszenierung des Evangeliums. Ein kurzer Gang durch den Sonntagsgottesdienst nach der Erneuerten Agende, Göttingen 1997; Plüss, David: Gottesdienst als Textinszenierung, Zürich 2007; Böckel, Holger: Inszenierung als Leitmotiv in Praktischer Theologie und Religionspädagogik. Theatrale Aspekte in Kultur, Kirche und Bildung, Berlin 2017; Dinger, Florian: Religion inszenieren. Ansätze und Perspektiven performativer Religionsdidaktik, Tübingen 2018; Meyer-Blanck, Michael: Gottesdienstlehre, Tübingen 2011. 4 In den gängigen theologischen Lexika (RGG4, TRE und LThK) findet sich kein Eintrag zur „Inszenierung“ (nur allgemein: „Theater“). 5 M. Meyer-Blanck: Inszenierung und Präsenz, S. 4f. 6 „Der Begriff der ‚Inszenierung‘ weist auf die Grundspannung evangelisch verstandenen Gottesdienstes, auf das Verhältnis von unverfügbarer Wirklichkeit und menschlich verantworteter, dargestellter Wirklichkeit des Evangeliums, oder sehr viel einfacher: Der Begriff der ‚Inszenierung‘ beinhaltet eine gesteigerte Aufmerksamkeit für das Verhältnis von Inhalt und Form.“ M. Meyer-Blanck: Inszenierung des Evangeliums, S. 18.

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Wirkung von Inszenierungen und dem Wesen des Evangeliums aufgrund ihrer spezifischen Verbindung von Inhalt und Form. Die dem Inszenierungsbegriff inhärente Korrelation von Gestaltung und Wahrnehmung gelangt durch die Aneignung des Begriffs neu in das Blickfeld der Praktischen Theologie. „Darum spreche ich von der Inszenierung des Evangeliums. Denn ‚Evangelium‘ ist gerade keine seinshafte, ontologische, sondern eine an Mitteilung und Rezeption gebundene Kategorie. Das Evangelium ist Botschaft, Nachricht, die vernommen werden muß. […] Das Wort ist eine Geschehens- und keine Seinskategorie. Der Wortbegriff darf nicht verbal verengt werden, sondern ist vom Prozeß der Mitteilung her zu verstehen. So sind die Sakramente sichtbares Wort, und auch Musik, Bild, Raum, Stille und Tanz können zum Wort werden.“7 Mit dem Wort ist das Wort Gottes gemeint, das sich ereignet und geschieht, also weder statisch eintritt, noch durch Menschen direkt verfügbar ist. Trotzdem kann sich dieses Wort nur unter den menschlichen Bedingungen der Kommunikation verbreiten und daher Gottesdienste gefeiert werden. Es ist diese kategoriale Differenz zwischen menschlichem Darstellungshandeln und der Unverfügbarkeit der Nähe Gottes, die Meyer-Blanck mithilfe des Inszenierungsbegriffs zum Ausdruck bringt.8 Meyer-Blanck konzipiert seine Performanztheorie jedoch nicht nur im Hinblick auf die Liturgie, sondern er zeichnet sie in den Gesamtzusammenhang religiöser Praxis ein. Auch der schulische Unterricht und die Predigtgestaltung lassen anhand dieser Kategorie über sich aufklären. Insofern hier aktiv Gestaltende in den Vordergrund rücken, stellt er dem Inszenierungsbegriff den Präsenzbegriff in seiner rollentheoretischen Entsprechung zur Seite. Mit diesen beiden Kategorien lenkt er die Aufmerksamkeit auf die Wahrnehmung (Rezeption durch Lernende und Gottesdienstteilnehmende) und die Einübung (Gestaltung durch Lehrende und Liturginnen) und macht sie so zu einem zentralen Angelpunkt seiner Praxistheorie.9 Der Inszenierungsbegriff ist insofern bei Meyer-Blanck zu einem hermeneu7 M. Meyer-Blanck: Inszenierung und Präsenz, S. 9. 8 Das performative Paradigma, das Erika Fischer-Lichte formuliert, geht über den Darstellungsbegriff hinaus: „Der Begriff des Performativen – ebenso der der Performanz – bezieht sich auf (1) das wirksame Ausführen von Sprechakten, (2) das materiale Verkörpern von Bedeutungen, (3) das inszenierende Aufführen von theatralen, rituellen und anderen Handlungen. Der Begriff des Performativen bezeichnet die Eigenschaft kultureller Handlungen, selbstreferentiell und wirklichkeitskonstituierend sein [sic].“ Fischer-Lichte, Erika: Art. Performativität/performativ, in: Fischer-Lichte, Erika (Hg.): Metzler-Lexikon Theatertheorie, Stuttgart/Weimar 2005, S. 234–242, hier S. 234. 9 Vgl. M. Meyer-Blanck: Inszenierung und Präsenz, S. 3. Die Methodik für Wahrnehmung und Einübung von Inszenierung und Präsenz in der pastoralen Praxis hat sich Thomas Kabel mit dem Konzept Liturgische Präsenz durchgesetzt, denn diese Übun-

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tischen Schlüssel seines dramaturgisch-theologischen Gottesdienstverständnisses geworden: „Beide [= die Begriffe Dramaturgie und Inszenierung, L.E.] betonen im liturgischen Kontext das Ineinander von menschlichem künstlerischem und göttlichem heilsamem Handeln, wobei im Begriff der Dramaturgie eher Geschehen und Gestaltung, im Begriff der Inszenierung eher der ästhetische Charakter betont ist. Von daher ist die Inszenierung die grundsätzliche hermeneutische Kategorie: Gottes (katabatisches) Handeln vollzieht sich (anabatisch) als menschliche Kunst. Wer von der Inszenierung redet, weiß von diesem Sachverhalt und kann Wort Gottes und soziale Kommunikation nicht mehr gegeneinander stellen. Er kann auch nicht mehr in voraufklärerischer Weise von heiligen Mächten reden, sondern wird bei ritueller Praxis immer die eigene hermeneutische Tätigkeit in Rechnung stellen. Der Begriff der Dramaturgie ist die entsprechende gestalterische Kategorie. Sie fragt nach dem erlebbaren Zusammenhang der einzelnen liturgischen Stücke für den Dialog mit Gott.“10 Bei Meyer-Blanck hat sich der Inszenierungsbegriff von einem Impulsgeber für den liturgiewissenschaftlichen Diskurs zu einem mittlerweile unhintergehbaren Teilaspekt des dramaturgischen Grundverständnisses weiterentwickelt. In dieses dramaturgische Grundverständnis bettet er auch seine Theorie des Gottesdienstes ein.11 1.2  Problematisierung begrifflicher Unschärfen Bei der Aneignung von Begriffen aus den Bezugswissenschaften der Praktischen Theologie12 wird auch die genaue Einordnung, Abgrenzung und Kontextualisierung notwendig. Einige Abgrenzungen werden von Meyer-Blanck angeführt und gen sind mittlerweile überall in den Vikariaten der Landeskirchen etabliert. Vgl. Kabel, Thomas: Zur praktischen Inszenierung des Gottesdienstes, Gütersloh 2002; Kabel, Thomas: Zur praktischen Inszenierung der Kasualien, Gütersloh 2007; Kabel, Thomas: Übungsbuch liturgische Präsenz, Gütersloh 2011. 10 Meyer-Blanck, Michael: „… daß unser lieber Herr selbst mit uns rede …“: Möglichkeiten des neuen „Gottesdienstbuches" für die lutherischen und unierten evangelischen Kirchen, in: Zeitschrift für Theologie und Kirche (2000), S. 488–508, hier S. 504. 11 Vgl. Meyer-Blanck, Michael: Agenda. Zur Theorie liturgischen Handelns, Tübingen 2013, S. 179f. Auf dieser dramaturgischen Grundlage kommentiert er das 1999 eingeweihte Evangelische Gottesdienstbuch, verknüpft es systematisch-theologisch mit Martin Luther und Friedrich Schleiermacher und stellt die Chancen einer solch offenen Agende heraus. 12 Dazu zählen neben den Theaterwissenschaften beispielsweise die Soziologie, Psychologie und Kulturwissenschaften.

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diskutiert. 1. Für seine theologische Definition von Inszenierung grenzt er einen alltagssprachlichen, negativ besetzten Inszenierungsbegriff ab, der mit den Assoziationen von Künstlichkeit und billiger Unterhaltung (‚show‘) einhergehen, der „eine Vorspiegelung falscher Tatsachen, etwa in nachrichtendienstlicher Absicht (ein ‚nur inszenierter‘ Überfall) oder eine öffentlichkeitswirksame Selbstdarstellung, um daraus persönliche Vorteile zu ziehen (‚reine Selbstinszenierung‘)“13 suggeriert. Dabei stellt er seinen theologischen Überlegungen keine theaterwissenschaftliche Inszenierungsdefinition zur Seite, die die Einschreibung dieser theaterwissenschaftlichen Kategorie verdeutlicht und firmiert, sondern beruft sich auf seine Erfahrung.14 2. Zum Schutz vor einer Vereinnahmung des Gottesdienstes durch eine theaterwissenschaftliche Kategorie und vor Missverständnissen der Analogie als Gleichsetzung oder Banalisierung von Gottesdienst, stützt er die begriffliche Abgrenzung auf das Publikum als charakteristisches Merkmal des Theaters: „Freilich gibt es auch einen entscheidenden Unterschied zwischen einer Theaterinszenierung und einer Gottesdienstinszenierung: Beim Gottesdienst gibt es keine Trennung zwischen Bühne und Zuschauerraum.“15 In dieser zunächst räumlich angesetzten Abgrenzung zeigt sich Meyer-Blancks Theatervorstellung. Er arbeitet implizit mit einem passiven Publikumsbegriff. Diese verkürzte und einseitige Begriffsverwendung könnte durch die Hinzunahme einer differenzierten Definition und empirischer Ergebnisse16 erweitert werden (s. u.). Bei der Analogiebildung zwischen Theatervorstellung und Gottesdienst ergeben sich (begriffliche) Spannungen, die im theologischen Diskurs differenziert und reflektiert werden müssen. Inszenierung und Fiktion, Wahrheit und Schein, Lehre und Manipulation liegen in der Deutung von Handlungen nah beieinander 13 M. Meyer-Blanck: Inszenierung des Evangeliums, S. 17. Es ist zu beachten, dass die Hauptzielgruppe dieser Monographie ein gottesdienstaffines oder auch -aktives Laienpublikum ist. Daher sind der begriffliche Einstieg und die Abgrenzung des assoziativen Verständnisses vorausgeschickt. 14 Vgl. Meyer-Blanck, Michael: Authentizität, Form und Bühne: theatralisch inspirierte Liturgie, in: Pastoraltheologie 94/2005, S. 134–145, hier S. 142: „Wichtig ist im Unterschied zum Theater die einfache Tatsache, dass man sich nicht gegenseitig sehen kann.“ 15 M. Meyer-Blanck: Inszenierung des Evangeliums, S. 19. 16 Obwohl Meyer-Blanck den Einbezug empirischer Ergebnisse als wichtigen Bestandteil der Theoriebildung betont, bleibt genau diese Komponente unterbestimmt. „Das empirische Umfeld des Gottesdienstes ist künftig liturgiewissenschaftlich, aber auch in der konkreten Praxis der Gemeinden und Kirchen bei der liturgischen Arbeit stärker zu berücksichtigen.“ Meyer-Blanck, Michael: Liturgie und Liturgik: der evangelische Gottesdienst aus Quellentexten erklärt, Göttingen 22009, S. 326.

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und die Einbettung in einen theologischen Kontext und eine Grenzziehung in der Anwendung der Termini der Bezugswissenschaft muss immer wieder neu und differenziert versucht werden. 1.3  Ein theaterwissenschaftlicher Inszenierungsbegriff Der Inszenierungsbegriff wird von der Theaterwissenschaftlerin Erika Fischer-Lichte folgendermaßen definiert: „Inszenierung (engl. production, staging; frz. mise-en-scène). Unter Inszenierung wird der Vorgang der Planung, Erprobung und Festlegung von Strategien verstanden, nach denen die Materialität einer Aufführung performativ hervorgebracht werden soll, wodurch zum einen die von ihr hervorgebrachten Ereignisse als gegenwärtige in Erscheinung treten zum anderen eine Situation geschaffen wird, die Frei- und Spielräume für nicht-geplante, nicht-inszenierte Handlungen, Verhaltensweisen und Ereignisse eröffnet. Der Begriff schließt insofern immer schon die Reflexion auf die Grenzen von Inszenierung ein.“17 Bei dieser Definition liegt der Bedeutungsschwerpunkt auf der Gestaltung des Geschehens, also der Planung der Durchführung der im weitesten Sinne gegebenen und entworfenen Form. Die Aspekte des Ungeplanten, des entstehenden Raumes und des Sich-Ereignens sind hier gleichwertig mit einbezogen. Terminologisch ist Inszenierung im Sinne von In-Szene-setzen aus dem Französischen übernommen. „Der Begriff mise en scène/Inszenierung entstand zu einer Zeit [= zur Zeit der historischen Avantgarde, L.E.], als sich grundlegende Veränderungen auf dem Theater ankündigten: der Aufstieg des Regisseurs vom Arrangeur zum Künstler, ja zum eigentlichen Schöpfer des ‚Kunstwerkes‘ der Aufführung.“18 Bis heute findet in der Theaterwissenschaft das Verständnis von Inszenierung als künstlerische und schöpferische Tätigkeit Verwendung. Die inzwischen herausgehobene Rolle des Regisseurs schwingt im Inszenierungsbegriff mit.19 1.4  Stanislawski und Strasberg. Eine kurze Kontextualisierung Explizit beruft sich Meyer-Blanck auf die theatralen Konzepte des Theaterregisseurs und Schauspielers Konstantin Stanislawski (1863–1938) und den von ihm 17 Fischer-Lichte, Erika: Art. Inszenierung, in: Fischer-Lichte, Erika (Hg.): Metzler-Lexikon Theatertheorie, Stuttgart, Weimar 2005, S. 146–153, hier S. 146. 18 Ebd., S. 147. 19 „Die Geschichte des Gegenwartstheaters kann auch als die des Regietheaters seit den 1960er-Jahren bezeichnet werden.“ Englhart, Andreas: Das Theater der Gegenwart, München 2013, S. 29.

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beeinflussten Schauspieler, Regisseur und Lehrer Lee Strasberg (1901–1982).20 Diese beiden Theatermänner beschäftigen sich vor allem mit der Rolle der Schauspielenden, sowie der Entwicklung von Schauspieltechniken für besonders authentisches, natürliches und überzeugendes Schauspiel der jeweiligen Rolle. Damit wird Theater nicht vom Stück, vom Drama oder dessen Autor aus gedacht, sondern von der Dramaturgie bzw. von der konkreten Gestaltung her.21 „Generell läßt sich sagen: Stanislawskis System ist ganz auf die schauspielerische Tätigkeit bezogen und dabei vorzugsweise auf die individuellen Faktoren des Schaffensprozesses gerichtet. Es umfaßt nur bedingt die schauspielerische Tätigkeit in ihrer kollektiven und sozialen Gesamterscheinung. Allgemeingültigkeit gewinnt es insofern, als es die bestimmenden Widersprüche des individuellen Schaffens, die nicht von historischen Bedingungen abhängen, zum Ausgangspunkt der Untersuchung nimmt und seine Gliederung in zwei Hauptteile danach einrichtet.“22 Diese beiden Hauptteile unterteilen den Probenprozess in zwei Phasen: „Der erste umfaßt ‚Die Arbeit des Schauspielers an sich selbst‘, der zweite ‚Die Arbeit des Schauspielers an der Rolle‘.“23 Die Verkörperung der Rolle wird durch die eigenen Erfahrungen des Schauspielers erarbeitet. „Er will damit den für das künstlerische Spiel nötigen realen Ablauf von Handlungen innerhalb eingebildeter Situationen sichern, ohne den die Theaterkunst oft in äußerliche Theatralik, Klischee oder ästhetizistische Künstlichkeit entgleist.“24 Erfahrungen, Prozesse und Handlungen des Lebens fließen in den Theaterprozess und in die Darstellungen auf der Bühne ein. Da Theater konstitutiv aus dem Verhältnis zwischen Schauspiel und Publikum entsteht und beide sich wechselseitig bestimmen, wird auch dieses Verhältnis neu bestimmt. Mit Stanislawskis System entstand das „Phänomen des Künstlerthea20 Vgl. Stanislavskij, Konstantin S./Simhandl, Peter: Stanislawski-Lesebuch, Berlin 1992; Ahrends, Günter: Konstantin Stanislawski: neue Aspekte und Perspektiven, Tü-

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bingen 1992; Strasberg, Lee: Schauspielen und das Training des Schauspielers. Beiträge zur „Methode“, Berlin 1988, S. 223–230. 21 Im Vergleich zu Brecht: „Das ganze System des Theaters, alle Ideen gehen bei Stanislawski vom Schauspieler aus und wirken auf ihn zurück. Brecht dagegen geht vom Dramatiker aus, vom Regisseur und erst dann gelangt er zum Schauspieler.“ Smeliansky, Anatoly: Ein neues Stanislawski-Bild im Vergleich mit Brecht, in: Hentschel, Ingrid/Hoffmann, Klaus/Vaßen, Florian (Hg.): Brecht & Stanislawski – und die Folgen. Anregungen für die Theaterarbeit, Berlin 1997, S. 24–32, hier S. 25. 22 Hoffmeier, Dieter: Eine kritische Sicht auf Stanislawskis Arbeitsbegriffe mit einem Seitenblick auf Brecht, in: I. Hentschel/K. Hoffmann/F. Vaßen (Hg.): Brecht & Stanislawski, S. 33–45, hier S. 36. 23 Ebd., S. 38. 24 Ebd., S. 41.

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ters“25, das geprägt war von einer kargen Ausstattung und „ein ängstliches Theater, kein Theater der Liebe, eher vielleicht eines der Neugierde“26 hervorbrachte. Es zog ein neu entstandenes Publikum an und brachte Kritiker gegen sich auf. Es sind vor allem die Konzentration auf Stanislawski und die Methode Strasbergs, die Meyer-Blancks dramaturgisches Paradigma bestimmen. Es wird von den Akteuren auf der Bühne aus konzipiert. Dies liegt insofern nahe, als er anhand der Rezeption dieser Theatermodelle Probleme der Berufspraxis von Pfarrpersonen identifiziert, in diesem Fall das „Spannungsfeld von Rolle und Individualität“27, das dann anhand der Kategorien Präsenz und Authentizität im Folgenden verhandelt wird. Aufgrund dieses pastoraltheologischen bzw. rollentheoretischen Ausgangspunktes gerät die Rezeptionsperspektive im Gottesdienst aus dem Blickfeld der „Gottesdienstlehre“28.

2.  P RÄSENZ UND AUTHENTIZITÄT: PASTORALPERSON IM SCHEINWERFERLICHT „Die Äußerlichkeiten müssen stimmen, Raum, Kleidung, Beleuchtung, Akustik [= Ansprache der Sinne, L.E.]. Vor allem aber kommt es darauf an, daß die Akteure ihre Rolle gut verkörpern. Nicht so sehr die Darstellenden als Personen sind entscheidend, sondern die Schauspieler in ihrer Rolle, in der Aufführung.“29 Um diese in der Liturgie aktiv handelnden Personen und ihre Rolle beleuchten zu können, bedient sich Meyer-Blanck den Termini Präsenz und Authentizität. Dem übergreifenden Inszenierungsbegriff wird rollentheoretisch der Präsenzbegriff als „persönliche Komponente“30 zugeordnet. Präsenz umfasst die Art und Weise des wahrhaftigen Handelns und der achtsamen Anwesenheit im Moment der Aufführung. Zugleich schwingt hier die Spannung mit zwischen dem Auftreten als Pfarrperson, die privat Zeugnis von ihrem Glauben ablegt und als Liturg, der einen Gottesdienst professionell gestaltet, ohne sich selber in den Mittelpunkt zu stellen, ohne dabei zu viel Nähe bzw. Distanzlosigkeit zu erzeugen. „Immer aber meint Präsenz, daß die Person ganz da ist, aber nicht als Privatperson, sondern in ihrer 25 A. Smeliansky: Stanislawski-Bild, S. 27. 26 Ebd., S. 27. 27 M. Meyer-Blanck: Inszenierung und Präsenz, S. 3. Er zitiert Stanislawski: „Mein Leben in der Kunst“, 1925. 28 Vgl. Meyer-Blanck, Michael: Evangelische Gottesdienstlehre heute. Ein Überblick, in: Theologische Literaturzeitung 133/2008, S. 3–19; M. Meyer-Blanck: Gottesdienstlehre. 29 M. Meyer-Blanck: Inszenierung des Evangeliums, S. 19. 30 M. Meyer-Blanck: Inszenierung und Präsenz, S. 12.

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Funktion, in der didaktischen, liturgischen oder poimenischen Inszenierung.“31 Für den Kontext des Gottesdienstes spielt die Klärung dieser Spannung eine besonders wichtige Rolle. Dazu nimmt Meyer-Blanck den Authentizitätsbegriff32 hinzu, der die Komponente der Erkennbarkeit des Persönlichen, einer gewissen Ernsthaftigkeit und dem bewussten Handeln vor Zuschauenden betont. „Präsenz ist die durch das Bewußtsein des Inszenatorischen gebrochene Authentizität.“33 Diese beiden die Rolle von Schauspielenden betreffenden theatralen Kategorien rücken – in der Analogie – die liturgisch handelnden Personen zwangsläufig in den Vordergrund und ebnen den Weg für ein pastoraltheologisches Paradigma, von dem Meyer-Blanck implizit ausgeht. Mit dem Schauspielkonzept Stanislawskis kommt Meyer-Blanck von der Authentizität zu einem Präsenzbegriff, bei dem Person und Rolle verschmelzen. „Liturgisch präsent ist, wer seine Rolle als Liturg annimmt, von seiner Rolle weiß und sie gleichzeitig vergessen kann.“34 Liturgische Präsenz35 meint also eine Authentizität, die durch die zu artikulierende Rolle gebrochen ist. Die schauspielende bzw. liturgisch handelnde Person ist in ihrer jeweiligen Rolle authentisch.

3.  T HEOLOGIE: GOTTESBEGEGNUNG AUF DER „BÜHNE“ Diese auf den ersten Blick ästhetische Grundhaltung führt Meyer-Blanck zu seinem Liturgieverständnis, das jedoch prinzipiell theologisch ausgelegt ist: „Die 31 Ebd., S. 12. Ebenso: „Die Darsteller stellen nicht sich selbst als Privatpersonen dar, sondern ihre persönliche — und damit auch individuelle — Erfahrung im Modus öffentlicher Präsentation.“ M. Meyer-Blanck: Authentizität, S. 138. 32 Auf den Authentizitätsbegriff wird im praktisch-theologischen Kontext gerne zurückgegriffen. Deeg verweist auf die kulturwissenschaftliche Kritik durch Sennetts Begriff „Tyrannei der Intimität“ und seiner Reflexion des Verhältnisses von Privatperson und öffentlicher Rolle. Vgl. Deeg, Alexander: Das äußere Wort und seine liturgische Gestalt. Überlegungen zu einer evangelischen Fundamentalliturgik, Göttingen/Oakville, CT, U.S.A. 2012, S. 398. Eine ausführliche Reflexion über die Bedingungen von Authentizität, die durch eine Differenz von Erwartung und Erfahrung bestimmt werden, bietet Wiesinger, Christoph: Authentizität. Eine phänomenologische Annäherung an eine praktisch-theologische Herausforderung, Tübingen 2019. 33 M. Meyer-Blanck: Inszenierung und Präsenz, S. 12. 34 Ebd., S. 14. 35 Dieser Begriff wurde bei Thomas Kabel zum Titel einer an Schauspieltechniken orientierten Methode in der Ausbildung liturgisch handelnder Personen. Vgl. Anmerkung 9.

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Sache der Liturgie ist nichts anderes als ästhetische Praxis. Aber sie ist diese ästhetische Praxis als eine andere, eben als die Sache Jesu Christi.“36 Das Theaterelement Bühne wird für Meyer-Blanck in der Übertragung zur Projektionsfläche für das kultische und liturgische Agieren im Gottesdienst. Dadurch bekommt es in der Theorie mehr Gewicht. Nicht nur die Predigt des Wortes, die im evangelischen Selbstverständnis den Kern des Gottesdienstes ausmacht, sondern das gleichwertige Zusammenspiel von Liturgie und Predigt wird im Gottesdienst wichtig.37 Neben der Inszenierung des Kultes auf einer kirchlichen Bühne, also im Beisein von anderen Menschen, schließt der Bühnenbegriff die reflektierte und eingeübte Gestaltung des eigenen und gemeinsamen Handelns ein. Dadurch wird die Vorstellung von Öffentlichkeit mit dem Bühnengeschehen verbunden. Verschiedene theologische Ansprüche sind hier in ein konstruktives Verhältnis zu setzen: 1. Der evangelische Grundsatz, den Gottesdienst unter der Beteiligung der ganzen Gemeinde zu feiern, der dem Selbstverständnis des Priestertums aller Glaubenden entspringt38, wird berücksichtigt. Der Gottesdienst wird als gemeinschaftliches Geschehen verstanden. Bei Meyer-Blanck kann dieser Anspruch als (idealisiertes) aktives Gemeindeverständnis gelesen und problematisiert werden: Teilhabe findet in seinem Verständnis (ausschließlich) im aktiven Handeln statt.39 Das Gegenüber von liturgisch Handelnden und Zuschauenden bzw. Zuhörenden im inszenierten Ablauf, das auch räumlich gegeben ist (Altarraum bzw. Kirchen-/Gemeinderaum), bleibt in diesem Verständnis unbeachtet. 2. Ein Gottesdienst ist eine öffentliche Veranstaltung, da das Evangelium grundsätzlich als für alle Menschen relevante Botschaft allgemein zugänglich sein soll. Trotz der Zusammenkunft einander bekannter, vertrauter, in der Gemeinde beheimateter Menschen bleibt der evangelische Gottesdienst nach seinem Selbstverständnis eine öffentliche Inszenierung des Evangeliums. Öffentlichkeit meint mehr als die empirisch anwesende Gottesdienstgemeinde. „Darüber hinaus sind alle interessierten Menschen willkommen, am Gottesdienst mehr oder weniger partizipierend, vielleicht auch nur distanziert beobachtend, teilzunehmen. Insofern ist evangelischer Gottesdienst seinem Selbstverständnis nach notwendig ökumenischer Gottesdienst. Denn gerade aus der Orientierung am Evangelium folgt die ökumenische Weite (Mt 28,18–20).“40 36 M. Meyer-Blanck: Authentizität, S. 136. 37 Vgl. M. Meyer-Blanck: Evangelische Gottesdienstlehre heute. 38 „1. Der Gottesdienst wird unter der Verantwortung und Beteiligung der ganzen Gemeinde gefeiert.“ Vereinigte Evangelisch-Lutherische Kirche Deutschlands/Evangelische Kirche der Union (Hg.): Evangelisches Gottesdienstbuch, Berlin/Bielefeld/Hannover 1999, S. 15. 39 Vgl. M. Meyer-Blanck: Agenda, S. 173. 40 M. Meyer-Blanck: Möglichkeiten, S. 500.

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Es folgt ein theologisches Resümee, das das ästhetisch-theologische Spannungsverhältnis mit Luther und Schleiermacher reformuliert. Meyer-Blanck legt Martin Luthers Verständnis des Gottesdienstes als Wort-Antwort-Geschehen41 zugrunde und verbindet es mit Friedrich Schleiermachers erlebnis- und erfahrungsbezogenem Gottesdienstverständnis: „Der Gottesdienst wird als nicht ‚wirksames‘, sondern ‚darstellendes und mitteilendes‘ Handeln definiert. Daraus folgt die Sicht des Gottesdienstes als einer gemeinsamen Tätigkeit der ganzen Gemeinde.“42 Sein daraus entwickeltes Gottesdienstverständnis fasst Meyer-Blanck in der „Formel Darstellung und Mitteilung des Evangeliums in ritueller Gestalt“ zusammen. „Das Evangelium wird dabei als die Wirklichkeit verstanden, die dem gemeinsamen Verstehen zugleich vorausliegt und sich jeweils neu daraus ergibt.“43 Es ist ein systematisch-theologisch rückgebundenes Verständnis, das in sich die aktuellen ästhetischen Bedingungen der Gestaltung integriert, sodass das Evangelium performativ als gleichzeitig vorausgesetzte und entstehende Realität verstanden werden kann und im Gesamtgeschehen der Gottesdienst theoretisch erfasst und praktisch erlebt werden kann.

4.  D ER ERTRAG DER ANALOGIEBILDUNG UND DIE OPTION AUF EINE FORTSCHREIBUNG – DAS PUBLIKUM IM GOTTESDIENST Als Fazit sollen einige Überlegungen angeschlossen werden, die die wichtige liturgiewissenschaftliche Weichenstellung Meyer-Blancks aufnehmen und weiterführen. „Eine theatralische Grundregel lautet: ‚Ohne Zuschauer gibt es keine Aufführung‘. Auch der öffentliche Gottesdienst findet im Gegenüber von Darstellern und Publikum statt. Das gilt trotz der theologischen Beschreibungen von der vollen, bewussten und handelnden Teilnahme der Gemeinde.“44 Das Publikum wird von Meyer-Blanck als konstitutiv für eine gottesdienstliche Aufführung erkannt, jedoch nicht weitergehend reflektiert. Die Anwesenheit eines Publikums ist Charakteristikum und Voraussetzung von Theateraufführungen und wird in der Phase der Planung bzw. Inszenierung immer konstitutiv mitgedacht: „In der Tat, Inszenierung ‚fängt überall da an, wo etwas für ein wenigstens potentielles Pub41 Vgl. M. Meyer-Blanck: Agenda, S. 170. 42 Ebd., S. 171. 43 M. Meyer-Blanck: Gottesdienstlehre, S. 40. 44 M. Meyer-Blanck: Authentizität, S. 142. Eine weiterführende Frage: Findet ein evangelischer Gottesdienst auch ohne „Publikum“ statt, wenn z.B. in ländlichen Gebieten Gottesdienstgemeinden bis auf kleinste Zahlen geschrumpft ist?

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likum so herausgestellt wird, daß es für sie eine Zeitlang zu einem sinnlich bedeutsamen, aber sachlich ungreifbaren Ereignis werden kann. Wo die Grenze aber jeweils liegt, hängt immer von denen ab, denen an dieser Grenze liegt – von den Menschen, die sich öffentlich unterschiedlich präsentieren und es mit unterschiedlichen öffentlicher Präsentation zu tun haben‘ [sic].“45 Vom theaterwissenschaftlichen Blickwinkel ausgehend sollen der Rezeptionsaspekt und die Rollenkonstellationen von aktiv Gestaltenden und Rezipierenden im Gottesdienst stärker in den Blick genommen werden, um darüber die Pluralität der Rezeptionsperspektiven sichtbar zu machen und theoretisch mitzuführen. Die konstitutive Bedeutung des Publikums wird auch in theologischen Lexika aufgenommen.46 Trotzdem bleibt der Begriff im praktisch-theologischen Diskurs eher unterbestimmt und weithin negativ konnotiert; er verknüpft sich mit der Vorstellung eines passiven Kollektivs, das durch Entertainment unterhalten wird. So auch bei Meyer-Blanck: „Beim Gottesdienst gibt es keine Zuschauer, sondern die gesamte Gemeinde ist mit im Stück, in dem das Evangelium in Szene gesetzt und gemeinsam durchgespielt wird. Und selbst wenn davon auszugehen ist, daß viele in der Gemeinde sich doch eher als Zuschauer verstehen – ich denke etwa an Gottesdienste im Berliner Dom –, selbst dann müssen alle als Mitspielende ernstgenommen und nicht zum Publikum erklärt werden. Wie sonst könnte liturgisch präsent gebetet, gepredigt, gesegnet werden? Das Gebet verkäme zur frommen Vorführung, die Predigt zum religiösen Vortrag und der Segen zum Zeremoniell.“47 Als Publikum versteht er also eine passive, vom dramaturgischen Geschehen abgegrenzte Menschengruppe, die – zumindest auf den ersten Eindruck – nicht direkt am Geschehen teilhat. Ein solcher Zuschauer- und Publikumsbegriff greift an dieser Stelle allerdings empirisch, theaterwissenschaftlich und anthropologisch zu 45 E. Fischer-Lichte: Art. Inszenierung, S. 153. Sie zitiert Seel, Martin: Inszenieren als Erscheinenlassen. Thesen über die Reichweite eines Begriffs, in: Früchtl, Josef (Hg.): Ästhetik der Inszenierung. Dimensionen eines künstlerischen, kulturellen und gesellschaftlichen Phänomens, Frankfurt am Main 2001, S. 48–61. 46 „Theater ist das Erlebnis dessen, was sich in einer Aufführung zwischen den Darstellenden und den Zuschauenden ereignet. Sodann ist Theater alles, was nötig ist, um dieses Erlebnis zu ermöglichen: Text und Musik, der Ort, die Organisation, die Institution usw.; all dies gehört in dem Maße zum Theater, in dem es zum Gelingen des Theatererlebnisses beiträgt.“ Barth, Ferdinand: Art. Theater, in: TRE 33, Berlin 2002, S. 175–195, hier S. 175. 47 M. Meyer-Blanck: Inszenierung und Präsenz, S. 15. Vor allem am Beispiel körperlicher Nähe (s. u.) zeigt sich, dass unabhängig von den Motiven des Gottesdienstbesuches die Grenzen und damit auch die Offenheit zur aktiven Beteiligung sehr unterschiedlich ausfallen können.

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kurz. In welcher Weise ist beim Theater das Publikum aktiv an der Inszenierung beteiligt? Und: Ist eine den Gottesdienst mitfeiernde Gemeinde ein „Publikum“? Gibt es im Gottesdienst eine sogenannte „vierte Wand“?48 Inwiefern eine Gemeinde ein Publikum ist, bleibt in diesem Fazit eine offene Frage, dessen Relevanz jedoch betont werden soll. Fischer-Lichte geht vom Begriff der Aufführung49 aus. Sie verweist auf die Verlagerung der Schwerpunktsetzung auf das Theater als Aufführung durch Max Herrmann in den 1920er Jahren. Das Verhältnis zwischen Schauspielenden und Publikum und das sich zwischen ihnen leiblich ereignende Theater wird zum Zentrum des neuen Paradigmas. Es grenzt sich gegen ein Theaterverständnis ab, das allein das Bühnengeschehen als Kunstwerk versteht.50 In diese Richtung geht auch der Theaterwissenschaftler Klaus Lazarowicz in den 1990er-Jahren. Er vertritt die These von der theatralen Ko-Produktion und „sieht im Zuschauer nicht das Objekt einer wie immer gearteten Bevormundung oder Lenkung durch die Theatermacher. Auch nicht den Konsumenten von szenischen Delikatessen, sondern den potentiellen Mitgestalter einer Aufführung. Schauplatz dieser spektatorischen Produktivität ist das Bewußt-

48 Die sog. „vierte Wand“ ist „Denis Diderots berühmte Erfindung […], jener Satz, nach dem der Autor beim Schreiben und die Schauspieler beim Spielen so tun sollen, als seien keine Zuschauer da, durch den also die Zuschauer tatsächlich zu Beobachtern einer Kommunikation gemacht werden […].“ Lehmann, Johannes Friedrich: Der Zuschauer als Paradigma der Moderne. Überlegungen zum Theater als Medium der Beobachtung, in: Balme, Christopher/Rättig, Ralf (Hg.): Theater als Paradigma der Moderne? Positionen zwischen historischer Avantgarde und Medienzeitalter, Tübingen 2003, S. 155–166, hier S. 161. Dieses Element der Theaterästhetik nach Diderot kann für den Gottesdienst zum heuristischen Element bzw. zur Metapher gemacht werden, um die Bedeutung des Gegenübers von „Bühne“ und „Publikum“ im Gottesdienst zu prüfen. „Die Vierte Wand ist das Kernstück einer Wirkungsästhetik, die mit der Differenz zwischen Beobachter und Welt, Zuschauer und Schauspieler Effekte von Authentizität, von Identität und Alterität inszeniert.“ J. Lehmann: Zuschauer, S. 164. 49 Die Begriffe Inszenierung und Aufführung, die im praktisch-theologischen Kontext häufig synonym verwendet werden, erfahren durch Fischer-Lichte eine klare Abgrenzung: „Während unter den Begriff der Inszenierung alle Strategien gefasst werden, die vorab Zeitpunkt, Dauer, Art und Weise des Erscheinens von Menschen, Dingen und Lauten im Raum festlegen, fällt unter den Begriff der Aufführung alles, was in ihrem Verlauf in Erscheinung tritt – also das Gesamt der Wechselwirkungen von Bühnengeschehen und Zuschauerreaktionen.“ Fischer-Lichte, Erika: Theaterwissenschaft. Eine Einführung in die Grundlagen des Faches, Tübingen/Basel 2010, S. 27. 50 Vgl. ebd., S. 13–16.

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sein des Zuschauers.“51 Den Zuschauer nicht nur als Anwesenden anzunehmen, sondern das Theatergeschehen vom Publikum als konstituierendes Element des Theaters und des Ereignisses her zu verstehen, kann auch für die offene Fragestellung im Bezug auf den Gottesdienst neue Erkenntnisse liefern. Zuletzt soll die These von der „Emanzipation des Zuschauers“52 des französischen Philosophen und Kunsttheoretikers Jaques Rancière53 ergänzend für die Betrachtung der Zuschauerrollen bzw. des Publikums hinzugezogen werden. Rancière widerspricht einer eher negativen, weil ausschließlich passiven Sicht auf den Zuschauer. Diese weit verbreitete Perspektive hat – auch bei Meyer-Blanck – dazu geführt, undiskutierte Vorannahmen mitzuführen. Die entstandenen Vorurteile führt Rancière auf und bricht sie mithilfe eines Emanzipationsmodells des Zuschauers auf. „Diese Prinzipien müsste man also heute neu untersuchen, oder vielmehr das Netz von Vorannahmen, das Spiel der Gleichsetzungen und Entgegensetzungen, das ihre Möglichkeit stützt: Gleichsetzungen von Theaterpublikum und Gemeinschaft, von Blick und Passivität, Äußerlichkeit und Trennung, Vermittlung und Trugbild; Entgegensetzungen des Kollektiven und des Individuellen, des Bildes und der lebendigen Wirklichkeit, der Aktivität und der Passivität, des Selbstbesitzes und der

51 Lazarowicz, Klaus: Gespielte Welt. Eine Einführung in die Theaterwissenschaft an ausgewählten Beispielen, Frankfurt am Main 1997, S. 111. Auf die Liturgie bezogen bedeutet das: „Alle Gottesdienstteilnehmer partizipieren gemeinsam an der Konstitution des liturgischen Raumes.“ Klie, Thomas: Zeichen und Spiel. Semiotische und spieltheoretische Rekonstruktion der Pastoraltheologie. Gütersloh 2003, S. 283. Klie bezieht sich auf das Modell der „triadischen Kollision“ nach Lazarowicz, der Kollusion zwischen Autor, Darsteller und Zuschauer im Theater. Vgl. Th. Klie: Zeichen, S. 84 (Anm. 105). 52 Rancière, Jacques: Der emanzipierte Zuschauer, in: Engelmann, Peter (Hg.): Der emanzipierte Zuschauer, Wien 22015, S. 11–34, hier S. 28. Die französische Originalausgabe Le spectateur émancipé erschien im Jahr 2008. 53 „Der im Jahr 1940 in Algier geborene Philosoph und Kunsttheoretiker hat in Paris an der renommierten Universität École normale supérieure (ENS) studiert und war von 1968 bis ins Jahr 2000 Professor am Département Art et Philosophie der Universität Paris VIII Vincennes à Saint Denis.“ Wetzel, Dietmar J./Claviez, Thomas: Zur Aktualität von Jacques Rancière. Einleitung in sein Werk, Wiesbaden 2016, S. 1. Mit seinem bisher am häufigsten übersetzten Werk Der unwissende Lehrmeister (1987) reagiert Rancière auf den das französische Bildungssystem betreffenden Diskurs. Ihm geht es „um den produktiven Umgang mit Unwissenheit, der zur intellektuellen Emanzipation beider am Lernprozess Beteiligten, also sowohl des Lehrenden als auch des Lernenden führen soll.“ D. Wetzel/Th. Claviez: Jacques Rancière, S. 2f.

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Entfremdung.“54 Er rechnet dem Zuschauer apriori die Fähigkeit von Verstand, Aktivität und Erkenntnis zu und kommt damit zu einem Verständnis des Zuschauers als Interpret und Übersetzer. „In dieser Macht zu assoziieren und zu dissoziieren liegt die Emanzipation des Zuschauers, das heißt die Emanzipation von jedem von uns als Zuschauer. Zuschauersein ist nicht der passive Zustand, den wir in Aktivität umwandeln müssten. Es ist unsere normale Situation. Wir lernen und wir lehren, wir handeln und wir wissen auch als Zuschauer, die in jedem Augenblick das, was sie sehen, mit dem verbinden, was sie gesehen und gesagt, gemacht und geträumt haben. Es gibt überall Ausgangspunkte, Kreuzungen und Knoten, die uns etwas Neues zu lernen erlauben, wenn wir erstens die radikale Distanz, zweitens die Verteilung der Rollen und drittens die Grenzen zwischen den Gebieten ablehnen. Wir haben nicht Zuschauer in Schauspieler/Akteure und Unwissende in Wissende zu verwandeln. Wir müssen das Wissen, das im Unwissenden am Werk ist, und die Aktivität, die dem Zuschauer eigen ist, anerkennen. Jeder Zuschauer ist bereits Akteur seiner Geschichte, jeder Schauspieler, jeder Mann der Tat ist der Zuschauer derselben Geschichte.“55 Rancières Akzent auf den Zuschauer befreit die Rezeptionsperspektive – auch und gerade in Analogie zum Gottesdienstbesuch – aus dem Stigma der Passivität und des Unbeteiligtseins. Ein Publikum muss keineswegs durch aktive Beteiligungsformen zu einem konstitutiven Teil der Aufführung gebracht werden.56 Durch die Anerkennung äußerer Passivität bei innerer Aktivität wird hier eine Pluralität von Rezeptionsmöglichkeiten vorausgesetzt, ohne sie durch normative Werturteile oder Veränderungsvorschläge zu überdecken. Die Auseinandersetzung mit der theaterwissenschaftlichen Kategorie des Publikums, könnte – so die hier vertretene These – neue Möglichkeiten eröffnen, die Rezipierendenperspektive differenziert mit einzubeziehen und das unmittelbare Erleben bzw. die Rolle der am Gottesdienst Teilnehmenden darzustellen.57 Die Hinzunahme empirischer Ergebnisse kann die Vielfältigkeit des religiösen 54 J. Rancière: Zuschauer, S. 17. 55 Ebd., S. 28. 56 Damit werden auch manche interaktiven Formen in (alternativen) Gottesdiensten in Frage gestellt. Die Ermöglichung von Teilhabe ausschließlich durch Interaktion und aktive Beteiligung muss hinterfragt werden. 57 Besonders in der Aufnahme eines differenzierten Publikumsbegriffs, der trotz einer etablierten Analogie zum Theater in der Gottesdiensttheorie meist ausgeklammert wird, liegt eine Chance auf Weitung in der Rezeptionsperspektive unter Aufnahme empirischer Ergebnisse. Diese sollen in meiner im Entstehen begriffenen Dissertation näher untersucht werden.

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Erlebens und die verschiedenen Formen der Teilnahme und Teilhabe im Gottesdienst erhellen. Anklang findet dieser Paradigmenwechsel in empirischen Erhebungen über die Erfahrungen und das Erleben von Gottesdienstteilnehmenden.58 Beispielsweise entwickelt Roßner vier Typen von Teilnehmenden im Gottesdienst. Sowohl die Teilnahmefrequenz und Kirchlichkeit, als auch der Grad der aktiven Beteiligung im Gottesdienst werden einbezogen. „Die Befragten drücken ihre Haltung zum Gottesdienst durch ihr Verhalten aus.“59 So lassen empirisch die verschiedenen Motive der Gottesdienstteilnahme nicht darauf schließen, wie viel räumliche und körperliche Nähe Menschen ertragen können und wollen, wie intensiv sie im Gottesdienst in Interaktion mit anderen treten wollen, wie viel sie sich einbringen, mitdenken und mitmachen möchten. „Keiner der Sonntagvormittagskirchgänger [= Befragte, die den Sonntagsgottesdienst in seiner am Ort üblichen Regelform bevorzugen, vgl. 22; L.E] redet von Gemeinschaft im Sinn von Interaktion positiv. Im Gegenteil, Aktionen wie das Austauschen des Friedensgrußes werden zum Teil heftig kritisiert, das Aufschreiben von Gebeten auf Zettel findet auch wenig Gegenliebe.“60 Dagegen wird von Befragten, die ausschließlich oder bevorzugt alternative Gottesdienstformen besuchen, hauptsächlich „die mangelnden Partizipationsmöglichkeiten“61 kritisiert. Das Verständnis, dass innere Teilhabe nur an äußerer Aktivität und Interaktion abzulesen sei, ist zu revidieren. An dem folgenden Zitat zeigt sich beispielhaft, dass die innere Aktivität durch das äußere Geschehen nicht determiniert werden kann: „[…] ich bin trotzdem dann 58 Die Erlebnis-Kategorie rückt stärker in den Fokus. Auch dieser Begriff bedarf der theologischen Reflexion. Pohl-Patalong reflektiert „‚Erleben‘ als Leitkategorie der Studie“ (81–94) und kommt zu dem Ergebnis: „Abzugrenzen ist das hier verwendete Verständnis von ‚Erleben‘ allerdings von den mit dem ‚Erlebnis‘ verbundenen Konnotationen: Gottesdienstliches Erleben zielt in dem hier verwendeten Verständnis nicht notwendig auf eine besondere Intensität und Herausgehobenheit des Ereignisses, sondern meint die subjektive, emotional grundierte Wahrnehmung des Phänomens Gottesdienst.“ Pohl-Patalong, Uta: Gottesdienst erleben. Empirische Einsichten zum evangelischen Gottesdienst, Stuttgart 2011, S. 93. Vgl. ebenfalls Knecht, Achim: Erlebnis Gottesdienst. Zur Rehabilitierung der Kategorie „Erlebnis“ für Theorie und Praxis des Gottesdienstes. Leipzig 2011. 59 Roßner, Benjamin: Das Verhältnis junger Erwachsener zum Gottesdienst. Empirische Studien zur Situation in Ostdeutschland und Konsequenzen für das gottesdienstliche Handeln, Leipzig 2005, S. 298. 60 Kerner, Hanns/Gottesdienst-Institut der Evangelisch-Lutherischen Kirche in Bayern (Hg.): Der Gottesdienst. Wahrnehmungen zum Gottesdienst aus einer neuen empirischen Untersuchung unter evangelisch Getauften, Nürnberg 2007, S. 19. 61 Ebd., S. 26.

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im Geschehen, wenn meine Gedanken abirren.“62 Um die Liturgik zu befruchten und die am Gottesdienst Teilnehmenden in ihrem Rollen und ihren Verhältnissen zueinander mehr in den Fokus zu rücken, eignet sich der Publikumsbegriff, weil er 1. die körperliche Passivität nicht automatisch mit einer inneren Teilnahmslosigkeit verbindet, 2. das Moment des Räumlichen aufgreift (das Gegenüber von Bühne und Saal, Altarraum und Gottesdienstteilnehmenden)63, 3. den Aspekt des öffentlichen Geschehens aufgreift64 und 4. die Teilnehmerrolle (am Gottesdienst) terminologisch fasst, um so die Pluralität und Heterogenität abzubilden. Zusammenfassend lässt sich sagen, dass Meyer-Blanck mit der Einschreibung des theatralen Inszenierungsbegriffs in seine fundamentalliturgische Theorie das dramaturgische Paradigma in der Praktischen Theologie etabliert hat. Das performative Gottesdienstverständnis scheint unter ästhetischen bzw. inszenatorischen Rahmenbedingungen unhintergehbar. Nach dieser wichtigen Pionierarbeit gilt es jedoch die Kategorien Inszenierung und Präsenz auch von der Rezeptionsseite her zu bestimmen. Die Kategorien Aufführung, Präsenz und Partizipation werden auch auf das liturgische Publikum bezogen: Es ist präsent bzw. partizipiert präsent und lässt die Aufführung zu einem gegenwärtigen Ereignis werden. Die im Gottesdienstgeschehen anwesend Beteiligten können über den Publikums- oder Zuschauerbegriff empirisch und systematisch mitgedacht und konstitutiv in die Theorie mit einbezogen werden. Als heuristische These der „Gemeinde als Publikum“ müssen die theaterwissenschaftlichen Bezüge ausgeweitet und von der Produktions- und Rezeptionsseite scharfgestellt werden.

62 Ebd., S. 15. 63 In Ergänzung zu dem Gemeindebegriff, der vor allem den Gemeinschaftsaspekt aller Anwesenden im Gottesdienst betont (auch Pfarrpersonen verstehen sich als Teil der Gemeinde), soll der Publikumsbegriff die Rezeptionsperspektive stärken und auch das Gegenüber von Gestaltenden und Zuschauenden bzw. Zuhörenden als Teil des Beziehungsnetzes im Gottesdienst einbeziehen. 64 Die öffentliche Lehre (publice docere) wird im XIV. Artikel des lutherischen Bekenntnistextes der Confessio Augustana (1530) mit der vorangestellten ordentlichen Berufung verknüpft. Öffentliches Handeln wird mit der zugehörigen Profession verbunden. Dem gegenüber steht die Notwendigkeit, vor allem in einer Zeit vieler vakanter Pfarrstellen, die Betonung der Ordination und das Ordinationsverständnis neu zu diskutieren.

Autorinnen und Autoren

Andreas Englhart, Professor für Theaterwissenschaft am Department Kunstwissenschaften der Ludwig-Maximilians-Universität München Lisa Espeloer, Diplomtheologin, Promovendin im Fach Praktische Theologie, Theologische Fakultät Rostock Marcus Friedrich, Dr. theol., Pastor an Sankt Nikolai in Flensburg Katharina Gladisch, Diplomtheologin, Vikarin der Evangelisch-Lutherischen Kirche in Norddeutschland Barbara Gronau, Professorin für Theorie und Geschichte des Theaters an der Universität der Künste Berlin und Sprecherin des DFG-Graduiertenkollegs »Das Wissen der Künste«. Klaas Huizing, Dr. theol., Dr. phil, Professor am Institut für Evangelische Theologie und Religionspädagogik der Julius-Maximilians-Universität Würzburg mit dem Schwerpunkt Systematische Theologie und Gegenwartsfragen Thomas Klie, Dr. theol., Professor für Praktische Theologie an der Theologischen Fakultät der Universität Rostock Jakob Kühn, Dipl. theol., wissenschaftlicher Mitarbeiter für Praktische Theologie an der Theologischen Fakultät der Universität Rostock Antje Mickan, Dr. theol., Diplom-Theologin, Gastdozentin für Seelsorge an der Theologischen Fakultät Rostock

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Konrad Müller, Dr. theol., Leiter des Gottesdienstinstitutes der Evangelisch-lutherischen Kirche in Bayern Dietrich Sagert, Dr. theol., Referent für Rhetorik am Zentrum für evangelische Predigtkultur in Wittenberg Lars-Robin Schulz, Diplomtheologe und Sprechwissenschaftler, Promovend im Fach Praktische Theologie, Theologische Fakultät Rostock, Vikar der Evangelisch-Lutherischen Kirche in Norddeutschland

Religionswissenschaft Frederik Elwert, Martin Radermacher, Jens Schlamelcher (Hg.)

Handbuch Evangelikalismus 2017, 452 S., Hardcover, 3 Farbabbildungen 39,99 € (DE), 978-3-8376-3201-9 E-Book: 39,99 € (DE), ISBN 978-3-8394-3201-3

Bernhard Grümme

Aufbruch in die Öffentlichkeit? Reflexionen zum ›public turn‹ in der Religionspädagogik 2018, 254 S., kart. 29,99 € (DE), 978-3-8376-4227-8 E-Book: kostenlos erhältlich als Open-Access-Publikation E-Book: ISBN 978-3-8394-4227-2

Oliver Wäckerlig

Vernetzte Islamfeindlichkeit Die transatlantische Bewegung gegen »Islamisierung«. Events – Organisationen – Medien 2019, 432 S., kart., 9 SW-Abbildungen 44,99 € (DE), 978-3-8376-4973-4 E-Book: kostenlos erhältlich als Open-Access-Publikation E-Book: ISBN 978-3-8394-4973-8

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Religionswissenschaft Antje Mickan, Thomas Klie, Peter A. Berger (Hg.)

Räume zwischen Kunst und Religion Sprechende Formen und religionshybride Praxis 2019, 240 S., kart., 56 SW-Abbildungen, 6 Farbabbildungen 39,99 € (DE), 978-3-8376-4672-6 E-Book: 39,99 € (DE), ISBN 978-3-8394-4672-0

Judith Stander-Dulisch

Glaubenskrisen, Neue Religionen und der Papst Religion in »Stern« und »Spiegel« von 1960 bis 2014 2019, 482 S., kart., 155 SW-Abbildungen, 10 Farbabbildungen 49,99 € (DE), 978-3-8376-4102-8 E-Book: 49,99 € (DE), ISBN 978-3-8394-4102-2

Mirjam Mezger

Religion, Spiritualität, Medizin Alternative Religiosität und Palliative Care in der Schweiz 2018, 218 S., kart., 9 SW-Abbildungen, 3 Farbabbildungen 34,99 € (DE), 978-3-8376-4165-3 E-Book: kostenlos erhältlich als Open-Access-Publikation E-Book: ISBN 978-3-8394-4165-7

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